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German Pages 411 [414] Year 2016
Sebastian Martius
Ein Reich des Geistes Der Beitrag des Freien Deutschen Hochstifts zur Nationsbildung 1859–1914
Geschichte Franz Steiner Verlag
Frankfurter Historische Abhandlungen – 47
Sebastian Martius Ein Reich des Geistes
Frankfurter Historische Abhandlungen Herausgegeben von Frank Bernstein, Christoph Cornelißen, Moritz Epple, Andreas Fahrmeir, Bernhard Jussen, H artmut Leppin, Werner Plumpe, Luise Schorn-Schütte und Annette Warner. Band 47
Sebastian Martius
Ein Reich des Geistes Der Beitrag des Freien Deutschen Hochstifts zur Nationsbildung 1859–1914
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Wilhelm Hahn und Erben-Stiftung, Bad Homburg
Umschlagabbildung: Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11448-6 (Print) ISBN 978-3-515-11451-6 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT .................................................................................................... 9 I.
EINLEITUNG .............................................................................................. 11
II.
DIE GRÜNDUNG DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS .............. 21
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Nationale Mobilisierung und die Schillerfeiern von 1859 ........................... 21 Otto Volger ................................................................................................... 28 Herkunft und berufliche Entwicklung .......................................................... 28 Otto Volger und die Revolution von 1848/49 .............................................. 31 Schweizer Exil und Rückkehr nach Deutschland......................................... 45 Nationale Programmatik und Organisation des Freien Deutschen Hochstifts...................................................................................................... 51 Nationale Identität und Nationskonzept ....................................................... 52 Ansprüche und Aufgaben ............................................................................. 65 Institutionelle und organisatorische Vorbilder ............................................. 67 Die Organisation des Hochstifts ................................................................... 74
III.
DIE TÄTIGKEITEN DES HOCHSTIFTS IN DER ÄRA VOLGER ......... 85
1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 4.1. 4.2.
Wissenschaft ................................................................................................. 85 Die Idee einer „Deutschen Wissenschaft“.................................................... 85 Die Organisation von Wissenschaft ............................................................. 90 Wissenschaft – Wissenschaftspopularisierung? ........................................... 98 Wissenschaftliche Tätigkeiten 1859–1881 ................................................. 103 Allgemeine Bildung 1859–1881 ................................................................ 129 Ansprüche und Ziele .................................................................................. 129 Organisation ............................................................................................... 131 Tätigkeiten .................................................................................................. 132 Zusammenfassung ...................................................................................... 138 Die Kunst im Freien Deutschen Hochstift 1859–1881 .............................. 138 Das Ideal einer „deutschen Kunst“ ............................................................. 138 Kunstförderung ........................................................................................... 144 Zusammenfassung ...................................................................................... 150 Die Mitglieder 1859–1881 ......................................................................... 151 Die Klasse der Meister ............................................................................... 151 Die Entwicklung der Mitgliedschaft und Sozialstruktur ............................ 155
IV.
DIE TÄTIGKEITEN DES HOCHSTIFTS BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG ............................................................................................. 159
1. Das Ende der Ära Volger und die Neuordnung des Hochstifts .................. 159 1.1. Die Stiftung von Adolf Müller und Otto Volgers Abwahl ......................... 159
6
Inhaltsverzeichnis
1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3.
Der Kampf um die neue Satzung ............................................................... 164 Funktion und Wandel der Tätigkeiten ........................................................ 167 Die Tätigkeiten des Freien Deutschen Hochstifts 1881–1914 ................... 174 Die wissenschaftlichen Fachabteilungen.................................................... 174 Die Hochschule 1881–1914 ....................................................................... 201 Die Mitglieder ............................................................................................ 213
V.
DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT UND DER DEUTSCHE NATIONALSTAAT................................................................................... 216
1.
Die Gründung des Hochstifts und die nationalstaatliche Entwicklung Deutschlands 1859–1866 ........................................................................... 216 Otto Volger und das Jahr 1866 ................................................................... 225 Das Hochstift und die Nation 1866–1871 .................................................. 234 Die Reichsgründung in der Beurteilung Otto Volgers ............................... 237 Das Hochstift im Kaiserreich – Zwischen Anpassung und Opposition ..... 242 Otto Volger und der „Berliner Antisemitismusstreit“ ................................ 252 Nationale Selbstbilder – der Wandel der nationalen Selbstinszenierung ... 258
2. 3. 4. 5. 6. 7. VI.
DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT IN FRANKFURT AM MAIN .................................................................................................. 276
1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 3. 4.
Zwischen Bürgerkultur und kommunaler Förderung 1859–1881 .............. 276 Das Goethehaus .......................................................................................... 280 Das Grab der „Frau Rath“ .......................................................................... 289 Das Freie Deutsche Hochstift und die städtischen Behörden 1881–1914.. 292 Der Museums- und Bibliotheksbau ............................................................ 293 Die Erweiterung des Goethemuseums ....................................................... 298 Die Gründung der Universität .................................................................... 304 Das Freie Deutsche Hochstift und die Frankfurter Vereine und Stiftungen ................................................................................................... 309 4.1. 1859–1881 .................................................................................................. 309 4.2. 1881–1914 .................................................................................................. 313 VII. GOETHEHAUS, GOETHEMUSEUM UND GOETHEREZEPTION ..... 316 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Die Entstehung von Personengedenkstätten im 19. Jahrhundert ............... 317 Die Frankfurter Goethestätten .................................................................... 319 Das Goethehaus im Besitz des Hochstifts .................................................. 324 Das Goethehaus als Gedenkstätte und Museum......................................... 328 Die Goetherezeption 1859–1881 ................................................................ 334 Volgers Plan einer grossdeutschen Goethestiftung .................................... 346 Das Frankfurter Goethehaus und Goethemuseum 1881–1914................... 360 Die Goetherezeption im Hochstift 1881–1914 ........................................... 365
VIII. ZUSAMMENFASSUNG ........................................................................... 371
Inhaltsverzeichnis
7
IX.
TABELLEN ............................................................................................... 378
X.
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ..................................... 385
1. 2. 3. 4. 5.
Verzeichnis der Abkürzungen .................................................................... 385 Ungedruckte Quellen .................................................................................. 385 Periodika und Zeitschriften ........................................................................ 386 Gedruckte Quellen und Literatur ................................................................ 387 Abbildungsnachweise ................................................................................. 411
VORWORT Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Frühjahr 2013 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereichten Dissertation. Auf die Geschichte des Freien Deutschen Hochstifts wurde ich das erste Mal durch einen Vortrag aufmerksam, den Christoph Perels, der damalige Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, im Jahr 2001 vor der Pößnecker Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft hielt. So entstand nach Abschluss meines Studiums in Frankfurt der Wunsch, das Hochstift in den Mittelpunkt meiner Dissertation zu stellen. Ermutigt wurde ich dazu durch Prof. Dr. Dieter Hein, der als engagierter Doktorvater immer ein offenes Ohr hatte und für dessen Unterstützung, Gespräche, Ratschläge, Kritik und Geduld ich ganz herzlich danke. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, der den Fortgang meiner Arbeit stets förderte. Dank schulde ich auch dem Promotionskolleg des Fachbereiches für die Gewährung einer Reisekostenpauschale. Mein Dank gilt insbesondere dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt, namentlich der Direktorin, Frau Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, Herrn Dr. Joachim Seng, dem Leiter der Bibliothek und des Hausarchivs, den beiden Bibliothekarinnen, Frau Karin Zinn und Frau Nora Schwarz-Ehrecke, und Frau Doris Hopp. Sie haben mir durch ihre umfassende und bereitwillige Unterstützung das Arbeiten wesentlich erleichtert. Auch den Mitarbeitern aller anderen Archive und Institutionen danke ich vielmals. Den Herausgebern der Frankfurter Historischen Abhandlungen danke ich sehr für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Die Veröffentlichung wurde durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss der Wilhelm Hahn und Erben-Stiftung Bad Homburg gefördert – auch dafür meinen Dank! Ohne die Unterstützung meiner Eltern, Familie und Freunden wäre das Zustandekommen der vorliegenden Arbeit nicht möglich gewesen. Besonders Ursula und Andreas Martius, Benjamin Martius, Margret, Marcus und René möchte ich für ihre Unterstützung, Motivation und Verständnis meinen innigsten Dank aussprechen. Offenbach, im März 2016
Sebastian Martius
I. EINLEITUNG Am 28. Juni 1866 erreichte ein Telegramm aus Frankfurt am Main, dem Sitz des Bundestages, adressiert an den österreichischen Kaiser, Wien. Gestern 27. blutige Schlacht bei Langensalza und Mühlhausen zwischen der ungebeugten hannover´schen Armee und den übermächtigen Preussen nebst Gothaern. Furchtbare Niederlage der Preussen. [...] Kräftiges Vorgehen der bayerischen Armee dringend erwünscht, damit die Hannoveraner nicht durch neue Concentration von Übermacht erdrückt werden. [...] Grösste Bestürzung in der preussischen Armee.1
Absender war der 44-jährige Geologe und Gründer des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt, Otto Volger. Auf einer waghalsigen Erkundungsmission hatte er sich von Frankfurt aus nach Nordthüringen begeben, um dort Informationen über die bundestreuen Truppen Hannovers einzuholen und ihren Entsatz durch bayerische Truppen zu ermöglichen. Doch die Bemühungen blieben vergebens, die „letzten Züge um die, Mühle zuzumachen‘ geschahen mit Blitzesschnelle“ durch die Preußen, so dass König Georg V. am 29. Juni schließlich genötigt war, „auf eine ehrenvolle Capitulation bedacht zu sein.“2 Was veranlasste den Dozenten der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, den Retter des Goethehauses und erklärten Pazifisten, 1866 den mitteldeutschen Kriegsschauplatz aufzusuchen? Es war ein Name, der für alles stand, das Volger zu jener Zeit bekämpfte – Bismarck. Unter dessen Führung schickte sich Preußen an, die deutsche Frage „mit Eisen und Blut“ zu lösen. Insofern repräsentiert das Jahr 1866 einen Wendepunkt in der deutschen Nationalgeschichte, die, zugespitzt, auch eine „Zusammenbruchgeschichte“ war.3 Bei Otto Volger wurden damals zwei Hoffnungen enttäuscht: Erstens, dass die nationale Einheit Deutschlands durch eine vom Bürgertum getragene kulturelle Nationsbildung vollendet wird, und zweitens, dass sie Österreich mit einschloss. Um diese Ziele zu erreichen, wurde unter Volgers Führung 1859 das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main gegründet. Den Frankfurter Nachrichten hatte der geneigte Leser am 23. Oktober 1859 folgende Mitteilung entnehmen können: Am morgenden Sonntage, den 24 d., wird die Stiftungsversammlung des von Dr. Otto Volger angeregten ,Freien deutschen Hochstiftes‘ hierselbst stattfinden, nachdem eine sehr mannichfaltige Betheiligung durch Anmeldungen von Außen, wie aus Frankfurt selber, bereits gesichert ist. [...] Die festliche Erregung vaterländischen Gemeingefühls und die wetteifernde Vereinigung der Wissenschaften, Künste und jeglicher Bildungsbestrebungen unseres, durch 1 2 3
Österreichs Kämpfe im Jahre 1866. Bd. 5, Die Kriegsereignisse in Westdeutschland, S. 14. Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von 1866. Bd. 2, Der Feldzug in West- und Mitteldeutschland, S. 31. Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich, S. 156 f.
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I. Einleitung seine Geistesblüthe vor allen Nationen geheiligten und durch seine Bildung inniger, als durch irgend ein anderes Band, geeinigten Volkes zur würdigen Feier des Schillerfestes läßt den 10. November als den geeignesten Tag erscheinen zur förmlichen Eröffnung des Hochstiftes.4
Die 56 Männer, die sich am 23. Oktober in den Räumlichkeiten der Loge „Carl zum aufgehenden Lichte“ einfanden, waren bereits mit der Idee des „Freien Deutschen Hochstifts für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung“ – so der vollständige Titel – vertraut, denn Otto Volger hatte im September 1859 eine entsprechende Schrift über die Gründung und Absichten des Vereins verbreiten lassen. Viele der Teilnehmer hatten sich bereits in der Revolution von 1848/49 für die Errichtung eines demokratischen Nationalstaats engagiert. Ende der 1850er Jahre begann eine neue Phase der nationalen Mobilisierung des Bürgertums, die, beflügelt durch die „Neue Ära“ in Preußen und die italienische Einigungsbewegung, einen neuen Anlauf zur Nationalstaatsgründung unternahm. Ein Symbol dieser neuerlichen nationalen Mobilisierung stellten beispielsweise die Schillerfeiern von 1859 dar. Otto Volger datierte die offizielle Gründung des Hochstifts deshalb auf den 10. November 1859. Bisher standen vor allem die politischen Organisationen und Aktivitäten der bürgerlichen Nationalbewegung in der „Formationsperiode“ zwischen 1849 und 1871 im Mittelpunkt.5 Dabei galt lange Zeit die „realpolitische Wende“ des liberalen Bürgertums in dieser Epoche als Kennzeichen eines „deutschen Sonderwegs“, bei der das Bürgertum zugunsten der Einheit die Freiheit zurückstellte. Geringere Beachtung fanden dagegen jene Initiativen, die sich einer kulturellen Nationsbildung verschrieben. Dabei waren diejenigen Initiativen, welche die kulturelle Nationsbildung fördern wollten, durchaus verbreitet. Zu nennen wären das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, die Versammlungen der Germanisten oder die Geschichts- und Altertumsvereine.6 Diese Beispiele waren Vorbilder für das Freie Deutsche Hochstift, aber in seinen ambitionierten Ansprüchen und Zielen ging es weit über jene Vereinigungen hinaus. Getragen von der tiefen Überzeugung, dass nur auf der Grundlage einer freien bürgerlichen Gesellschaft Wissenschaft, Kultur und Bildung organisiert werden können, um damit zugleich das nationale Einheitsbewusstsein zu stärken, beabsichtigte man, in Frankfurt eine Nationalakademie und eine freie deutsche Hochschule zu gründen. Zu Recht bemerkte Andreas Daum: „Volgers Vision für das Hochstift übertraf [...] alle bisherigen Vorstellungen nationaler Bildungsorganisation.“7 Aus diesen Ansprüchen resultierten vielfältige Initiativen 4 5
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Frankfurter Nachrichten, Nr. 124, 23.10.1859, S. 987. Vgl. Shelomoh Na´aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1869; Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisation und Eliten. Vgl. Peter Burian, Das Germanische Nationalmuseum und die deutsche Nation; Katinka Netzer, Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht. Die Verhandlungen der Germanisten 1846 und 1847. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, S. 170. Daum widmet dem Hochstift aber nur wenige Bemerkungen.
I. Einleitung
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und Projekte, die das Freie Deutsche Hochstift schließlich nicht nur in Frankfurt, sondern auch in Deutschland zu einer der bedeutendsten bürgerlichen Stiftungen werden ließen. Es stellt noch in der Gegenwart „eine Schnittstelle zwischen akademischer Kulturwissenschaft und unserer Gesellschaft“ dar, so Bundespräsident Roman Herzog anlässlich der Wiedereröffnung des Frankfurter Goethemuseums 1997.8 Umso bemerkenswerter ist es, dass es als Institution bisher kaum die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden hat. Dabei bietet gerade die Vielfalt seiner Tätigkeiten ein reiches Feld, das nicht nur einen aufschlussreichen Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Bürgertums verspricht, sondern darüber hinaus auch neue Aspekte zu den Themen Nation und Nationalstaat, Kultur und Bildung im 19. Jahrhundert liefert. Die folgende Darstellung unternimmt den Versuch, anhand ausgewählter Schwerpunkte die Entwicklung des Hochstifts zwischen 1859 und 1914 zu analysieren. Es handelt sich dabei aber nicht um eine rein institutionsgeschichtliche Beschreibung, sondern auch auf die Person Otto Volgers wird immer wieder ausführlicher eingegangen werden müssen. Er hatte nicht nur maßgeblichen Anteil an der Gründung, sondern er prägte wie kein Zweiter die Entwicklung des Hochstifts in den ersten Jahrzehnten. Immer wieder waren es Volgers Initiativen und sein unbeugsamer Idealismus, beispielsweise als er 1862 auf eigenes Risiko das Goethehaus erwarb, die das Hochstift prägten. Diesbezüglich hat sich auch die Quellenlage in den letzten Jahrzehnten erheblich verbessert. 1978 war es dem Freien Deutschen Hochstift möglich, umfangreiche Teile seines Nachlasses zu erwerben.9 Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts, die als Ausdruck der nationalen Mobilisierung des Jahres 1859 in den historischen Kontext eingeordnet wird. Wesentlich ist dabei das zugrunde liegende Nationskonzept, denn es stellt die Matrix für alle weiteren Themen dar. In den letzten beiden Jahrzehnten kam es zu einem „Aufschwung der Nationalismusforschung“, der dabei auch andere Bereiche, wie etwa die Forschungen über das liberale Bürgertum, beflügelte.10 Das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der deutschen Teilung führten zu einer Renaissance der nationalen Ideen, die auch die Wissenschaft dazu zwang, die „Ursachen seiner neuerlichen Attraktivität zu untersuchen“ und ihre „bisherigen theoretischen Annahmen und methodischen Ansätze kritisch zu überprüfen.“11 Ihn nur als eine Integrationsideologie für die Krisen moderner Gesellschaften zu begreifen, befriedigte nicht mehr.12 8 9 10 11 12
100 Jahre Frankfurter Goethe-Museum. Reden beim Festakt zur Wiedereröffnung am 20. Juni 1997, in: Jb. FDH 1997, S. 322. „Hochstift erwarb Nachlaß seines Gründers“, FAZ, 27.1.1978, Otto Volger, Sammlung Personengeschichte S2, 7.424, ISG Frankfurt am Main. Lothar Gall, Vorwort, in: ders., (Hg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung, S. VIII. Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, S. 11. Vgl. Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen; Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, S. 105–118.
14
I. Einleitung
In den 1980er Jahren wurde ein neuer Ansatz entwickelt, der Nationen als „imagined communities“ begriff.13 Die daraus erwachsenen Tendenzen, die teilweise einen radikalen Dekonstruktivismus förderten, stießen aber auch auf Kritik.14 Nation wird hier als eine gedachte Ordnung begriffen, die als ein Ordnungsprinzip vorausgesetzt wurde und auf anerkannte Traditionen und Erwartungen zurückgriff, aber dennoch eine relative Offenheit mit einschloss.15 Damit wird der „Elastizität und Offenheit“ nationaler Diskurse Rechnung getragen, die immer an Mentalitäten, Interessenlagen und soziale Gruppen gebunden waren. Mit Blick auf das Hochstift stellen sich daher folgende Fragen: Welche Vorstellungen wurden mit dem Begriff Nation verbunden? An welche Tradition und nationalen Diskurse knüpfte man an? Welche zukunftsweisenden Funktionen und Aufgaben ergaben sich daraus? Wer repräsentierte die soziale Trägerschicht und auf welche Weise wurde „Nation“ im Hochstift erfahrbar und dargestellt? Unter diesem Blickwinkel wird die Ausbildung eines Nationalstaats nicht mehr als historische „Teleologie“16 betrachtet werden können, für den Konzepte einer Kulturnation nur eine notwendige Voraussetzung bedeuten. Friedrich Meinecke unterschied zuerst zwischen Kultur- und Staatsnation, bezog dies aber auf die Gründung eines Nationalstaats, und Franz Schnabel sprach zwar davon, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit nach Sprache, nach Abstammung, aber auch nach dem gemeinsamen historischen Schicksal allen Völkern eingeboren ist,
aber nach einer staatlichen Form strebt.17 Das kulturelle Nationskonzept des Hochstifts soll deshalb nach den Aussagen über die Relevanz und Gestalt des zukünftigen Nationalstaats analysiert werden, ohne es nur als eine Vorbedingung für diesen zu betrachten. Besonders vor dem Hintergrund der Reichsgründung soll der Beitrag des Hochstifts zur Nationsbildung ausführlicher behandelt werden. In der deutschen Historiografie galt der Weg, der 1871 schließlich zum kleindeutschen Kaiserreich führte, lange als alternativlos und selbst jüngere Veröffentlichungen gelangen zu dem Schluss: Auch und gerade wenn man nicht den Schlachtensieg und die geschaffenen Tatsachen heilig zu sprechen geneigt ist, die kleindeutsche Lösung hatte die Logik der geschichtlichen Wahrheit für sich.18
Aus der Perspektive der Zeitgenossen, die wie Volger und andere zu der Generation von 1848 gehörten, war die Sache nicht so einfach. Das Freie Deutsche Hochstift stellt einen bisher unbeachteten Beitrag zur Vielfalt der nationalen Dis13 14 15
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Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation; Ernest Gellner, Nations and Nationalism; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus; ders. (Hg.), The Invention of Tradition. Vgl. Anthony D. Smith, Nationalism, Theory, Ideology, History, hält an ethnischen Konstituierungsfaktoren fest. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), S. 23; Alexa Geisthövel, Eigentümlichkeit und Macht. Deutscher Nationalismus 1830–1851. Der Fall Schleswig Holstein, S. 14. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 35. Franz Schnabel, Das Werden des Reiches, S. 117. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 792.
I. Einleitung
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kurse dar, die auf Alternativen zur Reichsgründung verweisen. Im Gegensatz zu älteren Auffassungen haben diese Alternativen wieder neue Aufmerksamkeit gefunden. Der Deutsche Bund gewann neues Interesse sowie all jene Bestrebungen, die sich mit seiner Reform und den damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten.19 Dabei widmete man auch der Epoche zwischen 1848 und 1871 eine stärkere Aufmerksamkeit, weil man jenen Zeitabschnitt nicht mehr als ein „Übergangszeitalter“ bewertete, sondern als „Formationsepoche“ betrachtete.20 Auch andere Modelle staatlicher Entwicklungsmöglichkeiten, wie die Idee einer „Deutschen Trias“, werden nicht mehr aus der Perspektive des späteren „preußisch-deutschen Nationalstaats“ geschildert, um alternative Spielräume zur Reichgründung herauszuarbeiten.21 In diesem Zusammenhang wird beispielsweise ein „föderativer Nationalismus“ thematisiert, dessen Traditionen zugleich neue Perspektiven auf das Alte Reich eröffnen.22 Die Ansätze einer großdeutschen Nationsbildung erhielten dadurch neue Aufmerksamkeit.23 Obwohl die Stadt Frankfurt am Main als eine Hochburg des Liberalismus und demokratischer Strömungen beschrieben wurde, in der durchaus andere Vorstellungen über die deutsche Frage kursierten, fand das Freie Deutsche Hochstift unter diesen Gesichtspunkten kaum Beachtung.24 Die Untersuchung des Beitrags des Hochstifts zur Nationsbildung bietet damit neue Aspekte, die auch für die Geschichte der bürgerlich-liberalen Bewegung in der Region von Bedeutung sind. Nach der Analyse der nationalen Programmatik soll anhand von drei Komplexen die Umsetzung dieser Ideen veranschaulicht werden. Der erste Komplex untersucht die vom Hochstift angestrebte Generierung eines nationalen Kommunikationsraums mithilfe von Bildung. Dazu wollte der Verein in Frankfurt eine 19
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Vgl. Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlichnationalen Emanzipation; Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850– 1866; Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund, 1815–1866. Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, Deutschland 1849–1871, S. 11–24. Peter Burg, Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit, S. 3. Über die Bedeutung einzelstaatlicher Identitäten für den Prozess der Nationsbildung vgl. Abigail Green, Fatherlands: State-Buildig and Nationhood in Nineteenth-Century Germany. Vgl. Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation; Dieter Langewiesche, Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa; Mark Hewitson, Nationalism in Germany 1848–1866. Revolutionary Nation. Vgl. Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays; James J. Sheehan, German History 1770–1866. Vgl. Nicholas Martin Hope, The Alternative to German Unification. The Anti-Prussian Party Frankfurt, Nassau, and the two Hessen 1859–1867, Hope geht zwar auf Ludwig Büchner ein (S. 263–267), der zu den Gründungsmitgliedern des Freien Deutschen Hochstifts gehörte, ohne aber das Hochstift und Otto Volger zu berücksichtigen; Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866–1914), S. 10–17; Ralf Roth, Liberalismus in Frankfurt am Main 1814–1914. Probleme seiner Strukturgeschichte; ders., Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Band 3: 1789–1866.
16
I. Einleitung
nationale Akademie für Wissenschaft und Kunst bilden und daneben eine bürgerliche Hochschule gründen. Hinter diesen Ideen steckte der Anspruch, einmal das gesamte höhere Bildungswesen auf Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Organisationen neu zu gestalten. Über das Universitätswesen und die Bildungsgeschichte im 19. Jahrhundert liegen umfangreiche Datensammlungen, Übersichten und einzelne Arbeiten vor, die sich mit der Entwicklung der deutschen Universitäten beschäftigen und durch Einzelforschungen zu ausgewählten Gelehrten und Fächern ergänzt wurden.25 Allerdings wird gerade die Entwicklung der höheren Bildung nur aus der Perspektive der staatlichen Bildungspolitik betrachtet. Deren Zielsetzung war es, an „erster Stelle qualifiziertes Personal für den Staatsdienst bereitzustellen“.26 Neue Impulse erhielt die Bildungsgeschichte durch die Bürgertumsforschung, welche die Bildung als eine zentrale Kategorie der bürgerlichen Lebenswelt beschrieb. Die Lesegesellschaften und Vereine als Träger dieser bürgerlichen Ideale wurden detailliert untersucht und als wesentlicher Beitrag zur Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit gewertet.27 Zunehmendes Interesse gewann dabei die Wissenschaftspopularisierung als Teil der bürgerlichen Kultur.28 Die Popularisierung wurde auch anhand der Museen als Teil der nationalen und politischen Identitätsbildung wahrgenommen.29 Im Fall des Hochstifts ergeben sich folgende Fragen: Aus welchen Gründen erfolgte die Ablehnung der staatlichen Bildungsstrukturen und wie sollten die Alternativen organisiert werden? Welche Bildungsvorstellungen waren daran geknüpft und welchen Adressatenkreis sollten sie erreichen? Welchen Einfluss 25
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Vgl. Karl-Ernst Jeismann (Hg.), Bildung, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung; Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914; Bernhard Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive; Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert; Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland, S. 565. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft; Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich; Werner Conze/Reinhart Koselleck/Rainer Lepsius/ Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert; Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums; Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt; Lothar Gall/Andreas Schulz (Hg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert; Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914; Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne; Carsten Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Vgl. Barbara Wolbring, Politisch motivierte Popularisierung im Fall des Germanischen Nationalmuseums; Michael Kamp, Das Museum als Ort der Politik. Münchner Museen im 19. Jahrhundert.
I. Einleitung
17
nahmen die nationalen Vorstellungen auf die Konzeption und das Selbstverständnis von Wissenschaft, Kunst und Bildungsvermittlung? Welche Veränderungen erfuhren diese Ansprüche durch die historischen Entwicklungen des staatlich organisierten Bildungssektors? Ein zweiter Komplex betrachtet das Freie Deutsche Hochstift als einen Teil des stadtbürgerlichen Panoramas in Frankfurt. Nur eine Stadt wie Frankfurt, so hatte Otto Volger 1859 enthusiastisch verkündet, könne eine Organisation wie das Hochstift beherbergen. Neben Frankfurts geschichtlichen Traditionen bezog sich Volger auf die Stellung Frankfurts als unabhängigen Staat im Deutschen Bund und dessen bürgerliche Selbstverwaltung. Eine liberal gesinnte Stadtregierung festigte Frankfurts Ruf als „Liberalennest“ und machte die Stadt zu einem Zentrum der nationalen Bewegung.30 Besondere Hoffnungen aber setzte Volger auf die vielfältigen Strukturen und Organisationen des städtischen Bürgertums. Von ihnen erwartete er eine Unterstützung des Hochstifts. Beispielsweise formulierte er schon 1859 den Gedanken, in Frankfurt eine Hochschule durch Zusammenschlüsse der lokalen Vereine und Stiftungen ins Leben zu rufen. Der außerordentliche Aufschwung der Bürgertumsforschung in den letzten Jahrzehnten wurde von der Frage getrieben, wie überhaupt der Begriff „Bürgertum“ zu definieren sei. Neben den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen31 richtete man das Augenmerk vor allem auf die konkreten Formen der bürgerlichen Gemeinschaften, wie sie etwa das Stadtbürgertum repräsentierte.32 Was auch immer als Teil bürgerlicher Lebenswelt und Bürgerkultur bezeichnet wurde, sollte auf der städtischen Ebene in seinen konkreten Ausprägungen untersucht werden. Im Zuge dieser vielfältigen Arbeiten, bei der einzelne Städte33 im Mittelpunkt der Untersuchungen standen, entwickelte sich – im Gegensatz zu früheren Deutungen – die Auffassung von der bisher unterschätzten Reform- und Anpassungsfähigkeit der bürgerlich-städtischen Gemeinschaften in der Umbruchszeit von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Besondere Aufmerksamkeit widmete man in diesem Zusammenhang den vielfältigen Handlungsfeldern des Bürgertums. Schon lange zählten die Vereine34 zu den wichtigen Instrumenten zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaftsidee. In den letzten Jahrzehnten
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Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 398. So die Arbeiten der interdisziplinären Forschungsgruppe der Universität Bielefeld „Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich“; vgl. Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Dazu zählen die Arbeiten des Frankfurter Forschungsprojektes „Stadt und Bürgertum“; vgl. Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland; ders., (Hg.) Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. Vgl. Ralf Zerback, München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1780–1870; Susanne Kill, Das Bürgertum in Münster 1770–1870. Vgl. Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert; Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland; ders., Vereinsbildung und Nationsbildung.
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I. Einleitung
weckten, beeinflusst durch die aktuellen Entwicklungen, die Formen des bürgerlichen Mäzenatentums und des bürgerlichen Stiftungswesens neues Interesse.35 Es ist zu fragen, wie sich die Zusammenarbeit des Freien Deutschen Hochstifts mit den bestehenden Formen der städtischen Bürgerkultur entwickelte. Welche Formen der Zusammenarbeit existierten und welche Rolle spielte das Hochstift schließlich bei der Gründung der Frankfurter Universität? Volger hatte immer wieder gefordert, dass sich Frankfurt zu einer Art „Kulturhauptstadt“ Deutschlands entwickeln müsse. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, wie sich die lokalen Vereine und Stiftungen zu diesen nationalen Ambitionen positionierten. Gleichzeitig sollen unter dem Gesichtspunkt, dass „die Stadtverwaltung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen immer stärkeren Gestaltungswillen im kulturellen Bereich entwickelte“36, die Beziehungen und Konflikte in Bezug auf die kommunale Kulturpolitik, die beispielsweise die Subventionierung des Goethehauses betrafen, analysiert werden. Wie gestaltete sich die „public-private partnership“, die heute wieder als eine Alternative betrachtet wird.37 Ein dritter Komplex widmet sich abschließend der Rolle der Goethepflege im Rahmen des Hochstifts. Bis heute wird es Otto Volger als Verdienst angerechnet, der „Retter des Frankfurter Goethehauses“ zu sein. Er erwarb es zunächst als Privatmann und überführte es schließlich in den Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Die Einrichtung des Hauses als Gedenkstätte und Museum folgte der Tendenz des 19. Jahrhunderts, die Dichter- und Künstlerhäuser als öffentliche Personengedenkstätten einzurichten, die in den letzten Jahren immer wieder als ein Forschungsdesiderat bezeichnet wird.38 Das Frankfurter Goethehaus zählte zu den ersten und bedeutendsten Beispielen bürgerlicher Memorialstätten. Goethe gehörte, so wie auch Schiller, zu den großen Symbolfiguren, mit denen im Hochstift die deutsche Kulturnation inszeniert wurde. Die Nutzung des Hauses als Memorialstätte und „Nationalheiligtum“ soll in den zeitgeschichtlichen Horizont eingeordnet werden und es ist zugleich danach zu fragen, welche Initiativen bereits in den Jahrzehnten davor in Frankfurt existierten, das Goethehaus als ein Nationaldenkmal zu nutzen. 35
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Dazu die Reihe Bürgerlichkeit – Wertewandel – Mäzenatentum, Bd. I, Thomas W. Gaehtgens /Martin Schieder (Hg.), Mäzenatisches Handel. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft; Bd. II, Jürgen Kocka/Manuel Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert; Bd. III, Andrea Meyer, In guter Gesellschaft. Der Verein der Freunde der Nationalgalerie Berlin von 1929 bis heute; Bd. IV, Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Bernhard Kirchgässner (Hg.), Stadt und Mäzenatentum; Thomas Adam/Manuel Frey (Hg.), Stiftungen seit 1800, Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur. Kulturpolitik in Frankfurt am Main zwischen Mäzenatentum und öffentlicher Finanzierung 1866–1933, S. 25. Ebenda, S. 13. Heike Schindler/Hendrik Kalvelage, Personengedenkstätten des 19. Jahrhunderts. Eine Tagung im Frankfurter Goethe-Haus/Freien Deutschen Hochstift, in: Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenstätten e. V. in: ALG Umschau, Nr. 46, S. 11–13; vgl. Paul Kahl, Museum – Gedenkstätte – Literaturmuseum, in: Jb. FDH 2010, S. 338–360.
I. Einleitung
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Auch die Goetherezeption des Hochstifts wurde bisher noch nicht ausgewertet. Dabei spielt sie für das Verständnis der kulturellen Nationsbildung die zentrale Rolle. Zugleich war sie in den ersten Jahrzehnten politisch aufgeladen, da Goethe als verbindendes Nationalsymbol gegen die preußische Politik in Stellung gebracht wurde. Bisher wurde die Goetherezeption im Kaiserreich vor allem als „eine Entpolitisierung“ des Dichters beschrieben, um die gelungene „Einheit von Geist und Macht“ seit 1871 zu bekräftigen.39 Als ein institutioneller Ausdruck dieser Motivation wird dabei auf die Gründung der Goethegesellschaft 1885 verwiesen, die sich unter der Schirmherrschaft des Weimarer Hofes vollzog. Nur eine geringe Beachtung fand bisher der Plan Volgers, unter dem Protektorat des Weimarer Großherzogs Carl Alexander eine Goethestiftung zu begründen, die unter Leitung des Hochstifts die Frankfurter und Weimarer Goethestätten und deren Archive vereinen sollte. Dieses Projekt, das ausdrücklich als großdeutsche Kulturstiftung auch Österreich mit einbezog, stellte nicht nur institutionell, sondern auch inhaltlich ein Gegenmodell zur späteren Goetherezeption in Weimar dar. Zu verdeutlichen ist aber auch, wie nach dem Scheitern dieses Projekts, das nicht zuletzt durch Volgers Ausscheiden aus dem Hochstift verursacht wurde, sich die weitere Goetherezeption innerhalb des Hochstifts entwickelte. Welche nationalen Bezüge dominierten nach 1881 das Goethebild? Dazu soll ein Vergleich der Festkultur herangezogen werden, der die großen Goethejubiläen von 1879 und 1899 einander gegenüberstellt. Über das Freie Deutsche Hochstift liegen bisher zwei Veröffentlichungen vor, die sich seiner Geschichte widmen. 1959 erschien zum Jubiläum seiner hundertjährigen Gründung eine von der Verwaltung in Auftrag gegebene Geschichte, die der Archivar Fritz Adler verfasst hatte. Sie behandelt den Zeitraum von 1859 bis 1885.40 Adler unternimmt darin auch den Versuch, Otto Volgers Verdienste neu zu würdigen. Neben der Benutzung Frankfurter Archive gelang es Adler, in Walsrode/Niedersachsen Einblicke in den Nachlass Otto Volgers zu gewinnen. Adlers Aufführungen haben das Verdienst, zum ersten Mal einen auf Quellen gestützten Überblick zu verschaffen und dabei wichtige Projekte, wie die Goethestiftung, anzusprechen. Allerdings blieben viele Dinge, sicherlich bedingt durch die Vorgabe der Verwaltung, ein für die Mitglieder lesbares Werk zu liefern, ohne weitere wissenschaftliche Ausführung. So blieb das gesamte Nationskonzept unberücksichtigt, auch Volgers Wirken während der Revolution von 1848 wird nur angedeutet, über Volgers Verwicklungen in die militärischen Ereignisse von 1866 wird eine falsche, allerdings von Volger selbst in die Welt gesetzte Beschreibung geliefert. Zugleich sah sich Adler befleißigt, Volger vom Vorwurf des Antisemitismus zu entlasten.
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Jochen Golz (Hg.), Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland, S. IX; Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 1, 1773–1918, S. 201–211; vgl. Klaus Manger, „Klassik“ als nationale Normierung? Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift. Seine Geschichte. Erster Teil 1859–1885.
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I. Einleitung
Über Volgers Beteiligung an der Revolution von 1848 wurden, angefangen mit einem Aufsatz von Wolfgang Gresky41, neue Erkenntnisse gewonnen, die mittlerweile eine fundierte Rekonstruktion ermöglichen. Um Volgers Idee des Hochstifts auch aus seinen Erfahrungen zu erklären, die er als Teilnehmer an der Revolution von 1848 und als Privatdozent an der Universität Göttingen sammelte, wurden diese Arbeiten sowie die entsprechenden Archive herangezogen. 2009 erschien als Fortsetzung von Adlers Werk Joachim Sengs Hochstiftsgeschichte.42 Der Leiter der Bibliothek des Freien Deutschen Hochstifts schildert darin die Entwicklung bis zum Jahr 1960. Sengs Werk bietet eine Fülle an neuen Informationen und behandelt zum ersten Mal wichtige Themen, wie beispielsweise die sozialreformerischen Initiativen und die Entstehung des Goethemuseums. Da er auf Adlers Arbeit aufbaut, blieben aber viele Fragen weiter offen, etwa die Frage nach Nationskonzept oder dem Bereich der Goetherezeption. Adlers Interpretation von Volger als eines verkannten und in seinen letzten Jahren als Obmann in Frankfurt isolierten Idealisten findet bei Seng insofern einen Nachhall. Dabei konnten allerdings die früheren Initiativen Volgers, etwa sein stetes Werben um die Frankfurter Vereine, nicht berücksichtigt werden. Die folgenden Ausführungen versuchen also, anhand der genannten Themen in chronologischer Folge einen ersten Gesamtblick über das Freie Deutsche Hochstift zu ermöglichen. Dabei können der Wandel und die Kontinuität der bürgerlichen Vorstellungen von Nation, Bildung und kulturellen Werten am Beispiel einer konkreten, in die stadtbürgerliche Umwelt eingebundenen Vereinigung analysiert werden. Diese umfassende Perspektive, die sich durch den inneren Zusammenhang der Komplexe rechtfertigt, zielt zunächst auf die großen Entwicklungslinien. So wie die erstmalige Auswertung der sozialen Herkunft der Mitglieder eine erste Bestandsaufnahme bedeutet, so wären weitere Forschungen wünschenswert, die etwa die Mitgliedschaften in anderen Vereinen thematisieren oder noch stärker auf die Rolle und Bedeutung der jüdischen Mitglieder eingehen. Auch weitere Untersuchungen über die Beziehungen des Hochstifts zu anderen Vereinigungen und Gesellschaften, wie beispielsweise dem Germanischen Nationalmuseum oder der „Leopoldina“, versprechen weitere Ergebnisse im Blick auf den Wandel der nationalen Wissens- und Bildungskultur. Diese Fragen konnten aber in der vorliegenden Arbeit nur teilweise berücksichtigt werden, da sie sonst den Rahmen gesprengt hätten. Es bleibt aber zu wünschen, dass die folgenden Ergebnisse weiterführende Forschungen ermutigen.
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Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung auf der Plesse 1848 und der Göttinger Revolutionär Otto Volger, in: Plesse–Archiv 8, S. 31–68. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus und Bürgersinn. Das Freie Deutsche Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum 1881–1960.
II. DIE GRÜNDUNG DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS 1. NATIONALE MOBILISIERUNG UND DIE SCHILLERFEIERN VON 1859 Un alle Deutsche sein heut Brieder / Un sein heut stolz druff, deutsch ze sei / Un feiern dich un all die Lieder / Selbst dies noch in Brasillje drei.1
In über 440 deutschen und etwa 50 ausländischen Städten wurde am 10. November 1859 der 100. Geburtstag Schillers gefeiert. Die Schillerfeiern stellten nicht nur einen Höhepunkt der öffentlichen Festkultur dar, sondern schufen einen gemeinsamen Raum der öffentlichen Präsenz und Kommunikation, der nach Jahren der Reaktion und der scharfen Zensurmaßnahmen gegen alle öffentlichen Kundgebungen ein einschneidendes Ereignis markierte.2 Noch Jahrzehnte später wurden sie wahrgenommen als die „großartigste Huldigung […], die je dem Gedächtnis eines Dichters dargebracht wurde“.3 In Vorbereitung der Feierlichkeiten, die zumeist vom 9. bis 11. November einem festen Programm folgten, hatten sich am 10. Oktober 1859 in Dresden die Schillerstiftungen aus 16 deutschen Städten zur „Deutschen Schillerstiftung“ vereinigt, deren eigentlicher Zweck die Unterstützung in Not geratener Schriftsteller war.4 Trotz der spürbaren Liberalisierung des öffentlichen Lebens in Teilen des Deutschen Bundes begegneten die Regierungen den Feiern mit Skepsis. Die Befürchtung, dass sie zu politischen Kundgebungen missbraucht würden, war vor allem in Preußen verbreitet, sodass die dortigen Feierlichkeiten nicht nur unter massiver Polizeibeobachtung standen, sondern zudem in ihren Abläufen strengen Auflagen unterworfen waren. Ein Berliner Komitee plante ein dreitägiges Festprogramm, dessen Höhepunkt ein Fackelzug mit Illuminationen bilden sollte. Dieser wurde vom Berliner Polizeipräsidenten verboten und dagegen nur die öffentliche Grundsteinlegung für ein Schillerdenkmal genehmigt.5 Trotzdem kam es zu diesem Anlass zu Ausschreitungen, bei denen die Polizei gegen eine Volksmenge vorging, deren Zorn sich nun auch gegen die anwesenden Vertreter des bürgerlichen Festausschusses richtete. Dennoch verliefen die meisten Feierlichkeiten im Bundesgebiet friedlich, da ihre Planung und Durchführung zumeist in den Händen des gebildeten Bürgertums lagen. Die Schillerfeiern waren trotz aller politischen Untertöne und Kritik auch ein gesellschaftliches Ereignis. 1 2 3 4 5
Friedrich Stoltze, Zu Schiller’s hundertjährigem Geburtstag, in: Ausgewählte Gedichte, S. 2. Zur Bedeutung der Schillerfeiern, Thomas Nipperdey, Geschichte 1800–1866, S. 722. Albert Ludwig, Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 399. Die deutsche Schillerstiftung an die Deutschen, in: Norbert Oellers, Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, S. 413. Rainer Noltenius, Schiller als Führer und Heiland, S. 240.
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Die Feiern in Frankfurt am Main folgten dem gleichen Muster wie in anderen größeren Städten. Es gab Umzüge, Ansprachen, Aufführungen von Schillers Stücken, Festbankette und Choraufführungen. Am Ende wurden Spenden zur Errichtung eines Schillerdenkmals gesammelt. Auch in Frankfurt wurde ein Festkomitee gegründet, das die wichtigsten Honoratioren des Frankfurter Bürgertums in sich vereinigte. In einem Aufruf zu der Feier hieß es: Er hat, als das deutsche Reich versank, mit seinem großen Freunde, dessen Wiege in unserer Vaterstadt stand, uns ein neues Reich gegründet, als dessen Würdenträger wir ihn verehren. […] An keinem Ort aber sollte sich das Andenken des Herrlichen volksthümlicher und lebenskräftiger erweisen, als bei uns, in der deutschen Krönungsstadt. Die Entfaltung des Geistes verbürgt noch unserem Vaterland eine große Zukunft, und Schiller ist der beste Prophet derselben.6
Drei Punkte aus diesem Aufruf sind hervorzuheben. Erstens wird auf den politischen Zustand Deutschlands angespielt. Das vergangene Reich lebt durch die Vorstellung einer Kulturnation, die in der Verehrung Schillers die Deutschen zumindest geistig vereinigt, fort.7 Zweitens wird Frankfurt, ehemals Krönungsort der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als zentrale Metropole deutscher Vergangenheit apostrophiert, wobei die Zeitgenossen sicherlich Frankfurt auch als einen Hort der nationalen Bewegung wahrnahmen. Der dritte Punkt repräsentiert die Erwartung, dass aus der gefeierten Kulturgemeinschaft einmal eine neue Form staatlicher Einheit erwachsen werde.8 Die Propagierung der bürgerlichen Kulturideale sollte einerseits der Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft dienen und andererseits sollte aus dem gemeinsamen bürgerlichen Kulturbewusstsein heraus die Gründung eines deutschen Nationalstaats hervorgehen.9 Trotz der politischen Symbolik, die auch die Frankfurter Feier prägte, blieben die dreitägigen Festlichkeiten in geordneten Bahnen. „Frankfurts Behörden, zu ihrer Ehre sei es gesagt, hielten diesen Geist nicht für staatsgefährlich, sondern unterstützten sein Walten nach Kräften“, heißt es in einem zeitgenössischen Kommentar.10 Dazu trug auch die Tatsache bei, dass dem Frankfurter Festausschuss viele Personen angehörten, die sowohl an der Revolution von 1848 teilgenommen hatten als auch in der neu erwachten nationalen Bewegung mitwirkten.11 Die Planung durch einen bürgerlichen Festausschuss sorgte für einen geordneten Ablauf der Feier und kanalisierte zugleich die möglichen emotionalen Reaktionen der Teilnehmer. Dennoch kam es vereinzelt – das Berliner Beispiel bezeugt 6 7 8 9 10 11
Gedenk-Buch zu Friedrich von Schiller’s hundertjähriger Geburtsfeier, begangen in Frankfurt am Main, den 10. November 1859, Aufruf an die Bürger und Bewohner Frankfurts, S. 1. Vgl. Otto Dann, Die Tradition des Reiches in der frühen deutschen Nationalbewegung, S. 172. Zur Zweideutschlandtheorie, die vor allem durch die Romantiker getragen wurde, vgl. Wolfgang Frühwald, Die Idee kultureller Nationsbildung in Deutschland, S. 131. Wolfgang J. Mommsen, Kultur als Instrument der Legitimierung bürgerlicher Hegemonie, S. 61. Gedenk-Buch zu Friedrich von Schiller’s hundertjähriger Geburtsfeier, S. XII. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 465.
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es – zu spontanen Entladungen von Protesten und zahlreichen regierungskritischen und an das Erbe der Revolution von 1848 erinnernden Bekundungen. Die Schillerfeiern waren, wie Gabriele Stadler feststellt, eine nationale Verpflichtung, in der „der kulturell-gebildete Deutsche nicht nur seine Gesinnung und die ihr zugrunde liegenden axiomatischen Charaktereigenschaften demonstrierte“, sondern er auch teilhatte „an dem Glanz, Ruhm und der Ehre“, die auf die deutsche Nation ausstrahlte.12 Die nationalen und auch religiösen Implikationen der Schillerverehrung waren aber nicht das Ergebnis der Feiern im Jahre 1859. Schon seit den „Befreiungskriegen“ gehörte Schiller zum Inventar der nationalen Repräsentation. Schillerzitate waren geflügelte Worte und Belege nationaler Identifikation. Vor allem in den studentischen und burschenschaftlichen Lieder- oder Stammbüchern fanden sie eine weite Verbreitung.13 Die Aufführungen schillerscher Stücke boten der Öffentlichkeit einen Ort, an dem man ungestraft Sympathien für nationale oder bürgerliche Ideale äußern konnte. Sogar in den Debatten der Nationalversammlung verteidigten die Schillerzitate den ersten Rang in den gehaltenen Reden. Dabei war ihre Verwendung anhängig von den jeweiligen Diskursen und Teilnehmern.14 Einen vormärzlichen Höhepunkt der Schillerverehrung bildete die Einweihung des Schillerdenkmals in Stuttgart im Mai 1839. Initiiert wurde es durch den 1826 gegründeten „Schillerverein“. Diese Feier, wie auch andere Denkmalsweihen, etwa die Reformations- und die Gutenbergfeiern, eröffneten dem liberaldemokratischen Bürgertum im Vormärz die Möglichkeit, trotz aller staatlichen Beschränkungen eine öffentliche Kommunikation zu initiieren und größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren. Der Denkmalskult, einst das Reservat aristokratischer Herrschaftsdarstellung, wurde nun eine bürgerliche Domäne mit bürgerlichen Symbolen und diente als Mittel dazu, um nationale Gemeinschaften zu beschwören.15 Die religiösen und nationalen Implikationen der Schillerfeiern sind, wie später noch ausführlicher erläutert wird, Merkmale der grundsätzlichen Relevanz, die Bildung und Kultur für das Bürgertum bedeuteten. Gerade die Bildungsidee spielte im Verbund mit dem Vereinswesen eine wesentliche Rolle in der Umbruchphase von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Wenn man die Schillerfeiern von 1858 genauer analysiert, fällt die große Zahl der daran beteiligten Vereine auf. Bürgerliche Vereine standen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter verschärften Auflagen und der Beobachtung des Staates. Im Zuge der vormärzlichen und nachrevolutionären Reaktionspolitik wurden sie entweder verboten oder reglementiert. Nationale, liberale oder demokratische Ideale konnten nur im Rahmen einer Festkultur geäußert werden. Mögen auch einzelne Turnerbewegungen 12 13 14 15
Gabriele Stadler, Dichterverehrung und nationale Repräsentanz, S. 130. Ute Gerhard, Schiller als Religion, S. 133 ff. Ebenda, S. 210; vgl. Otto Dann, Schiller, S. 176. Vgl. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland; vgl. auch die Studie von Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, S. 13–28.
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in Süddeutschland radikaldemokratischer eingestellt gewesen sein, so gingen doch die mehrheitlichen Positionen konform mit den Ideen des gemäßigten Liberalismus.16 Dessen Vorstellungen, etwa der Konstitutionalismus, die Grundrechte und der nationale Verfassungsgedanke blieben weiterhin unter der Oberfläche der überwachten bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland existent. Ein Jahrzehnt nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 und dem Versuch des Bürgertums, Deutschland auf dem Wege eines parlamentarischen Konstitutionalismus zum Nationalstaat zu vereinigen, schien jenes Ziel in weite Ferne gerückt zu sein. Der unter Österreichs Einfluss reaktivierte Deutsche Bund war nach dem Scheitern der Nationalversammlung in eine neue Phase der Reaktion übergegangen. Dennoch begann sich Ende der 1850er Jahre das „System der Reaktion“ zu wandeln, die Übernahme der Regentschaft in Preußen durch den Prinzregenten Wilhelm galt als Beginn einer „Neuen Ära“.17 Die Beschränkungen, mit denen sich die Öffentlichkeit konfrontiert sah, wurden gelockert, neue Vereine gründeten sich und die Staaten des Deutschen Bundes verfolgten, wie etwa Preußen bei der Tolerierung des 1859 gegründeten Deutschen Nationalvereins, eigene Ziele.18 Der Nationalverein, der sich offen für die „kleindeutsche Lösung“ der deutschen Frage unter Preußens Führung aussprach, verdeutlicht die zunehmende Differenzierung und Politisierung der Nationalbewegung. Schon der österreichisch-italienische Krieg des Jahres 1859 veranschaulichte die Spaltung der deutschen Öffentlichkeit. Das national gesinnte Bürgertum war zweifellos fasziniert von den Bemühungen Sardinien-Piemonts, die nationale Einigung Italiens herbeizuführen. Dennoch waren gerade in Süddeutschland viele nicht bereit, diese Einigung auf Kosten Österreichs zu unterstützen und forderten den militärischen Beistand des Deutschen Bundes für die Donaumonarchie. Obwohl schon im Juli der Waffenstillstand von Villafranca die Kampfhandlungen beendete, in die auch Frankreich aufseiten Sardiniens eingegriffen hatte, erlitt Österreich durch den Verlust der Lombardei eine herbe Niederlage. Die Ereignisse in Italien verliehen der nationalen Bewegung in Deutschland einen neuen Aufschwung, der sich auch in den Schillerfeiern niederschlug. Frankfurt blieb auch nach den Ereignissen von 1848/49 die heimliche Hauptstadt der nationalen Bewegung.19 Umso aufmerksamer blickten 1859 einige Regierungen des Deutschen Bundes auf das „Demokratennest“, allen voran die preußische. Beunruhigende Informationen lieferten Berichte, die vom Spitzelsystem des Polizeivereins20 gesammelt worden waren. So hieß es etwa, dass man in Frankfurt plane, die Trikolore zu zeigen, und im Kaisersaal des Römers solle eine 16 17
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Dieter, Düding, Nationale Oppositionsfeste der Turner, Sänger und Schützen im 19. Jahrhundert, S. 175. Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849–1871, S. 190; ders., Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, S. 401–403; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 697–704. Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland, S. 37. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 464. Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, S. 44; vgl. ders., „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866.
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Feier zum Andenken an Robert Blum stattfinden.21 Diese Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, dennoch waren im gesamten Ablauf der Frankfurter Feiern, die vom 9. bis 11. November währten, nationale Bekundungen deutlich vernehmbar. Schon einen Tag vorher waren in den Vereinen, Gewerbe- und Unterrichtsanstalten und im Theater die Feierlichkeiten eröffnet worden. Den Höhepunkt der städtischen Feiern bildete der Festumzug am 10. November mit ca. 40.000 Teilnehmern durch die Stadt auf den Römerberg. Dort hatte man über dem JustitiaBrunnen ein provisorisches Schillermonument errichtet. Der Frankfurter Festzug repräsentierte ein bildhaftes Panorama der städtischen Traditionen und Strukturen. Angeführt von den Honoratioren der Stadt, folgten die einzelnen Gewerbe, Zünfte und Vereine.22 So führten die Maschinenbauer auf ihrem Festwagen eine Dampfmaschine als sinnbildliches Zeichen des industriellen Fortschritts mit sich. Mag Noltenius23 auch bei der Bewertung der Berliner Feierlichkeiten von einem labilen Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden sozialen Schichten und Traditionen sprechen, so war in Frankfurt davon nichts zu spüren. In älteren Darstellungen wurde zumeist das Altständisch-Zünftige des Festumzugs betont, der schließlich auch manche auswärtigen Beobachter zu spöttischen Bemerkungen reizte.24 Als der Frankfurter Festumzug auf dem Römerberg anlangte, wurde ein provisorisches Schillerdenkmal, umrahmt von festlichen Gesängen und Reden, enthüllt. Einer der Hauptredner war Maximilian Reinganum. Reinganum, von Beruf Advokat, war nicht nur ein aktiver Teilnehmer der Revolution von 1848 gewesen – er saß im Vorparlament und war am Septemberaufstand aktiv beteiligt – sondern er war auch als Mitbegründer des Montagskränzchens und als Teilnehmer am Wachensturm von 1833 ein personifiziertes Urgestein der demokratischen Bewegung in Frankfurt. Einheit und Freiheit waren auch die Kernbotschaft seiner kurzen Ansprache. Aber es war der ächten, freien, idealen Lebensanschauung des Deutschen Geistes nicht zuwider, von dem Weltbürgerthume auszugehen, um zu der herzlichen Liebe des Vaterlandes und der vaterländischen Freiheit zu gelangen. […] Ihm ist, dem Unsterblichen, noch das herrliche Los beschieden, daß nach einem Jahrhundert von ihm selbst, von seinem Angedenken, das nach Freiheit und Einheit ringende Deutschland sich vereinigt. Um Schiller zu ehren, zu preisen, reichen sich alle Deutschen Bundesstämme herzliche die Hände. Möge Heil in diesem Zeichen sein. Heil dem Vaterlande.25
Nach der Enthüllung des Denkmals wurde die Einheit der Versammelten durch die allgemeine und lautstarke Rezitation des „Rütli-Schwures“ aus Schillers Wilhelm Tell symbolisch untermauert. Einheit, Freiheit und deutscher Geist sind auch bei Reinganum die Themen, die über die Feier Schillers hinaus auf die nationale 21 22 23 24
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Jürgen Steen, Frankfurter Nationalfeste des 19. Jahrhunderts, S. 281. Ebenda, S. 283. Rainer Noltenius, Schiller als Führer, S. 250. Richard Schwemmer, Geschichte der Freien Stadt Frankfurt a. M., Band 3/I, S.124; vgl. Jürgen Steen, Frankfurter Nationalfeste, der die Gegenüberstellung von Tradition und Fortschritt durch die Konzeption des Festzuges in Frage gestellt sieht, S. 285. Enthüllungsrede des Herrn Dr. Reinganum, in: Gedenk-Buch zu Friedrich von Schiller’s hundertjähriger Geburtsfeier, S. 63.
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Ebene verweisen. Sein Hinweis auf das Weltbürgertum, das der Vaterlandsliebe nicht entgegenstehe, sondern vorausgehe, mag daran erinnern, dass Reinganum, aus einer jüdischen Familie stammend, erst durch die christliche Konversion das Frankfurter Bürgerrecht und damit die Ausübung seines Berufs erlangen konnte. Den Frankfurter Juden wurde zwar 1824 die privatbürgerliche Gleichstellung zugesprochen, doch es vergingen noch fast vier Jahrzehnte, bis die vollständige Gleichstellung erfolgte.26 Die Schillerfeiern boten die Möglichkeit für die jüdischen Gemeinden, ein Bekenntnis zu Schiller und zur deutschen Kultur zum Ausdruck zu bringen. So sprach am 9. November der Rabbiner Hirsch in der Feierstunde der jüdischen Gemeinde mit Bewunderung über Schillers Geist, dessen Weisheit nicht nach Glauben oder Herkunft gefragt habe.27 Und zugespitzt formulierte er weiter: Sind es nicht gerade jüdische Gedanken und Anschauungen, mit denen er sich in das Herz des deutschen Volkes hineingesungen und für welche jetzt das ganze deutsche Volk aufsteht und Schiller den Jubel seines Herzens entgegenbringt.28
Schiller als Sinnbild deutschen Geistes und deutscher Kultur wird von Hirsch mit der jüdischen Überlieferung verschmolzen. Sie werden beide zu Zweigen eines Stammes stilisiert und damit verbindet Hirsch die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Gleichstellung der Juden. Denn, so hält der Rabbiner seinen Zuhörern auch mahnend entgegen, „Geister wie Schiller sind es, denen wir es verdanken, dass allmählig auch der Jude Mensch sein darf […].“29 Die Kultur als verbindendes Element wurde auch als religionsübergreifendes Band verstanden. Die konservativen Gegner der Schillerfeiern kritisierten demnach nicht nur die Beteiligung der Demokraten und Liberalen, denen sie eine politische Instrumentalisierung vorwarfen, sondern sie verwahrten sich ebenso gegen die angeblich dominierende Stellung des Judentums dabei, das besonders durch die Teilnahme von „Kunst- und Literaturjuden“ auffiele. Das führe dazu, dass die „[d]eutsche und christliche, also die konservative Gesinnung, sich mit Notwendigkeit davon abwenden mußte […].“30 Ablehnend verhielten sich auch die katholischen Kreise, die die Schillerverehrung als einen profanen Götzenkult bewerteten. Ein Unbehagen an der „Vergötterung“ Schillers kursierte auch in der protestantischen Orthodoxie. So sprach etwa Gustav Schweizer, Hofprediger der Schlosskirche in Gotha, in einer Predigt über das richtige Verhalten der Gläubigen gegenüber den Schillerfeiern.31 Die religiösen Kritiker verurteilten vor allem die Inanspruchnahme und damit den Missbrauch der Kirchen als religiöse Instanzen,
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Andrea Hopp, Zur Konstituierung des Frankfurter jüdischen Bürgertums, S. 126 u. S. 133 ff. Israelitische Religionsgemeinschaft, in: Gedenk-Buch zu Friedrich von Schiller’s hundertjähriger Geburtsfeier, S. 16. Ebenda, S. 17. Ebenda. „Neue Preußische Zeitung“ vom 10.11.1859, zit. nach Norbert Oellers, Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. I, S. 466. Ute Gerhard, Schiller als Religion, S. 249.
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die in den meisten Städten der Feiern, so auch in Frankfurt, die Umzüge durch Glockengeläut begleiteten. Die Schillerfeiern von 1859 waren Zeugnis einer enormen nationalen Mobilisierung und Erzeugung von Öffentlichkeit unter einem verbindenden Symbol. Blieben sie auch in der Folge ein singuläres Ereignis, so sind doch zwei entscheidende Dinge hervorzuheben: Erstens zeigen sie eine bürgerliche Öffentlichkeit, die trotz Überwachung und Repression gefestigt und selbstbewusst die eigenen Ideale vertritt. Viele Formen von Selbstorganisation und Geselligkeit haben zusammen mit verbesserten Nachrichten- und Reisemöglichkeiten eine moderne Kommunikationsgesellschaft geschaffen, die ein deutschlandweites Ereignis durchzuplanen vermochte. Zweitens werden in den Feiern auch jene Forderungen und Hoffnungen zum Ausdruck gebracht, die auf eine noch zu schaffende nationale Einheit fokussieren. Zumindest auf dem Fest als solchem fühlte sich die bürgerliche Öffentlichkeit über die Grenzen hinaus als Teil einer verbindenden deutschen Kulturgemeinschaft. Schiller, gefeiert als Symbol bürgerlicher Kultur und deutscher Größe, fand aber auch prominente Kritiker. So erwiderte Franz Grillparzer, angefeindet wegen seiner distanzierten Haltung zu den Schillerfeiern: Man wolle dabei noch etwas anderes feiern als Schiller, den ausgezeichneten Dichter und Schriftsteller: etwa das deutsche Bewusstsein, die deutsche Einheit, die Kraft und die Machtstellung Deutschlands. Das sind schöne Dinge! – aber derlei muß sich im Rat und auf dem Schlachtfelde zeigen.32
Grillparzers prophetische Worte bestätigten sich nur wenige Jahre später und noch bevor das Deutsche Reich auf den französischen Schlachtfeldern gegründet wurde, ging auf den böhmischen Schlachtfeldern vier Jahre zuvor die Selbstständigkeit Frankfurts verloren. In Frankfurt trafen am 23. Oktober 1859 auf Einladung Otto Volgers, eines Dozenten an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, 56 Personen im Gebäude der Loge „Carl zum aufgehenden Lichte“ in Frankfurt zusammen, um die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts vorzubereiten. Das Hochstift sollte [z]ur Kräftigung der einheitlichen Geistesmacht und zur Erweckung des Selbstgefühls des Deutschen Gesammtvolkes, die Schaffung eines Deutschen Sammelpunktes für alle freie Thätigkeit in Wissenschaften, Künste und allgemeinen Bildungseinrichtungen
repräsentieren.33 Ganz im Sinne der Vorstellungen, die eine Einheit in einer gemeinsamen Kulturnation erblickten, wollte es einen kulturellen Beitrag zur Nationsbildung leisten. Nachdem am 2. November 1859 die Satzung beschlossen worden war, bestimmte man den 10. November 1859 zum Gründungsdatum des Vereins, der mitten im Glanz der deutschlandweiten Schillerfeiern das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte. Das nationale Konzept des Hochstifts, von einem Altdemokraten und Revolutionär von 1848 entwickelt, schlug einen anderen Weg ein, um die nationale Frage 32 33
Zit. nach Norbert Oellers, Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, Bd. I, S. 428. Ber. FDH 1860, S. 7.
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zu lösen. Volger und auch das liberale Bürgertum hatten aus der gescheiterten Revolution ihre Schlussfolgerungen gezogen. Ein Teil der Liberalen folgte einer Tendenz, die August Ludwig von Rochau 1853 unter dem Begriff „Realpolitik“ zusammenfasste. Rochau vertrat die Auffassung, dass die Revolution deshalb gescheitert sei, weil die liberale Bewegung sowohl die normbegründende Macht faktischer Kräfteverhältnisse im Allgemeinen als auch die Bedeutung ihres eigenen Machtpotentials im Besonderen völlig außer Acht gelassen und sich stattdessen ganz auf die vermeintliche Macht von ,Ideen‘ und ,Prinzipien‘ verlassen hatte.34
Zugleich gab es jene Liberale, wie z.B. in Frankfurt am Main Leopold Sonnemann, die weiterhin am Konstitutionalismus festhielten und einen auf demokratischen Grundrechten basierenden Nationalstaat forderten. Beide Gruppierungen richteten zunächst ihren Blick auf Preußen, wo der Regierungsantritt des Prinzregenten Wilhelm eine „Neue Ära“ verhieß, und beide Gruppierungen setzten auf die Macht der Politik. Die Politik war aber im Freien Deutschen Hochstift von Beginn an ausdrücklich aus allen Tätigkeiten ausgeschlossen. In ihm setzte man vielmehr, ganz im Gegensatz zu Rochau und den Linksliberalen, auf die Macht der Ideen, die Bildung und Kultur repräsentierten. Doch bevor auf die Gründung des Hochstifts detailliert eingegangen werden soll, müssen Otto Volgers Entwicklung, sein Engagement während der Revolution von 1848 und die Lehren, die er daraus zog, skizziert werden. 2. OTTO VOLGER 2.1. Herkunft und berufliche Entwicklung Am 30. Januar 1822 wurde Georg Heinrich Otto Volger als Sohn des dortigen Gymnasiallehrers Wilhelm Friedrich Volger und dessen Gattin, Franziska Rosalie Volger, geborene Kintzel, Tochter eines österreichischen Militärarztes, in Lüneburg geboren.35 Volgers Vater Wilhelm Friedrich Volger (1794–1879) zählte zu den örtlichen Honoratioren Lüneburgs, dessen Karriere nach einer Anstellung als Hilfslehrer und Gymnasiallehrer schließlich durch den Posten des Direktors des Realgymnasiums gekrönt wurde. Neben dieser Tätigkeit veröffentlichte er zahlreiche pädagogische Kompendien. Ebenso ist seine Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen, etwa dem Altertumsverein und der örtlichen Loge, nachzuweisen.36 34 35
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Natascha Doll, Recht, Politik und „Realpolitik“ bei August Ludwig von Rochau (1810– 1873), S. 176. Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 24 ff.; Agnes Volger, Lebensabriß von Dr. Otto Volger, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19912; Zehnseitiger Lebenslauf Otto Volgers, der Promotion beigelegt, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19915. Vgl. Arthur Zechlin, Geschichte der Loge Selene zu den 3 Türmen in Lüneburg, Wilhelm Volger war 45 Jahre Meister vom Stuhl der genannten Loge; „Wilhelm Friedrich Volger“, in:
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In der lokalen Verwaltung wirkte Wilhelm Friedrich Volger lange als Sprecher des Bürgervorsteher-Kollegiums und war in der Verwaltung zahlreicher bürgerlicher Stiftungen tätig. Nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst übernahm er die Leitung des Stadtarchivs und der Ratsbücherei in Lüneburg. Dem Beispiel seines Vaters folgend, studierte auch Otto Volger in Göttingen, zunächst von 1842 bis 1843, Rechtswissenschaften, anschließend wechselte er zu den Naturwissenschaften.37 Anscheinend wurde Volger durch vielfältige Neigungen beeinflusst, zu denen auch künstlerische Interessen gehörten. In späteren Jahren schrieb er einmal: Und wenn ich im Städelschen Kunststifte in Frankfurt oder im Museum zu Berlin die Meisterwerke der großen Künstler erblicke, je länger ich sie betrachte, je mehr ergreift mich der Wunsch ähnliche Schöpfungen auszuführen, deren Schaffung mir als so meinem Können gemäß und selbstverständlich erscheint, dass ich mich kaum enthalten kann, noch in meinen vorgerückten Jahren den Versuch zu machen, nachzuholen, was ich versäumt habe und dadurch, wenn auch noch so verspätet, wieder gut zu machen, dass ich meinen Beruf verfehlt habe!38
Zu seinen Lehrern an der Universität gehörten Friedrich Wöhler39, Friedrich Georg Bartling40 und Friedrich Hausmann41. Seine Leistungen wurden durchgehend mit „ausgezeichnet fleißig“ bewertet, auch als Student fiel er nicht durch unmäßiges Verhalten auf, wie sein Studienbuch mitteilt: Hinsichtlich seines Betragens wird bemerkt, dass überall keine Beschwerde gegen ihn vorgekommen ist. Auch wird bezeugt, dass er wegen Theilnahme an unerlaubten Verbindungen hier nicht in Untersuchung gekommen ist.42
Nach seinem Studium promovierte Volger 1846 mit einer geologischen Untersuchung über Lüneburg: „De Agri Lüneburgici Constitutione Geognostica“ 43. Anschließend wollte er so schnell wie möglich die „venia docendi“ erlangen, um als
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Pierer, Universal-Lexikon der Gegenwart (1846) Bd. 33, S. 158; Otto Volger, „Wilhelm Volger“, ADB (40), S. 404. Aufnahme des Studenten Otto Volger an der Universität Göttingen, 2. May 1842, FDHHausarchiv, Nachlass Otto Volger, Universität Göttingen, vgl. Volgers Lebenslauf zu Erlangung der Dissertation vom 31. März 1845, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. Striche zu meinem Lebensbilde, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, o. S., Bl. 7–8 . Friedrich Wöhler (1800–1882), geboren in Frankfurt, zählte zu den bedeutendsten Chemikern im 19. Jahrhundert, er erforschte u. a. die Harnstoffsynthese, seit 1836 Professor an der Universität Göttingen, vgl. Arthur Kötz, „Friedrich von Wöhler“, ADB 43, S.711–717. Friedrich Georg Bartling (1798–1875) war seit 1831 Professor in Göttingen und seit 1837 Direktor des botanischen Gartens, wurde bekannt durch seine botanische Systematik, vgl. Matthias Jacob Schleiden, „Friedrich Georg Bartling“, in: NDB 1, S. 611. Johann Friedrich Ludwig Hausmann (1782–1859), bedeutender Mineraloge, seit 1811 Professor in Göttingen, vgl. Carl Sprengel, „Johann Friedrich Ludwig Hausmann“, in: NDB 8, S. 124. Studienbuch Otto Volger, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Universität Göttingen, HS 19915, S. 3. Abschrift des Doktordiploms von Otto Volger 1845, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Universität Göttingen, HS 19915; Otto Volger, Verzeichnis meiner Zuhörer, ebenda.
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Privatdozent über Geognosie44 und Petrefaktenkunde45 Vorlesungen halten zu dürfen. Um an der Universität Göttingen die Lehrbefugnis zu erhalten, musste eine Wartefrist eingehalten werden. Volger bat mit Unterstützung der Philosophischen Fakultät um eine Verkürzung. Er lieferte bereits im Sommer 1846 eine Probeschrift ab, hielt eine Vorlesung und bestand ein Kolloquium zu völliger Zufriedenheit der Fakultät bestanden.46 Neben seinem wissenschaftlichen Eifer waren seine finanziellen Sorgen ausschlaggebend, die ihn dazu veranlassten, so schnell wie möglich als Privatdozent wirken zu wollen. Die Abhängigkeit einer Privatdozentur von Kolleggeldern war zwar finanziell prekär, aber sie bot doch die Möglichkeit geringer Einkünfte und zusätzlich ein gesellschaftliches und wissenschaftliches Prestige und Kontakte in die universitäre Welt. Volger, der nach den revolutionären Ereignissen von 1848 später in Göttingen als einer der „intellektuellen Urheber“ denunziert wurde, schrieb dem Universitäts-Curatorium, er wäre „seit Anfang meines dritten Semesters allen studentischen Kreisen durch meine eigenthümlichen Studien völlig entfremdet gewesen“.47 Trotz seiner wissenschaftlichen Qualifikationen und Kenntnisse, die er durch geologische Forschungsreisen erweiterte, die fast 14 Monate in Anspruch nahmen und seine ökonomische Situation weiter verschlechterten, deren wesentliche Stütze familiäre Zuwendungen waren, lehnte das UniversitätsCuratorium seinen Antrag ab.48 Erst im Januar 1847, nach Ablauf der vorgeschriebenen Frist, erteilte man Volger die auf ein Jahr befristete Lehrerlaubnis.49 Seine finanzielle Notlage konnte dadurch jedoch nicht behoben werden, sodass sich Volger im Januar 1848 dazu entschloss, um eine außerordentliche Unterstützung zu bitten. Sein Bittgesuch vermittelt einen interessanten Einblick in seine persönliche Situation. So macht Volger seine wissenschaftliche Tätigkeit und den Lehrbetrieb für seine außerordentlichen Aufwendungen verantwortlich. Seine Studien erfordern von Seiten derjenigen, welche diese Wissenschaften würdig vertreten wollen, so bedeutende Opfer, wie wohl nicht leicht ein anderes Fach. Sammlungen, Reisen und Bücherschätze machen einen außerordentlichen Aufwand von Mitteln auch bei der sorgsamsten Einschränkung unvermeidlich.50
Neben der Schwierigkeit, 400 Taler aufzutreiben, die trotz der „drückensten Entbehrungen“ für den Lebensunterhalt unerlässlich seien, müsse er einen Großteil für Bücher und eine eigene Petrefaktensammlung ausgeben, da die hiesige Samm-
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Wissenschaft, die sich mit dem geologischen Schichtenaufbau der Erde beschäftigt. Wissenschaft, die sich mit der Erforschung von Versteinerungen beschäftigt. Personalakte Otto Volger, Universitätsarchiv Göttingen, 4/Vc 56, Bl. 2; so urteilte die Fakultät über Volger „daß er nach den Kenntnißen, welche er uns bewährt hat, an hießiger Universität noch manche ersprießliche Dienste würde leisten können“, Philosophische Fakultät an Universitäts-Curatorium, 14.8.1848, ebenda. Otto Volger an das Universitäts-Curatorium, 1.8.1846, ebenda. Universitäts-Curatorium an Otto Volger, 24.8.1846, ebenda. Universitäts-Curatorium an Philosophische Fakultät, 20.1.1847, ebenda. Otto Volger an das Universitäts-Curatorium, 16.1.1848, ebenda.
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lung „so völlig unzugänglich geblieben ist“.51 Da sein Vater zeitweise jegliche Unterstützung einstellen musste, sei er bald gezwungen, seine acht Schränke umfassende geologische Sammlung und seine Bücher zu verkaufen.52 Das Universitäts-Curatorium bewilligte daraufhin eine einmalige Unterstützung von 100 Talern.53 Am 24. Januar 1848 erhielt Volger schließlich die unbefristete Lehrerlaubnis, nachdem die Philosophische Fakultät dem Universitäts-Curatorium in Bezug auf die Person Volger eine lobende Lehrtätigkeit und ein sittlich einwandfreies Betragen attestiert hatte.54 Es waren diese Unwägbarkeiten, die ein mittelloser Privatdozent an einer deutschen Universität erdulden musste, die später zu jener teilweise ätzenden Kritik Volgers an den Hochschulen führte.55 Besonders störte Volger das selbstherrliche Gebaren der Ordinarien. So beschwerte er sich über den Professor Friedrich Haußmann, der die geologischen Sammlungen der Universität als sein persönliches Privileg betrachte.56 2.2. Otto Volger und die Revolution von 1848/49 Im Frühjahr 1848 erreichten die revolutionären Ereignisse das Königreich Hannover und die Universitätsstadt Göttingen. Otto Volger, der sich bisher allein seinem wissenschaftlichen Fortkommen gewidmet hatte, begann, sich im Frühjahr 1848 politisch zu engagieren.57 Das Königreich Hannover war geprägt durch eine restaurative, absolutistische und auf Resten feudaler Strukturen gestützte Politik. König Ernst August hatte zu seinem Regierungsantritt 1837 nach der Aufhebung der Personalunion mit Großbritannien seine Zustimmung zum Staatsgrundgesetz von 1833 verweigert. Der Protest von sieben Göttinger Professoren und ihre Ausweisung aus dem Land erregten in ganz Deutschland Aufsehen.58 Das neu aufoktroyierte Staatsgrundgesetz 51 52 53 54 55
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Ebenda. Ebenda. Universitäts-Curatorium, 1.4.1848, ebenda. Philosophische Fakultät an Universitäts-Curatorium, 19.1.1848, ebenda. Der Einschätzung Nipperdeys, dass die „unbezahlte Privatdozentur und das gering bezahlte Extraordinariat – so problematisch sie später geworden sind – [...] die Konkurrenz und Produktivität gewaltig förderten“, darf mit Skepsis begegnet werden. Thomas Nipperdey, Preußen und die Universität, S. 147. Johannes Tütken, Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Bd. 1, Statutenrecht und Alltagspraxis, S. 382. Adler konnte darüber nur Vermutungen äußern, denn „[ü]ber den Verlauf der Versammlung und die dabei gehaltenen Reden ist nichts bekannt, nur daß Volger auf dem Heimweg mit den Seinen von politischen Gegnern überfallen und mißhandelt wurde“, ders., Freies Deutsches Hochstifts, S. 27. Die erste detaillierte Darstellung lieferte Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung auf der Plesse und der Göttinger Revolutionär Otto Volger. Eine neue Beschreibung bietet die Arbeit von Juliane Kade, Die Volksversammlung auf der Plesse. 1848 in der Provinz. Vgl. Hans Kück, Die Göttinger Sieben. Ihre Protestation und ihre Entlassung im Jahre 1837.
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von 1840 bedeutete in vielerlei Hinsicht einen Rückschritt. Das reaktivierte Zensurgesetz von 1705 übertraf selbst die Reglementierungen der Karlsbader Beschlüsse. Die Ständeversammlung, deren Befugnisse in beratender Funktion bestanden, beruhte auf einem exklusiven Zensuswahlrecht und stärkte vor allem die Vertreter des Adels.59 Die Jahre zwischen 1837 bis 1848 waren durch eine Stagnation des öffentlichen Lebens in einem stark agrarisch geprägten Land gekennzeichnet.60 Der Liberalismus war durch die spezifischen Verhältnisse im Königreich Hannover gehemmt. Verfassungsbrüche, eine bürokratische Despotie und die Privilegien und Sonderrechte des Adels trugen dazu bei.61 Dennoch kam es im Frühjahr 1848 im Königreich zu revolutionären Unruhen. In einer Proklamation vom 17. März 1848 implementierte der König ein liberales Ministerium, in dem mit Gustav Stüve als Innenminister ein prominenter Kritiker der Verfassungsrevision von 1837 saß. Die Hauptforderungen der politisierten Öffentlichkeit richteten sich im Frühjahr 1848 auf die Reform des Wahlrechts und die Zusammensetzung der Ständeversammlung62, eine Verfassungsreform und die Abschaffung der überkommenen Privilegien des Adels. Die Nachrichten von den revolutionären Ereignissen in Europa erreichten im Frühjahr 1848 auch Göttingen. Die Göttinger Universität war die einzige Hochschule des Königreichs und stand seit den studentischen Unruhen von 1831 unter verschärfter staatlicher Aufsicht. 1831 war der 24-jährige Privatdozent Dr. Johann Ernst Arminius Rauschenplat (1807–1868) einer der zentralen Urheber der Unruhen gewesen und floh anschließend nach Frankreich. Zwei Jahre später war Rauschenplat an dem Anschlag auf den Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main beteiligt, der als „Frankfurter Wachensturm“ Bekanntheit erlangte. Nach diesen Ereignissen hatte die Regierung in Hannover eine staatliche Polizeidirektion in Göttingen eingerichtet, die auch die Polizeigewalt über die Universität ausübte. Eine zentrale Forderung der Studenten im März 1848 war die Beseitigung dieser Polizeidirektion.63 Am 11. März kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Studenten und Gendarmen. Daraufhin forderte der Polizeidirektor die in Northeim stationierten Gardekürassiere zur Unterstützung an. Am 17. März verließen die Studenten aus Protest in einem organisierten Auszug die Stadt. Durch den Druck der revolutionären Ereignisse bedrängt, ging die Regierung auf ihre Forderungen ein. Am 8. April unterzeichnete der König eine Neufassung des 59 60
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Vgl. Volker Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen und deren Auswirkungen im Königreich Hannover zur Zeit des Frühkonstitutionalismus, S. 24 ff., S.133 u. 144 ff. Anke Bethmann, Freiheit und Einheit als Leitmotive der öffentlichen Diskussion um die Neuordnung Deutschlands. Eine Geschichte der Revolution von 1848/49 im Königreich Hannover, S. 70. Michael John, Klasse und regionaler Liberalismus in Hannover 1848–1914, S. 170. Vgl. Sabine Kempf, Wahlen zur Ständeversammlung im Königreich Hannover 1848–1866. Wahlrecht, Wahlpolitik und Wahlentscheidungen. Vgl. Johannes Tütken, „Das durch die Beschränkung der academischen Freiheit übel berufene Göttingen“. Zur Revision des ,Academischen Gesetzes‘ im Revolutionsjahr 1848; ders., Die Forderung nach Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit im Revolutionsjahr 1848 und ihr Scheitern. Gleichheit und Ungleichheit vor Gericht und Polizei.
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akademischen Gesetzes, welches die Disziplinargewalt wieder den akademischen Behörden übertrug, die königliche Polizeidirektion in Göttingen wurde am 17. April in eine kommunale Behörde umgewandelt.64 Die feierliche Rückkehr der Studenten am 1. Mai erfolgte im Rahmen eines festlichen Einzugs, begleitet von der Göttinger Bürgerwehr und dem Zusammentritt eines Festkomitees der städtischen Bürgerschaft. Im Verlaufe dieser Prozesse bildeten sich in Göttingen neue Foren der politischen Öffentlichkeit. Um ihre Forderungen bezüglich der Umwandlung der Polizeidirektion der Regierung mitzuteilen, wurde am 12. März eine Bürgerversammlung einberufen. Sie schickte zusammen mit einer Senatsdeputation Vertreter nach Hannover. Aus dieser spontanen Versammlung konstituierte sich schließlich am 28. März eine ständige Bürgerversammlung mit einem Vorstand und einem Bürgerausschuss. Schon in der ersten Sitzung wurden weitreichende Forderungen formuliert. Man verlangte eine Revision der Bundesverfassung, die durch die Wahl eines Kaisers ergänzt und später in eine einheitliche Reichsverfassung geändert werden sollte. Als einen nachträglichen Akt der Gerechtigkeit wollte man zudem die Rückkehr der „Göttinger Sieben“ an die Universität ermöglichen.65 Auch die Aufstellung einer Bürgerwehr wurde beschlossen, in der einige von Volgers akademischen Lehrern nun Dienst taten.66 Ihre Aufgabe war es, für Ruhe und Ordnung in der Stadt zu sorgen. Allerdings geriet dieser allgemein formulierte Auftrag dann in Schwierigkeiten, wenn sich revolutionäre Errungenschaften und behördliche Maßnahmen einander gegenüberstanden. Die folgenden Ereignisse um Volger sollten die Bürgerwehr vor dieses Dilemma stellen. Daneben kam es in Göttingen zu Gründungen von zahlreichen Vereinen. Entsprechend der politischen Richtung existierten als bedeutende Zusammenschlüsse das demokratische „Montagskränzchen“ und das liberal dominierte „Mittwochskränzchen“. Die demokratisch gesinnten Studenten schlossen sich im Frühjahr 1848 zu einem „Demokratischen Verein“ zusammen. Viel ist über seine Aktivitäten nicht zu eruieren und er wird als eine „[k]leine Gruppe ohne besondere Bedeutung“ gekennzeichnet.67 Otto Volger war zeitweise Vorsitzender des „Demokratischen Vereins“, der anscheinend den Beginn seiner politischen Tätigkeit im Jahr 1848 verkörpert.68
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Günther Meinhardt, Göttingen in der Revolution von 1848/49, S. 197 ff. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 205. Otto Volger an den Bezirkshauptmann in Muri, zit. nach Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung, S. 39; Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 27; Günther Meinhardt, Göttingen in der Revolution, S. 205; Julia Kade, Die Volksversammlung, S. 25. Zu den Mitgliedern gehörte auch Johannes Miquel. Er wurde 1880 Frankfurter Oberbürgermeister und schließlich preußischer Finanzminister. Miquel zählte 1848 zu den radikalen Demokraten in Göttingen, sympathisierte mit dem Kommunismus und trat 1851 sogar dem Bund der Kommunisten bei. Vgl. Günther Meinhardt, Göttingen in der Revolution, S. 205; Wilhelm Mommsen, Johannes Miquel, S. 26 ff.
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Am 13. Mai organisierte Volger eine Volksversammlung auf dem Hainberge unweit von Göttingen.69 Unter einer schwarz-rot-goldenen Fahne, die mit der Aufschrift „Eintracht, Freiheit, Recht“ beschriftet war, hielt er eine Ansprache an die Versammelten, die aus den Dörfern der Umgebung kamen. Nicht an die „Untertanen“ Hannovers, sondern an alle „Deutsche[n] Männer“ richtete Volger seine Begrüßung, mit dem Hinweis, die letzten Ereignisse erforderten, dass sich das ganze Volk regelmäßig zu öffentlichen Debatten und Beratungen versammle. Für das Volk bestünde nun endlich die Chance, dass es durch die Gunst der Zeitverhältnisse die Erfüllung von längst gehegten und gerechten Wünschen erreichen könne, welche die Abstellung schwerer, einen großen Theil der Menschheit niederdrückender Zustände, die Beförderung des allgemeinen Wohles betreffen.70
Er fordert zu Eintracht und Geschlossenheit auf, da nur so alle Wünsche und Forderungen durchzusetzen seien. Besonders die erkämpfte Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit seien dafür zu nutzen und notfalls entschlossen zu verteidigen. Dieses sind heilige, kostbare Rechte, die wir uns nie wollen wieder entreißen lassen, und welche zu benutzen unsere Pflicht ist, so wir es mit unserem Volke redlich meinen!71
Volger gehörte zu denjenigen Demokraten, die während der Revolution immer wieder die Volkssouveränität gegenüber dem Ministerium und der Krone verteidigten. Obwohl er sich in Göttingen bereits im „Demokratischen Klub“ engagierte, ist es bemerkenswert, dass er schon frühzeitig bestrebt war, die Revolution auf das Land hinaus zu tragen. Möglicherweise befürchtete er, dass die traditionelle Prägung großer Bevölkerungsteile des Königreichs die Revolution ausbremsen könnte. Die Städte bildeten die Zentren der Bewegung, in der sich schnell Vereine und eine Öffentlichkeit konstituiert hatten. Die Landbevölkerung beharrte jedoch in großen Teilen trotz Petitions- und Beschwerdewesens in ihrer patriarchalischen Untertänigkeit gegenüber den staatlichen Behörden und regionalen Eliten. Andreas Düwel wies in seiner Untersuchung nach, dass die Mehrheit der Landbevölkerung gegenüber den Behörden ein ausgeprägtes Gefühl der Loyalität bewahrte und ein großes Misstrauen gegenüber den revolutionären Ereignissen hegte.72 Diese beharrende Einstellung eines Großteils der Landbevölkerung beendete schließlich auch Volgers revolutionäres Engagement. Zunächst war Volger bemüht, durch Landvolkversammlungen eine Öffentlichkeit zu schaffen. Versammlungen seien gerade für die Landbevölkerung ein zwingendes Bedürfnis, denn
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Gresky gibt versehentlich den 14. Mai an, S. 34; vgl. Göttingensche Wochenzeitung für Stadt und Land (1848), Extrablatt zu Nr. 7; Julia Kade, Die Volksversammlung, S. 31–37. Göttingensche Wochenzeitung für Stadt und Land, Extrablatt zu Nr. 7, S. 1. Ebenda. S. 1. Andreas Düwel, Sozialrevolutionärer Protest und konservative Gesinnung. Die Landbevölkerung des Königreichs Hannover und des Herzogtums Braunschweig in der Revolution von 1848/49, S. 141.
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es fehlen ihnen weit mehr die Mittel, sich ohne solche Versammlungen gehörig zu belehren, da nur zu oft die, welche das Volk belehren und aufklären sollten, Ursache haben zu wünschen, daß es in Unwissenheit und Dummheit erhalten werde; zweitens aber hat das Landvolk zu Klagen noch viel größere und zahlreichere Ursachen, als das Stadtvolk.73
Da die Landbevölkerung nicht an den öffentlichen Versammlungen in den Städten teilnehmen konnte, sollten in jeder Ortschaft gesondert Versammlungen abgehalten werden. Die Versammlungen sollten aber nur die Vorstufen zu größeren Volksversammlungen bilden, die regelmäßig (etwa jeden Sonntag) tagen sollten. Damit wäre ein flächendeckendes Netz von Versammlungen geschaffen worden, das nicht nur die Interessen der ländlichen Bevölkerung aufgenommen, sondern jenen Bevölkerungsteilen auch eine politische Stimme gegeben hätte. Die Ergebnisse der Verhandlungen sollten zudem in der lokalen Presse veröffentlicht werden. Volger sah in dieser Organisation auch die Chance, Exzesse und Gewalttätigkeiten zu verhindern, um der Regierung keinen Anlass zu liefern, einzuschreiten. In jenen Zeiten, wo allgemein die Unzufriedenheit über die Bedrückungen den höchsten Grad erreicht hat und das Volk an vielen Stellen droht, mit Waffen und Gewalt sich aufzulehnen, ja wo in manchen Gegenden schon das schreckliche Unglück losgebrochen ist und wahre Gräuel verübt sind, giebt es nur dies einzige Mittel, Gesetzlichkeit und Ordnung aufrecht zu erhalten und dennoch, oder vielmehr grade dadurch am sichersten, die Rechte und Freiheiten zu erlangen, nach welchen wir streben müssen, ja nur dies einzige Mittel: daß das ganze Volk sich eng und fest zusammenschließt und nicht mit Gewaltthat und Rebellion, sondern mit Einigkeit und Ordnung seine Rechte und Abhülfe von allen Bedrückungen fordert. [...] Recht und Ordnung regiert die Welt.74
Die politischen Entwicklungen im Königreich Hannover verliefen allerdings, im gesamtdeutschen Maßstab betrachtet, nur schleppend. So war die Ende März 1848 einberufene Ständeversammlung immer noch nach altem Wahlrecht zusammengesetzt, das Landesverfassungsgesetz wurde nur in wenigen Teilen reformiert. Doch gab es Versammlungs- und Assoziationsrechte, Volksvereine und Bürgerwehren organisierten sich. Dennoch versuchte die Regierung, alle revolutionären Ausbrüche sofort zu unterbinden. Mithilfe der Justiz, die später auch gegen Volger aktiv wurde, sollten unliebsame Gegner mundtot gemacht werden, wobei ein antiquiertes Rechtssystem Anwendung fand.75 Die in der Regierung einflussreichen liberal-konservativen Kreise, deren exponiertester Vertreter Gustav Stüve war, verfolgten eine Art „dritten Weg“ (Michael John), der historisch verwurzelte Reformen auf der Grundlage der uneingeschränkten hannoverschen Souveränität umsetzen wollte.76 Die Vorstellungen einer an Grundbesitz gebundenen Elite führten daher zu einer skeptischen und hinauszögernden Haltung gegenüber möglichen Veränderungen und tief greifenden Reformen. Den Vorgängen in der Paulskirche und allen Entwicklungen zu nationalen Zusammenschlüssen stand 73 74 75 76
Göttingensche Wochenzeitung für Stadt und Land, Extrablatt zu Nr. 7, S. 2. Ebenda. Anke Bethmann, Freiheit und Einheit, S. 100. Michael John, Kultur, Klasse und regionaler Liberalismus in Hannover, S. 173.
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man mit skeptischer Ablehnung gegenüber. Dies manifestierte sich etwa in der Ablehnung des Frankfurter Grundrechtskatalogs durch das Ministerium Stüve. So ist es auch erklärbar, dass nach einer Reihe weiterer Versammlungen von Volger beschlossen wurde, für Ende Juli 1848 auf der Plesse bei Bovenden, einer Burgruine nordöstlich von Göttingen, eine große allgemeine Volksversammlung einzuberufen. Damit wollte er eine neue Dynamik in die revolutionären Entwicklungen hineinbringen. Volger verfasste einen Aufruf, der in der Göttinger Wochenzeitung veröffentlicht wurde. Er begründete die Versammlung mit der gefahrvollen Lage, die durch die Reaktion auf die freiheitliche Entwicklung erwachsen sei. Die Einheit und Größe der deutschen Nation seien vor allem durch die „Sonderbündelei“ der hannoverschen Regierung gefährdet. Als drei Verhandlungsthemen werden genannt: 1. eine Adresse an die deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt zur Beurkundung unserer deutschen Gesinnung, 2. eine Adresse an des Ministers Stüve Excellenz, Missbilligung gewisser bekannter Ministerialhandlungen und Bitte um Resignation des Ministeriums enthaltend, 3. eine Adresse an unsres allergnädigsten Königs Majestät, mit der Bitte um Veränderung des Ministeriums und um Auflösung des bisherigen (jetzt nur vertagten) und Berufung einer neuen constituierenden Ständeversammlung.77
Volger selbst rechnete mit ungefähr 1.000 Teilnehmern, die amtlichen Berichte, vor allem die des Amtes Bovenden, spielen diese Zahlen in ihren Meldungen an das Ministerium herunter, in denen von lediglich 200 Teilnehmern gesprochen wird.78 Dennoch wurde die Versammlung vom 30. Juli zu einem Ereignis, das durch die gerichtlichen und publizistischen Nachspiele im ganzen Königreich für Aufsehen sorgte.79 Das lag nicht nur an der scheinbar ruhigen Entwicklung der revolutionären Ereignisse im Königreich, sondern ebenso auch an den radikalen Forderungen, die etwa den Rücktritt der Regierung verlangten. Die Versammlung stand unter behördlicher Beobachtung und wurde von den anwesenden Beamten in ihrem Verlauf protokolliert.80 Über den Verlauf der Volksversammlung liegen verschiedene Berichte vor.81 Diese beziehen sich größtenteils auf die gewalttätigen Ausschreitungen, die sich am Anschluss daran ereigneten. Ein amtlicher Bericht spricht von etwa 500 Teilnehmern, von denen 150 zum Gefolge Dr. Volgers gehörten, von teilweise bewaffneten und uniformierten Mitgliedern der Göttinger Bürgergarde.82 Unter einer 77 78 79 80 81 82
Göttinger Wochenzeitung vom 27.7.1848, zit. nach Wolfgang Gresky, S. 35 ff. Ebenda. Ebenda. Gresky spricht vom „Hambacher Fest von Südhannover“, S. 36; vgl. Anke Bethmann, Freiheit und Einheit, S. 96 ff.; Andreas Düwel, Sozialrevolutionärer Protest, S.140. Am 27. Juli erfolgte von der Landdrostei Hildesheim der Auftrag an das Amt Bovenden, die Versammlung zu überwachen und einen Bericht zu erstatten, vgl. Kade, S. 38. Kade gibt eine detaillierte Schilderung des Hergangs sowie der Auseinandersetzungen in Mariaspring, S. 39–133. Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung auf der Plesse, S. 36–38. Allerdings schickten auch einzelne Gemeinden, nach Beratungen der Gemeindevorstände, Vertreter zu der Versammlung, vgl. Schreiben des Ortsvorsandes von Lüthorst betr. Gemeinde-Versammlung und Aufruf Otto Volgers 29. Juli 1848, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19916.
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schwarz-rot-goldenen Fahne stehend, eröffnete Volger die Versammlung durch ein von ihm selbst gedichtetes Lied: Wo steht des Volkes Freiheit wohl / Verbriefet und verbürgt? / Auf Gräbern der Freiheitshelden, / auf blutigen Straßen und Feldern, / Da die Feinde sind erwürgt. // Das Deutsche Volk will einig sein, / Ja einig, mächtig und frei! – / Die Liebe hält uns zusammen, / Wir zünden der Freiheit Flammen: / Die Wahrheit macht uns frei.
Volger interpretiert darin die Freiheit des Volkes und damit die im Jahr 1848 gewonnenen Freiheitsrechte als ein Naturrecht, das allen Konventionen, historischen und gesetzlichen Bestimmungen übergeordnet und in seiner letzten Konsequenz auf Gott zurückzuführen sei, wie Juliane Kade bereits darlegte.83 In anderen Strophen werden die demokratische Selbstbestimmung und die Volkssouveränität in einem religiösen Wertehorizont verankert. Die Orientierung an überzeitlichen bzw. transzendentalen Ordnungen bestimmte Volgers späteres Denken immer in zentraler Weise. Die „Gräber der Freiheitshelden“ deutet Juliane Kade in zweifacher Weise.84 Einmal kann man darunter die Toten der napoleonischen Befreiungskriege verstehen, aber auch die Märzgefallenen des Jahres 1848 und alle anderen Opfer staatlicher Unterdrückung können damit gemeint sein. Für den Bezug auf die Befreiungskriege spricht eine Bemerkung in der Rede Volgers, in der er den Befreiungskriegen eine zentrale Bedeutung einräumt. Denn es sei im Jahr 1813 das Volk gewesen, das „die Fürsten wieder eingesetzt hatte“.85 Im Anschluss an die Eröffnung wurde zur Wahl eines Präsidiums geschritten. Schon hier zeigte sich, dass nicht alle Anwesenden mit der Führung der Versammlung einverstanden waren. Als der konservative Bovendener Kirchenrat van Nes keinen Posten im Präsidium erhielt, verließ er unter Tumulten mit seinen Unterstützern den Versammlungsort. Einer ihrer Wortführer war der in Bovenden ansässige Domänenpächter Mehler. Ob er mit seinem Anhang auf Befehl Volgers mit Gewalt durch die anwesenden Göttinger vertrieben wurde, bleibt unklar. In seiner Eröffnungsrede beklagte Volger die Treulosigkeit der Fürsten gegenüber dem Volk. Dieses habe sich durch die Revolution seine souveränen Rechte wieder gesichert. Er rief zur Unterstützung der Frankfurter Nationalversammlung auf, die durch das Handeln der Fürsten in Gefahr schwebe, auch wenn er nicht alle ihre Beschlüsse teile.86 Sie sei aber das einzig legitime Organ, welches die Souveränität des ganzen deutschen Volkes vertrete. Volger verlangte die Berufung von parlamentarisch verantwortlichen und gesamtdeutsch gesinnten Ministern in die Regierung Hannovers. „Jetzt, in diesem Frühling sei das Volk erwacht; die Regierung solle jetzt nur da sein um des Volkes willen“, so Volger.87 Drei
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Julia Kade, Die Volksversammlung, S. 41. Ebenda. Geschehen auf der Plesse, den 30. Juli 1848, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19916, Bl. 1. Ebenda. Unklar bleibt, welche Beschlüsse Volger kritisiert. Ebenda, Bl. 1.
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zentrale Forderungen stellte er am Schluss auf, die bei den Anwesenden mehrheitlich Unterstützung fanden: Wir müssen festhalten an der Vertretung der deutschen Nation; Wir müssen ein Ministerium haben, das wahre deutsche Gesinnung hat; Wir müssen Stände haben, die die Rechte und den Willen des Volkes vertreten.88
Diese Forderungen sollten in den nächsten Tagen öffentlich publiziert werden. Nach Volger sprachen noch weitere Redner, bevor die Teilnehmer in das benachbarte Mariaspring zogen. Dort kam es zu Ausschreitungen, bei denen Volger und der ihn begleitende Göttinger Student Johannes Miquel verletzt wurden. Volger und sein Gefolge behielten die Oberhand und wurden schließlich am Abend durch die Göttinger Bürgerwehr zurück in die Universitätsstadt eskortiert. Dabei kam es wiederum zu gewalttätigen Exzessen. Ein Göttinger Student wurde dabei durch einen Schuss verletzt, an dessen Folgen er am nächsten Tag verstarb. Er war das einzige Todesopfer, welches die Revolution im Königreich Hannover forderte.89 Juliane Kade, die die Ereignisse detailliert untersuchte, urteilt über Volgers Rolle dabei: [D]er Schlichter Volger schien seine Rolle eingebüßt zu haben. Sein hehres Ziel, gewalttätige Konfrontationen zu vermeiden, wurde von seinem tatkräftigen Aktionismus eingeholt.90
Die Ereignisse erregten in Göttingen und Hannover allgemeines Aufsehen und beschäftigten die Justiz. In der Presse wurden sie verschiedentlich dargestellt. Im demokratisch gesinnten „Göttingenschen Bürgerblatt“ war einen Tag nach der Versammlung zu lesen: Die gestrigen Auftritte in Mariaspring nach der vom Dr. Volger berufenen und geleiteten Volksversammlung auf der Plesse würden der Rückschrittspartei willkommenen Stoff zu Declamationen gegen Volksversammlungen und Alles, was der Ausübung des Associationsrechts ähnlich sieht, darbieten, wenn es nicht zu notorisch sich herausstellte, daß nicht den Leitern der Versammlung die Schuld an jenen Nichtswürdigkeiten beizumessen ist.91
Das Blatt bezeichnete als Urheber der Ausschreitungen einen beim Publicum nicht ganz so trefflich, wie bei den höhern und höchsten Behörden accreditirten Unterthan Seiner Majestät, der anfangs in der Versammlung im Interesse der bestehenden Ordnung den ruhigen Gang der Verhandlungen selbst und mit Hülfe seiner Creaturen durch brutalen Lärm zu stören gesucht und nachdem er deshalb gebührend entfernt worden, durch Aufhetzung eines bösartigen, wegen seiner tückischen Streitwuth von jeher berüchtigten Pöbels gegen friedliche Bürger auf eine seiner würdige Art sich gerächt.92
Bei dem nicht namentlich Genannten handelt es sich um den Domänenpächter Mehler. Das Bürgerblatt machte demnach einen Vertreter des „Rückschritts“, d.h. einen Freund der Obrigkeit, für die Exzesse verantwortlich. Die Anhänger Meh88 89 90 91 92
Ebenda, Bl. 2. Günther Meinhard, Göttingen in der Revolution von 1848/49, S. 205. Julia Kade, Die Volksversammlung, S. 100. Göttingensches Bürgerblatt, Nr. 6, 31.7.1848, S. 24. Ebenda.
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lers, mehrheitlich Bauern und Knechte, werden als „Creaturen“ und „berüchtigter Pöbel“ bezeichnet, die gegen die „friedlichen Bürger“ Göttingens vorgingen. Die Landbewohner wurden als willenlose Masse charakterisiert, die der Willkür obrigkeitlicher Organe und Personen zu Gebote stand. In der konservativen „Hannoverschen Zeitung“ wurden Volger und seine Unterstützer für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. So sei bis jetzt in Göttingen alles friedvoll und ohne Exzesse verlaufen und „[e]inem Dr. Volger war es vorbehalten, solche, und zwar in bedauerlicher Weise, herbeizuführen“.93 Volger, der als Vertreter der demokratischen Partei tituliert wurde, habe diese Versammlung, ohne die Unterstützung der Göttinger Bürgerversammlung zu gewinnen, auf eigene Faust einberufen. Damit unterstellte man Volger und den Demokraten in Göttingen eine Minderheitsposition. Besonders kritisierte die Zeitung Volgers diktatorisches Gebaren. Er kommandierte „seine Turner wie ein Feldherr, und hielt Standreden wie ein Convents=Deputierter“.94 Zudem sei es Volger gelungen, den Konflikt nach Göttingen zu verlegen, da es dort zu Ausschreitungen gegen Landbewohner gekommen sei. Das Blatt begrüßte die Tatsache, dass die Königliche Justizkanzlei eine Untersuchung beabsichtige. In Bovenden trug man ebenso Sorge, die Ereignisse in einem für die Honoratioren günstigen Licht zu schildern. Für die „Weser-Zeitung“ verfasste der Superintendent van Nes einen Bericht. In ihm wurde alle Schuld an den Vorkommnissen Volger und seinen Göttinger Gefolgsleuten angelastet.95 Dennoch hätte es dem Dr. Volger bei einiger Befähigung leicht sein können, die Gemüther durch den Gedanken an die großen auf Deutschlands Einheit begründeten Hoffnungen zu erheben und jedes etwa vorhandene feindselige Element zu unterdrücken.96
Volger selbst habe sich indes der Lächerlichkeit preisgegeben, da er Trivialitäten, wie „Deutscher Michel, wach auf, daß dir der Löffel nicht fehle, wenn es Brei regnet“, von sich gegeben habe.97 Am Ende erging eine Warnung an Volgers Adresse: Sie aber, Herr Dr. Volger, wollen die empfindliche Lehre daraus gewonnen haben, daß Sie in dem gesunden Sinne unsers Landvolkes keine fruchtbaren Boden für die Grundsätze Ihrer Partei finden.98
Am 6. August verteidigte sich Volger in einem Artikel in der „Hannoverschen Morgenzeitung.“99 Er stellte dabei die Bedeutung der Versammlung für die Landbevölkerung noch einmal heraus, da „nicht nur Dorfschaften der nahen Umgegend, sondern selbst sehr entfernte sich mit auffallendem Eifer betheiligt hat-
93 94 95 96 97 98 99
Hannoversche Zeitung, Nr. 203, 7.8.1848, S. 1437. Ebenda. Bemerkenswert ist, dass sich die publizistischen Auseinandersetzungen allein auf die Gewalttätigkeiten beschränken. Siegfried Dost, Das Revolutionsjahr 1848 in Bovender Quellen, S. 247. Zit. nach Siegfried Dost, S. 245. Ebenda. Ebenda, S. 247. „Göttingen 3. August“, in: Hannoversche Morgenzeitung, 6.8.1848, S. 511.
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ten“.100 Für die Auseinandersetzungen machte er die anwesenden Beamten verantwortlich, die im Auftrage der Behörden Konflikte schüren würden, und sprach dabei von den „Aufwiegelungen der frevelhaften Beamten“. Er prophezeite aber kämpferisch, „die Reaktion wird hier nicht siegen, ihre Waffen können nur dienen, das Volk mehr und mehr zu wecken“.101 Dieser Artikel führte schließlich dazu, dass das Amt Bovenden das Universitätsgericht in Göttingen am 18. August aufforderte, eine Untersuchung gegen Volger wegen Ehrenkränkung der Beamten einzuleiten.102 Die Vorfälle auf der Plesse zogen bereits weitere Untersuchungen nach sich. Das Königliche Criminal Amt Göttingen ermittelte bereits im Auftrag des Königlichen Justizministeriums in Hannover wegen Majestätsbeleidigung gegen Volger. Allerdings stellte man am 28. August die Ermittlungen ein, da des Königs Majestät zu bestimmen geruht, daß wegen der angeblichen Majestätsbeleidigung eine Untersuchung gegen den Dr. Volger nicht eingeleitet werde.103
Die Universität wurde durch das Verhalten ihres Dozenten in höchste Unruhe versetzt. Noch vor dem Abschluss der Untersuchung kamen der Prorektor und der Senat zu der Überzeugung, Volger die Lehrerlaubnis zu entziehen. Man führte an, dass er im laufenden Semester kein Colleg gelesen, auch wie wir mit Sicherheit in Erfahrung gebracht haben, durch sein politisches Treiben sich von wissenschaftlichen Studien völlig abziehen lassen
hat.104 Das Universitäts-Curatorium hielt dieser Ansicht entgegen, dass eine politische Betätigung keinen generellen Verstoß gegen die Universitätsgesetze darstelle und wies die Begründung des Antrags zurück. Man fürchtete die Öffentlichkeit. Volger und ein zweiter Privatdozent, der wegen politischer Tätigkeiten entfernt werden sollte, seien „beide politische Parthey Führer“ und so erschien es dem Curatorim „in politischer Beziehung sehr bedenklich, ihnen ein vielleicht nicht unerwünschtes scheinbares Märtyrerthum zu bereiten“.105 Indes unterstützte auch das Curatorium langfristig das Ansinnen in Bezug auf ihre Entfernung aus dem Lehrbetrieb und schlug dem Senat vor, zunächst abzuwarten, denn
100 Ebenda. 101 Ebenda. 102 Vgl. Antrag der unterzeichnenden Beamten von Bovenden an das Universitätsgericht betreffend Einleitung einer Criminaluntersuchung wider den Dr. phil. G. H. Otto Volger zu Göttingen wegen Ehrenkränkung, Universitätsarchiv Göttingen, Criminalia, Untersuchungs-Acten wider den Dr. philos. Georg Heinrich Otto Volger zu Göttingen wegen Verleumdung der Beamten des Königl. Amtes Bovenden, D XXVIII 21 (1). 103 Kgl. Hannov. Justiz Ministerium, 28.8.1848, ebenda. 104 Bericht des Prorektors und Senats an das Königliche Universitäts-Curatorium Hannover, 16.8.1848, Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Georg Heinrich Volger. 105 Universitäts-Curatorium, ebenda.
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[w]enn die Facultät nur ihre Obliegenheiten erfüllt, werden beide Docenten schwerlich der Universität Nachtheile bereiten – eventuell bald entfernt werden können.106
Volger wurde also im Sommer 1848 von der Universitätsleitung als Führer der demokratischen Partei wahrgenommen, dessen weiterer Verbleib im Lehrbetrieb als unerwünscht galt. Gleichzeitig liefen gegen ihn Untersuchungen des Universitätsgerichts und des Königlichen Criminal Amtes in Göttingen. Die Behörden nutzten die Vorfälle, um gegen weitere Personen zu ermitteln. Im Mittelpunkt standen Redakteure der demokratischen Presse. Gegen Hermann Harrys von der Hannoverschen Morgenzeitung hatte das Amt Bovenden Anzeige wegen Beamtenbeleidigung erstattet. Er wurde wegen Ehrenkränkung zu 30 Talern und Übernahme der Gerichtskosten verurteilt.107 Der Herausgeber der „Hannoverschen Volkszeitung“, Adolf Mensching, erhielt für einen Artikel über die „Plesseversammlung“, den er am 8. August veröffentlicht hatte, vier Wochen Gefängnis.108 In seiner Verteidigung erklärte Hermann Harry am 21. Oktober 1848, dass Otto Volger der Verfasser eines in der Hannoverschen Morgenzeitung anonym erschienenen Artikels gewesen sei.109 Daraufhin forderte man das Universitätsgericht auf, weitere Ermittlungen gegen Volger einzuleiten und ihn hinsichtlich des Artikels zu vernehmen. Bereits am 25. August musste Volger vor dem Universitätsgericht erscheinen. Am 31. August übergab er seine schriftliche Verteidigung. Die einzige überlieferte Maßnahme, die schließlich im Zuge der Ermittlungen gegen Volger ergriffen wurde, bestand in der Verhängung des Stadtarrests gegen ihn, nachdem das Criminal Amt Göttingen am 1. September erfahren hatte, dass er beabsichtigte, Göttingen zu verlassen. Volgers Anwesenheit sei notwendig, so begründete man den Arrest, da er ein „intellectueller Urheber und Begünstiger von Gewalthätigkeiten“ sei.110 Volger hatte Göttingen allerdings schon verlassen, so dass er dem Arrest entkam. Damals erwog er bereits, seiner Heimat den Rücken zu kehren. Ich werde mich auch weiter hüten, das Hannoversche Land zu betreten, solange ich fürchten muß, dort wie ein Verbrecher vermittelst nachdrücklicher Maßregeln in meiner persönlichen Freiheit beeinträchtigt und durch Gewalt dahin geführt zu werden, wohin ich freiwillig zurückzukehren wünsche.111
Allerdings änderte er seine Meinung und kehrte im Oktober wieder zurück nach Göttingen, wo er sich dem Universitätsgericht zur weiteren Verfügung hielt. Er drängte darauf, die Verhandlungen zu einem Abschluss zu bringen, da „mir so 106 107 108 109
Ebenda. Anke Bethmann, Einheit und Freiheit, S. 97. Ebenda. Stadtgericht der Kgl. Residenzstadt Hannover an das Universitätsgericht, 22.10.1848, Universitätsarchiv Göttingen, Criminalia, Untersuchungs-Acten wider den Dr. philos. Georg Heinrich Otto Volger zu Göttingen wegen Verleumdung der Beamten des Königl. Amtes Bovenden, D XXVIII 21. 110 Hannov. Criminal Amt Göttingen, 1.9.1848, ebenda. 111 Volger an das Universitätsgericht Göttingen, 24.9.1848, ebenda.
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lange schon das Damoklesschwert einer Criminaluntersuchung über dem Haupte schwebt“ und bat um eine Beschleunigung des Verfahrens.112 Die Untersuchungen wurden aber nie abgeschlossen, vielmehr schien es den Behörden nützlicher, Volgers unsichere Lage zu verlängern. Das Criminal Amt in Göttingen urteilte, dass „wesentliche neue Aufklärungen jetzt auch nicht mehr zu erwarten“ seien und deshalb Volger keine „schweren Strafen“ zu erwarten habe.113 Dennoch stellte man das Verfahren nicht ein oder führte es zu einem Abschluss. Im März 1849 verweigerte ihm die Universität eine finanzielle Unterstützung114, um die Volger gebeten hatte115, da er in einer ausweglosen Situation sei. Dem Universitäts-Curatorium wurde durch den Senat mitgeteilt, dass man aufgrund von Volgers politischer Vergangenheit und des noch offenen Verfahrens eine Unterstützung ablehne. Man führte zudem an, dass Volger in den letzten beiden Semestern keine Kollegien gehalten und sich zudem mit seinem Vater überworfen habe. Es scheint zu keinen härteren Strafen und auch nicht zu Volgers Entfernung von der Universität gekommen zu sein.116 Die finanziellen Sorgen und das noch offene Verfahren, welches wie ein „Damoklesschwert“ über Volger schwebte, scheinen ihn im Dezember 1848 zu Emigrationsplänen veranlasst zu haben. Denn er unternahm eine Reise in die Schweiz, das Ziel war Muri, dessen Kantonsschule im selbigen Monat eine Stelle offerierte.117 In einem Brief vom 17. Dezember an den Kantonsschulrat in Muri begründete Volger seine Bewerbung.118 Zwar war er für die Stelle als „Dorfschullehrer“ überqualifiziert, erklärte seine Bewerbung aber mit seinem Interesse an der Volksbildung. Das war nicht nur eine Verlegenheitsausrede, um ein Auskommen zu erhalten, sondern entsprach tatsächlich Volgers Verlangen. Später nahm die Volksbildung eine wichtige Funktion im Hochstift ein, aber auch in seinem politischen Engagement hat sich Volger um die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung bemüht. Er publizierte in den nächsten Jahren zahlreiche Werke, die als Unterrichtsratgeber für Volksschulen dienten. Im 112 Volger an das Universitätsgericht Göttingen, 29.10.1848, ebenda. 113 Kgl. Hannov. Criminal Amt Göttingen, 19.9.1848, ebenda. 114 Universitäts-Curatorium, 12.3.1849, Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Georg Heinrich Otto Volger. 115 Volger an das Königliche Ministerium der geistlichen und Unterrichts=Angelegenheiten, 19.2.1849, ebenda. 116 Auf eine Anfrage des Magistrats Göttingen vom August 1850, im Auftrage der Landdrostei Hildesheim, „ob und in wieweit die Entfernung des Dr. Volger im Jahre 1849 mit der damaligen Lage der wider ihn anhängigen Untersuchungen in Zusammenhang gestellt werden könne“ konnte das Universitätsgericht keine Auskunft geben. Magistrat der Stadt Göttingen an das Universitäts=Gericht, 13.8.1850, Magistrat der Stadt Göttingen an das Universitäts=Gericht, 17.10.1850, Universitätsarchiv Göttingen, Criminalia. Untersuchungs–Acten wider den Dr. philos. Georg Heinrich Otto Volger zu Göttingen wegen Verleumdung der Beamten des Königl. Amtes Bovenden, D XXVIII 21. 117 Am 4. Dezember 1848 ist in Volgers Reisepass eine Reise nach Zürich, über Frankfurt am Main, verzeichnet, vgl. Reisepass Otto Volger, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19915. 118 Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung, S. 55–56.
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März 1849 absolvierte Volger eine erfolgreiche Lehrprobe und erhielt daraufhin eine Stelle an der Kantonsschule in Muri. Seinen Abschied von Göttingen hielt er selbst vor engen Bekannten geheim. Anfang April 1849 brach er nach Muri auf, kurz davor hat er seine Cousine Luise Volger (1822–1902) geheiratet.119 Zu konstatieren bleibt, dass sich Otto Volger aktiv und an exponierter Stelle an der Revolution von 1848 beteiligte. Der Mobilisierungsschub, der im Frühjahr weite Teile der Öffentlichkeit erfasste, riss auch Volger aus seiner gewohnten, nur der Wissenschaft und Lehrtätigkeit gewidmeten Lebensform heraus. Er engagierte sich für die demokratische Bewegung in der sich entwickelnden Vereins- und Versammlungsbewegung, die er maßgeblich durch seinen Vorsitz im Demokratischen Verein mitbestimmte. Über diesen Verein hinaus, in dem mehrheitlich Angehörige der Universität, also Dozenten und Studenten mitwirkten, ist seine Beteiligung an der Bürgerversammlung in Göttingen nachgewiesen. Während der Demokratische Verein als Gesinnungsgemeinschaft weniger öffentlich wirkte, forcierte Volger durch die Organisation von „Landvolkversammlungen“ die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit in einem Raum, der abseits der politischen, d.h. der städtischen Zentren, lag. Als Anhänger demokratischer Prinzipien vertrat er die Idee der Volkssouveränität, der er durch die Einbeziehung des ländlichen Raumes eine breite Basis verschaffen wollte. Der Versuch Volgers, eine revolutionäre Dynamik in die Landgemeinden zu tragen, scheiterte allerdings. Neben den strukturellen Defiziten120 war dafür die unterschiedliche Protest- und Konfliktstruktur zwischen Stadt und Land verantwortlich. Die ländliche Mentalität und Sozialstruktur führten zu anderen Proteststrategien. Dort wurden weniger die traditionelle Obrigkeit infrage gestellt oder nationale Ziele verfolgt. An erster Stelle stand die Abschaffung der drückenden Feudal- und Besitzverhältnisse. Diese Forderungen verschafften sich durch vielfältige Petitionen Gehör und sollten mithilfe der Behörden auf rechtlichem Wege umgesetzt werden. Bereits mit dem Monat April 1848 geriet die Revolution auf dem Lande in merklich ruhigeres Fahrwasser – es kam zu einem Abgleiten in Passivität, Gleichgültigkeit oder zumindest Gesetzmäßigkeit,
wie Andreas Düwel für das Königreich Hannover feststellte.121 Dieser Befund deckt sich auch mit anderen ländlichen Regionen. In seiner Bewertung der Agrarunruhen in Thüringen stellte Georg Schmidt fest: Die ländliche Bevölkerung dachte dabei vor allem an den Fortfall der Feudallasten und der ständischen Ungleichheit sowie an die lokale Selbstverwaltung.122
Trotz gewalttätiger Aktionen und kollektiver Protesthandlungen wurden die Person des Fürsten und die herrschende Dynastie selten infrage gestellt. Allerdings billigt Schmidt den Forderungen der ländlichen Bewegungen eine neue Qualität 119 120 121 122
Dunker an Otto Volger, 17.4.1849, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. Julia Kade, Die Volksversammlung, S. 140. Andreas Düwel, Sozialrevolutionärer Protest, S. 222. Georg Schmidt, Agrarunruhen in Thüringen, S. 41.
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zu, da es „um die Aufhebung aller ständischen Unterschiede, um die ersatzlose Streichung aller Relikte einer alten Gesellschaftsordnung“ ging.123 Volger präsentierte in seinen Reden nationale und politische Forderungen, die vor allem in den urbanen Zentren der Revolution kursierten. Es ging um die Verteidigung der „Märzerrungenschaften“ und die Errichtung eines Nationalstaates mit einer demokratisch legitimierten Regierung und garantierten Grundrechten. Dennoch wäre es verfehlt, die Ereignisse nur mit einfachen Dichotomien, wie radikal-reaktionär oder ländlich-städtisch, zu erklären.124 Wenn das Amt Bovenden schließlich vermeldete, dass der Landmann sich den Bestrebungen des Herrn Doctor und seiner Genossen auf keiner Weise anschließt, vielmehr große Lust bezeigt, diese Herren als seine Feinde zu behandeln,
dann war diese Einschätzung auch dazu gedacht, die Behörden zu beruhigen.125 Im gerichtlichen Nachspiel waren es gerade die lokalen Honoratioren, die als Einzige zu Wort kamen. Festzuhalten bleibt hinsichtlich Volgers Beteiligung an der Revolution: Genauso schnell, wie er sich in die Politik gestürzt hatte, kehrte er ihr auch wieder den Rücken zu. Nach den Vorfällen auf der „Plesse“ trat er nicht mehr politisch in Erscheinung. Vielmehr war er daran interessiert, seine Stellung als Privatdozent und Mitglied der Göttinger Universität zu erhalten. Bei allem Aktivismus für die revolutionären Ideen wollte er dennoch seine akademische Laufbahn fortsetzen. Hier traf er aber nun auf entschiedenen Widerstand, da Senat und das Kuratorium der Universität Volgers Verbleib an der Georgia Augusta vor allem wegen seines politischen Engagements entgegenwirkten. Neben diesen Hemmnissen war die Existenz des Privatdozenten Volger durch Schulden und ständige Geldnot geprägt. Am Ende sah er keinen anderen Ausweg, als das Land zu verlassen. Obwohl er den Entschluss zur Emigration aus eigenem Antrieb gefasst hat, sah er sich durch die politischen Ereignisse dazu gezwungen. In den folgenden Monaten und Jahren fanden viele Revolutionäre Zuflucht in der Schweiz, wie beispielsweise Volgers Weggefährte, der Philologe Dr. August Derricke. Kurz vor seiner Abreise in die Schweiz schrieb dieser an Volger, Deutschland sei ja allem Anscheine nach der Freiheit nicht würdig, denn wer die Freiheit nicht zu erkämpfen und kämpfend zu bewahren Kraft und Willen hat, der mag getreten werden.126
123 124 125 126
Ebenda. Julia Kade spricht von prototypischen und untypischen Komponenten, S. 164. Zit. nach Andreas Düwel, Sozialrevolutionärer Protest, S. 140. August Derricke an Otto Volger, 24.4.1850, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19666.
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2.3. Schweizer Exil und Rückkehr nach Deutschland Mit Otto Volger, der Deutschland 1849 verließ, emigrierten mehr als 11.000 Deutsche in die Schweiz.127 Bern und Zürich waren die zentralen Sammelpunkte der deutschen Emigrantenszene. Letzteres wurde schließlich auch Volgers Aufenthaltsort. Er begründet seine Entscheidung, Göttingen zu verlassen, damit, dass „ich als politischer Rädelsführer einer der damaligen Regierung feindlichen Partei nicht von der Gnade und Gunst politischer Gegner leben wollte.“128 Zwei Jahre war Volger an der Bezirksschule in Muri tätig, danach wechselte er nach Zürich, wo er neben einer Lehrtätigkeit an der Industrieschule als Privatdozent an der Universität Zürich Vorlesungen über Mineralogie hielt, bevor er 1856 schließlich einer Berufung als Dozent der Senckenbergischen Gesellschaft nach Frankfurt am Main folgte.129 Seine Jahre in der Schweiz waren vor allem durch wissenschaftliche und publizistische Arbeiten geprägt, politisch ist er nicht in Erscheinung getreten.130 Seine Erfahrungen als Schullehrer fasste er schon bald in Ideen zu einer neuen Gestaltung des naturkundlichen Unterrichts zusammen.131 Dabei wandte er sich gegen die Methoden des Auswendiglernens von Terminologien und Genera und sprach sich für anschaulichere Lernmethoden aus.132 Er forderte, alle Fremdwörter zu vermeiden und zunächst die heimische Natur in den Mittelpunkt zu stellen.133 Exkursionen, die er selbst häufig mit seinen Klassen unternahm, sollten den Unterricht ergänzen. Damals galten ihm zunächst die Naturwissenschaften als wichtigstes Gebiet des Unterrichts: Und doch gibt es keinen Unterrichtszweig, welcher die Jugend so zugänglich finde und für jede spätere Lebensstellung so vielfachen Reiz und so vollkommene Befriedigung gewähre, und welcher als Bildungsmittel des Verstandes, der edelsten Frucht alles Schulunterrichts, nur entfernt der Naturgeschichte an die Seite gestellt werden könnte.134
Die Schullehrertätigkeit befriedigte Volgers wissenschaftlichen Drang nicht. Er bewarb sich an der Universität in Zürich, deren Lehrpersonal zu einem Großteil die akademischen Emigranten aus Deutschland stellten. 127 Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 74. 128 Volger an den Direktor des Erziehungswesens im Kanton Aargau, zit. nach Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung, S. 63. 129 Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 30; Agnes Volger, Lebensabriß von Dr. Otto Volger, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19912. 130 Vgl. Otto Volger, Methodische Schule der Naturgeschichte zur Einführung in das zusammenhängende Verständniß der Anthropologie, Zoologie, Botanik, Mineralogie, Anatomie, Physiologie, Entwicklungsgeschichte, Paläontologie und Geologie; ders., Studien zur Entwicklungsgeschichte der Mineralien; ders., Handbuch der Naturgeschichte. 131 Ders., Leitfaden für die erste Stufe eines auf die Bildung des Verstandes gerichteten Unterrichtes in der Naturgeschichte. 132 Ebenda, Vorwort, S. X. 133 „Wir brauchen die Natur, nicht die Menagerie, das Treibhaus und die Schatzkammer“, Ebenda, S. XI. 134 Ebenda, S. VII.
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Abb. 1: Otto Volger 1864
Seine Vergangenheit in Form seiner Beteiligung an der Revolution von 1848 holte ihn allerdings ein, da das Hannoversche Staatsministerium einen Heimatschein verweigerte. Verzweifelt appellierte Volger an die Schweizer Behörden, seine besondere Situation anzuerkennen und die Frist für die Einreichung der Papiere zu verlängern. Das Verhalten der hannoverschen Regierungsstellen begründete er mit seiner politischen Vergangenheit. Er habe zu der Überzeugung kommen müssen, dass die Königl. Hannoversche Regierung meine Ausweisung aus hiesigem Kantone zu veranlassen wünscht, um mich wegen politischer Antecedentien, zumal wegen meines Vorsitzes im demokratischen Klub der Provinz Göttingen und Grubenhagen und wegen Leitung verschiedener, teilweise bewaffneter Volksversammlungen in Untersuchungen zu verstricken,
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deren endlichem Ausgange […] für mich mit einem […] Freiheitsverluste verbunden sein könnte.135
Die Angelegenheit erledigte sich zugunsten Volgers, aber sie bedrohte kurzzeitig dessen Existenz, da sich die allgemeine Lage der deutschen Emigranten in der Schweiz aufgrund von mehreren Ausweisungswellen verschärfte. Zürich war ein Zentrum der deutschen Emigranten in der Schweiz und wichtigster Treffpunkt der demokratischen Linken.136 Die Emigrantenszene in Zürich wird von Jansen als politisch gemäßigt, österreichfreundlich und föderalistisch orientiert charakterisiert.137 Diese Attribute kennzeichnen auch die späteren nationalen Ideen, die Volger mit der Gründung des Hochstifts verband. Über Volgers Zeit in Zürich und seine politischen und persönlichen Kontakte ist bisher nur wenig bekannt. Orientiert man sich an der Einteilung der politischen Strömungen der Linken durch Christian Jansen, dann kann man Volger zu den demokratischen Föderalisten rechnen. Deren Zielsetzungen werden nicht nur von Volger in dem Entwurf des Hochstifts aufgegriffen, sondern er selbst pflegte enge Kontakte zu einzelnen Vertretern, etwa Adolph Kolatschek und Georg Herwegh. Kolatschek gab damals mit seiner „Deutschen Monatsschrift“ die wichtigste demokratische Zeitschrift heraus. Der Aufenthalt in der Schweiz und die Kontakte zu prominenten Emigranten änderten Volgers Vorstellungen über die Gestaltungsmöglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. Das tritt besonders in seinen naturwissenschaftlichen Schriften zutage, an denen Volger in jenen Jahren arbeitete. Die Natur ist für Volger eine Ordnungsmacht, die in einem harmonischen Verhältnis zum Menschen steht. Er bezeichnet sie als ein „perfektes System“, das zugleich die Seele des Menschen beeinflusst.138 Daher sind für ihn die Entwicklungen der Naturgeschichte wesentlich für die Menschheitsgeschichte. Die Natur- und Erdgeschichte wird von Volger als ein harmonischer Entwicklungsgang beschrieben, der einen unermesslich langen Zeitraum umfasst, so dass Volger den Begriff der Ewigkeit einführt. Langsame Veränderungen und stetiger Wandel lassen keinen Anfang erkennen.139 Grundlage der „Volgerschen Geologie“ bildet ein strikter „Neptunismus“, der die Gestalt der Erdoberfläche durch die Kräfte des Wassers erklärt. Mit aller Entschiedenheit leugnet Volger daher Wirkungen, die etwa im Rahmen des „plutonistischen Modells“, auf Vulkane und Magmabewegungen als Erklärungen zurückgreifen. Das ewige Walten der Natur schließt für ihn jede erdgeschichtliche Revolution und Katastrophe aus. Dass der Revolutionsteilnehmer Volger nun den Begriff der Revolution aus der Erd- und Menschheitsgeschichte ausschließen will, zeigt auch seinen Ab135 136 137 138
Zit. nach Wolfgang Gresky, Die Volksversammlung S. 60. Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 80. Ebenda, S. 96. Otto Volger, Erde und Ewigkeit. Die natürliche Geschichte der Erde als kreisender Entwicklungsgang im Gegensatze zur naturwidrigen Geologie der Revolutionen und Katastrophen, S. IV. 139 Ebenda, S. 126.
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schied von dem Gedanken, kurzfristige gesellschaftliche Umbrüche herbeizuführen. Diese Überlegungen sind für das Verständnis des späteren großdeutschen Föderalisten Volger notwendig, dessen gesellschaftliche und nationale Ideen auf größere Zeiträume angelegt waren. Seit 1854 korrespondierte Volger mit dem Juristen und Mitglied der mineralogischen Sektion der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft (SNG) in Frankfurt, Friedrich Scharff. Scharff schätzte Volgers wissenschaftliche Arbeiten und war von seiner Persönlichkeit beeindruckt, nachdem er ihn in Zürich getroffen hatte. So reifte in Scharff der Wunsch, Volger als Privatdozenten der SNG nach Frankfurt zu holen.140 Volger scheint sich schon länger mit einer Rückkehr nach Deutschland beschäftigt zu haben und hat in der Schweiz erste Ideen hinsichtlich des Freien Deutschen Hochstifts entwickelt.141 Seine Reizbarkeit, seine Streitigkeiten mit Behörden und der Tod von zwei Kindern taten ein Übriges, um bei ihm den Wunsch nach einer Ortsveränderung zu wecken. Die Schweiz war eine Enttäuschung für Volger. Trotz der Anerkennung, die er in den Kreisen der Emigranten und Gebildeten fand, gelang es ihm nicht, eine solide bürgerliche Existenz aufzubauen. Alle Versprechungen auf eine unbefristete Anstellung blieben unerfüllt. Zuletzt hatte er auf eine Stelle an einem Gymnasium in Zürich gehofft, wo er bereits vertretungsweise gearbeitet hatte. Die wenigen Kolleggelder, die seine unbesoldete Stelle an der Universität Zürich einbrachten, gewährten keine Sicherheit. Während sich seine Frau Luise als Wäscherin und Näherin betätigte, war die Familie weiterhin auf Unterstützungen der Lüneburger Verwandten angewiesen. Auch als Wissenschaftler fühlte Volger sich nicht ausreichend gewürdigt. Er beklagte die angebliche Neigung der Schweizer, die Leistungen ausländischer Gelehrter nicht anzuerkennen und warf den regionalen Naturkundevereinen provinziellen Klüngel vor. Doch tat Volger neben allen berechtigten Klagen ein Übriges, um seine Situation zu verschlechtern und offenbarte wiederum einen Charakterzug, der ihm auch später immer wieder den Weg versperrte. Getrieben von Ehrgeiz und Geltungsdrang, beanspruchte er nicht weniger, als nunmehr die geologische Entwicklung der Schweiz vollständig zu erklären und die Arbeiten eines angesehenen Gelehrten wie Arnold Escher von der Linth zu revidieren. Volger hatte auf Grundlage seiner Theorien eine eigene Erklärung für das Phänomen der Erdbeben in der Schweiz entwickelt.142 Anlass war ein schweres 140 Vgl. Briefwechsel Otto Volgers mit Friedrich Scharff, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19813. 141 „Mir war die Bedeutung der deutschen Geistesmacht aufgegangen, als ich einige Jahre, während großer staatlicher Gährung und Zerfahrenheit Deutschlands, ein stiller, meiner Wissenschaft gewidmeter Zuschauer, am Fuße der Alpen im Auslande lebte. Der Plan eines freien Deutschen Hochstiftes, welcher mir aus dem in Frankfurt durch edlen Bürgersinn vielseitig gepflegten Bestreben zur Förderung höherer Anregungen mit Natürlichkeit erwachsen zu müssen schien, ließ mich die entgegenkommende Berufung zu hießiger Lehrthätigkeit anspruchslos, aber hoffnungsvoll ergreifen.“ Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1864), S. 11. 142 Otto Volger, Über das Phänomen der Erdbeben in der Schweiz, 3 Bd. (1857–58).
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Beben, das 1855 das Wallis erschüttert hatte. Volger bereiste sofort die betroffenen Gebiete und begann die Arbeit an einem dreibändigen Werk, das er später in Frankfurt beendete. Volger führt darin die Beben auf Kalkauswaschungen zurück, die zu einstürzenden Hohlräumen führten. Die Reserviertheit der Fachgelehrten gegenüber seiner Theorie interpretierte Volger als einen Beweis für deren Richtigkeit. Denn sein „neuer Standpunkt“ würde den „alten Männern“ Angst machen und daher dürfe man ihn nicht „aufkommen lassen“.143 Als er den elterlichen Rat erhielt, weniger forsch aufzutreten, entgegnete er ihnen: Ich weiß recht wohl, daß es den Menschen anders und besser geht als mir; daß etwas Besonderes da ist, was mir die Wege verbaut.144
Unter dem „Besonderen“ verstand Volger seine fachliche Überlegenheit und verglich seine Lage mit der Arthur Schopenhauers, dem „größten Philosophen unseres Jahrhunderts“. Dieser habe seine Philosophie gegen die gesamte Zunft der Schulphilosophie entwickelt und allen Widerständen getrotzt, so Volger. Das sei das Schicksal aller großen Forscher und „mit 34 habe ich noch Hoffnung“, schrieb er nach Lüneburg.145 Als im Sommer 1856 Friedrich Scharff mitteilte, dass Volgers Berufung an die SNG beschlossen worden war, war dies für Volger eine Chance, einen Neuanfang zu wagen. Doch als sein bevorstehender Umzug nach Frankfurt publik wurde, erreichten seine Gläubiger zunächst die Pfändung seines Besitzes. Wiederum musste Wilhelm Friedrich Volger das notwendige Geld für die Auslösung nach Zürich übermitteln. Scharff gegenüber erklärte Volger die Verzögerungen mit behördlichen Schikanen und gesundheitlichen Problemen.146 Im Herbst 1856 traf Volger schließlich in Frankfurt ein. Sogleich nahm er seine Vorlesungen in der SNG auf, deren Honorar durch das Legat eines Frankfurter Kaufmanns finanziert wurde.147 In Frankfurt „gehe es ihm sehr wohl“ schrieb er Ende 1856 nach Lüneburg.148 Er erlebte – im Vergleich zu den misslichen Züricher Verhältnissen – einen fast kometenhaften Aufstieg in der Mainmetropole. Zu seinen Vorlesungen strömte ein zahlreiches Publikum, darunter so bedeutende Männer wie Soemmerring, Varrentrapp und Rüppell.149
143 144 145 146 147
Otto Volger an seine Eltern, 27.8.1855, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19872-4. Otto Volger an seine Eltern, 27.7.1856, ebenda, HS 19872-6. Ebenda. Otto Volger an Friedrich Scharff, 28.10.1856, Ds., ebenda, HS 19813. Das Mylius’sche Legat, mit einem Grundkapital von 8.000 Gulden, stellte aus seinen Zinsen 300 Gulden für Vorlesungen zur Verfügung, vgl. Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 1817–1966, S. 304 u. 307. 148 Otto Volger an seine Eltern, 6.12.1856, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS1987210. 149 Detmar Wilhelm Soemmering (1793–1871), Arzt und Sohn des bekannten Mediziners Samuel Thomas Soemmerring (1755-1830); Georg Varrentrapp (1809–1886), Mediziner, der sich besondere Verdienste im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege erwarb; Eduard Rüppell (1794–1884), Forschungsreisender, bekannt durch seine Reisen im nordöstlichen Afrika, die dort gemachten Sammlungen übergab R. der SNG.
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Eine seiner ersten Visiten führte ihn zu dem Bundestagsgesandten Hannovers, weil er in Erfahrung bringen wollte, wie man dort den ehemaligen Revolutionär empfangen würde. Doch von Gottlieb von Heimbruch (1822–1892) war keine Gefahr zu erwarten, er saß sogar unter Volgers ersten Hörern, so dass er seinen besorgten Eltern mitteilen konnte: Wegen 1848 wird man mich in Hannover vielleicht noch scheel ansehen – ich sage vielleicht, aber in anderen Staaten nicht.150
Volger war von seinem Erfolg in Frankfurt berauscht, schnell hatte er Bekanntschaften und Verbindungen zu prominenten Persönlichkeiten geknüpft, so dass er bereits auf eine höhere Wirkungsstätte spekulierte. Frankfurt, die Stadt, in der auch Volgers Vorbild Schopenhauer lebte, schien alle Hoffnungen des jungen Gelehrten auf eine bessere Zukunft zu erfüllen. Vor allem war er beeindruckt vom Flair der Stadt. Der Reichtum, den Handel und Gewerbe brachten, die zahlreichen Formen der Bürgerkultur und die flirrende internationale Atmosphäre, die nicht zuletzt durch die Anwesenheit der zahlreichen Diplomaten und Gesandten erzeugt wurde, trugen dazu bei. Bis zum Frühjahr 1861 hielt Volger regelmäßig Vorträge, unternahm mit seinen Zuhörern geologische Exkursionen und ordnete die geologischen Sammlungen des Instituts. Um ihn trotz der geringen Vergütung als Dozenten zu halten, bewilligte ihm die SNG zusätzlich 100 Gulden.151 Volger galt als ein brillanter Redner, dem es gelang, seine Themen fasslich und interessant zu vermitteln. Um sein Einkommen zu erhöhen, hatte er begonnen, private Kurse über naturkundliche Themen zu geben, zu denen zahlreiche Damen aus den höheren bürgerlichen Kreisen, aber auch Offiziere und Personen aus den Gesandtschaftskreisen erschienen. Welche Anerkennung Volger in der Gesellschaft und darüber hinaus zuteilwurde, verdeutlicht ein Antrag der SNG, des Physikalischen, Geographischen und Ärztlichen Vereins, Volger mit der geologischen Untersuchung Frankfurts und seiner Umgebung in „bergbaulicher, land- und forstwirtschaftlicher, in volkswirtschaftlich gewerblicher und in gesundheitlicher Beziehung“ zu beauftragen. Er wurde jedoch von der Stadt abgelehnt.152 Zusätzlich trat Volger zahlreichen städtischen und regionalen Vereinen bei und hielt dort Vorträge. 1859 regte er die Gründung des Offenbacher Vereins für Naturkunde an. Dort hatte er im Winter 1858/59 eine Reihe naturkundlicher Vorträge gehalten, die ihn auf die Idee brachten, eine Verein anzuregen, der sich am 10. März 1859 schließlich konstituierte und zu dessen Ehrenmitglied Volger ernannt wurde.153 Der bürgerlichen Bildungsidee, die sich in der Gründung von 150 Ebenda. 151 Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 1817– 1966, S. 313. 152 Ebenda, S. 315. 153 Didaskalia, Nr. 143, 23.5.1860. Im Archiv des Offenbacher Vereins sind noch die Protokollbücher der Gründungszeit erhalten. Aus ihnen geht hervor, dass Volger auch andere Persönlichkeiten, wie Ludwig Büchner, zu Vorträgen nach Offenbach einlud. Auch in Offenbach
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Vereinen eine neue Organisationsform schuf, blieb Volger sein Leben lang verhaftet. Über die Wirkung im FDH hinaus kann man seine Mitgliedschaft in über zwanzig Vereinen und wissenschaftlichen Gesellschaften nachweisen.154 Die reichhaltige und ausdifferenzierte Vereinskultur Frankfurts bildet den Anknüpfungspunkt, von dem aus Volger die Idee einer freien Hochschule entwickelte. Schon während der Revolution von 1848 engagierte sich Volger für die Vernetzungen von Volksversammlungen und Landgemeinden, um eine breite und handlungsfähige Form der Öffentlichkeit zu schaffen. Doch ein Jahrzehnt später steht nicht die Politik, sondern die Bildungsidee im Mittelpunkt seines Denkens. Während sich das Bürgertum zur gleichen Zeit in politischen Vereinen zu organisieren begann, während Frankfurt wieder ein Zentrum der nationalen Bewegung wurde, gründete Otto Volger 1859 das Freie Deutsche Hochstift. 3. NATIONALE PROGRAMMATIK UND ORGANISATION DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS An dem großen deutschen Jubeltage, befanden sich unter den Tausenden, welche in Frankfurt am Main das Erinnerungsfest unsres großen Nationaldichters feiern halfen, wohl kaum Einige, welche es wussten oder daran dachten, dass an diesem Tage und in dieser Stadt die Satzungen eines Vereins ausgegeben wurden, dessen Stiftungstag man vielleicht in hundert Jahren kaum weniger enthusiastisch feiern wird.155
Der Verfasser dieser Zeilen, der Arzt und Schriftsteller Ludwig Büchner (1824– 1899), gehörte zu den 56 Gründungsmitgliedern des FDH, die sich am 23. Oktober im Haus der Loge „Carl zum aufgehenden Lichte“ zusammenfanden. Versammelt hatte man sich auf Einladung Otto Volgers, der bereits im September 1859 einen Gründungsaufruf veröffentlicht und an Gesinnungsgenossen verschickt hatte.156 Die knapp sechzigseitige Schrift mit dem umständlichen Titel, „Das Freie Deutsche Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung zu Frankfurt am Main. Vorläufiger Entwurf eines freien Anregungs= und Lehrvereins zur Vertretung der gesammten Deutschen Bildung als einheitlicher Geistesmacht und zur Belebung des Selbstgefühls im Deutschen Volke“157, richtete sich im Vorwort
154 155 156
157
wollte Volger eine Grundidee des Hochstifts umsetzen und alle „naturwissenschaftlichen „Bürger und Institutionen“ vereinigen. Georg Wittenberger, Der Offenbacher Verein für Naturkunde 1859–1984, S. 9. Vereinsbetheiligung Dr. Volgers, 1 Bl., zu Lebensabriß von Agnes Volger, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. Ludwig Büchner, Am zehnten November 1859, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Ludwig Büchner, Bl. 1. Im Vorwort räumt Volger ein: „Der Entwurf […] ist nicht mein alleiniges Eigentum. […] Mit vielen haben ich ihn theils im Allgemeinens, theils in Einzelheiten besprochen und überlegt.“ S. 4. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung zu Frankfurt am Main. Vorläufiger Entwurf eines freien Anregungs= und Lehrvereins
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an die Gelehrten und an die Gebildeten in Deutschland. Da die Zukunft Deutschlands von seiner Bildung abhänge, seien die Adressaten als ihre Träger und Vermittler aufgefordert, aus ihrem engen Kreis der Fachwissenschaft und Liebhaberei herauszutreten, um sich für die Nation zu engagieren, denn für Deutschland sei nun eine „ernste Zeit gekommen“.158 Die von Volger verfasste Schrift, die den Plan zur Gründung des Hochstifts entwickelte, gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Kapitel präzisierte er seine Vorstellungen über das Wesen der deutschen Nation. Darin konstruierte er das Bild einer Kulturnation, die er über die gemeinsame Sprache und Bildung beschrieb. Diese Kulturnation sah er allerdings durch den deutschen Partikularismus in Gefahr, der sich etwa in der Politik der einzelnen Staaten verkörperte und im Sommer 1859 dazu geführt hatte, dass Österreich in Italien ohne zureichende Unterstützung der deutschen Staaten blieb. Der beginnende preußisch-österreichische Dualismus stellte aus Sicht Volgers eine ernste Gefahr dar, weil er das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit zugunsten dynastischer und kurzfristiger politischer Interessenlagen bedrohe. Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts, die im anschließenden Kapitel geschildert wird, sollte das nationale Einheitsbewusstsein in der Bevölkerung stärken, indem es den Prozess der kulturellen Nationsbildung vorantreiben wollte. Die Organisation und die Verbreitung der Wissenschaften, Künste und allgemeinen Bildung sollten helfen, die nationale Identität zu stärken und gleichzeitig ein Gefühl für die Überlegenheit der deutschen Kultur vermitteln. 3.1. Nationale Identität und Nationskonzept In den älteren Forschungen zum Nationalismus galten die Nation und der Nationalstaat lange als objektive Formen der Geschichte. Die Geschichtswissenschaft selbst trug durch ihre Arbeiten im 19. Jahrhundert zu dieser Auffassung bei. Die Entwicklung zum Nationalstaat wurde unter unterschiedlichen Voraussetzungen beschrieben, wobei besonders für Deutschland die Ausführungen von Friedrich Meinecke einflussreich blieben. Meinecke differenzierte zwischen Kulturnationen und Staatsnationen. Gemeinsprache, gemeinsame Literatur und gemeinsame Religion sind die wichtigsten und wirksamsten Kulturgüter, die eine Kulturnation schaffen und zusammenhalten.159
Während Deutschland als verspäteter Nationalstaat dem Typus einer Kulturnation entsprach, sah Meinecke in Frankreich eine Staatsnation am Werke, die aufgrund der gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung schon frühzeitig einen Nationalstaat schuf. zur Vertretung der gesammten Deutschen Bildung als einheitlicher Geistesmacht und zur Belebung des Selbstgefühls im Deutschen Volke, Frankfurt am Main 1859. 158 Ebenda, S. 3. 159 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 10.
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Die Forschung begann, sich seit den 1980er Jahren von den älteren Deutungsmustern zu verabschieden, und richtete ihr Augenmerk vor allem darauf, die Nation als objektives Merkmal des historischen Prozesses zu hinterfragen.160 Ihr Erkenntnisinteresse zielt nicht auf die der Nation, [...] sondern auf den Prozess dieser Zuschreibung. In den Mittelpunkt rücken Inhalt, Formen und Vermittlungsweisen der jeweiligen Konstruktionen, die eine spezifisch nationale Sicht auf die Welt ermöglichen.161
Die Nation als eine „gedachte Ordnung“ zu begreifen, wird auch in Bezug auf das Verständnis von Nation angewendet, das im Freien Deutschen Hochstift untersucht werden soll.162 Es wird dadurch möglich, ein gruppenspezifisches Nationalkonzept mit seinen Wandlungen und Brüchen zu präsentieren. Es waren vorwiegend bürgerliche Intellektuelle, die im Hochstift eine kollektive Identität konstruierten und propagierten.163 Als ein in die Zukunft entworfenes Nationalkonzept stützte es sich auf eine konstruierte bzw. kognitive Nationsstiftung, zu deren Verwirklichung das Hochstift einen Beitrag leisten sollte. Das Nationalkonzept hat sich dabei im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer wieder als Folge der historischen Veränderungen modifiziert. Dabei entzieht es sich den gebräuchlichen Vorstellungen, die eine Entwicklung zu einem integralen, aggressiven Nationalismus im 19. Jahrhundert behaupten.164 Gestützt wird diese Einschätzung durch die Tatsache, dass das Nationalkonzept des Hochstifts nicht auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaates abzielte. Die Vorstellung einer Kulturnation, auf der es basierte, war das primäre Ziel und ergab sich aus den Zuschreibungen, die man der eigenen Nation zuwies. Die politischen oder wirtschaftlichen Dimensionen waren für das Projekt des „nation-building“ im Hochstift nur von sekundärer Bedeutung. Seit Mitte der 1860er Jahre traten dann andere nationale Bewegungen und Ideen in die Öffentlichkeit, die in Konkurrenz zum Hochstift standen. Otto Volger hat rückblickend das Jahr 1859 als Wegscheide der deutschen Geschichte bezeichnet.165 Damals seien zwei Möglichkeiten für die nationale Entwicklung Deutschlands vorhanden gewesen. Einen Weg stellte die Gründung des Freien Deutsche Hochstifts dar, das eine großdeutsch orientierte kulturelle Nationsbildung im Rahmen der bürgerlichen 160 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation; Ernest Gellner (Hg.), Nations and Nationalism; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus; Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition. 161 Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller, Perspektiven einer politik- und kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung, Einleitung, in: Jörg Echternkamp (Hg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, S. 6. 162 So M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland; dort definiert Lepsius: „Die Nation ist zunächst eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt“, S. 233. 163 Zur Rolle der Intellektuellen Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 27–47. 164 Vgl. Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen, in: ders., (Hg.), Nationalismus, S. 5–46; ders., Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, S. 213–265; Hans–Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 938–965. 165 Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 24.8.1880, (Kopie), FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9039/40.
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Gesellschaft anstrebte, einen anderen, einen gegenteiligen Weg betrat der Nationalverein, der einen kleindeutschen Nationalstaat fokussierte. Wie sah nun konkret die Vorstellung von Nation aus, die bei der Gründung des Freien Deutschen Hochstifts propagiert wurde? Zunächst ist festzuhalten, dass die maßgeblichen Texte zu diesem Thema alle aus der Feder von Otto Volger stammen. Er ist der intellektuelle Vordenker des Nationskonzepts des Hochstifts und prägte bis zu seinem Ausscheiden dessen nationale Ansprüche. Der zentrale Grundpfeiler seiner Ideen war die Annahme, dass die Weltgeschichte seit Anfang an durch Nationen bzw. Völker bestimmt sei, die sich durch ihre jeweils spezifische Individualität auszeichnen. Diese Auffassung findet sich bereits bei Autoren des 18. Jahrhunderts und hat „ihre intellektuell stärkste Formulierung [...] bei Herder“.166 Herder beschrieb die Entwicklung der Menschheit als einen Entwicklungsgang verschiedener Völker, die er aber aller unter der Idee eines Plans zum Fortschritt der gesamten Menschheit betrachtet.167 „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“, aber als Glieder der Menschheit sind kultureller Transfer und Beeinflussungen möglich.168 Die Besonderheit jeder Nation ergab sich für Herder durch den Bezug auf ihre jeweilige Kultur und Sprache. Herder gilt als „Erfinder“ der „Sprach- und Kulturgemeinschaft“, mit der er ein Nationalbewusstsein „von unten“ aufbauen wollte, indem er den Traditionen und der Kultur des Volkes zum ersten Mal Aufmerksamkeit schenkte.169 Herders Schriften stellen eine wichtige Quelle für Volgers Verständnis von Nation dar. Volger übernahm nicht nur Herders Idee, die Nation über die Sprache und Kultur zu definieren, sondern er stellte das Freie Deutsche Hochstift ausdrücklich in Herders Nachfolge, indem er Herders "Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands“170 als Vorbild des Hochstifts bezeichnete.171 Allerdings finden sich gravierende Abweichungen gegenüber Herders Ideen. Für Volger stellen die Nationen abgeschlossene Formationen dar, die er mithilfe naturwissenschaftlicher Analogien als eine Art Organismus beschreibt. In diesem Sinne lehnt er höhere Einheiten, wie „Menschheit“ oder ein „Weltbürgertum“, kategorisch ab, die noch für Herder von Bedeutung waren. Wohl träumt der Deutsche nur allzu gern von einem die gesammte Menschheit umfassenden Weltbürgerthume und von dem Verschwinden aller Sonderung und Verschiedenheit der Völker des Erdbodens. Aber ein Blick auf die Natur lehrt uns diesen Traum verwerfen!172 166 James J. Sheehan, Nation und Staat. Deutschland als „imaginierte Gemeinschaft“, S. 35. 167 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 310. 168 Ebenda, S. 308. 169 Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, 1770–1990, S. 53. 170 Johann Gottfried Herder, Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist in Deutschland (1787). 171 Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar und Herder’s Entwurf zu einer Vereinigung der geistigen Volkskraft Deutschlands und der Versuch seiner Verwirklichung durch das Freie Deutsche Hochstift (1864). 172 Otto Volger, Gegen das Weltbürgerthum in Deutschland, in: Ber. FDH 1860, S. 3.
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Jedes Volk habe, so Volger, eine spezifisch nationale Wissenschaft, Kunst und Bildung ausgeprägt und er begründet dies mit dem Hinweis auf das Vorbild der Natur, welches lehre, nicht diese Verschiedenheit durch eine allgemeine Abschleifung jeder Schärfe zu vertilgen, sondern jede Besonderheit in ihrer Weise zur höchsten Vollendung zu führen, welche dem Wesen jedes Einzelvolkes entspricht!173
Abschließung und Ausgrenzung des „Fremden“ bilden ein zentrales Merkmal der Nationsvorstellung Volgers. Auf die zentrale Rolle, welche die Feindschaft in den Nationskonzepten des 19. Jahrhunderts spielte, hat Michael Jeismann in seiner Studie verwiesen.174 Jeismann betont, dass die Feindschaft nicht allein als Instrumentarium wirtschaftlicher oder politischer Interessen zu erklären sei, sondern dass jedem nationalen Selbstverständnis eine implizite Abgrenzung und Entgegensetzung innewohnen.175 Der moderne Nationalismus im 19. Jahrhundert knüpfte dabei an tradierte Völkerstereotypen an, deren Gegensätze verschärft wurden.176 Diese Stereotypen fanden entsprechende sprachliche und bildhafte Präsentationen, die trotz aller interessengeleiteter Zugriffe eine Eigendynamik entwickelten. Deswegen plädiert er – in kritischer Distanz zu Wehler – dafür, alle Formen eines „volkstümlichen Nationalismus“ ernst zu nehmen. Jeismann betont dabei die Wirksamkeit von emotionalen Komponenten und das breite Mobilisierungspotenzial, das in diesen Diskursen steckte.177 Jeismann hat besonders den Einfluss der Schriften von Johann Gottlieb Fichte für die Entstehung des Feindbegriffs in den nationalen Diskursen hervorgehoben. In seinen „Reden an die deutsche Nation“ stellt Fichte in der 4. Rede die Behauptung auf, die Deutschen seien ein Urvolk, und begründet diese mit der Feststellung, dass die deutsche Sprache eine „ursprüngliche Sprache“ sei.178 Der Philosoph postuliert, dass die Deutschen das auserwählte Volk der Menschheitsgeschichte darstellen. Fichte verstand die Nation als „geistige Natur“, die eine „historisch ausgebildete kollektive Identität“ bezeichnet und „nicht zugunsten einer abstrakten universalen Lebensordnung im Zeichen der Aufklärung geopfert werden dürfe“.179 Der Deutsche kann, so Fichte, durch seine Ursprünglichkeit selbst zu einem tieferen Verständnis anderer Sprachen gelangen, aber der „Ausländer“ selbst wird nie zu einem tiefen Verständnis des Deutschen befähigt sein. Dies degradiert die anderen Nationen dazu, die „Deutschen in ihrer Einzigartigkeit und Vollkommenheit anzuerkennen und zugleich davon ausgeschlossen zu sein“.180 173 Ebenda. 174 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. 175 Ebenda, S. 16. 176 Ebenda, S. 22. 177 Ebenda, S. 43 f. 178 Ebenda, S. 69. 179 Klaus-M. Kodalle, Fichtes Wahrnehmung des Historischen, S. 193. 180 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 70.
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Fichtes Ideen fanden in den Jahren der napoleonischen Herrschaft in Deutschland weite Verbreitung. Die Sprache als Trägerin nationaler Zugehörigkeit ermöglichte es, trotz französischer Fremdherrschaft sich weiterhin als ein Teil einer deutschen Nation zu fühlen. Umso wichtiger wurde dabei das „Volk“ für die Nation, denn in ihm schien sich eine Ursprünglichkeit erhalten zu haben, die etwa das Interesse der „Romantiker“ weckte, aber schon bei Herder ihren Anfang genommen hatte. Um die Reinheit der deutschen Sprache als Zeichen eines gesunden Volkstums bemühte sich beispielsweise Friedrich Ludwig Jahn. In seiner Schrift „Deutsches Volkstum“ (1810) forderte er die Vermeidung von Fremdwörtern und eine deutsche Gelehrtensprache.181 Diese Ideen einer Sprachreinheit griff das Hochstift später auf, wie noch erläutert werden wird. Auch Wilhelm von Humboldt erklärte in seinen Sprachstudien: So bleibt darum doch nicht weniger wahr: [...] dass mithin, wenn man die Nation mit der Sprache zusammendenkt, in der letzteren allemal ein ursprünglicher Charakter mit einem von der Nation empfangenen in Eins zusammengeschmolzen ist.182
Volger definiert das Deutschtum über eine gemeinsame Sprache als ethnische Gemeinschaft. Obwohl er Analogien aus der Natur bemüht, betont er die „geistige Natur“ dieser Auffassung, denn das Wesen des Deutschtums bestehe „durchaus nicht in der leiblichen Abstammung und Rasse, sondern in geistiger Gemeinschaft“.183 Die Zugehörigkeit über die Sprache bedeute auch, dass die Schweizer, die Niederländer und die Elsass-Lothringer zur deutschen Nation gehören. Nationale Identität ist nicht austauschbar oder willkürlich durch Staatsgrenzen zu ändern, auch dann nicht, wenn die Deutschen im Elsass versuchen, „gegen uns die Franzosen zu spielen“.184 „Der Deutsche Mensch“, so Volger, ist eben ein anderer Mensch, als der von fremden Volke, und nur mit Deutschen kann der Deutsche dauernd, überhaupt wahrhaft, sich wohl fühlen.185
Wie schon Fichte war auch Volger von der Überlegenheit der Deutschen überzeugt. Denn die anderen Völker „haben alle stillschweigend anerkannt, daß in diesem Volke der Schwerpunkt der gebildeten Menschheit liegt.“186 Neben diesen abstrakten Zuschreibungen konstruiert Volger die Nation auch aus einer gemeinsamen Geschichte heraus, die er mit Karl dem Großen beginnen lässt. Die Nation wird hier als Ergebnis einer historischen Schicksalsgemeinschaft definiert. Der Rückgriff auf die mythische und historische Vergangenheit war ein zentrales Element im 19. Jahrhundert, um die nationale Identität zu beschreiben. 181 „Fremde Kunstausdrücke müssen in Benennung von Personen, Würden, Ämtern, Handlungen und volkstümlichen Gegenständen gänzlich abgeschafft, und in Gesetzen, Verordnungen und im Geschäftsgange, wo es nur irgend die Verständlichkeit erlaubt, vermieden werden.“ Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum, S. 215. 182 Wilhelm von Humboldt, Ueber den Nationalcharakter der Sprachen, S. 15 f. 183 Ber. FDH 1864, Flugblatt 1, S. 1. 184 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 8. 185 Ebenda, S. 13. 186 Ebenda.
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Im Zeichen des Historismus konnte dadurch die nationale Kontinuität durch Eruierung einer gemeinsamen Geschichte nachgewiesen werden.187 Die maßgebliche Rolle spielten hierbei die Bildungseliten, speziell die Historiker.188 Geschichtsschreibung war nicht nur Identitätsstiftung, sondern die Geschichte galt auch als Trägerin des Fortschritts zur Freiheit und nationalen Einheit.189 Für Volger hat der Rekurs auf die Nationalgeschichte noch eine andere Funktion. Er will damit erklären, warum die Deutschen nicht jenen Zustand von Einheit vorweisen wie andere Nationen, warum aus dem Kaiserreich des frühen Mittelalters kein Nationalstaat entstand. Als Erklärung führt Volger die spezifische „deutsche Freiheit“ an, die er zum entscheidenden Wesensmerkmal des Nationalcharakters erklärt. Der Mangel an Einheit ist nur der thatsächliche Ausdruck des Maßes, in welchem das uns eingeborene Streben nach freier Entwicklung siegreich geblieben ist.190
Die spezifisch „deutsche Freiheit“ ist einerseits die Ursache für die historische Entwicklung des Deutschtums, gleichzeitig aber eine Eigenschaft, die Deutschlands große Zukunft als führendes Kulturvolk garantiert. Auch dieses Element ist nicht neu, sondern war schon seit den „Befreiungskriegen“ Teil nationaler Konzepte und diente vor allem dazu, die deutsche Nation abzugrenzen und aufzuwerten. In der frühen deutschen Publizistik wurde die „deutsche Freiheit“ als Gegensatz zu den Freiheitsidealen der Französischen Revolution erörtert. Aus den protestantischen und pietistischen Traditionen, die sich mit dem Thema der inneren Freiheit eines Christenmenschen befassten, erfolgte ein Amalgieren mit den politischen und nationalen Elementen. In diesem Kontext wurde Freiheit vor allem zu einem internalisierten moralischen Wertbegriff, der das Individuum auszeichnete.191
Volger führt diesen Begriff nicht nur ein, um die historische Entwicklung Deutschlands zu deuten, er dient ihm ausdrücklich dazu, das Wesen des Deutschtums anhand eines Vergleichs mit einem konstruierten französischen Nationalcharakter zu bestimmen und aufzuwerten. Unter der programmatischen Überschrift „Deutschthum und Welschthum, Unser Heil und unsere Hoffnungen“ wird dieser Vergleich entwickelt. Der Begriff der „deutschen Freiheit“ erhält bei Volger eine moralische, eine historische und eine intellektuelle Dimension. In moralischer Hinsicht schildert er die Deutschen als ein tugendhaftes Volk: Dem Deutschen, der wahrlich mit Recht das Beiwort des ,ehrlichen‘ führt, ist es stets um das Wesen, die Innerlichkeit, die Gründlichkeit, die Wahrheit.192
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Hedda Gramley, Propheten des deutschen Nationalismus, S. 31. Ebenda. Ebenda, S. 32; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 720. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 10. Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 74. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 13.
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Das „edle“ und „wahrheitstreue deutsche Herz“ wird dagegen durch eine verdorbene französische Moral kontrastiert. So unterwirft herkömmlich – die Pest der Sittenverderbniß, die stets von Westen her sich über unsere Gränzen ergoß, bezeugt es – der Machthaber Frankreichs sein ganzes Volk der sittlichen Röthe [...].193
Gegen einen zersetzenden französischen Einfluss polemisierte Volger schon in seinen naturwissenschaftlichen Werken: Im Beginn einer schweren, hoffentlich aber zu Deutschlands Heile führenden Zeit sende ich den Schluß dieses Buches in die Welt hinaus. Es gilt dem Kampfe der Deutschen Keuschheit und Ehre gegen die Französische Seuche im Staats=, im Gesellschafts= und im Geistesleben.194
Als aktuellen Beleg für diese Sichtweise führt Volger die „Italienische Frage“ an, die Kaiser Napoleon III. zum „heuchlerischen Vorwande“ nahm, um einen „längst vorbereiteten Krieg“ zu beginnen, wegen eines „prickelnde[n] Geblüt[s]“ und einem „Mohnrausche eitler Großthaten“.195 In diesem Fall sei die „deutsche Ehrlichkeit“, die „deutsche Rechtsfragerei“ wiederum zu einem Opfer der Verschlagenheit der Franzosen geworden und habe dazu geführt, das Österreich keine ausreichende Hilfe erhielt – und die „Welschen, sie lachen befriedigt“.196 In der historischen Dimension des Begriffs entwickelt Volger einen Überblick über die Nationalgeschichte, die auf den ersten Blick den Eindruck einer „Zersetzung“ vermittelt. Der Partikularismus197 sei ein Ergebnis des deutschen Freiheitsdrangs. Daraus entspringt freilich eine große Verschiedenheit zwischen dem Friesen und dem Tyroler, zwischen dem Pommern und dem Rheinländer, dem Sachsen und dem Schwaben. Jeder von ihnen denkt Deutsch, redet Deutsch – aber so verschieden, wie die Deutsche Natur ihrer Deutschen Lande, so verschieden ihre naturgemäße Lebensweise und ihre Schicksale, so verschieden ist auch dieses Deutsch ihres Denkens, ihres Fühlens, ihrer Rede. Mit dieser Hindeutung ist die ganze Ursache der ungenügenden Einigkeit Deutschlands bezeichnet.198
Auch die konfessionelle Spaltung Deutschlands führt Volger auf den Freiheitsdrang zurück, der sich in der Unmöglichkeit des deutschen Geistes ausdrückt, in einer Frage, die den „Inbegriff einer ausschließenden Wahrheit für sich in Anspruch nimmt“, sich in „starre Bekenntnisse“ einzufügen.199
Ebenda, S. 9. Otto Volger, Das Buch der Erde, Naturgeschichte des Erdballs und seiner Bewohner, S. IV. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 17. Ebenda, S. 16. „Partikularismus“ wurde zu einem „Schlagwort, mit dem undeutsche Haltungen gebrandmarkt wurden“ und gehörte zum Kampfbegriff der „Anhänger[n] der deutschen Einigung unter preußischer Führung“. Dieter Langewiesche, Föderative Nation, kulturelle Identität und politische Ordnung. (Rück-)blick aus dem 19. Jahrhundert, S. 67. Volgers Darlegungen sind davon gekennzeichnet, seine föderativen Ideen gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen. 198 Ebenda, S. 13. 199 Ebenda, S. 14.
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Bemerkenswert bleibt die Bedeutung, die Volger den deutschen Fürsten einräumt. Die territoriale Vielfalt Deutschlands und die zahlreichen Dynastien seien Ausdruck regionaler Selbstständigkeitsbestrebungen und die Fürsten nur Garanten der „deutschen Freiheit“ gegen die Ansprüche einer Zentralmacht, wie sie noch das mittelalterliche Kaisertum erhob.200 Allerdings führten die extremen Auswüchse zu einem Partikularismus und damit zu einer Schwächung Deutschlands, denn es wuchs „der Widerstand ins Uebermaß und brach die Einheit“.201 Dass die Fürsten nicht auf der Grundlage dynastischer Legitimität oder eines Gottesgnadentums regieren, begründet Volger mit der Bemerkung, dass es 1813 schließlich das Volk gewesen sei, das die Herrscher wieder auf ihre Throne gehoben habe. Für Deutschlands Zukunft zog Volger aus dem historischen Abriss die Schlussfolgerung, dass es in seiner staatlichen Gestalt immer eine föderative Nation bleiben werde. Deutschland wird, so weit man vorauszusehen wagt, nach Außen nicht leicht anders, als bloß vertheidigungsweise, eine angemessene Kraft entwickeln.202
Noch fünf Jahre nach dieser Äußerung bekräftigte man im Hochstift diese Überzeugung, dass die wahrhafte Größe des gesammten Deutschen Volkes nicht etwa durch seine staatliche, wohl aber allein durch geistige Einheit, sich in nie geahnter Hoheit entfalten und allen anderen Nationen als bewunderungswürdiges Beispiel vorleuchten könne.203
Ein zentralistischer Nationalstaat, wie ihn etwa Frankreich ausgebildet hatte, war aus Sicht Volgers das Resultat mangelnder Kultur und niemals auf die deutschen Verhältnisse übertragbar. Der französische Zentralismus sei die Folge nationaler Eigenheiten, etwa des Hangs zur Oberflächlichkeit und zum Materialismus.204 Dadurch habe der Staat die absolute Herrschaft über alle gesellschaftlichen Verhältnisse erringen können, denn den Franzosen fehle eben der innere Freiheitsdrang, der die Deutschen auszeichne. Frankreich sei daher für jede Form von Tyrannei und Despotie besonders anfällig. „Keine Freiheit ist heilig in dem Staate, welcher mehr, als irgend ein anderer, die Freiheit im Munde führt.“205 Vor allem einen ausgeprägten Militarismus, der immer ein Zeichen kultureller Armut sei, bescheinigt Volger den Franzosen. Wie in einem Kriegsheere ist die gleiche Ordnung im ganzen Frankreich; ein und dasselbe Gesetz, eine und dieselbe Art der Verwaltung […]. Wo ist dort noch Spielraum für den edle-
200 Ebenda, S. 10; über die Bedeutung der „Freiheit“ vgl. Martin van Gelderen/Georg Schmidt/Christopher Snigula (Hg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850); dort Georg Schmidt, Die Idee ,deutsche Freiheit‘. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, S. 159–190. 201 Ebenda. 202 Ebenda, S. 16. 203 Friedlieb Rausch, Wer ausharrt wird gekrönt. Festrede des sechsten Jahresabschnittes der Thätigkeit des Freien Deutschen Hochstiftes, S. 24. 204 Ebenda, S. 13. 205 Ebenda, S. 9.
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II. Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts ren Eigensinn […], wo eine Befugniß für eigne Bildung, wo eine Freiheit der Forschung, eine Freiheit des Gedankens?206
Als Folge dieser Beschreibungen wird schlussendlich auch die intellektuelle bzw. kulturelle Dimension der „deutschen Freiheit“ im Vergleich mit den französischen Zuständen zum entscheidenden Faktor. Deutsche Redlichkeit, deutscher Fleiß und deutscher Idealismus haben die Wissenschaften, die Kunst und die Bildung zur höchsten Entfaltung gebracht. Diese reine Gedankenerhebung zum Suchen nach der höchsten aller Wahrheit, ist bei dem Deutschen nicht blos eine Beschäftigung weniger, bevorzugter Geister, sondern sie ist vielmehr stets das Ziel aller Bestrebungen, welche hervorragend geistige Thätigkeit erheischen: aller Kunst, wie aller Wissenschaft [...].207
Als Kulturvolk sei dies die Bestimmung der Deutschen, da sie als Volk dazu berufen seien, „den Segen der edelsten Menschlichkeit über die ganze Erde zu tragen.“208 Die Einheitsbewegung zur Weiterentwicklung und Festigung einer Kulturnation zu nutzen, sollte das Ideal eines „geistigen Deutschtums“ verbreiten, das dazu dient, „die Gefahren der Selbstständigkeitsbestrebungen zu bannen“.209 Diese Form der deutschen Einheit bezeichnet Volger wiederum als eine notwendige Folge von „Naturverhältnissen“, die jeder Nation ihre entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten vorschreiben. Volger spricht den Franzosen jede kulturbildende Fähigkeit ab. Die Wissenschaft dort „nährt sich von den Früchten deutschen Fleißes und deutscher Gedanken“. Den einzigen Wissenschaftler von Bedeutung, den Volger in Frankreich gelten lässt, bezeichnenderweise den Naturforscher Georges Cuvier (1769–1832), erklärt er aufgrund seiner Abstammung zu einem Deutschen. Die wenigen Männer von Bedeutung in Frankreich leuchten als „[…] einsame Sterne auf dunklem nächtlichen Grunde […]“.210 Selbst die Kunst sei in Frankreich kein Produkt einer künstlerischen Individualität, eines Genies etwa, sondern nur Gewerbe, Ornament gesellschaftlicher Stellung, um eine staatliche Rente zu erhalten. Wie überall hat auch in diesen Bereichen der Staat das absolute Verfügungsmonopol. Die Wissenschaft selbst ist dort eine Staatsverordnung, ist vollständig von der Staatsleitung in Sold und Pflicht genommen, erwartet von dieser Anerkennung und Ehre und empfängt von ihr den Stempel ihres Werthes.211
Volgers abschließendes Urteil über Frankreich fällt daher umso negativer aus: „Das ist ein Volk, wie man es braucht, um Soldatenreiche zu schaffen und den Brand der Welt zu entzünden“.212 206 207 208 209 210 211 212
Ebenda. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 18. Ebenda, S. 20. Ebenda. Ebenda, S. 18. Ebenda. Ebenda, S. 19.
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In Deutschland dagegen sei, so Volger, „durch alle Schichten“ die „wahre Bildung verbreitet“ und deshalb „schläft in diesem Volke eine ungeheure Macht“.213 Anders als in Frankreich sei das „geistige Licht kein königliches, kaiserliches oder machthaberisch gefärbtes“, denn der deutsche Freiheitsdrang sei für den rasanten Aufschwung der Bildung und Wissenschaften in Deutschland verantwortlich.214 Durch alle Stände hindurch bis hin zum gemeinen Volk finden sich „deutsche Denker und Erfinder“. Nicht der „berufsmäßige Gelehrtenstand, sondern die Gelehrten aus Berufung“, seien die wahren Träger der deutschen Kultur. Die bestehenden Hochschulen seien zwar „Sammelpunkte der Bildung“, aber nicht die „Staatspächter des Lichts“. Durch ihre enge Bindung an die jeweiligen Einzelstaaten bleiben sie den staatlichen Sonderinteressen und der staatlichen Willkür ausgeliefert und nur einer kleinen Schicht zugänglich, die dort zu Staatsdienern ausgebildet wird. Es sind dagegen die „selbstforschenden Gelehrten“ und die freien wissenschaftlichen Vereine, die jene notwendige „unendliche Vielseitigkeit der Wissenschaften und ihres Einflusses auf die Geistesbildung des großen Volkes“ herbeiführen.215 Nur eine in der bürgerlichen Gesellschaft selbst organisierte Wissenschaft, Kunst und allgemeine Bildung sind für die kulturelle Nationsbildung von Relevanz. Volger konstruiert also die Nation als eine ethnische Abstammungsgemeinschaft, die er über eine gemeinsame Sprache und Kultur definiert. Er greift dabei auf ältere Traditionen zurück und bezieht sich auf die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, beispielsweise auf die „Fruchtbringende Gesellschaft“ oder die wissenschaftliche „Berliner Akademie“ sowie auf Männer, wie Klopstock und Herder. Auf die Bedeutung dieser frühen Formen für die Entstehung des Nationalismus hat schon Wolfgang Hardtwig hingewiesen.216 Die deutsche Sprache wurde in den bezeichneten Gesellschaften als Merkmal der Nation betrachtet und stand für eine „höhere moralische Qualität der Deutschen“.217 Bürgerliche Gelehrte entwickelten ein Nationsverständnis, das zwar in den Schranken der ständischen Gesellschaft blieb, sich aber zugleich gegen die französisch orientierte höfische Gesellschaft positionierte. Volgers Bezugnahme auf diese Frühformen ist deswegen so aufschlussreich, weil er sein Nationskonzept auf einen existenziellen Feindbegriff stützt. Die Sprachgesellschaften waren für ihn in dieser Hinsicht Anreger, um gegen eine „fremdwörterreiche Sprachverderbniß“ und „unsere übermäßige Fremdenverehrung“ (Frankreich) zu polemisieren, die zu Selbstvergessenheit und der Preisgabe nationaler Würde führen.218 Volgers Rekurs auf diese ältere Traditionen unterstützt neuere Ergebnisse der Nationalismusforschung, die den Nationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts 213 214 215 216
Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21. Ebenda. Wolfgang Hardtwig, Vom Elitenbewusstsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500–1800. S. 42 ff. 217 Ebenda. 218 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 12.
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nicht mehr einseitig als „friedlichen, aufklärerischen Patriotismus“ betrachten und ihm bereits bei Autoren des 18. Jahrhunderts eine machtorientierte und auf Feindschaft und Ausgrenzung beruhendes Potenzial zuschreiben.219 Das 18. Jahrhundert gilt als eine Vorbereitungsphase, in der Intellektuelle und Schriftsteller Konzepte entwickelten, die im 19. Jahrhundert schließlich von den breiten Massen rezipiert wurden.220 Ute Planert plädiert deshalb für eine Sattelzeit, denn die „Befreiungskriege“ erweisen sich nicht als Beginn des deutschen Nationalismus, sondern allenfalls als Station auf dem Weg dahin“, denn „wesentliche Bestandteile des elitären Nationendiskurses“ standen bereits vor „dem Ausbruch der Französischen Revolution zur Verfügung“.221 Aber auch die „Befreiungskriege“ haben für Volgers Nationsbegriff eine wesentliche Bedeutung. Sie bilden für ihn das wichtigste nationale Ereignis seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. „Nur einmal sah man ganz Deutschland in einem Herzen und einem Sinn geeinigt“, so Volger im Blick auf das Jahr 1813.222 Auch die Schriften Fichtes rezipierte Volger. Ein Fichte war der Held, welcher die Deutsche geistige Volkskraft gegen Napoleon aufrief und welcher durch sie Deutschland wieder erstehen ließ.223
Das „Weltbürgertum“, so Thomas Nipperdey, sei durch die Herrschaft Napoleons und auch durch Fichtes Reden in Deutschland „zu einem guten Teil national“ geworden.224 Volger nahm diesen Anspruch auf und lehnte jede Form eines „Weltbürgertums“ kategorisch ab. Er verband den philosophischen Idealismus Fichtes mit naturwissenschaftlichen Analogien, mit denen er Nationen zu naturwüchsigen und eigenständigen Gebilden erklärte. Volgers Unterstützern fiel die Nähe zu Fichte im ersten Kapitel des Entwurfs über das Hochstift sofort auf. Der Frankfurter Anwalt Friedrich Scharff, dem Volger die ersten Entwürfe hatte zukommen lassen, antwortete: „Die Einleitung ist meisterhaft, mehrmals fielen mir Fichtes Reden an die deutsche Nation ein“.225 Von Fichte übernahm Volger auch die Auffassung, die Deutschen seien das auserwählte Volk der Geschichte. 219 Hans Peter Herrmann, Einleitung, in: ders., (Hg.), Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, S. 12 ff; distanzierter Alexander Schmidt, Ein Vaterland ohne Patrioten? Die Krise des Reichspatriotismus im 18. Jahrhundert, S. 46, der von einer „Spannung zwischen Kosmopolitismus und Patriotismus“ im 18. Jahrhundert spricht, doch wurden diese beiden Haltungen „nach 1800 zunehmend als einander ausschließende Optionen verstanden“, S. 61. 220 Hans–Martin Blitz, „Gieb, Vater, mir ein Schwert!“. Identitätskonzepte und Feindbilder in der ,patriotischen‘ Lyrik Klopstocks und des Göttinger „Hain“, S. 119 ff. 221 Ute Planert, Wann beginnt der „moderne“ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, S. 58; zu den frühneuzeitlichen Nationskonzepten vgl. Georg Schmidt (Hg.), Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. 222 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 11. 223 Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, S. 9 ff. 224 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 303. 225 Friedrich Scharff an Otto Volger, 10.9.1859, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19813.
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Die Verwendung eines Feindes, nämlich der Franzosen, rührte aus der Zeit der Befreiungskriege her und erhielt in Deutschland, etwa zur „Rheinkrise“ 1840, immer wieder neue Nahrung. Autoren, wie Friedrich Rückert und Ernst Moritz Arndt wurden später im Hochstift als Beispiele deutscher Größe ausgiebig gewürdigt. In ihren Werken wird immer wieder auf den „französischen Gegner“ Bezug genommen und auch für das Nationalkonzept des Hochstifts gilt deshalb: So besaß der nationale Selbstentwurf über die Zuweisung kultureller Güter ein negatives Double: Der Schattenriss des Feindes, des anderen, des nicht Dazugehörigen machte die eigene Kultur erst sichtbar.226
Doch in einer entscheidenden Frage unterschied sich das Nationalkonzept von den genannten Autoren. Der einheitliche Nationalstaat, wie ihn auch Fichte gewünscht hatte, spielte für Otto Volger nur eine untergeordnete Rolle. Die Nation sollte primär über eine nationale Ideologie zusammenfinden. Für Volger war das eine Konsequenz, die sich aus den Zuschreibungen der nationalen Eigenart der Deutschen ergab. Die sogenannte „deutsche Freiheit“ konnte im Bereich der staatlichen Verfasstheit nur einen Föderalismus generieren, der die regionalen Eigenheiten und Freiheiten bewahrt. Problematisch war diese Entwicklung allerdings dann, wenn daraus ein Partikularismus entstand, der die nationale Einheit gefährdete. Dagegen sollte ein Nationalbewusstsein helfen, dem sich das Hochstift verschrieb, aber ein zentralistischer Nationalstaat, wie ihn in Westeuropa beispielsweise Frankreich repräsentierte, war aus Volgers Sicht für Deutschland unmöglich und sogar unerwünscht, denn „weit wichtiger als eine staatliche Einheit“ sei die „Vereinigung unserer geistigen Volkskraft“.227 Machtstaat und Militär waren für Volger Zeichen kulturarmer Nationen. Während die Franzosen und Engländer die reale Welt eroberten, sollen die Deutschen Eroberungen in den Wissenschaften und Künsten machen. Die Nation blieb für Volger und das Hochstift imaginiert im wahrsten Sinn des Wortes. Dieter Langewiesche zieht die üblichen Deutungen, die Deutschland als eine verspätete Nation beschreiben, in Zweifel. Sie gehen davon aus, dass die Staatsbildung nach westeuropäischem Vorbild in Deutschland zu spät begann und einen verhängnisvollen Sonderweg „nach Westen“ (Heinrich August Winkler) verursachte.228 Langewiesche behauptet dagegen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei in der Bevölkerung ein „föderatives Nationalbewusstsein“ vorhanden gewesen, das eine einheitliche deutsche Nation in Form einer Föderativnation anstrebte. Der neue Nationalstaat sollte föderalistisch sein. In diesem Föderalismus der deutschen Nationalidee lebte das alte Reich als nationale Zukunftsvorstellung weiter, 226 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 65; vgl. Lutz Hoffmann, Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2, S. 13–37. 227 Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich, S. 13. 228 Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich, S 146 ff.; vgl. ders., Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsgeschichte. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte.
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so Langewiesche.229 Das Nationskonzept des Hochstifts verkörpert einen Beitrag, der die zentrale Rolle des Nationalstaats im 19. Jahrhundert relativiert. Es belegt die Sympathien für ein föderatives Staatsgebilde. Auch finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an Institutionen aus der Zeit des alten Reiches, aber dessen Entwicklung nach dem Westfälischen Frieden wird auch kritisch bewertet. Das Nationskonzept des Hochstifts beabsichtigte aber auch, ein Einheitsbewusstsein zu vermitteln, um staatliche Sonderbestrebungen, die der Föderalismus begünstigte, im Sinne einer nationalen Ideologie auszugleichen. Der Kulturnationalismus des Hochstifts greift dabei nicht nur auf den nationalen Kommunikationsraum zurück, der über Sprache und Kultur definiert wird, er will diesen Kommunikationsraum ausbauen, abgrenzen und definieren. „Kaum eine Hütte, in der man nicht läse“, so Volger über die Bildung der breiten Volksmassen.230 Die Bedeutung des Kommunikationsraums und der damit einhergehenden kulturellen Assimilation für den Nationalismus wurde schon von Karl W. Deutsch hervorgehoben.231 Anders aber als in den Modellen von Karl W. Deutsch und Ernest Gellner spielt für die Durchsetzung einer Hochkultur im Falle des Hochstifts der Staat nur eine untergeordnete Rolle. Nicht das staatliche Bildungssystem, sondern die Organisationen der bürgerlichen Gesellschaft sind hier von Bedeutung. Die Idee der Kulturnation wurde lange Zeit als ein historisch überlebter Mythos abgetan, der zudem noch Gefahren in sich barg. „In dem Begriff von der deutschen Kulturnation steckt eine großdeutsche Tendenz, die politisch gefährlich ist“, schrieb Otto Dann.232 Helga Schultz unterstreicht diese Einschätzung: „Man wird die Kulturnation vereinfacht als das liberale Gegenstück zum demokratischen Volksmythos einordnen können.“233 Der Mythos der Kulturnation sei elitär gewesen und habe zur Legitimation großdeutscher Ansprüche gedient. Das Beispiel des Hochstifts verdeutlicht aber, dass trotz großdeutscher Dimension die Idee einer Kulturnation nicht notwendigerweise in einem Gegensatz zum Volksmythos stand oder elitäre Züge trug. Vielmehr gingen die Vorstellungen von Kulturnation und Volksmythos im Hochstift eine Symbiose ein, wie noch in dessen Bildungsbestrebungen deutlich werden wird.
229 Dieter Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung, S. 48; auch Hagen Schulze wertet den Prozess der deutschen Nationsbildung nicht als einen Sonderweg, sondern begreift ihn, dem Beispiel Italiens folgend, als einen mitteleuropäischen Weg, vgl. Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, S. 148. 230 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 20. 231 Karl W. Deutsch, Nation und Welt, S. 55 ff. 232 Otto Dann, Die Tradition des Reiches in der frühen deutschen Nationalbewegung, S. 169. 233 Helga Schultz, Mythos und Aufklärung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland, S. 33.
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3.2. Ansprüche und Aufgaben Das „Deutschtum“ wurde von Otto Volger als eine nationale Geistesgemeinschaft beschrieben. In diesem Sinne sollte die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts dazu dienen, diese Gemeinschaft durch Pflege von Wissenschaften, Kunst und Bildung zu festigen und weiter auszubilden. Nur das „geistige Deutsche Reich“ sei die Vollendung der nationalen und geschichtlichen Mission der Deutschen. Die Stiftung unseres heutigen Vereins wird einen Bundestag des Deutschen Geistes gründen, und nicht bloß das Vorrecht der Fürsten der Wissenschaften und der Künste, sondern das gemeine Recht der Geistesbildung unseres ganzen Volkes wird auf diesem Bundestage vertreten sein.234
Ganz klar tritt hier ein Bildungsideal zutage, das sich im Sinne eines „vaterländischen Vereins“ für eine allgemeine Bildung – ausdrücklich auch für Volksbildung – einsetzte. Was in der Zeit der Aufklärung noch als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gefordert worden war235, wird im Fall des Hochstifts nun aus der nationalen Perspektive heraus betrachtet, bei der nicht der Mensch, begabt mit einer abstrakten Vernunft, im Mittelpunkt steht, sondern der Angehörige einer spezifischen Nation mit ihren jeweiligen Besonderheiten. Volger formulierte einmal, es sei die geistige Höhenstufe eines Volkes [...] nicht zu beurtheilen nach den Leistungen einzelner hervorragender Gelehrter oder Künstler, sondern vielmehr nach dem Maße, in welchem weite Kreise der Gesammtheit an dem Genuße der Ergebnisse wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit teilnehmen.236
In Volgers Biografie lassen sich volkspädagogische Ansätze vielfältig nachweisen. Schon während der Revolution von 1848 zog Volger zielgerichtet in das ländliche Umfeld Göttingens, um das „Landvolk“ durch Volksversammlungen in die revolutionäre Bewegung mit einzubinden. In seinem Schweizer Exil widmete er sich eingehend volksschulpädagogischen Fragen und bekannte, dass ihm als Forscher immer wieder der Drang begegne, „zu lehren“ und zwar nicht nur den „einseitigen und vorurtheilsvollen Fachgenossen, sondern der ganzen denkenden Mitwelt“.237 Der Hintergrund dieser Überlegungen war im 19. Jahrhundert die die „Wissenskultur demokratisierende Bildungsrevolution“.238 Otto Volger beschreibt diesen Prozess als die Befreiung der Wissenschaft und Kunst. Zunächst waren sie im 234 Ber. FDH 1860, S. 2. 235 Lothar Gall, „... Ich wünschte eine Bürger zu sein“. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, S. 608; vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 110126. 236 Otto Volger, Eintrag in das Jahres-Album des Bildungsvereines zu Mühlhausen, 24.11.1877, Abschrift, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19886. 237 Otto Volger, Erde und Ewigkeit, S. III ff. 238 Lothar Gall/Andreas Schulz (Hg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Einleitung, S. 8.
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Schutz der Klöster geborgen, wurden aber in ihrer Freiheit durch die Kirche und das „vaterlandslose Hochstift in Rom“ eingeengt, bekamen Platz in den fürstlichen Hochschulen und privilegierten Akademien. Aber auch diese genügten nicht mehr dem „auflebenderen freien Geiste, welcher in der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich zu regen begann“.239 „Jede Zeit hat ihre Formen und Bedürfnisse“, so Volger und so schuf das 19. Jahrhundert schließlich „freie Vereine zur gemeinsamen Pflege von Wissenschaften und Künsten“. Dabei immer weitere Kreise zur Betheiligung an geistigen Bestrebungen heranziehend, haben diese Vereine immer ausgedehntere Kräfte zur Mehrung des Bildungsschatzes der Menschheit gesammelt.240
Das bürgerliche Vereinswesen wird als jene Organisationsform gepriesen, die in der Lage ist, die freie Fortentwicklung von Wissenschaften, Kunst und Bildung zu garantieren. Keineswegs geht es dabei nur um eine Wissensvermittlung oder Wissenspopularisierung, sondern aus Sicht Volgers stellen die bürgerlichen Vereine nicht nur Vermittlungsagenturen, sondern zugleich auch Wissensproduzenten dar. „Die Bedeutung der Hochschulen schwindet nach und nach auf den Begriff von Staatsdiener=Erziehungsanstalten zusammen“, prophezeit er.241 Ludwig Büchner teilte diese Erwartung. Büchner vertrat einen naturwissenschaftlichen Materialismus und kämpfte für eine „vom Christentum befreite Forschung und Wissenschaft“.242 Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts unterstützte er enthusiastisch, denn er erblickte darin die Möglichkeit, die durch Kirche und Staat bevormundete Wissenschaft wieder auf „eigene[n] Füße“ zu stellen.243 Das Hochstift, so Büchner, wird im Hinblick auf die „bereits bestehenden deutschen Universitäten“ nicht als „unnöthig oder zwecklos“ erscheinen, sondern „darf sich im Gegentheil der Hoffnung hingeben, [...] jene an Leistungen und verdientem Ansehen“ zu überbieten.244 Festzuhalten bleibt also: Die Bildungsansprüche des Hochstifts vereinten Wissenschaft und Wissenspopularisierung. Warum allerdings, so ist zu fragen, war dann die Gründung eines neuen Vereins notwendig, der sich ausdrücklich zu den bereits bestehenden Traditionen und Organisationsformen bekannte? Man kann dazu die Einschätzung heranziehen, die Volger hinsichtlich des staatlichen Partikularismus in Deutschland geäußert hatte. Wie in den staatlichen Verhältnissen hat sich der deutsche Freiheitssinn auch in der bürgerlichen Gesellschaft niedergeschlagen und hat dazu geführt, dass eine unüberschaubare Menge an bürgerlichen Bildungsvereinen existierte. „Wer sich
239 240 241 242 243
Ber. FDH 1860, S. 3. Ebenda. Ebenda. Samuel Lee, Der Bürgerliche Sozialismus von Ludwig Büchner, S. 40. Ludwig Büchner, Am zehnten November 1859, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Ludwig Büchner, Bl 4. 244 Ebenda.
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der Rolle der bürgerlichen Vereinskultur des 19. Jahrhunderts [...] zuwendet, betritt ein höchst unübersichtliches Feld“.245 Das Freie Deutsche Hochstift wollte keinen weiteren Verein in dieser Reihe repräsentieren, sondern für die existierenden Vereine in Deutschland eine nationale Dachorganisation bilden, um die Vereinskultur und deren Ressourcen zu strukturieren und um einen nationalen Kommunikationsraum zu schaffen. In vielen Bereichen war es schon zu nationalen Zusammenschlüssen gekommen. Schulmänner und Sprachforscher, Geschichts= und Alterthumsforscher, Forstmänner und Landwirthe, Staatsmänner und Volkswirthe, Künstlerschaften und Gewerbevereine treten zu Deutschen wandernden Vereine zusammen, und jährlich knüpfen sich neue Bande der Vereinigung, welche unsere Wissenschaft, Kunst und Bildung immer mehr zum Selbstbewußtsein ihrer Gemeinsamkeit und ihres Volksthumes führen.246
Zunächst sollen jene Gründungen beschrieben werden, auf die sich das Hochstift als Wegbereiter berief. 3.3. Institutionelle und organisatorische Vorbilder Als Vorbilder für die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts hat Otto Volger drei bestehende Organisationen besonders herausgehoben. Zunächst handelt es sich um die „Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinische Akademie für Naturforscher“. Die „Leopoldina“ ist die älteste nationale Wissenschaftsakademie Deutschlands. Gegründet wurde sie 1652 unter Führung des Arztes Johann Lorenz Bausch (1605–1665) in der freien Reichsstadt Schweinfurt. Zunächst sollte sie sich der Beförderung der Heilkunde widmen, wandelte sich aber im Laufe ihrer Geschichte immer mehr zu einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Akademie. Eine besondere Auszeichnung erhielt sie durch wiederholte kaiserliche Privilegien, die etwa den Präsidenten und seine Adjuncten (Sekretäre) zu kaiserlichen Reichsärzten ernannten und ihnen den Reichsadel verliehen.247 Die Akademien waren im 17. und 18. Jahrhundert „das moderne und zukunftsweisende Element in der Wissenschaftsorganisation“.248 Die „Leopoldina“ begründete durch den wissenschaftlichen Austausch ihrer Mitglieder und ihre Schriften einen ersten nationalen Kommunikationsraum und stellte den Beginn
245 Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung. Die bürgerliche Vereinskultur, S. 147. 246 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 27. 247 Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Geschichte der Kaiserlichen Leopoldino-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher, S. 3. 248 Ludwig Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 7 ff.; vgl. Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsformen der Wissenschaft im 18. Jahrhundert, in: HZ 231, S. 43–74.
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einer Entwicklung zu einer nationalen „scientific-society“ dar.249 Es gab immer wieder Initiativen zu einer Reform der Akademie, denn vor allem der ausschließlich schriftliche Austausch unter den Mitgliedern wurde im 19. Jahrhundert nicht mehr als zeitgemäß empfunden. Eine Folge dieser Kritik war schließlich die Gründung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 1848 kursierte innerhalb der „Leopoldina“ der Plan, die Gesellschaft zu einer „freien deutschen Central-Akademie für das deutsche Reich“ auszubauen und eine „damit zu verbindende allgemeine Hochschule“ anzuschließen.250 Auf diese Weise könnte dann, so wie ein einziges materielles Deutschland immer fester gebildet wird, auch ein einiges geistiges Deutschland auf der Basis der Naturwissenschaft gegründet werden.251
Die Naturwissenschaften für die Nationsbildung einzusetzen, war von dem Bewusstsein für die wachsende Bedeutung der Wissenschaft getragen. „[W]elche unendliche Wirkungssphäre und welchen Einfluß auf alle privaten und öffentlichen Lebensverhältniss seit einigen Decennien die Kenntnisse der Naturgesetze in der Naturwissenschaft gewonnen“ haben, rühmte der Präsident der Akademie, der Mediziner Dietrich Georg von Kieser (1769–1862).252 Trotz dieser Ankündigungen, zu denen sogar der Plan gehört hatte, die Akademie zu einer umfassenden „Weltakademie“ im Bereich der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auszubauen, blieben alle Reformabsichten bis 1859 ohne Ergebnis. Otto Volger würdigt die „Leopoldina“ als „ältesten gesamtdeutschen Gelehrtenhof“, der sich das Verdienst zuschreiben kann, nach den Wirren des 30jährigen Kriegs weiterhin die „Einheit des Volksthums“ bewahrt zu haben.253 Trotzdem bezeichnet er die Akademie als einen „fast abgestorbenen Stamm“. Ihre Organisation habe sich überlebt und sei mit den Bedürfnissen der Gegenwart nicht mehr vereinbar. Die Akademie besaß keinen festen Ort und ihre Bibliothek – die Naturaliensammlung war bereits verkauft worden – zog immer zum Wohnort des jeweiligen Präsidenten um. Dennoch stellte die „Leopoldina“ für Volger ein „Edelreis“ dar, das als Teil des Hochstifts weiter bestehen sollte. 1864 fasste Friedlieb Rausch anlässlich des fünften Jahrestages der Hochstiftsgründung noch einmal die Kritik an den Akademien zusammen. Es sei den vielen deutschen Akademien nicht gelungen, „eine große wissenschaftliche Gesamt=Staats=Akademie“ zu bilden, in der „alle Zweige des Wissens vertreten wären“.254 Besonders kritisiert Rausch die Verbindung der Akademien mit dem 249 Notker Hammerstein (Hg.), Handbuch der Bildungsgeschichte. 18. Jahrhundert (Bd. II), Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands, S. 22; vgl. Benno Parthier, „Die Leopoldina“. Bestand und Wandel der ältesten deutschen Akademie; Marion Mücke/Thomas Schnalke (Hg.), Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz der Deutschen Akademie der Naturforscher um 1750, S. 9–38. 250 Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Geschichte der Kaiserlichen Leopoldino-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher, S. 35. 251 Ebenda, S. 53. 252 Ebenda, S. 41. 253 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 25. 254 Friedlieb Rausch, Nur wer ausharrt, S. 26.
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Staat, insofern es deshalb „Staat=Akademien“ seien, in denen „der Einfluß der Staatsbehörden so groß ist, daß jede freie Geistesthätigkeit, jede unbeschränkte Forschung sich gehemmt findet“.255 Das betraf auch die „Leopoldina“, die nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs von preußischen und österreichischen Donationen und Privilegien abhängig war und sich politischen Einflussnahmen beugen musste.256 Otto Volger wurde 1863 in die „Leopoldina“ aufgenommen. Es war üblich, dass jedes Mitglied einen Beinamen wählte, der auf einen verstorbenen Naturforscher oder das Forschungsgebiet hinwies. Volger wählte den Namen „Senckenberg“, da er in Frankfurt seit 1856 als Dozent an der SNG tätig war. Als eine Folge der Reformunfähigkeit der „Leopoldina“ hatte Lorenz Oken 1822 die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNA) gegründet. Als eine Art Wanderversammlung verfügte die Gesellschaft zunächst über keine feste Organisationsform. Ihr Ziel war es, einen persönlichen und öffentlich gestalteten Austausch von Wissenschaftlern zu ermöglichen. Die jährlichen Treffen wurden an ständig wechselnden Orten abgehalten. Lorenz Oken hatte 1821 die Idee zur Gründung der GDNA in seiner Zeitschrift „Isis“ veröffentlicht und einen ersten „Aufruf zur Versammlung deutscher Naturforscher“ publiziert.257 Aufgrund seiner politischen Ansichten war ihm 1819 seine Jenaer Professur für Naturgeschichte und Naturphilosophie entzogen worden. Oken kritisierte den Deutschen Bund, der die Vereins- und Versammlungsfreiheit einschränkte und die Universitäten einer strengen Aufsicht unterwarf. Er fürchtete deshalb auch ein Verbot der GDNA, denn es möchten verschiedene unwissenschaftliche Köpfe auch hier eine heimliche Verbindung wittern, die Versammlung von Menschen aus allen deutschen Landen überhaupt ihren kurzen Ansichten unangemessen finden, und sie daher bei den Regierungen anschwärzen.258
Am 18. September 1822 fand die erste Versammlung in Leipzig statt. Hauptzweck der Treffen sollte es sein, sich zu sehen, sich kennen und schätzen zu lernen, damit einerseits ein freundliches Verhältniß unter den Gelehrten hergestellt und eine billigere wechselseitige Beurtheilung bewirkt werde; und damit andererseits gemeinschaftliche Arbeiten verabredet werden, welche das Zeugnis dessen, was jetzt das deutsche Volk hervorzubringen vermag, betrachtet werden können.259
255 Ebenda. 256 Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Geschichte der Kaiserlichen Leopoldino-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher, S. 35. So war König Friedrich II. von Preußen sogar 24 Jahre Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, vgl. Werner Hartkopf, Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700–1990, S. 412. 257 Zur GDNA, vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 119–137; Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), S. 405–410. 258 Lorenz Oken, „Versammlung der deutschen Naturforscher“ (1821), in: Max Pfannenstiel (Hg.), Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, S. 25. 259 Ebenda, S. 33 f.
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Dass die „Namen der Versammlungsstädte rasch zur Signatur einschlägiger Debattenereignisse wurde“ verstärkte das Ansehen der GDNA und die verschiedenen Tagungsorte veranschaulichten den „großdeutsch-nationalen Gedanken“, der dahinter stand.260 „Mitglieder“ im eigentlichen Sinne konnten allerdings nur „Schriftsteller im naturwissenschaftlichen und ärztlichen Fache“ werden, die mehr als eine Dissertation verfasst hatten.261 Volger selbst widmete einige seiner Arbeiten der Gesellschaft und war seit 1846 unregelmäßig Teilnehmer der Versammlungen. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte seine Debatte mit Ernst Haeckel während der Versammlung der GDNA in Stettin 1863.262 Er kannte also die Gesellschaft und ihre Strukturen aus eigener Anschauung, er war auch über die kritischen Stimmen, die Reformen im Geschäftsgang der GDNA forderten, informiert.263 Die Gründung der GDNA würdigte Volger als „eins der wichtigsten und folgenreichsten geschichtlichen Ereignisse für unser Volksthum“.264 Er bezeichnete die Versammlungen als eine „geistige Macht“, die den „Trennungsgelüsten in Deutschland“ entgegenwirkt und nicht nur Angehörige der Bundesstaaten, sondern auch die Deutschen „außer dem Bunde“, etwa Schweizer, Holländer, Elsässer und die Deutschen aus dem Baltikum und dem Zarenreich zusammenführt. Sie stellte mit ihrer großdeutschen Ausrichtung ein gelungenes Beispiel dar, wie es der Wissenschaft gelingen kann, die Nation zu vereinen. [K]eine Verschiedenheit der Bekenntnisse, kein Nord und Süd, kein Preußenthum und Österreichthum, keine Kleinstaaterei – das Deutschthum allein, welches sich mit allen seinen Tugenden [...] geltend macht,
sei der Erfolg der GDNA. 265 Als drittes Vorbild wird das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg bezeichnet. Im Jahr 1852 wurde es durch Hans Freiherr von und zu Aufseß (1801– 1872) gegründet. Als zentrale Aufgaben nannte die Satzung von 1852 die Erstellung eines Generalrepertoriums über das ganze Quellenmaterial für die deutsche Geschichte, Literatur und Kunst, ausgehend vom Mittelalter bis zum Jahr 1650.266 Dazu sollte ein Museum errichtet werden, das ein Archiv, eine Bibliothek und 260 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 120 ff. 261 Statuten der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, §3 u. §4, in: Max Pfannenstiel (Hg.), Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, S. 39. 262 Otto Volger lehnte die von Ernst Haeckel vertretene Lehre Darwins entschieden ab, vgl. Amtlicher Bericht über die 38. VDNA, S. 59–22. 263 Volger kritisierte eine „Beweihräucherung des Fremdländischen, mit geckenhaften französischen Redeversuchen Deutscher Geheimräthe“, Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 27; später monierte er, dass einige Teilnehmer aufgrund der „Festlichkeiten die höheren Zwecke aus den Augen“ verlieren, ders., Des Markgrafen Karl Friedrich, S. 10. 264 Otto Volger, Freies Deutsches Hochstift, S. 26. 265 Ebenda, S. 27. 266 Satzungen des Germanischen Museums zu Nürnberg vom 1. August 1852, I. Allgemeine Grundsätze, § 1, in: Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852–1977, S. 951.
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eine Kunst- und Altertumssammlung beherbergt. Im Sinne einer kulturellen Nationsbildung sollte dadurch, die „staatlich nicht vorhandene Einheit der Nation auf kulturellem und historischem Gebiet [...] sichtbar gemacht werden“.267 Den Grundstock des Museums bildeten die persönlichen Sammlungen von Aufseß. Trotz der Unterstützung durch deutsche Fürsten legte von Aufseß Wert auf die Unabhängigkeit des Museums, das er als Eigentum der deutschen Nation betrachtete.268 Spenden und Erträge einer Aktiengesellschaft sollten dessen finanzielle Basis sichern. Im Jahresbericht von 1859 heißt es: Hier ist ein Gesammteigenthum der deutschen Nation, wie kein anderes irgendwo, hier sind Zeugnisse der germanischen Kultur, Wissenschaft und Kunst. Daß sie durch freien Willen der Nation, aller ihrer Glieder und Stämme zusammenflossen, nicht auf ein Meisterwort, nicht durch Kapital eines Einzigen, das gibt ihnen erst einen höheren Werth und die Bürgschaft ewiger Dauer und großen Wachsthums.269
Im Museumskonzept trat die deutsche Nation in drei Funktionen in Erscheinung: Als Objekt sammlerischer Bemühungen, als Eigentümerin und als Nutznießerin des Museums.270 Die Förderung der nationalen Einheit war das zentrale Anliegen von Aufseß, das er bereits in einer Denkschrift für den Germanistentag 1846 in Frankfurt formuliert hatte. Im Schatten der sich langsam herausbildenden Germanistik ging es von Aufseß auch um die Vernetzung der bereits bestehenden historischen Vereine. Die Gefahren einer noch größeren Zersplitterung des deutschen Vaterlandes in Westen und Norden weckten seit den letzten Jahren den Sinn für deutsche Einheit und gemeinsame Unternehmungen auf eine Weise, wovon man früher gar keine Ahnung hatte. Der Einheitssinn und Einigungstrieb beurkundeten sich nicht allein in den materiellen Interessen, sondern gingen auch in das geistige Gebiet über, in Kirche, Kunst und Wissenschaft. Hatten die historischen Gesellschaften bisher nur eine provinzielle Bedeutung, so möchte ich kaum bezweifeln, dass es an der Zeit sey, auch ihre allgemeine für das gesammte Vaterland hervortreten zu lassen und geltend zu machen.271
In den ersten Satzungen hieß es unter § 4: Es sollen alle deutschen Regierungen, alle Vereine und Corporationen, wie auch Privatpersonen, welche Inhaber von unveräußerlichen Archiven, Bibliotheken, Kunst- und Alterthums-
267 Barbara Wolbring, Politisch motivierte Popularisierung im Fall des Germanischen Nationalmuseums, S. 214. 268 Als Aufstellungsort für die Sammlungen bot Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha im April 1853 die Veste Coburg für „ewige Zeiten“ dem Germanischen Nationalmuseum an. Im Juli folgte eine Offerte des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, der die Wartburg und das am Burgberg gelegene St. Georgenkloster, einschließlich der Kirche, dem Museum überlassen wollte. Das Museum war zunächst in Nürnberg im Tiergärtnertorturm und im Toplerhaus untergebracht. 1857 überließ der Magistrat der Stadt Nürnberg das Kartäuserkloster dem Germanischen Nationalmuseum. Vgl. Chronik des Germanischen Nationalmuseums, in: Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852–1977, S. 19 f. 269 Zit. nach Peter Burian, Das Germanische Nationalmuseum und die deutsche Nation, S. 145. 270 Ebenda, S. 138. 271 Ebenda. S. 149.
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II. Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts Sammlungen sind, gebeten werden, die gewünschten Mittheilungen zum Besten des gemeinnützigen Unternehmens gratis zu machen.272
Von Aufseß bemühte sich, das „Germanische Nationalmuseum“ unter das Protektorat des Deutschen Bundes zu stellen, wenn möglich sogar finanzielle Unterstützung zu bekommen. Diese Bemühungen standen aber immer unter dem Vorbehalt, das Museum als Eigentum der ganzen deutschen Nation zu erhalten. Er verweigerte sich dem stärkeren Zugriff der Bayerischen Regierung auf die Museumsangelegenheiten und verzichtete auf die politische Parteinahme im Kampf um die nationale Einheit.273 Obwohl der Deutsche Bund das Museum auf Druck der Bayerischen Regierung nicht als Nationalstiftung anerkannte und finanzielle Mittel verweigerte, sprach er seine Anerkennung und Anteilnahme aus, die aus dem Institut für die „vaterländische Gesinnung“ erwachse.274 Als einen Teilerfolg konnte man zunächst die Überlassung der Frankfurter Parlamentsbibliothek verbuchen, die auf Beschluss der Bundesversammlung im Januar 1855 erfolgte. Die nationale Mobilisierung des Jahres 1859 fand auch in der Nürnberger Anstalt verstärkten Widerhall und weckte die Hoffnung, dass das Museum als eine gemeinsame Nationalsache verstärkt den Fokus der Öffentlichkeit auf sich zieht. Das Festhalten an der politischen und konfessionellen Neutralität im Blick auf die Förderung der deutschen Nationsbildung war insoweit erfolgreich. Während sich die Diskussionen über die Nationalfrage politisch differenzierten, ließ man in Nürnberg nur allgemeine Stellungnahmen verlauten, die nicht in das Tagesgeschehen eingriffen. Darin lag sein Erfolg begründet, wie Peter Burian in seiner Studie feststellte: Dieser Anspruch der Gründergeneration, mit dem Germanischen Nationalmuseum ein wirksames Instrument zur Festigung einer unpolitischen, geistig verstandenen nationalen Einheit geschaffen zu haben, fand die Zustimmung der Öffentlichkeit.275
Volger begrüßte die Gründung des GNM, denn es ergänzte die naturwissenschaftlichen Ansätze der GDNA und verkörperte zugleich eine Unternehmung, die beabsichtigte, die historischen Wurzeln der Nation darzustellen.276 Gleichwohl lehnte er die Bezeichnung Germanisches Nationalmuseum ab, denn diese sei „nach Deutscher Unart mit lauter fremden, dem Volke stets an der Seele ungefühlt vorüberklingenden Worten“ zusammengesetzt und sprach daher lieber vom „gesammtdeutschen Stift für Geschichte und Alterthumskunde“.277 Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass bereits vor der Gründung des Hochstifts die Tendenz vorherrschte, nationale Zusammenschlüsse und Institutionen zu bilden, die sich auf wissenschaftlicher, historischer oder kultureller Ebene 272 Satzungen des Germanischen Museums zu Nürnberg vom 1. August 1852, I. Allgemeine Grundsätze, § 4, in: Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hg.), Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852–1977, S. 951. 273 Peter Burian, Das Germanische Nationalmuseum und die deutsche Nation, S. 149. 274 Ebenda, S. 160. 275 Ebenda, S. 151. 276 Otto Volger, Freies Deutsches Hochstift, S. 29. 277 Ebenda.
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verpflichteten, die nationale Einheit zu fördern. Neben diesen Institutionen gab es noch weitere Initiativen, denen sich die Gründer des Hochstifts verpflichtet fühlten. Dazu zählten die „Germanistenversammlung“ in Frankfurt 1846 und der Gesamtverein deutscher Geschichts- und Altertumsvereine (1852). Für den Bereich der Kunst nennt Volger den „Verein der Junggermanen“, ein von dem Hamburger Dichter Friedrich Wilhelm Wulff (1837–1898) gegründeter loser Dichterbund, der allerdings nur ein poetisches, aber stark national gefärbtes Kunstideal vertrat.278 Mit ihrem Programm ähnelten die „Junggermanen“ in vielen Dingen Volgers nationalen Vorstellungen. Sie verpflichteten sich auf ein nationales Kunstideal und wollten die deutsche Nation wieder in einen Zustand von „Ächtheit und Ursprünglichkeit“ zurückführen, den sie in der „Geschichte und der Seele“ der Nation erblickten.279 Auch sie beschrieben die Nationalgeschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg als einen Niedergang, der erst seit den „Befreiungskriegen“ eine Umkehrung fand. Allerdings seien die Jahrzehnte nach dem Sieg über Napoleon wieder eine Gefahr für alles Nationale geworden, weil im geistigen Leben durch jüdische Schriftsteller, wie Heinrich Heine und Ludwig Börne, der „Haß gegen die eigene Nation“ populär geworden sei.280 Besonders beklagte Wulff die zunehmende Orientierung an ausländischen Formen und Idealen. Die Juden und das Ausland, speziell Frankreich, dienen als Antipoden, um eine nationale Identität zu definieren. Wulff kritisierte dabei den französischen Zentralismus, der immer mehr in den politischen und staatlichen Verhältnissen Deutschlands Fuß fasse und damit die „germanische Mannigfaltigkeit“ als den Ursprung deutscher Überlegenheit bedrohe.281 Es sei deshalb das Ziel der „Junggermanen“, die „Wiederherstellung des Deutschen Nationalgefühls“ durch eine nationale Dichtung zu fördern.282 Das Manifest lieferte Otto Volger den Beweis, dass die Zeit reif sei, um endlich eine nationale Kunst im Hochstift zu etablieren. Auffällig bei den geschilderten Vorbildern ist die Tatsache, dass wirtschaftliche Vereinigungen kaum eine Rolle spielten. Weder der Zollverein noch etwa eine Vereinigung wie der Kongress deutscher Volkswirte fanden bei Volger Beachtung. Dabei war deren Rolle für die Nationsbildung beachtlich.283 Sie blieben
278 Ebenda, S. 27, vgl. Friedrich Wilhelm Wulff, Die Junggermanische Schule. Ziel und Grundsätze derselben dargelegt von ihr selbst. 279 Ebenda, S. 12. 280 Ebenda, S. 11. 281 Ebenda. 282 Ebenda, S. 17. 283 Vgl. Manfred Erdmann, Die verfassungspolitische Funktion der Wirtschaftsverbände in Deutschland 1815–1871, S. 235–245; Andreas Etges, Wirtschaftsnationalismus. USA und Deutschland im Vergleich (1815–1871), S. 54–135; ders., Von der „vorgestellten“ zur „realen“ Gefühls- und Interessengemeinschaft? Nation und Nationalismus in Deutschland; Abigail Green, Representing Germany? The Zollverein at the World Exhibitions, 1851–1862; Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg,), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert.
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aber für Männer wie Volger nur von sekundärer Bedeutung, da sie von der Wirkungskraft des kulturellen Nationskonzepts vollständig überzeugt waren. Diese Einschätzung spiegelt sich auch im Manifest der „Junggermanischen Schule“ wider. Die wirtschaftlichen Einigungstendenzen werden dort zwar thematisiert, gelten aber als zweitrangig, denn dann, wenn Deutschland mit Eisenbahnen bedeckt ist, seine Handelsbeziehungen in Gang sind, [...] wird die Erhaltung und Weiterführung dieser Richtung fortan nur Sache der gewöhnlichen Geister sein, die höher Begabten dagegen wenden sich [...] dem Gebiete der Literatur zu.284
3.4. Die Organisation des Hochstifts Die geschilderten nationalen Vereinigungen und Institutionen waren für Volger beachtenswerte Beispiele, aber sie stellten aus seiner Sicht nur erste Ansätze für eine umfassendere Vereinigung dar, wie sie das Freie Deutsche Hochstift vorstellen sollte. „Es mangelt bislang an einer höheren Vereinigung aller Vereinigungen und ihrer Bestrebungen“, lautete Volgers Fazit. „Volgers Vision für das Hochstift übertraf [...] alle bisherigen Vorstellungen nationaler Bildungsorganisation“, so Andreas Daum, der aber dem Hochstift nur wenige Seiten in seiner Studie widmet, da ihm Volgers Pläne „vermessen, wenn nicht hybrid erscheinen.“285 Das mag sicher in Bezug auf den Ehrgeiz Volgers, ein solches Projekt fast aus dem Nichts zu erschaffen, zutreffen, aber das Hochstift blieb trotz aller Mängel und Hemmnisse in seinen Entwicklungen keine Totgeburt. Dessen Grundintentionen fanden durchaus Unterstützung durch Männer aus der Wissenschaft, durch Künstler und Vereine. 1864 zählte das Hochstift bereits 876 Mitglieder.286 Zunächst sollen das Konzept und der erste organisatorische Aufbau des Hochstifts veranschaulicht werden. In seiner Organisation bestand das Hochstift aus zwei wesentlichen Bausteinen, die aber miteinander verbunden waren. Das Freie Deutsche Hochstift soll einen Gelehrtenhof und eine freie Hochschule darstellen, und alle Wissenschaften, Künste und allgemeinen Bildungsrichtungen unseres Gesamtvolkes umfassen.287
Ziel war es, die „Kräftigung der einheitlichen Geistesmacht“ und die „Erweckung des Selbstgefühls des deutschen Gesammtvolkes“ zu fördern.288 Der Gelehrtenhof, der auch als nationale Akademie bezeichnet wurde, sollte allen offen stehen, welche sich als Vertreter und „geistige Förderer irgend einer Wissenschaft, Kunst oder allgemeinen Bildungsrichtung bethätigt haben“ und die Mitglieder sollten „Deutschmeister“ genannt werden, so hatte es Volger noch in 284 Friedrich Wilhelm Wulff, Die Junggermanische Schule. Ziel und Grundsätze derselben dargelegt von ihr selbst, S. 21. 285 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 170. 286 Ber. FDH 1864, S. 159. 287 Ebenda, S. 29 288 Satzung FDH (1859), Satz 4, S. 3.
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seinem ersten Entwurf vorgeschlagen.289 Die „Deutschmeister“ sollten Vertreter aller Wissenschaften und Künste sein und damit die Kulturnation bzw. „das geistige Deutschland“ repräsentieren. Neben der Repräsentation sollte der Gelehrtenhof dazu dienen, den wissenschaftlichen und künstlerischen Austausch unter seinen Mitgliedern zu ermöglichen, die sich zugleich persönlich, etwa in den Hochstiftssitzungen und den Sitzungen der „Deutschmeister“, kennenlernen sollten. Das, was etwa die GDNA anstrebte, nämlich einen nationalen Kommunikationsraum für die Naturwissenschaften zu generieren290, das wollte das Hochstift für alle Wissenschaften und Künste erreichen. Der Gelehrtenhof sollte dazu in entsprechende Fachbereiche aufgeteilt werden, die, als „Deutschvereine“ bezeichnet, etwa den Fakultäten der Hochschulen entsprachen. Die „Deutschmeister“, so hatte es Volger geplant, sollten die intellektuelle Führungsschicht des Hochstift repräsentieren und ihre Stellung sollte der an den „Universitäts=Fakultäten ertheilten Doctoren=Würde[n]“ entsprechen. Die Ernennung zum „Deutschmeister“ war aber ausdrücklich nicht an akademische Titel oder den früheren Bildungsgang“ gebunden, sondern sollte nur nach dem „wahren Verdienste“ geschehen. Jeder Kandidat musste sich einer demokratischen Wahl aller anwesenden Hochstiftsmitglieder in einer öffentlichen Sitzung stellen.291 Die „Deutschmeister“ sollten eine Zeitschrift des Hochstifts herausgeben, die „über alle Bestrebungen und Erfolge im Bereiche der Deutschen Wissenschaft, Kunst und allgemeinen Bildung“ berichtet.292 In ihrer Verantwortung lag auch die Leitung einer freien Hochschule, die als zweite Säule die Organisation des Hochstifts verkörperte. Dazu sollten in den entsprechenden, nach Fächern eingeteilten „Deutschvereinen“ Lehrgänge „über alle Zweige der Wissenschaft, Kunst und allgemeinen Bildung“ abgehalten werden.293 Daneben hielt das Hochstift wöchentliche Sitzungen ab, in der sich alle Mitglieder, die „Deutschmeister“ und die einfachen Mitglieder „zur Begutachtung der Anordnungen des engeren Ausschusses sowie zu Vorträgen, Vorweisungen und Schaustellungen vonseiten der Mitglieder“ trafen. Für die Kunst plante man die „Veranstaltung von Aufführungen und Schaustellungen für die verschiedenen Zweige“, es wurde sogar daran gedacht, eine nationale Bühne für die dramatische Kunst in Frankfurt zu schaffen.294 Ordentliches Mitglied des Hochstifts konnte jeder Interessierte werden (Jahresbeitrag 2 Taler), unabhängig von Stand, Bildung und Geschlecht. Besonders die Öffnung für Frauen war fortschrittlich und erfolgte aufgrund der wissenschaft-
289 290 291 292 293 294
Ebenda, S. 30. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 120. Ber. FDH (1860), S. 5 f. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 31. Ebenda, S. 31. Ebenda.
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lichen Erkenntnis, dass „auch sie ein Gehirn besitzen“, wie Ludwig Büchner bemerkte.295 Die beschriebene Organisationsstruktur bildete allerdings nur das Gerüst, das darauf ausgerichtet war, mit anderen Vereinen zu kooperieren oder sie zum Anschluss zu veranlassen. So hoffte Volger, dass die „wandernden Versammlungen“, beispielsweise die GDNA, „mobile Dependancen“ des Freien Deutschen Hochstifts werden würden.296 Die „Leopoldina“ sollte sich sogar direkt dem Hochstift anschließen bzw. in ihm aufgehen. Daneben sollten vor allem die Frankfurter Vereine eine weitere organisatorische Basis des Hochstifts bilden. Alle die hier bestehenden Vereine und Anstalten für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung sind in der That bereits die Glieder eines freien Deutschen Hochstifts, denen nur die höhere Vereinigung fehlt, um fertig dastehen zu lassen, was wir heute als ein fernes Ziel unserem Streben vorzusetzen wagen.297
Auch die Namensbezeichnung „Freies Deutsches Hochstift“ greift die verschiedenen Ziele des Vereins auf. Dabei wird der aus dem Alten Reich entlehnte Begriff „Hochstift“ nun zum Merkmal einer nationalen Geistesgemeinschaft und ist zugleich im Bezug auf das Reich ein Symbol [...] für diejenigen, die den erhofften Nationalstaat nicht als ein Zentralstaat nach französischem Vorbild verwirklicht sehen wollten, sondern als ein Reich der Deutschen – das heißt: als ein Reich, in dem die verschiedenartige landschaftliche, religiöse und kulturelle Prägung der Deutschen gewahrt blieb.298
3.4.1. Frankfurt am Main als Sitz des Freien Deutschen Hochstifts „Das Freie Deutsche Hochstift für Wissenschaft, Kunst und allgemeine Bildung kann nur Frankfurt zum Stiftsorte haben“, so Otto Volger.299 Dabei stützt er sich auf zwei zentrale Argumente: Als Erstes führt Volger Frankfurts historische und nationale Stellung an. Die Stadt sei die „wahre Ehren- und Einheitsstadt“ Deutschlands, sie stelle den „geschichtlich und naturgemäß berufene[n] Mittelpunkt aller Deutschen Einheitsbestrebungen“ dar.300 Als „Denkmal deutscher Reichseinheit“, in der jahrhundertelang die deutsche Kaiserwahl stattfand, als Ort der Nationalversammlung und nun als Sitz des Bundestages war und ist Frankfurt der Zentralort der deutschen Geschichte.301 Frankfurt blieb auch nach der Revolution von 1848/49 das Zentrum der bürgerlichen Nationalbewegung, was entsprechende Vereinsgründungen und 295 Ludwig Büchner, Am zehnten November 1859, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Ludwig Büchner, Bl. 5. 296 Ebenda. 297 Ber. FDH 1860, S. 3. 298 Otto Dann, Die Tradition des Reiches, S. 174 ff. 299 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 33. 300 Ebenda, S. 34. 301 Vgl. Lothar Gall, Frankfurt als deutsche Hauptstadt?, in: AFGK 61, S. 17–32.
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die dort veranstalteten Nationalfeste verdeutlichen.302 Das nationale Image Frankfurts wollte Volger für das nationale Projekt des Freien Deutschen Hochstifts nutzen. Weitaus wichtiger aber war für Otto Volger die bürgerliche Verfassung der Stadt. Frankfurt war jahrhundertelang eine freie Reichsstadt gewesen und erhielt nach dem Ende des Großherzogtums Frankfurt wiederum eine Stellung als selbstständige und „freie Stadt“ und war als souveräner Staat Mitglied des Deutschen Bundes.303 Für Volger repräsentierten die Stadt und ihre Verfassung ein idealtypisches Panorama, das er als Vorbild für ganz Deutschland betrachtete. Das Stadtbürgertum mit seinen politischen und rechtlichen Konstituierungsfaktoren war die soziale Formation, auf die er seine Hoffnungen setzte, um das Projekt des Hochstifts zu verwirklichen. Frankfurts Vorteil sei zum einen die geringe äußere politische Macht der Bürgerrepublik, die dazu führe, dass Handel Gewerbe und Kultur aufblühten. Zum anderen verhindere die bürgerliche Verfassung einen Zentralismus, der eine freie kulturelle Entfaltung hemme.304 Über Frankfurt, so Volger, stehe nur die Nation. Frankfurt verkörperte also für Volger ein Ideal, das ihn an das Beispiel der griechischen Polis und der norditalienischen Stadtrepubliken erinnerte. Auch hier thematisiert er wieder den Zusammenhang, dass Machtentfaltung und staatlicher Zentralismus die kulturelle Entfaltung stören. Die Gewohnheit und Verfassung des kleinen Staatswesens dieser freien Stadt bleibt der Selbstsorge der Bürger eine Menge von Einrichtungen überlassen, welche in anderen Staaten im Auftrage des Herrschers angeordnet und verfügt werden.305
Volger attestierte dem Stadtbürgertum einen Modernisierungsdrang mit Augenmaß: „Nichts Altes, was gut ist, geht ein, nichts Neues, was gut zu werden verspricht, verkümmert.“306 Ein Ergebnis des „aufopfernden Bürgersinns“ seien die zahlreichen Vereine und Stiftungen, die in einem „freien Gemeinwesen in höherem Maße gedeihen“.307 Diese Organisationen bilden für das Hochstift die Basis, „deren Vorhandensein für das Deutschstift eine unerlässliche Bedingung ist“ und „welche für diesen Zweck geschaffen werden müssten, wenn sie nicht bereits vorhanden wären.“308 So, wie das Hochstift den Anspruch erhob, deutschlandweit als Großorganisator für nationale Vereinigungen aufzutreten, strebte es im Rahmen des städtischen Umfelds an, die Formen der Bürgerkultur nach seinen Ideen zu organisieren und zu vernetzen. Besonders galt das für die Errichtung einer Hochschule. 302 Vgl. Jürgen Stehen, Frankfurter Nationalfeste des 19. Jahrhunderts, S. 279–292; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt, S. 464–470. 303 Gerhard Schuck, 1814–1816. Die Konstitution der Freien Stadt. Zwischen Ancien Regime und Liberalisierung, in: AFGK 63, S. 81–100, hier S. 92 f.; vgl. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 217–240; vgl. Gisela Mettele, Verwalten und Regieren oder Selbstverwalten und Selbstregieren? 304 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 33. 305 Ebenda. 306 Ebenda, S. 34. 307 Ebenda. 308 Ebenda, S. 35.
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II. Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts Diese ist in einem gewissen, wenn auch kleinen Umfange, in Frankfurt bereits verwirklicht und vorhanden. Alle die zahlreichen Vorträge und Lehrgänge, welche von den hiesigen Stiftungen, Vereinen und freien Einzelnen [....] veranstaltet werden [...], betrachten wir als Leistungen, welche nur einer weiteren Vervollständigung bedürfen, um das Ziel, welches uns vorschwebt, zu erreichen.309
Das Freie Deutsche Hochstift und Otto Volger gehören damit zu den frühesten Ideengebern für die spätere bürgerliche Stiftungsuniversität. Wie genau sich die Zusammenarbeit zwischen dem Hochstift und den Vereinen gestalten sollte, blieb aber offen. In der Sitzung am 23. Oktober 1859, in der man über die Satzung beriet, sprach Volger über diesen Punkt: Meine Absicht kann nicht sein, darauf anzutragen, daß etwa eine Aufgebung der hier bestehenden Vereine und Anstalten zum Zwecke einer Verschmelzung aller in eine gemeinsame Anstalt erstrebt werden.310
Er sprach sich für das Fortbestehen der Vereine aus, aber die „Findung eines gemeinsamen Plans, die Wirkung des bewußten Strebens nach einem gemeinsamen Ziele ist erforderlich“.311 Die Konsequenz dieses Plans war die zunächst getroffene Bestimmung, keine eigenen Sammlungen anzulegen, sondern alle Hilfsmittel, wo es zweckmäßiger Weise geschehen kann, den entsprechenden, am Stiftsorte bestehenden Vereinen oder Stiftungen zur Benutzung, immer mit dem Streben nach möglichster Vereinigung aller Kräfte und Mittel
zu überlassen.312 Es sollte das Ziel sein, jede „Zersplitterung der für Frankfurt sich darbietenden Hülfsmittel zu verhüten“.313 In einer detaillierten Aufzählung der lokalen Stiftungen, Vereine und Bildungsanstalten wird Frankfurt von Volger kurzerhand zu einem der bedeutendsten Zentren Deutschlands für die Philosophie, Dichtkunst, Rhetorik, Musik, Malerei, Baukunst, Rechtswissenschaft, Staatskunst, Heilkunde, Erdkunde, Tierkunde, Naturkunde und sogar Turnkunst hochstilisiert. „Die Liebe und der Eifer für die Wissenschaften gehen hier durch alle Lebensverhältnisse hindurch.“314 Über 40 Vereine und Pflegeanstalten beschreibt er und widmet ihnen je nach ihrer Bedeutung für das Hochstift einen kurzen Abriss ihrer Tätigkeit und Leistungen. Besondere Aufmerksamkeit erfahren die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, das Städelsche Kunstinstitut mit seiner Zeichenschule, der Geographische und Physikalische Verein, der Verein für Geschichte und Altertumskunde und die Stadtbücherei mit ihren Sammlungen. Frankfurt als „Hort der deutschen Baukunst“ führte Volger beispielsweise auf den Bau der von Heinrich Hoffmann und Oskar Pichler konzipierten und 1859 begonnenen „Anstalt für Irre und Epileptische“ zurück, die damals zu den mo309 310 311 312 313 314
Ber. FDH 1860, S. 6. Ebenda, S. 4. Ebenda. Satzung FDH (1859), Satz 21, S. 7. Ber. FDH 1860, S. 5. Ebenda, S. 52.
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dernsten Einrichtungen dieser Art in Deutschland zählte.315 Arthur Schopenhauers Aufenthalt adelte die Stadt für Volger kurzerhand zum philosophischen Mittelpunkt Deutschlands, was mit seiner persönlichen Wertschätzung für den Philosophen zusammenhing. Ende der 1840er Jahre existierten über 50 Vereine in Frankfurt, die mit ihren 5.000 Mitglieder mehr als die Hälfte der Bürgerschaft umfassten.316 Das Spektrum ihrer Tätigkeiten reichte über die Förderung der Künste, Wissenschaften und der Bildung über soziale und karitative, bis hin zu Handwerks- und Gewerbevereinen. Vereine errichteten und unterhielten Museen, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Konzerthallen. Die Organisationsform des Vereins war eines der zentralen Elemente für die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit.317 Otto Volger betrachtete sowohl das nationale als auch das städtische Vereinswesen als die Basis für eine nicht staatliche Bildungsstruktur, die das Hochstift organisieren wollte.318 Für ihn war der freie Zugang zur Bildung der entscheidende Konstituierungsfaktor einer bürgerlichen Gesellschaft. In Frankfurt sah er dieses Ideal bereits verwirklicht. Die Vereine und ihre Bildungsangebote haben alle ständischen und sozialen Schranken überwunden. Welches Standes sind unsere Zuhörer bei den wissenschaftlichen und gemeinnützigen Lehrvorträgen? [...] [J]üngere und ältere Gelehrte der verschiedensten Wissenschaften, [...] Geschäfts= und Handelsleute, Gewerbetreibende, Führer der hier liegenden Bundesheere und Gesandte der Bundesversammlung, Einheimische und Auswärtige, Deutsche und Fremde in schönstem Vereine
bevölkern die Hörsäle, so Volger.319 Was Volger hier für die Bildungsvereine beschrieb, war auch Ausdruck seiner eigenen Erfahrungen. Er wurde 1856 als Dozent an die SNG berufen und hatte sich durch seine Arbeiten und vor allem durch seine Vorträge in vielen städtischen und überregionalen Vereinen ein Ansehen und Renommee verschafft, das wesentlich auf seiner Bildung beruhte. Dagegen existierten aber auch Vereine, wie die 1802 gegründete Casino-Gesellschaft, die sich mehr der Geselligkeit widmeten, dafür aber nur einen bestimmten Mitgliederkreis rekrutierten, der die gesellschaftliche und wirtschaftliche Oberschicht präsentierte.320 Hohe Mitgliedsgebühren 315 Vgl. Christina Vanja, „Architektur für den Wahnsinn“. Hoffmanns neue „Anstalt für Irre und Epileptische“ im Spiegel der Psychiatriegeschichte. 316 Ralf Roth, Das Vereinswesen, S. 165. 317 Vgl. Thomas Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert; Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland; Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. 318 Auf die Bedeutung der Vereine als Beispiele einer nichtstaatlichen Bildungsstruktur verweist im Blick auf Frankfurt am Main Ralf Roth, Das Vereinswesen, S. 143 ff.; vgl. Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung. 319 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 52. 320 Lothar Gall (Hg.), Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft – CasinoGesellschaft von 1802, ders., Bürgerliche Gesellschaften und bürgerliche Gesellschaft, S. 17.
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und die Beschränkung auf Inhaber des Bürgerrechts selektierten einen entsprechenden Personenkreis.321 Gegen solche Formen der „Geldaristokratie“ polemisierte Volger später als Obmann. Aber Volger schätzte trotzdem die ökonomische Stellung des Frankfurter Bürgertums und Frankfurts Milieu als Handels- und Gewerbestadt.322 Dadurch war es dem städtischen Bürgertum ja erst möglich, die vielfältigen kulturellen Initiativen, Vereine und Gesellschaften zu begründen und zu unterhalten. Der Handel brachte zudem immer wieder neue Ideen und Personen mit der Stadt in Verbindung, er generierte ein offenes Klima für neue Tendenzen und Entwicklungen, was Volger immer wieder betonte.323 Gleichzeitig konnten sich die Handelsund Gewerbetreibenden durch die Vereine weiterbilden, was sich positiv auf ihren ökonomischen Sachverstand und ihr gesellschaftliches Prestige auswirkte. Handel und Gewerbe, die Frankfurter Messen und Verlage, die Börse und die Eisenbahn haben die Stadt zu einer wirtschaftlichen und auch verkehrstechnischen Metropole, zu einem kommunikativen Knotenpunkt, ja zur „Schule der Welt“ gemacht.324 Die Stadt war nicht nur für Gelehrte und alle auswärtigen Mitglieder des Hochstifts gut erreichbar, man konnte von Frankfurt auch andere Städte, Sammlungen, Bibliotheken und Universitäten bequem erreichen, den „Forscher […] führen die Eisenbahnen im Fluge zu allen Gegenden Deutschlands“.325 Es war aber nicht zuletzt Volgers Hoffnung, ganz praktische, d.h. finanzielle Unterstützung durch das Frankfurter Bürgertum zu erhalten. Ludwig Büchner erwartete: Gewiß wird [...] die reiche Mainstadt [...] ihrem alten Rufe als Pflegerein des Großen und Schönen treu bleiben und dem neugeborenen Kinde des Geistes [einen] kleinen Theil der Sorgen und Aufopferungen widmen,
welche sie „bisher der freiwilligen Förderung von Wissenschaften, Künsten und allgemeiner Bildung dargebracht hat.“326 Volger dachte auch an eine konkrete Form der Unterstützung, nämlich an eine Stiftung, denn „in Frankfurt ist sicher noch nicht der letzte Stifter gestorben“.327
321 Erst 1871 konnten schließlich auch Nicht-Frankfurter Mitglieder werden. Ebenda, S. 27. 322 In dieser Kategorie wurde Frankfurt am Main im Rahmen des Forschungsprojektes „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ eingeordnet. Vgl. Lothar Gall, Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, S. 4. 323 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 52. 324 Ebenda, S. 53. 325 Ebenda. 326 Ludwig Büchner, Am zehnten November 1859, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Ludwig Büchner, Bl. 1. 327 Über das reichhaltige Stiftungswesen in Frankfurt am Main, vgl. Ralf Roth, „Der Toten Nachruhm“. Aspekte des Mäzenatentums in Frankfurt am Main (1750–1914); Einen Überblick bietet Heinrich Meidinger, Frankfurt’s gemeinnützige Anstalten. Eine historisch=statistische Darstellung der milden Stiftungen, Wittwen und Waisen=, Hülfs= und Soparkassen, Vereine, Schulen, 2 Bd. (1845/1856).
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Die Erwartungen, die Volger in die Stadt Frankfurt setzte, und das Ideal, das für ihn die Mainmetropole 1859 darstellte, fand auch spätere Befürworter, wenn etwa Ralf Roth über Frankfurt in jener Zeit schrieb: In Frankfurt wurde [...] die ständische Bürgergesellschaft von innen heraus in eine liberale Republik [...] transformiert. Sie lieferte damit das Modell, dem Deutschland hätte folgen sollen; damit wären der Welt vielleicht einige Brüche und Verwerfungen im 20. Jahrhundert erspart geblieben.328
Bemerkenswert bleibt dennoch Volgers Kühnheit, eine solche Gründung mit ihren gewaltigen Ansprüchen zu wagen. Gewiss bot Frankfurt mit seiner vielfältigen Bürgerkultur und seiner liberalen Regierung zahlreiche Anknüpfungspunkte. Frankfurter Weggefährten, wie Friedrich Scharff, betrachteten Volgers Unternehmung mit wohlwollender Skepsis, so wie man überhaupt den Eindruck hat, dass die Gründung des Hochstifts gerade von dem Enthusiasmus der „Auswärtigen“ getragen wurde, zu denen Volger und Büchner gehörten. Sie richteten ihren Blick eher auf das „große Ganze“, ohne die einzelnen Widrigkeiten und Hemmnisse vor Ort wahrzunehmen. Bei Volger sind zudem noch zwei weitere Erklärungen angebracht. Erstens gehörte er ja zu jenen, die fast ein Jahrzehnt im Exil gewesen waren. Seine Verarbeitung der Revolution und die Lehren, die er daraus gezogen hatte, geschahen außerhalb Deutschlands, im Kreise anderer Emigranten. Entfernt von praktischer politischer Tätigkeit und dem direkten Einblick in die Verhältnisse, orientierten sich die Emigranten stärker an Idealen und Leitbildern. Dieser Idealismus kennzeichnet nicht zuletzt die Idee des Volgerschen Hochstifts, das eine gesellschaftliche Wandlung durch Bildung anstrebte. Schon der Rückgriff auf die überholte Bezeichnung „Hochstift“ macht das deutlich. Auf Volger trifft jene Beschreibung zu, die Jansen über Emigranten großdeutsch-föderaler Richtung schrieb: Dieses Politikverständnis [...] dachte [...] aus der Perspektive der Gesellschaft und nicht des Staates heraus. Dieses gesellschaftlich orientierte Politikverständnis, das von der föderalistischen Strömung innerhalb der Paulskirchenlinken vertreten wurde, bedeutete eine Chance zur Überwindung des Etatismus in der deutschen politischen Denktradition.329
Zweitens muss Volgers enormes Geltungsbedürfnis berücksichtigt werden. Er wollte bereits als Geologe nichts geringeres, als der Erneuerer seines Faches sein. Und er hatte sich nicht gescheut, tradierte Meinungen und Autoritäten in Frage zu stellen. Das Hochstift begriff er als seine Lebensaufgabe, Bildung und Nation zu vereinen. Nach den Rückschlägen, die er 1848 in Göttingen und später in der Schweiz erfahren hatte, wollte er in Frankfurt endlich Anerkennung finden und etwas bewirken.
328 Ralf Roth, Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 3, 1789–1866, S. 422. 329 Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 137.
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3.4.2. Die ersten Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts Zu den Mitgliedern des Freien Deutschen Hochstifts liegt bisher lediglich eine einzige Untersuchung vor, nämlich die „biographisch-soziographische Studie“ des Frankfurter Historikers Franz Lerner, die sich mit den ersten Mitgliedern von 1859 beschäftigt.330 Von diesen (einschließlich Volger) waren 42 in Frankfurt wohnhaft. Aber nicht alle Frankfurter Mitglieder waren auch Inhaber des Bürgerrechts. Ein Teil der Personen kann nicht mehr durch Adressbücher nachgewiesen werden. Nur 15 Personen aus Frankfurt können auch als Inhaber des Bürgerrechts verifiziert werden.331 Das waren 25 % aller Mitglieder. Das auffälligste Merkmal ist der hohe Anteil an Gebildeten, sie stellen mit 24 Personen die stärkste Gruppe (42 %) dar, gefolgt von 18 Kaufleuten (32 %).332 Unter den Gebildeten repräsentieren die Ärzte, Apotheker und Naturwissenschaftler die größte Gruppe. Nur zwei Professoren staatlicher Hochschulen sind vertreten. Viele der aus Frankfurt stammenden Bildungsbürger sind Mitglieder der SNG gewesen. Das waren Männer, wie schon Lerner zurecht vermutet hatte, die mit Volger durch die SNG oder gemeinsame Interessen in Verbindung standen.333 Das trifft aber auch für andere Mitglieder zu, etwa auf Carl Roessler, den Direktor der Wetterauischen Gesellschaft, in der Volger regelmäßig Vorträge334 hielt, oder auf den Offenbacher Arzt Heinrich Walter, Vorstandsmitglied des von Volger initiierten Vereins für Naturkunde in Offenbach. August Prestel, Lehrer und Vorstand der Naturforschenden Gesellschaft in Emden, gehörte auch dazu, denn Volger, der in über zwanzig Vereinen Mitglied war, gehörte zu den Ehrenmitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft in Emden.335 Die Netzwerke der lokalen und regionalen naturkundlichen Vereine bildeten die wichtige Rekrutierungsbasis für die ersten Mitglieder des Hochstifts und diese Vereine berichteten zudem über dessen weitere Entwicklung oder standen mit dem Hochstift in einem regen Schriftenaustausch.336 Seit 1848 gründeten sich zahlreiche Naturvereine in Deutschland, besonders im Jahrzehnt vor der Reichsgründung kam es zu zahlreichen Neugründungen.337 Daum beschreibt in seiner Studie die starke Ausstrahlung, die regional bedeutende Vereine, wie die Wetterauische Gesellschaft, ausübten, um das Bedürfnis nach überlokalen Informationen und überregionaler Kommunikation zu befriedigen.338 330 Franz Lerner, Die ersten Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts. Eine biographischsoziographische Studie, in: AFGK 47, S. 63–74. 331 Zur Rechtsform des Bürgers, vgl. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 65–88; vgl. Dirk Reuter, Der Bürgeranteil und seine Bedeutung. 332 Vgl. Tabelle 1, Kapitel IX. Tabellen, S. 378. 333 Franz Lerner, Die ersten Mitglieder, S. 71. 334 Jahresbericht der Wetterauischen Gesellschaft (1861–1863), S. XVIII. 335 Fünfundvierzigster Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft in Emden (1859), S. 35. 336 Erster Bericht des Offenbacher Vereins für Naturkunde über seine Thätigkeit (1860), S. 19, 40. 337 Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 89–118. 338 Ebenda, S. 99 ff.
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Volger nutzte diese Netzwerke, in denen er verkehrte, um direkt Personen anzusprechen und sie für das Hochstift zu gewinnen. Der hohe Anteil an Kaufleuten (32 %), von denen nur zwei nicht aus Frankfurt stammten, verweist auf Frankfurts Stellung als Handels- und Gewerbestadt. Es zeigt aber auch das Interesse dieser Gruppe an Bildung. Auch hier können die persönlichen Verbindungen Volgers gewirkt haben, denn er hielt regelmäßig Vorträge im Frankfurter Gewerbeverein. Die lokale Presse lobte die gehaltvollen wissenschaftlichen Vorträge Volgers, die eine „reiche Belehrung über die Natur“ seien und die jedem unentgeltlich offen stehen, der „den Drang zu einer wissenschaftlichen Bildung und Belehrung in sich fühlt“.339 Auffällig ist der relativ hohe Anteil an Buchhändlern und Druckern unter den ersten Mitgliedern. Lerner führte dafür auch geschäftliche Gründe an. Das waren sicherlich wichtige Motivierungen, da Volger mit dem Hochstift ja Publikationen plante, die in ganz Deutschland vertrieben werden sollten. Wie das Hochstift, so sollte dessen geplante Zeitschrift einen umfassenden Überblick über alle wissenschaftlichen und künstlerischen Neuerungen vermitteln. Zugleich waren die Buchhändler wegen ihrer Kontakte interessant. Drei von ihnen waren Juden340, von insgesamt sieben jüdischen Mitgliedern, was einem Anteil von 12 % entspricht.341 Juden war die Mitgliedschaft im Freien Deutschen Hochstift gestattet. Insofern war das Hochstift ein fortschrittlicher Verein, da es 1859 in Frankfurt noch „keine staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden gab“.342 Frauen allerdings, die ausdrücklich zur Mitgliedschaft aufgefordert wurden, waren 1859 noch nicht vertreten. Das Hochstift war zunächst ein reiner Männerverein. Das änderte sich im 19. Jahrhundert erst langsam. Viele der Gründungsmitglieder waren an der Revolution von 1848/49 beteiligt gewesen, beispielsweise Ludwig Büchner, Otto Volger, Ludwig Noack und der Frankfurter Kartograf August Ravenstein. Der jüdische Buchhändler Zacharias Löwenthal (Karl Friedrich Loening) hatte die Werke von Börne, Heine und Marx verlegt und war sogar zweimal, 1847 und 1852, aus Frankfurt ausgewiesen worden, nachdem man ihm 1857 nach einer Namensänderung die Rückkehr gestattet hatte. Ludwig Büchner hatte nach Erscheinen von „Kraft und Stoff“ (1855) eine umstrittene nationale Berühmtheit erlangt und gehörte mit Jacob Moleschott und Carl Vogt zum „Triumvirat“ der Materialisten in Deutschland. Die angebliche Neigung zum politischen Radikalismus unter den Mitgliedern und die zahlreichen jüdischen Teilnehmer zog Lerner als Begründung dafür heran, dass nur wenige Frankfurter Bürger 1859 dem Hochstift beitraten und sich keine Mitglieder der städtischen Eliten einfanden. Nur eine „verhältnismäßig begrenzte Schicht“ sei für die Mitgliedschaft infrage gekommen, das Hochstift entsprach 339 Frankfurter Nachrichten, Nr. 28, 1.4.1859, S. 299. 340 Es handelte sich um Karl Friedrich Loening (eigentlich Zacharia Loewenthal, 1810–1884), Hirsch Bechhold (1829–1909) und Joseph Baer (1811–1881). 341 Vgl. Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 2, S. 278. 342 Ebenda.
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mehr einem „ordens- und akademiemäßigen Charakter“ mit „Ansätzen bewusster Elitebildung“.343 Für Lerner stellten die Gründer des Hochstifts eine Generation dar, welche „die engen Bindungen der alten Stadt ablehnten“ und nach einer „Art Weltbürgerschaft“ strebten. Davon kann freilich nur bedingt die Rede sein. Das Ideal einer „Weltbürgerschaft“ oder eines „Weltbürgertums“ wurde ja von Volger ausdrücklich im Namen einer nationalen Kulturgemeinschaft verworfen. Frankfurts städtisches Umfeld und die Tradition der alten Reichsstadt wurden durchaus positiv bewertet, da sie als Ausdruck der bürgerlichen und nationalen Kultur galten. Die Gründung des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt erfolgte absichtlich mit Blick auf die bürgerlichen Strukturen und Traditionen, wie bereits geschildert wurde. Deshalb kann keine „Gegnerschaft“ zu den städtisch-bürgerlichen Kreisen behauptet werden. Selbst eine Ferne zu den gesandtschaftlichen Kreisen des Bundestages ist nur 1859 festzustellen, denn später traten einige Bundestagsgesandten – auf Einladung Volgers – dem Hochstift bei. Ein festes politisches Programm ergab sich aus den ähnlichen biografischen Gemeinsamkeiten nicht, denn das Freie Deutsche Hochstift schloss von Anfang an jede politische Agitation und Diskussion aus. Selbst in wissenschaftlichen und weltanschaulichen Fragen verband die wichtigen Persönlichkeiten keine Übereinstimmung. Volger lehnte Büchners Materialismus wie auch später den Darwinismus entschieden ab und Büchner unterstützte nicht Volgers Bemühungen um eine Sprachreinigung. Was aber aus den aufklärerischen und demokratischen Traditionen entsprang, war das Bildungsideal des Hochstifts. Die Bildung allen gesellschaftlichen Schichten zugänglich zu machen und dafür allein auf die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Organisationsformen zu setzen, entsprach nicht dem „ordensmäßigen Charakter“, den Lerner zu erkennen glaubte. Die ersten Mitglieder setzten sich nicht nur aus Bildungsberufen zusammen, sondern ihre naturwissenschaftliche Ausbildung und ihre naturkundlichen Interessen spiegelten auch zugleich den Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert wider. Wissenschaftlicher Aufschwung, Nationalismus, demokratische Bildungsziele und bürgerliche Emanzipation vereinigten sich im Hochstift. Das galt auch für die einzelnen Bereiche – Wissenschaft, Kunst und allgemeine Bildung – die programmatisch in der Bezeichnung des Freien Deutschen Hochstifts Erwähnung fanden. Das Selbstverständnis und die Aktivitäten des Hochstifts in den entsprechenden Feldern sollen nun detailliert skizziert werden.
343 Franz Lerner, Die ersten Mitglieder, S. 73–74.
III. DIE TÄTIGKEITEN DES HOCHSTIFTS IN DER ÄRA VOLGER 1. WISSENSCHAFT Die Wissenschaften stehen in der Namensbezeichnung des Hochstifts an erster Stelle. Ihre Verbreitung und Förderung waren zentrale Anliegen des Hochstifts in den ersten Jahrzehnten. In seinen Ausführungen zu der nationalen Identität der Deutschen hat Volger den Wissenschaften eine zentrale Position eingeräumt. Die Deutschen werden als Volk der „Denkweisheit“ und der „Naturbetrachtung“ vorgestellt. Zunächst ist zu fragen, welches Verständnis von Wissenschaft die Gründer des Hochstifts vertraten, welche Organisationsformen sie bevorzugten und wie man sich gegenüber den bestehenden Strukturen, etwa den staatlichen Universitäten, verhielt. 1.1. Die Idee einer „Deutschen Wissenschaft“ Das Projekt einer „Deutschen Wissenschaft“ im Freien Deutschen Hochstift ging wesentlich von Otto Volger aus. Die Wissenschaft sollte nicht nur in den Dienst der Nationsbildung gestellt werden, sondern für Volger war jede Wissenschaft immer ein Produkt der jeweiligen nationalen Kultur. In seiner Rede „Gegen das Weltbürgerthum “ begründete Volger seine Auffassung, indem er die Unterschiede zwischen den Nationen auch auf die Wissenschaft übertrug. Wohl hört man oft behaupten, die Wissenschaft [...] kenne keine Volksunterschiede. Keine Behauptung kann leichter widerlegt werden, als diese!1
Deshalb müsse es das Ziel sein, jedes Volk auf Grund der Eigenthümlichkeit seines eigenen besonderen Wesens seiner höchsten Entwicklung entgegen zu führen.2
Volger hat diese Gedanken auch im Entwurf über die Gründung des Hochstifts formuliert, in dem er versuchte, nachzuweisen, dass die Franzosen aufgrund ihres Nationalcharakters niemals imstande seien, eine führende Rolle in den Wissenschaften einzunehmen.3
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Otto Volger, Gegen das Weltbürgerthum, in: Ber. FDH 1860, S. 3. Ebenda. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 18–19.
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Für die Ausbildung und Förderung der „Deutschen Wissenschaft“ wurde der Bezug zur Sprache wichtig, die in Volgers Nationalkonzept die Grundlage der deutschen Kultur bildete. Dadurch, dass „deutsche Gelehrte [...] ihre Schriften [...] in lateinischer, [...] in französischer, neuestens auch in englischer Sprache“ verfassen, verliert die Wissenschaft das „Merkmal der Volkthümlichkeit“ und die „unmittelbare Ursprungsbescheinigung“; sie mache sich dadurch „zur Verläugnerin ihres Ursprungs und suchte bettelnd Anschluß an die Wissenschaft fremder Völker“. Deshalb setzte sich Volger für die Einführung einer deutschen wissenschaftlichen Terminologie ein, bei der er mit gutem Beispiel voranging. So legte er schon 1854 eine „Krystallographie“ vor, die den ersten Versuch verkörperte, „eine neue Terminologie aufzustellen“.4 Zwar existierte damals noch keine verbindliche Terminologie für die wissenschaftliche Kristallkunde, aber es war üblich, die überlieferten griechischen Bezeichnungen zu verwenden. Nach Volgers radikaler Eindeutschung wurden aus „Tetragonalen Prismen“ nun die „Halbkantlinge“, er kreierte „Thürmlinge“ und „Dächlinge“. Auch in seinem 1857 erschienenen Werk „Erde und Ewigkeit“ wies er den Leser im Vorwort darauf hin, dass „ich mich der reinen deutschen Sprache beflissen habe“, um eine „verwelschte Gelehrtensprache“ zu vermeiden.5 Die Terminologie Volgers war unter den Fachgelehrten umstritten. Carl Vogt6 meinte, dass dadurch vor jeder Diskussion die Frage gestellt werden müsse: Entschuldigen Sie gütigst, verstehen Sie diese Worte im Sinne des Herrn Volger oder in demjenigen des Herrn H. oder im alten, hergebrachten Sinne?7
Volger gelang es auch nicht, alle Begriffe einzudeutschen, wie Vogt kritisierte, denn an Bezeichnungen, wie Oxyd und Silikat, hielt er fest. Diese Begriffsverwirrung müsse aber gerade Laien und naturwissenschaftlich Interessierte abhalten, so Vogt, da sie gezwungen seien, „diese Ausdrücke in irgend einem Handbuche der Mineralogie“ nachzuschlagen. Vogt äußerte sich auch ablehnend über Volgers generelles Ziel der Sprachreinigung: Möge man sich solches Coquettieren vom Leibe halten – wenn man auf jeder Zeile auf eine neue Wort=Erfindung stößt, die ohne Noth einen allgemein gebräuchlichen Ausdruck ersetzt, so merkt man die Absicht und wird verstimmt. Nichts wirkt widerlicher als erkünstelte Einfachheit.8
Vogt verteidigte die Verwendung anderer Sprachen, etwa des Französischen: 4 5 6
7 8
Otto Volger, Die Krytallographie, S. I. Ders., Erde und Ewigkeit, S. VII. Carl Vogt (1817–1885), Studium der Medizin und Chemie in Gießen, u. a. bei Justus Liebig, Aufenthalte in Frankreich, Bekanntschaft mit Heinrich Heine und Georg Herwegh, 1847 Berufung als Professor für Zoologie an die Universität Gießen, Mitglied der Nationalversammlung 1848 (Deutscher Hof). 1849 Flucht in die Schweiz, Professor in Genf, gehörte mit Ludwig Büchner und Jacob Moleschott zu den Vertretern eines wissenschaftlichen Materialismus. Vgl. Ernst Krause, „Johann Karl Vogt“, in: ADB 40, S.181–189. Carl Vogt, Geologisches, mit besonderer Beziehung auf Otto Volger’s „Erde und Ewigkeit“, in: Mittheilungen aus der Werkstätte der Natur, Bd. 1, S. 70–87, hier S. 74. Ebenda.
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Warum? Weil es gerade das besitzt, was die unendlich reichere deutsche Sprache nicht besitzt – die Bestimmtheit, Klarheit und mathematische Präcission.9
Volger antwortete auf Vogts Vorbehalte im zweiten Teil seines Werks „Das Buch der Erde“ und betonte, dass ich [...] mich nie erniedrigt habe, eine meiner wissenschaftlichen Arbeiten ihren Weg zur heimischen Anerkennung über Paris suchen zu lassen,
und er bezeichnete Carl Vogt als einen „französelnden“ und „für immer vaterlandsflüchtigen ,Revolutionsgeologen‘“.10 Um seiner Idee der „deutschen Wissenschaft“ Nachdruck zu verleihen, nutzte Otto Volger auch das Forum der GDNA. Während der Versammlung der Gesellschaft in Karlsbad 1862 hielt Volger am Ende der Tagung eine Rede, bei der er „im Namen der deutschen Wissenschaft, der erhaltenden und rettenden, der versöhnenden und einigenden, der beglückenden und befreienden“ spricht.11 Volger erklärt die „deutsche Wissenschaft“ zur Trägerin des „Deutschthums“ und erinnert dabei an die „gewaltigen Reden unseres unsterblichen Fichte“.12 Das „Deutschthum ist eine geistige Einheit“ erklärte Volger der Versammlung und stelle ein stabileres Band dar als die „Rasseneinheit der neuen Staatskünstler“.13 „So möge denn die deutsche Wissenschaft auch ferner unser deutsches Vaterland erhalten und retten, versöhnen und einigen, beglücken und befreien.“14 Volger plädiert für eine nationale Wissenschaft, um diese im Sinne einer geistigkulturellen Nationsbildung einzusetzen. Ausdrücklich gilt das auch für die Naturwissenschaften. Während die Beiträge der Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert für die Entwürfe eines nationalen Bewusstseins breite Aufmerksamkeit gefunden haben15, galt das für die Naturwissenschaften nur bedingt. Deren Popularisierung beruhe auf der Vorstellung wissenschaftlicher Rationalität, um Ideale einer „parti-
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Ebenda. Otto Volger, Das Buch der Erde, Bd. 2, S. IV. Hinter dem Begriff des „Revolutionsgeologen“ verbarg sich eine naturwissenschaftliche und eine politische Dimension. Naturwissenschaftlich zielte sie auf Vogts Zustimmung zum „geologischen Plutonismus“ und seiner Sympathie für die Katastrophentheorie von Georges Cuvier. Politisch zielte sie auf Vogts Zuneigung für Frankreich. Amtlicher Bericht über die 37. VDNA (1862), S. 97. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 98. Vgl. Hedda Gramley, Propheten des deutschen Nationalismus; Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), S. 306–342; Katinka Netzer, Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht. Die Verhandlungen der Germanisten 1846 und 1847; vgl. Jürgen Fohrmann (Hg.), Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft; Eckhardt Fuchs/Benedikt Stuchtey; Across Cultural Borders. Historiographical Traditions and Cultural Identities in the Ninetteeth and Twentieth Century.
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zipatorischen Bürgergesellschaft wachzuhalten“.16 Angela Schwarz erkennt durchaus Tendenzen, die auf eine nationale Vereinnahmung der Naturwissenschaften hindeuten. So gab es etwa Vorstellungen, in denen sich der Stand der eigenen Wissenschaft mit nationalen Überlegenheitsvorstellungen verband.17 Sie beschreibt auch Entwürfe einer heimischen Natur im 19. Jahrhundert, die dazu dienten, „nationale Identität inhaltlich zu füllen“ und die die Liebe zur Natur zur nationalen Eigenart erklärten, was sich etwa im Symbol der deutschen Eiche ausdrückte.18 Das alles trifft auch für das Hochstift zu, bis hin zum Symbol der deutschen Eiche als Emblem.19
Abb. 2: Hochstiftswappen, nach einem Entwurf von Theodor Reiffenstein
Für Europa allerdings sei der wissenschaftliche Austausch, die Internationalität der Naturwissenschaft, so Schwarz, immer verbindlich geblieben, eine Ausnahme 16
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Andreas Daum, Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den Anfängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848, in: HZ 267, S. 57– 90, hier S. 75. Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 335. Ebenda, S. 340 f. So forderte auch Otto Volger die primäre Beschäftigung mit der „heimischen Natur“, vgl. ders., Leitfaden für die erste Stufe eines auf die Bildung des Verstandes gerichteten Unterrichtes in der Naturgeschichte (1853), S. X.; Volger betrachtete die Deutschen als einziges Volk, welches zu einer umfassenden Naturbetrachtung fähig sei; vgl. ders., Das Freie Deutsche Hochstift, S. 15.
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stellt die außereuropäische Welt dar, deren Völker und Kulturen als unterentwickelt wahrgenommen wurden.20 Volger bestreitet mit seinen Vorstellungen aber das Ideal einer internationalen Wissenschaft. Sein Wissenschaftskonzept erweitert die Sichtweise auf die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert und bestätigt neuere Forschungen, die „den strikten Gegensatz von Wissenschaft und Nation aus historischer Perspektive“ infrage stellen.21 Volger nutzt die Wissenschaft und auch die Naturwissenschaft als eine „symbolische Ressource“ für den Prozess der Nationsbildung.22 Ein ähnliches Beispiel für das Projekt einer „deutschen Wissenschaft“ aus dem Bereich der Naturwissenschaften entwickelte im 19. Jahrhundert der Mediziner Rudolf Virchow (1821–1902).23 Virchows Ideen zeigen deutliche Parallelen zu Volger. Auch bei Virchow kam es zu einer „Übertragung politischer und kultureller nationaler Gegensätze in die Wissenschaft, die sich vor allem im deutschfranzösischen Gegensatz niederschlug“.24 Allerdings beschränkte sich der wissenschaftliche Fokus von Virchow auf die universitäre und damit staatliche Wissenschaftslandschaft. Als Anhänger der kleindeutschen Reichsgründung setzte Virchow seine Hoffnungen auf Preußen. Für die Begründung einer „deutschen Wissenschaft“ griff der Protestant Virchow auf die Reformation zurück, die er als Vorläufer eines liberalen und wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens feierte.25 Diese Einstellung begründet auch seine Ablehnung der Aufnahme des überwiegend katholischen Österreichs in einen deutschen Gesamtstaat. Volgers Projekt einer „deutschen Wissenschaft“ unterscheidet sich von Virchow durch seine gesamtdeutsche Dimension, die Österreich mit einschloss. Der Anthropologe Virchow verwarf wie Volger die rassische Definition des „Deutschtums“, da eine solche nach den Ergebnissen seiner anthropologischen Forschungen nicht nachzuweisen war.26 Er plädierte für die kulturelle Definition des „Deutschtums“ und wollte dazu die „deutsche Wissenschaft“ in den Dienst der Nationsbildung stellen.27 Auch in Russland entwickelten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts Diskussionen um die Einführung einer nationalen Wissenschaftssprache.28 Bisher waren die meisten Publikationen der Moskauer Gesellschaft für Naturforscher und der Akademie der Wissenschaften in französischer oder deutscher Sprache erschie20 21 22 23
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Angela Schwarz, Der Schlüssel der modernen Welt, S. 343–344. Ralph Jessen/Jakob Vogel, Die Naturwissenschaften und die Nation, in: dies., (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, S. 7–37, hier S. 9. Ebenda, S. 18. Vgl. Constantin Goschler, Deutsche Naturwissenschaft und naturwissenschaftliche Deutsche. Rudolf Virchow und die „deutsche Wissenschaft“, in: Ralph Jessen/Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, S. 97–114. Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 108. Ebenda. Ebenda, S. 109. Vgl. Olga A. Valkova, Wissenschaftssprache und Nationalsprache. Konflikte unter russischen Naturwissenschaftlern in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
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nen. 1851/52 wurde eine Debatte geführt, in der ein internationales Wissenschaftsmodell auf einen wachsenden Nationalismus traf. Das führte dazu, dass sich seit den 1860er Jahren immer mehr Gelehrte für wissenschaftliche Publikationen in russischer Sprache einsetzten. Nicht nur Argumente, wie „nationale Würde“, führte man an, sondern es ging vor allem auch um die „Erweiterung der ,scientific community‘ im Lande, die Entwicklung wissenschaftlicher Schulen“ und den „Zugang der breiten Masse der russischen Gesellschaft zum wissenschaftlichen Wissen“.29 Valkova analysiert in den Debatten die „enge Verbindung zur kulturellen Konstruktion der Nation und zu politischen Herrschaftsinteressen“.30 Abschließend bleibt zu konstatieren, dass die „deutsche Wissenschaft“ im Freien Deutschen Hochstift vor allem ein Anliegen Otto Volgers war. Unter den naturwissenschaftlich gebildeten Mitgliedern wurden sogar gegenteilige Auffassungen vertreten. Ludwig Büchner äußerte in dieser Sache eine andere Meinung. Im Vorwort zur dritten Auflage (1855) von „Kraft und Stoff“ heißt es über die Entwicklung der Naturwissenschaften: Durch ihre großartigen Entdeckungen und Erfindungen haben sie dem Blick der Einzelnen und der Völker ganz neue, umfassende und kosmopolitische Gesichtspunkte eröffnet; durch ihre auf das Thatsächliche gerichtete Forschung haben sie das Denken gezwungen, aus den nebelhaften und unfruchtbaren Regionen speculativer Träumerei auf den Markt des Lebens und der Wirklichkeit herabzusteigen, und haben durch ihre ganze, jeder Art von Autoritätsglauben und geistiger Unfreiheit feindliche Richtung eine Bewegung in die Welt gebracht, deren letzte Resultate ebenso überraschende, als erfreuliche sein werden.31
Stand Büchner in dieser Hinsicht den Ideen Volgers von der „deutschen Wissenschaft“ distanziert gegenüber, so war er doch mit ihm vollkommen einer Meinung hinsichtlich der zukünftigen Organisationsformen von Wissenschaft, die das Hochstift verwirklichen sollte. 1.2. Die Organisation von Wissenschaft Der Plan und die damit verbundenen Ambitionen des Freien Deutschen Hochstifts zur Organisation von Wissenschaft sind einzigartig in Deutschland im 19. Jahrhundert. Der Grundgedanke beinhaltete die Schaffung einer organisierten nicht staatlichen Wissenschaftsstruktur auf der Grundlage des bürgerlichen Vereinswesens. Die Wissenschaft sollte einmal als „Ressource zur Nationsbildung“ genutzt werden und daneben von den organisatorischen und politischen Zwängen befreit werden. Wie stellte sich für die Hochstiftsgründer 1859 der allgemeine Zustand der Wissenschaft in Deutschland dar? Otto Volger hat in seinem Entwurf des Hochstifts zwischen zwei zentralen Bereichen differenziert, in denen Wissenschaft or29 30 31
Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 79. Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, S. XVI.
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ganisiert war: Erstens die staatlichen Hochschulen und zweitens die bürgerlichen Vereine und Gesellschaften, zu denen auch die frei forschenden Gelehrten zählten. Zunächst zu den Universitäten. Ihnen wurde von Volger und Büchner keine Zukunft als Forum für die Wissenschaft prognostiziert. Über deren Vertreter, die Professoren, schrieb Volger: Ihr wollt die ,Professoren‘ unserer Hochschulen zählen? – es ist nicht der Mühe werth! Nicht der Stand allein, der es zufällig mit sich bringt, daß sie durch die Wissenschaft ihr Brod finden, macht diese zu Gelehrten.32
Die Universitäten werden zwar als Orte der Wissenschaft bezeichnet, aber als Institute in der Verfügung der jeweiligen Staaten dienen sie in erster Linie dazu, „Staatsdiener nach eigenen Bedürfnissen und Absichten heranzuziehen“.33 Man zweifelte, ob die Gelehrten „hier völlig ausreichende Gelegenheit zu freien Forschungen“ finden, vielmehr sei es hauptsächlich ihre Aufgabe, „die betreffende Fachwissenschaft im Ganzen und Großen zu erfassen und vorzutragen“, wobei „einzelne [...] Stücke [...], die durch gründliche Behandlung hohe Wichtigkeit erlangen könnten, eingehend zu behandeln und zu ergründen“ als Unmöglichkeit beschrieben wird.34 Reglementiert seien die Wissenschaften an den Universitäten durch ihre natürliche Abhängigkeit von religiöser und politischer Bevormundung, welche es dahin gebracht hat, daß freiere und Neues anstrebende Geistesrichtungen in der Regel von ihnen mehr verfolgt, als gefördert werden.35
In der Tat waren es der Staat bzw. die souveränen Territorien und Fürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die in der Neuzeit die Blüte und Vielfalt der deutschen Universitätslandschaft prägten.36 Dabei war die Ausbildung von Theologen und juristisch geschulten Beamten für die jeweiligen Staatsbürokratien eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulen.37 Gegenüber den gegründeten Akademien, die einen zentralen Sammelpunkt verkörpern wollten, behielten die Universitäten ihre Führungsrolle bei und immer wieder kam es zu Reformen der Hochschulen, die sich etwa in Neugründungen, wie beispielsweise in Göttingen (1734), ausdrückten. Im Zeitalter der Aufklärung wurde die Ausbildung an den Universitäten im Sinne staatlicher Modernisierungsansprüche „utilitaristisch-
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Otto Volger, Freies Deutsches Hochstift, S. 20. Ebenda, S. 25. Friedlieb Rausch, Nur wer ausharrt, S. 24. Ludwig Büchner, Zum zehnten November, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Ludwig Büchner, Bl. 3. Vgl. Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: HZ 241, S. 287–328. Ebenda, S. 299 f.
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pragmatisch“ ausgelegt.38 Man kann also durchaus von einem „Staatsmonopol in der Aufsicht und Kontrolle“ dieser Institutionen sprechen.39 Unter dem Einfluss der französischen Besatzung gerieten wiederum der Bildungssektor und speziell die Universitäten in das Blickfeld staatlicher Modernisierungs- und Reformabsichten. Ein neues Modell der Universität wurde nach den Vorgaben Wilhelm von Humboldts in Preußen entwickelt40, das Lehre und Forschung vereinigte, an dessen erster Stelle aber weiterhin die Aufgabe bestehen blieb, „qualifiziertes Personal für den Staatsdienst bereitzustellen“.41 Die deutschen Universitäten gelten als wichtigste Institutionen für die „Geschichte und den Aufstieg der Wissenschaften in Deutschland“ und seien ein viel bewundertes Modell im Ausland gewesen.42 Die Entwicklung der Universitäten und die Ausbildung der Wissenschaften verkörperten im 19. Jahrhundert aber keinen geradlinigen Prozess, sondern blieben vielen Umbrüchen unterworfen. Die Rolle des Staates hatte dabei auch eine hemmende Wirkung. Trotz des Ideals der Freiheit der Wissenschaft unterlagen die Universitäten zahlreichen staatlichen Eingriffen und Gängelungen, zu nennen sind beispielsweise die Regelungen der Karlsbader Beschlüsse. Auch ausländischen Beobachtern blieb trotz des Systems der Selbstverwaltung die Dominanz des Staates nicht verborgen.43 Diese Erfahrung hatten auch Hochstiftsgründer, wie Otto Volger und Ludwig Büchner, gemacht. Volger hatte aufgrund von Repressionen wegen seines politischen Engagements während der Revolution von 1848/49 die Göttinger Universität verlassen müssen. Im Falle Ludwig Büchners kam hinzu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zur Ausbildung von neuen Weltbildern und Weltanschauungen führten, die vonseiten des Staates und der Kirche bekämpft wurden und Büchners akademische Laufbahn beendeten.44 Der Philosoph und Theologe Ludwig Noack, der seit 1855 als außeror38 39 40
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Ebenda, S. 327. Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland unter dem Einfluss der französischen Revolution, S. 553. Vgl. Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens; Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, dort v.a. Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810–1945, S. 29–57; Jürgen Kost, Wilhelm von Humboldt. Weimarer Klassik, Bürgerliches Bewusstsein, Kulturelle Entwürfe in Deutschland um 1800, S. 162 f. Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland, Ebenda, S. 565. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1800–1866, S. 470–482, hier S. 470. Werner Giesselmann, Die deutsche Universität als Modell für Frankreich – Der Bericht Victor Cousins 1831, S. 265. Vgl. Klaus Schreiner, Der Fall Büchner. Studien zur Geschichte der akademischen Lehrfreiheit an der Universität Tübingen im 19. Jahrhundert; ders., Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit, Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477–1945), S. 109–113; Kurt Bayertz (Hg.), Der Materialismus-Streit; so auch die Debatten um den Darwinismus, vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 65–83; Manfred H. W. Köhler, Brutalisierung der Menschheit als Fortschritt der Kultur oder Titanentum, Zynismus oder ,gesunder Sinn‘? Ludwig Büchners ,Kraft und Stoff‘ in seiner ersten Wirkungsphase, in: Archiv für hessische Geschichte 70, S. 107–179.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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dentlicher Professor an der Universität Gießen tätig war, wurde wegen religionskritischer Äußerungen verwarnt und man verweigerte ihm die ihm zustehende Beförderung.45 Obwohl beispielsweise Preußen das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit aus dem Verfassungswerk der Nationalversammlung von 1848 übernommen hatte, wurde jenes Prinzip der Reaktionspolitik untergeordnet.46 Der Polizeiverein überwachte weiterhin die Hochschulen und die Dozenten. Neben der politischen Gesinnung geriet zunehmend die Weltanschauung der Dozenten ins Visier. Ludwig Noack und Ludwig Büchner waren Beispiele für Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, die zwar der Staat verfügte, die aber auch von gesellschaftlichen und konfessionellen Gruppen ausgingen. Bereits 1844 wurde dem Philosophen Friedrich Theodor Vischer47 die Lehrerlaubnis entzogen, da er sich zum Pantheismus bekannt hatte.48 Selbst der anerkannte Präsident der „Leopoldina“, Christian Gottfried Nees von Esenbeck (1776–1858), verlor aufgrund politischer Äußerungen 1852 seine Professur und wurde als preußischer Beamter entlassen.49 Neben den Eingriffen in die Lehrfreiheit war es beispielsweise die ungesicherte Existenz der Privatdozenten, die eine wissenschaftliche Laufbahn behinderte. Das hatte Otto Volgers in Göttingen erfahren, wo er trotz intensiver wissenschaftlicher Arbeiten und Lehrtätigkeit immer eine prekäre ökonomische Existenz führte. Er sah sich sogar gezwungen, für seine Vorlesungen eigene geologische Sammlungen anzulegen, da ihm der Zugang zu entsprechenden Universitätsbeständen verwehrt wurde.50 Damals hatte er die „Georgia Augusta“ als eine „übelberüchtigte Hofrathsuniversität“ bezeichnet, in der die „Wissenschaft ein Zunftrecht“ sei.51 Ludwig Noack wurde in seiner akademischen Laufbahn genötigt, minder qualifizierte Stellen anzunehmen. Nachdem ihm eine ordentliche Professur und die damit ersehnte Gehaltserhöhung verwehrt worden waren, musste er sich eine Zeit lang als Gehilfe der Universitätsbibliothek verdingen. Diese Einschränkungen, die junge Akademiker erlebten, aber auch die Tatsache, dass 1859 die weitere Entwicklung der Universitäten und der gesamten Wissenschaftsförderung noch nicht absehbar war, bestärkten die Gründer des Hochstifts in ihrem Vorhaben, eine eigene Organisationsform zu entwickeln. Man kann sogar behaupten, dass sich die deutschen Universitäten in den 1850er Jahren in 45 46 47 48 49
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Vgl. Karl Grün, „Ludwig Noack“, in: ADB 23, S. 745–748. Wolfram Siemann, Chancen und Schranken von Wissenschaftsfreiheit im Deutschen Konstitutionalismus 1815–1918, S. 332. Vischer, den Volger in Zürich kennen gelernt hatte, wurde später in die Klasse der Meister des Freien Deutschen Hochstifts aufgenommen. Wolfram Siemann, Chancen und Schranken von Wissenschaftsfreiheit, S. 329. Kai Torsten Kanz/Johanna Bohley/Dietrich von Engelhardt, Die Leopoldina zwischen Französischer Revolution und innerer Reform: Die Präsidentschaft von Nees von Esenbeck, Kieser und Carus von 1818 bis 1869, in: Benno Parthier (Hg.): 350 Jahre Leopoldina – Anspruch und Wirklichkeit, S. 121–150, hier S. 132 ff. Vgl. Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten; Johannes Tütken, Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734–1831), S. 366–401. Otto Volger an seine Eltern, 2.2.1848, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger.
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einer Phase der Stagnation befanden.52 Die Studentenzahlen und die der Ordinarien gingen zwischen 1830 und 1870 zurück.53 Ein Blick auf die staatlichen Ausgaben verdeutlicht, dass erst ab 1871, also nach der Reichsgründung, die finanziellen Zuwendungen der Staaten stiegen, nämlich von ca. 6 Millionen im Zeitraum von 1850–59 auf fast 89 Millionen in den Jahren 1905–1914.54 Erst die Reichsgründung generierte einen Innovationsschub, für den stellvertretend die Gründung der Reichsuniversität Straßburg steht. In Straßburg wurden erstmals die seminaristische Arbeitsweise und die Errichtung großzügiger Seminarbibliotheken für alle Disziplinen konsequent durchgeführt [...], ein in diesem Umfang bis dahin noch nie verwirklichtes Programm.55
Erst seit 1871 begann der Prozess der Umwandlung der Universitäten zu „wissenschaftlichen Großbetrieben“, der aus Gelehrten spezialisierte Wissenschaftler formte.56 Um die Jahrhundertwende gerieten allerdings auch die Universitäten wieder in eine Krise, denn seit den [18]80ger Jahren begann die wissenschaftliche Entwicklung vor allem in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen, [...] die Einheit von Forschung und Lehre zu sprengen
und das humanistische Bildungsideal geriet in Erklärungsnot.57 Neue Bedürfnisse, etwa hoch spezialisierte technische und naturwissenschaftliche Forschungen, erfüllten nun neue Institute, wie beispielsweise die KaiserWilhelm-Gesellschaft, die aus der Wirtschaft und von privaten Mäzenen Unterstützung erhielt.58 Vor allem in Preußen förderte man diese Entwicklung, die zum Ausbau der Technischen Hochschulen mit Promotionsrecht führte. Adolf von Harnack fasste diese Entwicklung im Jahre 1900 folgendermaßen zusammen: Alle die wissenschaftlichen Aufgaben, welche die Kräfte des einzelnen übersteigen, vor allem die überall grundlegende Arbeit der Sammlung und Leitung des wissenschaftlichen Apparates muß der Staat auf sich nehmen, wie sich der Reihe nach die Geldmittel und die geeigneten Personen und Gelegenheiten darbieten.59
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Hans–Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 418. Ebenda, S. 421 f. Hans-Peter Ullmann, „Ponderare non Numerare“? Überlegungen zu den Finanzen deutscher Universitäten im „langen“ 19. Jahrhundert, S. 160. Bernhard vom Brocke, Verschenkte Optionen. Die Herausforderung der Preußischen Akademie durch neue Organisationsformen der Forschung um 1900, S. 130. Marita Baumann, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 270. Bernhard vom Brocke, Verschenkte Optionen, S. 135. Vgl. Lothar Burchardt, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften; Rüdiger vom Bruch (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts; Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert; Peter Lundgreen (Hg.), Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980; Gerhard A. Ritter, Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick. Zit. nach Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt, S. 224.
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Die hier nur skizzierte Entwicklung auf das Jahr 1859 zurückzuprojizieren, verdeckt den Blick auf die damalige Ausgangslage. Die Universitäten galten durchaus als reformbedürftig in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus Sicht von Otto Volger, Ludwig Büchner und Ludwig Noack war die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Vereinen und Assoziationen die geeignete Basis für die notwendige Reform. Nur dort schienen Prinzipien, wie Öffentlichkeit und die Freiheit von Forschung und Lehre, garantiert zu sein, die man an den staatlichen Universitäten vermisste. In diesen Diskussionen spielte ein sogenanntes „Humboldtsches Universitätsideal“ keine Rolle. Inwieweit es sich dabei um einen Mythos gehandelt habe, kann hier nicht untersucht werden.60 Allerdings wurde keiner deutschen Universität von den Hochstiftgründern eine Vorbildfunktion zuerkannt. Das Freie Deutsche Hochstift sollte ein Forum bieten, in dem nicht nur Otto Volger seine „deutsche Wissenschaft“ und seinen „geologischen Neptunismus“ lehren konnte oder Ludwig Büchner seinen Materialismus, sondern in dem jede wissenschaftliche Lehre willkommen war. Insofern ist die Einschätzung von Notker Hammerstein zu relativieren, für das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts sei allein „die Staatsautorität Garant freier und objektiver Wissenschaft“ gewesen.61 Dabei war es nicht nur der Staat, der aus politischen Erwägungen heraus Gelehrte reglementierte oder von der Universität verwies, wie es der Fall der „Göttinger Sieben“ 1837 illustrierte62. Im Schlepptau des Germanischen Nationalmuseums hatte sich die „Zeitschrift für Kulturgeschichte“ etabliert, die für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz eintrat.63 Die Vertreter der universitären Geschichtswissenschaft lehnten diesen Ansatz aber ab, wie überhaupt das Germanische Nationalmuseum von ihnen skeptisch bis ablehnend beäugt wurde. In einem Gutachten der Berliner Akademie der Wissenschaften, an dem Historiker, wie Mommsen und Ranke, beteiligt waren, wurde die Arbeit des Museums aus wissenschaftlicher Sicht als mangelhaft eingestuft.64 Einige Jahrzehnte später erfuhr Karl Lamprecht mit seinem Ansatz einer Kulturgeschichtsschreibung eine ähnliche Ablehnung durch die akademische Zunft.65
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Vgl. Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert; Dieter Langewiesche, Die ,Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik; Martin Eichler, Die Wahrheit des Mythos Humboldt. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, S. 25. Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, S. 20–27; Miriam Saage-Maaß, Die Göttinger Sieben – demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden? Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in der Rezeption des Hannoverschen Verfassungskonfliktes. Annelore Rieke Müller/Siegfried Müller, Konzeptionen der Kulturgeschichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg und die Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte, in: AfK 82, S. 345–375. Ebenda, S. 373. Vgl. Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, S. 102 f. u. S. 159; vgl. Karl H. Metz, „Der Methodenstreit in der deut-
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Der Wissenschaft eine neue, von staatlichen und universitären Einschränkungen befreite Organisationsform zu geben, daran hatte bereits der Philosoph Ludwig Noack mitgewirkt, der 1859 zu den Gründungsmitgliedern des Freien Deutschen Hochstifts gehörte. Noack hatte zusammen mit Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach, Karl Grün, Georg Zimmermann und anderen 1848 beabsichtigt, eine „Freie deutsche akademische Universität“ zu gründen.66 Man traf sich Ende August 1848 im Frankfurter Gasthof „Landsberg“ und veröffentlichte dafür eine entsprechende „Denkschrift zur Gründung einer „freien akademischen Universität“. In der Einleitung würdigten die Verfasser Fichtes Reden an die deutsche Nation, die, wie vor 40 Jahren, immer noch „wie eine Donnerstimme an die Ohren eines geknechteten und erschlafften Geschlechts“ klingen würden.67 Den Universitäten warf man vor, „als Staatsanstalten, zur Bildung künftiger Staatsdiener“ zu wirken und deshalb sei die „eigentliche Fortbildung der Wissenschaft selbst nur eine untergeordnete Rücksicht“.68 Zudem seien die Universitäten durch einen „staatlich-conservativen Charakter“ geprägt. In idealistischer Tradition forderte man dagegen eine Wissenschaft, die „mit philosophischem Geiste die besonderen Zweige der Wissenschaft, in ihrem Zusammenhange mit der Einen Universalwissenschaft des Geistes selbst, zur Darstellung“ bringt.69 Ziel war die „freie Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes“ im Sinne einer Nationalerziehung. Die in Frankfurt zu gründende Universität sollte für den „zur Einheit hinstrebenden deutschen Nationalgeist“ einen Zentralort bieten und der Plan sollte der Frankfurter Nationalversammlung übergeben werden. Ein deutscher Gesamtstaat, wie ihn die Nationalversammlung anstrebte, sollte die Universität zwar schützen, aber alle internen Angelegenheiten sollte die Universität in Eigenverantwortung verwalten. Als Lehrer sollten nur Akademiker zugelassen werden, von den Studenten wurde der Nachweis der „Vollendung der Studien auf einer deutschen Hochschule“ erwartet.70
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schen Geschichtswissenschaft (1891–99). Bemerkungen zum sozialen Kontext wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Denkschrift zur Gründung einer freien akademischen Universität. Zugleich als Einladung zu einem am 27., 28. u. 29. August d. J. zu Frankfurt a. M., im Gasthof Landsberg stattfindenden wissenschaftlichen Congreß, Frankfurt am Main 1848; dazu schon Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 41. Denkschrift zur Gründung einer freien akademischen Universität, S. 3. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 5. Arnold Ruge, dessen „Hallesche Jahrbücher für deutsche Kunst und Wissenschaft“ von der preußischen Regierung verboten worden waren, forderte in seinen Schriften immer wieder eine Reform der Universität, wobei er vor allem deren Unabhängigkeit von staatlicher und religiöser Bevormundung im Sinne hatte: „Doch solange die wesentlichen Fortschritte der Menschheit nicht zum Zweck erhoben werden und die Staaten an die Stelle des juristischen und theologischen Heils nicht das der Freiheit, also das wahrhaft menschliche Heil setzen können, ist es vergeblich, an eine Reform der Universitäten zu denken.“ Runge verlangte eine zweite „Reformation“ für die Universitäten und sah diese bereits angebrochen, weil „auch Geist und Wissenschaft nicht mehr das Monopol der Universitäten sind“. Arnold Ruge, Sämmtliche Werke, 10. Band, S. 387 f. Denkschrift zur Gründung einer freien akademischen Universität, S. 12.
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Otto Volger erwähnt diesen Plan in seiner Schrift über die Gründung des Hochstifts, ohne allerdings sich zu den einzelnen Details zu äußern, vielmehr hob er hervor, dass Frankfurt der selbstverständliche Ort für eine solche Hochschule gewesen sei.71 Aber er sandte 1859 eine Einladung zur Gründung des Freien Deutschen Hochstifts an Ludwig Feuerbach. Doch der Philosoph äußerte sich skeptisch über dessen Erfolgsaussichten und trat zum Hochstift in keine nähere Verbindung.72 Otto Volger teilte sicherlich die nationalen Ziele der Akademiepläne von 1848, aber in ihrer Organisation unterschieden sie sich von den Absichten des Hochstifts. Wie sollte nun im Freien Deutschen Hochstift die Wissenschaft organisiert werden? Zur Kenntnis und Pflege der „freien Deutschen Wissenschaft“ sollte das Hochstift „von allem Hochschulzwange und aller Hochschulbeschränkung“ eine „befreite Gelegenheit darbieten, Deutsche Wissenschaft [...] aus unmittelbarer Quelle zu schöpfen und ihre Meister im freien Verkehr kennen zu lernen“.73 Dazu sollten sich „Gelehrte, die sich einer rein wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen gedenken“, das Hochstift zur „höheren Fortbildung und selbstständiger Ausbildung“ nutzen und eine Wirkung auf „die Zeitgenossenschaft“ entfalten. Das Hochstift beanspruchte also, eine Stätte der Wissenschaft zu sein, die wissenschaftliche Forschung und Fortbildung vereinte. Als ein nationaler „Gelehrtenhof“ sollte ein Forum für alle wissenschaftlichen Fächer geschaffen werden und jedes Mitglied durfte „die Ergebnisse seiner eigenen Geistesarbeit in Wissenschaften und Künsten durch mündliche Vorträge und durch Vorzeigungen von Werken“ mitteilen.74 Man äußerte die Hoffnung, alle „herausragenden deutschen Gelehrten“ einmal für die Mitarbeit im Hochstift zu gewinnen. Sie sollten dazu auf der Hochschule des Hochstifts ihre jeweiligen Fächer lehren. „Förderer irgend eines Zweiges der Wissenschaft“ sollten im Hochstift in der Klasse der „Meisterschaft“ vereinigt werden.75 Die ersten zwölf Meister mussten allerdings über einen Doktortitel verfügen, für die folgenden Mitglieder war aber kein Nachweis von Bildungspatenten vorgeschrieben. Auch der Zugang zu den Lehrgängen und Vorträgen der Hochschule wurde nicht an Bedingungen geknüpft. Die Loslösung der Wissenschaft von den herkömmlichen Formen akademischer Standards, ihre Befreiung von politischen und religiösen Rücksichten sollte sie, wie Ludwig Büchner forderte, endlich auf ein „neues Fundament“ stellen. Welchen Einfluss hatte diese Organisation mit den dahinter stehenden Ansprüchen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Wissenspopularisierung?
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Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 28. Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 22.9.1872, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642. Beyer vertrat das FDH auf dem Begräbnis von Ludwig Feuerbach. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 32. Ber. FDH 1860, S. 4. Satzungen des Freien Deutschen Hochstifts (1859), Satz 28, S. 7.
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1.3. Wissenschaft – Wissenschaftspopularisierung? Der gesamte Komplex, der sich mit der Popularisierung von Wissenschaften und anderen Formen von Wissen beschäftigt, gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit. Wissenschaftsgeschichte und Bürgertumsforschung nähern sich dabei über den Begriff der Öffentlichkeit an.76 Vor allem über die Naturwissenschaften77 erschienen grundlegende Studien, die in letzter Zeit auf andere Wissensgebiete ausgedehnt wurden.78 Inwieweit das Hochstift in diesen Prozess einzuordnen ist, blieb bislang unscharf, zumindest Otto Volger und Ludwig Büchner erhielten das Prädikat „Professioneller Popularisierer“, Volger wird zudem als „Wissenschaftsautor“ bezeichnet.79 Diese Einordnung und auch der von Daum und Schwarz benutzte Begriff der Popularisierung können weder Otto Volgers Wirken noch das Freie Deutsche Hochstift in seiner Breite und Vielfalt beschreiben. Mit dem verwendeten Begriff der Popularisierung wird die akademische Wissenschaft, die durch ein staatlich dominiertes Wissenschaftssystem fundiert wird, von der nicht professionellen Nachfrage nach Wissensvermittlung getrennt. Auch wenn Daum sich gegen ein diffusionistisches Modell ausspricht und von einer Dialektik zwischen Wissensproduzenten und Rezipienten ausgeht80, stellt seine Definition doch einen „verengten Begriff“ dar.81 Er orientiert sich allein am wissenschaftlichen Ideal der Universität und beschreibt die Entwicklung der deutschen Wissenschaftslandschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine geradlinige Entwicklung, ohne die alternativen Entwicklungen und Brüche zu berücksichtigen. Die Ergebnisse der angelsächsischen Forschung, die ein interaktionistisches Modell entwickelten82, lehnt Daum ab. Aber gerade dieses Modell bietet eine bessere Grundlage, das Wirken Volgers und das von Institutionen, wie dem Hochstift, zu 76 77
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Mitchell G. Ash, Wissenschaftspopularisierung und Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert, in: GG 28, S. 322–334. Vgl. Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914); dies., Bilden, überzeugen, unterhalten. Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert, in: Carsten Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung, S. 221–244, dies.; Naturkunde oder Naturwissenschaft? Frauen und ihre naturwissenschaftlichen Schriften im 19. Jahrhundert, in: Sylvia Paletschek (Hg.), Popularisierung von Wissenschaft (Historische Anthropologie, Kultur, Gesellschaft, Alltag, 16, Heft 1), S. 74–91; Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914; ders., Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den Anfängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848, in: HZ 267, S. 57–90. Vgl. die Beiträge in Carsten Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung; Lothar Gall/Andreas Schulz (Hg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 393. Ebenda, S. 26. Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung, S. 148. Vgl. Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.), Expository Science: Forms and Functions of Popularisation.
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erklären, denn in ihm werden auch die Auswirkungen auf die Wissensproduzenten deutlich. Zunächst einmal zu Otto Volger. Dessen Schriften können nicht nur als populärwissenschaftlich bewertet werden, denn Volger präsentierte in ihnen zugleich neue wissenschaftliche Ergebnisse. In Folge bedauerlicher Mißstände war man bis auf die neueste Zeit gewohnt, Belehrungsschriften in allgemein ansprechender und verständlicher Form von Verfassern angefertigt zu sehen welche in der Wissenschaft auf sehr untergeordneten Stufen standen und in keinem Theile derselben ein wirkliches Eigenthumsrecht beanspruchen konnten. Man pflegt daher auch jetzt noch in solchen Schriften nicht Ergebnisse eigener und neuer Forschungen ihrer Verfasser zu vermuthen [...]. [...] Deshalb halte ich für nötig, hier ausdrücklich hervorzuheben, daß folgende Theile des Inhaltes dieses ,Buches der Erde‘ so, wie sie hier angegeben worden, durchaus mein Eigenthum, selbstständige Ergebnisse meiner Forschungen und zum Theil noch niemals anderweit veröffentlicht sind.83
Diese Verknüpfung, welche die Präsentation neuer wissenschaftlicher Ergebnisse und zugleich die Wissenschaftspopularisierung miteinander verband, wurde von einigen Zeitgenossen deshalb kritisiert. Wir bedauern nur, daß das Publicum, welches dieses Buch der Erde liest, darüber gar kein Urtheil hat, da es sich doch eben erst unterrichten will und können es durchaus nicht billigen, daß in einem populären Buche, welches nur die feststehenden Resultate der Wissenschaft in weiteren Kreisen zu verbreiten die Aufgabe haben kann, die Wissenschaft einseitig reformiert wird.84
Auch in Bezug auf die Organisation des Hochstifts verwischen sich die Grenzen. Unter diesem Aspekt stellt das Nationalkonzept Volgers, wenn man es denn wirklich ernst nimmt, einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis dar. Mit ihm begründete Volger in Anlehnung an Fichte die herausragende Stellung der Deutschen in Wissenschaften und Kultur. Insofern ist jeder Deutsche ein potenzieller „Dichter und Denker“ und Volger sieht diese in jeder Hütte, an der Werkbank, im Kontor und den Ratsstuben sitzen. Die nationale Zugehörigkeit schafft die Voraussetzung für das notwendige kognitive Verständnis. In diesem Sinne betrachtete Volger jede Wissenschaft als Produkt nationaler Eigenart und seine Sprachreform zielt nicht nur auf die populäre Wissensvermittlung, sondern er beanspruchte, die gesamte Wissenschaftssprache einzudeutschen. Die nationale Komponente sollte also zu einer Verschränkung (Interaktion) von Wissenschaft und Wissensvermittlung führen. Für die Wissenschaften bedeutete ihre „Verdeutschung“ eine „zweite Reformation“, die schon Arnold Ruge gefordert hatte.85 Erst dann, wenn die Barrieren zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit überwunden würden, könnte die erhoffte nationale Integrationswirkung einsetzen.
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Otto Volger, Das Buch der Erde, Bd. 2, S II. f. Literarisches Centralblatt für Deustchland, Nr. 16, 20.4.1861, S. 260. Arnold Ruge, Sämmtliche Werke, 10. Band, S. 387.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
Außerdem galt für die Gründer des Hochstifts nicht die universitär organisierte Wissenschaft als alleiniges Ideal.86 Den Universitäten bestritt man dieses Monopol sogar, da sie vorrangig Ausbildungsstätten für Staatsdiener seien. Die Vereine, die selbstforschenden Gelehrten und jene, die man als Erfinder bezeichnen kann, wurden dagegen als Wissensproduzenten ernst genommen. Die wissenschaftlichen Vereine haben eine „unendliche Vielseitigkeit der Wissenschaften [...] herbeigeführt“.87 Das Hochstift, so der Salineninspektor Hans Tasche, gehe eben „nicht von einem Staat oder einer Regierung“ aus, sondern konstituiere sich „durch freie und selbstständige Vereinigung deutscher Bürger“ und sei deshalb ein freies, weil es den Zwang und das Zunftmäßige, welches noch auf einem großen Theil der deutschen Hochschulen herrscht, umgehen will und Jeden gastlich aufnimmt, den Wissens= oder Lehrdrang zu ihm hinführt.88
Bei der Vielzahl und den Unterschieden innerhalb der wissenschaftlichen Vereine im 19. Jahrhundert wurden schon von Zeitgenossen immer wieder Vorwürfe des Dilettantismus laut.89 Schon Goethe stellte eine Klassifikation auf, die über den Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten Auskunft gibt. Bei ihm blieb aber die Messlatte für den Dilettanten das Genie des Künstlers.90 In Bezug auf die Wissenschaften begann sich im 19. Jahrhundert erst langsam die Vorstellung durchzusetzen, anstelle des mit enzyklopädischem Wissen ausgestatteten Bildungsgelehrten ein durch universitäre Ausbildung und spezialisierte wissenschaftliche Systematik befähigtes Fachmenschentum zu setzen.91 Die Unterscheidung zwischen Dilettanten und Gelehrten erfolgte in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht über die Zugehörigkeit zu einer Hochschule. Der Historiker Johann Georg Meusel (1743–1820), der mit seinen kompilatorischen Werken zu Bekanntheit gelangt war – unter anderem gab er die Reihe „Das gelehrte 86
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Vgl. Constantin Goschler, Wissenschaftliche „Vereinsmenschen“. Wissenschaftliche Vereine in Berlin im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit, in: ders. (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin 1870–1930, S. 31–64. Die Wissenschaftlichen Vereine bezeichnet Goschler als „soziale Orte einer ,scientific communitiy‘ und auch als „Vermittlungsinstanz zwischen Wissenschaft und Laienpublikum“, wobei sich dort zeigt, dass „die Trennung von Wissenschaftlern und Laien als Konstruktionsleistung zu verstehen ist, die – wenigstens bis zur abgeschlossenen Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen mit anerkanntem professionellen Status – mit einer ständigen Neudefinition der Grenzen zwischen beiden Gruppen einhergeht.“ S. 32. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 21. Hans Tasche, Bilder auf der Reise zur Naturforscherversammlung in Königsberg im Herbst 1860, S. 43. Hans Tasche (1820–1864) war Salineninspektor in Salzhausen und gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Freien Deutschen Hochstifts, vgl. Franz Lerner, Die ersten Mitglieder, S. 65; Ber. FDH 1864, S. 150–152. Vgl. Andreas Schulz, Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, S. 34–52. Johann Wolfgang von Goethe, Ueber den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten (1799), in: Goethes Sämmtliche Werke, Bd. 13, S. 254–270. Rüdiger vom Bruch, Vom Bildungsgelehrten zum wissenschaftlichen Fachmenschentum, S. 590 f.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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Teutschland“ heraus – versuchte sich an einer Definition des „Gelehrten“, auf deren Fundamenten noch das Hochstift aufbaute.92 In der Tradition der Aufklärung verhaftet, beschrieb Meusel die Gelehrsamkeit als eine Fortentwicklung der „gelehrten Kenntnisse des menschlichen Geistes“, die er in einem enzyklopädischen Überblick veranschaulichte.93 Gelehrsamkeit definierte Meusel als „Inbegriff solcher Kenntnisse, die wegen ihres Umfanges und ihrer Wichtigkeit verdienen mit Gründen schriftlich abgefasst und methodisch vorgetragen zu werden“ und ein Gelehrter „ist folglich ein Mensch, der in dem Besitz des Inbegriffs solcher Kenntnisse ist“.94 Für Meusel zählte allein die methodische Wissensvermehrung95 als Klassifikation. Es wurde aber durchaus zwischen Gelehrten und Dilettanten differenziert. Beispielsweise gingen Mitglieder der Versammlung der Germanisten, die 1846 in Frankfurt am Main tagte, auf Distanz zu den Geschichtsvereinen, weil man sich um das wissenschaftliche Niveau der Zusammenkunft sorgte.96 Aber es wurde ausdrücklich nicht davon gesprochen, nur Akademiker einzuladen, sondern Männer, „welche ihre Betheiligung am Fortschritte der deutschen Wissenschaft durch ihre Arbeiten oder im Amte dargelegt haben“.97 Die Unterscheidung beruhte in erster Linie auf dem allgemeinen Bildungsstand und den bisherigen Leistungen der Teilnehmer.98 In seinem Sendschreiben an die Germanistenversammlung ging auch Hans von Aufseß auf dieses Thema ein. Er regte eine Generalversammlung aller deutschen Geschichtsvereine an und erläuterte seine Ideen für ein allgemeines deutsches Museum. Er befürwortete die Beteiligung der Geschichtsvereine, nahm aber auf den Einwand Bezug, dadurch würde ein Dilettantismus in die Versammlung einziehen: Hat man auch früher den historischen Vereinen von Seite mancher gelehrten Forscher vielleicht nicht ganz mit Unrecht den Vorwurf gemacht, dass in vielen derselben der Dilettantismus zu sehr vorherrsche und es daher in eigenem Selbstgefühl unter seiner Würde gehalten,
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Meusel studierte in Göttingen klassische Philologie und Geschichte, wirkte nach Aufenthalten in Halle und Erfurt seit 1779 als Professor für Geschichte in Erlangen. Vgl. Hans-Otto Keunecke, „Johann Georg Meusel“, NDB 17, S. 274–275. Vgl. Johann Georg Meusel, Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit (3 Bd.). Ebenda, 1. Bd., S. 1. Erst im 19. Jahrhundert begann mit der Durchsetzung von Paradigmen, sich die „moderne“ Wissenschaft auszubilden, vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, hier S. 57–64. Katinka Netzer, Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht, S. 43–44. Hans von Aufseß, Einladung an die Germanisten zu einer Gelehrten=Versammlung in Frankfurt a. M., in: Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main, S. 6. Wie schwierig eine Scheidung zwischen „Dilettanten“ und „Wissenschaftlern“ für die Mitte des 19. Jahrhunderts ist, zeigt die Bewertung der Leserschaft der von Adolf Schmidt herausgegeben „Zeitschrift für deutsche Geschichte“ durch Katinka Netzer. Einmal ist es eine Zeitschrift, die „von historisch interessierten Laien gelesen wurde“, später gilt sie als „wichtiges Organ für die deutsche Geschichtswissenschaft“. Katinka Netzer, Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht, S. 44 u. 49.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger mit ihnen in ein näheres Verhältnis zu treten, so ist doch diese Zeit vorüber, und wir sehen nun eine ganze Reihe namhafter Gelehrter unter den thätigen Gliedern der Vereine.99
Er würdigt die umfassenden Leistungen, die von den historischen Vereine bereits erbrachten wurden und sieht in den engeren Zusammenschlüssen der Vereine und ihrer Verbindung mit den Gelehrten eine Möglichkeit, den Dilettantismus in der Vereinsarbeit zu beseitigen: Ein engeres persönliches Verhältnis der Vereine unter sich selbst und mit den ausser ihnen stehenden gelehrten Forschern würde gewiss ein Hauptmittel sey, auch jene noch hie und da bemerkbaren schwachen Seiten eines historischen Dilettantismus, der an sich gewiss nicht zu verwerfen ist, so wie eines Mangels planmässigerer Verfolgung der Vereinszwecke zu heben.100
Der Dilettantismus war auch für Aufseß nicht gleich bedeutend mit Vereinstätigkeit, sondern verkörperte einen Mangel, der durch richtige Anleitung aus der Vereinsarbeit eliminiert werden kann. Auch das Hochstift betrachtete die Vereine als Wissensproduzenten und nicht nur als Vermittlungsinstanz. Der Begriff der Popularisierung wird nicht benutzt. Die Vermittlung von Wissen war durchaus eine Aufgabe des Hochstifts, um der deutschen Öffentlichkeit den Vorsprung der deutschen Wissenschaft zu vermitteln und um damit das nationale Selbst- und Einheitsbewusstsein zu fördern.101 Gleichzeitig war die Öffentlichkeit Reservoir zukünftiger Wissensproduzenten, wenn sie sich etwa an Vereinen und an der Hochschule des Hochstifts beteiligte. Wenn Angela Schwarz für die Popularisierung feststellt: Eine Überwindung der Hierarchie in der Weise, daß aus dem Publikum Wissensproduzenten geworden wären, ohne daß sie eine naturwissenschaftliche Ausbildung durchlaufen hätten – also etwa eine Bereicherung der Wissenschaft durch Amateurforschung – strebten sie nicht an102,
so gilt das nicht für das Beispiel des Hochstifts. Dort sollten die „Rezipienten [...] nicht länger von der Wissensproduktion ausgeschlossen“ werden“.103 Wissensvermittlung besaß dort ein dynamisches Moment, denn dadurch konnte der jeweiligen Person der Weg in die Wissenschaft geöffnet werden und die Produktion von Wissen war schließlich für die Deutschen als „Mittelpunkt der gebildeten Welt“ eine weltgeschichtliche Mission. Eine reine Popularisierung lehnte Volger ab und äußerte sich kritisch über deren Autoren, wie etwa Emil Adolf Roßmäßler104. So sei das 99 100 101 102 103 104
Sendschreiben an die erste allgemeine Versammlung deutscher Rechtsgelehrten, Geschichtsund Sprachforscher zu Frankfurt am Main, S. 17. Ebenda, S. 18. So auch das Beispiel des GNM, vgl. Barbara Wolbring, Politisch motivierte Popularisierung im Fall des Germanischen Nationalmuseums, S. 214. Angela Schwarz, Bilden, überzeugen, unterhalten. Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert, S. 226. Carsten Kretschmann, Einleitung. Wissenschaftspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in: ders., Wissenspopularisierung, S. 9 f. Vgl. Andreas Daum, Wissenspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 142 f.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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populäre Schreiben [...] gegenwärtig wahre Modesache, aber ich denke, man wird es bald allseitig dick und fett bekommen und es wird ein wahrer Sumpf daraus entstehen.105
Die Gestaltung der Klasse der Meisterschaft des Hochstifts ist ein weiterer Beleg für das beschriebene Verhältnis von Wissenschaft und Wissensvermittlung. Die Ernennung sollte aufgrund außerordentlicher Leistungen in den Wissenschaften erfolgen, aber nicht an akademische Titel und Abschlüsse gebunden sein. Nur die Bezeichnungen Genosse (für ein einfaches Mitglied) und Meister (für ein ausgezeichnetes Mitglied) sollten die Mitgliedschaftsurkunden zieren, alle anderen akademischen Titel oder sonstigen Titel und Ehrenbezeichnungen dagegen fehlen.106 Das hochstiftseigene Reglement war die einzige Klassifizierung der Mitglieder. Die Vorschläge zur Aufnahme in die Meisterschaft sollten durch eine Abstimmung aller Mitglieder in den ordentlichen Sitzungen erfolgen. Auch hier wurde keine Unterscheidung zwischen Wissensproduzenten und Rezipienten vorgenommen, allein das demokratische Mittel der Wahl war entscheidend. Nur die weiblichen Mitglieder waren von allen Abstimmungen ausgeschlossen, allerdings stand auch ihnen die Klasse der Meisterschaft offen.107 1.4. Wissenschaftliche Tätigkeiten 1859–1881 1.4.1. Kooperationen Das Freie Deutsche Hochstift war von Beginn an darauf angelegt, eine nationale Organisation zu sein, um bestehende Vereine und Gesellschaften zu vernetzen und im Hochstift zusammenzuführen. Als erste Organisation sollte die „Leopoldina“ an das Freie Deutsche Hochstift angeschlossen werden. In den folgenden Jahren versuchte man daher, Verhandlungen mit der Akademie aufzunehmen, um sich mit ihr über eine weitere Kooperation zu verständigen. Von besonderem Interesse war für Volger der traditionsreiche Nimbus einer freien, aus dem Alten Reich stammenden akademischen Versammlung, deren Mitglieder einen beachtlichen Beitrag zur Konstituierung einer hochstiftseigenen Gelehrtenversammlung geliefert hätten. In einem Brief an den österreichischen Bundespräsidialgesandten Aloys von Kübeck schrieb Volger 1862: Gleichwohl legt das Hochstift auf diese Akademie der geschichtlichen Überlieferung wegen eine große Wichtigkeit. Das Hochstift hat sich übrigens ausdrücklich die Aufgabe gestellt, ihr in Frankfurt eine Stätte zu bereiten und offen zu halten. Dieselbe würde die naturwissenschaftliche Sektion des Hochstiftes bilden.108
Unterstützung fand man bei einigen Adjunkten (Sekretären) der Akademie, die mit Volger in Verbindung standen. So befanden sich unter den ersten zwölf gewählten Meistern des Hochstifts bereits fünf Mitglieder der Akademie. Auch in105 106 107 108
Otto Volger an seine Eltern, 5.7.1856, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 3308. Ber. FDH 1864, S. 62. Satzungen des Hochstiftes (1859), Satz 11, S. 5. Zit. nach Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 94.
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nerhalb der Akademie wurden Diskussionen über organisatorische Reformen geführt, die vor allem dahin abzielten, einen festen Sitz zu finden. Besonders der Botaniker Dr. Berthold Seemann (1825–1872) unterstützte Volgers Ideen und warb als Herausgeber der botanischen Zeitschrift „Bonplandia“ für das Hochstift. In der „Bonplandia“ erschienen regelmäßig Auszüge aus den Berichten des Hochstifts, dessen Tätigkeiten und Zielstellungen von Seemann ausdrücklich begrüßt wurden und der in seiner Zeitschrift für neue Mitglieder warb. Seemann und der ehemalige Adjunkt Theobald Schideck waren davon überzeugt, dass eine Verbindung mit dem Hochstift alsbald möglich sei und innerhalb der Akademie eine Mehrheit diesen Plan unterstütze. Das Hochstift veröffentlichte in seinen Berichten diese Erwartung bereits als eine Tatsache und im April 1860 konnte man dort lesen, dass „die Bestrebungen des Hochstiftes mit derjenigen der Akademie demnächst Hand in Hand gehen“.109 Zu Volgers Ungunsten machte sich allerdings der Umstand geltend, dass sich Seemann mit dem Präsidenten der Akademie, dem Jenaer Professor der Medizin Georg Dietrich Kieser, überworfen hatte. Kieser entzog der „Bonplandia“ den Status eines amtlichen Mitteilungsblatts und rief mit der „Leopoldina“ eine eigene Zeitschrift ins Leben. Umso mehr mussten die werbenden Artikel, die ab 1860 in der „Bonplandia“ erschienen, Kieser verärgern, der sich schließlich zu einer öffentlichen Stellungnahme veranlasst sah und am 6. Dezember 1861 erklärte: Es ist in neuerer Zeit der Versuch gemacht worden, die altehrwürdige Kaiserliche Leopoldino-Carolinische Akademie mit dem in Frankfurt a. M. gebildeten sogenannten Hochstift innig zu verbinden oder zu verschmelzen, und dadurch die bewährte Selbstständigkeit der Akademie in Frage zu stellen und zu gefährden. [...] Wir können jedoch unsern verehrten Lesern zur Beruhigung mitteilen, dass nicht die mindeste Aussicht vorhanden ist, jenen abenteuerlichen Plan ausgeführt zu sehen.110
Hinter den Bemühungen um die alte Akademie stand nicht nur die Hoffnung, das Renommee des jungen Frankfurter Vereins zu stärken, sondern sie waren ein wesentlicher Versuch, die konzeptionelle Idee des Hochstifts zu verwirklichen. Die Akademie wäre nicht nur für die Naturwissenschaften im Hochstift eine bedeutende Prestigesteigerung gewesen, sondern auch ein wesentlicher Baustein für eine naturwissenschaftliche Fakultät, deren Mitglieder aus ganz Deutschland kommend, den nationalen Anspruch des Hochstifts symbolisiert hätten. Auch wenn Volger immer wieder auf die ehrwürdige Tradition der Akademie hinwies, so unterschätzte er doch die Beharrungskräfte der Institution. Trotz der akademieinternen Diskussionen über eine institutionelle Neugestaltung war man nicht bereit, das eigene Prestige auf eine unbekannte Neugründung wie das Freie Deutsche Hochstift zu übertragen. Da halfen auch die Zusicherungen Volgers nicht, die Akademie nicht einfach anzugliedern. Die Verfassung des Hochstiftes sei von vorn herein darauf angelegt, nicht allein den hierselbst bereits bestehenden oder noch zu begründenden Vereinen zur Pflege einzelner Wissenschaften, Künste und allgemeinen Bildungsrichtungen, sondern vorzüglich auch jener ruhm109 Ber. FDH 1860, S. 51. 110 Ebenda, S. 92.
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vollen kaiserlichen Stiftung des heiligen Reiches den Anschluss an das Streben nach gleichem Zwecke unter vollkommenster Bewahrung der Selbstständigkeit und der eigenen Verfassung möglich machen.111
Auch um eine engere Bindung der „Bonplandia“ an das Hochstift bemühte sich Volger.112 Dahinter stand die Idee, die er bereits 1860 formuliert hatte: Der Vorsitzende legte dar, wie wichtig für das Gedeihen des Hochstiftes eine solche Unterstützung sein müsse und wie wünschenswerth es sei, dass Zeitschriften aller verschiedenen Fächer in ähnlicher Weise mit dem Hochstifte in Verbindung treten möchten, um demnächst, wenn in Folge einer wachsenden Entwicklung des Hochstiftes die Berichte desselben nothwendig nach den verschiedenen Wissenschaften geordnet und gesondert werden müssten, allenfalls jene Zeitschriften selbst an die Stelle dieser Berichte treten lassen zu können.113
Allerdings stellte Seemann 1862 die „Bonplandia“ ein. Die Bemühungen um die Akademie erhielten 1863 noch einmal eine neue Dynamik, nachdem das Hochstift 1863 das Goethe-Haus in Frankfurt erworben hatte. Damit besaß der Verein ein prestigeträchtiges Versammlungslokal und beendete seine eigene Wanderexistenz. Man bot das Haus der Akademie als Aufstellungsort für deren Bibliothek an. Der Name Goethe schien dafür besonders geeignet, da ihr neuer Präsident, der Arzt und Maler Carl Gustav Carus (1789–1869), in künstlerischen und naturwissenschaftlichen Fragen mit Goethe korrespondiert hatte und 1863 das Buch „Goethe, dessen Bedeutung für unsere und die kommende Zeit“ veröffentlichte. Carus und die Mehrheit der Mitglieder lehnten die Offerte aber ab. Den Vorschlag, das Goethe-Haus für ein Depositum zu nutzen, machte Volger auch im Hinblick auf die GDNA. Das Hochstift war auch zu dieser Vereinigung trotz aller Erwartungen noch in keine nähere Verbindung getreten und so hoffte man, dass die GDNA zumindest bereit sei, ihr Archiv im Goethe-Haus unterzubringen. Volger reiste zur Versammlung der Naturforscher am 17. September 1864 nach Gießen, um sein Angebot zu unterbreiten.114 Dort erwog man aber zunächst, das Archiv der „Leopoldina“ zu übergeben. Dagegen erhoben Volger und der ihn begleitende Arzt Karl Heinrich Schultz, Adjunkt der Akademie und Meister des Hochstifts, energischen Widerspruch. Volger war gegen eine solche Verbindung, denn man solle nicht „den neuen Wein auf alte Schläuche füllen“.115 Er übte nun scharfe Kritik an den überholten Formen der Akademie, die Volger umso offener aussprechen konnte, da die Verhandlungen über eine Zusammenarbeit gescheitert waren. Während er die „Leopoldina“ als eine vollkommen veraltete Organisationsform bezeichnete, stellte er ihr das Hochstift entgegen: Dagegen sei das Hochstift völlig dazu geeignet, denn es habe einen festen Sitz in Deutschlands geschichtlicher Mittelstadt und besitze in seinen inneren, gänzlich dem Geiste der Neu111 112 113 114 115
Ber. FDH 1860, S. 51. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 93. Ber. FDH 1860, S. 52. Vgl. Amtlicher Bericht der 39. VDNA in Gießen 1864, S. 18. Ber. FDH 1864, S. 146. Im gedruckten Bericht der VDNA fehlen dieses Ausführungen Volgers.
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Die Versammlung lehnte aber mehrheitlich Volgers Ansinnen ab. Besonders erzürnte es ihn, dass sich ausgerechnet der Gegenvorschlag von Carl Vogt durchsetzte, die Sache so zu belassen, wie sie bisher gewesen, und die Akten, die nicht so viel werth seien, als die Zeit, die darüber versprochen wurde, denjenigen zu überlassen, die sie gemacht haben.117
In den Berichten des Hochstifts entgegnete Volger Vogt, den er einst als „vaterlandslosen Revolutionsgeologen“ bezeichnet hatte: Diesen Werth kann nur Derjenige geringschätzig verspotten, für den überhaupt Alles lächerlich ist, was an dem Zusammenhang des Heute mit dem Gestern und die Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit erinnert.118
Neben diesen Versuchen, die beiden genannten Gesellschaften und ihre Archive in ein näheres Verhältnis zum Hochstift zu bringen, entwickelte Volger auch Pläne, in Frankfurt eine Art „Nationalarchiv“ bzw. eine „Deutsche Nationalbibliothek“ einzurichten. Alle wissenschaftlichen Vereine in Deutschland sollten ihre Schriften dem Hochstift übergeben, um sie in einer Art „Nationaler Vereinsbibliothek“ im Goethe-Haus aufzustellen. Zwar war zwischen vielen Vereinen ein Schriftenaustausch üblich, aber es fehlte ein zentrales Verzeichnis, das einen Überblick über alle Vereine und deren Veröffentlichungen vermittelte. Das Hochstift sollte daher ein „allgemeiner Austausch= und Brennpunkt für die Leistungen aller dieser Deutschen Vereine“ werden.119 Neben der Sammlung ihrer Schriften sollte eine jährliche, nach Fächern und Gegenständen geordnete Übersicht und Inhaltsanzeige der Arbeiten und Druckschriften aller Vereine, somit ein ,Jahrbuch der Deutschen Geistesarbeit‘ herausgegeben werden, um ein allgemeines Bekanntmachungs= und Mittheilungsblatt für alle Vereine
zu bieten.120 Hierfür waren allerdings noch weitere Vorarbeiten erforderlich, denn in Deutschland, dem „Land der Vereine“, existierten zahlreiche Vereine, deren Zahl in den Jahren um 1854 auf ca. 14.000 geschätzt wird.121 Die Vereinslandschaft begann sich Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker zu differenzieren, was die Unübersichtlichkeit vermehrte.122 Das Hochstift musste deshalb zuerst eine Bestandsaufnahme in Bezug auf die bestehenden Vereine vornehmen. Dazu plante man, ein Vereins-Handbuch herauszugeben, das der aus Regensburg stammende 116 117 118 119 120 121
Ebenda. Amtlicher Bericht der 39. VDNA in Gießen 1864, S. 19. Ber. FDH 1864, S. 147. Ber. FDH 1865, S. 1. Ebenda. Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der „bürgerliche Verein“ 1820–1870. Deutschland und England im Vergleich, S. 193. 122 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 269.
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Hans Adam Stoehr verfassen sollte. 123 Allerdings erschien der erste Band erst 1873 und er umfasste nur das Gebiet des Deutschen Reiches. Ein zweiter Teil war für Österreich geplant, er kam aber nicht mehr zustande. Mit Stoehr war es zu einem Zerwürfnis über die Druckkosten gekommen, die das finanzschwache Hochstift nur mit Mühe aufzubringen konnte.124 Im Vorwort heißt es, das Handbuch solle dazu dienen, alle existierenden Vereine zu erfassen, sie in kurzen Beschreibungen vorzustellen, um mit dieser Erschließung eine „höhere Verwerthung für die Nationalentwicklung“ zu leisten.125 Neuen Vereinen sei damit zugleich die Möglichkeit geboten zur „Anknüpfung allseitigen Verkehrs und Austausches.“126 Die „Pflege des geistigen Deutschen Vereinslebens“ wird als eine Hauptaufgabe des Hochstifts genannt und die Vereine werden zum Anschluss und zur Einsendung ihrer Schriften aufgefordert.127 Aber auch diese Hoffnungen, die man mit dem Vereins-Handbuch gehegt hatte, erfüllten sich schließlich nicht und traten in den folgenden Jahren immer mehr in den Hintergrund. Hinzu kam schließlich noch das Scheitern der Kooperationsbemühungen auf der lokalen Ebene. Um die Mitglieder der Frankfurter Vereine für die Ideen des Hochstifts zu gewinnen, hatte man 1859 sogar beschlossen: Zu dem Vereine welchen wir heute gründen, haben alle Mitglieder der hier bestehenden Verein freien Zutritt; eben damit bietet unser Verein das Mittel dar, um die Bestrebungen aller dieser Verein einem gemeinsamen höheren Ziele entgegen zu führen.128
Dafür sollten Berichte aller je im nächstfolgenden Halbjahre in Frankfurt a. M. stattfindenden Hochstifts=Sitzungen, aller wissenschaftlichen und künstlerischen Vorträge, aller zur Benutzung sich darbietenden Sammlungen, Ausstellungen und sonstigen wissenschaftlichen und künstlerischen Bildungsmittel
veröffentlicht werden.129 Man plante sogar die Herausgabe eines Tageszettels, mit dem Einheimische und Fremde, aber auch Durchreisende die Möglichkeit erhalten hätten, von Stunde zu Stunde alle stattfindenden Vorträge, geöffneten Sammlungen und vorkommenden Versammlungen und wissenschaftlichen oder künstlerischen Schaustellungen
zu erfahren.130
123 Hans Adam Stoehr, Deutsches Vereins-Handbuch – Statistisches Repertorium der Gelehrten Gesellschaften und Wissenschaftlich-gemeinnützigen Vereine der Staaten des dermaligen Deutschen Reiches, (herausgegeben vom Freien Deutschen Hochstifte), Frankfurt a. M., 1873. 124 Für den Druck bewilligte man 1.113 Gulden, Protokoll (abgekürzt Prot.) Ordentliche Sitzung (abgekürzt OS), 29.12.1872, FDH-Hausarchiv (sowie alle weiteren zitierten Protokolle). 125 Hans Adam Stoehr, Deutsches Vereins-Handbuch, S. XI. 126 Ebenda. 127 Ebenda, S. XII. 128 Ber. FDH 1860, S. 4. 129 Ebenda, S. 18. 130 Ebenda.
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Trotz aller Sympathien, die Volger und das Hochstift genossen, betrachtete man es in Frankfurt nur als einen weiteren Bildungsverein, ohne ihm die Berechtigung zu übertragen, diese „Vereine und Anstalten selbst als Theile seines eignen Planes zu betrachten“ zu können.131 Das Hochstift erwog nun, eigene Ressourcen zu schaffen. Man begann nun gezielt, eine eigene Bibliothek aufzubauen, und Otto Volger schlug im Januar 1864 der Verwaltung vor, eigene Fachabteilungen zu bilden und in Städten in ganz Deutschland Zweiggenossenschaften des Hochstifts zu gründen.132 Diese Vorschläge wurden aber nicht umgesetzt. Das Jahr 1866 und seine politischen Auswirkungen führten zu weiteren Einschränkungen der Tätigkeiten und die Kosten für das Goethe-Haus belasteten den Haushalt. Im Frühjahr 1866 musste die Herausgabe von Berichten eingestellt werden. Erst ab 1880 erschienen sie wieder regelmäßig. Es war nicht mehr zu übersehen, dass die Ansprüche des Hochstifts weit hinter der Realität zurückgeblieben waren. Volger hielt aber unbeirrt an seinen Grundsätzen fest, was eine Episode aus dem Jahr 1866 verdeutlicht. Nach der Eingliederung Frankfurts in den preußischen Staat wurde von der preußischen Regierung die Gründung einer Universität in Aussicht gestellt, um der Stadt eine Kompensation für den Verlust ihrer Souveränität zu bieten.133 In Frankfurt stieß dieser Plan durchaus auf Zustimmung, der sogar so weit ging, die Universität Marburg an den Main zu verlegen. Die Frage wegen einer Gründung einer Universität in Frankfurt wird vielfach besprochen, und man hält den Plan für sehr praktisch. [...] Das könnte eine Grundlage für die neue, in größerem Umfange zu begründende Hochschule in Frankfurt werden, speziell für die einverleibten Länder Nassau, Frankfurt und Kurhessen, aber auch für Hessen-Darmstadt. Die Stadt würde das Unternehmen auch gut fundieren und unterstützen [...]. [...] Kurios ist bei dieser Angelegenheit, daß jetzt das Deutsche Hochstift mit dem Ehrgeiz hervortritt, daß es ja längst diesen Gedanken verwirkliche, die Sache sei gar nicht neu, man solle nur auf seiner Bahn fortschreiten! Wenn das geschähe, kämen wir vielleicht in 50 Jahren zu einer Universität!134
Diese Einschätzung der Preußischen Kreuzzeitschrift in Bezug auf das Hochstift war nicht überraschend, denn es galt in Wiesbaden und Berlin als preußenfeindlich. Zugleich verwies der Artikel indirekt auf die bisherigen geringen Leistungen des Hochstifts. Einen Tag früher hatte die Verwaltung des Hochstifts nämlich zu diesen Plänen erklärt: Die Verwaltung tritt der Ansicht des Herrn Dr. Volger bei, dass das von der hiesigen Presse ersehnte Institut, falls dasselbe eine Vorbereitungsschule für künftige Staatsdiener werden solle, mit der Tendenz des Freien Deutschen Hochstiftes, als eines allgemeinen Sammelpunktes für jegliche freie Thätigkeit auf wissenschaftlichen und künstlerischen Gebiete, nichts gemein habe, eher derselben entgegengesetzt sei; dass aber im anderen Falle diese Anstalt
131 Ebenda. 132 Prot. Verwaltungssitzung (abgekürzt VS), 5.1.1864, FDH-Hausarchiv. 133 Vgl. Richard Schwemmer, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1814–1866, 3. Bd./II, S. 543; Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866– 1914), S. 117 f. 134 NPKZ, 17.10.1866, zit. nach Wolfgang Klötzer, Frankfurt 1866, S. 295.
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nicht jetzt erst geschaffen zu werden brauche sondern in dem Hochstifte bereits existiere und nur ihrer weiteren Ausbildung entgegen sehe.135
Volger favorisierte immer noch eine freie und bürgerliche Universität als Alternative zu den staatlichen Hochschulen. Andere Frankfurter Bürger, wie Carl Christian Jügel136, sahen eher die wirtschaftlichen Vorteile einer Universität. Die Universität, so Jügel, würde uns pecuniären Nutzen bringen und für den Kleinbürger ein Mittel werden, sich durch in Wohnung- und Kostnahme von Studirenden ihr Einkommen zu verbessern, sondern sie würde auch in geistiger Beziehung eine melkende Kuh für uns werden und dem leidigen Geldsack durch das Zusammenwirken so vieler geistiger Elemente mit grossem Erfolg die Spitze bieten.137
Aber in Frankfurt erhielt das Hochstift keine nennenswerte Unterstützung für seine Position. Um über diese Angelegenheit zu beraten, hatte die Hochstiftsverwaltung 34 Vorstände Frankfurter Vereine und Stiftungen zu einer Konferenz eingeladen, erhielt aber nur eine einzige Zusage.138 Volger orientierte sich bei allen diesen Bemühungen immer an einer nationalen Wissenschaftsgemeinschaft. Internationale Kooperationen lehnte er entschieden ab. Die Universitäten Schottlands planten beispielsweise 1860 unter Führung des Mediziners James Young Simpson139 (1811–1870), Professor für Geburtshilfe an der Universität Edinburgh, die Gründung eines internationalen wissenschaftlichen Kongresses. Alle Vertreter der Wissenschaften sollten sich dazu abwechselnd in europäischen Städten treffen, um sich über ihre Fachgebiete auszutauschen. Neben Städten, wie Paris, Berlin und St. Petersburg, waren Treffen in Gotha und Frankfurt am Main geplant. Im Grunde stellte der Kongress eine internationale Variante der GDNA dar und diese deutsche Gelehrtenversammlung sollte im Rahmen dieser Kongresspläne „ihren specifisch deutschen Charakter ablegen und einen internationalen annehmen“.140 Volger lehnte diese Idee wegen ihrer „kosmopolitische[n] Tendenz“ ab.141 Der Plan bilde [...] zu dem des Hochstifts insofern einen Gegensatz, als dieses die nationale Ausbildung der Wissenschaften, Künste und gesammten Bildung im Auge habe, jener Plan dagegen alle Nationalverschiedenheiten durch eine Allerweltswissenschaft verwischen wolle.142
135 Prot. VS, 16.10.1866. 136 Die beiden Söhne Jügels stellten 1901 mit den zwei Millionen Mark ihrer „Jügel–Stiftung“ einen wesentlichen Grundstock für die spätere Frankfurter Stiftungsuniversität zur Verfügung, vgl. Ludwig Heilbrunn, Die Gründung der Universität Frankfurt a. M., S. 33 f.; Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main, S. 121 f.; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 585 f. 137 Zit. nach Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 196. 138 Prot. VS, 30.10.1866. 139 Simpsons Verdienst war u. a. die Einführung des Chloroforms als Anästhetikum, vgl. Schmidt´s Jahrbücher der In- und Ausländischen Gesammten Medicin, Bd. 147, S. 127–128. 140 Bonplandia, 8. Jg., Nr. 23 u. 24, 15.12.1860, S. 382. 141 Frankfurter Nachrichten, Nr. 74, 28.6.1861, S. 586. 142 Ebenda.
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Durch die Begrenzung auf eine nationale Wissenschaftsgemeinde wurden andere Entwicklungs- und Kooperationsmöglichkeiten des Hochstifts abgeschnitten. Da sich aber keine weiteren Partner gefunden hatten, war es gezwungen, sein institutionelles Konzept mit seinen geringen Möglichkeiten allein auszubilden. 1.4.2. Vorträge In den öffentlichen Sitzungen wollte man für alle Zweige der Wissenschaften einen Ort des freien Austauschs und der Diskussion bieten, der allen Mitgliedern zur Teilnahme offenstand. Diese Sitzungen fanden in der Regel monatlich statt. In den ersten Jahren traf man sich sonntags, zuerst in den Räumen der Loge „Carl zum aufgehenden Lichte“ in der Gallusgasse, später in den Räumlichkeiten der Saalbau A.G. in der Junghofstraße, wo man drei Räume als Vortragssaal, Lesezimmer und Bibliothek mietete, bevor man ab 1863 ins Goethe-Haus umzog.143 In den Sitzungen wurden Vorträge gehalten, wissenschaftliche Werke und Erfindungen vorgestellt und darüber diskutiert. Einzelne Vorträge und Diskussionen über verschiedene Gegenstände fanden Eingang in die Berichte. Zu den Sitzungen wurde in der regionalen Tagespresse eingeladen, in der auch gelegentlich über die Sitzungen berichtet wurde. Für die überregionale Berichterstattung wählte das Hochstift die „Allgemeine Zeitung“ in Augsburg. Diese Pressemitteilungen waren für die Jahre von besonderer Bedeutung, in denen keine Berichte des Hochstifts erscheinen konnten. Die Häufigkeit der Sitzungen und die Menge der Vorträge variierten im Laufe der ersten Jahrzehnte beträchtlich. Nicht nur die schwierige finanzielle Situation des Hochstifts, auch die längeren Abwesenheiten Volgers zwischen 1867 und 1871 verhinderten eine kontinuierliche Tätigkeit.144 Es war vor allem Volger, der die Arbeit koordinierte und wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Sitzungen nahm. Vorträge und andere Beiträge mussten vorher bei der Verwaltung angemeldet und genehmigt werden145, ansonsten herrschte eine allgemeine „Lehr= und Lernfreiheit“.146 Um aber die sachliche und qualifizierte Beurteilung fremder Leistungen zu gewährleisten, sollten „beurtheilende und erörternde Besprechungen Dritter“ nur durch Mitglieder der Meisterschaft erfolgen.147 Dabei wurde ausdrücklich die Möglichkeit einer fachlich fundierten Gegendarstellung eingeräumt
143 Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 54. 144 Volger hielt sich in diesen Jahren für längere Zeit mit seiner Familie in Lüneburg auf. 1869 erkrankte er schwer und das Protokoll der Verwaltungssitzung vermerkt, dass er seit dem 18.12.1870 nicht mehr in Frankfurt gewesen war und das deshalb in dieser Zeit keine Sitzungen stattfanden. In Volgers Abwesenheit übernahm der Verwaltungsschreiber Georg Mandel die Vertretung, vgl. Prot. VS, 7.11.1870. 145 Ber. FDH 1864, S. 101. 146 Ebenda, S. 159. 147 Ebenda.
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unter Ausschluss jeder „Erörterung staatlicher Parteiungen und jeglichen Glaubenshader“.148 In den ersten Jahren dominierten die naturwissenschaftlichen Vorträge, was auf die große Zahl der naturwissenschaftlich gebildeten Gründungsmitglieder zurückzuführen ist. Von den 34 Vorträgen des ersten Jahres widmeten sich 20 naturwissenschaftlichen oder medizinischen Themen.149 Auch in den folgenden Jahren dominierten naturwissenschaftliche Vortragsthemen die Sitzungen. Es war vor allem auch Volger, der das Hochstift als ein Forum nutzte, seine naturwissenschaftlichen Theorien zu verdeutlichen. Wiederholt hielt er Vorträge, die sich gegen „Darwins Hypothese“ richteten.150 Viele der Vortragenden stammten aus Frankfurt und die Sitzungen spiegelten keineswegs den Rang eines nationalen Gelehrtenhofs wider. Dieser geringe Glanz führte schließlich dazu, dass immer weniger Mitglieder des Hochstifts bereit waren, Vorträge zu halten. Obwohl das Hochstift 1864 insgesamt 844 Mitglieder zählte, von denen 471 aus Frankfurt kamen, finden sich in den Sitzungsprotokollen immer wieder Ermahnungen an die Teilnehmer, Vorträge zu halten.151 Denn der „Austausch der Gedanken, Kenntnisse und Geisteserzeugnisse unter den Mitgliedern sei der ureigenste Zweck“ des Hochstifts.152 Seit Mitte der 1870er Jahre dienten die Sitzungen fast ausschließlich zur Vorlage von wissenschaftlichen Werken, Mitteilungen auswärtiger Mitglieder oder anderen Besprechungen. Sie lieferten vielmehr einen Überblick über die wissenschaftlichen Entwicklungen in Deutschland, ohne selbst wissenschaftliche Initiativen zu befördern. Dennoch bot das Hochstift mit seinen Sitzungen und den Berichten einigen Persönlichkeiten die Möglichkeit, ihre Arbeiten vorzustellen und sie einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Zu ihnen gehörten Wilhelm Bauer, Karl Schimper und Philipp Reis. Wilhelm Bauer (1822–1875) zählt zu den Pionieren der U-Boot-Entwicklung. Bauer, der als Artillerieunteroffizier der bayerischen Armee im Krieg um Schleswig-Holstein 1848 teilgenommen hatte, entwickelte zum Schutz der deutschen Küsten 1851 einen „Brandtaucher“, der allerdings in der Kieler Bucht sank.153 Er wurde 1861 in die Meisterschaft des Hochstifts aufgenommen und überließ dem Hochstift zum Dank das Modell eines Unterseeboots und Bergungsgegenstände aus dem von ihm gehobenen Dampfschiff „Ludwig“.154 Das Hochstift würdigte Bauers Erfindungen als Möglichkeiten, die deutschen Küsten im Falle eines 148 Ebenda. 149 Auch die Frankfurter Nachrichten bescheinigen, dass zumindest die letzte Sitzung „eine entschieden allgemeinere Färbung angenommen“ habe, Frankfurter Nachrichten, Nr. 17, 8.2.1860, S. 180. 150 Ber. FDH 1864, S. 74; Prot. OS, 9.9.1877. 151 Prot. OS, 27.8.1863. 152 Prot. OS, 13.5.1877. 153 Vgl. Ludwig Hauff, Die unterseeische Schifffahrt, erfunden und ausgeführt von Wilhelm Bauer; Oskar Gluth, Wilhelm Bauer. Der Erfinder des unabhängigen Unterseeboots. Sein Werk und seine Enttäuschungen im Rahmen seines Lebens dargestellt. 154 Ber. FDH 1864, S. 36.
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„Krieges mit einer Seemacht“ zu verteidigen.155 Bauer gehörte zu jenen von Volger gepriesenen Erfindern, die ohne akademische Ausbildung die technische Entwicklung vorantrieben, deren Wirken aber der Öffentlichkeit noch nicht vollständig bekannt war. Seine Entwicklungen brachten Bauer nämlich in Deutschland nur eine geringe Aufmerksamkeit ein, sodass er in England, Russland und Frankreich für seine Pläne warb. Aber auch dort fanden seine Konstruktionen nicht das erhoffte Interesse. Da der bayerische Landtag ein Gesuch Bauers um Unterstützung ablehnte, sprangen andere Geldgeber, wie der Herzog Ernst von SachsenCoburg-Gotha, ein. Besonders die „Gartenlaube“ warb in jenen Jahren für Bauers Arbeiten. Noch immer will man im Volke, ja selbst im Schooße des Nationalvereins, nicht bis zu der Einsicht vordringen, daß es allerdings Erfindungen giebt, deren Pflege und Ausführung nicht dem Privatcapital zu überlassen sind, sondern die ihrer Großartigkeit, Kostspieligkeit und – Einfachheit wegen von den Regierungen oder, wo diese nicht die Hand bieten, von der Nation in die Hand genommen werden müssen.156
In dieser Pflicht, für Bauer zu werben, sah sich auch das Hochstift. Man unterstützte eine öffentliche Spendensammlung und Bauer selbst steckte einen Teil seines geringen Vermögens in eine Stiftung, die als „Bauer-Hofmann-Stiftung“157 dem Hochstift angegliedert wurde. Sie sollte Preise für technische Erfindungen vergeben. Die Stiftung war allerdings ein vollkommener Misserfolg. Die Preisrichter beurteilten die eingereichten Arbeiten als nicht preiswürdig.158 Die Stiftung (4.500 Gulden) wurde schließlich 1883 aufgelöst, um ihr Kapital Bauers Witwe zur Verfügung zu stellen, die sich in einer finanziellen Notlage befand.159 Karl Schimper (1803–1867) war ein deutscher Botaniker und Geologe.160 Schimper entsprach ganz dem Ideal des Hochstifts als eines „selbstforschenden Gelehrten“, der niemals ein akademisches Amt bekleidete, aber durch seine Forschungen wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse lieferte. So prägte Schimper durch seine Arbeiten den Begriff der „Eiszeit“, beschäftigte sich mit der Bryologie (Kunde der Moose), schrieb Werke über die Flussströmungen und die vorzeitliche Witterungskunde und veröffentlichte nebenbei Gedichte. Trotz seines wissenschaftlichen Ruhms erhielt er nie einen Ruf an eine Universität und nur eine Pension des badischen Großherzogs sicherte seine bescheidene Existenz. Für Volger blieb Karl Friedrich Schimper zeitlebens ein wissenschaftliches Vorbild. Beide waren sich einig in der Ablehnung Darwins, über den Schimper meinte, dessen Lehre sei „die kurzsichtigste, niedrig dummste und brutalste“.161 Auf Wunsch des badischen Großherzogs Friedrich I. bearbeitete Otto Volger spä155 Ebenda, S. 37. 156 Friedrich Hoffmann, Joseph Ressel und Wilhelm Bauer. Eine Schicksals=Parallele, in: Die Gartenlaube (1863), Nr. 8, S. 124–126, hier S. 126. 157 Unter Mitwirkung des Redakteurs der Gartenlaube, Friedrich Hofmann. 158 Prot. VS, 12.6.1876, 26.6.1876 u. 3.9.1877. 159 Prot. OS, 19.8.1883; Ber. FDH 1884, S. 142 f. 160 Ilse Jahn, „Carl Friedrich Schimper“, in: NDB, Bd. 22, S. 783; Jan-Peter Frahm/Jens Eggers, Lexikon Deutschsprachiger Bryologen, Bd. 2, S. 450–453. 161 Ebenda, S. 452.
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ter Schimpers Nachlass und sprach 1889 auf der Versammlung der Naturforscher über „Leben und Leistungen des Naturforschers Karl Schimper“ (gedruckt 1889). Volger setzte sich dafür ein, für Schimper im Freien Deutschen Hochstift eine öffentliche Wirkungsstätte zu schaffen. Er knüpfte damit an ältere Initiativen aus der GDNA an. Dort hatte man sich bereits öffentlich für eine akademische Verwendung Schimpers eingesetzt. Die botanische Sektion der GDNA hatte 1856 erklärt, sie sehe sich dazu „verpflichtet, das Ihrige dazu beizutragen, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Lage des Naturforschers [...] zu lenken.“162 Die Versammlung, die in Wien tagte, empfahl mit ausdrücklicher Zustimmung Alexander von Humboldts Schimper dem k. k. österreichischen Ministerium für Kultur und Unterricht „zu geeigneter Berücksichtigung“.163 Das Freie Deutsche Hochstift erwog 1865, für Karl Schimper einen eigenen Lehrstuhl einzurichten.164 Schimper sei, so die Berichte des Hochstifts, das Opfer der deutschen „Gelehrtenrepublik“, deren Hochschulen für Männer wie ihn keinen entsprechenden Wirkungskreis bieten würden. Aber die Ankündigung blieb folgenlos, weil das Hochstift nicht in der Lage war, einen solchen Lehrstuhl zu finanzieren. Zumindest ermöglichte es Schimper, Vorträge zu halten, in denen er seine wissenschaftlichen Ergebnisse in den Hochstiftssitzungen mitteilen konnte. Neben den Verdiensten von Bauer und Schimper war das Hochstift bestrebt, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Erfindung von Johann Philipp Reis zu lenken. Der 1834 in Gelnhausen geborenen Reis absolvierte neben seiner Lehrzeit in einer Farbenhandlung die Handelsschule und arbeitete schließlich als Lehrer an der privaten Lehr- und Erziehungsanstalt Garnier in Friedrichsdorf. Er war seit 1851 Mitglied des Physikalischen Vereins in Frankfurt, wo er an seinen Forschungen zur „Telephonie durch den galvanischen Strom“ arbeitete und publizierte.165 Obwohl Reis heute als der Erfinder des Telefons gilt, steht er immer noch im Schatten von Alexander Graham Bell, der dafür 1876 ein Patent anmeldete. Aber schon zu Reis Lebzeiten blieb ihm die „Anerkennung seiner Erfindung versagt“166, die mehr als Spielerei betrachtet wurde, und Zeitschriften, wie die „Annalen der Physik“, lehnten die Publikation seiner Ergebnisse ab.167 Für den Autodidakten Reis waren wissenschaftliche Vereine, wie der Physikalische Verein in Frankfurt, eine alternative Stätte, um hier an eigenen Forschungen und Erfindungen zu arbeiten. 1862 bot das Hochstift Reis die Möglichkeit, in einer Sitzung seine Erfindung vorzustellen.168 Auch nach dem frühen Tod von Reis (1874) wurde sein Andenken im Hochstift gepflegt und Volger hielt ge-
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Bericht der 32. VDNA (1856), S. 118. Ebenda, S. 119. Ber. FDH 1865, S. 17. Heinz Fricke, 150 Jahre Physikalischer Verein Frankfurt a. M., S. 107 ff. Erika Dittrich, Ein Streit um den Reisschen Bart oder: Der Telefonerfinder und seine Denkmäler, in: Stephanie Hahn/Michael H. Sprenger (Hg.), Herrschaft – Architektur – Raum, S. 329–345, hier S. 329. 167 Heinz Fricke, 150 Jahre Physikalischer Verein, S. 107. 168 Frankfurter Nachrichten, Nr. 58, 14.5.1862, S. 461.
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legentlich Vorträge über dessen Arbeiten, um das Verdienst des deutschen Erfinders in Bezug auf die Entwicklung der Telefonie öffentlich zu machen.169 Verglichen aber mit den Ansprüchen des Freien Deutschen Hochstifts, waren die wissenschaftlichen Beiträge in den Sitzungen und die Vorträge dürftig, was man auch offen zugab, denn 1880 resümierte Volger über das Hochstift, dass dessen „Leben ist immerhin noch ein sehr bescheidenes, kaum über die Keimung hinaus entwickeltes“.170 Neben den Vorträgen und Sitzungen regte das Hochstift noch verschiedene Projekte an, die es zumindest einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte. Drei dieser Projekte sollen vorgestellt werden, weil sie typische Beispiele für die Verknüpfung von Wissenschaft und Nation verkörpern. 1.4.3. Projekte Die größte öffentliche Beachtung erhielt das Hochstift durch die Unterstützung von August Petermann (1822–1878).171 August Petermann, Geograf, und seit 1855 Herausgeber der „Mittheilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt“ verfolgte schon seit einigen Jahren den Plan, eine deutsche Expedition auszurüsten, welche die Theorie eines offenen Polarmeeres beweisen sollte.172 Volger und Petermann waren durch die „Geographischen Mitteilungen“ miteinander bekannt geworden, in denen Volger veröffentlichte und der Obmann sorgte für die Aufnahme des Petermanns in die Meisterschaft des Hochstifts. Im Jahre 1863 wurde in der Royal Geographical Society die Erforschung der arktischen Regionen debattiert und August Petermann hatte dazu entsprechende Vorschläge gemacht.173 Dazu suchte er „auch bei meinen Deutschen Landsleuten Interesse für die Polar-Regionen zu erwecken“, nachdem in London die Durchführung dieses Projekts verschoben worden war.174 Im Juni 1865 schlug Volger Petermann schließlich vor, die geplante Polarexpedition mit Unterstützung des Hochstifts durchzuführen.175 Nach einem Treffen in Gotha einigten sich beide darauf, das Hochstift zu ersuchen, zu einer „Versammlung Deutscher Meister und Freunde der Erdkunde“ nach Frankfurt einzuladen, um die Expedition zu planen. Am 23. Juli traten schließlich die 71 Teilnehmer der Versammlung in Frankfurt zusammen. Sie fand im Sitzungssaal des Neuen Saalgebäudes in der Junghofstrasse statt. Volger wurde zum Vorsitzenden gewählt, zum Schriftführer der Verwaltungsschreiber des Hochstifts, Gustav 169 Otto Volger an Dr. Theodor Clemens, 28.11.1877, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19657. 170 Ber. FDH 1880, S. XII. 171 Hugo Wichmann, „August Petermann“, in: ADB 26, S. 795–805. 172 Vgl. Frank Berger, Frankfurt und der Nordpol, S. 59–64. 173 August Petermann, Vorwort, in: Karl Koldewey, Die erste deutsche Nordpolar-Expedition im Jahre 1868, S. III. 174 Ebenda. 175 Schon am 12. März 1865 wurde in einer Sitzung des Hochstifts über Petermanns Plan gesprochen, vgl. Prot. OS, 12.3.1865.
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Schneider. Das Hochstift veröffentlichte einen Bericht über die Verhandlungen.176 Die Wahl des Hochstifts begründend, schrieb Petermann an Volger: Der gewaltige und bedeutsame Aufschwung, den das Freie Deutsche Hochstift in jüngster Zeit genommen hat, die große Reihe ausgezeichneter Deutschen, die es schon jetzt zu seinen Mitgliedern zählt, lässt mich diese echt nationale, keinen Sonder= und keinen Lokal=Interessen dienende Körperschaft als das geeigneste Medium in Deutschland erkennen, um in dieser Richtung mit Erfolg zu wirken.177
Neben der Planung einer „deutschen Nordfahrt“ sollte die Versammlung zur Keimzelle einer nationalen Geografenvereinigung werden. Volger betonte in diesem Zusammenhang die gesamtdeutsche Ausrichtung und die Unabhängigkeit des Hochstifts, die dafür die besten Voraussetzungen seien.178 Als Vorbild einer zukünftigen „Deutschen Gesellschaft zur Pflege der Erdkunde“ diente die VDNA, allerdings sollte sie in Frankfurt ihren festen Sitz haben. Gerade im Bereich von Forschungsreisen und Expeditionen gehörten Länder, wie Frankreich und Großbritannien, zu den führenden Staaten. Da es in Deutschland in den 1860er Jahren kein staatliches Interesse an überseeischen Expeditionen gab, arbeiteten viele deutsche Forscher im Dienste des Auslands, vor allem für die britische Krone.179 In Deutschland existierten auch keine Gesellschaften, wie die Royal Geographical Society, die eng mit der Politik und Wirtschaft den Ausbau des britischen Kolonialreiches mithilfe wissenschaftlicher Expeditionen förderte.180 Dabei setzten sich die deutschen Naturforscher in britischen Diensten „dezidiert für die Ausweitung britischer Macht ein“ und waren fest in das „Institutionensystem der britischen Wissenschaft eingebunden“.181 Das Hochstift hatte sich schon seit seiner Gründung für deutsche Forschungsreisende interessiert. Viele bedeutende Namen des 19. Jahrhunderts finden sich als Mitglieder oder Ehrenmitglieder in seinen Reihen. 1860 plante man sogar, eine Aufklärungsexpedition zu organisieren, die das Schicksal des verschollenen Afrikareisenden Eduard Vogel (1829–56) aufklären sollte.182 Vogel wurde in Wadai, einem Gebiet östlich des Sudans, 1856 ermordet, aber sein noch ungeklärtes Schicksal beschäftigte die deutsche Öffentlichkeit. Auch Vogel hatte seine Reisen im Dienste Großbritanniens unternommen und die Ergebnisse seiner Forschungen
176 FDH (Hg.), Amtlicher Bericht über die erste Versammlung Deutscher Meister und Freunde der Erdkunde in Frankfurt a. M. 1865. 177 August Petermann an Otto Volger, 1.7.1865, zit. nach FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 15. 178 Ebenda, S. 16. 179 Vgl. Ulrike Kirchberger, Deutsche Naturwissenschaftler im britischen Empire. Die Erforschung der außereuropäischen Welt im Spannungsfeld zwischen deutschem und britischen Imperialismus, in: HZ 271, S. 621–660, dies., Aspekte deutsch-britischer Expansion. Die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 180 Vgl. Ian Cameron, The History oft he Royal Geographical Society 1830–1980. 181 Ulrike Kirchberger, Deutsche Naturwissenschaftler im britischen Empire, S. 632. 182 Ber. FDH (1860), Sitzung vom 5.2.1860, S. 23.
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im „Journal of the Royal Geographical Society“ veröffentlicht.183 Am 15. Juli 1860 konstituierte sich in Halle ein Komitee unter dem Vorsitz des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, das im Laufe der Jahre mehrere Hilfsexpeditionen ausrüstete, bevor schließlich über Vogels Schicksal Gewissheit herrschte.184 Der Botaniker Berthold Seemann schrieb rückblickend über die Suche nach Vogel: Zum ersten Male nahm ganz Deutschland Interesse für einen jungen Reisenden, Alle standen für einen Mann ein, wir waren wieder im besten Sinne des Wortes – Alle-mannen.185
Das Beispiel Vogels zeigt die „starke Interessenverbindung zwischen der deutschen Geografie und der deutschen Nationalbewegung“ und diese Verbindung führte „zu einer ersten Popularisierung des Afrikadiskurses in Deutschland“, bei der erstmals auch eine „anti-britische Stoßrichtung zum Vorschein“ kam.186 Die Forschungsreisen waren auch aus Sicht Volgers durch ihre Mischung aus wissenschaftlichem Forscherdrang und gefahrvollem Abenteuer eine ideale Möglichkeit, um Wissenschaft und nationale Öffentlichkeit zu verbinden. August Petermann hatte 1860 in seinen „Geographischen Mittheilungen“ die Suche nach Vogel, einem „Märtyrer der Wissenschaft“, als ein nationales Unternehmen beschrieben.187 Das größte Problem, vor das sich Petermann und seine Befürworter gestellt sahen, war die Finanzierung einer solchen Expedition. Dafür machte Volger die akademische Wissenschaft verantwortlich. Sie zeichne sich durch ihren Hochmut und ihren weltfremden Dünkel aus, der sie dem gesellschaftlichen Nutzen und dem Erwerbsleben entfremdet hätte. Die enorme Bedeutung von Forschungsreisen sei dadurch der Öffentlichkeit und den Regierungen der deutschen Staaten nicht vermittelbar. Um dieses Defizit zu beseitigen, müsse eine unabhängige Institution wie das Freie Deutsche Hochstift die Lücke füllen: In diesem Sinne die Wissenschaft mit dem Erwerbsleben und Verkehrsgetriebe zu verbinden, alle Kreise der Gesellschaft zum Mitgenusse und Mitstreben in der Pflege allgemeiner Bildung heranzuziehen und dadurch der Wissenschaft und Kunst die dankbare Gunst und Unterstützung der erwerbenden und durch Erwerb bereicherten Kreise zu gewinnen, ist die schöne Aufgabe, welche sich das Freie Deutsche Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung gesetzt hat.188
Die Anmeldung zu der in Frankfurt einberufenen Versammlung stand deshalb allen Interessierten offen. Zusätzlich ergingen Einladungen an ausgewählte Gelehrte und Vorstände geografischer Gesellschaften. Aus Österreich war der Geo183 Vgl. Friedrich Ratzel, „Eduard Vogel“, in: ADB 40, S. 100–108; Ulrike Kirchberger, Aspekte deutsch-britischer Expansion, S. 318 f. 184 Vgl. Eduard Vogel und die Versuche zur Aufhellung seines Schicksals, in: Die Gartenlaube (1863), Nr. 26, S. 411–412. 185 FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 44. 186 Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert. S. 120. 187 August Petermann, Dr. Eduard Vogel’s Schicksal, S. 113 u. vgl. Th. v. Heuglin’s Expedition, S. 358–362, in: Mittheilungen aus Justus Perthes´ Geographischer Anstalt (1860). 188 FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 9 ff.
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loge Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) anwesend, Präsident der Wiener Geographischen Gesellschaft, ein prominenter Unterstützer aus Preußen war der Industrielle Friedrich Harkort (1793–1880), der allerdings nicht in Frankfurt erschien.189 In der Hoffnung, auch die deutschen Staaten als Unterstützer zu gewinnen, trug man Prinz Adalbert von Preußen den Ehrenvorsitz an. Volger überbrachte dem Prinzen die Nachricht bezüglich dieser Wahl persönlich in einer Audienz in Darmstadt, die Albert von Preußen aber ablehnte und dafür die Einladung des preußischen Kriegsministers von Roon vorschlug, den aber die kurzfristige Einladung nach Frankfurt nicht mehr erreichte.190 Zusammen mit dem sächsischen Bundestagsgesandten Beaulieu-Marconnay, Geografen und Vertretern von Vereinen saßen Kaufleute, der Frankfurter Stadtröhrenmeister und ein Frankfurter Tapezier zusammen.191 Diese integrierende Wirkung erwartete Volger auch von dem ganzen Unternehmen, dass die ganze Nation, von der Donau bis an die Nordsee, vereinen sollte.192 Die wissenschaftliche Expedition wäre damit ein Beitrag zur Stärkung des deutschen Einheitsgefühls. „Die Frankfurter Tagung wurde zur Geburtsstunde der wissenschaftlichen deutschen Polarforschung“, so Frank Berger.193 Die geplante Forschungsfahrt sollte endlich die Abhängigkeit von anderen Ländern beenden und ein rein deutsches Unternehmen werden. In dieser Hinsicht sprach sich Volger gegen jede internationale Kooperation aus, besonders lehnte er eine Beteiligung Großbritanniens entschieden ab. Zur Begründung verwies er auch 1865 wieder auf sein Programm einer „deutschen Wissenschaft“ und polemisierte gegen die „Verlöschung aller Unterschiede“ im Sinne eine „allgemeinen Weltbürgerthums“.194 „Ich sage dieser Traum ist eine Thorheit!“, entgegnete er auf der geografischen Versammlung.195 Er verlangte eine „deutsche Erdkunde“ und gab der Hoffnung Ausdruck, dass nun das Zeitalter der deutschen Entdeckungen beginnen werde.196 Nach Volgers Rede trug August Petermann in seinem Vortrag „Die Erforschung der arktischen Central-Region durch eine deutsche Nordfahrt“ die Ziele der Expedition vor und es wurde anschließend beschlossen, einen „NordfahrtAusschuss“ zu bilden, in dem neben Petermann und Volger auch Dr. Eduard Rüppell von der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft saß. Allerdings tagte der Ausschuss nur ein Mal, Anfang Dezember 1865 in Gotha. Die Kosten 189 190 191 192 193 194 195 196
Frank Berger, Frankfurt und der Nordpol, S. 62. FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 18. Ebenda, Verzeichnis der Mitglieder, S. 19–20. Ebenda, S. 22. Frank Berger, Frankfurt und der Nordpol, S. 62. FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 22. Ebenda. „Jede Wissenschaft ist bei jedem Volke eigenartig – auch bei dem Deutschen und vorab bei dem Deutschen, für dessen Volksthum die Wissenschaft von weit wichtigerer Bedeutung ist, als für andere Völker. Zumal die Erdkunde, welche recht eigentlich eine Deutsche Wissenschaft genannt werden darf, fordert dringend eine vorzugsweise Pflege von dem Deutschen Volke.“ Ebenda, S. 23.
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für das Projekt, für das ein entsprechendes Dampfschiff mit geeigneter Mannschaft gefunden werden musste, wurden auf ca. 150.000 Taler geschätzt.197 Als es nun darum ging, die Finanzierung des Projekts zu sichern, traten erste Verstimmungen zwischen Petermann und Volger auf, die auf ihre unterschiedlichen Ansichten in Bezug auf das gesamte Unternehmen zurückzuführen sind. Für Petermann stand an erster Stelle der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn dieser Unternehmung, die er 1863 auch mit Unterstützung der Royal Geographical Society unternommen hätte. Er hatte in Großbritannien die dortige Form der Wissenschaftsförderung, die Staat, Wirtschaft und Wissenschaft vereinte, durch eigene Erfahrungen schätzen gelernt. Nur aufgrund der Tatsache, dass in Großbritannien zunächst keine Aussicht auf Unterstützung bestand, hatte sich Petermann nach Deutschland gewandt. Dabei erwog er auch eine Unterstützung durch die deutschen Staaten, vor allem durch Österreich und Preußen. Österreich sollte ein Schiff stellen und Preußen ein Begleitfahrzeug.198 Als die österreichische Regierung allerdings absagte, umwarb Petermann die preußische Regierung. Am 15. November 1865 traf er mit Bismarck und dem preußischen Kriegs- und Marineminister Albrecht von Roon in Berlin zusammen und erläuterte ihnen sein Vorhaben.199 Roon ließ am 22. Dezember 1865 eine Kommission einsetzen, die am 18. Januar 1866 das erste Mal zusammentrat. Im April 1866 teilte Bismarck Petermann jedoch mit, dass in dieser Angelegenheit noch keine konkreten Entschlüsse getroffen wurden.200 Petermann wurde dafür vom Hochstift kritisiert und er verteidigte sein Vorgehen. Er verwies zum einen auf die hohen Kosten, die er nur durch eine staatliche Beteiligung gedeckt sah, und zum anderen auf die Notwendigkeit, geeignete Männer mit maritimer Erfahrung zu finden, die teilweise im Dienste Preußens standen. Er glaubte, dass die gesamte Umsetzung nur mithilfe staatlicher Unterstützung erfolgreich sein könne, wobei er auf die Verhältnisse in Großbritannien verwies.201 Für Deutschland dagegen galt: Man mag noch so billig und nachsichtig urtheilen, stets wird man schliesslich nur beklagen können, dass bei unseren politischen Verhältnissen die stehenden Heere vorzugsweise alljährlich so viele Millionen verschlingen, für die Wissenschaft aber so gut wie Nichts übrig bleibt.202
Ein Erfolg der Expedition, so hoffte Petermann, würde das Interesse der deutschen Staaten an der Unterstützung solcher Projekte erhöhen und so zu einem Wandel in der Wissenschaftsförderung führen. Petermann teilte auch nicht Volgers Vorstellungen in Bezug auf die nationalen Wissenschaften. Eine zukünftige deutsche geografische Gesellschaft musste 197 FDH (Hg.), Amtlicher Bericht, S. 51. 198 August Petermann, Die Deutsche Nordfahrt, in: Mittheilungen (1866), S. 144 f. 199 August Petermann, Vorwort, in: Karl Koldewey, Die erste deutsche Nordpolar-Expedition im Jahre 1868, S. III. 200 August Petermann, Die Deutsche Nordfahrt, in: Mittheilungen (1866), S. 146. 201 Ebenda, S. 149. 202 Ebenda.
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sich nach seinen Vorstellungen an der Royal Geographical Society orientieren und wie diese auch internationale Kooperationen fördern.203 Allerdings betrachtete auch Petermann die geplante Expedition als ein nationales Unternehmen: „Alle diese Männer gereichen Deutschland zur Ehre und zum Ruhme, sie gehören zu den wahren Trägern der geistigen Macht unseres Vaterlandes.“204 Volger zeigte sich über Petermanns Initiative bei der preußischen Regierung verärgert, denn er fühlte sich übergangen. Für ihn bedeutete die „Nordfahrt“ ein nationales Ereignis, bei dem nicht die Regierungen, sondern die deutsche Öffentlichkeit im Mittelpunkt stehen sollte. Um diese zu mobilisieren und die Forschungsreise als ein nationales Großereignis zu inszenieren, plädierte er vehement für eine Volkssammlung. Nachdem er am 17. Dezember in Gotha an der Sitzung des Vorbereitungsausschusses teilgenommen hatte, teilte er Petermann zwei Tage später die Verstimmungen im Hochstift über dessen Vorgehen mit und übermittelte einen Protokollauszug, in dem die Verwaltung des Hochstifts feststellte, nur ein „Mandat zur volksthümlichen Ausführung der Deutschen Nordfahrt“ zu verfolgen.205 Anfang des Jahres 1866 versuchte eine parlamentarische Initiative im preußischen Abgeordnetenhaus, sich für die Unternehmung einzusetzen, für die besonders der Industrielle Friedrich Harkort in der Öffentlichkeit warb.206 Die Kriegsereignisse verhinderten aber weitere Beratungen. Einige preußische Abgeordnete hatten sich sogar skeptisch über Petermanns Unterstützung durch das Hochstift geäußert, da man dies als eine süddeutsche, österreichfreundliche Institution betrachtete. In einem Briefentwurf an Harkort wies Volger diese Einschätzung zurück: Das F.D.H. kennt nur Deutsche – es hat mehr Mitgl. in Norddeutschland als in Südd. – ich selber bin Norddeutscher von Geburt u. Erziehung – ich kümmere mich nicht um die ganze polit. Tageszänkerrei, welche ich für völlig unfruchtbar u. nutzlos halte.207
Die Schwierigkeiten Petermanns, eine Unterstützung durch den preußischen Staat zu erhalten, führte schließlich wieder zu seiner Annäherung an das Hochstift und er unterstützte nun den Gedanken einer nationalen Spendensammlung. Im März 1866 schrieb er an Volger: Österreich & Preußen wollen sich nicht in irgend herausragender Weise an dem Unternehmen beteiligen. Ich bin zu allem und jedem bereit, was Sie und andere Freude des Projekts vorschlagen und wünschen.208
203 Ebenda, S. 159 f. 204 Ebenda, S. 161. 205 Otto Volger an August Petermann, 19.12.1865, Ds., FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte August Petermann. 206 August Petermann, Die Nordpol-Frage, in: Mittheilungen (1866), S. 77–80. 207 Otto Volger an Friedrich Harkort (Konzept), 6.4.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19709. 208 August Petermann an Otto Volger, 15.3.1866, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte August Petermann.
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Nun sah Volger seine Chance, die Initiative ganz in die Hände des Hochstifts zu legen, und beschuldigte Petermann sogar, eine Pressekampagne gegen das Hochstift zu führen.209 Immerhin habe er sogar, so Volger gegenüber Petermann, gegen den Unmut der Mitglieder ihm eine Schonfrist eingeräumt, damit dieser zumindest die Verhandlungen mit der preußischen Regierung zum Abschluss bringen konnte. Einen Seitenhieb auf Petermanns Bemühungen bei Bismarck konnte sich Volger nicht sparen, der seine Enttäuschung über Petermann mit dessen vergeblichen Bemühungen um Bismarck verglich: „Vielleicht empfinden Sie jetzt eine[n] solche[n] nach dem Rausche Ihrer Freundschaft mit Graf Bismarck.“210 Im April 1866 verfasste das Hochstift einen öffentlichen Aufruf, der schon ganz unter dem Einfluss der drohenden Kriegsgefahr stand. Adressiert an „Deutsche Männer und Frauen“, kommt der Aufruf zu dem Ergebnis: Wohl hat man auch zur Verwirklichung dieses Planes wieder nach Deutscher Art zuerst das Vorangehen einzelner Regierungen erwarten wollen. Darüber ist kostbare Zeit vergeblich verloren gegangen. Aber ein thatkräftiges Volk handelt selber! Wohlan, lasst uns handeln!211
Das Hochstift bezifferte die Kosten auf ca. 200.000 Taler, da man das Schiff selbst zu bauen beabsichtigte. Jeder Unterstützer sollte mindestens einen Taler spenden und es sollten in ganz Deutschland Ortsausschüsse gebildet werden. Staatliche Unterstützung sei nicht notwendig, denn die deutschen Seefahrer seien die „besten der ganzen Erde“ und die deutschen Forscher gehören zu den „opferwilligsten aller Völker“.212 Der Aufruf nahm auch Bezug auf die drohende Kriegsgefahr und kritisierte die Politik der deutschen Staaten. Diese würde sich gegen den Willen des Volkes richten. Sollen wir es glauben, dass die Deutschen Regierungen sich dermalen, wie uns die Zeitungen berichten, mit Kriegsplänen und Rüstungen beschäftigen, um Deutsche gegen Deutsche zu Felde zu führen? – Deutsche Männer und Frauen! Das Deutsche Volk will von solchem Kriege Nichts wissen. Wo man das Recht nicht bricht, da ist kein Grund zum Kriege; wir werden Frieden behalten. Auf denn, lasst uns unsere Volkseinigkeit und unseren festen Willen gerade jetzt zu erkennen geben, indem wir, Deutsche aller Lande, zusammenwirken zu einem gemeinsamen, unserem ganzen Volke zu Frommen und Freude gereichenden Werke des Friedens, des Unternehmungsgeistes, der Wissenschaft!213
Die Kriegsereignisse und die damit verbundenen Umbrüche beendeten schließlich Petermanns Kooperation mit dem Hochstift. Es waren später vor allem private Spender, die eine Weiterführung des Projekts ermöglichten. 1868 und 1869/70 erfolgten zwei Fahrten unter der Führung des Kapitäns Carl Koldewey.214 209 August Petermann an Otto Volger, 2.4.1866, ebenda. 210 Otto Volger an August Petermann, Ds., 18.3.1866, ebenda. 211 Aufruf des Freien Deutschen Hochstiftes an die Deutsche Nation, in: Mittheilungen (1866), S. 148. 212 Ebenda. 213 Ebenda. 214 Vgl. Wilhelm von Freeden, Die wissenschaftlichen Ergebnisse der ersten Deutschen Nordfahrt, in: Mittheilungen (1869), S. 201–219.
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Ein anderes, erfolgreicheres Projekt der Frankfurter Versammlung von 1865 war die Gründung einer Deutschen Seewarte, die vor allem von Otto Volger und Georg Neumayer, dem Direktor des Flagstaff-Observatory in Melbourne, gefordert worden war. Zunächst 1868 durch eine private Initiative des Hamburger Naturforschers Wilhelm von Freedens (1822–1894) begründet, wurde die Seewarte 1875 in ein Reichsinstitut umgewandelt, dessen erster Leiter Georg Neumayer wurde. Die Vorbereitung der Nordfahrt war das größte wissenschaftliche Projekt, dem sich das Freie Deutsche Hochstift widmete. Es stand ganz in dem Bemühen, Wissenschaft und Nation zu vereinen, umso mehr, als im Frühjahr 1866 ein „deutscher Bruderkrieg“ immer näher rückte. Sein Scheitern war auch eine Ursache der unterschiedlichen Auffassungen der Akteure über das Verhältnis von Wissenschaft, Nation und Staat. Wäre es zu viel gehofft, wenn man sich dem erhebenden Gedanken hingäbe, dass die Nordfahrt im Jahre 1866 als erste friedliche That der alliierten Flotte von dem Bundeshafen Kiel aus durch ein österreichisches und ein preußisches Kriegsschiff zum Ruhme Deutschlands und zur Ehre Oesterreichs und Preussens unternommen werde?215
Am Ende waren es die politischen Ereignisse des Jahres 1866, die den weiteren Fortgang beendeten. Der Krieg stellte nicht nur das großdeutsche Nationskonzept des Hochstifts infrage, er beendete auch Petermanns Hoffnungen, doch noch eine staatliche Unterstützung zu erhalten. Die Royal Geographical Society ehrte ihn 1868 mit der Verleihung ihrer Goldenen Medaille. Die Verbindungen zum Hochstift brachen ab, Petermanns Selbstmord 1878 nahm man aber dort mit Bedauern zur Kenntnis.216 Ein zweites Projekt des Hochstifts, bei dem es sich für den Schutz der wissenschaftlichen Ressourcen in Deutschland einsetzte, betraf den Erhalt eines fossilen Fundes. Ernst Haeberlein hatte in einem Kalksteinbruch in Solnhofen ein fossiles Exemplar eines Archaeopteryx gefunden. Haeberlein bot den Fund für 36.000 Mark öffentlich zum Verkauf an. Sofort meldeten sich auch aus dem Ausland zahlreiche Interessenten. Die Entdeckung stellte einen zentralen Baustein für die wissenschaftlichen Kontroversen um den Darwinismus dar, die 1877 in Deutschland einen publizistischen Höhepunkt erreicht hatten. Seine Bedeutung stand außer Frage. Bereits 1862 war ein in Deutschland gefundenes Exemplar an das Britische Museum verkauft worden. Für Volger stellte die Möglichkeit eines neuerlichen Verkaufs an ein ausländisches Museum einen unersetzlichen Verlust für die Wissenschaft in Deutschland dar. Er verhandelte deshalb mit Haeberlein, der dem Hochstift ein Vorkaufsrecht für sechs Monate einräumte, und ließ das Exponat im Goethe-Haus öffentlich ausstellen. 217
215 Mittheilungen der Kaiserlich-Königlichen Geographischen Gesellschaft, X. Jahrgang, 1866 und 1867, S. 2. 216 Ber. FDH 1880, S. 130. 217 Ber. FDH 1880, S. 9 f.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger Die Archeopteryx=Platte ist für die wichtigsten, alle Gemüther bewegenden dermaligen Fragen der Wissenschaft von so großer Bedeutung, dass man mit Sicherheit behaupten kann, dieselbe werde für ein Jahrhundert einen maßgebenden Einfluß auf die gesamte Weltanschauung üben! Die deutsche Wissenschaft darf sich diesen Schatz nicht wieder entreißen lassen.218
Auch in der VDNA in München 1877 warb Volger für den Erhalt der Versteinerung in Deutschland.219 Doch das Hochstift und Volger standen wieder vor einem Dilemma. Obwohl man den Anspruch vertrat, eine nationale wissenschaftliche Vereinigung zu repräsentieren, war man nicht in der Lage, die geforderte Summe aufzubringen. Da aber die Bedeutung des Fundes außer Frage stand, wandte sich Volger schließlich an die deutschen Regierungen und den Kaiser. Nun war es der Staat, auf den man zum Schluss alle Hoffnungen setzte. Doch alle Anfragen wurden ablehnend beschieden. Volger erwog deshalb sogar, „mit der kostbaren Platte einen Bittgang durch das Reich auszuführen“.220 Die zugesagten Spenden, die man nach öffentlichen Aufrufen erhielt, reichten nicht aus, um den geforderten Kaufpreis aufzubringen und Volger musste die Platte wieder an Haeberlein zurückgeben. Volger betrachtete die ablehnende Haltung der deutschen Regierungen als Zeichen eines allgemeinen Unverständnisses gegenüber den Fragen der modernen Wissenschaft: Wann endlich wird man an maßgebenden Stellen in Deutschland einmal ahnen, daß die Wissenschaft eines reicheren Aufwandes würdig ist als so viel hohler Prunk und so übermäßige Vergeudung von Zerstörungsmitteln.221
Die Militarisierung der Gesellschaft nach der Reichsgründung betäube die Ohren der Öffentlichkeit „durch den Schall der Kriegs= und Parade= Fanfaren“.222 Kritik übte er auch an den Vertretern der akademischen Wissenschaft, denen er Desinteresse vorwarf. Dennoch war die Mobilisierung der öffentlichen Meinung durch das Hochstift von Erfolg gekrönt. Selbst Carl Vogt, der Volger in herzlicher Ablehnung verbunden blieb, unterstützte die Kampagne. Werner Siemens erwarb schließlich die Archaeopteryx-Platte für 20.000 Goldmark und übergab sie der Berliner Universität. Ein drittes und letztes größeres Unternehmen des Hochstifts, das wiederum eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Nation darstellte, betraf den Schutz der deutschen Sprache und die Aufstellung einer einheitlichen Rechtschreibung. Der Rückgriff auf die gemeinsame Sprache war ein wesentliches Kennzeichen des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Aber schon in den Sprachgesellschaften der Frühen Neuzeit finden sich erste Ansätze dieser Ideen, die sich mit praktischen Überlegungen im Sinne der Schaffung einer Nationalsprache verbanden.223 218 219 220 221 222 223
Ebenda, S. 10. Bericht der 50. VDNA, S. 162 f. Ber. FDH 1880, S. 11. Ebenda, S. 214. Ebenda. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Vom Elitenbewusstsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500–1840, S. 40 ff.; Jörg Echterkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), S. 110–133.
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Besonders Fichtes Sprachphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts übte einen großen Einfluss aus, Sprache und Nation zu verknüpfen und gleichzeitig die eigene Sprache von fremden Einflüssen zu reinigen.224 Fremde Kunstausdrücke müssen in Benennung von Personen, Würden, Ämtern, Handlungen und volkstümlichen Gegenständen gänzlich abgeschafft, und in Gesetzen, Verordnungen und im Geschäftsgange, wo es nur irgend die Verständlichkeit erlaubt, vermieden werden,
forderte Friedrich Ludwig Jahn.225 Johann Heinrich Campe folgte diesen Forderungen, indem er in seinem „Wörterbuch der Deutschen Sprache“ fast 3.000 neue Wörter durch Eindeutschungen schuf.226 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die moderne Sprachwissenschaft, die durch die Arbeiten Wilhelm von Humboldts oder der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm angeregt wurde und die im Geiste des Historismus die Grundlagen und Überlieferungen der deutschen Nation in der Geschichte ihrer Sprache aufzuspüren suchte.227 Die Sprache war auch für Otto Volger die Grundlage seiner Konzeption einer Kulturnation. Denn „fremdwörterliche Sprachverderbniß“ führe zu „nationaler Selbstvergessenheit“ und daher empfahl Volger in seinem Aufruf zur Gründung des Hochstifts: Die Sprache lässt sich von den Fremdwörtern säubern; die Verirrung lässt sich durch das Bewusstwerden verhüten; die Empfänglichkeit für das Fremde wird, auch wenn sie sich auf das Gute und Gediegene allein beschränkt, genügen, um dem Reichtum unserer Bildung stets förderlich zu sein.228
In diesem Sinne wirkte er auch in seinen naturkundlichen Werken und kämpfte gegen jeden Gebrauch von Fremdwörtern in der Wissenschaftssprache. Volger versuchte, auch in allen Druckschriften und schriftlichen Dokumenten des Hochstifts diesen Anspruch durchzusetzen. Er führte die Bezeichnung altdeutscher Monatsnamen ein, aus Spendenlisten wurden „Empfangsrodel“ und aus Briefcouverts „Briefhülsen“. Dabei suchte er Anschluss an bestehende Vereine, die sich einer rigorosen Sprachreinigung verschrieben.229 Im Jahr 1848 hatte der deutsch-katholische Prediger Joseph Dominic Karl Brugger in Heidelberg einen „Verein der deutschen Reinsprache“ gegründet, der im 19. Jahrhundert einen besonders „radikalen
Stefan Reiß, Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ oder vom Ich zum Wir, S. 114–142. Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volksthum, S. 215. Jörg Echterkamp, Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 292. Vgl. Ulrike Haß-Zumkehr, Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm als Nationaldenkmal, in: Andreas Gardt (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, S. 229–246; Dieter Cherubin (Hg.), Sprache und bürgerliche Nation. 228 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 12. 229 Vgl. Dieter Cherubin, „Die zerstreute Welt zu binden im vertraulichen Verein“. Vereinswesen und Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert, in: ders., (Hg.) Sprache und bürgerliche Nation, S. 197–233. 224 225 226 227
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Fremdwortpurismus“ vertrat.230 Brugger sah die deutsche Sprache und Kultur durch fremde Einflüsse bedroht, denn „es wurde durch die staatliche Fremdherrschaft unter Napoleon I. auch die sprachliche wieder über alle maßen heimisch in unserem Vaterlande“.231 Die Definition der deutschen Kultur geschieht auch bei Brugger mithilfe der Abgrenzung gegenüber Frankreich und der Bezugnahme auf die napoleonischen Kriege.232 In den Satzungen des Vereins hieß es: Der Zweck des Vereins ist Förderung der deutschen Reinsprache durch Wort und Schrift, in dem man deutsche Wörter statt der fremden, wo möglich, gebraucht.233
Volger war nicht nur Mitglied in Bruggers Verein, der selbst wiederum dem Hochstift beitrat, sondern er identifizierte sich ausdrücklich mit Bruggers Zielen.234 In einem Brief an Brugger, in dem er die Gründung des Hochstifts anzeigte, schrieb er über seine Bemühungen und die Rolle, die das Hochstift dabei spielen sollte: Sie sehen, daß ich treu zur Fahne der Reinsprache stehe – trotzdem dass ich wohl weiß, dass ich mir die Gegenwart dadurch erschwere. [...] Damit habe ich viel durchgesetzt – blicken Sie in unsre Satzungen. Es hat nicht viel gefehlt an Vorschlägen von Akademie, Präsident, Adjucten, Sekretären, Kassierern u.s.w. u.s.w. – die abgeschmacktesten Einwürfe habe ich hören müssen: die Dummheit ist unser größter Feind.235
Brugger warb für Volger und das Hochstift und würdigte ihn als Beispiel für einen Wissenschaftler, der auch in seinen eigenen Werken ein „musterhaftes Deutsch“ verwendete.236 Gerade die Eindeutschung der Wissenschaftssprache betrachteten Brugger und Volger als eine Rückkehr der Gelehrten in die Reihen des Volkes. Die Reinhaltung der deutschen Sprache galt als ein Beitrag zur Einheit der deutschen Nation, denn ihre kulturelle Homogenisierung ist die Voraussetzung für einen weiteren staatlichen Zusammenschluss, wie ein Widmungsgedicht an Brugger von 1848 verhieß: Deutsch sollt ihr handeln, aber deutsch auch sprechen! / In Schule, Kirch, Versammlung, Bühne, Haus / Der Muttersprache reine Bahn zu brechen! / Beim Rasseln mit entlehnten 230 Anja Stukenbrok, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945), S. 244. 231 Johann Dominik Carl Brugger, Geschichte der Gründung und Entwicklung des Vereins der deutschen Reinsprache, S. VI ff. 232 Brugger publizierte seine Ideen in verschiedenen Schriften, darin nahm er auch den Standpunkt von der Überlegenheit bzw. Ursprünglichkeit der deutschen Kultur ein: „Unsere Sprache ist ja die erste und reichste der Erde, wenn wir die in ihr vorhandenen Schätze zu Tage fördern; also wozu von andern borgen, da wir allen anderen eher leihen könnten?“. Ders., Das Urbild der Deutschen Reinsprache (1847), S. 36. 233 Joseph Dominik Carl Brugger, Geschichte der Gründung und Entwicklung des Vereins der deutschen Reinsprache, S. 24. 234 Im Gründungsaufruf für das Freie Deutsche Hochstift wird auf Bruggers Verdienste hingewiesen und auch auf die Tatsache, dass in Frankfurt ein entsprechender Zweigverein existiert. Vgl. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 36. 235 Joseph Dominik Carl Brugger, Geschichte der Gründung und Entwicklung des Vereins der deutschen Reinsprache, S. 272 f. 236 Ebenda, S. 282.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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Klapperblechen / Kommt nimmer Stimmen=Einklang je heraus, / Und nur ein Bild des babylon´schen Bau´s! / Jetzt gilts, eine neures, einig Reich zu gründen, Weg drum mit Säulen die nicht fleckenrein! / So wacht nun dafür auch, dass keine Sünden / Den hehren Bau der Sprache mehr entweihn!237
Ein anderes Vorbild, das Volger aufgriff, war der 1817 in Frankfurt am Main durch Georg Friedrich Grotefend (1775–1853)238 gegründete „Gelehrtenverein für deutsche Sprache“. Dessen Zweck sollte es sein, „beizutragen zur Fortbildung der Muttersprache in Bezug auf Reinheit und Reichtum, Richtigkeit und Bestimmtheit, Schönheit und Würde.“239 Dazu wollte man versuchen, die deutsche Sprache „durch Beförderung ihres inneren Reichthumes von allem Fremdartigen, so viel möglich zu reinigen“.240 Als ein Vorbild galt der Reformator Luther, was die Gründung des Vereins im Jahr des Reformationsjubiläums 1817 motivierte. Der Sprachpurismus sollte auch auf die Gelehrtensprachen ausgedehnt werden, besonders auf die Philosophie und Sprachwissenschaft, eine komplette Eindeutschung der Arzneiwissenschaft hielt man aber aus praktischen Erwägungen heraus für gefährlich.241 Der Verein gab bis in die 1820er Jahre Abhandlungen heraus, aber nach Grotefends Weggang entfaltete er keine größeren Aktivitäten mehr. Heinrich Meidinger erwähnte ihn noch 1845 als „nicht aufgelöst“, stellte aber fest, dass man „wenig oder nichts von seiner Wirksamkeit“ höre.242 Volger bezeichnete ihn 1859 schließlich „als erloschen“.243 Trotz der Sprachvereine und verschiedener Wörterbücher konnte sich in Deutschland keine verbindliche Regelung der Rechtschreibung durchsetzen. Erst nach der Reichsgründung wurden eine Reform und Vereinheitlichung in Auge gefasst. Der preußische Kultusminister Adalbert von Falk berief 1876 eine „Konferenz zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung“ nach Berlin, an der führende Sprachwissenschaftler teilnahmen. Die Beschlüsse der Berliner Konferenz konnten aber nicht umgesetzt werden und erst 1901 kam es auf der Berliner Rechtschreibkonferenz zu einer verbindlichen Regelung, die auch die Schweiz und Österreich mit einschloss. Einer der Teilnehmer der Konferenz von 1876 war der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Sprachforscher Daniel Sanders. Sanders war Mitglied und Meister des Freien Deutschen Hochstifts.244 Seine Vorstellungen von einer Sprachreform hatte er in einem „Orthographischen Wörterbuch“ veröffentlicht. Er zählte nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft zu den Außenseitern 237 Ebenda, S. 41. 238 Grotefend wirkte von 1803 bis 1821 am Gymnasium in Frankfurt am Main und wurde 1821 Direktor des Städtischen Lyzeums in Hannover. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten zur Keilschriftenkunde. Vgl. Dietz Otto Edzard, „Georg Friedrich Grotefend“, in: NDB 7, S. 164. 239 Abhandlungen des frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache, Bd. 1, S. 9. 240 Ebenda, S. 11. 241 Ebenda, S. 16. 242 Heinrich Meidinger, Frankfurt´s gemeinnützige Anstalten, Bd. 1, S. 213. 243 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 36. 244 Zur Biographie Sanders vgl. Ulrike Haß-Zumkehr, Daniel Sanders, Aufgeklärte Germanistik im 19. Jahrhundert, S. 65–68.
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seiner Zunft, er war auch ein entschiedener Kritiker des „Deutschen Wörterbuches“ der Brüder Grimm.245 Das „Deutsche Wörterbuch“ behielt bis in die Gegenwart hinein eine „national-symbolische Funktion“, aber neben der Anerkennung, die es im 19. Jahrhundert erfuhr, gab es zahlreiche Kritiker, die es als „wissenschaftlich hermeneutisch“ bezeichneten.246 Sanders schloss sich der Kritik an, da das Wörterbuch in „keinerlei Weise genügt, ja der ganzen Anlage nach nicht genügen kann.“247 Sanders strebte mit seinem Wörterbuch eine zeitgemäße Reform und Vereinheitlichung an. „Wollte Jacob Grimm mit seinem Wörterbuch [...] die Sprachforschung für den Prozess der Herausbildung des Nationalbewusstseins dienstbar machen“, so war für Sanders die Nationalsprache bereits potentieller Besitz, den es allerdings den durch Demokratisierung, Industrialisierung und Überregionalisierung veränderten Kommunikationsbedürfnissen gemäß auszubauen gilt.248
Abwertungen fremder Sprachelemente unternahm Sanders nicht: Sanders kulturellem Patriotismus fehlen jegliche aggressiven fremdenfeindlichen Elemente; dies zeigt vor allem seine Einstellung gegenüber Fremdwörtern. Im Gegenteil, da Sprache für ihn im wesentlichen Kommunikationsinstrument war, stellte sie das Medium internationaler Kontakte dar.249
Das Freie Deutsche Hochstift übernahm 1876 die Regeln von Sanders Wörterbuch. 250 In einer Sitzung beschloss man, dass die bisher bestehende und volksüblich gewordene deutsche Orthographie nach dem fortbildungsfähigen System von Daniel Sanders beizubehalten und jede andere, diesem Systeme entgegenwirkende Neuerung als unzweckmäßig und verwerflich zu betrachten sei.251
Für Daniel Sanders war die Unterstützung des Hochstifts eine willkommene Gelegenheit, seine Sprachregeln zu verbreiten. Er bat Volger, nicht nur für eine allgemeine Verbreitung seines Regelwerks zu werben, sondern ihre „Einführung [...] in Frankfurter Schulen würde für mich von dem höchsten Werth sein“.252 Im Jahr 1880 richtete das Hochstift schließlich an den Deutschen Reichstag einen Antrag unter dem Titel „Schreibung der Deutschen Sprache. Ehrerbietigste Vorstellung und Bitte an den Hohen Reichstag des Deutschen Reiches von Seiten des Freien Deutschen Hochstiftes“.253 Darin forderte man das Parlament auf, zusammen mit der Reichsregierung und in einvernehmlichen Verhandlungen mit 245 Ebenda, S. 1. 246 Ulrike Haß-Zumkehr, Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm als Nationaldenkmal, S. 231. 247 Ebenda. S. 237. 248 Ebenda. 249 Dies., Daniel Sanders, S. 5. 250 Ber. FDH 1880, S. 447. 251 Frankfurter Anzeiger, Nr. 19, 23.1.1876, Sp. 4. 252 Daniel Sanders an Otto Volger, 6.2.1876, FDH-Hausarchiv, Mitgliedsakte Daniel Sanders. 253 Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 59 ff.
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Österreich und der Schweiz eine einheitliche Regelung für die Schreibung der deutschen Sprache zu erreichen. Dazu sollte ein Kongress einberufen werden, zu dem auch volkswirtschaftliche Vertreter eingeladen werden sollten. Als Grundlage für eine einheitliche Rechtschreibung empfahl man Daniel Sanders Regelwerk und kritisierte zugleich die Germanisten in der Nachfolge der Brüder Grimm und des „Deutschen Wörterbuchs“: „Thatsache ist, daß diese Schreibung unserem zeitgenössischem Schriftthume fremdartig und befremdend gegenüber stand.“254 Man ging sogar soweit, zu behaupten: „Leider war man im ,Germanistischen Eifer‘ Undeutsch geworden.“255 Die Petition blieb aber folgenlos, sie kam nicht einmal zur Vorlage im Reichstag. Dennoch beschloss man im Hochstift, dass es nun „seine vornehmlichste und dringendste Aufgabe“ sei, sich „als Academie für die Fortbildung der deutschen Rechtschreibung in den Vordergrund zu stellen“.256 Um aber die „Mundarten“ nicht zu benachteiligen, initiierte Volger die Gründung eines Vereins zur Pflege der Niederdeutschen Sprache und wünschte, daß auch für andere Deutsche Mundarten besondere Vereine in Frankfurt a. M. entstehen möchten, aus deren Zusammenwirken im engsten Anschlusse an das F.D.H. dann ein Gesammtverein zur Pflege der Deutschen Sprache hervorgehen könnte.257
Weitere Initiativen in dieser Richtung unterblieben aber, denn nach Volgers Abwahl 1881 und der Reorganisation des Hochstifts spielten diese Fragen keine Rolle mehr. Das Freie Deutsche Hochstift war also seit seiner Gründung bestrebt, die Sprache als Mittel für die Schaffung eines nationalen Kommunikationsraums einzusetzen.258 Dabei setzte man zunächst auf einen strengen Sprachpurismus, der auf die Eindeutschung der Alltagssprache und der Wissenschaftssprache zielte. Dadurch sollte im Sinne einer Kulturnation eine nationale Integration gefördert werden, die auch Gelehrte und Öffentlichkeit wieder einander annähern sollte. Zugleich bedeuteten die Bemühungen eine Antwort auf die voranschreitende Spezialisierung der Wissenschaftssprache. Allerdings dienten schließlich die pragmatischen Reformen im Sinne von Sanders Wörterbuch als Richtschnur. Von nationalistischen Radikalisierungen späterer Sprachreformer wahrte man Distanz, obwohl man anfangs noch Brunners Sprachverein unterstützt hatte.259 Die Resultate des „Deutschen Wörterbuchs“ der Brüder Grimm betrachtete man als zu hermetisch und damit als unbrauchbar, um eine von allen Bevölkerungsgruppen akzeptierte Regelung zu finden.
254 255 256 257 258 259
FDH, Die Schreibung der Deutschen Sprache, S. 11. Ebenda, S. 12. Prot. OS 14.3.1880. Ber. FDH 1880, S. 447. Vgl. Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, ders., Nation und Welt. Rassische Kategorien, wie sie Gobineau für die Sprachwissenschaft aufstellte, teilte man nicht, da man die Nation ausdrücklich nicht als Rassen – sondern als Geistesgemeinschaft begriff, vgl. Andreas Gardt, Sprachnationalismus zwischen 1850 und 1945, S. 251 ff.
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Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass man dabei die Arbeiten Daniel Sanders zugrunde legte. Man akzeptierte damit den Beitrag eines jüdischen Gelehrten für die Ausgestaltung einer so wichtigen kulturellen Grundlage, wie sie die Sprache im Verständnis des Hochstifts darstellte. Anja Stukenbrok erklärt den geringen Einfluss der sprachwissenschaftlichen Vereine oder ähnlicher Initiativen mit ihrem „Mangel an einflussreichen und wissenschaftlich hochrangigen Persönlichkeiten“.260 Daniel Sanders gehörte sicherlich zu den Außenseitern unter den Sprachforschern, aber seine wissenschaftliche Qualifikation bleibt bis heute unbestritten. Für ihn war das Freie Deutsche Hochstift eine alternative Wirkungsmöglichkeit, um Anerkennung zu erfahren und um seine Vorstellungen zu präsentieren, was ihm durch Teile der akademisch organisierten Wissenschaft verweigert wurde.261 1.4.4. Zusammenfassung Das ambitionierte Ziel, dass man sich 1859 im Freien Deutschen Hochstift gesetzt hatte, war nicht weniger, als für die Wissenschaft in Deutschland eine neue Grundlage zu schaffen. Davon kann im Rückblick auf die ersten beiden Jahrzehnte keine Rede sein. Im Vergleich mit der Gesamtkonzeption des Hochstifts von 1859 blieb das Erreichte immer nur ein Torso. Alle Erwartungen, die man etwa im Hinblick auf Zusammenschlüsse mit anderen Vereinigungen gehegt hatte, wurden enttäuscht. So blieb das Hochstift nur das, was es nie sein wollte, ein Verein unter anderen Vereinen. Es gelang ihm nicht einmal, das wissenschaftliche Prestige und die Anerkennung von Vereinigungen, wie der „Leopoldina“, zu übertreffen, deren Fortbestand man nur unter dem eigenen Dach selbstbewusst in Aussicht gestellt hatte. So blieben die Ergebnisse der eigenen wissenschaftlichen Beschäftigungen minimal. Das Projekt einer „deutschen Wissenschaft“ fand keine Resonanz und auch zu den Vorträgen fanden sich kaum gelehrte Kapazitäten aus Deutschland ein. Die Naturwissenschaften dominierten in den ersten Jahrzehnten die Themen, wenn auch durch den Erwerb des Goethehauses, wie noch geschildert wird, Vorträge und Forschungen zu Goethe und seiner Zeit hinzukamen. Auch als Ort der freien Wissenschaft blieb das Hochstift uninteressant, da es nicht über die notwendigen Ressourcen verfügte. Gerade im Bereich der Naturwissenschaften waren in Frankfurt andere Vereine, wie z.B. der Physikalische Verein oder die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, attraktivere Alternativen. Die wenigen größeren Projekte, für die man sich engagiert hatte, er260 Anja Stukenbrok, Sprachnationalismus, S. 244. 261 Zu den Kritikern Sanders gehörte auch Friedrich Nietzsche. Sanders Wörterbuch bot Nietzsche eine „Zielscheibe für [...] antisemitische Verunglimpfungen“ und er bezeichnete es als „Hand- und Schand-Wörterbuch“. Thomas Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, S. 33 ff.
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füllten nicht die Erwartungen, die man sich versprochen hatte. Immerhin aber gelang es dem Hochstift, zeitweise die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und auf Bedürfnisse hinzuweisen. So hatte es „bei allem gutem Willen, redlichen Streben, guter Gesinnung doch nur höchst winzige Leistungen aufzuweisen.“262 2. ALLGEMEINE BILDUNG 1859–1881 2.1. Ansprüche und Ziele Die allgemeine Bildung sollte durch das Freie Deutsche Hochstift, so formulierte es Volger 1859, durch alle Schichten des Volkes verbreitet werden.263 Bildung war ein zentrales Leitthema des 19. Jahrhunderts und zählte zu den wesentlichen Konstituierungsfaktoren des sich formierenden Bürgertums.264 Dabei kann man zwei wesentliche Richtungen idealtypisch unterscheiden, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts separierten und die weitere Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Selbstverständnis prägten. Zum einen wurden Bildung und Besitz zu einer bürgerlichen „Elitentheorie“ verbunden und zum anderen wurde Bildung als ein Mittel gesellschaftlicher Emanzipation betrachtet, um, beeinflusst durch die Ideale der Aufklärung und der Französischen Revolution, eine freie bürgerliche Gesellschaft zu bilden.265 Bei Letzterem spielte die Volksbildung eine wesentliche Rolle. Bei den Reformen des Bildungssystems wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts die reformpädagogischen Ansätze wieder zurückgedrängt: Das Interesse der Gebildeten an Bildung, das in der Aufklärungszeit auf Volksbildung konzentriert gewesen war, verschob sich auf die höhere Bildung, die Schule der Gebildeten, ihrer Kinder.266
262 GJb 1881, S. 468. 263 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 23. 264 Vgl. Rudolf Vierhaus, „Bildung“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, S. 508–551; Karl-Ernst Jeismann, Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert, in: ders./Peter Lundgreen (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, S. 1–21; Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert (herausgegeben von Werner Conze/Reinhart Koselleck/M. Rainer Lepsius): (I) Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (Bd. 38); (II) Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsgüter und Bildungswissen (Bd. 41); (III) Ulrich Engelhardt, „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eine Etiketts, (Bd. 43); (IV) Jürgen Kocka (Hg.), Politischer Einfuß und gesellschaftliche Formation, (Bd. 48); Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. 265 Lothar Gall, „...Ich wünschte ein Bürger zu sein“, S. 608–609; vgl. Walter Götze, Die Begründung der Volksbildung in der Aufklärungsbewegung. 266 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 453.
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Der große Einfluss des Staates auf die Schul- und Universitätsbildung, die einem „Staatsmonopol“ glich, wurde zu sozial integrierenden und disziplinierenden Zwecken benutzt und diente der „Revolutionsprophylaxe“.267 Als eine alternative Form zum staatlich verwalteten Bildungssystem wurden immer mehr Vereine gegründet, die ein stände- und gesellschaftlich übergreifendes Bildungsangebot präsentierten.268 Die Bildungs- und Wissensvermittlung stand in einem Spannungsfeld zwischen „bürgerlichem Verlangen nach Öffentlichkeit, politischem Emanzipationswillen“ und „liberalen Bildungszielen“.269 Eine „gesteigerte Wissensproduktion erschließt immer neue gebiete gesellschaftlicher Kommunikation“ und „demokratisiert die Wissenskultur“.270 Das Jahr 1848 stellte dabei eine „Kulminationsphase“ dar.271 Der Sieg der Revolution wurde 1848 zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Bildungsrevolution erklärt, die mithilfe der Volksbildung alle Schichten erreichen sollte: Die an sich selbst erhabenste und für unser Volksleben wichtigste unter den sittlichen Gemeinschaften ist der Bund der Geister im Geiste der Wahrheit, das Gebiet der Wissenschaft und der Volksbildung. Auf geistiger Bildung ruht die sittliche Bildung, auf der sittlichen Kraft des Volkes ruht sein Glück, seine Freiheit, seine Größe. Ein Geist muß die ganze Bildung des Volkes durchdringen.272
Dass etwa die Wissenspopularisierung „eminent politisch“273 war, das haben die jüngsten Darstellungen betont274, denn dadurch wurden Formen der Öffentlichkeit und Massenkommunikation geschaffen.275 Es wurde bereits bei der Erläuterung der Auffassung von Wissenschaft bei den Gründern des Freien Deutschen Hochstifts festgestellt, dass der Begriff der Popularisierung problematisch ist, denn er trennt „Wissensproduktion und Wissensrezeption“ und orientiert sich an den
267 Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland unter dem Einfluss der französischen Revolution, S. 553. 268 Vgl. Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert; Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland; Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein. Geschichte der freien Vereinigung in Deutschland. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution; Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung. Die bürgerliche Vereinskultur; Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, S. 105–144. 269 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 4. 270 Lothar Gall/Andreas Schulz, Einleitung, in: dies., (Hg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, S. 8. 271 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 4. 272 Karl Bayer, Der Sieg der Freiheit und die deutsche Volksbildung (1848), S. VII. 273 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaftspopularisierung und bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert. 274 Neben der Arbeit von Andreas Daum gehört dazu Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). 275 Andreas Daum, Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den Anfängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848, S. 60.
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Strukturen des staatlichen Wissenschaftssystems.276 Im Verständnis des Hochstifts waren beide Bereiche aber nicht notwendig voneinander getrennt, sondern die Trennung sollte überwunden werden. Deswegen besitzt der im Hochstift verwendete Begriff der allgemeinen Bildung drei Dimensionen. Erstens sollten die Wissensbestände einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden, die auch praktische, für die Lebensführung nutzbare Konsequenzen beinhalteten. Zweitens sollte die Vermittlung wissenschaftlicher Entdeckungen und künstlerischer Werke ein Bewusstsein für den Rang und die Größe der eigenen Nation generieren und zu einer stärkeren Identifizierung mit ihr führen. Drittens sollte dadurch ein individuelles Interesse an wissenschaftlichen oder künstlerischen Beschäftigungen geweckt werden, denen man im Hochstift nachgehen konnte, denn aus den Adressaten sollten auch Wissensproduzenten werden.277 Die gewaltigen Ansprüche dieses Konzepts liefen darauf hinaus, in Frankfurt mit dem Freien Deutschen Hochstift eine nationale Agentur für die Erwachsenbildung einzurichten. Wie für die Wissenschaft, so sollte auch für die allgemeine Bildung eine alternative Struktur entstehen, die sich von den Grenzen des staatlichen Bildungssystems abgrenzte. 2.2. Organisation Wie sollte nun die allgemeine Bildung durch das Hochstift organisiert werden? In ihrer Grundstruktur war sie eng an die bereits beschriebenen Formen gebunden. Einmal sollte dazu die geplante Hochschule dienen. Um so mehr ist zu hoffen, dass Deutsche, welche auf den Staatshochschulen und Kunstlehranstalten ihre Vorbereitungen zu solchen Stellungen und Berufen vollendet haben, sowie Mitglieder der verschiedenen Stände in älteren und jüngeren Jahren, welche bisher nur der allgemein höheren Ausbildung wegen auf kürzere Zeiten oder, wegen der Hindernisse, welche die beschränkten Staatsabsichten dieser Hochschulen ihnen in den Weg legten, auch gar nicht die Staatshochschulen zu besuchen pflegten, auf kürzere oder längere Zeit am Stiftsorte des Deutschstiftes die in freiester Form dargebotene Gelegenheit zu höherer Bildung wahrnehmen werden.278
Die Hochschule sollte also nicht nur den Bildungsbedürfnissen interessierter Laien genügen, sondern sie sollte auch qualifiziertes Wissen jenen vermitteln, die bereits über eine akademische Ausbildung verfügten. Wie allerdings ihre Organisation im Detail aussehen sollte, wurde nicht ausgeführt. Die Satzung gibt darüber folgende Auskunft: In der Eigenschaft als Hochschule macht sich das Hochstift zur Aufgabe die Förderung beständiger wissenschaftlicher, künstlerischer und allgemein bildender Lehrgänge.279
276 Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung, S. 148. 277 Vgl. Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.), Expository Science: Forms and Functions of Popularisation. 278 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 32 ff. 279 Satzungen des FDH (1865), Satz 10, S. 4.
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Allerdings war die Bildung der Hochschule an die Kooperation mit Frankfurter Vereinen und nationalen Gelehrtenversammlungen gebunden. Somit wären die Mitglieder der „Leopoldina“, wenn sie sich dem Hochstift schließlich angeschlossen hätten, auch mit jenen Kreisen in Kontakt gekommen, die zunächst nur einfachen Bildungsbedürfnissen nachgingen. Die Abschottung der Gelehrten in „Gelehrtenzünften“, gegen die Volger immer wieder polemisierte, wäre damit überwunden worden. Auch in den allgemeinen Sitzungen des Hochstifts wären Publikum und Gelehrte zusammengetroffen, denn in ihnen sollten unter freier Teilnahme aller Mitglieder Gelehrte ihre wissenschaftlichen Arbeiten vorstellen. Auch der Gelehrte ist vorab ein Mensch und Bürger, und wie erklärlich und dadurch verzeihlich immerhin es erscheinen mag, im engsten Kreise der Fachwissenschaft die Begeisterung für allgemeinere Bestrebungen zu verlieren – eine Pflichtvergessenheit muß es gleichwohl genannt werden.280
Die Ressourcen für diese Aufgaben sollten mithilfe von Kooperationen zur Verfügung gestellt werden. Bibliotheken, Sammlungen und entsprechende Räumlichkeiten hätten in Frankfurt die Vereine und Stiftungen zur Verfügung stellen sollen. Das Hochstift sollte alle in seinem Besitz befindlichen Materialien an die entsprechenden Vereine abgeben. Was die Inhalte betraf, die man unter dem Begriff allgemeine Bildung zusammenfasste, so waren sie nicht auf bestimmte Gebiete beschränkt. Das galt auch für das Publikum. Die Teilnahme war jedem freigestellt, ausdrücklich auch Frauen. 2.3. Tätigkeiten Die praktischen Tätigkeiten im Bereich der allgemeinen Bildungsvermittlung blieben allerdings noch hinter denen der Wissenschaft zurück. Da weder Frankfurter, noch andere Vereine Interesse zeigten, sich mit dem Hochstift zu einer Hochschule zusammenzuschließen, fehlten die wesentlichen Ressourcen, um einen „Hörsaal für Deutschland“ zu schaffen. So war man wiederum gezwungen, ein eigenes Vortragsprogramm aufzubauen. Das Hochstift bot in den Wintermonaten 1863/64 und 1864/65 zum ersten Mal ein umfangreiches Vortragsprogramm an, während die Frankfurter Vereine „nicht die geringste Neigung zeigten, auf den Plan Volgers einzugehen“.281 Um das eigene Vortragsprogramm zu erweitern, nahm man den Gedanken der „Hochstiftstage“ wieder auf, der bereits 1860 diskutiert worden war.282 Diese sollten während der Hochschulferien stattfinden, um Bekenner und Freunde von Wissenschaften und Künsten zu einer freien Versammlung in Frankfurt einzuladen, sowohl zum gegenseitigen gesellschaftlichen Verkehre, als auch im besonderen erstere zur Veranstaltung von einzelnen Vorträgen oder kürzeren Lehrgängen und 280 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 3. 281 Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 63. 282 Ber. FDH 1860, S. 18.
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von Vorweisungen über solche Theiles ihres Faches, in welche sie selber den Schwerpunkt ihrer Leistungen legen oder in welchem sie etwas Neugeschaffenes zu öffentlicher Kunde bringen und nicht bloß unmittelbaren Fach- und Zunftgenossen, sondern einem weiteren Kreise von Gebildeten vorlegen wollen.283
1863 wurde die regelmäßige Veranstaltung der Hochstiftstage in die Satzung des Hochstifts aufgenommen: In gleicher Eigenschaft veranstaltet dasselbe am Stiftsorte sogenannte Hochstiftstage, nämlich Versammlungen aller Hochlehrer und Freunde der Wissenschaften, Künste und allgemeiner Bildung in den Stillstandszeiten der Hochschulen, im Frühlinge und im Herbste, zum Zwecke kürzerer Lehrgänge von Gelehrten und Künstlern über die von ihnen besonders gepflegten und fortgebildeten engeren Gebiete, sowie zu geistig gegenseitig befruchtendem Verkehre der Vertreter der verschiedenen Wissenschafts-, Kunst-, und Bildungsfächer.284
Mit den Hochstiftstagen sollten vor allem Dozenten von den Universitäten gewonnen werden, Vorträge und Lehrgänge im Rahmen eines bürgerlichen Vereins zu halten. Insgesamt fanden aber nur zwei Hochstiftstage statt. Erstaunlicherweise forcierte Volger die Abhaltung der ersten Veranstaltung im Herbst 1866, obwohl Frankfurt kurz vorher von preußischen Truppen besetzt worden war. Volger hielt den Zeitpunkt für günstig, weil nun mancherlei äußere Hemmnisse, welche sich der Ausführung eines solchen Planes sonst recht entgegengestellt hätten, gerade jetzt nicht zu befürchten seien.285
Für Volger, der den Krieg abgelehnt hatte, war das auch ein symbolischer Widerstand des „großdeutschen Hochstifts“ gegen die preußische Besetzung Frankfurts. Dennoch blieben regelmäßige Vortragszyklen im Winter bzw. die Hochstiftstage eine Ausnahme. Schon im Herbst 1867 fanden sich keine Dozenten, die bereit gewesen wären, Vorträge im Hochstift zu übernehmen.286 Zwischen 1868 und 1871 war Volger längere Zeit abwesend und das führte zu einer weiter eingeschränkten Hochstiftsaktivität. Erst 1872 schlug ein Mitglied wieder vor, regelmäßige Vorträge für den Winter ins Auge zu fassen. Dazu sollten die Mitglieder der Verwaltung „in ihren Kreisen Rundschau nach geeigneten Kandidaten halten“.287 Die Absicht, zwei festangestellte Dozenten mit einem Gehalt von 400 Gulden für regelmäßige Vorlesungen zu engagieren, konnte nicht finanziert werden.288 So hielten 1872 Mitglieder, wie der Frankfurter Zahnarzt Petermann, eine Vortragsreihe über Zahnheilkunde und Volger sprach über naturwissenschaftliche Themen und das Goethehaus.289 Auch im November 1877 war wiederum nur Volger bereit, Vorträge zu übernehmen. Selbst für die allgemeinen Hochstiftssitzungen fehlten immer öfter Vortragende, sodass Volger wiederholt die Mitglieder dazu aufforderte, Vorträge zu 283 284 285 286 287 288 289
Ebenda, S. 18; Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 66. Satzungen des FDH (1865), Satz 11, S. 5. Prot. VS, 11.8.1866. Prot. VS, 23.10.1863. Prot. VS, 6.11.1872. Ebenda; vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 64. Prot. VS, 6.11.1872.
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halten, denn „der Austausch der Gedanken, Kenntnisse und Geisteserzeugnisse unter den Mitgliedern sei der ureigenste Zweck des F.D.H.“290 Diese Mahnungen fanden kaum ein Echo, denn auch im Winter 1877/78 und 1878/79 bestritt wieder Volger allein das Vortragsprogramm.291 In den Berichten wurde kurz darauf folgender Aufruf veröffentlicht: Die Mitglieder der Meisterschaft, zunächst soweit Dieselben in Frankfurt a. M. wohnen, wurden eingeladen, sich im bevorstehenden Winterhalbjahre möglichst zahlreich und ausgiebig an den in der Mutterstadt des F.D.H. abzuhaltenden öffentlichen Vorlesungen zu betheiligen, damit mehr und mehr die freie geistige Thätigkeit im Anschluß an des Hochstift, neben der freien allgemeinen Deutschen Gelehrten- und Künstler-Gesellschaft, auch die F r e i e D e u t s c h e H o c h s c h u l e (vergl. Satz 4 der Satzungen) zur Verwirklichung gelangen lasse. Da dem F.D.H. Mittel zur Besoldung von Lehrern einstweilen nicht zu Gebote stehen, so muß allerdings auf die bereite Opferwilligkeit gerechnet werden [...].292
Von einer freien Hochschule im Rahmen des Hochstifts konnte weiter keine Rede sein, denn [l]eider erkennt man noch nicht allerseits, insbesondre in den leitenden Kreisen, dass die Bedeutung jeder Einzelleistung sich wesentlich erhöht, wenn das, was doch nicht selber ein Ganzes sein kann, als dienendes Glied an ein Ganzes sich anschließt.293
Zwar verwies Volger auf die vielfältigen städtischen Vereine, durch die das Bild einer freien Hochschule, ganz, wie solches bei der Begründung des F.D.H. im Jahre 1859 bereits in’s Auge gefasst war, in erfreulichster Weise verwirklicht erscheint,
aber das war nicht mehr als ein Gemeinplatz. Die wenigen Dozenten, die überhaupt Kurse übernommen haben, finanzierten diese durch die Eintrittsgelder, da das Hochstift zu weiteren Entschädigungen nicht in der Lage war. Das Vorhaben, unter solchen Voraussetzungen die „ausgezeichnetsten Notabilitäten der Wissenschaft u. Kunst“ für Vorträge zu gewinnen, die „alle 8 oder 14 Tage gehalten werden sollen“, war hoffnungslos.294 Wie setzte sich das Vortragsprogramm des Hochstifts thematisch zusammen? Zunächst einmal waren die Themen abhängig von den Bewerbern, die sich bereit erklärten, Vorträge zu übernehmen. Die Verwaltung selbst stellte keine Bedingungen. Schon vor 1863 gab es einzelne Vortragsreihen. So hielt Otto Volger im Winter 1861/62 eine Reihe von Vorträgen über ausgewählte „Abschnitte der Erdwissenschaft“.295 In den Vorlesungen ging Volger nicht nur auf allgemeinwissenschaftliche Fragen ein, er sprach auch über den gewerblichen Nutzen. Die 15 Vorträge waren für die Hochstiftsmitglieder kostenlos, Nichtmitglieder mussten eine Gebühr von 5 Gulden entrichten.296 290 291 292 293 294 295 296
Prot. OS, 13.5.1877. Prot. VS, 12.11.1877; Prot. VS, 21.11.1878. Prot. OS, 17. 8.1879, Ber. FDH 1880, S. 352. Ebenda. Prot. OS, 12.4.1863. Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt (1861), Nr. 297 (17. Beilage), 8.12.1861. Ebenda.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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Das umfangreichste Vortragsprogramm wurde in den Wintermonaten 1863/64 und 1864/65 abgehalten. Gustav Schneider, Lehrer an der Handelsschule in Frankfurt und Mitglied des Hochstifts, führte im Winter 1863/64 einen wöchentlichen „Lehrgang der Englischen Sprache“ durch, den Erlös spendete er der Kasse des Goethehauses.297 Joseph Oppenheim, Sprachlehrer und Mitglied des Hochstifts, bot 1863/64 einen Sprachkurs (140–170 Stunden) in französischer Sprache an, dessen Ertrag er ebenfalls für das Goethehaus spendete.298 Friedlieb Rausch, auch er Mitglied, hielt im Winter 1863/64 Vorträge über die „Geschichte der Nationalliteratur in Italien“. Nur Otto Volger, der über naturwissenschaftliche Themen sprach und der Schriftsteller Wilhelm Jordan, der epische Abende veranstaltete, waren 1863/64 vortragende Hochstiftsmeister. Das Winterhalbjahr 1864/65 blieb aber mit seinen 10 Vortragszyklen und 5 zusätzlichen kleineren Vortragsreihen eine Ausnahme. Von den neun Dozenten (Volger hielt zwei Vortragszyklen) waren fünf Genossen und vier Meister des Hochstifts. Von der führenden Rolle der Meister für das Vortragswesen im Hochstift, die Volger noch 1859 favorisiert hatte, hatte man sich inzwischen verabschiedet. Die Themen der Vorträge entsprachen den Vorlieben und Tätigkeiten der Dozenten. Neben Sprachkursen überwogen schöngeistige Themen (Musik, Literatur, Geschichte), während Volger naturwissenschaftliche Vorträge anbot. Nur die Hochstiftstage im September 1866 und im Frühjahr 1867 konnten an dieses reichhaltige Programm anknüpfen. Hier hielten auch Gelehrte wie Karl Schimper, für dessen wissenschaftliche Würdigung das Hochstift eintrat, Vorträge. Nach den Aufbruchsjahren nahmen die Aktivitäten des Hochstifts ab. Nur noch sporadische Vortragsreihen fanden in den nächsten anderthalb Jahrzehnten statt. Da sich das Hochstift selbst als eine Art verbindende Institution verstand, deren Aufgabe die Zusammenführung des öffentlichen Vortragswesens der Stadt sein sollte, spezialisierte man sich selbst auf keine Gebiete. Volger strebte bereits 1859 und noch einmal 1864 eine Einrichtung in Fachabteilungen an, die alle Bereiche von Wissenschaft und Kunst umfassen sollten, sogar von Zweiggesellschaften des Hochstifts in den großen Städten Deutschlands war die Rede, um auch den gesamtdeutschen Anspruch zu erfüllen.299 Alle diese Pläne kamen aber nicht über die Ankündigungen hinaus. Was die Art der Vorträge betraf, so handelte es sich überwiegend um eine populäre Darstellung verschiedener Themen für das allgemeine Publikum. Von Ansprüchen auf eine wissenschaftliche oder künstlerische Weiterbildung für Hochschulabgänger oder Gelehrte konnte keine Rede sein. Volger selbst ging in seinen Vorträgen über seine Fachgrenzen hinaus, indem er auch über Themen wie Goethe und dessen Epoche sprach, in den späteren Jahren hielt er allgemeine Vorträge über wissenschaftliche Tagesfragen der Zeit, die sich an ein interessiertes Laienpublikum richteten. Eine Gemeinschaft zwischen Gelehrten und Publikum herzustellen, das wurde indes immer schwieriger, da aus den Gelehrten immer mehr 297 Die Gebühr für Nichtmitglieder betrug 15 Gulden. Ber. FDH 1864, Flugblatt 6 und 7, Sp. 1. 298 Ber. FDH 1864, Flugblatt 3, Sp. 4 f. 299 Prot. VS, 5.1.1864.
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spezialisierte Wissenschaftler wurden. Diese „streng wissenschaftlichen Gelehrten“ seien immer weniger bereit, so Volger, einem allgemeinen Publikum über ihre Arbeiten zu berichten, da sie dann gezwungen wären, in den Vorträgen die „Wissenschaft abzuflachen“.300 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine Entwicklung, die das Verhältnis der Vereine zur akademischen Wissenschaft veränderte. Schon in den Jahrzehnten davor waren immer wieder Vorwürfe des Dilettantismus gegenüber den Vereinen aus den Reihen der Akademiker erhoben worden. Das beispielsweise in den Naturvereinen praktizierte „schichten- und rangübergreifende[s] Wissenschaftstraining“ wurde durch die allgemeine wissenschaftliche Professionalisierung infrage gestellt.301 Diese Tendenz führte zu einer Differenzierung innerhalb der Vereinslandschaft, in denen nun verstärkt zwischen Liebhabern und Professionellen unterschieden wurde. Das betraf auch andere Gebiete, etwa die Geschichts- und Altertumsvereine. In ihnen dominierten lange nicht professionelle Historiker, während nur wenige Fachhistoriker vertreten waren.302 Seit den 1860er Jahren kam es vermehrt zu Konflikten zwischen den Vereinen und den Universitäten, da die „professionellen Historiker“ deren Mitgliedern vorwarfen, dass „diese nicht über die notwendige universitäre Ausbildung verfügten und die geschichtswissenschaftliche Forschung behinderten.“303 Eine Folge war die Gründung neuer Vereine mit gewandelten Ansprüchen und Mitgliedschaften. In Frankfurt beschritt die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft (SNG) den Weg zur wissenschaftlichen Professionalisierung, während für die naturkundliche Unterhaltung ein entsprechender Verein gegründet wurde.304 Überhaupt verfügten viele der Frankfurter Vereine über ein Vortragsprogramm, mit dem das Hochstift nicht konkurrieren konnte. Für die Naturwissenschaften war die SNG Frankfurts führende Institution. Hier existierten ab 1863 insgesamt 16 verschiedene Sektionen und umfangreiche Sammlungen, ab 1850 erschienen periodische Berichte, die zunehmend wissenschaftliche Vorträge und Illustrationen beinhalteten. Bereits einige Jahre nach der Gründung stiftete die Stadt Frankfurt einen Betrag, der für eine „Unterrichtsanstalt für Naturgeschichte“ verwendet werden sollte.305 Mit der Stiftung des Kaufmanns Mylius war es schließlich ab 1854 möglich, öffentliche Vorlesungen abzuhalten, die nach einem
300 Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 13.12.1874. FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642; vgl. Rüdiger vom Bruch, Vom Bildungsgelehrten zum wissenschaftlichen Fachmenschentum. Zum Selbstverständnis deutscher Hochschullehrer im 19. und 20. Jahrhundert. 301 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 109. 302 Martin Nissen, Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900), S. 68. 303 Ebenda, S. 69. 304 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 110; Carsten Kretschmann, Wissenskanonisierung und -popularisierung in Museen des 19. Jahrhundert – das Beispiel des SenckenbergMuseums in Frankfurt am Main, S. 204. 305 Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Geschichte des Senckenberg-Museums, S. 134.
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festen Programmschema gegliedert waren.306 Otto Volger war 1856 einer der Dozenten, deren Arbeit aus dem Legat von Mylius honoriert wurde. Der jährliche Zuschuss der Stadt in Höhe von 1.500 Gulden wurde auch nach der Eingliederung Frankfurts in das Königreich Preußen weiter gewährt.307 Neben den Gehältern für die Mitglieder standen der Gesellschaft auch Mittel für die Vorlesungen zur Verfügung, 1867 betrugen sie 1.444 Gulden, und der Betrag blieb auch die nächsten Jahre immer konstant über 1.000 Gulden.308 Hinzu kam ein jährlicher Posten für den Ankauf neuer wissenschaftlicher Werke für die Bibliothek, der zu jener Zeit ca. 900 Gulden betrug. Das wachsende Bedürfnis der Öffentlichkeit nach naturwissenschaftlicher Bildung wurde auch von kleineren Vereinen, wie dem Physikalischen Verein, bedient. Er war 1824 von Frankfurter Bürgern gegründet worden, um sich gegenseitig zu belehren, um Kenntnisse in der Physik und Chemie allgemeiner zu verbreiten, und diese Wissenschaften selbst so viel als möglich zu fördern und zu bereichern.309
Seit den 1860er Jahren bestellte der Verein zwei Dozenten für Chemie und Physik.310 An dem jährlichen Vorlesungsprogramm, das in Anlehnung an die Hochschulen in ein Sommer- und Wintersemester unterteilt war, konnten nicht nur Mitglieder, sondern auch Abonnenten und Schüler teilnehmen. So bot man z.B. im Wintersemester 1866/67 drei verschiedene wöchentliche Vorlesungen an.311 Dadurch besaß der Verein schnell eine „führende Stellung in Fragen der Physik und Chemie“ in Frankfurt, neben seiner Funktion als wissenschaftliche Akademie übernahm er auch Gutachtertätigkeiten.312 Dem Hochstift war er auch dadurch überlegen, dass er wissenschaftliche Sammlungen anlegte, um kostspielige Experimente für die Teilnehmer zu ermöglichen.313 Hier hatte Philipp Reis an seiner Erfindung arbeiten können. Der Verein zählte im Vereinsjahr 1866/67 insgesamt 282 Mitglieder.314 Neben der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und dem Physikalischen Verein existierten noch zahlreiche andere Vereine und Institutionen, die ein regelmäßiges Vortragsprogramm anboten. Dazu gehörten die Akademie für Handel und Gewerbe, der Verein für Geographie und Statistik315 und der Verein 306 Ebenda, S. 135. 307 Bericht über die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Frankfurt am Main (1868), S. 8. 308 Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Geschichte des Senckenberg-Museums, S. 327 ff. 309 Zit. nach Heinz Fricke, 150 Jahre Physikalischer Verein Frankfurt a. M., S. 14. 310 Ebenda, S. 108. 311 Jahres-Bericht des physikalischen Vereins (1866–67), S. 9. 312 Heinz Fricke, 150 Jahre Physikalischer Verein, S. 113. 313 Jahres-Bericht des physikalischen Vereins (1866–67), S. 15. 314 Ebenda, S. 3. 315 Der 1836 gegründete Verein widmete sich der „Verbreitung der Geographie und der ihr verwandten Wissenschaften“. Er bot Vorträge für Mitglieder und „für das grössere Publikum“ an, vgl. Jahresbericht des Frankfurter Vereins für Geographie und Statistik, Band 34 (1870), S. 10 ff. Otto Volger war Mitglied des Vereins und hielt regelmäßig Vorlesungen, beispiels-
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für Geschichte und Altertumskunde. Zu vielen dieser Institutionen bestanden personelle Kontakte und gleichzeitige Mitgliedschaften, aber eine organisatorische Verbindung kam niemals zustande. 2.4. Zusammenfassung Dass gerade die Hochschule zur Verbreitung der allgemeinen Bildung sich kaum entwickelt hatte, gestand Volger freimütig gegenüber Ludwig Büchner ein. Jener betrachtete gerade diese Aufgabe als den „eigentlichen Zweck des Hochstifts“316, während Volger die Ziele des Hochstifts nicht allein darauf beschränken wollte.317 Büchner favorisierte eine „von staatlicher Beaufsichtigung und Einengung unabhängige und mehr auf allgemeine Bildung, als mit Eintrichterung der Spezialstudien gerichtete Wissenschaft“, die aber immer noch „zum Heile der Nation“ wirken sollte.318 Von einer „Frankfurter Hochschule“ der Vereine, die eine „zusammengefasste Gliederung aller dieser Einzelbestrebungen zu einem Ganzen“319 repräsentieren sollte, sprach Büchner 1881 nicht mehr. Drei Gründe waren am Ende entscheidend, warum das Hochstift nicht in der Lage war, die Vorsätze hinsichtlich der Vermittlung der allgemeinen Bildung zu erfüllen. Erstens gelang es nicht, die Frankfurter Vereine zu einer Kooperation zugunsten einer Hochschule zu gewinnen. Zweitens wurden die Vorstellungen und Hoffnungen, die man mit der allgemeinen Bildung und Volksbildung verbunden hatte, sie nämlich als ein Sprungbrett in Richtung wissenschaftlicher Beschäftigung und als ein Mittel nationaler Integration zu betrachten, durch die Professionalisierungstendenzen überholt. Drittens reichten die eigenen Ressourcen des Hochstifts nicht aus, um ein eigenständiges Vortragsprogramm zu entwickeln, das mit den lokalen Angeboten vergleichbar gewesen wäre. 3. DIE KUNST IM FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFT 1859–1881 3.1. Das Ideal einer „deutschen Kunst“ „Verbürgerlichung“ und „Autonomie“ beschreiben begrifflich die Entwicklung der Kunst im 19. Jahrhundert. Die Künste
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weise im Winter 1861/62, vgl. Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt, 6.11.1861, Beilage 1. Ludwig Büchner an Otto Volger, 27.1.1881, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19653. Otto Volger an Ludwig Büchner, Ds., 21.2.1881, ebenda. Ludwig Büchner an Otto Volger, 27. 1.1881, ebenda. Ber. FDH 1880, S. 498.
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treten aus der Einbindung in Hof und Kirche und in die ständische Welt, des Adels und der Patrizier zum Beispiel, heraus, aus vorwiegend repräsentativen oder liturgischen oder schmückenden, geselligen, unterhaltenden Funktionen.320
Die neue Kunstauffassung wurde durch das Bürgertum entwickelt und vertreten, die über Repräsentationszwecke hinaus die ästhetische Sinnstiftung für die bürgerliche Lebenswelt anstrebte. Das autonome Individuum und die autonome Welt der Kunst begegnen sich schon symbolisch im Titel von Goethes Kunstzeitschrift „Propyläen“, die zwischen 1798 und 1800 erschien. Die Kunst wird in der Einleitung als ein Heiligtum geschildert, die „Propyläen“ sind der Eingang „zwischen dem Innern und Aeußern, zwischen dem Heiligen und Gemeinen“.321 Die „Propyläen“ sollten auch Naturwissenschaften beinhalten, allerdings nur in Bezug auf die Kunst. Kunst war für Goethe an die Natur gebunden, die Aufgabe des Künstlers war, dass „er sich an die Natur halten, sie studiren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle“.322 Zwar blieb das Goethesche Kunstideal nicht unwidersprochen323, aber es war ein Beispiel für den Prozess der fortschreitenden Autonomisierung der Kunst. Aus dem Bereich religiöser und herrschaftlicher Repräsentation herausgelöst, wurden ästhetische und philosophische Diskurse für eine neue Bestimmung der Kunst geführt, die maßgeblichen Einfluss auf die Stellung der Kunst im 19. Jahrhundert ausübten. Neben der Autonomie der Kunst, die eine neue Sinnstiftungsmöglichkeit für das von alten Strukturen befreite bürgerliche Individuum bot, zog die Kunst in alle Bereiche der bürgerlichen Lebenswelt ein, wurde zu einem Teil des „kulturellen Systems“, denn die „Kunst schuf zugleich einen sozialen Raum, in dem Fragen von Bürgerlichkeit dargestellt und formuliert werden konnten.“324 Zu dieser Entwicklung trugen besonders die Kunst- und Museumsvereine bei, in denen sich die Bürger als „Dilettanten“ und „Liebhaber“ mit verschiedenen Bereichen der Künste in direkte Beziehung setzen konnten.325 Das bürgerliche Bildungsideal, auf den Kunstverein angewandt, bedeutete: 320 Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, S. 10; ders. Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 533–587. 321 Johann Wolfgang Goethe, Einleitung in die Propyläen, S. 3. 322 Ebenda, S. 10. 323 Vgl. Erik Forssman, Goethezeit. Über die Entstehung des bürgerlichen Kunstverständnisses, S. 7–33. 324 Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 320; vgl. Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt; Hans Werner Hahn/Dieter Hein (Hg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. 325 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Stiftung bürgerlicher Identität, Kunst- und Museumsvereine in Deutschland 1820–1914; Andreas Schulz, Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein/ders., (Hg.), Bürgerkultur, S. 34–52; Wolfgang Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, S. 9–44; Joachim Großmann, Verloste Kunst. Deutsche Kunstvereine im 19. Jahrhundert, in: AFK 76, S. 351–364; zu einzelnen Städten vgl. Susanne Kill, Das Bürgertum in Münster 1770–1870. Bürgerliche Selbstbestimmung im Spannungs-
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger Vor der Kunst, vor der Kultur, vor den Anforderungen der ,ästhetischen und intellektuellen‘ Bildung waren alle gleich, unterschieden sie sich nicht nach Herkunft, nach Stand und nur von Fall zu Fall nach Beruf.326
Mit der Kunst verbanden sich im 19. Jahrhundert zahlreiche weitere Bewegungen, die sich durch die künstlerische Verbindung Legitimation und Wirkung versprachen. Nationale Ideen fanden in der Literatur, Musik, Malerei und schließlich in den nationalen Denkmälern ihren künstlerischen Ausdruck.327 Die Vorstellungen einer nationalen Kunst entwickelten sich im 18. Jahrhundert, als Winkelmann eine auf die „Völker bezogene Perspektive“ einführte.328 Das „Charakteristische“ wurde in Form des „Nationalen“ in die Kunst eingeführt und spätestens seit der Romantik galt beispielsweise die Gotik als Ausdrucksform des „nordischen Menschen“.329 Die Kunsttheorie der Romantik führte zur „Suche nach dem ,Deutschen‘ in der Kunst und nach der Kunst als Ausdruck des ,Deutschtums‘.“330 Das galt auch für die darstellende Kunst. Bereits im 18. Jahrhundert warb Lessing mit seiner „Hamburger Dramaturgie“ (1767–69) für ein deutsches Trauerspiel und das Theater wurde aus dem Verfügungsbereich der fürstlichen Repräsentation und Unterhaltung zu einer bürgerlichen Institution, für die im 19. Jahrhundert galt: Neben dem Verein waren es in diesem Sinne vor allem das Theater sowie das vielfach von Theater ausgehende und von hier koordinierte Konzertleben, die zu einer Art von zentralen Vermittlungsinstanz für das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des neuen Bürgertums wurden.331
Die Bezeichnung Nationaltheater wurde 1776 für das Wiener Burgtheater gewählt, ab 1777 eröffnete das Mannheimer Nationaltheater, in dem am 13. Januar 1782 Schillers „Räuber“ ihre Uraufführung erlebten. Ähnlich der Lessingschen Dramaturgie für das Hamburger Nationaltheater wurde auch in Mannheim eine Dramaturgie praktiziert, die Otto Heinrich Reichsfreiherr von Gemmingen verfasst hatte. Gemmingen betonte darin nicht nur die Notwendigkeit von Reformen hin zu einem Nationaltheater, er verteidigte in aufklärerischer Tradition auch den
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feld von Kirche und Staat, S. 146–152; Gisela Mettele, Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, S. 176–203; Frank Möller, Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790-1880, S. 161–197; Dieter Hein, Kunst und bürgerlicher Aufbruch. Das Karlsruher Vereinswesen und der Kunstverein im frühen 19. Jahrhundert, in: Jutta Dresch/Wilfried Rößling (Hg.), Bilder im Zirkel. 175 Jahre Badischer Kunstverein Karlsruhe, S. 25–36. Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, S. 196. Vgl. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 135; Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Daneben spielte die Kunst, etwa in Form der Musik eine wichtige Rolle in der nationalen Festkultur, vgl. Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbewusstsein von Napoleon bis Hitler. Marcus Müller, Geschichte, Kunst, Nation, S. 34. Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 36. Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, S. 198.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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Bildungsnutzen des Theaters.332 Trotz der Bezugnahme auf ein nationales Theater waren für Gemmingen, wie auch für Lessing, die künstlerischen und bildenden Funktionen wichtiger als die nationalen Gesichtspunkte.333 Das nationale Theater galt Ende des 18. Jahrhunderts als eine wichtige Voraussetzung für die deutsche Nation, die sich über die gemeinsame Kultur definierte. In diesem Sinne schrieb auch Schiller in seiner Schrift über „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“: „mit einem Wort, wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation“.334 Sind viele dieser Theaterprojekte durch fürstliche Mäzene unterstützt worden, etwa in Wien und Mannheim, so folgten im 19. Jahrhundert immer mehr städtische und damit bürgerliche Theatergründungen und um 1850 existierten bereits über 100 städtische Theater.335 Auch im 19. Jahrhundert, besonders in der Zeit des Vormärz, galt das Theater als ein Integrationsraum für bürgerliche Hoffnungen und gesellschaftliche Ideale. Der Schauspieler und Theaterregisseur Eduard Devrient veröffentlichte 1849 im Auftrag des preußischen Kultusministeriums eine Schrift über „Das Nationaltheater des neuen Deutschlands“.336 Devrient sprach sich darin für eine größere künstlerische Freiheit und eine Professionalisierung des Theaterbetriebs aus, vor allem forderte er einen staatlich anerkannten Schauspielberuf. Dabei argumentierte er, dass es gerade die Künste seien, die über alle Differenzen hinweg eine sittliche Erziehung des Volkes ermöglichten. Was kann daher willkommener sein, als die sanfte Gewalt der Künste, die es allein vermag, die Gemüther zu beschwichtigen, in rein menschlichem Antheil die Herzen aller Parteien zu vereinigen, durch unmerklichen Zwang wieder Achtung vor Sitte, Friede und stillem Glück zu verbreiten, auf diesem heitren Wege die Geister wieder den strengen Erziehungsstätten zuzuführen und der großen, gemeinsamen Begeisterung für eine neue, edle Freiheit des Völkerlebens den höchsten Schwung und den schönsten Ausdruck zu verleihen!337
Für Otto Volger war die Kunst ein wesentlicher Baustein seiner Vorstellung von einer Kulturnation. Wie bei der Bildung und Wissenschaft sprach er von der „deutschen Kunst“. „Nicht geeinter, als die Deutsche Wissenschaft, steht den fremden Völkern gegenüber die Deutsche Kunst“.338 Er forderte, die Kunst müsse „volksthümlich werden“.339 Das hieß, sie muss sich wieder auf ihre Ursprünge besinnen, um wieder eine rein „Deutsche Kunst“ zu werden. Der Naturwissenschaftler Volger, daran sei erinnert, beschrieb selbst seine Affinität zu der Sphäre der Kunst einmal als eine starke Triebkraft seiner Exis-
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Karl S. Guthke, Gemmingens „Mannheimer Dramaturgie“, S. 7. Ebenda, S. 8. Friedrich Schiller, Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, S. 65. Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, S. 12. Eduard Devrient, Das Nationaltheater des Neuen Deutschlands, Leipzig 1849. Ebenda, S. 7 ff. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 25. Ebenda, S. 26.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
tenz, die ihn wiederholt zu einem künstlerischen Beruf gedrängt habe.340 In der Schweiz lernten er und auch Richard Wagner durch Vermittlung Georg Herweghs die Philosophie Schopenhauers kennen. Dessen Bekanntschaft suchte Volger später in Frankfurt, um unter anderem mit ihm über dessen Farbentheorie zu sprechen.341 Im dritten Buch seines Werkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“ wird die Kunst von Schopenhauer zu einem Schlüssel der Welterkenntnis hochstilisiert. Ausgezeichneten Individuen biete, so Schopenhauer, die kontemplative Kunstbetrachtung die Möglichkeit, als „rein erkennendes Subjekt“ und „klares Weltauge“ nur „das Wesentliche, die Idee“, zu betrachten.342 Schopenhauers Ideen beeinflussten nicht nur die Musik, die Philosophie und Literatur, auch Volger nahm Anregungen aus dessen Werken auf und er setzte sich im Hochstift für die Ehrung Schopenhauers ein. Das Freie Deutsche Hochstift sollte erstens eine nationale Künstlerakademie darstellen und zweitens alle Formen von nationaler Kunst zur Schau stellen, um Frankfurt damit zum Mittelpunkt des deutschen Kunstschaffens zu entwickeln. Die in der nationalen Kunstakademie vereinten „Deutschmeister“ sollten künstlerische Lehrkurse anbieten und „Aufführungen und Schaustellungen für die verschiedenen Zweige der Kunst“ organisieren.343 Was Devrient der staatlichen Fürsorge anvertraute, um eine neue Theaterorganisation zu errichten, wollte Volger durch bürgerliche Institutionen organisieren. Devrient vertrat noch den allgemeinen Bildungsanspruch des Theaters, der dem individuellen bürgerlichen Bildungskonzept nahestand, Volger dagegen sah die Funktion auf die nationalpädagogische Aufgabe beschränkt und begrenzte damit die Autonomie der Kunst. Das Theater war aber nur eine von vielen Künsten, die Volger für die nationale Aufgabe des Hochstifts ins Auge fasste. Dafür bot die Mainmetropole eine Reihe von Kunsteinrichtungen und Vereinen, die sich das freistädtische Bürgertum geschaffen hatte. Bereits seit 1782 existierte in Frankfurt ein von Bürgern gestiftetes „Comödienhaus“, das sich über eine Aktiengesellschaft und ein Abonnementsystem finanzierte. Das Gebäude befand sich im Besitz der Stadt, die es an private Pächter bzw. eine Theateraktiengesellschaft vermietete.344 Auf diese vorhandene kulturelle Infrastruktur Frankfurts gründete Volger seine Hoffnungen, wie bereits am Beispiel der wissenschaftlichen Vereine und Stiftungen aufgezeigt wurde. Über das „Stadttheater“ als zukünftigen Ort einer „Deutschen Bühne für Deutsche Sprache“ äußerte sich Volger hoffnungsvoll:
340 Otto Volger, Striche zu meinem Lebensbild, Blatt 7, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, o. S. 341 Zu Volgers Beziehungen zu Schopenhauer, vgl. Arthur Hübscher, Um Schopenhauers Farbenlehre, in: Schopenhauer-Jahrbuch (31), S. 83–90. 342 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 203 ff. 343 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 31 344 Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 255–258.
III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger
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Die bisher für dieselbe gebrachten Opfer und die Höhe des Ziels, welches den Bestrebungen desselben gesteckt war bürgen dafür, daß diese Bühne auch den Anforderungen entsprechen werde, welche an den Ort des geistigen Stelldicheins unseres Gesammtvolkes sich richten werden.345
Das Theater sollte nicht eine reine Kunstsprache etablieren, sondern um als nationale Erziehungsstätte zu wirken, sollte es auch in einer volkstümlichen Weise die Volkskultur behandeln, und Volger sprach sich für eine Förderung von mundartlichen Aufführungen aus. Besonders die Musik und Malerei wurden durch Vereine, wie die Museumsgesellschaft und das Städelsche Kunstinstitut, präsentiert. Die Museumsgesellschaft hatte sich 1806 für die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft gegründet, wandelte sich aber im Lauf der Jahrzehnte immer mehr zu einer Konzertgesellschaft.346 Das Städelsche Kunstinstitut war die damals bedeutendste bürgerliche Kunststiftung. Der Bankier und Kaufmann Johann Friedrich Städel (1728– 1816) vermachte testamentarisch sein Vermögen einer Stiftung.347 Volger lobte an dieser „Weihestätte der Kunst“, besonders die Möglichkeit der „freiesten Benutzung“ und war selbst ein eifriger Besucher. Daneben nannte er zahlreiche andere Kunstdenkmäler und private Sammlungen, die in Frankfurt existierten, und hob die Bedeutung des städtischen Bürgertums für die Kunst hervor: Hier fehlt nicht der fürstliche Reichthum, welcher die Herrschersitze umgibt; die Besitzer dieses Reichthums aber sind Bürger, welche den Sinn für die Kunst unmittelbarer und lebendiger zum Bewußtsein aller Kreise tragen, durch welche höhere Bildung überhaupt sich verbreitet.348
Schon 1859 stilisiert Volger Frankfurt zu einem Sammelpunkt der Kunst in Deutschland hoch und weist auf die vielfältigen, der Kunst gewidmeten Vereine und Stiftungen hin. Volger Ziel war es, die nationale Kunst in Frankfurt mithilfe des Hochstifts zu fördern, die alle Bereiche, nämlich Malerei, Museen, Musik, Theater, Oper und Architektur, beinhaltete. Dazu sollte eine nationale Künstlerakademie gegründet werden, deren Vertreter im Sinne der nationalen Kunst am Hochstift wirken sollten. Gleichzeitig strebte er die Errichtung einer eigenen Volksbühne an, mit der das Hochstift die nationale Erziehung durch die Kunst bewirken wollte. Die Volksbühne sollte in demokratischer Manier alle Gesellschaftsschichten erreichen und gerade die volkstümlichen Elemente, etwa die Mundartdichtung, fördern.
345 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 37. 346 Vgl. Hildegard Weber, Das Museum. 150 Jahre Frankfurter Konzertleben 1808–1958; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 185 ff. 347 Vgl. Andreas Hansert, Geschichte des Städelschen Museums-Vereins Frankfurt am Main; ders. Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 97–106; Andreas Roth, „Der Toten Nachruhm“, S. 103. 348 Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 39.
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3.2. Kunstförderung In den Satzungen von 1859 und 1865 fanden die geschilderten Überlegungen zur Kunstförderung durch das Hochstift keine weitere Präzisierung, nur die Abhaltung von künstlerischen Lehrgängen wird erwähnt. Das Hochstift organisierte keinerlei künstlerische Aufführungen in Volgers Amtszeit als Obmann, mit Ausnahme der künstlerischen Darbietungen in den Festsitzungen. Dennoch beschäftigte man sich direkt und indirekt mit den Künsten. Dazu gehörten künstlerische Darbietungen von Mitgliedern in den Sitzungen, Berichte über die Kunstbestrebungen in Deutschland und Frankfurt, die Unterstützung von künstlerischen Unternehmungen und die Verbreitung von Kunstwerken durch Reproduktionen des Hochstifts. Mit dem Goethehaus erweiterte sich dieses Spektrum noch um den Bereich der kunsthistorischen Wiederherstellung und Erforschung des Gebäudes, was dazu führte, dass Volger sich verstärkt um den Schutz der historischen Bausubstanz in Frankfurt bemühte. Künstlerische Darbietungen umrahmten die Festsitzungen und dabei wurden meist eigene Werke von Mitgliedern aufgeführt. So las 1860 Carl Ulrich aus seinem „vaterländischen Heldengedicht“ „Hermannschild“ vor. Die Handlung verknüpfte dabei verschiedene nationale Mythen, z.B. die germanischen Götter, „Hermann den Cherusker“349 und Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser350. In einer Zeit von „Deutschlands Erniedrigung“ beschlossen die Götter, dessen „Geschicke wieder in die Hand zu nehmen, und vereinigten sich auf dem Idafelde in einer Götterversammlung dahin, aus dem Deutschen Volke selber einen rettenden Helden erstehen zu lassen“.351 Gefahr drohte in Ulrichs Werk den Deutschen durch die Franzosen, die den Rhein in kriegerischer Absicht überschritten hatten. Als Retter Deutschlands erweist sich der einfache Soldat Hermannschild, der mit der Unterstützung und durch die Liebe der Walküre Ira den Franzosen und den Plänen des zwieträchtigen Gottes Loki widersteht. Die Handlung selbst ist zwar fiktiv, aber durch Bezugnahme auf moderne Kämpfer, wie Husaren, ist sie in der Zeit anzusiedeln und nimmt die napoleonischen Kriege zum Vorbild. Zugleich kann sie aber auch als aktuelle Warnung vor der Bedrohung durch das französische Kaiserreich unter Napoleon III. verstanden werden. Aktuell auf die Kriegsereignisse in Italien und den Frieden von Zürich passen die Strophen, die ungenannt Napoleon III. beschreiben: Gen Frankreichs Hauptstadt wenden sie die Blicke, Zum neuen Horne der Geschicke; Sie wenden sie und müssen sie schon wenden, Zu lauschen haben sie sich schon gewöhnt, Was dort von eines Mannes Lippen tönt; Und gleich wie aus des Weltenrichters Händen, Und von der Nornen unerforschtem Walten, So nehmen sie aus seines Gurtes Falten, So wie er gibt
349 Vgl. Werner M. Doyé, Arminius, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 587–602. 350 Friedrich Rückert bearbeitete 1817 die Kyffhäuser-Sage in seinem Gedicht „Barbarossa“, vgl. Rückerts Werke, Bd. 1, S. 56 ff. 351 Ber. FDH 1860, S. 25.
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und wie er will, Und wie er ihnen es beschieden: Heut sein Geschenk, den Frieden, Und morgen das eiserne Würfelspiel.352
Ulrichs Werk reflektierte die politische Situation der Zeit in einer Kunstform, die dafür auf altbewährte nationale Mythen zurückgriff. Es entsprach in seiner Kernaussage den Gedanken Volgers, der Frankreich als Gefahr für Deutschlands Zukunft beschrieben hatte.353 Als Kunstprodukt ordnete es sich in das Programm des Hochstifts ein, die nationale Kunst zu fördern, um das Einheitsbewusstsein zu stärken. Carl Ulrich trug weitere Werke in Hochstiftssitzungen vor und sprach u.a. über die Entstehung der Heldensage „Edda“.354 Auch andere Mitglieder traten mit eigenen literarischen Arbeiten in Erscheinung, etwa Adolf Müller, Oberförster aus Gladenbach und Mitglied der Meisterschaft des FDH. Müller las 1863 „aus einem von ihm gedichteten zweiten Theile des Faust“ vor.355 Nach einigen Proben trug Müller schließlich das gesamte Werk in einer dafür anberaumten dreieinhalbstündigen Sitzung vor und erntete allgemeines Lob, wie die Frankfurter Nachrichten vermeldeten.356 Müller hatte die Handlung auf den „urwüchsigen Boden unseres Vaterlandes, in die Bewegungen der größesten, eigensten That des deutschen Geistes, in ,das Rauschen des Jahrhunderts‘, in die Reformation hinein“ verlegt.357 In dieser nationalen Faustfassung treten neben dem Landgrafen von Hessen auch der Reformator Luther und der Dominikaner Johann Tetzel auf. Müllers Arbeit ist ein Beispiel für diejenige Verbindung von Kunst und nationaler Identität, der sich das Hochstift verschrieben hatte, auch wenn bei ihm eine protestantisch gefärbte Deutung überwog. Als das Hochstift 1864 sein fünfjähriges Bestehen feierte, komponierte Xaver Schnyder von Wartensee auf der Grundlage eines Textes des Lehrers Georg Mandel für den Anlass das Festlied „Nur wer ausharrt, wird gekrönt“, welches auch zu anderen Festsitzungen als eine Art Hochstiftshymne fungierte, Friedlieb Rausch (MFDH) dichtete ein „Festlied“, das von Friedrich Reiff (GFDH) vertont wurde.358 Dargeboten wurden sie bei den Festsitzungen durch das „Neebsche Quartett“, einen Frankfurter Männergesangskranz. Mit den Liedern wurde eine Liturgie der Festveranstaltungen geschaffen. Den Berichten wurden die entsprechen352 Ebenda, S. 26 ff. 353 Vgl. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 7–22. 354 Frankfurter Nachrichten, Nr. 15, 6.2.1861, S. 115. Weitere Angaben sind über Carl Ulrich nicht zu finden, außer der Hinweis, er sei „Königlich Hannoverscher Amtsassesor“. Er gehörte nicht zu den Gründungsmitgliedern und auch im Mitgliedsverzeichnis findet er keine Erwähnung. 355 Frankfurter Nachrichten, Nr. 33, 22.3.1863, S. 260; vgl. Adolf Müller, Faust, Tragödie in fünf Akten, Leipzig 1869. 356 „[K]önnen wir doch nicht umhin, in Bezug auf Form und Vortrag anzuerkennen, daß der Dichter mit einem besonderen musikalischen Sinne begabt sein muß, was sich sowohl im leichten und wohlgefälligen Versbau, als auch in der Art und Weise des Recitirens und in der Abwechslung zwischen den verschiedenen Stimmen der auftretenden Personen kund gab“. Frankfurter Nachrichten, Nr. 53, 6.5.1863, S. 421. 357 Adolf Müller, Faust, Widmung S. II. 358 Ber. FDH 1864, Flugblatt 1, S. 7 ff.; vgl. Festsitzung am 13. November 1865, Flugblatt 35 und 36, S. 4 ff.
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den Notenblätter für die Mitglieder beigegeben, aber es kam zu diesen Anlässen immer wieder zum Vortrag von Festgedichten von Mitgliedern, daneben wurden Werke von Goethe, Rückert oder Uhland vorgetragen, die als Nationaldichter galten. 359 Der bekannte Frankfurter Mundartdichter Friedrich Stotze verfasste 1879 ein Festgedicht auf die Goethefeier und wurde im Anschluss daran in die Meisterschaft gewählt.360 Neben dem „Neebschen Quartett“ beteiligten sich der „Sachsche Verein für gemischten Gesang“ und der „Männerchor der städtischen Bühne“ unter Leitung des Kapellmeisters Georg Goldermann an den Aufführungen. Bildeten die Festsitzungen einen wesentlichen Teil der hochstiftseigenen Festkultur, so verkörperten die künstlerischen Darbietungen nicht mehr als die feierliche Umrahmung und konnten den Anspruch des Hochstifts auf eine eigentliche Kunstförderung nicht erheben. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden hervorragende Künstler in die Meisterschaft aufgenommen. Zu den besonders ausgezeichneten Künstlern gehörte Friedrich Rückert. Rückert, Verfasser der „Geharnischten Sonette“, zählte zu Volgers bevorzugten Autoren und er hielt ihn, wie er dem Rückertbiografen Conrad Beyer mitteilte, für den „Ersten unter Deutschlands Dichtern“.361 Als 1863 Rückerts 75. Geburtstag anstand, reiften Überlegungen, ihm eine Auszeichnung des Hochstifts zukommen zu lassen. Man wollte, wie das Protokoll der Sitzung vermerkt, dem Vorwurf zuvorkommen, die Deutschen würden ihre „großen Männer erst nach dem Tod [zu] ehren“, und sah sich als „das Organ der geistigen Einheit Deutschlands“ besonders dazu verpflichtet.362 Ohne Zweifel war Volger die treibende Kraft in dieser Angelegenheit, die für das Hochstift noch einige Verlegenheiten verursachte. Neben Rückerts Ernennung zum Ehrenmitglied sollte ihm ein silberner Eichenkranz mit dem Siegel des Hochstifts überreicht werden.363 Da dafür das Geld nicht reichte, wählte man einen silbernen Ring.364 Volger und der Frankfurter Schriftsteller Hermann Philipp Leonhard Presber überbrachten Rückert persönlich die Auszeichnung.365 Der Stuttgarter Bildhauer Heinrich Schäfer fertigte 1863 ein Brustbild Rückerts an, das man im Goethehaus aufstellte.366 Weil der silberne Ring für Rückert einige Tausend Gulden gekostet hatte und die Kassen des Hochstifts chronisch leer waren, bat man die Familie nach Rückerts Tod, ihn dem Hochstift wieder zurückzugeben.367
359 Ber. FDH 1865, Flugblatt 35 und 36, S. 5. 360 Friedrich Stoltze, Weihelied, in: FDH (Hg.), Die Feier des Goethe=Tages, S. 12. 361 Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 7.5.1877, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642. 362 Prot. OS, 10.5.1863. 363 Ebenda. 364 Prot. VS, 1.6.1863. 365 Ein Bericht Volgers findet sich in Beyers Werk, vgl. Conrad Beyer, Friedrich Rückert, S. 404 ff. 366 Ber. FDH 1864, S. 76; bzgl. Rückerts Dankschreiben, vgl. Ber. FDH 1864, S. 105. 367 Prot. VS, 18.12.1876; Prot. VS 8.1.1877.
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Unter den anderen Ausgezeichneten, die das Hochstift in die Meisterschaft aufnahm, waren vor allem bekannte bildende Künstler. Durch das „Städelsche Kunstinstitut“ und seine Ankauf- und Ausstellungspraktiken gehörten Debatten über Kunst zu den regelmäßigen Ereignissen in der Frankfurter Bürgerkultur. Besonders die Richtung der „Nazarener“, eine christlich-romantische Richtung in der Malerei, besaß in Frankfurt eine wichtige Wirkungsstätte, die durch den Direktor Philipp Veit (1793–1877) protegiert worden war.368 Veit, der nach einem Kunstskandal, der durch den Ankauf des Bildes „Johann Hus zu Konstanz“ von Carl Friedrich Lessing ausgelöst worden war, von seinem Amt zurücktrat, wurde 1853 Direktor der Gemäldegalerie in Mainz.369 Er und auch andere bedeutende Nazarener, wie Julius Veit Hans Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) und Peter von Cornelius (1783–1867), nahm das Hochstift in die Meisterschaft auf. Wilhelm von Kaulbach (1805–1874), Moritz von Schwind (1804–1871) und Adrian Ludwig Richter (1803–1884) waren andere bekannte Künstler, die man auszeichnete. Aber man legte sich nicht auf eine Künstlerschule fest. Denn man zeichnete auch Carl Friedrich Lessing (1808–1880) aus, den späteren Direktor der Karlsruher Galerie. Lessings protestantisch gefärbte Bildsprache, die sich beispielsweise in seinem Bild „Johann Hus zu Konstanz“ niederschlug, hatte 1843 zum Rücktritt des „Nazarenerförderes“ Philipp Veit als Vorsteher des „Städels“ geführt. Das Hochstift zeichnete auch solche Künstler aus, die sich in der Revolution von 1848/49 engagiert hatten und dadurch staatlichen Repressionen ausgesetzt waren. Dazu zählen der Komponist Richard Wagner (1813–1883), der Architekt Gottfried Semper (1803–1879) und der Schriftsteller Karl Gutzkow (1811–1878). Alle waren bereits seit 1864 in der Meisterschaft vertreten und Volger teilweise durch seinen Aufenthalt in der Schweiz persönlich bekannt. Erwähnenswerte Künstler von nationalem Rang, denen man bis 1881 die Meisterwürde antrug, waren Franz Grillparzer (1791–1872), Emil Brachvogel (1824–1878), Franz Liszt und Clara Schumann (1819–1896). Außer dem Frankfurter Friedrich Stoltze nahmen die wenigsten Meister überhaupt am Leben des Hochstifts teil oder besuchten die Sitzungen. Zumeist nahmen sie die Meisterurkunde lediglich als eine Auszeichnung entgegen, mit der sie die Verbindung zum Hochstift bewenden ließen. Künstlerische Impulse gingen nicht von ihnen aus und förderten auch nicht die Kunst im Hochstift, auch eine lokale Förderung der Kunst konnte das Hochstift nicht leisten. Man beschränkte sich auf die Geste der Auszeichnung und der Würdigung bestehender Leistungen und Talente. In den Berichten des Hochstifts, die zwischen 1864 und 1866 als Flugblätter erschienen, welche das gesamte geistige Leben in Frankfurt dokumentieren sollten, wird regelmäßig über die künstlerischen Vereine Frankfurts berichtet. Man druckte die Programme des Frankfurter Kunstvereins, der Museumsgesellschaft, des Concert Vereins, des Rühlschen Gesang-Vereins ab und berichtete 1864 über 368 Vgl. Christa Steinle/Max Hollein (Hg.), Religion Macht Kunst. Die Nazarener. 369 Zu dem Skandal vgl. Wolfgang P. Cilleßen, „Fromm und naiv erscheinen die Werke der gläubigen Kunst“, S. 155 ff.
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die Frankfurter Kunst- und Gewerbe Ausstellung. In deren Vorstand saßen drei Mitglieder des Hochstifts. Immer wieder wurde auch auf die Arbeiten des Vereins zur Beförderung baulicher Zwecke hingewiesen, der sich als „Verschönerungsverein“ für die „bauliche Regeneration“ Frankfurts einsetzte.370 Die Berichte des Hochstifts sind dabei ein Beispiel für die Heterogenität der kulturellen Alltagspraxis des Bürgertums.371 Die Bildung konnte zum einen als Motto gesellschaftlicher Emanzipation und zum anderen als Mittel individueller Lebensführung gelten.372 Für das Hochstift stellte die Kunst ein Medium dar, das über die individuellen Bedürfnisse hinaus eine gesellschaftliche Wirkung entfalten sollte. Kunst als Mittel reiner Unterhaltung, Liebhaberei oder elitärer Abschottung kritisierte man deshalb. Als 1864 der Kunstverein das Bild „Hus vor dem Scheiterhaufen“ von Carl Friedrich Lessing ausstellte, bemängelte man, dass nicht einmal die Vereinsmitglieder wie üblich kostenlos die Ausstellung besuchen durften. Hintergrund war, dass der preußische König das Bild für die Berliner Nationalgalerie erworben hatte, aber dem Vorbesitzer das Zugeständnis machte, noch eine Ausstellungstour des Bildes in Deutschland zu veranstalten.373 Und als zum fünfundzwanzigjährigen Berufsjubiläum des ehemaligen Leiters der städtischen Bühne, Robert Benedix, eine wenig besuchte Festvorstellung veranstaltet wurde, schloss sich das Hochstift der Kritik der Frankfurter Presse an den Inhabern der Abonnementkarten an, mit der Begründung, dass „bloße Theaterliebhaberei noch entfernt nicht gleichbedeutend ist, weder mit wahrem Kunstsinne, noch mit aufrichtiger Anerkennung der Ehrenschuld“.374 Die Unterscheidung zwischen wahrem Kunstgenuss und reiner Unterhaltung zeigt auch die Stellungnahme zum Abschied Otto Devrients als Intendant des Frankfurts Stadttheaters 1879. In diesem Falle könne die Genossenschaft doch nicht verkennen, dass nicht sowohl allein Rücksichten der Kunst und ihrer höheren Ziele, als vielmehr solche der Künstler und der Gunst und Launen einflußreicher Liebhaber bei diesem Ergebnisse bestimmend eingewirkt haben, und musste dieselbe beklagen, daß durch die herbe, rücksichtslose Behandlung, welche hier einem längst als hochverdienstvoll anerkannten und vertrauensvollst zu großartigen Aufgaben hierher berufenen Künstler und Kunstgelehrten zu Theil geworden sei, die Kunstzustände und der Ruf Frankfurts in Besorgniß erregender Weise bedroht erscheinen.375
Kunst als Luxusgut war auch dem Stadtverordneten Otto Volger ein Dorn im Auge. In der Frage des Theaterneubaus hatte er 1872 gegen eine Bewilligung öffentlicher Gelder gestimmt,
370 Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 460. 371 Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 321. 372 Vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: GG 23, S. 333–359, hier S. 347. 373 Ber. FDH 1864, S. 51. 374 Ebenda. 375 Ber. FDH 1880, S. 232.
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bevor Gehalte der darbenden Beamten und Lehrer angemessen aufgebessert sind und protestiere förmlich gegen Theilnahme der Logenzeichner und sonstigen Betheiligten an betreffender Beschlussfassung.376
Die Kunst in der Frankfurter Bürgerkultur als Form „einer Liebhaberkultur und vielfach geprägt von Zügen gefälligen Dilettierens, anspruchsloser Unterhaltung und Geselligkeit“377 stieß im Hochstift auf Kritik, weil es die Kunst als Ideal und „Ausdruck deutschen Wesens, der deutschen Seele“ betrachtete und ihr eine national-pädagogische Funktion zudachte. Nach der Reichsgründung traten die nationalen Bezüge der Kunst im Hochstift zurück. Die Kunst blieb aber weiterhin sinnstiftendes Element für die Lebenswirklichkeit, für die „Seelengenossenschaft“ des Hochstifts behielt sie ihren Wert. Nun fanden aber auch die künstlerischen Leistungen anderer Nationen Anerkennung. 1879 feierte das Hochstift das fünfzigjährige Schriftstellerjubiläum des polnischen Schriftstellers Ignaz Kraszewski (1812–1887), der auch zum Meister des Hochstifts ernannt wurde.378 Kraszewski, der für einen unabhängigen polnischen Staat kämpfte, lebte seit fast zwanzig Jahren im Exil in Dresden und war der deutschen Öffentlichkeit durch historische Romane über die sächsische Geschichte bekannt, wie z.B. „Gräfin Cosel“, „Aus dem siebenjährigen Krieg“ und „Brühl“. In seinem Glückwunschschreiben würdigte das Hochstift den Schriftsteller als ein Beispiel für die kulturelle „Wiedergeburt eines unterdrückten Volkes“.379 Polen bildete zu diesem Zeitpunkt keinen eigenen Staat, sondern war nach verschiedentlichen territorialen Teilungen Preußen, d.h. dem Deutschen Reich, Russland und Österreich-Ungarn territorial zugeschlagen worden. Im Kampf der Polen für einen eigenen Staat war zuletzt 1863 der sogenannte „Januaraufstand“ gegen den russischen Zaren ausgebrochen, nach dessen Niederschlagung auch Kraszewski emigrieren musste.380 Das Hochstift feierte den Schriftsteller als Führer der polnischen Nation und man zog eine Parallele zu Deutschland, das trotz Zeiten der Erniedrigung und des Zerfalls durch den Einsatz seiner Schriftsteller wieder gestärkt und vereint wurde. Kraszewski sollte ein „polnischer Friedrich Rückert“ sein und das Hochstift und jeder echte Deutsche381 sollten dem „Brudervolk vergönnen, was er für sein eigenes Volk fordert, Raum zu eigener Entfaltung der von der Natur ihm verliehenen Eigenthümlichkeiten, Fähigkeiten und Vorzüge“.382 Im Zeichen eines universellen Geistes gilt nun die Kunst jedes Volkes als
Zit. nach Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 276. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 97. Seit dem Frühjahr 1879. (Anm. S.M.) Ber. FDH 1880, S. 501. Während Napoleon III. und die französische Öffentlichkeit mit den polnischen Aufständischen sympathisierten, unterstützte Preußen den Zaren. Nach der Niederschlagung des Aufstands kam es zu weiteren Einschränkungen für die polnische Bevölkerung. Vgl. Eitel Karl Rohr, Russifizierungspolitik im Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1863/64. 381 Darunter verstand man „die wahrhaft durch Bildung veredelten Kreise“, Ber. FDH 1880, S. 501. 382 Ebenda. 376 377 378 379 380
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Teil eines Kranzes, der aus dem „Schmucke der Blüthen aller einzelnen Völker besteht“.383 Den Polen rät man: Vertrauet, Ihr Polen, der Zukunft – vertrauet der Macht des Geistes – vertrauet der Freundschaft und Gerechtigkeit des Deutschen Volkes.384
Volger und die Verwaltung knüpften hierbei wieder an die demokratischen Traditionen von vor 1848 an, die den Polen einen eigenen Nationalstaat in Aussicht gestellt hatten. Damals blieb die Linke mit ihrem propolnischen Ansinnen in der Frankfurter Nationalversammlung in der Minderheit.385 Der europäische Völkerfrühling blieb nur eine Utopie.386 Während die Reichsverfassung von 1849 allerdings einen Minderheitenschutz enthielt, betrieb die deutsche Politik nach der Reichsgründung eine rücksichtslose „Germanisierungspolitik“, die sich gleichzeitig als Kulturleistung tarnte.387 Insofern war die Stellungnahme des Hochstifts eine eminent politische Äußerung, weil sie den politischen Umgang mit der polnischen Minderheit kritisierte und infrage stellte. Dabei hat sich die Argumentationsfigur gewandelt. Die Vorrangstellung der deutschen Kultur wurde vom Hochstift zugunsten einer kulturellen Vielfalt aufgegeben. Die Kunst als verbindendes Element der Völker opponierte im Falle der Polen gegen eine staatliche Germanisierungspolitik.388 3.3. Zusammenfassung Das Hochstift hatte sich der Förderung der nationalen, volkstümlichen Kunst verschrieben. Kunst galt als Ausdrucksmittel der Nation und sie sollte im Rahmen des Hochstifts gefördert und breitenwirksam vermittelt werden. Die realen Ergebnisse dieser Ideen blieben aber auch hier hinter allen Erwartungen zurück. Weder konnte das Hochstift Fortschritte in Richtung einer nationalen Künstlerakademie erzielen, noch zählte es in Frankfurt zu den führenden Vereinen für die Kunst. Die wenigen künstlerischen Arbeiten der Mitglieder dienten eher dazu, der Gestalt der Festsitzungen durch künstlerische Darbietungen einen weihevollen Charakter zu verleihen. Die Aufnahme von ausgewählten Künstlern von nationalem Rang als Ehrenmitglieder der Meisterschaft ermöglichte keine weiteren Anknüpfungspunkte. Ebenda. Ebenda, S. 502. Wolfgang J. Mommsen, 1848 – Die ungewollte Revolution, S. 228 ff. Vgl. Dieter Langewiesche, Nation, nationale Bewegung, Nationalstaat in den europäischen Revolutionen von 1848. Demokratische Hoffnungen und Kriegsgefahr, in: ders., Reich, Nation, Föderation, S. 259–276. 387 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 962; Krysztof Makowski, Polen, deutsche und Juden und die preußische Politik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht, in: Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hg.), Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 51–60. 388 Diese Argumentation findet sich in den Debatten der Nationalversammlung, vgl. Günter Wollstein, Das „Großdeutschland“ der Paulskirche, S. 270 ff. 383 384 385 386
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4. DIE MITGLIEDER 1859–1881 4.1. Die Klasse der Meister Die Klasse der Meisterschaft des Hochstifts sollte eine Auszeichnung für jene Männer und Frauen darstellen, die „geistige Förderer irgend eines Zweiges der Wissenschaft, Kunst oder allgemeinen Bildung“ waren.389 Die Mitglieder in verschiedene Klassen aufzuteilen, war ein übliches Verfahren in den Vereinen. In den verschiedenen Frankfurter Vereinen existierten „wirkliche Mitglieder“, „Ehrenmitglieder“, „correspondierende Mitglieder“ oder „passive Mitglieder“.390 Die Mitglieder, die über den Jahresbeitrag hinaus größere Kapitalbeträge stifteten, wurden beispielsweise als „ewige Mitglieder“ betrachtet und besonders geehrt.391 Zu welchen Befugnissen die jeweilige Klasse der Mitgliedschaft berechtigte, wurde nach Maßgabe der Vereine geregelt. Die Meisterschaft des Hochstifts umfasste zwei Gruppen von Mitgliedern. Einmal gehörten zu ihr die Ehrenmitglieder, die das Hochstift ernannte, ohne dass die Person ihm angehörte und die daher auch keinen Mitgliedsbeitrag zahlte. Dann konnten alle „ordentlichen Hochstiftsmitglieder“, die als Genossen bezeichnet wurden, durch Wahl in die Klasse der Meisterschaft aufgenommen werden. Als sich das Hochstift 1863 eine neue Satzung gab, wurde jedem Mitglied ausdrücklich das Vorschlagsrecht für die eigene Aufnahme in die Meisterschaft zugebilligt. Falls ein Genosse nach einer zweijährigen Mitgliedschaft noch nicht vorgeschlagen worden war, konnte er sogar direkt bei der Verwaltung einen Antrag auf Aufnahme in die Meisterschaft stellen.392 Über diesen sollte aber, wie über alle anderen Vorschläge, in einer Sitzung demokratisch abgestimmt werden. Die Mitgliedschaft war an keine Bildungspatente gebunden und wurde allein nach dem Ermessen der Mitglieder zugestanden. Sie war Ausdruck der Grundsätze des Hochstifts, eine freie Wissenschaft und Kunst zu pflegen, in bewusster Abkehr vom staatlichen Bildungssystem. Doch die Meisterschaft galt am Ende nicht als eine Auszeichnung, sondern wurde zu einem Objekt der öffentlichen Verhöhnung des Hochstifts. Ursache war die inflationäre Verleihungspraxis durch die Verwaltung und die Mitglieder. Da das Freie Deutsche Hochstift nicht die erhoffte Entwicklung nahm und Vereinigungen mit gelehrten Gesellschaften und anderen wissenschaftlichen Vereinen nicht vollzogen werden konnten, ging die Verwaltung dazu über, durch zahllose Verleihungen der Ehrenmitgliedschaft öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erlangen. In dem ersten Jahrzehnt des Bestehens des F.D.H. ist es allerdings mehrfach geschehen, dass namhaften Förderern solcher Gebiete der Wissenschaften oder Künste, welche im Kreise der 389 Satzungen des FDH (1859), Satz 13, S. 4. 390 Eine Übersicht findet sich bei Heinrich Meidinger, Frankfurt´s gemeinnützige Anstalten, Bd. 1, S. 269–270. 391 Bericht über die SNG in Frankfurt am Main (1869), S. 28. 392 Satzungen des FDH (1865), Satz 30, S. 8.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger Stiftsgenossen noch ungenügend vertreten erschienen, nach Satz 31. ehrenhalber die Meisterwürde angetragen wurde, um solche auf diese Weise zu Mitgliedern zu gewinnen. War man doch zu jener Zeit nicht zu der Voraussetzung berechtigt, dass die Bestrebungen der Genossenschaft schon genügend bekannt seien [...].393
Bis zum April 1876 waren bereits 625 Mitglieder in die Meisterschaft aufgenommen worden.394 Doch auch die Verleihung der Würde an national bekannte Künstler und Gelehrte blieb meist folgenlos. Sie beschränkte sich zumeist auf ein Dankschreiben der Geehrten, die bisher noch nie etwas von der Existenz des Hochstifts gehört hatten und sich auch danach nicht weiter darum kümmerten. Der Maler Adolph von Menzel ließ sich wieder von der Liste streichen, der Industrielle Alfred Krupp zeigt sich erstaunt über seine Wahl.395 Das Hochstift hatte durch seine geringen Fortschritte als Nationalakademie nur wenig zu bieten und Volger setzte die in Aussicht gestellte Verleihung zum Ehrenmitglied im Verkehr mit Persönlichkeiten ein, um Dank für Gefälligkeiten zu erweisen und weiteres Wohlwollen zu erhalten. So schrieb Volger dem Weimarer Archivar Carl August Hugo Burkhardt, dass er ihm die Meisterwürde nicht sofort durch eine Ehrenmitgliedschaft erteilen kann, aber bald die Genugthuung haben könnte, Ihnen innerhalb unseres dem Wahren, Guten und Schönen gewidmeten Bundes die Ehrenstellung bereiten zu können, welche Ihnen gebührt.396
Burkhardt übermittelte aus dem Großherzoglichen Staatsarchiv in Weimar dem Hochstift Abschriften, etwa Briefe von Goethes Mutter an Anna Amalia.397 Die „Meistermacherei“ wurde von den Mitgliedern kritisiert, ohne dass es aber zu einer Änderung des Vorgehens kam. Der Schriftsteller Wilhelm Jordan (1819–1904) trat 1869 aus dem Hochstift deshalb aus: Als die Meistermacherei überhand nahm und das junge Institut verdientem Spott preisgab, brachte ich zur Einschränkung und Erschwerung derselben eine Reihe von Bestimmungen in Vorschlag und größtentheils auch zur Annahme durch einen Beschluß. Indeß wurde mittels einer gefügigen Majorität Ein Wille auch trotz dieser Bestimmungen, deren Befolgung zu überwachen mich häufige und lange dauernde Reisen verhinderten, jenes eitle und lächerliche Spiel unbehindert fortzusetzen und bis ins Maßlose zu steigern.398
Obwohl die Verwaltung unter Volgers Führung weiterhin an ihrer Verleihungspraxis festhielt, ermahnte sie die Mitglieder, sich bei Anträgen um die Aufnahme zurückzuhalten, da diese „zu großer geschäftlicher Beschwerung der Verwaltung“ führen.399
393 394 395 396
Ber. FDH 1880, S. 273. Prot. VS, 10.4.1876. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 304 ff. Otto Volger an C. A. H. Burkhardt, Ds., 25.2.1880, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19654. 397 Ber. FDH 1880, S. 479 u. 511. 398 Wilhelm Jordan an die Verwaltung des FDH, 17.5.1882, zit. nach Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus und Bürgersinn, S. 19. 399 Ber. FDH 1880, S. 272.
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Zur Befriedigung kleinlicher Eitelkeiten, vollends zu Gunsterwerbungen beförderungsbedürftiger Streber, sowie zur Bestärkung hochmüthigen Dünkels ist das F.D.H. nicht da!400
Unter einigen Mitgliedern wuchs aber weiter der Unmut, denn zu dieser Zeit wurden durch die Verwaltung weitere Aufnahmewellen in den Sitzungen durchgedrückt. So nahm man den portugiesischen König Dom Luis I., den Kaiser von Brasilien Dom Pedro II., den schwedischen König Oskar II. und die Königin von Rumänien401 auf.402 Volger hatte mehrmals versucht, der Meisterschaft einen elitäreren Charakter zu verleihen. Er schlug 1873 vor, innerhalb der Meisterschaft einen zweiten Kreis von Großmeistern einzurichten. Die Klasse der Großmeister sollte aus dreißig Personen bestehen, nämlich vorzüglich gefeierte, durch außerordentliche Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaften, Künste oder der allgemeinen Bildung vor der gesamten Welt hoch erhaben dastehende Männer.403
Obwohl die Idee in der Verwaltung und in der anschließenden ordentlichen Sitzung eine Mehrheit fand, blieb sie unausgeführt. 1880 schlug man vor, einen Zwischengrad zwischen Genossen und Meistern einzuführen, aber auch dieser Vorschlag wurde nicht umgesetzt.404 Neben dem Unmut, den viele Mitglieder für die „Meistermacherei“ empfanden, sorgte das Gebaren des Hochstifts in der Öffentlichkeit für Spott. Dabei lassen sich zwei verschiedene Ebenen der Kritik unterscheiden. Einmal zielte die Kritik auf das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit innerhalb des Hochstifts. Keiner könne nämlich sagen, was es sei, da es an „ein altes Ritter= oder Fräuleinstift“ erinnere und selbst die Frankfurter hätten nur den Hinweis, dass „da im Goethehaus“ etwas vor sich gehe, wo „man jährlich zwei Gulden bezahlt, um Mitglied zu sein.“405 Das Hochstift ernennt ,Meister‘ in der ganzen gelehrten Welt, entsendet Gesandtschaften an literarische und sonstige Potentaten, telegraphirt mit dem Participalkönige, hält Sitzungen, geschlossene für Mitglieder, weitere für Herren und Damen, veranstaltet Bankete, bei denen die Würde präsidirt und der Anstand die Teller wechselt.
Aber was es „eigentlich ist“, könne niemand sagen, „sollte er es selbst bis zur Meisterwürde und bis zum Ehrendiplom gebracht haben.“.406 Das Deutsche Mu400 Ebenda, S. 274. 401 Pauline Elisabeth Ottilie Luise von Wied (1843–1916), heiratete 1869 den Fürsten Karl aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen. Nach der Unabhängigkeit Rumäniens vom Osmanischen Reich wurde er 1881 als Karl I. zum König erhoben. Elisabeth trat unter dem Pseudonym Carmen Sylva als Schriftstellerin und Übersetzerin rumänischer Dichtungen in Erscheinung, vgl. Elisabeth Heimpel, „Carmen Sylva“, in: NDB 3, S. 149. 402 Prot. OS, 11.4.1880 u. 4.8.1881. 403 Prot. VS, 1.9.1873. 404 Prot. OS, 11.4.1880. 405 Deutsches Museum, Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben (14. Jg.), Nr. 43, 20.10.1864, S. 628. 406 Ebenda.
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seum, das in seinem Jahrgang von 1864 immer wieder das Hochstift zum Objekt des Spotts machte, warf dem Verein auch Dilettantismus vor. Dieser Vorwurf zielte einmal auf dessen Anspruch, die „deutsche Nation in Bausch und Bogen“ zu vertreten, ohne durch seine Leistungen dazu berechtigt zu sein. Zweitens werden dessen Tätigkeiten beanstandet: Dieses Sammelsurium schwebt die ganze Tonleiter hinauf vom oberflächlichen Dilettantismus bis zum skeptischen Fachstudium, durchschwirrt die Realschule, den Hörsaal, das Cabinet des Akademikers, haftet nirgends, präsentirt keinen Charakter oder höchstens den eines Invalidenhauses für verkannte Größen jeglichen Kalibers.407
Der Grundgedanke des Hochstifts, die Wissenschaft und die allgemeine Bildung zu vereinen, war also schon fragwürdig geworden. Die Zeitgenossen empfanden es als eine unzulässige Vermischung. Die Kritik am Hochstift setzte sich in den folgenden Jahren fort. Jedoch zielte sie nun nicht mehr nur auf die Vermischung verschiedener Bildungsniveaus, sie griff die wissenschaftliche Kompetenz des Hochstifts und vor allem der Meisterschaft direkt an. Eine Gesellschaft, welche jeden Gevatter, Schuster und Handschuhmacher für einige Mark jährlich als wirkliches Mitglied aufnimmt, jeden Dilettanten der Wissenschaft, der sich ihr nähert, mit einem vielfarbigen ,Meister-Diplom‘ beglückt [...], kann doch wohl nicht unter den streng-wissenschaftlichen Gesellschaften Deutschlands einen Platz beanspruchen,
schrieb die Frankfurter Zeitung 1877.408 Ludwig Geiger veröffentlichte 1881 in dem von ihm herausgegebenen Goethe-Jahrbuch einen weiteren publikumswirksamen Angriff auf das Hochstift. Dabei steht wieder dessen Meisterschaftsklasse im Mittelpunkt. Geiger nimmt besonders daran Anstoß, dass von „Fabrikanten, Kaufleuten, Handwerkern, Männern, von denen gewiss Jeder in seinem Berufe wacker und tüchtig“ sei, der Anspruch erhoben wird, „Grade und Würden, welche sie in prahlerischer Weise den akademischen Würden“ gleichstellen oder „gar über dieselben zu erheben“, zu verleihen.409 In der Meisterschaft „finden sich neben durchaus untergeordneten Männern Schriftsteller und Künstler ersten Rangs“, aber auch ein „Musiklehrer der Stadt Frankfurt und ein Capitain.“410 Daneben tadelt Geiger die Aufnahme von Fürsten in die Meisterschaft, die er zwar grundsätzlich nicht für bedenklich hält, die aber mit den Grundsätzen des Hochstifts, das „so laut auf seine Unabhängigkeit pochte“, schwer zu vereinbaren sei. Das Hauptmotiv seiner Kritik an der Meisterschaft war von Geigers Überzeugung getragen, dass wissenschaftliche Ansprüche nur in Verbindung mit einer akademischen Ausbildung vertretbar seien. Seine Kritik ist somit ein Beispiel für die Professionalisierungstendenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die immer mehr zwischen Dilettanten und akademisch ausgebildeten Spezialisten
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Ebenda, S. 629. Zit. nach Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 203. GJb 1881, S. 468. Ebenda, S. 469.
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differenzierte und damit die schichten- und bildungsübergreifenden Vereine infrage stellte. 4.2. Die Entwicklung der Mitgliedschaft und Sozialstruktur Obwohl die Entwicklung des Freien Deutschen Hochstifts nicht die von Volger erhoffte Richtung nahm, war das Interesse der Öffentlichkeit zunächst beachtlich. Bereits nach wenigen Jahren zählte das Hochstift zu den mitgliederstärksten Vereinen Frankfurts. Während das Hochstift bei seiner Gründung 1859 nur 57 Mitglieder hatte, konnte es 1864 bereits fast 900 Mitglieder aufweisen.411 Das Bildungsangebot des Hochstifts entsprach also einem verbreiteten Bedürfnis und die Versprechungen des Hochstifts, einmal die führende nationale Bildungsvereinigung zu sein, weckten zusätzliches Interesse. Der Kauf des Goethehauses 1863 und das umfangreichere Vortragsangebot dieser Jahre erregten zusätzliche Aufmerksamkeit. Umso optimistischer waren die Erwartungen der Verwaltung, dass der anhaltende Zuwachs der Teilnehmer die Weiterentwicklung des Hochstifts verbürge. Otto Volger erklärte 1865: Noch nie hat eine Akademie so zahlreiche hochgefeierte Namen vereinigt [...] und wir gelangen zu einem für ganz Deutschland einflussreichen Ziele, wir erreichen eine thätige Vereinigung, wie sie vielfach gewünscht, aber kaum zuvor zu hoffen gewagt ist.412
Doch die hochgefeierten Namen der Meisterschaft waren zumeist von der Verwaltung zu Ehrenmitgliedern ernannt worden, ohne dass es zu weiteren Anknüpfungen kam. Das Goethehaus und seine Umgestaltung zu einem Nationaldenkmal sicherten dem Hochstift zwar die deutschlandweite Aufmerksamkeit, aber sein Unterhalt und die abzuzahlenden Hypotheken belasteten die Kasse. Daher fehlte das Geld, um ein Vortragsprogramm zu organisieren. Nur wenige der Mitglieder waren gewillt, Lehrgänge anzubieten, deren Vergütung sie durch die Eintrittsgelder selbst sicherstellen mussten. Eine Reihe von Mitgliedern zahlte zudem die Jahresbeiträge nicht, die Kosten für die Berichte konnten im Frühjahr 1866 nicht mehr aufgebracht werden. Hinzu kamen die Gehälter für den Verwaltungsschreiber und die Angestellten des Goethehauses. Die Verwaltung sah es deshalb als dringendste Aufgabe an, mehr Mitglieder und damit neue Einnahmen zu generieren. In ihren Sitzungen war die Mitgliederwerbung ein wiederkehrendes Thema. Schon 1865 fing man an, 3.000 Adressen von potenziellen Interessenten zur Anwerbung zu sammeln.413 1874 verschickte man zahlreiche Einladungsschreiben und gewann am Ende 126 neue Mitglieder hinzu. Drei Jahre später stellte man für jedes geworbene Mitglied sogar eine Mark Provision in Aussicht.414 Doch der erhoffte Zustrom blieb aus. Zwar stieg die 411 412 413 414
Vgl. Tabelle 2 und 3, Kapitel IX. Tabellen, S. 379 ff. Prot. OS, 15.11.1865. Prot. VS, 30.1.1865. Prot. VS, 12.3.1877.
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Teilnehmerzahl bis 1876 auf über 1.100 an, aber das war nur ein Zuwachs von 200 Personen, von denen ein Teil sogar noch zu den nicht beitragspflichtigen Ehrenmitgliedern gehörte. Volger erwog sogar eine Vervierfachung des Mitgliedsbeitrags auf 20 Mark, denn dadurch könnten wieder Veröffentlichungen erscheinen, die das Interesse der Öffentlichkeit wecken.415 Zusätzlich wurden Aufrufe zum Beitritt in der lokalen und der überregionalen Presse, beispielsweise in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, veröffentlicht. Die aktiven Werbungen um Mitglieder wie auch die Prozeduren bei der Rekrutierung der Meisterschaft müssen bei der folgenden Analyse der sozialen Struktur der Mitglieder berücksichtigt werden. Wie sieht nun die Mitgliederstruktur des Hochstifts aus? Als Grundlage dienen zwei Verzeichnisse aus den Jahren 1864 und 1876. Viele weitere Angaben über die Mitgliedsbestände, die sich in den Berichten oder Sitzungsprotokollen finden, geben verschiedene Zahlen an, die teilweise große Unterschiede aufweisen.416 Die beiden Verzeichnisse haben den Vorteil personengebundener Angaben. Bei der Auswertung wurden aber nur die zu diesem Zeitpunkt lebenden Mitglieder berücksichtigt.417 Die Gesamtentwicklung zeigt, dass die 1860er Jahre den größten Zuwachs brachten. Legt man die 57 Gründungsmitglieder zugrunde, dann hat sich bis 1864 die Zahl der einfachen Mitglieder verzehnfacht, dazu kommen noch fast 300 Mitglieder der Meisterschaft. Zwischen 1864 und 1876 betrug der Zuwachs innerhalb der einfachen Mitglieder nur noch 17 %, während die Meisterschaft, bedingt durch die Praxis der ständigen Ernennung von Ehrenmitgliedern, in diesem Zeitraum um 60 % anwuchs. Der geringe Zuwachs der Genossenschaft seit 1864 verdeutlicht die Stagnation des Hochstifts in dieser Phase. Trotz der verschiedenen Initiativen zur Werbung von Mitgliedern gelang es nicht mehr, an die ersten Jahre anzuknüpfen. Im Blick auf die soziale Struktur der Genossenschaft fällt sofort die Dominanz des gewerblichen Mittelstands ins Auge, dessen Anteil 1864 über 41 % betrug, hinzu kam das traditionelle städtische Handwerk mit 13 %. Gewerbe und Handwerk dominierten damit die Genossenschaft. Das entsprach einerseits der sozialen Struktur Frankfurts als Gewerbe- und Handelsstadt, war aber auch Ergebnis der Konzeption des Hochstifts, durch Bildung ein nationales, Schichten übergreifendes Gemeinschaftsideal zu fördern. Von einer „bewußten Elitenbildung“ durch das Hochstift kann daher keine Rede sein.418 Die Bildungsberufe repräsentieren mit fast 24 % die zweitstärkste Gruppe unter den Genossen. Die weitere Entwicklung führte allerdings zur Zunahme der Bildungsberufe, die 1876 einen Anteil von 30 % einnehmen, während 415 Prot. VS, 15.11.1875. 416 Beispielsweise verkündete Volger, der unter großen Schwierigkeiten 1876 ein neues Verzeichnis erstellte, widersprüchliche Zahlen. Er zählte 625 lebende Meister, während das Verzeichnis nur 463 aufweist, vgl. Prot. VS, 10.4.1876. 417 In beiden Verzeichnissen wurden von Volger die verstorbenen Mitglieder mitgezählt, aber besonders gekennzeichnet. 418 Franz Lerner, Die ersten Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts, S. 74.
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bei leichten Rückgängen des Mittelstands das alte Handwerk den größten Rückgang verzeichnete. Der Rückgang der integrativen Wirkung der Vereine und der Weg in die Klassengesellschaft deuten sich bereits an.419 Für die Gruppe der Meisterschaft, ist ein anderer Befund zu konstatieren. Hier dominieren 1864 mit 84 % die Gruppen der Bildungsberufe. Gewerblicher Mittelstand und Handwerk kommen dagegen nur auf 5 %. Allerdings ist es bemerkenswert – gerade auch im Vergleich zur Genossenschaft – dass innerhalb der Gruppe der Meister der Anteil des Mittelstands und des Handwerks sich fast verdoppelte, obgleich er mit fast 9 % doch weiterhin von den Bildungsberufen (77 %) dominiert wurde. Entgegen den allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen zur Klassenbildung und der Professionalisierung im Bildungssystem hielt das Hochstift an seinem integrativen Bildungsideal fest. Noch ein paar Bemerkungen zu den beiden letzten Gruppen, den Frauen und dem Adel. Der Anteil der Frauen blieb marginal. Unter den Genossen nahm er sogar bis 1876 ab und betrug nur 2 %. Nur in der Meisterschaft fand auf einem sehr niedrigen Niveau eine gegenteilige Entwicklung statt, die aber nur ein Wachstum auf 1 % bedeutete. Die Frauen spielten weiterhin keine Rolle. Der Anteil des Adels war vor allem in der Meisterschaft am größten, wo er sogar noch bis 1876 um drei Prozent auf 13 % anstieg. Adelige Mitglieder waren im Hochstift durchaus erwünscht und wurden sogar umworben.420 Im Sinne einer nationalen Bildungs- und Kulturgemeinschaft galt auch der Adel als Träger der kulturellen Tradition. So trug das Hochstift, nachdem es das Goethehaus erworben hatte, allen Bundestagsgesandten eine nominelle „Pflegschaft“ für die Dichterstätte an, um sie als Nationalheiligtum zu legitimieren. Geadelte Künstler oder regierende Herrscher wurden in die Meisterschaft aufgenommen. Allerdings kann nicht von einer „Feudalisierung“ oder „Aristokratisierung“ die Rede sein.421 Dazu waren die Vorbehalte, die etwa Volger gegenüber der adeligen Elite hegte und die noch in Bezug auf die nationalstaatliche Entwicklung Deutschlands geschildert werden, zu groß. Als Ferdinand Eckbrecht Graf von Dürckheim Volger gegenüber Bedenken äußerte, als Aristokrat dem Hochstift beizutreten, erklärte ihm der Obmann:
419 Dieter Hein, Soziale Konstituierungsfaktoren des Bürgertums, S. 176. 420 Der Anteil in der Genossenschaft liegt durchaus im Frankfurter Trend, der von Ralf Roth mit 4 bis 6 % in den städtischen Vereinen angegeben wird, vgl. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt, S. 346 ff. 421 Die von Max Weber, Werner Sombart u. a. aufgebrachte These wird heute zunehmend in Frage gestellt, zustimmend hinsichtlich der Mentalität, Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 725 f.; Werner Mosse, Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts, Eine vergleichende Betrachtung, spricht von einer eigenen Kultur, die „adelige als auch bürgerliche Elemente einschloss“, S. 277; Heinz Reif (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert (Elitenwandel in der Moderne, Bd. I), S. 9–27.
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III. Die Tätigkeiten des Hochstifts in der Ära Volger Für uns ist das Deutschthum keine Sache der Abstammung oder eines Unterthanenverhältnisses, sondern der Ausdruck gleichartiger Denkungsweise.422
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass im Hochstift vor allem der bürgerliche gewerbliche Mittelstand und das Bildungsbürgertum dominierten. Insofern erfüllte der Verein zumindest in der Mitgliedschaft den Anspruch, Bildung und bürgerliches Gewerbe miteinander zu verbinden. Die vom Hochstift propagierte Volksbildung als Nationalbildung traf mit den Bildungsbedürfnissen des aufstrebenden Gewerbe- und Handelsbürgertums zusammen. Vereine, wie das Hochstift, aber auch Neugründungen, wie der Kaufmännische Verein und der Verein für die Verbreitung von Volksbildung, schufen alternative Möglichkeiten für das wachsende Bedürfnis nach Fort- und Weiterbildung.423 Was den Anspruch betraf, der Wissenschaft und Kunst ein neues Fundament zu geben, so dominierten trotz aller Absichtserklärungen in der Meisterschaft die Bildungsberufe. Dennoch bleibt es ein beachtliches Zeichen bürgerlichen Selbstbewusstseins, dass die Meisterschaft Frauen, Handwerker, Professoren, Künstler, Diplomaten, Fürsten und Könige vereinte. Das war keineswegs selbstverständlich, dass neben Gelehrten und Künstlern Handwerker oder Kapitäne saßen, wie Ludwig Geigers Schmähungen im Goethe-Jahrbuch illustrierten.
422 Otto Volger an Ferdinand Eckbrecht Graf von Dürckheim, Ds., 22.12.1878, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19670. 423 Vgl. Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 170 ff.
IV. DIE TÄTIGKEITEN DES HOCHSTIFTS BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG 1. DAS ENDE DER ÄRA VOLGER UND DIE NEUORDNUNG DES HOCHSTIFTS 1.1. Die Stiftung von Adolf Müller und Otto Volgers Abwahl Mit dem F.D.H. komme ich auch nicht aus der Stelle. Alles scheitert an der Pfennigfuchserei. Die Deutschen können große Thaten thun – aber sie müssen dazu autorisiert sein und gezwungen werden. Frei, nach eignem Entschluß zu thun was geschehen muß – das wagen Wenige – und diese wurden ans Kreuz geschlagen!1
Fünf Jahre nach dieser pessimistischen Beurteilung über die Erfolge des Hochstifts stellte sich ein Ereignis ein, auf das Volger bereits seit 1859 spekuliert hatte. Der Frankfurter Kanzleirat Adolf Müller2 vermachte nach seinem Tod 1880 dem Hochstift ein Vermächtnis von 500.000 Mark. Die Summe sollte in Erinnerung an Müllers Großvater als Stiftung unter der Bezeichnung „Emmanuel Müllersches Vermächtnis“ in den Besitz des Hochstifts gelangen.3 Adolf Müller war allerdings kein Unbekannter, denn er und Volger waren seit fast zwei Jahrzehnten miteinander bekannt. In dieser Zeit hat Müller das Hochstift, aber auch Volger finanziell unterstützt. Er lieh Volger aus seinem Privatvermögen mehrmals größere Beträge, um dessen unternehmerische Projekte zu unterstützen. Zwischen 1866 und 1868 erhielt Volger von Müller Kredite im Umfang von 30.000 Gulden.4 Müller war Volger und dessen Familie freundschaftlich verbunden und beeindruckt von Volgers Charisma und Tatkraft. Er erließ Volger schließlich sogar die Zinsen für die Darlehen. Diese Gesinnung übertrug er auch auf das Hochstift. Mehrmals half er mit Geld aus und stellte ein Grundkapital von 1.000 Mark für die Goethebibliothek zur Verfügung. Nur mit Müllers Hilfe war es dem Hochstift möglich, wieder gedruckte Berichte über seine Tätigkeiten seit 1878 zu veröffentlichen. Der Mäzen gewährte Volger zusätzlich seit 1877 ein jährliches Gehalt für seine Tätigkeit als 1 2
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Otto Volger an Johann K. Koderle, ohne Datum, 1875, Ds., FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19731. Adolf Müller (1809–1880) war der Sohn des Frankfurter Bankiers und Kaufmanns, Jacob Müller (1775–1847). Nach dem Studium der Rechte in Heidelberg und der Promotion war M. als Sekretär in der Frankfurter Stadtkanzlei tätig. Er zog sich 1847, aufgrund des väterlichen Erbes, in das Privatleben zurück. Er lernte Volger im Rahmen der SNG kennen und trat kurz nach der Gründung des Hochstifts diesem als Mitglied bei. Aufgrund seiner Bedeutung als Mäzen wurde er zum „Pfleger“ des FDH ernannt. Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 143–149. Adolf Müller an Otto Volger, 5.1.1867, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19766.
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Obmann in Höhe von 1.300 Mark.5 Mit Müllers Testament, so glaubte Volger, könnte er nun endlich eine neue Entwicklungsphase des Hochstifts einleiten. Allerdings gestaltete sich die Umsetzung von Müllers Letztem Willen als schwierig. Die preußischen Behörden verlangten eine Revision der Satzung des Hochstifts, bevor sie die Annahme befürworteten. Man forderte das Hochstift auf, seine Ziele und Aufgaben konkreter zu formulieren und Bestimmungen über die Vermögensverhältnisse nach einer Auflösung zu verfassen. Zuletzt machte man es zur Bedingung, entweder den Frankfurter Magistrat oder das Wiesbadener Regierungspräsidium mit der Aufsicht über die Finanzverwaltung zu betrauen. Besonders der letzte Punkt wurde von Volger entschieden abgelehnt.6 Sein Verhältnis zum Magistrat war durch einen jahrelangen Rechtsstreit, den er wegen eines Trinkwasserbrunnens geführt hatte, zerrüttet. Den preußischen Behörden stand er seit 1866 mit unverhohlener Distanz gegenüber, da er nicht nur die kleindeutsche Reichsgründung unter Preußens Führung ablehnte, sondern auch die preußische Annexion seiner Heimatstadt Lüneburg nie akzeptierte. Hinzu kam, dass er immer auf der Unabhängigkeit des Hochstifts bestanden hatte. Volger versuchte, die Vorgaben der Behörden zu umgehen, indem er Müllers Stiftung durch eine Art Beisatzung an das Hochstift binden wollte, ohne dessen eigentliche Satzung verändern zu müssen. In seinem Furor gegen die Zumutung einer staatlichen Aufsicht war er sogar dazu bereit, auf die gesamte Stiftung zu verzichten. Innerhalb des Hochstifts begann sich eine Opposition gegen Volger zu bilden, die nicht mehr bereit war, dem Obmann zu folgen. Schon länger hatte es immer wieder Unmut über seinen selbstherrlichen Führungsstil gegeben, der aber nicht zu offener Kritik, sondern zum Rückzug oder Austritt der Kritiker führte. Schon 1864 wurde über Volger geschrieben, er würde im Hochstift „wie ein Fels im Meere stehen, um ihn drehen sich Sonne und Planeten“.7 Im Jahr 1881 hatte er die Berichte des Hochstifts dazu benutzt, eine persönliche Stellungnahme „Zur Judenfrage“ zu publizieren, die nicht nur unter den Mitgliedern, sondern auch in der Frankfurter Presse zu einer heftigen Kontroverse führte.8 Seine Gegner, die mehrheitlich Frankfurter waren, organisierten sich im Herbst 1881 und verfügten in der Sitzung am 6. November 1881 über eine Mehrheit, die Otto Volger abwählte und Nikolaus Berg9 zum neuen Obmann bestimmte. Volgers Abwahl wirft noch einmal die allgemeine Frage auf, woran das ursprüngliche Projekt des Freien Deutschen Hochstifts letztendlich gescheitert ist.
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Otto Volger, Die seitherige Entwicklung und dermalige Nothlage des Freien Deutschen Hochstiftes, S. 18. Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 194–214; Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus, S. 37–43. Deutsches Museum, Nr. 43, 20.10.1864, S. 629. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 27–30. Karl Nikolaus Berg (1826–1887), Justizrat und Advokat, ehemaliger Senator und zweiter Bürgermeister der Stadt Frankfurt, ein vormaliger „städtischer“ Prozessgegner Volgers, vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 220.
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Das lässt sich nicht auf eine Ursache zurückführen, vielmehr sind dafür verschiedene Gründe zu nennen. Zunächst muss konstatiert werden, dass die Gesamtkonzeption einen überdimensionalen Rahmen besaß, der andere zeitgenössische Projekte in den Schatten stellte. Nicht einmal einer durch Tradition und Prestige ausgezeichneten Akademie wie der „Leopoldina“ war es im 19. Jahrhundert gelungen, eine Gesamtorganisation der Naturvereine zu bilden.10 Ein junger Verein wie das Hochstift konnte für seine Vorschläge noch weniger Ressourcen und Prestige aufweisen, um für nationale Organisationen und städtische Vereine attraktiv zu sein. Selbst die Idee, in Frankfurt eine Universität zu gründen, blieb auch nach Volgers Weggang ein umstrittenes und viel diskutiertes Projekt, bei dem zahlreiche Interessen und Vorstellungen zu bündeln waren. Die dafür notwendigen Stifter und Mäzene fanden sich erst nach der Jahrhundertwende, um eine tragfähige finanzielle Basis zu garantieren. Hierbei kam es auch auf persönliche Qualitäten und Vorstellungen an, die Männer wie Adickes und Merton einbrachten, um die Bürgerschaft und den Staat für ihre Ideen zu gewinnen. Ein weiterer Punkt, der das Volgersche Hochstift immer mehr isolierte, war der weit gefasste Bildungsbegriff, der Wissenschaft und Allgemeinbildung vereinte und der im Zuge der allgemeinen Spezialisierungstendenzen immer unzeitgemäßer wurde. Das wurde umso deutlicher, da vom Hochstift nur spärliche Ergebnisse in beiden Bereichen vorgewiesen werden konnten. Schon bei dessen Gründung war die Bündelung dieser Bereiche scharf kritisiert worden. So schrieb 1859 der Frankfurter Arzt Carl von Mettenheimer an einen Bekannten: Denke Dir, daß ein Dozent der Geologie, Dr. Volger aus Lüneburg [...] es zu der Torheit gebracht hat, eine Zentralbildungsanstalt für Deutschland zu gründen, in der jeder alles lehren und lernen könne. [...] Wahre Bildung, tüchtiges Wissen fehlt hier so sehr [...]. [...] Alle, die es redlich meinen mit der Entwicklung der geistigen Zustände unserer Stadt, fühlen tiefe Betrübnis über diesen Unfug, den man sich erkühnt, hier mit den Heiligtümern der Wissenschaft und Kunst zu treiben.11
Auch wenn dies nur eine einzelne Meinung darstellt, veranschaulicht sie doch Vorbehalte in den Kreisen akademisch Gebildeter. Da es dem Hochstift schließlich nicht gelang, sich entsprechend zu entwickeln, waren Vorwürfe, die Dilettantismus und Unausgewogenheit der Tätigkeiten beklagten, durchaus berechtigt, und das sah auch Volger so. Neben diesen konzeptionellen Punkten war es der dominierende Einfluss Otto Volgers, der die Entwicklung des Hochstifts prägte. Er war 1856 mit großen Erwartungen nach Frankfurt gekommen. Zwei Dinge hatte er sich vorgenommen. Erstens strebte er danach, die Geologie und allgemeine Naturforschung durch seine Arbeiten zu reformieren. Zweitens wollte er einen Beitrag zur weiteren nationalen Entwicklung Deutschlands liefern. Trotz den anfänglichen Erfolgen und der 10 11
Kai Torsten Kanz/Johanna Bohley/Dietrich von Engelhardt, Die Leopoldina zwischen Französischer Revolution und innerer Reform, S. 124 ff. Carl von Mettenheimer, Werden, Wollen und Wirken eines alten Arztes in Briefen und Niederschriften, S. 166 ff.
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Anerkennung, die er als Dozent und Gelehrter erhalten hatte, konnte er auch in Frankfurt für seine geologischen Theorien kaum Unterstützer finden. Seine geologischen Theorien – die er nicht zuletzt als „deutsches Modell“ anpries – waren umstritten. Seine Erdbebentheorie fand nicht die gewünschte Anerkennung und blieb eine wissenschaftliche Außenseiterposition. Sein missionarischer Eifer traf unter den Frankfurter Kollegen der SNG zunehmend auf Widerstand und Ablehnung. Als Gründer und Obmann des Hochstifts hatte Volger große persönliche Risiken in Kauf genommen. Doch für diese Funktion fehlte ihm oft die Eigenschaft eines Vermittlers. Sobald er auf Widerstand stieß, fiel er in jenes Verhaltensmuster zurück, das er schon früher gezeigt hatte. Für eine Unternehmung wie das Hochstift war der von ihm bewunderte Schopenhauer das falsche Vorbild. Denn die Haltung eines elitären Außenseiters, in die Volger immer stärker hineinwuchs, war nicht geeignet, um Kooperationen zu begründen und Mitarbeiter zu gewinnen. Das hatte Volger bereits selbst erkannt, als er einmal schrieb, dass er Gegner als einen „Stimulus“ benötige, aber auch eingeräumt: Ich trage schwer und hart an den Folgen – aber entweder müßte die Welt anders sein oder ich – und ich glaube nicht, das der Mensch anders sein kann als er ist.12
Dieser Charakterzug zeigte zunächst positive Wirkungen, denn er führte dazu, dass Volger unbeirrt am Hochstift festhielt und dessen Fortdauer sicherte. Problematisch wurde aber dieses Festhalten dann, wenn es darum ging, Veränderungen und Reformen einzuleiten. Hier hatte der radikale Idealismus Volgers, die Erfahrung zahlreicher Niederlagen und Schicksalsschläge, eine Verhärtung und einen wachsenden Starrsinn erzeugt. Neben diesen Problemfeldern kam hinzu, dass Volger seine bürgerliche Existenz in Frankfurt ruinierte. Seine geschäftlichen Unternehmungen brachten ihm nur bescheidene Einkünfte, dafür aber zahlreiche Gerichtsverfahren ein. Der Vertrag, den er mit der Stadt Frankfurt geschlossen hatte, einen Trinkwasserbrunnen im Riederwald zu errichten, endete in einem geschäftlichen und persönlichen Fiasko. Mit den Einnahmen des Brunnens hoffte er, die Zukunft seiner Kinder Kurt und Agnes zu sichern. Doch die Stadt warf Volger nach Fertigstellung des Brunnens vor, dieser liefere weniger Wasser, als vertraglich vereinbart war. 1873 hatte das Preußische Obertribunalgericht in Berlin Volgers Ansprüche anerkannt und die Stadt Frankfurt zur Übernahme des Brunnens mit allen Pflichten verurteilt, aber dem Magistrat gelang es, durch Nebenprozesse, die Sache in die Länge zu ziehen. Schon 1864 hatte Volger seinen Eltern geschrieben, er solle in Frankfurt niedergehalten werden“, es „herrsche Neid“13 und ein Jahr später, 1865, schrieb er über die Bürger der damals noch souveränen Bundesstadt, es sei dort ein „gleichgültiges, bloß auf den Erwerb gerichtetes Bürgervolk“.14 Allerdings gab es schon 12 13 14
Otto Volger an seine Eltern, 5.7.1856, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 3308. Otto Volger an seine Eltern, 9.12.1864, ebenda. Otto Volger an seine Eltern, 5.4.1865, ebenda.
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1865 alternative Überlegungen, eine Wasserleitung aus dem Vogelsberg zu errichten.15 Gegen dieses Konkurrenzunternehmen, das sich schließlich 1870 als Aktiengesellschaft konstituierte, war Volger chancenlos. Doch auch dieses Projekt hatte mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen und die Fertigstellung verzögerte sich bis 1875. Zum Ärger Volgers ließ die Stadt später das Wasser seines Brunnens in die Leitung einspeisen.16 Auch ein anderes „Großprojekt“ Volgers scheiterte. Er hatte 1867 in Lüneburg eine Schürfgesellschaft gegründet, um Steinsalz abzubauen.17 Doch Bohrungen führten zu Wassereinbrüchen und die örtlichen Salinen- und Steuerbehörden strengten gegen Volger einen Prozess an. Zwar konnte er sich gegen die Anklage behaupten, doch ein geplantes Bergbaukonsortium aus Frankfurter und Hamburger Kaufleuten kam nicht zustande. Nur das Hochstift bot Volger noch eine Bühne für eine größere öffentliche Wirksamkeit, denn Ende 1873 legte er auch sein Mandat als Stadtverordneter nieder, weil er sich über mangelnde Unterstützung seiner Fraktion hinsichtlich seines Prozesses beklagte. „Ich habe Feinde wie Sand am Meer“, klagte er ein Jahr später. Eine der größten persönlichen Katastrophen für Volger war schließlich der Tod seines einzigen Sohnes Kurt, der 1876 mit 16 Jahren an Herzinsuffizienz qualvoll starb. Für Kurts und dessen Schwester Agnes Zukunft hatte Volger sein gesamtes Geld in die Prozesse gesteckt. Nun war er ein gebrochener Mann, der nicht mehr kämpfen wollte. Nur das Gehalt für seine Tätigkeit als Obmann, das sein Freund Adolf Müller Volger aus privater Tasche zahlte, sicherte die Existenz der Familie. Die Tatsache, dass Volger „niemals eine sichere Existenz gehabt“ hatte, wie er einmal seinem Vetter schrieb, musste sein Selbstbewusstsein immer wieder getroffen haben.18 Die Eltern, Verwandte und sogar seine Schwester schickten immer wieder Geld nach Frankfurt, um Volgers Familie zu unterstützen. Doch noch weitere Schicksalsschläge folgten. 1878 starb sein Ziehsohn und zukünftiger Schwiegersohn Hermann Ahlburg in Japan, im März 1879 sein Vater Wilhelm Friedrich in Lüneburg. Vor diesem Hintergrund sind nicht zuletzt viele Reaktionen Volgers verständlich, bei denen er mit teilweise ungezügelter Aggressivität gegen Gegner und Institutionen auftrat. Umso mehr klammerte er sich in jenen Jahren an das Hochstift. Der letzte Dienst, den Adolf Müller seinem Freund erfüllte, erwies sich am Ende für Volger als ein Danaergeschenk. Der Fortbestand des Hochstifts war nur durch dessen Reform möglich, was viele Frankfurter Mitglieder immer wieder vergeblich gefordert hatten. Doch Volger war zu solchen Maßnahmen nicht mehr bereit. Sein Ausscheiden war schließlich der tragische Preis, den die Zukunft des Hochstifts forderte.
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Vgl. Kurt Schäfer, Zur Geschichte der Frankfurter Quellwasserleitung. Der Brunnen lieferte täglich 1200 cbm, ebenda, S. 273. Wilhelm Reinecke, Geschichte der Stadt Lüneburg, Bd. 2, S. 504 ff. Otto Volger an Georg Volger, 30.12.1874, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, o. S.
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IV. Die Tätigkeiten des Hochstifts bis zum Ersten Weltkrieg
1.2. Der Kampf um die neue Satzung Das wichtigste Ziel der neuen Verwaltung war die Erarbeitung einer neuen Satzung, mit der die behördliche Genehmigung von Müllers Stiftung verbunden war. Die Mitglieder des Hochstifts wurden nun vor eine Revision des ganzen Unternehmens gestellt und mussten für die Zukunft konkrete Ziele benennen. Vieles, was die alte Satzung festgeschrieben hatte, war bisher immer nur ein uneingelöstes Versprechen geblieben. Nun bestand die Möglichkeit, eine grundlegende Umgestaltung und Neuausrichtung vorzunehmen. In der Verwaltungssitzung am 21. November 1881 beschloss man, dass der neue Obmann Nikolaus Berg unter „Hinzuziehung von Fachleuten“ einen neuen Satzungsentwurf erarbeiten sollte.19 Federführend bei der Ausarbeitung der neuen Satzung war eine Gruppe Darmstädter Mitglieder um Ludwig Büchner, die eine „Akademisierung“ des Hochstifts wünschten. Dass es dabei zu erheblichen Veränderungen kommen würde, zeigt die Tatsache, dass man bereits am 14. November beschlossen hatte, keine weiteren Aufnahmen in die Meisterschaft vorzunehmen, „bis eine neue Ordnung der Hochstiftsverhältnisse erfolgt ist“.20 Im Januar 1882 konnte Berg mitteilen, dass die „Darmstädter Genossen“ einen Entwurf hinsichtlich des wissenschaftlichen Teils der Satzung ausgearbeitet hatten.21 Im Februar 1882 erhielten alle Mitglieder den Entwurf zugesandt und am 26. Februar fand die erste von drei außerordentlichen Sitzungen zur Beratung der neuen Satzung statt. Das Hochstift war laut Entwurf ein „Sammel= und Stützpunkt für freie Thätigkeit in Wissenschaft, Kunst und allen höheren Bildungsrichtungen“, mit dem Ziel, zur „Pflege und Unterstützung aller dahin gerichteten Bestrebungen“ und auf dieser Grundlage sollte es „eine freie Hochschule für höhere Gesamtbildung darstellen“.22 Dazu sollten Lehrgänge, regelmäßige Vorträge, die Sammlung wissenschaftlicher Werke und die Veröffentlichung von Berichten dienen. Für alle wissenschaftlichen und bildungsmäßigen Belange wurde ein Akademischer Gesamtausschuss (AGA) gegründet, der sich aus den Vorsitzenden und Stellvertretern der einzelnen Fachabteilungen zusammensetzte. Diese Fachabteilungen sollten sich in entsprechende Gebiete, wie Kunst, Geschichte, Literatur, Philosophie, Volkswirtschaft und allgemeine Naturwissenschaft, aufteilen und mindestens zwanzig stimmberechtigte Mitglieder umfassen.23 Sie sollten regelmäßige Sitzungen veranstalten, in denen sich die Mitglieder austauschen und Vorträge halten konnten. Gleichzeitig sollten sie an der Erstellung eines Lehrplans für das Vortragsprogramm des Hochstifts mitarbeiten. Für die Verwaltung wurde ein achtzehnköpfiger Verwaltungsausschuss (VA) gebildet, dessen Vorsitzender das Hochstift nach außen vertrat. Ein Pflegamt (PA) 19 20 21 22 23
Prot. VS, 21.11.1881. Prot. VS, 14.11.1881. Prot. VS, 30.1.1882. Satzungen des Freien Deutschen Hochstiftes (1884), Satz 3, S. 5. Ebenda, Satz 4, S. 5.
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mit sechs Mitgliedern war für die Vermögensverwaltung verantwortlich, allerdings nur in beratender Funktion. Seine Mitglieder mussten aus Frankfurt stammen und durften nicht im VA oder AGA vertreten sein. Für die Erhaltung und Rekonstruktion des Goethehauses bildete man 1885 eine „GoethehausKommission“.24 Die Hauptversammlung aller Mitglieder, die einmal im Jahr zusammentrat, wählte die Vertreter des VA und des PA für drei Jahre, wobei ein Drittel jährlich durch Los auszuscheiden hatte. Damit war eine Macht- oder Ämteranhäufung Einzelner ausgeschlossen. Eine dominierende Stellung, wie sie Volger als Obmann lange eingenommen hatte, wurde damit verhindert. Nach der alten Satzung war der Obmann immer wieder wählbar gewesen, er hatte das Hochstift nach außen vertreten, die Sitzungen vorbereitet und geleitet und bei Stimmengleichstand das Votum entschieden.25 In dringenden Fällen war es ihm sogar gestattet gewesen, vorläufige Anweisungen zu treffen. Über die Größe der Verwaltung, d.h. die Anzahl und Aufgaben der dazugehörigen Stiftsräte, hatte es vorher keine genauen Bestimmungen gegeben. Nur die Ämter des Verwaltungsschreibers, des Schriftführers und die der beiden Kassenprüfer waren festgelegt. Klare Zuständigkeiten über das Goethehaus und sein Inventar, die Sammlungen und die Bibliothek fehlten ebenso wie klare Verantwortlichkeiten für die Festsetzungen von Lehrgängen und Vorträgen. Die fehlenden Verantwortlichkeiten führten später zu einem Rechtsstreit zwischen Otto Volger und der neuen Verwaltung. Die Verwaltung bezichtigte Volger, Gegenstände und Bücher aus dem Eigentum des Hochstifts zu besitzen. Bei vielen Zusendungen war nicht mehr nachvollziehbar, ob sie Eigentum von Volger oder des Hochstifts waren und die Verwaltung erstellte Listen mit Gegenständen, die sie von Volger beanspruchte.26 Volger war trotz seiner Abwahl weiterhin Mitglied der Verwaltung und nahm an allen Sitzungen teil. Trotz seiner Anträge und Argumentation gegen die neue Satzung wurde diese in drei Sitzungen, die am 14., 18., und 21. Mai stattfanden, angenommen. Nachdem Volger im Hochstift isoliert blieb, begann Volger, die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit der Herausgabe „Offener Briefe“ in Angelegenheiten des Hochstifts, die in ihrer Aufmachung den offiziellen Hochstiftsberichten glichen und dessen Emblem verwendeten, zog er gegen die Verwaltung zu Felde.27 Diese wiederum antwortete mit energischen Gegendarstellungen und verbot Volger die Verwendung der Hochstiftssymbole. Nach
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27
Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 99–102. Vgl. Satzungen des Freien Deutschen Hochstiftes (1865), S. 9–11. Prot. OS, 16.12.1883. Der Prozess endete zunächst 1883 mit einem Vergleich, nachdem das Hochstift in zwei Instanzen Recht bekam und Volgers Anwalt einen Vergleich anbot, den die Verwaltung schließlich akzeptierte, vgl. Prot. OS 16.12.1883. Auch Jahre später erhoben Volger und die Verwaltung noch Besitzansprüche auf Gegenstände. Vgl. Prot. VA, 29.1.1886. Volger hatte ursprünglich geplant, alle in seinem Besitz befindlichen Bücher und Manuskripte nach seinem Tod dem Hochstift zu vermachen. Otto Volger an Ernst Kapp, 28.2.1878, Ds., FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19721. Vgl. Prot. Außerordentliche Verwaltungssitzung, 18.5.1882.
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der Wahl der Verwaltung im November 1882 wurde schließlich einstimmig Volgers Ausschluss aus dem Hochstift beschlossen. Den letzten Versuch, die Machtverhältnisse im Hochstift wieder zu ändern, unternahm Volger Ende 1882 mithilfe des Weimarer Hofes. Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar hatte 1881 symbolisch ein Protektorat über das Hochstift übernommen, das im Zusammenhang mit einer nationalen Goethestiftung stand, die das Hochstift unter Mitwirkung des Weimarer Hofes geplant hatte. Zu diesem Zweck legte Volger seine Positionen in einer „Klageschrift“ nieder, „Die seitherige Entwicklung und dermalige Nothlage des Freien Deutschen Hochstiftes“, die er mit Billigung des Weimarer Großherzogs Carl Alexander und, mit den Unterschriften von 272 meist auswärtigen Mitgliedern versehen, an den preußischen König sandte. Die Eingabe verzögerte die behördliche Genehmigung, denn das Regierungspräsidium verlangte im September 1882 eine erneute Abstimmung. Dazu wurden drei Sitzungen am 4., 11., und 18. März 1883 einberufen. Der Weimarer Lehrer Friedrich Seidel übermittelte in der Sitzung am 18. März die Wünsche des Großherzogs, der es aber vermied, direkt aufzutreten. So wünschte Carl Alexander den „deutschen Charakter“, also die großdeutschen Ansprüche des Hochstifts, zu erhalten, doch dieser Wunsch blieb ohne Wirkung.28 Ebenso wenig konnte der Großherzog Volgers Rückkehr in das Hochstift erreichen. Dort sollte er mit der Aufsicht über das Goethehaus und dessen Sammlungen betraut werden.29 Der entscheidende Punkt war allerdings der Antrag Seidels, den auswärtigen Mitgliedern ein schriftliches Stimmrecht zu gewähren. Das hätte die bisherige Mehrheit der neuen Verwaltung, die vorwiegend aus Mitgliedern aus Frankfurt und Umgebung bestand, bedroht und wurde daher zurückgewiesen. Der Einfluss der „Frankfurter“ wurde aber auch von Gegnern Volgers kritisiert, es stehe fest, dass eine in Frankfurt wohnende Minorität die Oberhand gewonnen hat, welche glaubt, gestützt auf ein dem Hochstift zugefallenes Vermächtnis von 630.000 Mark der Beihülfe der auswärtigen Mitglieder fernerhin entbehren zu können,
beklagte ein Mitglied.30 Die Verwaltung war zwar bemüht, die auswärtigen Mitglieder nicht vor den Kopf zu stoßen, hatte aber auch dafür gesorgt, neue Mitglieder aus Frankfurt zur Unterstützung der eigenen Linie aufzunehmen.31 Seidels Vorschlag verdeutlicht, wie isoliert Volger bereits in Frankfurt war. Trotz vieler Sympathien, die er von Mitgliedern außerhalb Frankfurts erhielt, waren doch die wenigsten willens oder in der Lage, zu den Abstimmungen persönlich in Frankfurt zu erscheinen. Am Ende blieb es dabei, dass eine deutliche Mehrheit für den Entwurf der Verwaltung stimmte. Daraufhin spielte Volger kurzzeitig mit dem Gedanken, in Weimar eine
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Prot. OS, 18.3.1883. Ebenda. Dr. Rudolf Adamy in einem Brief an das Königlich Preußische Ministerium des Inneren, zit. nach Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 241. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 225.
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„Zweiggenossenschaft treuer Anhänger“ des Hochstifts zu bilden.32 Diese sollte zunächst von einem Bund „treuer Meister des Hochstifts“ geleitet werden.33 Im Frühjahr 1884 erteilten die preußischen Behörden schließlich der neuen Satzung die Genehmigung. Damit wurden alle Hoffnungen Volgers auf eine Rückkehr zur alten Form enttäuscht. Am Schluss hatte er alle seine Hoffnungen auf den Großherzog Carl Alexander gesetzt, der bei seinem Schwager, dem preußischen König, intervenieren sollte. Doch Carl Alexander blieb reserviert. Volger resignierte am Ende und schrieb im Dezember 1883 an Conrad Beyer: Meine Hoffnungen auf Weimar sind sehr geschwunden. Liszt sagte mir im Voraus, dass nichts Ordentliches geschehen werde, er kenne seit 30 Jahren den guten Willen und das beständige Scheitern jeglicher Ausführung.34
Nach der behördlichen Genehmigung erfolgte zügig die Umsetzung der neuen Satzung. Im Juni 1884 wurde ein Akademischer Ausschuss gegründet, im Januar 1885 konstituierten sich die ersten fünf Fachabteilungen und am 5. Februar fand die erste Sitzung des Akademischen Gesamtausschusses statt. 1.3. Funktion und Wandel der Tätigkeiten In einer Rechtfertigung ließ die Verwaltung des Hochstifts 1882 erklären, dass sie mit der neuen Organisationsform den großen Gedanken, welcher der Schöpfung des Hochstifts seinerzeit zu Grunde gelegt wurde, in seiner ursprünglichen Reinheit wieder herzustellen und ihn der Verwirklichung entgegenzuführen,
gewillt sei.35 Zum fünfzigjährigen Jubiläum im Jahre 1909 resümierte man über die Entwicklung in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung: Es kam alles so anders als man geträumt hatte. Die deutsche Einheit wurde nicht mit den Waffen des Geistes, sondern durch Blut und Eisen erkämpft. Das staatliche Leben erwachte, die realen Mächte traten in den Vordergrund. Damit war auch das Geschick des Hochstifts, in der Form wie es ursprünglich gedacht war, entschieden. Die Ideen, denen es sein Dasein, sein Aufsteigen verdankte, hatten ihre Tragkraft verloren.36
Daher war es notwendig, „Ballast auszuwerfen“ und eine „Beschränkung auf bestimmte positive Ziele“ zu erreichen, eine Aufgabe, die schließlich nur durch das 32 33 34
35 36
Otto Volger, Offene Briefe, 1882, Nr. 2, S. 23. Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 20.2.1882, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642. Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 5.12.1883, ebenda; Volger hielt sich die nächsten Jahre immer öfter in Bad Soden auf, 1892 erwarb er in Sulzbach ein Haus, wo er am 18. Oktober 1897 verstarb; er wurde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt. 1934 ließ das Freie Deutsche Hochstift auf Volgers Grab einen Gedenkstein errichten und eine Erinnerungstafel mit einem Porträtrelief Volgers, angefertigt von Richard Scheibe, im Hof des Frankfurter Goethehauses anbringen. Zit. nach Hermann Rumpf, Aus der Geschichte des Freien Deutschen Hochstifts, S. 36. Jb. FDH 1909, Zum 50 jährigen Jubiläum des Hochstifts, S. XI.
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Ausscheiden Volgers möglich geworden war.37 Mit der Satzung von 1884 war zwar ein Neubau errichtet worden, aber auf den Fundamenten der Gründung wurde „kein in die Wolken ragender Turm, sondern ein wohnliches Haus“ erbaut.38 In einem Abriss über die Geschichte des Hochstifts äußerte sich 1938 der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses, Dr. Hermann Rumpf, über das Wesen der Satzung von 1884: „Unverändert blieb die Grundidee, welche Volger seiner Gründung gegeben hatte.“39 Er konstatierte allerdings, dass man nach 1884 nicht mehr ausdrücklich formuliert habe, das Selbstgefühl des deutschen Volkes zu heben, und sich in Anerkennung der politischen Verhältnisse in Deutschland von der Idee eines Großdeutschlands verabschiedete. 1938 aber war es im Hinblick auf die neuen Machthaber geboten, um die Selbstständigkeit des Hochstifts zu erhalten, die nationalen Bezüge seiner Gründung herauszustellen und als ununterbrochene Motivation der Tätigkeit zu bezeichnen. Auch wenn, so Rumpf, „manchmal der Schein erweckt werde[n], als verfolge das Freie deutsche Hochstift nicht mehr die Ziele seiner Gründung“, so „verfolgt das Freie Deutsche Hochstift noch dasselbe Ziel“.40 Dieses Ziel, das Volger bereits formuliert hatte, lebte auch 1938 fort: Das Freie Deutsche Hochstift will als Sammelpunkt für alle freie Tätigkeit in Wissenschaften, Künsten und allgemeinen Bildungseinrichtungen mitwirken, die einheitliche deutsche Geistesmacht und das im Dritten Reich wieder errungene Selbstgefühl des deutschen Gesamtvolkes zu erhalten.41
In seiner Hochstiftsgeschichte von 1959 beschrieb Fritz Adler die Neuordnung zwischen 1881–1884 als den Sieg des Hochschulgedankens über den Akademiegedanken.42 Beide Intentionen waren gleichberechtigte Ansprüche in Volgers ursprünglicher Konzeption gewesen, auch wenn die Umstände dazu führten, dass vor allem das Projekt einer Akademie im Mittelpunkt der Beschäftigungen gestanden hatte. Die neuen Impulse, die nun der Hochschulgedanke erhielt, trugen aber nach Adler Merkmale einer „ideelle[n] Verengung“, da sie das Projekt einer „geistigen Volksgemeinschaft“ Volgers durch ein akademisches Bildungsideal ersetzten.43 Joachim Seng bezeichnet das Ergebnis der Neuausrichtung als eine notwendige Anpassung an die sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich das Hochstift gerade in Frankfurt gegenübersah.44 Zu diesen Herausforderungen zählte das gestiegene Bildungsbedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten, das nach einem Ort verlangte, der Volksbildung und wissenschaftliche Weiterbildung
37 38 39 40 41 42
43 44
Ebenda, S. XI ff. Ebenda, S. XII. Hermann Rumpf, Aus der Geschichte des Freien Deutschen Hochstifts, S. 35. Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 48. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 245, Adler versteht unter der Akademie die Gelehrtenversammlung der Meisterschaft, während er die Bildungsvermittlung unter den Hochschulgedanken zusammenfasst. Ebenda, S. 246 f. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 34.
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förderte.45 Die Umgestaltung „in eine Akademie mit verschiedenen Fachbereichen kam [...] zum richtigen Zeitpunkt“46 Seng bewertet die Reorganisation im Gegensatz zur Gründung als ein herausragendes Beispiel bürgerlichen Mäzenatentums, dessen Ausgestaltung nicht dem Willen des Stifters, sondern dem der Institution oblag.47 Alle diese Bewertungen interpretieren die Ergebnisse der Satzungsänderung in Bezug auf die ursprüngliche Idee, die dem Hochstift zugrunde Grunde. Die ergriffenen Maßnahmen der Neuordnung waren also von einer erklärungsbedürftigen Tragweite und verlangten nach einer Rechtfertigung. Während die Stellungnahme der Verwaltung von 1882 durch die Rücksicht auf die Auseinandersetzungen um die Neustrukturierung gefärbt war und Hermann Rumpf im Hinblick auf die nationalsozialistischen Machthaber die Dauer der nationalen Ideale von 1859 übermäßig herausstellte, gelangen die anderen Beurteilungen zu der Einschätzung, dass mit der Satzung von 1884 eine grundlegende konzeptionelle Neugestaltung verbunden war. Und diese Neugestaltung betraf nicht nur die Organisation, sondern sie war auch ein Ausdruck für die Aufgabe eines ideellen Anspruchs, wie Otto Heuer 1909 bemerkte. Zwei Motivationen können zur Erklärung der inhaltlichen Neuausrichtung herangezogen werden. Zunächst einmal spielte die Verbindung von Bildung und Nation im Sinne einer deutschen Kultur- und Geistesgemeinschaft keine Rolle mehr. Die deutsche Einheit war für die neue Führungsgeneration des Hochstifts gleichbedeutend mit der Reichsgründung von 1871. Volger hatte den Ausschluss Österreichs immer als einen unverzeihlichen Angriff auf das geistige „Großdeutschland“ bewertet und seit 1871 immer wieder erklärt, mithilfe des Hochstifts die kulturellen Verbindungen nach Österreich erhalten und ausbauen zu wollen. Das Hochstift stelle keine „nationale Stiftung“ mehr dar, kritisierte Volger zu Recht.48 Hinweise auf eine „deutsche“ Wissenschaft, Kunst und Bildung fehlten in der neuen Satzung. Zweitens war die Neuordnung eine Folge der Professionalisierungs- und Spezialisierungstendenzen der bürgerlichen Vereinslandschaft, die eng mit der Ausdifferenzierung des gesamten Bildungssektors zusammenhing. Im Zuge dieser Entwicklung wurde dem Hochstift mit seinem Totalitätsanspruch in Bezug auf alle Belange von Wissenschaft, Kunst und Bildung immer wieder Dilettantismus vorgeworfen. Dessen bisher bescheidene Leistungen boten den Kritikern zusätzliche Argumente. Volger beharrte weiter auf dem Prinzip der „universitas“, das er für die Meisterschaft des Hochstifts verteidigte. In den „Offenen Briefen“, mit denen er 1882 öffentlich die neue Verwaltung und deren Satzungsentwurf angriff, legte er noch einmal seinen Standpunkt dar. Der Meister galt ihm als Liebhaber der Wissen-
45 46 47 48
Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 68. Otto Volger, Die seitherige Entwicklung, S. 20.
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schaft, der nicht gezwungen war, mit seinen Kenntnissen Geld zu verdienen.49 Gelehrten- und Berufswissen waren in seinem Verständnis nicht zwingend identisch.50 Als jüngstes Beispiel führte er Heinrich Schliemann an. Der sei durch den abstoßenden Hochmuth gewisser Deutscher Gelehrten=Kreise schon zu dem Entschlusse gedrängt, seine ruhmvolle Thätigkeit unter die Gunst seiner Englischen Freunde zu stellen,
aber das Hochstift habe ihm die erste aus Deutschland kommende Anerkennung erteilt und ihn damit für „Volke und Vaterland wiedergewonnen“.51 Deshalb lehnte Volger die strenge Ausrichtung an Fachabteilungen ab, denn der Meister entzieht sich mit seinem universellen Bildungsanspruch jeglicher Begrenzung.52 Er verteidigte das Hochstift als eine „Gemeinschaft, in welcher auch den Laien eine Stimme gegönnt war“.53 Die neue Satzung mache das Hochstift, so Volger, zu einer in „Frankfurt stehende[n] Gesellschaft zu beliebigen Bildungszwecken. Die Einrichtung von Fachabteilungen und die Bezeichnung eines Akademischen Ausschusses verdeutlichen die Tendenzen der Differenzierung auf der Grundlage akademischer Standards. Die berufliche bzw. die akademische Ausbildung wurden für die Mitglieder der Fachabteilungen immer wichtiger. Diesen Abteilungen fiel die Aufgabe zu, den wissenschaftlich gebildeten Mitgliedern, besonders auch den im Berufe stehenden akademischen Lehrern, Gelegenheit zu bieten, mit der Entwicklung ihrer Fachwissenschaft in lebendigem Zusammenhange zu bleiben und in ihr sich fortzubilden.54
Nicht eigenständige wissenschaftliche Forschungen, sondern die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse sollte die Arbeit in den Fachabteilungen auszeichnen. Anders als 1859 galten nun uneingeschränkt die Universitäten als Orte des wissenschaftlichen Fortschritts und der wissenschaftlichen Ausbildung. Ihre Aufgabe sei es, unter Aufrechterhaltung aller Wissenschaften, für jede einzelne Wissenschaft doch eine Fachschule zu sein, auf welcher solche Männer gebildet werden, welche eben diese einzelne Wissenschaft fachmäßig, sei es praktisch, sei es theoretisch, betreiben wollen.55
Diese Fachbildung sei bestimmt durch ihre „naturgemäße[n] und notwendige[n] Einseitigkeit“ und eine „spezialisierte Bildung“.56
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52 53 54 55 56
Otto Volger, Offene Briefe, 1882, Nr. 1, S. 11. Vgl. Dieter Hein, Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung, S. 164. Otto Volger, Offene Briefe, 1882, Nr. 1, S. 15; Schliemann wurde im Januar 1877 zum Meister ernannt, nachdem er angeblich das Grab Agamemnons gefunden hatte. Mehrmals sprach Otto Volger in den Sitzungen über dessen Ausgrabungen. Schon damals kritisierte der Obmann das Verhalten der deutschen Gelehrten und Universitäten, die Schliemann ablehnend gegenüberstanden. Vgl. Prot. OS, 14.1.1877 und 13.5.1877. Otto Volger, Offene Briefe, 1882, Nr. 1, S. 12. Ebenda, S. 13. Otto Heuer, Das Freie Deutsche Hochstift, in: Jb. FDH (1909), S. XIII. Ber. FDH 1884/85, S. 72. Ebenda. S. 72 ff.
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Auch die Hochschule des Hochstifts erhielt eine neue Gestalt. Hatte ihr Volger noch eine Verbindung von Wissenschaft und Wissensvermittlung in Aussicht gestellt, blieb nur noch die Wissensvermittlung als Funktion erhalten. Dazu gehörten monatliche, thematisch abgeschlossene Vorträge und die Lehrgänge, die sich für jedes Thema aus mehreren Einzelvorträgen zusammensetzten. Die Vorträge sollen nicht ein Wissensgebiet untersuchend und forschend mit der Absicht behandeln, den Hörer zu Weiterforschung anzuleiten, also auch nicht eine Vorbereitung für künftigen Universitätsbesuch bilden, womit in die Fachbildung übergegriffen würde, sondern sie sollen auf Grund wissenschaftlicher Beherrschung des Gebietes die Ergebnisse der betreffenden Wissenschaft faßlich und geschmackvoll vorführen, so daß der auf diesem Gebiete nicht fachmäßig Gebildete einen Überblick über den Stand und die allgemeinen Ergebnisse der betreffenden Wissenschaft gewinnt.
Auch war hier die Beschränkung der Ansprüche mit einem Professionalisierungsschub verbunden, denn ausdrücklich wünschte man für die Lehrgänge „die Heranziehung auswärtiger, der Hochschule angehöriger Kräfte, um so eine „unmittelbare Berührung mit den Universitäten“ zu erreichen.57 Mit der neuen Satzung wurde nun ein Wandel vollzogen, der auch allgemein für die Bürgerkultur feststellbar ist. Ihre inhaltliche Gestaltung wurde den professionellen Experten überlassen, um dem Vorwurf der „Laienhaftigkeit“ zu entgehen.58 Gerade diesen Vorwürfen sah sich das Hochstift ausgesetzt und Kritiker, wie Ludwig Geiger, vermissten hinter den Ansprüchen die notwendigen (akademischen) Qualifikationen der Beteiligten. Für die Legitimation der wissenschaftlichen Ansprüche bedeutete dies den Nachweis einer akademischen Ausbildung, den Besitz entsprechender Bildungspatente. Eine Aufnahme in die Fachabteilungen war zwar nicht ausdrücklich an akademische Titel geknüpft59, aber man verlangte, dass der Bewerber durch seine öffentliche Berufsthätigkeit als wissenschaftlich oder künstlerisch befähigt anerkannt ist, oder diese Befähigung durch wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen bethätigt hat.60
Während nun der Besitz eines qualifizierten Bildungspatents die Aufnahme erleichterte, waren in der Satzung von 1863 noch keine beruflichen Qualifikationen verlangt worden. Die stimmberechtigten Mitglieder der Fachabteilungen bildeten den Akademischen Gesamtausschuss, der das „wissenschaftliche Herz“61 des Hochstifts bildete. Der Lehrplan, die Bestellung der Dozenten und die Themen der Vorträge waren damit in den Händen akademisch ausgebildeter Kreise. Mit den Fachabteilungen und den dort gehaltenen Vorträgen und Diskussionen bot man den Rahmen für einen geselligen Austausch über wissenschaftliche Fragen. Ein Grundprinzip, welches für das Hochstift seit seiner Gründung eine zentrale Bedeutung besaß, nämlich die freie und ungehinderte Beschäftigung mit wis57 58 59 60 61
Ber. FDH 1886, S. 3*. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 110. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 47. Satzungen des Freien Deutschen Hochstiftes (1884), Satz 17, S. 9. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 47.
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senschaftlichen Fragen zu garantieren, wollte Ludwig Büchner in die Neugestaltung des Hochstifts retten. Er gehörte zu jenen akademisch Gebildeten, die maßgeblich die wissenschaftliche Ausrichtung des Hochstifts entwickelten und die Strukturen der Fachabteilungen sowie deren Aufgaben skizzierten. Interessanterweise war Büchner der Einzige, der von den ersten Mitgliedern von 1859 die Umgestaltung des Hochstifts aktiv mit begleitete und die neue Satzung maßgeblich beeinflusste. In einem Aufsatz über die Neugestaltung des Hochstifts, den er 1882 publizierte, äußerte sich Büchner über die künftige Stellung der Wissenschaften. Dabei knüpfte er an die Grundidee der wissenschaftlichen Freiheit an, die er bereits 1859 gefordert hatte. Dieses Prinzip sollte insofern weiter für die wissenschaftliche Betätigung im Hochstift gelten, da er dort eine „Zufluchtsstätte für nicht=offizielle oder nicht=akademische Wissenschaft und Lehre“ schaffen wollte.62 Zwar respektierte Büchner die Universitäten als Träger des wissenschaftlichen Fortschritts, aber sein Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen in die Forschung und Lehre und Zensurmaßnahmen blieb bestehen. Er beobachtete an den Universitäten eine „staatlich sanktionirte Gelehrsamkeit“, die wissenschaftliche Fortschritte, die sich in Opposition zur öffentlichen Lehrmeinung entwickelt hätten, unterdrückt oder ignoriere.63 Für solche Gelehrte oder geistige Arbeiter nun erscheint eine Anstalt, welche in der Lage ist, jedem berechtigten geistigen Streben einen Anhaltspunkt zu gewähren, resp. einen Wirkungskreis zu eröffnen, geradezu als Lebensrettung.64
Büchner vertrat das Ideal einer emanzipierten Wissenschaft, die sich über alle staatlichen und gesellschaftlichen Grenzen erheben sollte, um im Dienste der Wahrheit zu wirken. Er wünschte, dass das Hochstift sich zu einem solchen freien Kampfesfeld oder zu einem Zufluchtsort für freie Lehre und Wissenschaft, für verkannte oder zurückgedrängte Künstler oder Geisteskämpfer
entwickeln möge.65 Diese Ideen beinhalteten zumindest den Anspruch auf einen gewissen nationalen wissenschaftlichen Wirkungsraum, der sich aber an die Außenseiter des „offiziellen“ Wissenschaftsbetriebes wandte. Ein solcher Außenseiter war Büchner selbst gewesen. Deswegen machte Volger egoistische Gründe für Büchners „Abfall“ verantwortlich, weil Büchner „sich von den neuen Machthabern eine Professur für Kraft und Stoff am F.D.H. zu verdienen“ trachtete.66 Bemerkenswerterweise kamen die Differenzen zwischen Büchner und Volger, die etwa Büchners materialistische Weltanschauung betrafen und die Volger als eine Bedrohung für die gesellschaft-
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Ludwig Büchner, Die Neugestaltung des Freien Deutschen Hochstifts, S. 208. Ebenda. Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 210. Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 18.11.1881, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642.
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liche Grundlage ablehnte67, über die Jahrzehnte der Zusammenarbeit nicht zum Ausbruch. Die von Büchner eingeforderte wissenschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit blieben durchaus akzeptierte Prinzipien der Hochstiftstätigkeiten. Besonders innerhalb der Abteilung für Volkswirtschaft führten sie zu vielfältigen Kooperationen auf lokaler Ebene. Besonders das städtische Publikum rückte mit der Neuordnung in den Fokus des Hochstifts und seiner Bildungsangebote.68 In den Berichten des AGA werden ausdrücklich die lokalen Bezüge des Hochstifts herausgestellt: Hiernach verfolgt es klar und scharf zwei Ziele: in seiner Akademischen Abteilung soll ein Mittelpunkt für die wissenschaftliche Thätigkeit seiner Mitglieder, besonders hier am Orte, geschaffen werden; diese aber soll die lebenskräftige Wurzel werden, aus welcher in immer neuen Schösslingen die Vermittlung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit an weitere Kreise erwachsen kann.69
Intensiv nahm die Frankfurter Presse an den Umgestaltungen teil und berichtete ihren Lesern über die Debatten. Diskutiert wurden auch solche Fragen, die das wissenschaftliche Programm betrafen. Besonders die Themen bzw. die Bereiche, die von den Fachabteilungen abgedeckt werden sollten, wurden mit Rücksicht auf das vorhandene städtische Bildungsangebot ausgewählt. Ein Hauptargument war, „man dürfe nicht in die Kreise der anderen Vereine, z. B. des Senckenbergianums treten“70 Das hatte zur Folge, dass sich die Fachabteilung für Naturwissenschaft nur noch mit allgemeiner Naturwissenschaft beschäftigte, da mit dem Senckenberg ein Institut für speziellere Naturforschung vorhanden war. Andere Felder, wie die Sozialwissenschaften, wurden noch nicht angeboten und die Gründung der entsprechenden Fachabteilung bewies, dass man damit einem Bedürfnis nachkam. Der stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsausschusses, der Gymnasialdirektor Dr. Reinhard, stellte fest, dass das Hochstift zur Verbreitung wissenschaftlichen Sinnes und tieferer Bildung in dieser Stadt, wie auch zur Förderung der Wissenschaft im allgemeinen sein redliches Teil beiträgt, dass es zu einem Mittelpunkt ernster Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft für Frankfurt geworden ist.71
Die Umgestaltung folgte also den gewachsenen Bedürfnissen, die aus dem städtischen bzw. lokalen Raum stammten.72
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Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 2.9.1884, ebenda. In der Frage einer behördlichen Aufsicht hatte sich schließlich eine Mehrheit der Mitglieder für den Magistrat der Stadt Frankfurt am Main ausgesprochen. Ber. FDH 1886, S. 3*. Frankfurter Zeitung, 31.10.1984, zit. nach Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 62. Ber. FDH 1897, S. 346. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 53.
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2. DIE TÄTIGKEITEN DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS 1881–1914 2.1. Die wissenschaftlichen Fachabteilungen Anfang 1885 waren die ersten Fachabteilungen für Geschichte, Bildende Kunst und Kunstwissenschaft, Allgemeine Naturwissenschaft, Schöne Wissenschaften und Soziale Wissenschaften gebildet worden. Im Laufe der Zeit wurden sie noch durch eine Abteilung für Sprachwissenschaft ergänzt, die sich in zwei Unterabteilungen für Alte und Neuere Sprachen gliederte. Die Abteilung für Naturwissenschaften wurde um den Bereich der Mathematik erweitert und die Sozialen Wissenschaften bestanden aus den Abteilungen für Jurisprudenz und Volkswirtschaft. Mitte der 1890er Jahre erfolgte die Umbenennung der Abteilung für Schöne Wissenschaften in Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur. Für die wissenschaftliche Bedeutung, die das Hochstift auch nach seiner Umgestaltung über Frankfurt hinaus erlangte, war zweifellos die Arbeit der Sektion für Volkswirtschaft maßgeblich.73 Sie veranstaltete Kongresse, sammelte statistisches Material und führte Untersuchungen über die sozialen Bedingungen einzelner Bevölkerungskreise durch, um damit Beiträge für eine bürgerliche Sozialreform zu leisten. Die durch die industrielle Entwicklung bewirkten sozialen Umwälzungen waren schon seit einigen Jahrzehnten als ein gesellschaftliches Problem diagnostiziert worden, für das verschiedene Lösungsansätze diskutiert wurden. Brisanz erhielten diese Diskussionen durch ihre gesellschaftspolitischen Perspektiven, die je nach den Standpunkten der einzelnen Akteure unterschiedliche Erwartungen beinhalteten. Eine Grundüberzeugung lautete aber, dass die Probleme, die man als „soziale Frage“ summierte, durch entsprechende aktive Maßnahmen angegangen werden mussten. Von staatlicher Seite beschritt das Reich unter Bismarck den Weg, sozialstaatliche Maßnahmen durch die Einführung von Sozialversicherungen zu ermöglichen. Dazu gehörten die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) und schließlich die Alters- und Invalidenversicherung (1889). Bismarck hoffte, mithilfe staatlicher Wohlfahrtsmaßnahmen die Gefahr einer Revolution von unten zu entschärfen und den Erfolgen der sozialistischen oder kommunistischen Ideen entgegenzuwirken. Konnte sich Bismarck in den Beratungen über die Gesetze auch nicht mit allen seinen Vorstellungen durchsetzen – er favorisierte z.B. eine stärkere staatliche Lenkung – so brachten sie den Arbeitnehmern doch einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung.74 Alternative Ideen boten liberale Modelle, die den staatlichen Interventionen kritisch gegenüberstanden und für zusätzliche gesellschaftliche Organisationsfor73 74
Ebenda, S. 80 f.; Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik in Frankfurt am Main, S. 82; Wolfgang Seitter, Volksbildung und Educatión popular, S. 194. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 336–373; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 907–915; Eckart Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland (I). Von den Ursprüngen bis zum Untergang des Kaiserreiches 1918, S. 193–227.
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men plädierten.75 Auch innerhalb der liberalen Sozialpolitik waren die Meinungen über die Mittel und Ziele geteilt, aber es entwickelte sich eine fruchtbare Diskussion und entsprechende sozialpolitische Ansätze. Vor allem der 1872 gegründete „Verein für Socialpolitik“76 beeinflusste mit seinen Diskussionen die bürgerliche Sozialbewegung. In ihm engagierten sich zumeist bürgerliche Akademiker, die, als „Kathedersozialisten“77 betitelt, sich darum bemühten, staatliche und gesellschaftliche Steuerungselemente für die Lösung der sozialen Probleme zu finden. Auf der Reichsebene blieben die Möglichkeiten der liberalen Reformansätze begrenzt. Bismarcks sozialpolitische Initiativen waren Teil einer repressiven Politik gegen die Arbeiterbewegung, die durch die „Sozialistengesetze“ flankiert wurden. Im Verständnis der bürgerlichen Sozialreformer galten Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften als notwendige Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklungen und wurden als Partner in der Wirtschafts- und Sozialordnung durchaus akzeptiert. Die Tendenz zur Ausbildung institutionell gebundener Verfahren zur Konfliktvermeidung, Konfliktbeherrschung und Konfliktrationalisierung, zur Konsens- und Kompromissfindung, zur Disziplinierung der Arbeiter, zur Vereinbarung geregelter Abläufe, in die die ungefesselte Gewalt wirtschaftlich-sozialer Kämpfe eingebunden wird, wird positiv bewertet.78
Daher gewannen dafür die Kommunen, in denen die Liberalen die herrschende Partei stellten, eine große Bedeutung als Aktionsfelder bürgerlicher Sozialpolitik. Dies gilt insbesondere für Frankfurt, wo die liberalen Parteien die Kommunalpolitik lange Zeit dominierten.79 1868 wurde unter Führung Leopold Sonnemanns der „Demokratische Wahlverein“ gegründet, der linksliberale Positionen in Frankfurt vertrat.80 Aus anderen Vereinigungen ging daraus schließlich 1873 der „Demokratische Verein“ hervor, in dessen Vorstand auch Otto Volger kurze Zeit saß. Aus dem „Demokratischen Verein“, der lange die Stadtverordnetenversammlung dominierte, gelangten vielfache sozial-reformerische Impulse in die Kommunalpolitik. Frankfurt am Main erlangte dadurch den Ruf, Zentrum des „Munizipalsozialismus“ zu sein.81 Dabei 75
76 77 78 79
80 81
Vgl. Die Beiträge in: Karl Holl/Günter Trautmann (Hg.), Sozialer Liberalismus; Rüdiger vom Bruch, Bürgerliche Sozialreform im Deutschen Kaiserreich, in: ders., Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, S. 166–272; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940; Rüdiger vom Bruch (Hg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. Vgl. Marie-Louise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872–1890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus, S. 13–56. Nach einer Bezeichnung Heinrich Bernhard Oppenheims in einem Artikel der Berliner Nationalzeitung vom 7.12.1871, ebenda, S. 34. Eckard Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, S. 354. Vgl. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main; Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann, S. 75–89; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 624–658; ders., Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik in Frankfurt am Main. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 35 ff. Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 79.
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ging der industrielle Wandel langsamer als in anderen Städten voran, aber es kam dennoch zu einem bedeutenden Wachstum der städtischen Bevölkerung. So hat sich die Einwohnerzahl zwischen 1864 und 1885 von 77.372 auf 154.441 fast verdoppelt.82 Die Stellung von Handel und Handwerk blieb trotz der industriellen Entwicklung prägend für die städtische Wirtschaft. Viele Infrastrukturmaßnahmen wurden erst nach der Eingliederung in die preußische Verwaltung ausgeführt, besonders aber die Einführung der preußischen Gewerbeordnung und der Wegfall der Zunft- und Zuzugsbeschränkungen veränderten die städtische Sozialstruktur.83 Die bürgerliche Sozialpolitik in Frankfurt fußte einerseits auf der freistädtischen Tradition der bürgerlichen Verantwortung für die soziale Verfassung der Stadt, andererseits bot die Kommune ein Handlungsfeld für die bürgerlichen Vorstellungen und Ideen für soziale Reformen, die auf anderen Ebenen versperrt waren und die zugleich eine dringende Antwort auf die Herausforderungen vor Ort verkörperten. Die Motivationen für das Engagement waren dabei unterschiedlich begründet und auch die einzelnen Maßnahmen, welche die jeweiligen Akteure ergriffen. Trotz aller Hemmnisse, die in den liberalen Kreisen und Parteien gegen eine Sozialpolitik bestanden84, war es eine bemerkenswerte Entwicklung, dass gerade eine Stadt wie Frankfurt eine bürgerliche Sozialpolitik konstituierte, die weniger unter dem Druck einer umwälzenden Industrialisierung zustande kam, sondern aus einem bürgerlichen Selbstverständnis heraus Konzepte für die Stadtgemeinschaft entwickelte. In diesem Sinne konnte das Hochstift als eine Art „Denkfabrik“ (Joachim Seng) für die bürgerliche Sozialpolitik in Anspruch genommen werden und es entsprach einem dringenden Bedürfnis, diese Fragen in einer speziellen Fachabteilung zu erörtern. Ralf Roth fasst die Akteure der kommunalen Sozialpolitik in drei Gruppen zusammen. Neben den bürgerlichen Vereinen, zu denen er das Hochstift zählt, nennt er die philanthropisch gesinnten Kaufleute und Fabrikanten und die Beamten der Stadtverwaltung.85 Mag diese Unterscheidung auch angemessen sein, so muss man doch berücksichtigen, dass in dem doch relativ übersichtlichen Raum der Stadt vielfache Formen von Beeinflussung, Austausch und Netzwerkbildung existierten und dass gerade das Hochstift ein wesentliches Bindeglied für verschiedene Akteure bildete. Eine Persönlichkeit, wie Charles Hallgarten,86 war in unterschiedlichen Vereinen tätig und engagierte sich für das Hochstift; ein wesentlicher Initiator, wie Karl Flesch, leitete nicht nur zeitweise die Fachabteilung 82 83 84 85 86
Ders., Stadt und Bürgertum, S. 47. Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 18–76; Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 55 ff. Günter Trautmann, Die industriegesellschaftliche Herausforderung des Liberalismus, S. 44 ff. Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 82. Charles Hallgarten wurde 1838 in Mainz geboren, nach einem Aufenthalt in New York ließ er sich 1877 als Teilhaber der von seinem Vater gegründeten Bank Hallgarten & Co in Frankfurt nieder, wo er 1908 starb. Hallgarten unterstützte zahlreiche soziale Einrichtungen, gehörte dem Armenamt an, war Berater an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften. Er war Mitbegründer der Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen und der Centrale für private Fürsorge.
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für Volkswirtschaft im Hochstift, sondern war neben seiner Tätigkeit als Stadtrat Dezernent für das Armen- und Waisenhaus. Oberbürgermeister Johannes Miquel war ebenfalls Mitglied und Vortragender im Hochstift. Für die Diskussion dieser Fragen bot die Umgestaltung des Hochstifts einen entsprechenden Rahmen, der vorher nicht vorhanden war. Volgers Zerwürfnisse mit der Stadtverwaltung, sein Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden, seine persönliche Fehde mit Leopold Sonnemann standen dieser Entwicklung im Wege. Die Einrichtung der Fachabteilungen und die Konzentration des Bildungsangebots auf die städtischen Bedürfnisse führten zwangsläufig dazu, dass die Fragen der Sozialpolitik nun verstärkt in das Beschäftigungsfeld des Hochstifts traten. Einer der herausragenden Organisatoren der volkswirtschaftlichen Sektion im Hochstift war Karl Flesch87. Aus einer jüdischen Familie stammend, die im 17. Jahrhundert aus Prag nach Frankfurt gekommen war, studierte der 1853 geborene Karl Ferdinand Moritz Flesch Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin (1872–75). Fleschs Eltern, der Arzt Jakob Flesch (1819–1892) und seine Mutter Florentine, geb. Creizenach, konvertierten im Zuge der Märzrevolution 1848 zum protestantischen Glauben. Jakob Flesch vertrat eine republikanische Gesinnung, engagierte sich in der Armenpflege und unterstützte den Bau einer Kanalisation, um die hygienischen Bedingungen in Frankfurt zu verbessern. Er gehörte 1876 zu den Gründern des Ärztlichen Unterstützungsvereins. Diese Tätigkeiten im Bereich der Armen- und Krankenpflege übten einen maßgeblichen Einfluss auf seinen Sohn Karl Flesch aus. Dieser verteidigte als Anwalt sozialdemokratische Arbeiter und demonstrierte – trotz seiner Distanz zu den sozialistischen Ideen – offen seine Sympathie für die verfolgten Sozialdemokraten.88 Neben seiner Tätigkeit als Anwalt beschäftigte er sich mit sozialwissenschaftlichen Themen und unternahm dafür zahlreiche Reisen, die ihn unter anderem nach Frankreich, Belgien und Großbritannien führten. Für die „Fortschrittliche Volkspartei“ wurde Flesch 1884 hauptamtlicher Stadtrat und kurz darauf Leiter des Frankfurter Armen- und Waisenamtes, von 1908 bis 1915 war er Frankfurter Vertreter im preußischen Abgeordnetenhaus. Fleschs Vater hatte 1859 zu den Gründungsmitgliedern des Hochstifts gehört89, Karl Flesch90 wurde im November 1883 Mitglied. Der Armenpflege und dem Arbeitsrecht galt Fleschs besondere Aufmerksamkeit. Für die öffentliche Armenpflege in Frankfurt baute er auf das „Elberfelder System“, das in der gleichnamigen Stadt in den 1850er Jahren entwickelt worden war und auf Dezentralisierung, ehrenamtliche Beschäftigung und Selbsthilfe abzielte. So errichtete er in Frankfurt Distrikte bzw. „Pflegschaften“, in denen eh87
88 89 90
Zur Biografie vgl. Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurter Biographie, Bd. 1, S. 211–212; Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden, Bd. 3, S. 118–120; Max Flesch-Thebesius, Der Frankfurter Sozialpolitiker Dr. Karl Flesch, in: AFGK 47, S. 77–88; Monika Hermel, Karl Flesch (1853–1915). Sozialpolitiker und Jurist, S. 14–44. Es soll sogar von sozialdemokratischer Seite die Absicht bestanden haben, Flesch als Kandidaten aufzustellen, vgl. Monika Hermel, Karl Flesch (1853–1915), S. 18. Franz Lerner, Die ersten Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts, S. 39. Mitgliedsakte Karl Flesch, FDH-Hausarchiv.
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renamtliche Armenpfleger und seit 1900 auch Pflegerinnen tätig waren.91 Daneben gewann er die Überzeugung, durch Reformen im Arbeitsrecht, speziell durch eine rechtlich verbindliche Ausgestaltung des Arbeitsvertrags, Rechtsverhältnisse zu schaffen, welche die Arbeiter von einer einseitigen Abhängigkeit bewahrten. Zur Regelung eventueller Streitfälle plädierte er für die Einrichtung von Gewerbegerichten, die paritätisch mit Arbeitnehmern und Arbeitgebern besetzt werden sollten. Im Jahr 1887 wurde das erste dieser Gerichte in Frankfurt gegründet, es wurde Vorbild für das gesamte Reich. Die im Januar 1885 konstituierte Fachabteilung für Soziale Wissenschaften untergliederte sich bald in eine juristische und eine volkswirtschaftliche Sektion. In der volkswirtschaftlichen Sektion übernahm Flesch den Vorsitz und wurde zum Stellvertreter des AGA-Vorsitzenden Veit Valentin gewählt92. Aufgabe der volkswirtschaftlichen Sektion war die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Sozialwissenschaften. Daneben sollten, so Flesch, Vorträge „über die neuesten Forschungen und Ergebnisse auf dem Gebiet“ gehalten werden.93 Dahinter standen erstens der Anspruch der politischen Neutralität, den das Hochstift weiterhin reklamierte, und zweitens die bürgerliche Vorstellung, die „soziale Frage“ mithilfe wissenschaftlicher Methoden zu lösen. Das zeigt sich etwa an Fleschs Interpretation des Arbeitsvertrags. Während er die Marxsche Interpretation ablehnte, die den Arbeitsvertrag als Herrschafts- und Ausbeutungsinstrument betrachtete, gelangte Flesch zu der Überzeugung, durch eine juristische Reform der Rechtsverhältnisse dem Arbeiter genügend Rechtsansprüche zu garantieren, um auch die bürgerlichen Ideale von Freiheit und Eigentum in das Arbeitsverhältnis einzubringen.94 Mit dieser Reform wären dann allerdings auch Streiks als außerrechtliche Elemente verboten gewesen. Gerade die Begrenzung auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit volkswirtschaftlichen und sozialen Themen erhöhte die Attraktivität der volkswirtschaftlichen Sektion für verschiedene Gruppen und Standpunkte. Dort wurden keine konkreten politischen Änderungen oder Sozialmaßnahmen gefordert, sondern man unternahm eine Bestandsaufnahme der Probleme und griff dabei auf die empirischen Methoden der historischen Schule der Nationalökonomie zurück, die von Gustav von Schmoller oder Lujo von Brentano eingefordert worden waren.95 Dazu gehörten statistische Erhebungen, Befragungen und Materialsammlungen. Über die eigenen wissenschaftlichen Ansprüche der Sektion sprach der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Gottlieb Schnapper-Arndt (1846–1904) 1888 anlässlich einer Besprechung der Enquete „Der Wucher auf dem Lande“ des „Vereins 91 92 93 94 95
Monika Hermel, Karl Flesch (1853–1915), S. 20–25. Prot. AGA, 5.2.1885. Prot. AGA, 8.4.1885. Monika Hermel, Karl Flesch (1853–1915), S. 118. Vgl. Rüdiger vom Bruch, Zur Historisierung der Staatswissenschaften. Von der Kameralistik zur historischen Schule der Nationalökonomie; ders., Gustav Schmoller: Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, beide in: ders., Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, S. 230–249 u. 293310.
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für Socialpolitik“.96 Schnapper-Arndt kritisierte die mangelnde methodologische Basis des Berichts, in dem er „eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht erblicken kann“.97 Er bemängelte, dass klare statistische Erhebungen fehlen und durch „zahlenmäßig unbestimmte Urteile ohne alle Belege“ ersetzt wurden. Statt auf eine qualitative Methode, relevante Einzelfälle aus eigener Wahrnehmung [zu beurteilen,] sowie [auf] die kritische Wiedergabe der auf solche Einzelfälle bezughabenden Zeugnisse unter thunlichster Kenntlichmachung des Erfahrungsgebietes, das dem Referenten zur Verfügung gestanden hat,
setzte man in den Schlussfolgerungen auf intuitive Urteile.98 Das führte dazu, dass antisemitische Klischees in den Bericht Eingang fanden, „eine ganze Blumenlese beleidigender, die Juden als solche verächtlich machender Aeußerungen und Wendungen“, die „unter der Aegide eines wissenschaftlichen Vereins erscheinenden Schrift, fernbleiben müssen“.99 Gottlieb Schnapper-Arndt stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Frankfurt und arbeitete an statistischen Methoden, die ihn zu einem Pionier der empirischen Sozialforschung machten. 1901 wurde er als Dozent für Statistik an die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften berufen.100 Entsprechend den Ansprüchen auf Wissenschaftlichkeit erarbeitete die Sektion für Volkswirtschaft eine Statistik über „Frankfurter Arbeitsbudgets“, die in der Schriftenreihe des Hochstifts erschien.101 Angeregt wurde das Vorhaben durch den „Report of the committee, appointed February 8th 1884, to inquire into the condition of the Bristol poor“, über den Karl Flesch in einer Sitzung am 28. April 1887 referierte. Dabei handelte es sich um eine Enquete, die von einem Bristoler Komitee aus Privatleuten und Geistlichen in Auftrag gegeben worden war, um die Verhältnisse der ärmeren Bevölkerung zu untersuchen. Trotz der Kritik, die Flesch an den statistischen Angaben und der Methodik übte, hat er geäußert, es wäre „wünschenswert, wenn für Frankfurt ein ähnliches Unternehmen ins Leben gerufen werden könnte“.102
96
„Der Wucher auf dem Lande“. Berichte und Gutachten veröffentlicht von Verein für Socialpolitik (Schriften des Vereins für Socialpolitik XXXV), Leipzig 1887. 97 Ber. FDH 1888, S. 408. 98 Ebenda, S. 413. 99 Ebenda, S. 438. 100 Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurter Biographie, Bd. 2, S. 318; Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus, S. 81. Bekannt wurde Schnapper-Arndt durch seine Studien über die soziale Lage im Taunus, vgl. Gottlieb Schnapper-Arndt, Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus. Eine socialstatistische Untersuchung über Kleinbauernthum, Hausindustrie und Volksleben, Leipzig 1883. 101 Frankfurter Arbeitsbudgets. Haushaltsrechnungen eines Arbeiters einer Königlichen Eisenbahnwerkstätte, eines Arbeiters einer chemischen Fabrik und eines Aushilfsarbeiters. Veröffentlicht und erläutert von Mitgliedern der volkswirtschaftlichen Sektion des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt am Main 1890. 102 Ber. FDH 1886, S. 303
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In der Begründung der Sektion an den AGA, der die dafür notwendigen Mittel genehmigen musste, heißt es in Bezug auf die allgemeinen Tendenzen der Wissenschaften: In der neueren Nationalökonomie gewinnt mehr und mehr die Richtung an Boden, die zur Erkennung der volkswirtschaftlichen Gesetze nicht durch allgemeine Spekulation und durch Abstraktion aus historischen Entwicklungen oder aus den politischen merkantilen Verhältnissen zu gewinnen sucht, sondern die sich bemüht, die Wahrheit durch exakte Erforschung und Beobachtung einzelner, abgegrenzter volkswirtschaftlicher Thatsachen zu gewinnen, sei es im Wege der Massenbeobachtung, sei es durch Feststellung des Verlaufs eines einzelnen bestimmten Vorgangs.103
Aufgrund der beschränkten Mittel entschied sich die Abteilung für eine Untersuchung einzelner Familienhaushalte, um einen „geltenden Typus“ darzustellen, der, als Idealtypus fungierend, allgemeine Aufschlüsse über die Gesamtsituation liefern kann. Dieses Vorgehen entsprach den theoretischen Überlegungen, die den Untersuchungen Gottlieb Schnapper-Arndts zugrunde lagen, der in einem Gutachten an den AGA diese Methode befürwortete, da damit „ein selbstständiges, wertvolles Resultat“ zu erzielen sein werde.104 Der AGA genehmigte den Antrag der Abteilung und bewilligte zunächst 300 Mark. Die Bezugnahme Fleschs auf den Bericht aus Bristol war kein Zufall, sondern Großbritannien war Vorreiter im Bereich der statistisch-empirischen Untersuchungen. Zahlreiche Enqueten, Sozialreports und statistische Erhebungen waren im 19. Jahrhundert erschienen, bereits 1834 wurden in Manchester und in London „Statistical Societies“ gegründet.105 Daneben gab das britische Parlament Untersuchungen in Auftrag, um entsprechende soziale Gesetzesvorhaben zu begründen. Selbst Marx und Engels initiierten soziale Fragebögen zur Lage der Arbeiter in Frankreich, die nicht nur Informationen liefern, sondern ebenso auch das Klassenbewusstsein der Befragten stärken sollten. Diese Tendenzen statistischempirischer Untersuchungen waren auch durch den „Verein für Socialpolitik“ aufgegriffen worden, der zahlreiche Untersuchungen, wie die bereits von Schnapper-Arndt kritisierte Enquete über den „Wucher auf dem Land“, veröffentlichte. Allerdings hafteten ihnen methodische Mängel an, da vor allem eine beschreibende „idiographische“ Methode herangezogen worden war. Die nationalökonomische Schule legte größeren Wert auf Materialsammlungen und an dieser Tradition 103 Ebenda. 104 Ebenda, S. 306. Schnapper-Arndt erwartet, dass die Darstellung der „Gesamtlage einer Familie in ihren wesentlichen Umrissen [...] für irgend einen Kreis, möge er groß oder klein sein, typisch sein werde“. Ebenda, S. 307. 105 Vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950; zu Deutschland vgl. Wolfram Siemann, Zwischen Ordnungsund Sozialpolitik. Die Anfänge parlamentarischer und administrativer Enqueten in Deutschland; schon im Rahmen des süddeutschen Konstitutionalismus der 1860er Jahre bot die Enquete „eine ganze Reihe von Instrumentarien, die es der Kammer erlaubten, zu selbständigen Erkenntnissen zu gelangen, und so im Idealfall die Regierung zu einer Gesetzesinitiative zu drängen“, Jörg Westermayer, Politik als Beruf. Der Parlamentarier Moriz Mohl 1802–1888, S. 217. Auch Mohl rezipierte die englischen Parlamentsberichte, ebenda, S. 201.
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orientierten sich auch Flesch und Schnapper-Arndt, wobei Letzterer gerade auf die Untersuchungen in den von Gustav von Schmoller herausgegebenen „Jahrbüchern für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche“ verwies.106 Den Vorstellungen Schnapper-Arndts folgend, veröffentlichte das Hochstift 1890 die „Frankfurter Arbeitsbudgets“, die drei ausgewählte Frankfurter Arbeiterhaushalte als idealtypische Beispiele qualitativ untersuchten.107 Zusammen mit dem von Wilhelm Merton gegründeten „Institut für Gemeinwohl“ führte das Hochstift 1897 eine Erhebung über die soziale Lage der Arbeiter im Schneiderund Schuhmachergewerbe durch.108 Der jüdische Unternehmer und Gründer der Metallgesellschaft, Wilhelm Merton (1848–1916), entfaltete ein vielfältiges sozialpolitisches Engagement. Dafür gründete er Anfang der 1890er Jahre das „Institut für Gemeinwohl“. Zweck des Instituts war es, die jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Zustände zu untersuchen, was zur Lösung der dabei sich ergebenden Probleme von öffentlicher und privater Seite geschieht und geschehen kann, festzustellen, und die Ergebnisse seiner Untersuchungen weiteren Kreisen zugänglich zu machen.109
Merton verfolgte daneben das Ziel, durch Zusammenschlüsse bestehender Einrichtungen, Vereine und Stiftungen eine zentrale kommunale Sozialfürsorge zu errichten. Die dafür notwendigen statistischen Erhebungen und Materialsammlungen, um zu einer Bestandsaufnahme der sozialen Verhältnisse zu gelangen, ergänzten sich mit den Bestrebungen der Sektion für Volkswirtschaft und boten damit eine gute Basis für eine Zusammenarbeit. Hier konnten Theoretiker und Praktiker in einen ungezwungenen Austausch über die Notwendigkeiten und Grundlagen bürgerlicher Sozialpolitik treten. In den 1890er Jahren geriet das Problem der Arbeitslosigkeit verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit.110 Durch die Wirtschaftskrisen von 1873–79 und 1882– 86 entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass die Arbeitslosigkeit ein im Wirtschaftssystem begründetes gesellschaftliches Phänomen sei, dass damit auch kein selbst verschuldetes Schicksal mehr war, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellte.111 Das hatte wiederum zur Folge, dass man in den
106 Ber. FDH 1886, S. 307. 107 Vgl. Freies Deutsches Hochstift (Hg.), Frankfurter Arbeitsbudgets. Haushaltsrechnungen eines Arbeiters einer Königlichen Eisenbahnwerkstätte, eines Arbeiters einer chemischen Fabrik und eines Aushilfsarbeiters. Frankfurt am Main 1890. 108 Freies Deutsches Hochstift (Hg.), Zur Lage der Arbeiter im Schneider= und Schuhmachergewerbe in Frankfurt a. M. 1897. 109 Zit. nach Hans Achinger, Wilhelm Merton in seiner Zeit, S. 122. 110 Vgl. Anselm Faust, Der Staat und die Arbeitslosigkeit in Deutschland 1890–1918. ders., Arbeitsmarktpolitik im deutschen Kaiserreich. Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitslosenunterstützung 1890–1918. 111 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 552 f. u. S. 570 f.; Anselm Faust, Der Staat und die Arbeitslosigkeit in Deutschland 1890–1918, S. 160.
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Kreisen der bürgerlichen Sozialpolitiker, das Problem als einen Teil der Ökonomie betrachtend, an eine mögliche technische Regulierbarkeit glaubte.112 Von den drei Elementen der öffentlichen Arbeitslosenpolitik, der Arbeitsvermittlung, der Arbeitsbeschaffung und der Arbeitslosenversicherung, stieß das erste Element auf allgemeine Zustimmung. Dennoch stellten gerade die politischen Implikationen, die sich mit der möglichen Regulierung des Arbeitsmarktes verbanden, ein entscheidendes Hindernis für umfassende Lösungsansätze dar. Neben den unterschiedlichen Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer hielten sich die Bundesstaaten und das Reich, mit Ausnahme der Arbeitsvermittlung, zurück. So waren es wiederum die Kommunen, die ohnehin die Armenfürsorge leisteten und die nun verstärkt nach Lösungsansätzen suchten. Allein in Frankfurt existierten zu dieser Zeit 12 Innungen, 26 Gewerkschaften, 7 Vereine und zahlreiche private Stellenvermittlungen.113 Um überhaupt einen Überblick über den Arbeitsmarkt zu gewinnen, hatte sich im September 1883 das Gewerkschaftskartell an die städtischen Behörden mit dem Wunsch gewandt, ein Arbeitsamt zu schaffen.114 Im Oktober 1893 luden das Hochstift und die Sektion für Volkswirtschaft zu einem „Sozialen Kongress“ nach Frankfurt ein, der sich der „Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie= und Handelsstädten“ widmete.115 Neben dem Hochstift beteiligten sich an der Organisation das „Institut für Gemeinwohl“, der „Kaufmännische Verein“, in dessen Saal die Tagung am 8. und 9. Oktober stattfand, und Vertreter des städtischen Gewerkschaftskartells. Auf dem Kongress mit seinen 200 Teilnehmern trafen bürgerliche Sozialreformer, Gewerkschaftler, Akademiker, Kaufleute, Kommunalpolitiker und Vereinsvorstände aufeinander. In der Berichterstattung über den Kongress präsentiert sich das Selbstverständnis der Sektion für Volkswirtschaft, neben der Aufgabe der Weiterbildung „selbst an der Förderung der Sozial=Wissenschaften teilzunehmen“.116 Man begründete dies mit der Notwendigkeit, die Wissenschaft der Nationalökonomie durch die „Erfahrungen des wirtschaftlichen Lebens“ und der „verschiedenen Berufsstände“ zu erweitern: Es entspricht nur dieser Thatsache, wenn auch wir bestrebt sind, dem hiesigen volkswirtschaftlichen Studium von außen Anregungen zuzuführen, wie sie die anderen Wissenschaften in diesem Maße vielleicht nicht bedürfen.117
Gleichzeitig betonte man, die Verhandlungen „völlig unabhängig von bestehenden wissenschaftlichen Richtungen sowie wirtschaftlichen oder politischen Par112 113 114 115
Ebenda. Hans Kilian Weitensteiner, Karl Flesch, S. 186. Karl Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 323. Vgl. Freies Deutsches Hochstift (Hg.), Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie= und Handelsstädten. Bericht über den am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt am Main veranstalteten sozialen Kongreß, Berlin 1894; Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 83–88; Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 161 ff. 116 Ber FDH 1894, S. 101. 117 Ebenda, S. 104.
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teien“ zu führen.118 Staatliche und politische Unabhängigkeit und ein freier wissenschaftlicher Austausch, denen sich das Hochstift in seinen Satzungen verpflichtete, sollten den Kongress bestimmen. Inwieweit diese Ansprüche erfüllt wurden, wird noch zu erörtern sein, aber ihre Repräsentation durch das Hochstift ermöglichte den Austausch der unterschiedlichen Standpunkte im Rahmen desorganisierten Treffens. Dass nicht nur die wissenschaftliche Förderung, sondern zugleich der Wille zur wissenschaftlichen Objektivität im Hochstift unbedingt gewahrt werden sollten, darauf verwies der Vorsitzende des AGA Veit Valentin in seiner Begrüßungsrede. Er beschrieb kurz die Struktur und Aufgaben der Fachabteilungen und stellte deren Arbeitsprinzip, alle geistigen Strömungen zu beachten und „keine einzelne Richtung, die der Ausdruck einer Einzelströmung im geistigen Leben unseres Volkes wäre“, zu bevorzugen, in den Mittelpunkt.119 Er empfahl das Hochstift damit als das ideale Forum für die allgemeinen Sachfragen, denn sobald es [sich] um praktisches Eingreifen in die Bewegung der Gesellschaft handelt, tritt das der Pflege der Wissenschaft gewidmete Hochstift bescheiden zurück und überlässt solche praktische Thätigkeit den zu ihrer Ausführung berufenen Organen des sozialen Lebens.120
Die Argumentation Valentins nahm schließlich Karl Flesch in seiner Begrüßungsrede noch einmal auf, indem er die staatliche, politische und wissenschaftliche Unabhängigkeit des Hochstifts als geeignete Grundlage für die Diskussionen hervorhob. In seiner Ansprache setzte sich Flesch noch einmal mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis des Hochstifts auseinander. Dabei konstatierte er, dass viele Mitglieder der Sektion keine eigentlichen Wissenschaftler seien, denen es vergönnt sei, „beruflich an den Fortschritten der Wissenschaft teilzunehmen“.121 Dennoch seien sie, wie auch die anderen eingeladenen Nichtwissenschaftler, zur Teilnahme berechtigt, da die sozialen und volkswirtschaftlichen Fragen nicht nur theoretisch zu behandeln seien oder den staatlichen Institutionen überlassen werden dürften, sondern Männern mit praktischen Erfahrungen aus allen wirtschaftlichen Bereichen. Flesch beschrieb das Hochstift als eine Vermittlungsstelle, die Wissenschaft und staatliche Sozialpolitik verbinden sollte. Eröffnet wurde der Kongress durch das Referat von Ferdinand Tönnies: „Der moderne Arbeitsvertrag und die Arbeitslosigkeit“. Mit Tönnies, der durch sein 1887 erschienenes Werk „Gesellschaft und Gemeinschaft“ als Begründer der Soziologie in Deutschland gilt, hatte das Hochstift einen prominenten Vertreter der Wissenschaft gewinnen können. Er vertrat in seinen Werken eine „kulturkritische Lesart von Marx` Werk“ und sympathisierte mit den sozialistischen Ideen.122
118 119 120 121 122
Ebenda, S. 107. Freies Deutsches Hochstift (Hg.), Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 7. Ebenda. Ebenda, S. 8. Rita Aldenhoff, Kapitalismusanalyse und Kulturkritik. Bürgerliche Nationalökonomen entdecken Karl Marx, in: Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Kaiserreich, S. 85.
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Carl Kloß, Mitglied des Stuttgarter Bürgerausschusses und Vorsitzender des Deutschen Tischlerverbands, sprach über „Arbeitslosigkeit im allgemeinen und Notstandsarbeiten“ und E. Hirschber vom Städtischen Statistischen Amt in Berlin über „Erhebungen über Arbeitslosigkeit“. Im Anschluss an die Referate fanden Diskussionen aller Teilnehmer statt. Dem Anhang des Berichts wurden auch die Anträge über die Einrichtung von Arbeitsämtern in Stuttgart und Mainz sowie ein „Entwurf eines Regulativs für die städtische Arbeitsvermittlungsstelle“ in Frankfurt am Main beigefügt. In den Diskussionen über die Arbeitsvermittlungen wurden trotz der allgemeinen Überzeugung in Bezug auf die Dringlichkeit des Problems unterschiedliche Standpunkte sichtbar, die über die organisatorischen Fragen hinausgingen. Das Problem der Arbeitslosigkeit war ja nicht nur in den Fokus der Öffentlichkeit und entsprechender Fachkreise getreten, weil es um die Linderung der sozialen Missstände ging. Die Arbeitslosigkeit und die sich daraus entwickelnde Armut und Unzufriedenheit bargen eine politische Sprengkraft und bedrohten das soziale Gefüge. Gerade die Sozialdemokraten führten sie als Beleg an, um eine Änderung der Produktionsverhältnisse zu begründen, und es gelang ihnen zunehmend, größere Wählerschichten zu mobilisieren. Ihre Vertreter trugen diese Vorstellungen auf dem Kongress des Hochstifts vor, wenn auch zum Missfallen von Flesch und der Mitglieder der Sektion für Volkswirtschaft.123 Umstritten war auch die Frage, wie die Arbeitsvermittlungsstelle organisiert werden sollte. Plädierten Männer, wie Flesch, für eine Anbindung an die Gewerbegerichte und eine paritätische Besetzung mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer124, so verlangten einige Gewerkschafter eine alleinige Verwaltung durch die Arbeiter. Diese syndikalistischen Vorstellungen einzelner Gewerkschaftsvertreter sollten noch später eine einheitliche Regelung in Frankfurt verhindern. Dennoch waren trotz der Unterschiede Gewerkschaftsvertreter, wie Carl Legien, zu bestimmten Formen der Zusammenarbeit mit den kommunalen Behörden bereit. Dafür musste er sich scharfe Kritik von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gefallen lassen, die eine Kooperation der Gewerkschaften und der Arbeiter mit den bürgerlichen Sozialreformern als einen Verrat an den sozialistischen Idealen betrachteten. So äußerte Bebel im Herbst 1893 auf einem Parteitag: Legiens Canossagang nach dem Frankfurter Sozialen Kongress sei eine sozialdemokratische Wadenstrümpferei, sie führe zur Versumpfung der Partei, weshalb die Parteileitung die Augen offen halten müsse.125
In der Frankfurter Stadtverwaltung bewertete man den Kongress positiv. Deren Vertreter, der Vorsteher des Statistischen Amtes, Dr. Bleicher, berichtete Ober123 „Jene allgemeinen tiefen Ursachen der Not der arbeitenden Klassen wurden von Herrn Kloß vielleicht zu ausschließlich, und später nochmals von Herrn Legien scharf und epigrammatisch gekennzeichnet.“ Ber. FDH 1894, S. 113. 124 Hans Kilian Weitensteiner, Karl Flesch, S. 178. 125 Zit. nach ebenda, S. 183. Auch Max Quarck wurde dafür innerhalb der Frankfurter Sozialdemokratie kritisiert, vgl. Volker Eichler, Sozialistische Arbeiterbewegung in Frankfurt am Main 1878–1895, S. 369 ff.
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bürgermeister Adickes zwar, dass „das practische Ergebniß des Congresses in concreter Beziehung ein sehr bescheidenes gewesen sei“, da es eine endgültige Lösung noch nicht gebe.126 Aber ein positives Ergebnis des Kongresses sei das „Bedürfnis nach einer behördlichen Organisation des Arbeitsnachweises [...] von allen Seiten“. Bleicher regte an, ob gegenwärtig nicht der richtige Augenblick wäre, um sich zu vergewissern, ob die Arbeiterpartei geneigt ist, auf dem Boden der bestehenden Ordnung den unleugbar vorhandenen socialen Mißständen unter Mitwirkung der Behörden entgegenzutreten.127
Im „Sozialpolitischen Centralblatt“, das der Sozialdemokrat Heinrich Braun (1854–1927) herausgab, wurde zwar ebenfalls ein konkretes Resultat des Kongresses bemängelt, aber dennoch dessen Bedeutung gewürdigt. Dort seien verschiedene Vertreter zusammengekommen, um sich auszutauschen, und es wurde auch die offene Atmosphäre bei den „zwanglosen Gesprächen nach den öffentlichen Sitzungen“ hervorgehoben.128 Die Errichtung einer kommunalen Arbeitsvermittlungsstelle wurde 1894 in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung diskutiert. Durch eine Petition von Arbeitslosen an den Magistrat veranlasst, forderte der Degussa-Direktor und Stadtverordnete Heinrich Rössler die Einrichtung eines sozialpolitischen Ausschusses und die Stadtverwaltung und der Magistrat fassten den Beschluss, eine kommunale Arbeitsvermittlung einzurichten.129 Der Entwurf des Magistrats vom Januar sah vor, dass die Beisitzer des Gewerbegerichts die acht Mitglieder der Arbeitsvermittlungsstelle wählten, dabei sollten vier Vertreter von den Arbeitgebern und vier von den Arbeitern gestellt werden. Der Vorsitzende sollte eine vom Magistrat bestimmte Person sein, der die Vertretung der Arbeitsvermittlungsstelle ausübte, deren Unterhaltung durch die Stadt Frankfurt erfolgen sollte.130 Zwar entsprach die Besetzung der Vermittlungsstelle nicht den Vorstellungen der sozialdemokratischen Gewerkschaftler, aber dennoch gab es Anzeichen, dass das Frankfurter Gewerkschaftskartell zu einer Zusammenarbeit mit der Kommune bereit war. Dagegen musste der Magistratsentwurf sich nun der Einwände einzelner Arbeitgeber erwehren, da er vorsah, bei einem eventuellen Streik die Vermittlung für die entsprechenden Branchen auszusetzen. Auch die königliche Regierung monierte diese Bestimmung und trotz breiter Unterstützung durch die Stadtverordnetenversammlung und den Magistrat strich der Provinzialrat in Kassel zur allgemeinen Empörung in Frankfurt den Streikparagrafen.131 Mag auch das unbe-
126 Bericht Dr. Bleicher an Oberbürgermeister Adickes, 27.10.1893, Magistratsakten 1769 II, ISG Frankfurt a. Main. 127 Ebenda. 128 Ernst Lautenschlager, Der soziale Kongress in Frankfurt a. M., in: Sozialpolitisches Centralblatt, 3. Jg., Nr. 3, 16.10. 1893, S. 26 ff. 129 Karl Maly, Die Macht der Homoratioren, S. 323 ff. 130 Entwurf eines Regulativs für die städtische Arbeitsvermittlungsstelle, in: Freies Deutsches Hochstift (Hg.), Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 218 ff. 131 Hans Kilian Weitensteiner, Karl Flesch, S. 193 ff.
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dingte Beharren auf dieser Regelung durch die Gewerkschaften und den Magistrat überzogen gewesen sein, psychologisch belastete es die Stimmung.132 Trotz dieser Einschnitte nahm die städtische Arbeitsvermittlungsstelle am ersten Mai 1895 ihre Tätigkeit auf. Das Frankfurter Gewerkschaftskartell hatte unterdessen eine Kooperation als möglich erachtet und unternahm 1895 den Versuch der Zusammenarbeit, der allerdings ein Jahr später wieder aufgekündigt wurde.133 Im Juli 1896 legten die Vertreter der Arbeiter ihre Ämter nieder und Max Quarck wurde von führenden Sozialdemokraten für seine Unterstützung der kommunalen Sozialpolitik kritisiert. Bis zum Ersten Weltkrieg konnten sich Gewerkschaften und die Kommune auf keinen tragbaren Kompromiss für die Besetzung der Arbeitsvermittlungsstelle einigen. Die Gewerkschaften setzten ihre Hoffnungen auf eine staatliche Organisation, nachdem sie bereits seit 1903 mit der „Königlichen Gewerbeinspektion“ erfolgreich zusammenarbeitet hatten.134 Karl Kilian Weitensteiner macht vor allem die dogmatische Haltung der von den Sozialdemokraten beherrschten Gewerkschaften für das Scheitern verantwortlich, aber er verweist auch auf die belastenden Elemente im Verhältnis von Kommune, Arbeitern und Gewerkschaften. Gerade die Konflikte um die Besetzungsfrage der Vermittlungsstelle war nicht nur ein Zeichen für die kleinliche Obstruktionspolitik der sozialdemokratischen Gewerkschaften, sondern dahinter stand das allgemeine Problem der fehlenden Vertretungsansprüche der Arbeiter in der Kommunalpolitik. Ihre Erfahrungen einer willentlichen Ausgrenzung, gerade auch durch die Formen des Zensuswahlrechts135 und durch das Sozialistengesetz, verstärkten das Misstrauen gegenüber den Bemühungen der bürgerlichen Sozialpolitik.136 Erst seit 1901 hatte die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung mit Max Quarck den ersten sozialdemokratischen Abgeordneten. Dennoch gab es gerade auf der kommunalen Ebene Möglichkeiten und Formen der Kooperation, die gerade auch im Hinblick auf das Problem der Arbeitsvermittlung in süddeutschen Städten, wie Frankfurt und Stuttgart, Vorbildcharakter besaßen. Die Einführung des Gewerbegerichts in Frankfurt war eines der genannten Beispiele. In Bezug auf die Beförderung der sozialpolitischen Ideen übernahm das Hochstift eine wichtige Funktion, da es die sozialen Probleme thematisierte und einem größeren Publikum zugänglich machte. Den Grundkonflikt zwischen der bürgerlichen Sozialpolitik und den sozialdemokratischen Ideen konnte es allerdings nicht lösen. Einerseits verbot der Anspruch auf Neutralität jede Einmischung in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, andererseits wäre es falsch, von einer allgemeinen Offenheit gegenüber allen Lösungsvor132 133 134 135
Ebenda. Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 163. Ebenda, S. 170. Zwischen 1871 und 1914 waren nur 30 bis 50 % der Frankfurter Bürger, die das Reichstagswahlrecht besaßen, zu den Wahlen für die Stadtverordnetenversammlung berechtigt. Trotz vieler Vorschläge zu einer Wahlrechtsreform von Seiten der Linksliberalen wandte sich vor allem der Magistrat unter Oberbürgermeister Adickes prinzipiell gegen eine Änderung. Vgl. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 98–109. 136 Hans Kilian Weitensteiner, Karl Flesch, S. 217.
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schlägen auszugehen. Die führenden Vertreter der volkswirtschaftlichen Sektion waren Vertreter des Bürgertums, die gerade ihre Arbeit im Dienste der bestehenden gesellschaftlichen Produktions- und Wirtschaftsverhältnisse begriffen. Das machte auch Karl Flesch unmissverständlich deutlich, der zu den ambitioniertesten Reformern der Sektion gehörte. In einem Vortrag konstatierte beispielsweise der Lederfabrikant Jacob Hermann Epstein einen Grundkonflikt zwischen den Grundsätzen des Kommunismus und den menschlichen Freiheitsbedürfnissen.137 Den Mitgliedern der Sektion ging es um eine wissenschaftliche Lösung der „sozialen Frage“, die durch kommunalpolitische Maßnahmen umgesetzt werden sollte. Dabei setzte man auf die praktischen Erfahrungen, die Männer, wie Flesch oder Adickes, in den Verwaltungsapparaten gesammelt hatten. Diskussionen wurden allerdings bei der Frage geführt, wie weit man der Arbeiterschaft, den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie entgegenkommen sollte. Waren die Schritte des „Munizipalsozialismus“ dafür gedacht, um die Konflikte zu entschärfen und den Status quo beizubehalten, wie es Adickes bevorzugte, oder sollten die Maßnahmen zu einer größeren Integration der Arbeiter führen, etwa durch eine Reform des Wahlrechts, wie es Flesch für möglich hielt? Diese Fragen konnten und wollten die Mitglieder innerhalb der Sektion für Volkswirtschaft nicht diskutieren. Dabei reklamierte man eine Objektivität, die sich aus der wissenschaftlichen Methode ergeben sollte. Zwar nahm man die sozialen Probleme der Arbeiter ernst, da „wo sie der manchesterliche Schuh drücke“, die sie aber durch „Anführung von meist missverstandenen Thatsachen“ darlegen.138 Nur die Wissenschaft sei in der Lage, „an der Hand einer zuverlässigen Beobachtung zu unparteiischen Einsicht in das Walten jener Mächte zu gelangen“ und in ihren bedächtig gewonnenen Ergebnissen liegt das Heute wie das Morgen eingebettet, und je genauer detailliert das Wirtschaftsleben vor der Wissenschaft Auge liegt, desto bestimmter vermag sie der Zukunft die Wege zu weisen.139
Für die betroffenen Volksschichten wäre mithilfe der Erkenntnisse ein „Erziehungsversuch“ zu unternehmen, um ihre Selbsterkenntnis zu stärken und sie vor politischem Missbrauch zu bewahren, der unausgesprochen die sozialistischen Ideen meinte, denn nicht im Wege der Revolution soll die soziale Frage, dem einen eine Furiengestalt, dem andern die Panazee, gelöst werden, sondern im Wege friedlicher Reform, sachlich gemeinsamen Handelns.140
Dennoch erfuhr auch die volkswirtschaftliche Sektion Kritik. In einer Sitzung des AGA nahm man dazu im November 1895 Stellung. Man bekräftigte noch einmal, „daß das Hochstift unter allen Umständen seinen rein wissenschaftlichen, neutralen Charakter zu wahren habe“, und stellte fest, ein 137 138 139 140
Ber. FDH 1887, S. 299. Oscar Priester, Über Arbeitsämter, in: Ber. FDH 1898, S. 88–123, S. 90. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 121 ff.
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IV. Die Tätigkeiten des Hochstifts bis zum Ersten Weltkrieg Eingreifen des Hochstifts in die sozialen Tagesfragen, das leicht den Anschein einer bestimmten Parteirichtung erwecken könne, müssen daher vermieden werden.141
Ferner wurde beschlossen, der Name des Hochstifts dürfe in keiner Weise mit einer bestimmten politischen oder sozialen Partei in Zusammenhang erscheinen.142
Diese Angriffe zielten auf Karl Flesch, der laut Protokoll noch vor der Abstimmung die Sitzung verlassen hatte. Allerdings wies man das Ansinnen einiger Mitglieder zurück, diese Stellungnahme in den Berichten zu veröffentlichen. Die Zuspitzung der parteipolitischen Konflikte führte auch aufseiten der Sozialdemokraten und Gewerkschaften zu vermehrter Kritik an den eigenen Mitgliedern, die sich zur Zusammenarbeit mit den bürgerlichen und kommunalen Vertretern bereit erklärt hatten. Besonders Max Quarck wurde vom radikalen Flügel der Sozialdemokraten attackiert, der ihm vorwarf, die sozialdemokratischen Ideale zu verraten. Quarck, der eine „Vermittlerrolle zwischen kommunalen Sozialliberalismus und gewerkschaftlichem Staatssozialismus“143 einnahm und durch seine bürgerliche Herkunft geprägt war, hatte bereits für Sonnemanns „Frankfurter Zeitung“ gearbeitet und war 1894 dem sozialdemokratischen Verein beigetreten. Franz Mehring kritisierte Quarck, weil dieser „eine zu große Vertrauensseligkeit zeigte und sich mehr von der offiziellen ,Sozialreform‘ versprach, als sie halten konnte oder wollte“.144 Mehring sprach mit Blick auf die Einrichtung einer kommunalen Arbeitsvermittlungsstelle in Frankfurt von einer „Arbeiterschutzheuchelei der bürgerlichen Parteien“.145 Die Polemik Mehrings, aber auch die Kritik an Legiens Teilnahme am Kongress des Hochstifts gingen zunächst von der Parteiführung aus, die den Kooperationen auf kommunaler Ebene mit ideologischer Radikalität begegnete. Dadurch wurden erste Formen der Zusammenarbeit, wie etwa die der Gewerbegerichte, wieder infrage gestellt.146 In der volkswirtschaftlichen Sektion des Hochstifts waren diese Differenzen lange Zeit überbrückbar gewesen und der persönliche Umgang eröffnete Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Neben Max Quarck beteiligten sich auch andere Sozialdemokraten, wie der Chemiker Ludwig Opificius (1849–1910), der 1869 zu den Mitbegründern der SDAP gehört hatte. Opificius trat 1887 als stimmberechtigtes Mitglied in die Sektion für Volkswirtschaft ein. Zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und Gewerkschaften kam es auch durch die Unterstützung der „Frankfurter Volksvorlesungen“ durch das Hochstift, wie später noch zu berichten sein wird. Neben den Versuchen bürgerlicher Sozialreformer, wie Flesch, durch wissenschaftliche Untersuchungen und kommunales Handeln die soziale 141 Prot. AGA, 1.11.1895. 142 Ebenda. 143 Vgl. Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 99; Volker Eichler, Sozialistische Arbeiterbewegung, S. 361–388. 144 Zit. nach Rainer Stübling, Die Sozialdemokratie in Frankfurt am Main von 1891–1910, S. 24. 145 Ebenda. Stübling schließt sich dieser Ansicht insofern an, weil für ihn „Max Quarck der Kraftentfaltung der Arbeiterbewegung im Wege stand“, ebenda, S. 44. 146 Ebenda, S. 45 ff.
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Lage zu verbessern, war die Bildung das zweite große Gebiet, mit dem eine Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft erreicht werden sollte.147 Auch führende Vertreter der christlichen Gewerkschaften nutzten die Sektion für Volkswirtschaft und das Hochstift. So ließ sich 1894 Friedrich Naumann in die Sektion für Volkswirtschaft (mit Stimmrecht) und die Fachabteilung für Deutsche Sprache und Literatur aufnehmen.148 Naumann war seit 1890 Vereinsgeistlicher des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Frankfurt und seit 1893 auch im geschäftsführenden Vorstand des Gesamtverbands Evangelischer Arbeitervereine.149 Naumanns Bemühen, die sozialen Probleme durch nationale und soziale Elemente im Rahmen des monarchischen Systems zu lösen, brachte ihn auch in Kontakt zu Karl Flesch, Leopold Sonnemann und dem Demokratischen Verein. Dabei spielte neben der Stärkung des christlichen Glaubens die Verbreitung der Bildung zur „sittlichen und intellektuellen Hebung“ der Arbeiter eine wichtige Rolle. Dazu hielt Naumann Reden, Vorträge und Predigten. Nachweisbar hielt Naumann am 25. Februar 1895 in der Sektion für Volkswirtschaft einen Vortrag über die „Beziehungen zwischen Religion und Volkswirtschaft“. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten gab Naumann aber sein Frankfurter Pfarramt und die Tätigkeit im Evangelischen Verein auf und siedelte 1897 nach Berlin über. Ein anderer herausragender wissenschaftlicher Vertreter, der im Hochstift über wirtschaftliche und soziale Themen Vorträge hielt, war Max Weber. Weber vereinte in seinem Werk umfangreiche sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Untersuchungen.150 1896 übernahm er den Lehrstuhl für Nationalökonomie in Heidelberg und war Mitglied des von Friedrich Naumann gegründeten Nationalsozialen Vereins und seit 1888 Mitglied des Vereins für Sozialpolitik. Im Hochstift hielt Weber im Winter 1895/96 einen Vortragszyklus über „Agrarpolitik“ und im Winter 1897/98 über „Börsenwesen und Börsenrecht“. Friedrich Naumann besprach in seiner Zeitschrift „Die Hilfe“ Webers Vorträge.151 Weber orientierte sich in seinen Auffassungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik stark an den nationalen Interessen, wie er es bereits in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1895 skizziert hatte, und dieser Fokus auf den nationalen Machtstaat führte zu der Annäherung an Friedrich Naumann, der ebenfalls die Bedeutung des Staates für die Sozialpolitik betonte. Die ökonomischen Entwicklungsprozesse und damit 147 Vgl. Karl Flesch, Die Bildungsfrage als soziale Frage (1908), in: Hans Maier, Karl Flesch´s soziales Vermächtnis, S. 154–172. 148 Ber. FDH 1895, S. 87, Naumanns Mitgliedsakte ist nicht erhalten. 149 Vgl. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 73–81; Rüdiger vom Bruch, Friedrich Naumann in seiner Zeit; Inho Na, Sozialreform oder Revolution, Gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellungen im Naumann-Kreis 1890–1903/04; Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann. 150 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber, Ein politischer Intellektueller im deutschen Kaiserreich, in: Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, S. 33–61. 151 Friedrich Naumann, Wochenschau, Die Hilfe, Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Nr. 10, 8.3.1896. S. 1 f.
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auch die sozialen Herausforderungen galten ihm als Teilaspekte der staatlichen Machtpolitik, die dafür zu sorgen hatte, „das Maß des Ellenbogenraums“ zu vergrößern.152 In diesem Sinne beschrieb er das Ziel: Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.153
Für Weber war nicht die „ökonomische Lage der Beherrschten“, sondern vielmehr die „politische Qualifikation der herrschenden und aufsteigenden Klassen“ der letzte Inhalt des sozialpolitischen Problems. Er übte deshalb nicht nur Kritik an den Sozialdemokraten, sondern auch am Bürgertum. Bevor aber eine „Arbeiteraristokratie“ die Aufgaben erfüllen könne, denen das Bürgertum noch nicht gewachsen sei, müsse es sich vom Marxschen Dogma befreien. Solange gab es auch für Weber nur eine Wahl, nämlich die bürgerliche Klasse zu unterstützen, die sich gegen den Widerstand der agrarisch-feudalen Klasse und der sozialdemokratisch beeinflussten Arbeiterschaft zu behaupten habe.154 Anschließend engagierte die Sektion für Volkswirtschaft mit Werner Sombart einen der umstrittensten „Kathedersozialisten“. Sombart hielt im Winter 1898/99 einen Vortragszyklus über „Gewerbepolitik“.155 Sombart hatte bei Gustav Schmoller promoviert und seit 1890 durch die Förderung Friedrich Althoffs eine Professur in Breslau inne. Berufungen an andere Universitäten scheiterten an Widerständen wegen Sombarts „sozialistischer Gesinnung“. Zu diesen Vorwürfen trug Sombarts Werk „Sozialismus und soziale Bewegung“ (1896) bei, das auf einer Reihe von Vorträgen beruhte, die er in Zürich gehalten hatte, und das von der „Schweizerischen Gesellschaft für ethische Kultur“ herausgegeben worden war, in der unter anderem auch Ferdinand Tönnies mitarbeitete.156 Mit diesen Vorträgen warb Sombart um Verständnis für marxistische Ideen im Bürgertum und plädierte für eine Weiterentwicklung der Marxschen Lehre in Bezug auf einen „sozialpolitischen Realismus“.157 Sombart beharrte aber auf einem wissenschaftlichen Standpunkt und verweigerte sich den Aufforderungen, auch der von Ferdinand Tönnies 1893, den Sozialdemokraten beizutreten bzw. sich politisch zu engagieren.158 Mit Max und Alfred Weber gehörte er zum linken Flügel des Vereins für Socialpolitik, dessen Vorstand er seit 1892 angehörte. Es ist bemerkenswert, dass der AGA und die Sektion für Volkswirtschaft mit Max Weber und Werner Sombart herausragende junge Vertreter der akademischen Wissenschaft für Vorträge gewinnen konnten. Hier zeigt sich eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen und Auffassungen, für die das Hochstift und 152 Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede, S. 53. 153 Ebenda. 154 Max Weber, Zur Gründung einer national-sozialen Partei, S. 66. 155 Ber. FDH 1900, S. 24. Im Juni 1898 nahm man mit Werner Sombart Kontakt auf, vgl. Prot. VA, 24.6.1898. 156 Bernhard vom Brocke (Hg.), Sombarts „Moderner Kapitalismus“, S. 20 ff. 157 Ebenda, S. 21; vgl. Rita Aldenhoff, Kapitalismusanalyse und Kulturkritik, S. 89–91. 158 Bernhard vom Brocke (Hg.), Sombarts „Moderner Kapitalismus“, S. 25.
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die liberale Atmosphäre in Frankfurt empfänglich waren. Büchners Forderung, das Hochstift solle auch als Akademie weiterhin die Freiheit der Wissenschaft garantieren, hat sich in diesem Fall durchgesetzt. Sozialpolitiker, bürgerliches Publikum und die junge Generation der Nationalökonomen fanden zusammen. Diese Aufgeschlossenheit spiegelt sich in den Einzelvorträgen der Sektionsmitglieder wider. Trotz aller Kritik an den marxistischen oder sozialistischen Modellen wurden deren Bedeutung und die Notwendigkeit ihres Problemhorizonts nicht verschwiegen. So würdigte der jüdische Lederfabrikant Jacob Hermann Epstein trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Mehrwerttheorie Marx als „größte[n] Nationalökonom unseres Jahrhunderts“.159 Die Sektion für Volkswirtschaft bemühte sich auch über das Hochstift hinaus die Mittel für „ihre“ Wissenschaft in Frankfurt zu vergrößern. Im März 1893 stellte sie einen Antrag an den AGA, dieser möge beim Magistrat eine größere Berücksichtigung volkswirtschaftlicher Schriften bei der Vermehrung der Stadtbibliothek u. die Bewilligung größerer Mittel zu diesem Zwecke befürworten.160
Der AGA wies das allerdings zurück und erinnerte an die Sammlungen der Polytechnischen Gesellschaft. Auch in den Diskussionen über die Lehrpläne und die Fachabteilungen verfolgte Karl Flesch eine eindeutige Position zugunsten volkswirtschaftlicher Themen. Schon 1885 forderte er erfolglos einen Zyklus über die neuesten Forschungen und Ergebnisse auf dem Gebiet der Abteilung161 und geriet darüber mit dem AGA und Ludwig Büchner in Konflikt, weil Flesch die Einrichtung einer Abteilung für allgemeine Naturwissenschaften ablehnte, mit dem Hinweis, dafür ständen genügend andere Vereine in Frankfurt zur Verfügung162. Auch die gleichmäßige Verteilung der Vorträge auf die einzelnen Fachabteilungen, die man 1885 mit Rücksicht auf alle Abteilungen vornahm, wollte Flesch nicht als Präzedenzfall akzeptieren.163 Zu Konflikten führte auch das eigenmächtige Verhalten der Sektion, die z. B. einen Vertrag über den Druck des Berichts des Kongresses über Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung mit dem Verlag Liebmann abschloss, ohne die Genehmigung des AGA einzuholen.164 Dass Flesch vor allem eine wissenschaftliche Ausrichtung des Hochstifts am Herzen lag, verdeutlicht auch seine ablehnende Haltung gegenüber dem geplanten Bibliotheksbau, aus dem dann schließlich das Goethemuseum erwuchs. Er kritisierte den Neubau und enthielt sich demonstrativ der Abstimmung.165
159 Jacob Heinrich Epstein, Das Marx=Engels´sche Problem der Profitrate, in: Ber. FDH 1896, S. 122. 160 Prot. AGA, 3.3.1893. 161 Prot. AGA, 8.4.1885. 162 Prot. AGA, 19.7.1885. 163 Prot. AGA, 13.10.1885. 164 Prot. VA, 17.11.1893. 165 Prot. VA, 3.5.1893.
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Der Plan, weitere Kongresse zu volkswirtschaftlichen Fragen zu veranstalten, wurde nicht ausgeführt, aber die Sektion war 1908 maßgeblich an dem Zustandekommen der Frankfurter Heimarbeitsausstellung beteiligt. Vorbild war eine gleichnamige Ausstellung in Berlin 1906, die auf eine große öffentliche Resonanz gestoßen war. Mitglieder der Freisinnigen Fraktion in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung und Vertreter der Gewerkschaften schlugen deshalb die Veranstaltung einer ähnlichen Ausstellung in Frankfurt vor und die Sektion für Volkswirtschaft im Hochstift befürwortete diese Idee.166 Der Frankfurter Magistrat lehnte die Organisation zwar ab, sagte aber finanzielle Unterstützung zu. Daraufhin bildete sich ein „Vorbereitender Ausschuss“, in dem Vertreter des Statistischen Amtes, der Handelsakademie, des Instituts für Gemeinwohl und Vertreter der Arbeiterschaft saßen. Viele Teilnehmer waren Mitglieder des Hochstifts, wie der Vorsitzende Jacob H. Eppstein, Karl Flesch und Ludwig Opificius. Auch im Hauptausschuss waren mit dem Bankier Charles L. Hallgarten, Fritz Rössler von der Degussa und Prof. Dr. Ludwig Pohle von der Akademie der Sozial- und Handelswissenschaften Mitglieder der Sektion für Volkswirtschaft beteiligt. Ziel der Ausstellung war eine umfassende Darstellung der Heimarbeit und der Hausindustrie im Rhein-Main-Gebiet, die dafür umfangreiches statistisches Datenmaterial sammelte. Städtische Vertreter, Arbeitgeber, Mitglieder sozialer Vereine, Akademiker, Sozialpolitiker, Gewerkschafter und Sozialdemokraten beteiligten sich an den Arbeiten der Fachausschüsse. Damit sollte eine „fruchtbare sozialpolitische Kooperation“167 demonstriert werden, um die bürgerliche Sozialpolitik und die Arbeiterschaft wieder einander näherzubringen. Über 60.000 Personen besuchten die Ausstellung, die im April 1908 eröffnet wurde. Die Sozialdemokraten und einige Gewerkschaftsvertreter übten allerdings Kritik an den Ergebnissen der Ausstellung, da sie den Arbeitgebern falsche Angaben bei den Daten zu Lohn- und Arbeitsverhältnissen vorwarfen. 168 Der Versuch eines Ausgleichs zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und bürgerlicher Sozialpolitik, den die Heimarbeitsausstellung angestrebt hatte, war damit gescheitert. Dabei zeigten sich wiederholt die Gegensätze zwischen der Arbeiterschaft und den bürgerlichen Sozialreformern, die sich schon lange in der Gründung eigener Organisationsformen der Arbeiterbewegung ausgedrückt hatten.169 Das Klima zwischen den Gewerkschaften und den bürgerlichen Sozialreformern hatte sich seit Ende der 1890er Jahre abgekühlt. Die Auseinandersetzungen über die Arbeitsvermittlungsstelle sind dafür ein Beispiel. Dabei warfen die Sozialdemokraten den bürgerlichen Parteien nicht zu Unrecht vor, trotz aller reformerischer Bekundungen Änderungen, etwa den Wahlzensus betreffend, zu verhin166 167 168 169
Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik, S. 178. Ebenda. Ebenda, S. 181. Ralf Roth, Das Vereinswesen in Frankfurt am Main, S. 206 ff.; in der Vereinsbildung begannen die Differenzierungsprozesse schon in den Jahren um 1860/70, vgl. Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der „bürgerliche Verein“ 1820–1870. Deutschland und England im Vergleich, S. 212. Vgl. Jürgen Kocka, Arbeiterbewegung in der Bürgergesellschaft. Überlegungen zum deutschen Fall, S. 490.
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dern. Es mag wohl diese angespannte Situation mit dabei beigetragen zu haben, dass die Sektion für Volkswirtschaft von größeren Kongressen absah, um nicht in die öffentlichen bzw. politischen Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Dennoch stellte die Sektion ein Bindeglied dar, das verschiedene Akteure verband und auch gemäßigte Vertreter der Sozialdemokratie einbezog. Schon Leopold Sonnemann sprach sich 1878 im Reichstag offen gegen das „Sozialistengesetz“ aus und der „Demokratische Verein“ und die „Frankfurter Zeitung“ erregten das Misstrauen Bismarcks und der preußischen Behörden.170 Erst mit der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der stärkeren organisatorischen Formierung der Sozialdemokraten in Frankfurt, die seit 1884 das Reichstagsmandat besaßen, fühlten sich die bürgerlich-liberalen Parteien in ihrem Führungsanspruch in Frankfurt bedroht.171 Hatte man zunächst mit sozialpolitischen Reformen, die in den bürgerlichen Vereinen, gemeinnützigen Instituten und in der kommunalen Verwaltung diskutiert und teilweise umgesetzt worden waren, versucht, die Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft einzubinden, so traten Ende des 19. Jahrhunderts die Konflikte zwischen bürgerlichen Reformern und organisierter Arbeiterschaft stärker in den Vordergrund. Die Einrichtung der Sektion für Volkswirtschaft fiel also in eine Phase, in der die Konflikte noch nicht in der Schärfe ausgebrochen waren. Obwohl Frankfurt nicht in dem Maße eine industrielle Entwicklung nahm wie andere Städte des Reiches, erkannten die Vertreter des Frankfurter Bürgertums früh die Herausforderungen der sozialen Fragen. Dazu trugen die Traditionen der kommunalen Selbstverwaltung und des bürgerlichen Prinzips einer auf das Gemeinwohl sich verpflichtenden Verantwortung bei, die einen ganz anderen Handlung- und Kooperationsrahmen boten.172 Durch die Mitgliedschaften in den städtischen Vereinen und dem Freien Deutschen Hochstift entwickelten sich personelle Netzwerke, bei denen die politische Einstellung kein Hindernis war. Erinnert sei etwa an Dr. Max Quarck, der trotz seines späteren Engagements für die Sozialdemokraten lange mit den bürgerlichen Reformern zusammenarbeitete und auch später entgegen der harschen Kritik seiner Parteiführung diese Verbindungen aufrechterhielt.173 Die Errichtung der Sektion für Volkswirtschaft 1885 war eine Antwort auf die dringenden Bedürfnisse aus den Frankfurter Kreisen, sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Fragen auf einem wissenschaftlichen Niveau auseinanderzusetzen. Das Hochstift stellte zuerst ein Forum für diesen Bereich zur Verfügung. Später setzten das Institut für Gemeinwohl und die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften diese Arbeit fort. Die Gestaltungsmöglichkeiten, die mit der neuen Satzung bereitstanden, öffneten das Hochstift für neue Themenfelder und damit 170 Bismarck warf Sonnemann, der im Reichstag die Sozialistengesetze scharf angegriffen hatte, vor, ein Agent der französischen Regierung zu sein, vgl. Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann, S. 68 f. 171 Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 88–94. 172 Hinzu kam die Tradition der kommunalen Armenpflege, die aber durch die gesellschaftliche Mobilität vor neue Herausforderungen gestellt wurde, vgl. Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, S. 26. 173 Ebenda, S. 91.
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gewann es zunächst eine Führungsrolle für die bereits bestehenden Vereine. So schloss sich z. B. der „Volkswirtschaftliche Verein“ 1888 der Sektion des Hochstifts an. Gerade die Frankfurter Mitglieder ergriffen diese Chance, um diese „bürgerliche Denkfabrik“ (Joachim Seng) zu bilden. Ihnen waren durch wissenschaftliche Ausbildung, durch kommunale Tätigkeiten oder gemeinnützige Aktivitäten die Dimensionen und Herausforderungen des Gebiets vertraut und gerade die Verbindung von Wissenschaft und Praxis sollte die Behandlung des Themengebiets befördern. Mit den Enqueten zu den Arbeiterbudgets und zum Schuhmachergewerbe sowie dem reichsweit beachteten Kongress zur Arbeitslosigkeit gelangen wichtige Projekte, hinter deren Erfolgen vor allem das Engagement und die Tatkraft einzelner Personen standen. Mit ihrer Arbeit leistete die Sektion einen Beitrag zu der Forderung nach freier wissenschaftlicher Arbeit. Neben den exponierten Vertretern der städtischen Sozialreformer, wie Flesch, Quarck oder Rössler, verbanden sich mit den Tätigkeiten der Sektion die Namen fortschrittlicher Vertreter der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, wie Tönnies, Weber oder Sombart. Schon der Ausgangsort, die Stadt Frankfurt, Hochburg liberaldemokratischer Politik und beispielhafte Kommune eines „Munizipalsozialismus“ in Deutschland, stellte eine nicht zu unterschätzende positive Rahmenbedingung dar, die durch die hochstiftseigenen Ideale des freien wissenschaftlichen Austausches sowie der politischen und konfessionellen Neutralität noch ergänzt wurde. Die Sektion für Volkswirtschaft war allerdings nur ein Teil der schließlich sieben Fachabteilungen und die Mittel, die der AGA für jede Abteilung bereitstellen konnte, waren begrenzt. Dagegen wuchs das Bedürfnis in der Stadt nach weiteren Bildungsmöglichkeiten. Auf Initiative Wilhelm Mertons und mit der Unterstützung von Oberbürgermeister Adickes und Frankfurter Stiftungen wurde 1901 die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften gegründet. Insbesondere als Handelshochschule für die kaufmännische Ausbildung konzipiert, sollten aber auch volkswirtschaftliche und sozialpolitische Verwaltungsfächer unterrichtet werden.174 Als die Akademie eröffnet wurde, gab es Lehrstühle für Nationalökonomie und Soziologie, öffentliches, privates und Handelsrecht, Handelsgeografie, Handelswissenschaften und Neuere Sprachen. Im wissenschaftlichen Beirat saßen herausragende Vertreter der Wissenschaft, wie Lujo Brentano, Gustav Schmoller und Max Weber. Die Akademie wurde später zu einer institutionellen Keimzelle der Universitätsgründung. Mit dem Anspruch ihrer Ausstattung zog sie nun Mitglieder des Hochstifts an, wie Gottlieb Schnapper-Arndt, der einen Lehrstuhl an der Akademie erhielt. Während das Hochstift mit seiner Sektion „ihm lange Jahre hindurch in vielen Beziehungen die Zugehörigkeit zu einer Hochschule ersetzt“ hatte, erfüllte nun die Akademie seinen Wunsch, doch „noch in den Verband einer Hochschule eintreten und akademische Vorlesungen halten“ zu können. 175 Allerdings habe sich ihm „im Hochstift und speziell in der volkswirtschaftlichen Sektion“, die Gelegenheit
174 Hans Achinger, Wilhelm Merton, S. 210. 175 Jb. FDH 1904, S. 410.
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geboten, „mit Gleichgesinnten [zu] verkehren und über die Gegenstände, die ihn wissenschaftlich beschäftigten, sprechen zu können.“176 Die Sektion für Volkswirtschaft hielt auch in den Jahren bis 1914 regelmäßige Sitzungen ab (durchschnittlich vier bis fünf jährlich), in denen einzelne Mitglieder Vorträge über verschiedenste Themen des Fachs hielten. In der Sektion für Jurisprudenz, die zusammen mit der Sektion für Volkswirtschaft die Fachabteilung für Soziale Wissenschaften bildete, nahm man in den Fachvorträgen ebenfalls Bezug auf das Gebiet der Sozialpolitik. Unter juristischen Gesichtspunkten erörterte man unter anderem das Krankenversicherungsgesetz177 und das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung.178 Die Diskussionen in der Abteilung spiegelten die unterschiedlichen Standpunkte wider, die gleichzeitig die Kommunalpolitik prägten und in der Stadtverordnetenversammlung zum Vorschein kamen. Berthold Geiger, Jurist und Stadtverordneter der Fortschrittspartei, vertrat auch im Hochstift seine ablehnende Haltung gegenüber Berufs- und Schiedsgerichten, die durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer besetzt wurden und die er auch in der Stadtverordnetenversammlung bekämpfte, in der er die sozialpolitischen Ideen von Flesch und Rössler kritisierte.179 Eine besondere Rolle im Hochstift spielten die Lehrer und Pädagogen. Schon seit der Gründung engagierten sich viele Frankfurter Lehrer im Hochstift und gerade die neue Satzung von 1882 eröffnete den akademisch Gebildeten mit den Fachabteilungen eine Möglichkeit, mit ihren Fächern und deren wissenschaftlicher Entwicklung in Kontakt zu bleiben. Schon in den Anfangsjahren stand das Hochstift in Kontakt zum „Allgemeinen Frankfurter Lehrer-Verein“ und berichtete über dessen Sitzungen, viele seiner Mitglieder waren im Hochstift vertreten.180 Schon Otto Volger hatte sich immer wieder an die Lehrer unter den Mitgliedern gewandt, um sie zur Übernahme von Vorträgen und Lehrgängen zu bewegen.181 Albert Wittstock hatte 1864 vorgeschlagen, eine „Allgemeine Deutsche Lehrerbildungsanstalt“ im Goethehaus unterzubringen.182 1878 hatte das Hochstift eine Lehrmittelausstellung eröffnet, die in einem Saal des Thurn- und Taxischen
176 Ebenda. 177 Emil Benkard, Die Grundgedanken und einzelne Detailbestimmungen des Krankenversicherungsgesetzes, in: Ber. FDH 1888, S. 64–80. 178 Vgl. W. Waldschmidt, Das Reichsgesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889, in: Ber. FDH 1890, S. 196–215. 179 In einer Sitzung im Hochstift sprach sich Geiger für eine Übertragung an ordentliche Gerichte aus, weil er davon überzeugt war, dass die in „den sogenannten sozialpolitischen Gesetzen gebildeten Schiedsgerichte wenig wert seien, da deren beisitzende Richter im Grunde Parteienvertreter seien“. Ber. FDH 1890, S. 214. Zur Rolle Geigers in der Stadtverordnetenversammlung, vgl. Karl Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 323 ff.; Geigers Misstrauen gegenüber den Sozialdemokraten, das zu seiner Ablehnung der sozialpolitischen Maßnahmen beitrug, zeigt sich auch an seinen Beiträgen über die Wahlrechtsreform, vgl. Siegbert Wolf, Liberalismus, S. 100. 180 Ber. FDH 1864, S. 52 ff. 181 Prot. OS, 7.1.1872. 182 Prot. VS, 3.1.1865.
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Palais untergebracht war.183 Die Ausstellung sollte Lehrmittel aller Unterrichtsstufen versammeln und war Mitgliedern und Gästen frei zugänglich. Zu einer weiteren Kooperation mit der Lehrerversammlung kam es 1879, als der Verein seine Bibliothek im Goethehaus unterbrachte und das Hochstift seine fachspezifischen Bücher mit der Lehrerbibliothek zu einer pädagogischen Abteilung vereinte.184 Das Interesse an pädagogischen Fragen war in Volgers Amtszeit zugleich mit den Bemühungen des Hochstifts um die Verbreitung der deutschen Kultur im Ausland verknüpft worden. So rief das Hochstift in seinen Berichten zur Unterstützung der 1871 gegründeten „Gesellschaft zur Unterstützung der Deutschen Schulen in Wälschtirol“ auf. Das FDH sollte zur „Pflege Deutscher Sprache, Sitte und Bildung in allen von deutschen besiedelten Auslanden“ beitragen.185 Das Hochstift hatte sich also bereits vor seiner Neuausrichtung verstärkt um die Frankfurter Lehrerschaft und pädagogische Fragen bemüht und durch die Eingliederung der Bibliothek des Frankfurter Lehrervereins bestand zudem eine entsprechende Grundlage.186 Fortgeführt wurde dieses Engagement von der Sektion für Neuere Sprachen, die wichtige Vorarbeiten für die „Frankfurter Schulreform“ lieferte.187 Zu ihren Mitgliedern – 1887 waren es bereits fünfzig – gehörte Karl Reinhardt (1849– 1923), seit 1886 Direktor des städtischen Gymnasiums. Er trat für eine Umgestaltung des höheren Schulwesens ein und seine Vorschläge fanden Zuspruch im preußischen Kultusministerium, wo eine Reform des preußischen Unterrichtswesens vorbereitet wurde, und man ernannte daraufhin Reinhardt zum Vortragenden Rat (1904–1918). Reinhardt setzte sich für eine Stärkung der neuen Sprachen in der Oberschule ein, besonders des Französischen und Englischen. Mit dem Goethegymnasium (1897) wurde in Frankfurt eine Reformschule gegründet, die Reinhardt bis 1904 leitete.188 Für seine pädagogischen Ideen warb Reinhardt in der Fachabteilung des Hochstifts und seine Reformvorschläge erschienen in der Schriftenreihe des Hochstifts.189 Auch in diesem Fall kooperierte man mit der Stadt Frankfurt. Die Sektion für Neuere Sprachen organisierte 1887 den zweiten deutschen Philologentag in Frankfurt mit 230 Teilnehmern. Sie bildete einen Ortsausschuss und erhielt vom AGA eine Unterstützung von 500 Mark bewilligt.190 Neben einem Vertreter des 183 184 185 186 187
Prot. VS, 20.5.1878; Ber. FDH 1880, S. 26. Ber. FDH 1880, S. 237 ff. Ebenda, S. 14 Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 72. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 71–76; Reinhardt nahm dazu Ideen eines Altonaer Reformprogramms auf, die Franz Adickes mit nach Frankfurt brachte, vgl. Frank Tosch, Gymnasium und Systemdynamik. Regionaler Strukturwandel im höheren Schulwesen der preußischen Provinz Brandenburg 1890–1938, S. 83 f. 188 In seiner Schulreform plädierte Reinhardt für die Einrichtung eines Realgymnasiums mit sechs Jahren Latein und vier Jahren Englisch bzw. Französisch und für eine Oberrealschule ohne Latein, vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 75. Reinhardt wechselte 1904 ins preußische Kultusministerium und leitete von 1920 bis 1923 das Internat Schloss Salem. 189 Vgl. Karl Reinhardt, Die Umgestaltung des höheren Schulwesens, Frankfurt am Main 1892. 190 Ber. FDH 1888, S. 43.
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königlichen Provinzial-Schulkollegiums der Provinz Hessen-Nassau war auch Oberbürgermeister Miquel vertreten. Miquel und auch sein Nachfolger Adickes unterstützten Reinhards Ideen. In seiner Rede wies Miquel auf die Bedeutung der modernen Sprachen für eine Handels- und Industriestadt wie Frankfurt hin und äußerte zugleich die Auffassung, dass dadurch Deutschlands Rolle im Weltverkehr gefördert werde.191 Gegenüber den humanistischen Lehrplänen kritisierte er, es lasse sich nicht leugnen, dass bis in die neueste Zeit die Pflege der modernen Sprachen und auch des Deutschen zu kurz gekommen und daß die Laienwelt von dem Wunsche beseelt sei, es möchten denselben in unseren Schulen von jetzt ab ein größerer Raum zu Teil werden.192
Mit Reinhardts Wirken im Hochstift und der Verbreitung seiner Vorstellungen durch die Fachabteilung konnte eine größere Öffentlichkeit auf Reinhardts Anliegen aufmerksam gemacht werden und dass seine pädagogischen Ideen schließlich die preußische Verwaltung aufgriff, daran hatte zumindest die Unterstützung des Hochstifts ihren Anteil. Wesentliche Impulse für die Wissenschaften sind aus den anderen Fachabteilungen des Hochstifts nicht erwachsen. Die Bedeutung der volkswirtschaftlichen und pädagogischen Förderungen ergab sich durch die Aufnahme von Ideen und Strömungen, die bereits vor Ort existierten und ihren Widerhall in den Fachabteilungen des Hochstifts fanden, in denen sich die entsprechenden Persönlichkeiten zusammenfinden konnten. Für die sozialpolitischen Vorstellungen waren gerade die Verbindungen zwischen den theoretischen und praktischen Ansätzen entscheidend und dem Hochstift und seiner Sektion gelang zeitweise diese Verbindung durch die Zusammenführung von Praxis und Wissenschaft. Erst mit der Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften verlor das Hochstift seine führende Position und war nicht gewillt und fähig, der Akademie Konkurrenz zu machen. In Bezug auf die Bereiche der Naturwissenschaften blieben die wissenschaftlichen Ansprüche beschränkt. Von Anfang an war umstritten, ob das Hochstift überhaupt eine Abteilung für Naturwissenschaften einrichten sollte. Man fand den Kompromiss, nur eine Sektion für „Allgemeine Naturwissenschaft“ zu etablieren, zu der auch die Mathematik gehörte. Weitere Spezialisierungen, auch wenn sie von den Mitgliedern der Abteilungen ausdrücklich gewünscht wurden, lehnte man ab. Als 1890 die Polytechnische Gesellschaft Jahrgänge mathematischer Fachzeitschriften dem Hochstift zum Verkauf anbot und sich Mitglieder für die Gründung einer mathematischen Fachbibliothek im Hochstift aussprachen, widersprach der AGA, „da ein solches Unternehmen sowohl den Aufgaben des FDH fern liege, als auch seine Mittel übersteige“.193 Obwohl Ludwig Büchner zu jenen gehörte, die entscheidend zur Umgestaltung des Hochstifts beigetragen hatten, blieb die Entwicklung der Sektion für All191 Ebenda, S. 43. 192 Ebenda. 193 Prot. AGA, 3.12.1890.
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gemeine Naturwissenschaft hinter der allgemeinen Entwicklung zurück. Nach ihrer Konstituierung im Januar 1885 fanden für über ein Jahr weder Sitzungen noch Vorträge statt und der AGA ermahnte Büchner, endlich die Arbeit aufzunehmen oder die Abteilung aufzulösen.194 Büchners Erklärung, der Aufbau der Abteilung sei noch nicht abgeschlossen, widersprach Valentin mit dem Hinweis, dass die anderen Fachabteilungen die gleichen Schwierigkeiten überwinden mussten, und machte die Tatsache, dass Büchner als Vorsitzender nicht in Frankfurt wohnte, als Ursache geltend.195 Die Nachlässigkeit Büchners ist umso auffälliger, da er sich vehement für den Erhalt der Naturwissenschaften im Hochstift eingesetzt hatte und noch im März 1885 die Aufnahme naturwissenschaftlicher Vorträge in den Lehrplan forderte, wobei er in Karl Flesch einen entschiedenen Gegner fand.196 Büchners letzte nachweisbare Tätigkeit blieb der Vortragszyklus „Über den vorgeschichtlichen Menschen“ im Winter 1885/86.197 In den Protokollbüchern und in Büchners Mitgliedsakte finden sich keine Hinweise auf die Gründe, die das Ende seiner Tätigkeiten für das Hochstift erklären. Die Vorhaltung Valentins, dass die Vorsitzenden der Abteilungen aus Frankfurt kommen sollen, verdeutlicht, dass die Konflikte zwischen den auswärtigen und den Frankfurter Mitgliedern keineswegs gelöst waren. Die zunehmende Dominanz der Frankfurter ist auch den Mitgliedsaufnahmen des Verwaltungsjahres 1885/86 zu entnehmen, denn von 197 Neuaufnahmen waren nur 15 auswärtige Bewerber, das entspricht einem Anteil von nur 7,6 %.198 Es ist vor allem dem Einfluss Veit Valentins zuzuschreiben, dass die Fachabteilungen in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach der Reorganisation des Hochstifts eine dominierende Rolle spielten. Dabei war, wie bereits erwähnt, die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards eine immer wieder eingeforderte Bedingung und bestimmte auch die Ausgestaltung der Fachbereiche. Die Einrichtung einer pädagogischen Fachabteilung unterblieb, weil der AGA nicht nur die Erörterung praktischer Fragen, sondern auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fach verlangte.199 Das Fehlen wissenschaftlicher Qualifizierungen hatte man an der Arbeit des Hochstifts unter Volger wiederholt kritisiert. Projekte, wie sie noch Volger mit der Nordfahrt angestoßen hatte, waren unter den geänderten Bedingungen nicht mehr möglich, aber immerhin besann man sich auf die Tradition, die auch Eingang in die neuen Satzungen gefunden hatte, wissenschaftliche Bemühungen außerhalb des Hochstifts weiter zu unterstützen. Allerdings trat das Hochstift dabei nur mehr noch als ein Geldgeber auf, dessen bescheidenen Beträgen aber nur noch ein symbolischer Wert zukam. So spendete man 1898 in Erinnerung an die vom FDH unterstützte Nordfahrt von 1865 300 Mark für die ge-
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Prot. AGA, 15.1.1886. Ebenda. Prot. AGA, 13.3.1885. Ber. FDH (1886/87), S. 4*. Ebenda, S. 2*. Prot. AGA, 11.12.1885.
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plante Südpolarexpedition, die unter der Führung des Polarforschers Erich von Drygalskis zwischen 1901–1903 stattfand.200 Die Akademisierung und Professionalisierung sind auch in der Gestaltung der Berichte nachweisbar. Nachdem die beiden letzten Jahrgänge unter Volgers Redaktion nur noch eine lose Zusammenfassung der einzelnen Sitzungen beinhaltet hatten, vermittelten die neuen Jahrgänge eine systematische und geordnete Übersicht über die Tätigkeiten der Fachabteilungen. Den größten Raum nahmen dabei die Fachabteilungen und die in ihnen gehaltenen Vorträge ein. Damit sollten die Mitglieder umfassend über die Tätigkeiten in den Abteilungen informiert werden und den Vortragenden bot sich die Chance, ihre Arbeiten in gedruckter Form zu verbreiten. Zudem stand mit der Schriftenreihe des Hochstifts, die bereits unter Volger ins Leben gerufen worden war, eine alternative Möglichkeit für Veröffentlichungen zur Verfügung, die man z.B. für den Sozialen Kongress oder für Reinhardts Schulreform nutzte. Im AGA wurde auch immer wieder über die Qualität der abzudruckenden Vorträge bzw. der Berichte diskutiert, die sich in ihrer Aufmachung an wissenschaftlichen Zeitschriften orientierten. Mitglieder mahnten, der AGA solle bei der Auswahl des Stoffes für die Berichte mit schärferer Kritik verfahren, dass nur solchen Arbeiten Aufnahme gewährt würde, welche wissenschaftlich etwas Neues bieten.201
Darauf ließ der Vorsitzende Valentin erklären, dass unsere Fachabteilungsberichte wissenschaftlichen Charakter tragen sollen, dass folglich ein Absatz von welchem der Verfasser selbst erklärt, dass er selbstverständlich ein nur für Laien berechneter sei, keinen Platz in den Fachabteilungsberichten haben könne.202
Hinter diesen Tendenzen, die „wissenschaftliche Repräsentation“ (Joachim Seng) des Hochstifts zu erhöhen, standen nicht nur die Initiatoren der Umgestaltung, sondern maßgebliche Männer, wie Veit Valentin203 oder Karl Flesch. Vor allem Valentin stärkte den Einfluss des AGA und verteidigte dessen Kompetenzen gegen den Verwaltungsrat. Ihm lag mehr die akademische Funktion des Hochstifts als die einer Goethestätte am Herzen.204 Für Otto Heuer, der als Verwaltungsschreiber und Bibliothekar seine Tätigkeit im Hochstift begann, gehörte vor allem die Beschäftigung mit Goethe und seiner Zeit zur zentralen Funktion des Hochstifts. Der „Machtwechsel“ (Joachim Seng), der durch Valentins Tod im Dezember 1900 erfolgte, zeigte sich im Schicksal der Berichte, die nun 1902 in ein Jahrbuch umgewandelt wurden. Heuer hatte dafür ein Gutachten erstellt, dass die Berichte als einen Missgriff bezeichnete, denn die „Mitglieder wollen von den langweiligen blauen Heften
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Prot. VA, 24.6.1898. Prot. AGA, 27.6.1890. Ebenda. Zur Rolle Valentins und seinem Verhältnis zu Otto Heuer, vgl. Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus, S. 132–147. 204 Ebenda, S. 133 f.
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nichts wissen“ und „99 % der Hefte sind den Weg aller Makulatur gegangen“.205 Valentin habe eine Reform verweigert, aber der „Alpdruck der lange Jahre, jede vernünftige Entwicklung hemmend, auf dem FDH lastete, ist durch den Tod weggehoben“.206 Aufschlussreich sind Heuers Einschätzungen in Bezug auf die wissenschaftliche Stellung der Fachabteilungen. So sieht er die Rolle der Lehrgänge durch die „Akademiepläne des Herrn Oberbürgermeisters wohl für alle Zeit unmöglich gemacht“ und das hieß für das Hochstift als Akademie, „[v]iel Bedeutendes wird aber schwerlich geleistet werden“.207 Nur eine Zusammenlegung zu größeren Abteilungen und die Hebung des „Niveaus der Leistungen“ scheinen ihm eine erfolgreiche Weiterführung der Strukturen zu gewährleisten. Die Jahrhundertwende bedeutete den zweiten Einschnitt in der Entwicklung des Hochstifts. Nach der Phase des Ausbaus als Akademie mit Fachbereichen und Lehrgängen (1881/85–1900) begann nun die verstärkte Hinwendung zur musealen und literaturgeschichtlichen Tätigkeit. Auch wenn man berücksichtigt, dass Heuer die museale Aufgabe des Hochstifts zu seinem zentralen Anliegen machte und bereits Pläne für ein neues Goethemuseum entwarf, so fanden seine Vorstellungen schließlich nicht nur im VA und AGA, sondern auch auf der Mitgliederversammlung eine Mehrheit. In der beratenden Sitzung schloss sich der AGA der Umwandlung der Berichte in ein Jahrbuch an und das bedeutete die „Aufgabe des wissenschaftlichen Organs“.208 Man wies darauf hin, dass immer öfter eine „große Anzahl der Empfänger für die speziell fachwissenschaftlichen Abhandlungen weder das nötige Verständnis noch Interesse hat“.209 Aber der AGA beharrte weiter darauf, trotz der Beschränkungen „das wissenschaftliche Niveau der Berichte keinesfalls herabdrücken“ zu wollen.210 Die Fachabteilungen und die Lehrgänge blieben aber erhalten. Im neuen Jahrbuch wurden aber nur noch wenige ausgewählte Vorträge aus Lehrgängen und den Fachabteilungssitzungen veröffentlicht, aber dafür nahmen die Berichte aus dem Museum und der Bibliothek einen größeren Raum ein sowie Vorträge, die sich mit Goethe und seiner Epoche beschäftigten. Über die Goetherezeption wird noch ausführlicher gesprochen werden. Zwei zentrale Erklärungen können für diese Wandlungen angeführt werden. Im Hochstift selbst wuchs der Einfluss jener Mitglieder, die für eine Stärkung der musealen Aufgaben plädierten. Sie konnten bereits mit dem Neubau der Bibliothek 1897 ihre Stellung ausbauen und entwickelten weiterführende Pläne für ein größeres Goethemuseum. Mit dem Tod Veit Valentins verlor der AGA gerade jene Persönlichkeit, die durch ihr selbstbewusstes Auftreten die akademischen Aufgaben des Hochstifts forciert und verteidigt hatte. Andere Verfechter einer Akademie und Hochschule, wie Ludwig Büchner, wirkten nur kurz unter der neu205 Gutachten Otto Heuers über die Umwandlung der Berichte in ein Jahrbuch, zit. nach Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 144. 206 Ebenda. 207 Ebenda. 208 Prot. AGA, 28.6.1901. 209 Ebenda, ausführlich auch zitiert bei Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 145. 210 Ebenda.
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en Organisation. Zweitens entstanden neue Bildungsinstitute in Frankfurt, die dem Hochstift Konkurrenz machten. Der Einfluss der Abteilung für Volkswirtschaft, die Ende der 1880er Jahre noch eine Pionierrolle übernommen hatte, sank nun durch die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften. Das Goethemuseum und die darauf bezüglichen Sammlungen garantierten zumindest für die Bereiche der Germanistik, Literatur- und Kulturwissenschaften weiterhin einen wissenschaftlichen Anspruch, der in Frankfurt konkurrenzlos blieb. 2.2. Die Hochschule 1881–1914 Trotz aller Konflikte, die bei der Neuordnung des Hochstifts auftraten, bleibt festzuhalten, dass dessen weitere Entwicklung als Akademie den wichtigsten Punkt in den Prozessen der Umgestaltung bedeutete. Schon im Januar 1881 hatte Ludwig Büchner gegenüber Volger betont, dass mit der Stiftung Müllers nun die Errichtung einer Hochschule für allgemeine Bildung der „eigentliche und ursprüngliche Zweck“ des Hochstifts sei.211 Für Volger blieb die Hochschule, die bisher nur geringe Leistungen erbracht hatte, auch ein wichtiges Ziel, aber er verband damit immer noch Ansprüche, die über eine allgemeine Bildung hinausgingen und mit einem nationalen Programm verbunden waren. Nachdem die Mitglieder Volger im November 1881 gestürzt hatten, gehörte Ludwig Büchner zu den führenden Köpfen, die über die akademische Ausrichtung des Hochstifts entsprechende Satzungsvorschläge entwickelten. Die Mehrheit der Frankfurter Mitglieder folgte den Vorschlägen, die bereits im Frühjahr 1882 beschlossen wurden. Danach bildete das Hochstift eine „Hochschule für höhere Gesamtbildung“.212 An ihr sollten Gelehrte oder angestellte Dozenten regelmäßige Lehrgänge oder Vorträge abhalten, die für Mitglieder und die Öffentlichkeit gegen eine Gebühr zugänglich waren. 213 Als Fächer werden Geschichte, Literatur, Kunst, Philosophie, Volkswirtschaft und allgemeine Naturwissenschaft genannt. Wissensvermittlung, bzw. Wissenspopularisierung war die Aufgabe der Lehrgänge. Die Popularisierung war Ergebnis zweier Prozesse, erstens der Herausbildung einer Massenöffentlichkeit und zweitens der an die Universitäten gebundenen forschungsintensiven Wissenschaft.214 Die Konsequenz war, dass die „Verselbstständigung von Wissenschaft und Öffentlichkeit“ es notwendig werden ließ, „spezifische Vermittlungsagenturen zu institutionalisieren“.215 War diese Funktion der Hochschule schon 1859 zugeschrieben worden, so wurde sie seit 1881 zur alleinigen Aufgabe erklärt. Das Bildungsangebot wurde auf die Interessen des städtischen Publikums und die bereits bestehenden Angebote abgestimmt. 211 212 213 214 215
Ludwig Büchner an Otto Volger, 27.1.1881, FDH-Hausarchiv, Nachlass Volger, HS 19653. Satzungen des Freien Deutschen Hochstiftes (1884), Satz 3, S. 5. Ebenda, Satz 4, S. 5. Andreas Daum, Popularisierung von Wissenschaft im 19. Jahrhundert, S. 34. Peter Faulstich, Öffentliche Wissenschaft, S. 21.
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Für die Organisation des Lehrprogramms war der Akademische Gesamtausschuss (AGA) zuständig, der sich aus den Vorsitzenden und Stellvertretern der Fachabteilungen zusammensetzte: Derselbe entwirft für jedes Verwaltungsjahr den Plan der Lehrgänge und Vorlesungen; er macht Vorschläge in Betreff der für dieselben heranzuziehenden Lehrer, Gelehrten und Künstler und entwirft die Anweisung für deren Thätigkeit.216
Wie stark das Bedürfnis nach einem Lehrprogramm war, verdeutlicht eine Initiative von Mitgliedern unter Führung Büchners, die forderten, noch vor einer endgültigen Genehmigung der Satzungen sofort mit Lehrgängen zu beginnen. Dafür erklärte eine Anzahl Herren theils für sich theils für andere befreundete Lehrkräfte, Vorlesungen in Aussicht [zu] stellen, entweder unentgeltlich oder für auswärtige mit einer Reisevergütung.217
Büchner drängte immer wieder auf die „baldige Einrichtung von Lehrkursen“. Das plötzliche Interesse an der Übernahme von Lehrkursen, welches in den Jahren vorher gefehlt hatte, war naturgemäß durch die Aussicht auf entsprechende Honorare motiviert, denn „ist die Stiftung später im Besitz von Mitteln, so sollen nachträglich diese Vorträge honoriert werden“.218 Nach den ersten Lehrkursen, die noch ein provisorischer akademischer Vorbereitungsausschuss verantwortet hatte, trat der AGA das erste Mal am 19. Juni 1884 zusammen. In dieser Sitzung trug wiederum Ludwig Büchner seitens der „Darmstädter Genossen“ einen Plan über die Organisation und Honorierung der Lehrkurse vor. Büchner schlug einer Honorierung der Kurse mit 50 Mark pro Stunde vor und sprach sich zusätzlich für Vorlesungen am Sonntag aus, die wöchentlich für das größere Publikum stattfinden und mit einer Aufwandsentschädigung von 100 Mark abgegolten werden sollten.219 Das rasche Voranschreiten der „Darmstädter“ war nicht unumstritten und es wurden weitere Diskussionen geführt.220 Trotz der Aufbauphase mussten zwischen Juni und Dezember 1884 vier Mal die Sitzungen des AGA wegen Beschlussunfähigkeit vertagt werden.221 Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten, die auch auf der Hauptversammlung zutage traten, wurde eine zweite Mitgliederversammlung anberaumt und der Lehrplan wurde einer Kommission übergeben, in der Veit Valentin Mitglied war. Diese Kommission schaffte es schließlich, ihre Ideen in der Mitgliederversammlung durchzusetzen und damit konnte ein erster Lehrplan beschlossen werden.222
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Satzungen des Freien Deutschen Hochstifts (1884), Satz 40, S. 16. Prot. VS, 11.9.1882 Ebenda. Ebenda. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 59. Büchners Vorschlag erfolgte nicht am 29. September, sondern schon am 19. Juni 1884. 220 Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 59–64. 221 Das betraf die Sitzungen am 18.8., 14.10., 2.11. und 20.11.1884, vgl. Prot. AGA, 19.6.1884 u. 2.4.1886. 222 Prot. AGA, 8.12.1884.
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Jeder Vortragszyklus wurde mit 500 Mark honoriert und sollten die Bereiche Literatur, Kunst, Frankfurter Geschichte und Sozialpolitik behandeln.223 Wie stark das Bedürfnis nach sozialwissenschaftlichen Themen war, zeigt ein Beschluss des AGA, der bereits im Winter 1883/84 einen volkswirtschaftlichen Kurs unter der Leitung von Schnapper-Arndt genehmigt hatte.224 Dagegen musste Ludwig Büchner verärgert feststellen, dass für den Bereich der Allgemeinen Naturwissenschaft kein Lehrgang vorgesehen war und legte im März 1885 Protest dagegen ein.225 Obwohl Büchner und der AGA dahin gehend übereinstimmten, die Rolle des Hochstifts als Hochschule auszubauen, blieb Büchner aber hinsichtlich der Themen in der Defensive. Um die Naturwissenschaften stärker zu berücksichtigen, forderte er, den Posten für alle Lehrgänge von 3.000 auf 5.000 Mark zu erhöhen, was die Mehrheit aber ablehnte. Ein Kompromiss erbrachte nur eine Aufstockung auf 3.500 Mark.226 Im gleichen Zeitraum gab die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft beispielsweise 2.360 Mark für Vorlesungen aus.227 Das Müllersche Legat hatte dem Hochstift eine tragfähige finanzielle Grundlage beschert, um ein vielfältiges Vorlesungsprogramm anzubieten, das in Frankfurt schnell auf großes Interesse stieß. Im Januar 1885 konstituierten sich die ersten sechs Fachabteilungen und damit konnte die reguläre Tätigkeit des Hochstifts aufgenommen werden. Für den Winter 1885/86 wies der Lehrplan schon elf Vorlesungen aus, die 55 Einzelvorträge umfassten.228 Insgesamt besuchten 4.500 Personen die Vorlesungen und aus Platzgründen fanden sie deshalb in der Elisabethenschule statt, in der das Hochstift für 300 Mark einen Saal mietete.229 Von der festen Anstellung von Dozenten sah man aber ab, stattdessen bemühte man sich um auswärtige Gelehrte, wobei man besonders um Universitätsdozenten warb.230Auch für die Monatssitzungen hielt man „eine Berufung von auswärtigen Kräften höchst förderlich“, wobei man auch Einheimischen die Gelegenheit bieten wollte, Vorträge zu halten.231 Die vermehrte Berufung von Universitätsangehörigen für die Lehrgänge dokumentiert, dass die vom Hochstift betriebene Erwachsenenbildung vornehmlich eine auf das bürgerliche Publikum ausgerichtete Bildung darstellte. Schon in der Bezeichnung des Hochstifts wurde der ursprüngliche Begriff „allgemeine Bildung“ 1882 durch „höhere Bildung“ ersetzt.232 Das hatte Otto Volger schon in den Debatten jenes Jahres kritisiert. Die Lehrgänge boten keine Berufsfortbildung, sondern einen wissenschaftlichen Überblick aus erster Hand. Dafür waren Vorkenntnisse und ein gewisser 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232
Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 62 ff. Prot. AGA 19.10.1884. Prot. AGA, 13.3.1885. Ebenda. Waldemar Kramer/Wilhelm Schäfer, Geschichte des Senckenberg-Museums, S. 353. Ber. FDH 1886/87, S. 4* ff. Prot. AGA, 13.10.1885. Ber. FDH 1886/87, S. 4* Ebenda, S. 10*. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 246.
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Bildungsstand notwendig. Natürlich waren sie auch Orte der Geselligkeitspflege und Unterhaltung. Volksbildung aber, die auf die unteren gesellschaftlichen Schichten zielte, wurde nun von anderen Organisationsformen bedient. Eine bürgerliche Gründung war der 1890 gegründete „Ausschuß für Volksvorlesungen“ (AfV). 233 Im Winter 1890/91 konstituierte sich in Frankfurt ein „Comité zur Veranstaltung unentgeltlicher volkstümlicher Vorträge“, um die allgemeine Volksbildung zu fördern. Ziel war es, die Abhaltung von allgemein verständlichen und für jedermann frei zugänglichen Vorträgen zu ermöglichen, welche die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in geschlossenen Lehrgängen zu vermitteln suchen.234
Vorbild für die Organisation der Volksvorlesungen war das Hochstift, weil führende Gründungsmitglieder, wie Karl Flesch, aus dem Hochstift kamen, an das man sich sofort mit der Bitte um Unterstützung wandte.235 Das Hochstift signalisierte Bereitschaft unter der Bedingung, dass „jede Parteipolitik bei den Vorträgen ausgeschlossen bleiben müsse“.236 In den ersten Jahren der Volksvorlesungen waren es vor allem Mitglieder des Hochstifts, die das Vortragsprogramm gestalteten. Neben Vorlesungen, Gewerkschaftsvorträgen und Lehrgängen organisierte man Museumsbesuche, Konzerte, Aufführungen und Wanderungen.237 Veit Valentin, der auch dem „Comité“ angehörte, hielt am 16. Januar 1891 den ersten Vortrag. In den Berichten erschienen über die „in erster Linie durch Mitglieder des Hochstifts ins Leben gerufenen Volksvorlesungen“238 regelmäßige Zusammenfassungen. Über ein Jahrzehnt enthielt der Haushaltsplan des Hochstifts einen festen Posten zur Unterstützung der Volksvorlesungen, der am Ende, einem Antrag von Karl Flesch folgend, sogar 500 Mark jährlich betrug.239 Neben dem Hochstift unterstützten zahlreiche Frankfurter Vereine und der Magistrat die Volksvorlesungen, die ein weit gefächertes Bildungsangebot aufbauten. Während 1891/92 lediglich 25 Freitagsvorlesungen stattfanden, waren es
233 Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 89–98; Michael Handwerk, Der Frankfurter Ausschuß für Volksvorlesungen – Entstehungsgeschichte und Tätigkeit während des ersten Jahrzehnts (1890–1900); Wolfgang Seiter, Volksbildung als Teilhabe. Die Sozialgeschichte des Frankfurter Ausschusses für Volksvorlesungen 1890–1920; ders., Volksbildung und Educatión popular, S. 195–203. 234 Ber. FDH 1892, S. 72. 235 Prot. AGA, 9.12.1890. 236 Ebenda. 237 Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 196. 238 Ber. FDH 1894, S. 94. 239 Prot. VA, 7.11.1898. Ab 1891 bewilligte man jährlich 300 Mark, erhöhte den Beitrag 1897 auf 400 Mark. Als der AfV 1904 eine weitere Erhöhung der finanziellen Unterstützung anfragte, lehnte der VA ab, da das Hochstift durch den geplanten Erweiterungsbau für das Goethemuseum umfangreiche Beihilfen der Stadt beanspruchte, vgl. Prot. AGA, 18.11.1904.
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1900 bereits 67 Vorträge, 20 Vorlesungen in Gewerkschaften, 10 Museumsführungen, 6 weitere Lehrgänge mit 10–12 Vorlesungen und 6 Volksvorstellungen.240 In erster Linie waren die Volksvorlesungen deswegen ins Leben gerufen worden, um das „Bildungsbedürfnis weniger Bemittelter“241 zu befriedigen. Männer, wie Karl Flesch, Charles Hallgarten und Heinrich Rößler, verstanden dabei die Bildungsvermittlung als einen Teil der bürgerlichen Sozialpolitik, die den unterbemittelten Schichten einen Anschluss an die bürgerliche Lebenswelt ermöglichen sollte.242 Dabei ging es nicht nur darum, Bildungsinhalte als Teile eines bürgerlichen Wertekosmos zu verbreiten, sondern Bildung galt als ein notwendiges Mittel für den gesellschaftlichen Aufstieg. Für diese Aufgabe eignete sich das Hochstift nicht, weil sein durch Mitgliedsbeiträge gesicherter exklusiver Zugang dem „finanzkräftigen Frankfurter Laienpublikum“ vorbehalten war.243 Dieses bürgerliche Laienpublikum verfügte bereits über einen gewissen Bildungshorizont, der den eigenen Interessen und Neigungen gemäß durch die freiwillige Teilnahme an den Vorträgen erweitert werden konnte. Dagegen war das Zielpublikum der Volksvorlesungen, das in der Mehrzahl aus gewerblichen Arbeitern bestand, kaum mit den Bildungsinhalten vertraut und es bedurfte auch in der Vermittlung einer anderen Form der Darstellung. Zwar wurde hinsichtlich der Ansprüche der Vorlesungen verbreitet, dass sie keine schlechtere Kopie der Hochstiftsvorträge sein sollten und „ihrem Wert nach mit denen des Hochstifts tunlichst auf der gleichen Höhe stehen sollten“, wie das Comité beschloss244, dennoch verdeutlichten die Diskussionen über das Vortragsniveau, dass die Form der Darstellung einer Erörterung bedurfte. In den Berichten des Hochstifts hieß es dazu: Zu der vollendet sicheren Beherrschung des Gegenstandes muß ein feiner Takt für die Auswahl des gerade für die weitesten Kreise nicht nur Interessanten, sondern auch Fruchtbringenden in Verbindung mit formgewandter lebendiger und anregender Darstellungsweise hinzutreten, die, ohne große Voraussetzungen zu machen, sich dennoch keineswegs auf niedrigem Niveau bewegt.245
Dieser besondere Vermittlungsweg zeigt sich auch bei den sogenannten Volksvorstellungen, die das Frankfurter Stadttheater in Kooperation mit dem Vorlesungsausschuss veranstaltete. Da diese Vorstellungen nicht nur eine Unterhaltung, sondern ein Bildungselement sein sollen, so lässt der Ausschuß stets einen einleitenden Vortrag vorangehen, der die Bedeutung des zur
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Ber. FDH 1900, S. 21. Adolf Mannheimer, Die Bildungsfrage als sociales Problem, S. 131. Vgl. Karl Flesch, Die Bildungsfrage als soziale Frage. Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 195 Zit. nach Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 199. Ber. FDH 1892, S. 73; vgl. zu den Bildungsinhalten der Volksbildung, Dieter Langewiesche, Welche Wissensbestände vermittelten Volksbibliotheken und Volkshochschulen im späten Kaiserreich, S. 222 ff.
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IV. Die Tätigkeiten des Hochstifts bis zum Ersten Weltkrieg Aufführung bestimmten Dramas nach seinen verschiedenen Seiten darlegte und so zu sachlichem und künstlerischem Verständnis die Anleitung gab.246
Die Unterstützung des Hochstifts für den AfV wurde besonders von den in der städtischen Sozialpolitik engagierten Mitgliedern vorangetrieben und gefördert. Erst nach der Jahrhundertwende löste sich die institutionelle Bindung, da sich das Hochstift verstärkt auf seine musealen Tätigkeiten konzentrierte. Dennoch blieben weiterhin viele Mitglieder des Hochstifts an der Organisation der Volksvorlesungen beteiligt.247 Auch das Jahrbuch des Hochstifts, das ab 1902 die Berichte ablöste, informierte nicht mehr über das Programm der Volksvorlesungen. Diese erreichten im Geschäftsjahr 1913/14 mit 117 Freitagsvorträgen und 26.581 Teilnehmern den Höhepunkt des Publikumsinteresses.248 Die Volksvorlesungen veranschaulichen, dass ein übergreifendes Bildungsideal, welches Volger noch seiner Konzeption einer Hochschule zugrunde gelegt hatte, immer problematischer wurde. Die klassenspezifischen Unterschiede und die Bindung der Bildung an den gesellschaftlichen Status führten auch im Rahmen der städtischen Vereine und des kulturellen Lebens zu einer Differenzierung. Private Vereine boten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Fortbildungs- und Unterrichtsmaßnahmen an, die sich an Lehrlinge und kaufmännische Angestellte richteten. Dazu gründeten sich der Verein für Verbreitung von Volksbildung (1871), der Kaufmännische Verein (1864) und der Frauenbildungsverein (1876). Diese boten Lehrkurse an und darüber hinaus existierten Hilfskassen und soziale Einrichtungen. Ihre hauptsächliche Bildungsarbeit bestand in der Vermittlung praktischer Kenntnisse, die der Berufs- und Weiterbildung dienten. Durch die rasant wachsende Bevölkerung wuchsen diese konkreten Bildungsbedürfnisse, für die sich z. B. in der Arbeiterschaft sozialdemokratische Arbeiterbildungsvereine gründeten. Der Ausschuss für Volksvorlesungen differenzierte sich von den genannten Vereinen durch das Angebot eines breiteren Spektrums an Bildungsinhalten, das weniger berufsspezifisches Wissen vermittelte, sondern eine breite Palette an Themen abdeckte und besonders kulturelle Gebiete förderte. Die Organisatoren waren zunächst Vertreter des städtischen Bürgertums, die aber eine institutionelle Einbindung von Arbeitervertretern gewährleisteten, die auch über die Programmgestaltung mit entscheiden durften. Wesentliches Ziel der Initiatoren war die Integration durch Vermittlung eines bürgerlichen Bildungskanons. Die gesellschaftliche Differenzierung und der rasche Fortschritt in den Wissenschaften und der Kultur führten dazu, dass die ursprüngliche Aufgabe des Hochstifts, Integration durch Bildung zu erreichen, diesen Entwicklungen Rechnung tragen musste. Die Bildungsvermittlung für die unbemittelten Bevölkerungsschichten gab man an andere Institutionen ab. Das Publikum der Volksvorlesungen war nicht in den bürgerlichen Vereinen und Akademien vertreten und wurde nicht durch das Vortragsprogramm der Fachabteilungen im Hochstift erreicht. 246 Ber. FDH 1896, S. 48. 247 Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 98. 248 Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 201.
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Durch die Unterstützung der Volksvorlesungen knüpfte aber der AGA an die Tradition des Hochstifts an, Bildung an alle Gesellschaftsgruppen zu vermitteln. Die nationale Intention wurde aber durch die sozialpolitische Motivation ersetzt. Diese Bereitschaft war nicht in allen Frankfurter Institutionen zu finden. Die SNG, die sich weiterhin als eine wissenschaftliche Vereinigung verstand, widersetzte sich zunächst den Anfragen des Ausschusses. Populäre Vorlesungen, Führungen und Kataloge lehnte man genauso ab wie das Ersuchen des Ausschusses für Volksvorlesungen, das Museum an den Sonntagnachmittagen zu öffnen.249 Der Gymnasiallehrer Reichenbach erklärte dazu: „Ich bin nicht [...] für eine Popularisierung der Naturwissenschaften“, während der Befürworter Dr. Blumenthal die Bitte des Ausschusses unterstützte, indem er eine soziale Verantwortung damit verband: „Nehmen wir den Arbeitern die Gelegenheit, sich zu bilden, so treiben wir sie ins Wirtshaus“.250 Die Gegner in der SNG befürchteten zudem eine sozialdemokratische Agitation. Erst 1907 erfolgte durch den Museumsneubau eine Trennung von Schau- und Studiensammlung und dies ermöglichte einem größeren Publikum, sich naturwissenschaftlich zu bilden.251 Das Hochstift hatte dagegen das Goethehaus für das Bildungsprogramm der Volksvorlesungen geöffnet. Zwar betonte auch der AGA immer wieder die politische Neutralität des Hochstifts, um soziale Forderungen oder Agitationen auszuschließen, doch die engeren Kontakte zu Vertretern von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die durch persönliche oder berufliche Kontakte von Hochstiftsmitgliedern erweitert wurden, ermöglichten eine größere Offenheit. Auch andere Einrichtungen, wie das Historische Museum, die Städtische Galerie und des Kunstgewerbemuseum, boten kostenlose Besuchszeiten an.252 Dabei spielten nicht nur finanzielle Fragen eine Rolle, um Arbeitern die Teilnahme an Bildungseinrichtungen zu ermöglichen, die Diskussionen um den Beginn der Theatervorstellungen weisen auf die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten hin.253 Obwohl führende Sozialdemokraten dem AfV kritisch gegenüberstanden, konnten sie und die Gewerkschaften sich dem Angebot nicht vollständig entziehen, auch wenn man die Tätigkeit des AfV als einen Versuch wertete, die Arbeiter der Idee des Sozialismus zu entfremden.254 Erst ab 1905 begann ein verstärkter Aufbau einer sozialdemokratischen Bildungsarbeit in Frankfurt. Die „kontinuierliche Einbindung der organisierten Arbeiterschaft in den Ausschuss“ war ein Teil seines Erfolgs, der sein Bestehen über den Ersten Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches sicherte. 255 249 Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, S. 366 250 Ebenda. 251 Vgl. Carsten Kretschmann, Wissenskanonisierung und -popularisierung in Museen des 19. Jahrhunderts – das Beispiel des Senckenberg-Museums in Frankfurt am Main. 252 Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 414–425. 253 Ebenda, S. 398. 254 Vgl. Rainer Stübling, Die Sozialdemokratie in Frankfurt am Main, S. 31; Volker Eichler, Sozialistische Arbeiterbewegung in Frankfurt am Main 1878–1895, S. 356–361. 255 Wolfgang Seitter, Volksbildung als Teilhabe, S. 145.
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Dazu trug eine Entwicklung bei, die für viele Bereiche in der Kommune zu beobachten war. Im Zuge der Entwicklung einer kommunalen Leistungsverwaltung, die neben Infrastrukturmaßnahmen immer mehr sozialpolitische Initiativen ergriff, wuchsen die kommunale Verantwortung und Zuständigkeit für die Volksbildung und Weiterbildung. Die Städtische Gewerbeschule (1890), die Städtische Handelslehranstalt (1903) und die Unterstützung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften sind Beispiele für einen „irreversiblen Kommunalisierungsprozess“256, in dessen Folge auch der AfV umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die Kommune erhielt. Diesen Prozess der Verantwortungsübergabe aus der Trägerschaft des städtischen Bürgertums und dessen Institutionen in der Stadt ist auch am Beispiel der Volksbildung und des AfV zu beobachten. Das Hochstift trug durch Mitglieder, wie Karl Flesch und Veit Valentin, maßgeblich zu diesem Prozess bei. Wie gestaltete sich nun das Vorlesungsprogramm im Rahmen des Hochstifts? In dem Zeitraum, in dem das Hochstift die Volksvorlesungen aktiv förderte, griff man für das eigene Vortragsprogramm fast ausschließlich auf akademisch Gebildete zurück. Zwischen 1885/86 und 1900 fanden 129 Vorträge statt. Der Anteil der promovierten Dozenten betrug dabei mit 122 Personen rund 95 %. 90 Dozenten, also ca. 70 %, waren Professoren. Der Anteil der promovierten Dozenten wuchs zwar auch in den Volksvorlesungen kontinuierlich, aber er betrug im Jahr 1919 erst 65,5 %. Im Hochstift befand sich damit schon relativ früh der Vorlesungsbetrieb in den Händen von akademisch Gebildeten und man kam damit den eigenen Vorgaben nach, einen engen Kontakt zu den Universitäten zu suchen. Es ist erfreulich zu sehen, wie die Lehrgänge des Hochstiftes für viele der an den benachbarten Universitäten wirkenden Professoren eine willkommene Erweiterung ihrer Lehrthätigkeit und ihrer Lehrwirkung geworden sind und sich dort für das Schaffen ebenso einbürgern, wie sie es hier für die dankbare Aufnahme des in vortrefflicher Weise Gebotenen längst gethan haben,
so das Resümee 1895.257 Dem AGA gelang es immer wieder, bedeutende Hochschullehrer für die Vorträge zu verpflichten. Auch wenn diese vor einem bürgerlichen Laienpublikum sprachen, gab es kaum Berührungsängste. Unter den verpflichteten Dozenten waren Männer, wie Paul Natorp, Max Weber, Werner Sombart, Karl Lamprecht, Georg Jellinek, Wilhelm Windelband, Heinrich Wölfflin, Johannes Haller, Ernst Troeltsch und Rudolf Eucken. Manche Dozenten standen noch am Beginn ihrer akademischen Karriere und nutzen diese Möglichkeit, um ihren Wirkungskreis zu erweitern. Diese Intention hatte bereits Volger mit der Hochschulidee verbunden und diese Tradition wurde dadurch fortgesetzt, dass man auch akademisch umstrittene Persönlichkeiten, wie z.B. Werner Sombart, engagierte. Diese Offenheit verband sich mit dem Gespür für alternative wissenschaftliche Ansätze. Als der AGA 1906 unbedingt den in der historischen Zunft umstrit256 Wolfgang Seitter, Volksbildung, S. 177. 257 Ber. FDH 1895, S. 74.
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tenen Historiker Karl Lamprecht258 verpflichten wollte, dieser aber statt der üblichen 1.000 Mark nun 1.200 Mark Honorar verlangte, wurde diese Bedingung anstandslos erfüllt.259 Die Lehrgänge boten auch jüdischen Gelehrten, denen deutsche Universitäten oft ordentliche Professuren verweigerten, eine Wirkungsmöglichkeit. Ludwig Geiger, Georg Witkowski und Ignaz Jastrow zählten dazu. Auch Max Quarck, der in die SPD eintrat, konnte im Winter 1893/94 Vorlesungen über die Arbeiterbewegung halten, während in Preußen mit der „Lex Arons“ 1898 der Physiker Leo Arons wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD von der Berliner Universität verwiesen wurde. Die Lehrgänge wurden im Laufe der Zeit auch zu einem attraktiven finanziellen Zugewinn für die Dozenten. Von anfänglich 3000 Mark 1885260 wuchs der Posten im Haushaltsplan stetig an. Ein Jahrzehnt später hatte er sich auf 5800 Mark fast verdoppelt261 und betrug schließlich im Verwaltungsjahr 1913/14 10.000 Mark262. Damit konnten die Dozenten für übernommene Lehrgänge mit bis zu 1.000 Mark honoriert werden. Ein normaler Ordinarius an der Universität Tübingen verdiente in diesem Zeitraum zwischen 4.000–6.000 Mark jährlich, ohne allerdings individuelle Zulagen zu berücksichtigen.263 Gerade aber auch für die Extraordinarien waren die Vorträge des Hochstifts eine willkommene Gelegenheit, ihre prekäre finanzielle Situation zu verbessern. Zeichnete sich die Auswahl des AGA durch eine liberale und fortschrittliche Note aus, so war sie mitverantwortlich dafür, dass in Frankfurt das Interesse an den Vorträgen stetig zunahm. Besonders im Zeitraum bis zur Jahrhundertwende, also noch vor Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, wuchs der Andrang des städtischen Publikums in solchen Maßen, dass man seitens der Verwaltung über Zutrittsbeschränkungen nachdachte. Obwohl man die Abhaltung der Lehrgänge vom „Singsaal“ der Elisabethschule in das Hochsche Konservatorium verlegt hatte, reichten die dortigen Kapazitäten bald nicht mehr aus und die Leitung des Konservatoriums drohte wegen der Überbelegung mit Kündigung des Mietvertrags.264 Der Zudrang war vielfach so stark, dass der Saal des Konservatoriums, der nach dem großen Saale des Saalbaues der die meisten Hörer fassende Saal in Frankfurt ist, nicht allzu oft ausreichte, um allen, die hören wollten, Platz zu gewähren.265
258 Karl Lamprecht (1856–1915), der einen Lehrstuhl für Geschichte an der Leipziger Universität besaß, entwickelte einen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz, der zu einem Methodenstreit in der Geschichtswissenschaft führte; vgl. Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. 259 Prot. VA, 25.5.1906. Lamprecht hielt im Winter 1906/07 einen Lehrgang über „Die Romantik in Deutschland“, Jb. FDH 1907, S. 340. 260 Prot. AGA, 8.4.1885. 261 Prot. VA, 7.11.1895. 262 Jb. FDH 1914/1914, S. 253. 263 Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S. 478. 264 Prot. VA, 12.12.1895. 265 Ber. FDH 1895, S. 74.
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Mitglieder des Hochstifts konnten kostenlos die Lehrgänge besuchen und besaßen darüber hinaus die Möglichkeit, ein weiteres unselbstständiges Familienmitglied, beispielsweise die Ehefrau, mitzunehmen. Da es aufgrund des regen Zudrangs vielen Vollmitgliedern teilweise unmöglich war, einen Platz zu finden, wurde der Besuch der Familienangehörigen eingeschränkt. Nur noch die Mitgliedskarte konnte verliehen werden, aber für weitere Familienangehörige durften maximal drei Beikarten zu ermäßigten Preisen erworben werden. Darüber hinaus sollte der Besuch von Nichtmitgliedern durch Preiserhöhungen eingeschränkt werden. Dazu wurden die Kosten für den Besuch aller Vorträge von 6 auf 10 Mark erhöht, einzelne Lehrgänge kosteten 5 statt 3 Mark und der Eintritt für einen Einzelvortrag wurde auf 2 Mark verdoppelt.266 Waren die begrenzten Platzverhältnisse augenscheinlich der Grund für die Maßnahmen, so zeigen sie doch, dass mit den Lehrgängen zunächst die Ansprüche und Bildungswünsche der Mitglieder erfüllt werden sollten und der Hinweis auf den Mitgliedsbeitrag ersetzte die nationale Bildungsgemeinschaft, die noch von Volger mit der Hochschule verbunden worden war. Unselbstständige Familienangehörige, also Studenten, Lehrlinge und Frauen, rangierten dabei hinter den Bedürfnissen der männlichen Haushaltsvorstände. Als eine Folge der Preiserhöhungen musste die Verwaltung beobachten, dass immer mehr Frauen die Mitgliedschaft im Hochstift beantragten. Sie waren zwar keine stimmberechtigten Vollmitglieder, aber ihnen war es dadurch möglich, mit der Zahlung des Mitgliedsbeitrags von 8 Mark alle Vorträge zu besuchen. Dem allgemeinen Bildungsbedürfnis der weiblichen Bevölkerung standen ohnehin gesellschaftliche Schranken entgegen.267 Trotz dieser Einschränkung bot gerade die Bildung, vor allem der Lehrerberuf, eine Möglichkeit zur beruflichen Selbstständigkeit und Ende des 19. Jahrhunderts betrug der Anteil der Lehrerinnen in den Schulen fast 60 %.268 Um die Anliegen der Frauen bemühten sich seit den 1860er Jahren immer zahlreichere Frauenvereine.269 Neben der rechtlichen Gleichstellung waren gleiche Arbeits- und Bildungschancen die zentralen Forderungen. Eine der Aktivistinnen der Frauenbewegung, Helene Lange, kritisierte, dass die Deutschen das einzige und letzte große Kulturvolk seien, das seine Frauen unter dem Druck mittelalterlicher Fesseln läßt, daß ihres Geschlechts wegen die Stätten höherer Bildung, die Vorbedingungen jeder höheren Berufsthätigkeit und diese selbst versperrt, und da-
266 Prot. VA, 13.9.1894. 267 Zu den rechtlichen Benachteiligungen, vgl. Ute Gerhard, Die Rechtsstellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankreich und Deutschland im Vergleich, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, S. 439–468.; dies., (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. 268 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 562; vgl. Claudia Huerkamp, Die Lehrerin. 269 Vgl. Herrad U. Bussemer, Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860–1880, in: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S. 190–205.
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mit die Lösung der Frauenfrage, die hier wie überall nur durch die Mündigmachung der Frau zu erreichen ist, unmöglich macht.270
Während in anderen europäischen Ländern den Frauen bereits ein Hochschulstudium möglich war – Frankreich (1861), Schweiz (1868), England (1878) – gewährte man ihnen in Deutschland an einzelnen Universitäten erst am Ende des 19. Jahrhunderts den Status als Gasthörerinnen.271 Diesem weiblichen Bildungsstreben begegnete die Verwaltung des Hochstifts zunächst mit Ablehnung.272 Durch den Zuwachs von „Damen, Ehefrauen und Töchtern“ in den Vorträgen kam es zu dem vorläufigen Beschluss: Daher sei wohl zu überlegen ob nicht Maßnahmen zu treffen sein, eine [...] beginnende Überfüllung durch Damen einzudämmen, die großentheils den Weg der Mitgliedschaft nur wählen, um möglichst billig die Vorlesungen zu hören.273
„Einen Gewinn für das Hochstift bedeuten diese Mitglieder nicht“, stellte man lapidar fest.274 Die „Frauenfrage“ wurde aber zunächst bis auf Weiteres verschoben.275 Auch ambitionierte Mitglieder, wie Karl Flesch, sprachen sich für Einschränkungen des Publikums aus und Flesch forderte 1896 den Ausschluss von Lehrlingen und Studenten, da „die Lehrgänge nur für Erwachsene sein sollen“.276 Dagegen wurden Abiturienten zugelassen, solange noch freie Plätze zur Verfügung standen.277 Der Platzmangel begann sich aber zu entspannen, da er vor allem die ersten Vorträge eines Lehrgangs betraf, da viele Mitglieder zunächst einen ersten Eindruck gewinnen wollten. Danach verteilte sich das Publikum gleichmäßiger. Daher nahm man die Preiserhöhungen teilweise wieder zurück. Die Lehrgangsgebühren senkte man daraufhin für Nichtmitglieder auf 8 Mark und für einzelne Lehrgänge auf 4 Mark.278 Es dauerte aber noch ein Jahrzehnt, bis schließlich auch den Frauen die volle Mitgliedschaft zugestanden wurde. Besonders Wilhelm Epstein aus der Sektion für Volkswirtschaft und späterer Geschäftsführer des AfV setzte sich dafür ein.279 In Frankfurt geriet das Hochstift öffentlich in Bedrängnis, denn der Verband
270 Helene Lange, Frauenbildung, S. 4. 271 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 1218; Kristine von Soden, Auf dem Weg in die Tempel der Wissenschaft. Zur Durchsetzung des Frauenstudium im Wilhelminischen Deutschland, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 617–630, hier S. 627. Im Wintersemester 1896/97 waren 223 Frauen als Gasthörerinnen an preußischen Universitäten gemeldet. 272 Zur Frauenfrage vgl. Birgit Wörner, Frankfurter Bankiers, Kaufleute und Industrielle. Werte, Lebensstil und Lebenspraxis 1870 bis 1930, S. 144–152. 273 Prot. VA, 12.12.1895. 274 Ebenda. 275 Prot. VA, 21.5.1896. 276 Prot. VA, 8.10.1896. 277 Prot. VA, 27.8.1896. 278 Ebenda. 279 Wilhelm Epstein an Otto Heuer, 12.11.1908, FDH-Hausarchiv, Frauenfrage.
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Frankfurter Frauenvereine forderte die Verwaltung des Hochstifts auf, daran „mitzuarbeiten, dass dieser Zustand ein Ende findet“.280 Die Verwaltung beschloss schließlich, die in die akademische Abteilung aufgenommenen und einer akademischen Fachabteilung zugewiesenen Mitglieder sind zur Ausübung des Wahl= und Stimmrechts in dieser (Satz 19 und 20) ohne Unterschied des Geschlechts berechtigt.281
In Satz 8 der Satzung, „[a]uch Frauen und Minderjährige können als Mitglieder, jedoch ohne Stimm= und Wahlberechtigung, aufgenommen werden“ strich man den Passus „Frauen und“ und nach der Genehmigung der Behörden282 war damit auch den Frauen Gelegenheit geboten, nicht nur wie bisher an dem wissenschaftlichen Leben innerhalb des Hochstifts teilzunehmen, sondern auch aktiv auf seine Gestaltung Einwirkung zu üben283.
Besonders der AGA hatte sich bis zum Schluss gegen die Gleichstellung der Frauen ausgesprochen und zunächst die Vorschlägen Epsteins abgelehnt.284 Weder in der Besetzung der Lehrgänge noch im AGA selbst waren Frauen bis 1914 vertreten. Nach dem Kriegsausbruch im August 1914 wurden die Lehrgänge eingestellt und durch Einzelvorträge ersetzt, „die zur Zeitstimmung passen“.285 Die ohne Honorar gehaltenen Vorträge sollten als „vaterländische Aufgabe“ und „freiwillige Kriegsleistung“ einen Beitrag des Hochstifts zu den Erfordernissen der Zeit leisten und behandelten entsprechende Themen, wie „Der britische Imperialismus“, „Weltbürgertum und Vaterlandsliebe“, „Heut und vor hundert Jahren“ und „Deutsche Soldatenlieder“.286 Die politische und weltanschauliche Neutralität des Hochstifts wurde zugunsten eines nationalen Imperativs aufgegeben und auch die im Hochstift engagierten Akademiker leisteten einen „geistig-moralischen Beitrag“ zum Krieg.287 Von 1885 bis 1914 bot das Hochstift in seiner Funktion als „Freie Hochschule“ ein jährliches Vorlesungsprogramm an, das aus 8 bis 10 Lehrgängen in den Wintermonaten bestand und im Durchschnitt jeweils 5 Einzelvorträge beinhaltete. Erst 25 Jahre nach Gründung des Hochstifts hatte sich ein regelmäßiges Lehrprogramm etablieren können, das einen regen Zuspruch in Frankfurt fand. Die umfassenden Ansprüche der Volgerschen Hochschule wurden auf den Anspruch einer populären Wissensvermittlung beschränkt, um wissenschaftliche Ergebnisse einem bürgerlichen Publikum zu vermitteln. Aufgegeben wurde auch der Anspruch, Impulsgeber für eine „Frankfurter Hochschule“ zu sein. Vielmehr war 280 Verband Frankfurter Frauenvereine an den Verwaltungsausschuss des FDH, 19.12.1908, FDH-Hausarchiv, Frauenfrage. 281 Jb. FDH 1909, S. 419. 282 Diese erfolgte am 1. März 1910, vgl. Jb. FDH 1911, S. 356. 283 Jb. FDH 1909, S. 419. 284 Prot. AGA, 18.3.1909. 285 Prot. AGA, 2.10.1914. 286 Jb. FDH 1914/1915, S. 275. 287 Wolfgang J. Mommsen, Die kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg. S. 179.
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man bestrebt, die unerfüllten Bildungsbedürfnisse des städtischen Publikums zu erfüllen, ohne in Konkurrenz mit anderen Vereinen und Stiftungen zu treten. Die Volgersche Hochschule hatte neben wissenschaftlichen Ansprüchen die Aufgabe einer populären Wissensvermittlung beinhaltet. 1859 waren die Grenzen zwischen Gelehrten und Publikum noch durchlässiger als zwei Jahrzehnte später. Nun waren akademische Qualifikationen der entscheidende Maßstab für wissenschaftliche Ansprüche, der Übergang vom „Bildungsgelehrten zum wissenschaftlichen Fachmenschentum vollzogen“.288 An diesen Standard maß sich auch das Programm der Wissenspopularisierung im Hochstift, das überwiegend von Akademikern getragen wurde. Die Volksbildung begann, sich dagegen in anderen Formen zu organisieren. Neben bürgerlichen Vereinen entstanden Organisationen der Arbeiterbewegung. Dort ging es nicht um einen individuellen Bildungsprozess oder um „geschmackvolle Unterhaltung“, sondern um Emanzipation bzw. den beruflichen und sozialen Aufstieg.289 In diesem Sinne trifft auch für das Hochstift das Resümee von Ralf Roth über das bürgerliche Vereinswesen zu: Die universale Utopie einer Gesellschaft der Gebildeten, die sich sukzessive zu einer in Vereinen organisierten bürgerlichen Gesellschaft erweitern sollte, blieb infolgedessen – trotz aller Anstrengungen im einzelnen – auf eine Gesellschaft der Bürger beschränkt.290
2.3. Die Mitglieder Aufgrund der neuen Satzung wurde die Einteilung der Mitglieder in Genossen und Meister aufgehoben. Es kam deswegen zunächst zu vermehrten Austritten, denn viele Mitglieder der Meisterschaft bzw. Ehrenmitglieder fühlten sich durch die Abschaffung brüskiert. Die Verwaltung bemühte sich, durch Anschreiben an die entsprechenden Mitglieder in Erfahrung zu bringen, ob eine weitere Teilnahme im Hochstift erwünscht sei. Dennoch blieb es bei einem kurzfristigen Mitgliederschwund, denn 1885 zählte man wieder 1.046 Personen und 1908 besaß man schon 1.602 Mitglieder. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Sozialstruktur dominierten weiterhin die Bildungsberufe, deren relativer Anteil stabil über der Marke von 50 % lag, die aber, in absoluten Zahlen betrachtet, sich deutlich vermehrten.291 Das gilt auch für die Kaufleute und Unternehmer, die über ein Fünftel der Mitglieder stellten. Hier kam es zwischen 1885 und 1908 sogar zu einer Verdopplung der Mitglieder. Der dennoch geringe relative Zuwachs beider Gruppen war durch die rasante Zunahme der weiblichen Mitglieder bedingt, die in den meisten Fällen keinem Beruf 288 Vgl. Rüdiger vom Bruch, Vom Bildungsgelehrten zum wissenschaftlichen Fachmenschentum. 289 Ralf Roth, Das Vereinswesen, S. 205. 290 Ebenda, S. 206. Während Volgers Amtszeit war der Lesesaal mit den abonnierten Zeitschriften auch Nichtmitgliedern zugänglich. 291 Vgl. Tabelle 4, Kapitel IX. Tabellen, S. 381.
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nachgingen. Der Anteil der Frauen stieg von 3,5 % auf 20 %. Dieser Zuwachs stand, wie bereits geschildert wurde, auch mit den Maßnahmen der Verwaltung im Zusammenhang, die Vergabe von ermäßigten Karten für die Haushalte zu beschränken, was dazu führte, dass sich immer mehr Frauen als Vollmitglieder anmeldeten, um die Lehrgänge zu besuchen. Die Zahlen veranschaulichen das wachsende Bildungsbedürfnis der Frauen, denen bislang weiterhin enge gesellschaftliche Schranken in der Berufs- und Ausbildungswahl gesetzt waren. Dagegen sank der Anteil der Mitglieder aus dem alten Handwerk und Gewerbe. Von gerade noch 3 % 1885 verringerte er sich bis 1908 auf nur noch etwa 1 %. Bezüglich der beschriebenen Tendenz der Professionalisierung spiegelt sich diese in der Zusammensetzung der einzelnen Fachabteilungen wider.292 Bis zum Jahr 1908 waren mit 306 Personen nur 19 % aller Mitglieder in Fachabteilungen organisiert.293 Hier dominieren eindeutig die Bildungsberufe mit Ausnahme von zwei Abteilungen. Dabei handelt es sich um die Sozialwissenschaften (SoW) und die Abteilung für Schöne Wissenschaften (SW), in denen 1885 die Kaufleute und Unternehmer jeweils mit 14 % und 10 % herausragten. Die Abteilung für Sozialwissenschaften wurde später in eine Sektion für Jurisprudenz (J) und für Volkswirtschaft (V) untergliedert. Die Sozialstruktur der Sektion für Volkswirtschaft spiegelt das umfassende Interesse an der Thematik wider, das gerade in einer Handels- und Gewerbestadt wie Frankfurt verbreitet war. So stellten allein 1908 die Unternehmer und der neue Gewerbestand über 20 % der Mitglieder. Auch die Affinität dieser Sozialgruppe zu den Bereichen von Kunst (K) und Literatur wird mit 17 % und 13 % deutlich. Dagegen spielten Mitglieder des alten Handwerks kaum noch eine Rolle. 1885 waren nur in der Sektion für Allgemeine Naturwissenschaften (AN) ca. 13 % vertreten, doch 1908 waren nur noch zwei Teilnehmer verzeichnet, die mit 0,7 % ohne Bedeutung waren. Auch die Frauen spielten in den Fachabteilungen fast keine Rolle. Während 1885 von insgesamt 112 in Fachabteilungen organisierten Mitgliedern zwei Frauen waren, also etwa 2 %, stellten sie 1908 wiederum nur zwei Vertreter und damit 0,7 %. Das Freie Deutsche Hochstift wurde in der akademischen Leitung sowie in der Führung insgesamt vollkommen von den männlichen Mitgliedern dominiert. Dass sich das Hochstift nach 1881 immer mehr zu einem Institut für die Bildungsbedürfnisse des städtischen Publikums wandelte, verdeutlicht ein Blick auf die Herkunft der Mitglieder.294 1885 waren die Frankfurter Teilnehmer mit ca. 40 % noch in der Minderheit, doch bis 1908 war ihr Anteil bereits auf 81 % gestiegen. Gleichzeitig nahm der Anteil der Teilnehmer aus Österreich kontinuierlich
292 Vgl. Tabelle 5, ebenda, S. 382; G=Geschichte, SW=Schöne Wissenschaften, SoW=Soziale Wissenschaften, BK=Bild- und Kunstwissenschaften, AN=Allgemeine Naturwissenschaften. 293 Vgl. Tabelle 7, ebenda, S. 384; G=Geschichte, K=Kunst, N=Mathematik und Naturwissenschaften, DL=Deutsche Sprache und Literatur, AS=Alte Sprachen, NS=Neuere Sprachen, J=Jurisprudenz, V=Volkswirtschaft. 294 Vgl. Tabelle 6, ebenda, S. 383.
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ab. Betrug er 1885 nur 7 %, so näherte er sich mit 1 % im Jahr 1908 der Bedeutungslosigkeit. Die nationalen Ziele des Hochstifts, sein „alldeutscher Charakter“, seien, so hatte Otto Volger 1882 beklagt, zugunsten „engherziger Frankfurtischer Zwecke“ verschwunden.295 Für ihn sollte es weiterhin einen alle Deutschen umfassenden geistigen und sittlichen Bund darstellen. Der Blick auf die Strukturen der Mitglieder scheint Volgers Vorwurf zu bestätigen. Im Hochstift schienen die früheren nationalen Aufgaben keine Rolle mehr zu spielen. Im folgenden Kapitel sollen die Gründung und Entwicklung des Hochstifts vor dem Hintergrund der nationalstaatlichen Entwicklung Deutschlands geschildert werden, um nach den Veränderungen und Brüchen des ursprünglichen Nationskonzepts zu fragen.
295 Otto Volger, Die dermalige Nothlage, S. 19.
V. DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT UND DER DEUTSCHE NATIONALSTAAT 1. DIE GRÜNDUNG DES HOCHSTIFTS UND DIE NATIONALSTAATLICHE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS 1859–1866 Die Gründung des Hochstifts erfolgte in einer Phase der nationalen Mobilisierung, die in den Schillerfeiern von 1859 zum Ausdruck kam. Die Nationalbewegung fand in Schiller ein Symbol für die Einheit der Nation, die sich zwar als eine Kulturnation erlebte, aber noch auf eine staatliche Vollendung hoffte. Die Feiern dienten zur Selbstvergewisserung der nationalen Identität, auch gegenüber dem Ausland. In Frankfurt stellte man rückblickend fest, [n]och nie bildete ein Fest, zu Ehren und zum Gedächtnisse eines Dichters veranstaltet, einen so wichtigen Abschnitt in dem Kulturleben einer Nation, als es für uns die vaterländische Feier des hundertjährigen Geburtstags Schillers geworden ist,
relativierte aber, „daß unser Volk nach Außen noch nicht die Stellung und den Rang einnehme, der ihm vermöge seiner Größe und Tüchtigkeit gebührt“ und sprach von einer „mächtige[n] Sehnsucht nach einer festen, einheitlichen Begründung deutscher Macht nach Außen“.1 Die stärkere „Macht nach Außen“, das hatten die Ereignisse in Italien gezeigt, fehlte bisher dem Deutschen Bund, solange Staaten wie Preußen und Österreich, eigene Ziele verfolgten. Die deutsche Frage erhielt damit eine neue Aktualität für die Öffentlichkeit und die deutschen Staaten.2 Otto Volger hatte bei der Gründung des Hochstifts auf die Gefährdung Deutschlands durch die französische Politik und auf die Gefahren verwiesen, die aus dem italienischen Krieg erwuchsen und folglich verlangte er ein stärkeres nationales Einheitsbewusstsein aller Deutschen. Nationalstaatliche Entwürfe blieben aber dem Konzept des Hochstifts fremd. In vielen Bereichen, etwa der Organisation eines nationalen Bildungswesens, grenzte man sich bekanntlich von den staatlichen Strukturen ab. Das nationale Konzept des Hochstifts verkörperte keine Vorstufe, die darauf abzielte, einen souveränen bzw. zentralisierten Nationalstaat zu bilden.3 Für die Vorstellungen einer Kulturnation griff man auf Herder zurück, dessen Ideen nicht als überholt galten, sondern immer noch aktuell waren: „Wir haben Herder’s Aufgabe geerbt und ha1 2
3
Gedenk-Buch zu Friedrich von Schiller´s hundertjähriger Geburtsfeier (1860), S. IX ff. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 704–714; Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, S. 190–199; ders. Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 395– 407; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849–1914, S. 228–250. So Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 17; Ernest Gellner, Nationalismus, Kultur und Macht, S. 20.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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ben diese Erbschaft angetreten in günstigerer Zeit, als Er sie fallen ließ“.4 Bemerkenswert daran ist, dass in einer Epoche der „Realpolitik“, die deutsche Frage nur aus dem Blickwinkel der kulturellen Identität betrachtet wurde und man den Bereich der staatlichen Ausgestaltung nur nebenbei behandelte. Was im Hochstift über die zukünftige staatliche Entwicklung geäußert wurde, war eine Konsequenz des nationalen Konstrukts. In diesem waren nicht nur die kulturellen Elemente entscheidend für die Konstruktion der nationalen Identität, gleichzeitig galten die regionalen Besonderheiten als Ausdruck dieser Identität. Sollte auch das nationale Gemeinschaftsgefühl dazu beitragen, die Einflüsse des zerstörerischen Partikularismus zu bannen, so sollten dennoch die föderalen Traditionen gewahrt bleiben. Das betraf vor allem die staatliche Struktur. „Die Geschichte unseres Volkes hat unserer staatlichen Einheit die größten Schwierigkeiten bereitet“, so Volger 1859.5 Die Konsequenz, die Volger daraus zog, lautete: Schwerlich wird daher in Deutschland eine Einigung auf die Dauer möglich sein, welche das Maß des gemeinsamen Bedürfnisses zur Erhaltung der Deutschen Freiheit irgend hinaus gehen möchte.6
Ein zukünftiger deutscher Nationalstaat könne nie mehr als eine „nationale Verteidigungsgemeinschaft“ sein. Zentralistische Staatsbildungen waren Ausdruck kulturarmer Nationen, wie Volger am Beispiel Frankreich demonstrierte. Gleichzeitig begannen sich Teile des Bürgertums in Vereinen zu organisieren, die eine politische Lösung der deutschen Frage unterstützten. Der 1859 gegründete Nationalverein tendierte zu einem kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung.7 Allerdings waren auch hier Strömungen involviert, die durchaus preußenkritisch eingestellt waren und so hat die Forschung der letzten Jahre auch für seinen Konkurrenten, den großdeutsch orientierten Reformverein, festgestellt, dass in beiden einheitsreformerischen Lagern mehr die Verbesserung als die Beseitigung des Deutschen Bundes das eigentliche Deutschlandthema jener Jahre war.8
Was aber einen Großteil des politisch organisierten Bürgertums jener Jahre vom Konzept des Hochstifts trennte, war das Verlangen nach einem starken und handlungsfähigen Machtstaat. Dabei spielten selbst innerhalb des Nationalvereins Vorstellungen eine Rolle, die gar nicht so fern von Bismarcks „Eisen und Blut“Metapher waren, so dass Andreas Biefang ihnen einen „kalt berechnende[n] Zug“
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Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, S. 11. Otto Volger, Freies Deutsches Hochstift, S. 7. Ebenda, S. 12. Vgl. Shelomoh Na´am, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1867. Hellmut Seier, Liberalismus und Bürgertum in Mitteleuropa 1850–1880. Forschung und Literatur seit 1970, S. 158; vgl. Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann, S. 29 f.; zum Reformverein als Organisation vgl. Erich Zimmermann, Der Deutsche Reformverein; Willy Real, Der Deutsche Reformverein.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
attestiert.9 Ohne Frage waren Konzepte, die auf einen europäischen Krieg oder einen innerdeutschen Volkskrieg abzielten, verbreitet, aber ob sie eine „Schlüsselrolle“ spielten, darf bezweifelt werden.10 Das Nationskonzept des Hochstifts griff ebenfalls auf Feindbilder und Stereotype zurück. Dennoch distanzierte es sich unter Volgers Führung entschieden von jeder kriegerischen Initiative in der Deutschlandpolitik. Der Verdacht, dass gerade kulturelle Nationskonstrukte auf den Krieg als Mittel der Profilierung angewiesen sein könnten, wird durch das Hochstift nicht bestätigt.11 Was das Hochstift fraglos in eine Sonderrolle brachte, war die Tatsache, dass sein idealistischer Kulturnationalismus auf größere Zeiträume angelegt war als die gleichzeitigen Programme der bürgerlichen Nationalbewegung. In ihm spielte weniger der Staat als die Gesellschaft die zentrale Rolle. Doch auch von Vertretern großdeutsch-föderaler Ideen, wie sie beispielsweise Julius Fröbel äußerte, unterschied sich das Hochstift.12 Für Fröbel galt, dass „Politik nur von Staaten [...] betrieben werden kann“, denn ein „Volk als Volk, eine Nation im ethnographischen Sinne, hat mit Politik nichts zu tun“.13 Fröbels Staatsbegriff sollte dazu dienen, einen mitteleuropäischen transnationalen Staatenbund zu schaffen, um auch die nichtdeutschen Gebiete Habsburgs zu integrieren. Das sollte aus Sicht Volgers allerdings im Sinne eines „Deutschtums“ geschehen, das aus seiner Sicht den nichtdeutschen Völkern der Habsburgermonarchie kulturell überlegen war.14 Aus der Rückschau, die immer dazu neigt, die Ergebnisse als Summe einer zielgerichteten Entwicklung zu interpretieren, betrachtete auch Volger das Jahr 1859 als die entscheidende Wegmarke für die Fortentwicklung der nationalen Frage. Im Rückblick beschrieb er zwei Jahrzehnte später den Nationalverein und das Hochstift als die beiden Alternativen, vor denen die bürgerliche Nationalbewegung 1859 gestanden habe.15 Den Deutschen Reformverein erwähnte er allerdings nicht, obwohl er in dessen Kreisen durchaus mit Wertschätzung wahrge-
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Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868, S. 435. Nikolaus Buschmann, Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850–1871, S. 337. Ebenda, S. 339. Auch Jansen verortet den Antimilitarismus eher bei den Unterstützern Bismarcks, vgl. ders., Einheit, Macht und Freiheit, S. 595. Vgl. Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 414–424. Julius Fröbel, Die Forderungen der deutschen Politik, in: Lothar Gall (Hg.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes (III), Der Deutsche Bund in der nationalen Herausforderung 1859–1862 (bearbeitet von Jürgen Müller), S. 258–282, hier S. 260; zu Julius Fröbel vgl. Rainer Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel 1805–1893. So sprach beispielsweise Friedrich Engels im Hinblick auf die Tschechen und anderen slawischen Volksgruppen von „geschichtslosen Völkern“. Dazu gehörten für ihn Slowaken, Slovenen, Kroaten, Serben, Ukrainer, vgl. Roman Rosdolsky, Friedrich Engels und das Problem der „Geschichtslosen“ Völker (Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848–1849 im Lichte der „Neuen Rheinischen Zeitung), S. 87. Otto Volger, Plan zu einer Goethe-Stiftung, Blatt 5, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9039/40.
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nommen wurde. Dessen „Wochenblatt des Deutschen Reformvereins“ schätzte Volger als „durch und durch deutschen Forscher“.16 Für Volger blieb zeitlebens eine Staatsnation auf Kosten einer großdeutschen Kulturnation undenkbar. Österreich war und blieb daher ein unverzichtbarer Teil Deutschlands. Insofern repräsentierte der Deutsche Bund die großdeutsche Kulturgemeinschaft besser als jedes kleindeutsche Staatsgebilde. Volger hatte nach seinem Aufenthalt in der Schweiz darüber einmal bemerkt: Ein gefestigter Bund, eine Republik von Staaten, wie die Eidgenossenschaft, mit und ohne Fürsten in den besonderen Staaten, erscheint mir als das Wünschenswerthe.17
Dass im Rahmen des Deutschen Bundes durchaus gesamtdeutsche Initiativen möglich waren, haben neuere Darstellungen betont.18 Die Schwierigkeiten einer Bundesreform lagen vor allem in der antagonistischen Politik der Einzelstaaten begründet: Die deutschen Großmächte waren nicht willens beziehungsweise nicht in der Lage, die nationalpolitischen Defizite durch eine föderative Weiterentwicklung des Deutschen Bundes wenigstens teilweise zu beheben.19
Frankfurt war in dieser Zeit ein Zentrum der großdeutschen Bewegung.20 Neben Leopold Sonnemann zählte Nikolaus Hadermann21 (1805–1871) zu den führenden Persönlichkeiten in Frankfurt. Hadermann gab seit 1853 das Blatt „Volksfreund für das mittlere Deutschland“ heraus.22 Er zählte zu den demokratischen Großdeutschen, aber engagierte sich nicht für den konservativen Reformverein. „Wir wollen nicht schwarzweiß werden, aber auch nicht schwarzgelb“ war sein Motto.23 Auch Ludwig Büchner gehörte zu den führenden Demokraten, die für ein demokratisches Großdeutschland eintraten.24 Er unterstützte die 1868 gegründete
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Wochenblatt des Deutschen Reformvereins, Nr. 17, 24.4.1864, S. 136. Otto Volger an seine Eltern, 14.7.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Volger, HS 3401. Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, S. 301; auch für Dieter Langewiesche wird der „so lange nationalpolitisch verfemte Deutsche Bund [...] als ein außerordentlich wirksamer staatlicher Akteur im Prozeß der deutschen Nationsbildung sichtbar“, ein „staatliches Instrument der deutschen Föderativnation, allerdings ein demokratieunwilliges Instrument“, ders., Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Versuche einer nationalgeschichtlichen Neubewertung in welthistorischer Perspektive, S. 231. Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, S. 319. Vgl. Nicholas Martin Hope, The Alternative to German Unification, The Anti-Prussian Party, Frankfurt, Nassau, and the two Hessen 1859–1867, S. 20–54. Das Hochstift und Otto Volger finden aber keine Erwähnung bei Hope. Vgl. Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurter Biographie, Bd. 1, S. 292–293; Nicholas Martin Hope, The Alternative, S. 225–229; Ralf Roth, Liberalismus in Frankfurt am Main 1814– 1914. Probleme seiner Strukturgeschichte, S. 53–54. Vgl. Mathias Friedel, Politische Presse und Parlamentarismus in Hessen (1849–1868), S. 146–151. Zit. nach Mathias Friedel, Politische Presse, S. 210. Vgl. Nicholas Martin Hope, The Alternative, S. 263–267.
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„Deutsche Volkspartei“25 und hatte in Darmstadt 1863 einen Arbeiterbildungsverein gegründet.26 Ziel der Volkspartei war es, dass die föderative Verbindung Deutschlands, nicht durch die Machtentfaltungen der Fürsten, nicht durch die Künste der Staatsmänner, sondern nur durch die Freiheit und Selbstbestimmung der einzelnen Bundesglieder verwirklicht werden kann.27
Otto Volger sympathisierte mit diesen Ideen. Als er 1868 in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde, schloss er sich der Gruppe um Nikolaus Hadermann an. Das erklärt auch Volgers zunehmende Abneigung gegenüber Leopold Sonnemann, den auch Hadermann bekämpfte.28 Im Hochstift waren tagespolitische Erörterungen untersagt. Aber aufgrund seiner großdeutschen Nationsidee stand es auf der Seite des Deutschen Bundes und Österreichs. Über das Verhältnis des Hochstifts zum Deutschen Bund hatte Volger einst formuliert: Das ist die Schöpfung (das FDH, Anm. S.M.) durch welche der Deutsche Fürsten= und Staatenbund noch heute sich schmücken und krönen muß, wenn anders Derselbe ein wirkliches Leben in Sich tragen und als eine wahre wirksame Körperschaft zur Aufrechterhaltung Deutscher Freiheiten, Sitten und Gesetze für Fürsten und Völker dastehen soll.29
Das Hochstift solle „einen Bundestag des deutschen Geistes“ begründen.30 Deshalb war Volger sogar bemüht, mit dem Bundestag in Frankfurt in ein näheres Verhältnis zu treten. Nachdem das Hochstift 1863 das Goethehaus erworben hatte, sollte dieses als „Nationalheiligtum“ verwaltet werden. Man trug daher allen Bundestagsgesandten die Ehrenmitgliedschaft bzw. Pflegschaft über das Goethehaus an. Volger erhoffte sich davon eine zusätzliche Legitimation und rechnete mit finanzieller Unterstützung, um die auf dem Haus lastenden Kredite schneller
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Ebenda, S. 267–280. Büchner und Hadermann hofften auf eine Integration der Arbeiterbewegung in die großdeutsche, demokratische Bewegung. Zu Büchners sozialen Vorstellungen vgl. Samuel Lee, Der bürgerliche Sozialismus von Ludwig Büchner, S. 231–243. Die deutsche Volkspartei, ihre Entstehung, ihr Streben und ihre Ziele (1869), S. 4. Hadermann sympathisierte mit Lasalle, den Sonnemann entschieden bekämpfte und er war für seine judenfeindlichen Äußerungen bekannt. 1864 ging eine tätliche Auseinandersetzung beider Kontrahenten durch die süddeutsche Presse: „Heute früh fand, nach dem Schluß der Verhandlungen des Zuchtpolizeigerichts, an der Gerichtsthür auf dem großen Kornmarkt eine Prügelei statt. Die kämpfenden Parteien waren einerseits der Redakteur des ,Volksfreund‘, Hr. Nikolaus Hadermann und andererseits Hr. Leopold Sonnemann (Eigenthümer der N. Frankfurter Ztg.). Da der Zweikampf zu einem blutigen Ausgang führte, so war der einschreitende Schutzmann genöthigt die kämpfenden Partheien der Polizei zuzuführen, welche die Sache vor den Untersuchungsrichter verwies.“ Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 92, 1.4. 1864, S. 1492. Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, S. 10. Diese Bezeichnung verweist darauf, dass der Deutsche Bund kein „kultureller Identitätsraum für die Bevölkerung wurde“, so Dieter Langewiesche, Föderative Nation, kulturelle Identität und politische Ordnung. (Rück-)Blick aus dem 19. Jahrhundert, S. 77. Das Hochstift wollte in diesem Sinne erste Ansätze schaffen.
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abzutragen. Bis zur Auflösung des Deutschen Bundes im Jahr 1866 konnte man aber acht Gesandte werben. Während des Fürstentages 1863 besuchte der österreichische Kaiser auf Einladung Volgers das Goethehaus.31 Aber auch der preußische König, der dem Fürstentag ferngeblieben war, besichtigte später die Dichterstätte. Der Obmann nutzte diese Gelegenheit, um die Monarchen über die Ziele und Aufgaben des Hochstifts zu informieren. Kaiser Franz Joseph, der preußische König, König Georg V. von Hannover und andere regierende Herrscher, die dem Hochstift zum Erhalt des Goethehauses Geldbeträge stifteten, wurden zu „Hohen Beschützern“ ernannt. Der Empfang des österreichischen Kaisers war gleichzeitig auch Ausdruck der Verbundenheit des Hochstifts mit Österreich. Gleich nach dessen Gründung hatte sich Volger um Kontakte bemüht. Noch im selben Jahr wurde Adolf Kolatschek zum Ehrenmitglied ernannt. Kolatschek trat mit seiner in Wien erscheinenden Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ für einen großdeutschen Nationalstaat ein. Er sorgte 1860 mit seiner Zeitschrift für einen öffentlichen Eklat, weil er Carl Vogt und Ludwig Bamberger, die alle enge Weggefährten Kolatscheks gewesen waren, vorwarf, im Dienste Frankreichs zu stehen und deshalb in der italienischen Frage einen gegen Österreich gerichteten „großpreußisch-unitarischen Nationalismus“ vertreten zu haben.32 Volger und Kolatschek waren sich einig, dass die Völker der österreichischen Monarchie, beispielsweise die Tschechen und Ungarn, zu Deutschland gehörten. Für Volger waren es durch die deutsche Kultur geprägte Völker und Kolatschek forderte im Hinblick auf Österreich und seine Länder, die Balance zwischen dem Staats- und dem Nationalitätsprinzip zu erhalten: Wir haben uns zu sagen, daß die Natur der Verhältnisse manchmal geradezu auf eine staatliche Verbindung zwischen Ungleichartigen drängt. Für Deutschland aber ist es von der höchsten Wichtigkeit, daß sich seine Volksparteien nicht durch eine Pricipienreiterei dazu bringen lassen, den Besitz von Provinzen wie Böhmen und die illyrische Halbinsel klein achten zu wollen, die uns militärisch und handelspolitisch unbedingt unentbehrlich sind, davon zu schweigen, daß sie seit alten Zeiten mit unserem nationalen Gebiete in engster Verbindung stehen.33
Aber nicht alle Mitglieder des Hochstifts teilten die großdeutschen Vorstellungen, die Volger als Obmann vehement vertrat. Am 17. Juli 1864 hielt Albert Wittstock, Lehrer an der Handelsschule in Offenbach, einen Vortrag über die „Deutsche Nationalerziehung“, der in den Berichten abgedruckt wurde.34 Wittstock entwickelte darin Gedanken über die Aufgaben einer nationalen Erziehung in den Schulen. Die Nation definierte er als eine „von Gott geordnete 31
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Willy Real suggeriert, dass dieser Besuch im Sinne des Reformvereins erfolgt sei. Zu einer näheren Verbindung des Hochstifts zum Reformverein ist es indessen nie gekommen. Willy Real, Der Deutsche Reformverein, S. 15. Christian Jansen, Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brieflichen Kommunikation unter den emigrierten Achtundvierzigern – unter besonderer Berücksichtigung der Kontroverse zwischen Marx und Vogt, S. 76. Adolf Kolatschek, Staat und Nationalität, in: Stimmen der Zeit (I), 2. Bd., S. 187. Ber. FDH 1864, S. 127–132.
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Lebensform einer durch gleiche Abstammung und gemeinsame Sprache verbundene Menschenmasse, die Einheit derselben das gemeinsame Ziel, nach welchem die Nation als ein ganzes strebt“.35 Als charakteristisch für die deutsche Nation nannte er Eigenschaften, wie Mut, Intelligenz, Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit und „deutsche Treue“. Das entsprach den Zuschreibungen, die ihr auch Volger beilegte. Für Wittstock aber galt der Reformator Martin Luther als idealtypische Verkörperung dieser Attribute. Infolgedessen erschien ihm die Reformation als wichtigste Begebenheit der deutschen Geschichte, denn in „keiner Geschichtsperiode hat sich das Wesen und der Kern des germanischen Geistes deutlicher enthüllt als durch die Reformation“.36 Damit vertrat Wittstock eindeutig einen protestantisch eingefärbten, konfessionellen Nationalismus, der zudem den deutschen Katholiken den Vorwurf machte, die „kühnste und größte That des germanischen Geistes“ nicht erkannt zu haben. Den Katholiken wies Wittstock die Verantwortung für die nationale Spaltung zu, denn nur „durch die Einheit in protestantischer Gesinnung wäre die nationale Einheit kein Traum geblieben, sondern Wahrheit, beglückende Realität geworden“.37 Der deutsche Katholik sei ein unzuverlässiger Mitbürger, weil der „Centralpunkt, nach welchem er gravitirt, außerhalb des Vaterlandes, in Rom“ sei.38 Wittstocks Einschätzung war in der liberal-protestantisch geprägten Nationalbewegung verbreitet, die Katholiken „gerieten in eine Außenseiterposition, in der Ausgrenzung und Selbstausgrenzung zusammenliefen“.39 Unter den deutschen Katholiken wurde seit den Beratungen über die Verfassung der Nationalversammlung 1848/49 die Auffassung vertreten, „Österreich und das übrige Deutschland möglichst ,eng‘ miteinander zu verbinden“.40 Obwohl tagespolitische und konfessionelle Erörterungen aus dem Hochstift ausgeschlossen sein sollten, ist es bemerkenswert, dass Wittstock seine Vorstellungen ungehindert ausführen konnte. Obwohl sich das Hochstift programmatisch einer großdeutschen Kulturnation verpflichtet hatte, konnten auch andere Anschauungen geäußert werden. Es fanden sich keine Hinweise, dass der Vortrag Protest erregt oder zu Diskussionen geführt hat. Als aber im Frühjahr 1866 schließlich die Gefahr eines Deutschen Krieges immer größer wurde, da bezog das Hochstift eindeutig Stellung für die großdeutsche Nation und den Erhalt des Deutschen Bundes. Dazu nutzte man den bereits erwähnten öffentlichen Aufruf zur „Nordfahrt“. Der im April 1866 veröffentlichte Spendenaufruf kam auf die drohende Kriegsgefahr zu sprechen: Sollen wir es glauben, dass Deutsche Regierungen sich dermalen, wie uns die Zeitungen berichten, mit Kriegsplänen und Rüstungen beschäftigen, um Deutsche gegen Deutsche zu Fel35 36 37 38 39 40
Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 129. Ebenda. Ebenda. Dieter Langewiesche, Reich, Nation, Staat, S. 368. Phil-young Kim, Ein deutsches Reich auf katholischem Fundament. Einstellungen zur deutschen Nation in der strengkatholischen Presse 1848–1850, S. 85; vgl. Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 128 ff.
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de zu führen? – Deutsche Männer und Frauen! Das Deutsche Volk will von solchem Kriege Nichts wissen. Wo man das Recht nicht bricht, da ist kein Grund zum Kriege, wir werden Frieden behalten.41
Mit diesem Appell beschwor die Verwaltung noch einmal die Einheit aller Deutschen. Weder nahm man direkt für Preußen oder Österreich Partei, aber Volger war klar, dass ein militärischer Konflikt zwischen den Großmächten den Deutschen Bund zerstören würde. Diese Haltung entsprach durchaus der Meinung des größten Teils der deutschen Öffentlichkeit, in der jener Krieg nicht nur „ausgesprochen unpopulär“ war, sondern als „unerträglich empfunden“ wurde und als „Tragödie“ galt.42 Auch in der Frankfurter Presse wurde die Gefahr eines Krieges intensiv debattiert. Das Frankfurter Journal schrieb am 29. März 1866: Seit sieben Jahren reden wir unausgesetzt von der deutschen Einheit und sind damit glücklich so weit gekommen, dass wir jetzt allen Ernstes die kleine Nebenfrage erörtern, ob wir wohl im Laufe dieses Frühjahrs einen Bruderkrieg in Deutschland zu gewärtigen haben und wie wir uns wohl dazu stellen sollen.43
Im Verlauf des Artikels kommt der Autor schließlich zu der Einschätzung, die man auch im Hochstift geteilt hätte: Das ist aber gerade des Trostlose, dass unsere siebenjährige, einheitliche Bewegung es nicht vermocht hat, diesen eifersüchtigen Gegensatz in der Anschauung der preußischen und österreichischen Volkskreise in ein deutsches Gesamtgefühl aufzulösen.44
Es ist gewiss richtig, den folgenden Krieg nicht als das Resultat einer notwendigen Entwicklung zu begreifen, die sich zwangsläufig aus dem preußischösterreichischen Dualismus ergab und nur eine Alternative bot.45 Denn neben den Sympathien in der Öffentlichkeit für beide Lager wurde vielfältige Kritik an beiden Staaten geübt und die liberale Presse Frankfurts fürchtete genauso einen Sieg
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Aufruf des Freien Deutschen Hochstiftes an die Deutsche Nation, in: Mitheilungen aus Justus Perthes´ Geographischer Anstalt (1866), S. 148. Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, S. 135. Auch wenn es nach der Wahlniederlage der Liberalen in Preußen am 3. Juli 1866 und im Zuge der unerwarteten militärischen Erfolge in Preußen zu einem verstärkten Patriotismus kam, urteilt Becker: „Die Polarisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit in Großdeutsche und Kleindeutsche, in Gegner und Freunde Österreichs und des Deutschen Bundes oder Preußens ist [...] nicht auf Staatsgebiete abbildbar“; wobei eindeutig im „nicht-preußischen Deutschland“ die Meinung vorherrschte, dass „die Kriegsschuld bei Bismarck liege“, ebenda, S. 141. Nach Buschmann erfolgte die Legitimation des „Bruderkrieges“ durch den Bezug auf einen „äußeren Feind“, ders., Einkreisung, S. 270 ff. Frankfurter Journal, 29.3.1866, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866. Eine Dokumentation aus deutschen Zeitungen, S. 20 ff. Ebenda, S. 21 ff. Dazu relativierend Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, S. 268; Nipperdey dagegen hält an der Unausweichlichkeit der Ereignisse fest, ders., Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 792; Eberhard Kolb betont die Offenheit der Situation, vgl. ders., Die kleindeutsche Reichsgründung. Bismarcks Konzeptionen und Strategien zur Lösung der nationalen Frage.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
des preußischen „Junkerregiments“ wie die nationale Enttäuschung nach einem Sieg Österreichs.46 Frankfurt stand in den machtpolitischen Auseinandersetzungen im Zentrum der Ereignisse. Bereits 1863 hatte die Stadt den Fürstenkongress erlebt, der auf Initiative Österreichs einberufen worden war, um über dessen Bundesreformpläne zu diskutieren. Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich erhielt neue Nahrung durch die Frage, wie man mit den 1864 eroberten Herzogtümern Schleswig und Holstein verfahren sollte. Beide Staaten konkurrierten in der Öffentlichkeit mit Reformplänen für die Weiterentwicklung des Deutschen Bundes, wobei Bismarck besonders die deutsche Nationalbewegung umwarb, indem er Kernpunkte der Verfassung von 1849 aufgriff, um mit dem Vorschlag eines direkt gewählten Parlaments Österreich in die Defensive zu zwingen.47 Im Februar 1866 war im preußischen Kabinett zumindest der Krieg als Möglichkeit ins Auge gefasst worden.48 Preußen, das 1862 das Königreich Italien anerkannt hatte, schloss mit ihm im März 1866 einen Bündnisvertrag, der gegen Österreich gerichtet war. Im April übergab man dem Bundestag in Frankfurt den Vorschlag zu einer Bundesreform, der eine gesamtdeutsche Vertretung beinhaltete. Aufgrund der Neutralität Frankreichs, das dafür territoriale Entschädigungen erwartete und auf einen langen und zermürbenden innerdeutschen Krieg spekulierte, konnte Bismarck den Konflikt vorantreiben und Preußen marschierte in Holstein ein, das von Österreich verwaltet wurde. Österreich beantragte die Bundesexekution gegen Preußen und das Bundesheer wurde mobilisiert. In einem Ultimatum forderte Preußen die norddeutschen Staaten zu einem Bündnis auf und erklärte den Deutschen Bund für aufgelöst. Während die meisten süddeutschen Staaten auf der Seite Österreichs standen, schlossen sich die norddeutschen Staaten, mit Ausnahme des Königreichs Hannover, Preußen an. Frankfurt hatte sich im Bundestag Österreich angeschlossen, aber darauf beharrt, eine offene Stadt zu bleiben. Nicht alle Frankfurter waren 1866 preußenfeindlich, auch wenn die preußische Agitation dies nach der Besetzung der Stadt als Begründung für die harten Maßnahmen anführte.49 Fraglos war aber die Sym-
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Frankfurter Journal, 29.3.1866, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866, S. 22. Zu den allgemeinen Ereignissen vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1800–1866, S. 768–790; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 280–301; Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, S. 268–279. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 778, während Nipperdey, wie ein Großteil der Forschung, von einer endgültigen Entscheidung der preußischen Regierung zum Krieg ausgeht, hält Eberhard Kolb dagegen, dass es nur ein Beschluss gewesen sei, um die „baldige Herbeiführung der Entscheidung über Krieg oder Frieden“ zu gewinnen, ohne jedoch, dass Bismarck damit auf alle Verhandlungslösungen verzichtet habe, vgl. ders., Die kleindeutsche Reichsgründung, S. 54; ders., Großpreußen oder Kleindeutschland? Zu Bismarcks deutscher Politik im Reichsgründungsjahrzehnt, S. 27. Wolfgang Klötzer, Frankfurt am Main von der Französischen Revolution bis zur preußischen Okkupation 1789–1866, S. 342, Klötzer schreibt, „die Stadt war reif in einem ,größeren Ganzem‘ aufzugehen“, S. 343; Karl Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 15.
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pathie für Österreich in Frankfurt, die oft nur ein Ausdruck des Misstrauens gegen Preußen war, weit verbreitet, für das auch die „Drohnoten-Affäre“ gesorgt hatte.50 Für das Hochstift, das vor einem „Bruderkrieg“ eindrücklich gewarnt hatte, bedeuteten die Ereignisse einen schweren Rückschlag in den Bemühungen, das nationale Einheitsstreben zu fördern. Den weiteren Geschehnissen konnte man nur tatenlos zuschauen. Zudem verlangte der Krieg praktische Leistungen, denn man musste sich auf mögliche Einquartierungen vorbereiten, nachdem die „Einquartierungskommission der Bundesversammlung“ einen Aufruf an die Frankfurter Bevölkerung erlassen hatte, um den „Verteidigern der Bundessache“ Unterkünfte bereitzustellen.51 Die Verwaltung des Hochstifts stellte sich auf die Umstände ein und da nur die mildtätigen Stiftungen von Einquartierungen ausgenommen waren, musste man ein Zimmer im Parterre des Goethehauses für Truppenbelegungen zur Verfügung stellen.52 Dennoch sympathisierte man mit den Bundestruppen. Die Verwaltung ließ in der Stadt Plakate anschlagen, die ankündigten, allen Offizieren der Bundesarmee den kostenlosen Besuch des Goethehauses zu gestatten.53 Während sich das Hochstift abwartend verhielt, griff Otto Volger aktiv in die Geschehnisse des Krieges ein. Dieser folgenschwere „private“ Ausflug des Obmanns in die militärischen Ereignisse führte später zu einem Nachspiel, das nicht nur Volger, sondern auch das Hochstift belastete. 2. OTTO VOLGER UND DAS JAHR 1866 Volgers Teilnahme an den Kriegsereignissen des Jahres 1866 galt lange Zeit als eine zufällige Begebenheit, deren wahre Hintergründe unbekannt blieben. Aufgrund der späteren Besetzung Frankfurts durch Preußen hat Volger die Begebenheiten nachträglich umgedeutet. Diese entstellte Version wurde in der Familie überliefert und auch von Fritz Adler verbreitet.54 Teile des persönlichen Nachlasses von Volger, die Ende der 1970er Jahre an das Hochstift kamen, ermöglichen nun, die Ereignisse und Motive Volgers aufzuklären. Im Nachlass fand sich ein handschriftlicher Bericht Volgers, der über einen Teil seiner Aktivitäten Aufklärung leistet. Er beendet die Legende, dass sich Volger im Sommer 1866 „auf einer geologischen Wanderung durch Thüringen befunden“ habe und zufällig in das Hauptquartier der Hannoveraner Armee bei Langensalza geriet.55 Die Vorgänge sind insofern von Bedeutung, da 1867 eine Ermittlung der preußischen Behörden gegen Volger stattfand, die mit dieser Begebenheit in Zusammenhang stand.
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Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation, S. 142; vgl. Ralf Roth, Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft, S. 447–465. Frankfurter Journal, 23.6.1866, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866, S. 75 ff. Prot. VS, 22.6.1866. Ebenda. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 68. Ebenda, S. 69.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
Aus Volgers Bericht geht zweifelsfrei hervor, dass er die Absicht hatte, Nachrichten zwischen Frankfurt und den im Norden Thüringens kämpfenden bundestreuen Truppen Hannovers zu vermitteln. Das Ziel seiner Mission war es, die Vereinigung der hannoverschen Armee mit den bayerischen Truppen im Süden zu unterstützen. Bevor im Einzelnen darauf eingegangen werden soll, müssen noch einmal kurz die Vorfälle geschildert werden, die sich nach den Bundestagbeschlüssen Anfang Juni 1866 ereigneten. Nach dem Einmarsch seiner Truppen in Holstein legte Preußen einen Bundesreformplan vor, der unter Ausschluss Österreichs ein gesamtdeutsches Parlament garantierte. Am 14. Juni nahm der Bundestag den österreichischen Antrag zur Mobilisierung des Bundesheeres an, dem auch das Königreich Hannover zustimmte. Preußen erklärte daraufhin die Existenz des Bundes für erloschen. Die preußischen Ultimaten an Sachsen, Kurhessen und Hannover wurden zurückgewiesen und als Preußen militärisch gegen jene Staaten vorging, wurde am 16. Juni die Bundesexekution gegen Preußen beschlossen. Frankfurt stimmte im Bundestag für die Bundesexekution gegen Preußen und für den Antrag Bayerns, die Bundestruppen zu mobilisieren. Militärisch konnte die Stadt keine nennenswerte Hilfe leisten; das städtische Linienbataillon verblieb vor Ort. Frankfurt gehörte nicht zu den Adressaten der preußischen Ultimaten und galt in Preußen zunächst noch als eine neutrale Stadt.56 Schwemer hat in seiner Geschichte Frankfurts geschrieben, dass die mehrheitlich „modern orientierte Frankfurter Bürgerschaft“ ohne Frage einen kleindeutschen Nationalstaat bevorzugte, eine Einschätzung, der sich auch Kropat anschloss, der besonders die Modernisierungseffekte nach der Eingliederung der Stadt betonte.57 Die zeitgenössischen Berichte über die Ereignisse im Juni 1866 sprechen aber eine andere Sprache. Große Teile der Bewohner sympathisierten mit Österreich und den Bundestruppen. So schrieb am 14. Juni das „Frankfurter Tagblatt“ über den Auszug der österreichischen und preußischen Truppen aus der Stadt: Selbst der größte Preußenfreund wird nicht leugnen können, dass der Abschied der österreichischen Truppen von Frankfurt ein äußerst herzlicher und warmer war, um so wärmer, wenn er denselben mit dem kühlen – um nicht zu sagen unfreundlichen – vergleicht, welchen morgens die preußischen Truppen nahmen.58
Bereits am 13. Juni hatte das „Frankfurter Journal“ über den Abmarsch der Österreicher berichtet: Tausende zogen unter dem Ruf: Sieg den österreichischen Waffen! Hoch Österreich! den Truppen voran, Tausende folgten unter demselben Ruf.59
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Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 22. Richard Schwemer, Geschichte der Freien Stadt Frankfurt a. M., Bd. 3, S. 366; Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 16. Frankfurter Tagblatt, 14.6.1886, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866, S. 51. Ebenda, S. 48.
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Während sich in Süddeutschland die Bundestruppen formierten, begannen preußische Truppen, das Königreich Hannover und Kurhessen zu besetzen. Damit waren die norddeutschen Verbündeten abgeschnitten. In Frankfurt waren keine verlässlichen Informationen über die Vorgänge im Norden verfügbar und selbst die Anhänger der Bundessache in Frankfurt zeigten sich besorgt, wie die Armee Hannovers unter der Führung des blinden Königs Georg V. den Preußen widerstehen sollte: Das Schicksal der braven Hannover´schen Armee macht mir große Sorge. Unbestimmte Gerüchte schwirren durch die Luft; bald soll sie östlich von Göttingen, bald westlich gezogen sein. Der Führung eines blinden Königs überliefert, ist diesen Truppen das bedenklichste Prognostikon zu stellen.60
In dieser Situation beschloss Volger, zu handeln und aktiv in das militärischpolitische Geschehen einzugreifen. Wie das Protokoll der Verwaltungssitzung vom 22. Juni beweist, befand er sich in Frankfurt und nicht auf einer geologischen Exkursion. Bestürzt zeigte er sich über das Schicksal, das der „treulos überfallene König“ in Hannover durch den preußischen Angriff erlitt.61 Volger, der ja in der Revolution von 1848 immerhin wegen Majestätsbeleidigung angeklagt worden war und schließlich Göttingen verlassen hatte, bemühte sich schon seit 1863 um die Gunst Georgs V., der 1851 seinem Vater Ernst August I. gefolgt war. Georg V., der wie sein Vater einen monarchischen Absolutismus vertrat, hatte sich nicht als liberale Alternative erwiesen und 1855 die Verfassung aufgehoben. Der König gehörte allerdings zu den „Großspendern“ für den Erhalt des Goethehauses und wurde zum „Hohen Beschützer“ des Hochstifts ernannt. 62 Angesichts der Gefahr zeigte sich Volger 1866 bereit, alles, „was ich gegen das Königthum in den Zeiten seines Übermuthes einzuwenden hatte und noch hätte“, zu unterdrücken.63 Er „hasse und verachte den Friedenstörer“ Preußen und sei nun ein ewiger Feind der schwarz-weißen Fahne.64 Nachdem keine verlässlichen Nachrichten aus Hannover nach Frankfurt gelangt waren, man hier gar nichts von der Hannoverschen Armee wisse, weder ob noch etwas gerettet oder zu retten sei, noch wo dieselbe sei, noch wohin Hilfe gerichtet werden könne,
entschied sich Volger, zu einer Erkundungsmission in den Norden aufzubrechen. Daraufhin entschloß sich der Schreiber dieser Zeilen, gestützt auf seine in vielen bergmännischen Wanderungen erworbene Kunde des Deutschen Vaterlandes und auf eine jeglicher Zumuthung gewachsene Kraft des Willens und des Körpers, seinen schwergeprüften König und
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Carl Olivier von Beaulieu-Marconnay, Tagebuch-Blätter aus dem Jahre 1866, S. 31. Otto Volger, Aus den letzten Tagen der Hannoverschen Armee. Von einem nicht militärischen Augenzeugen, handschriftliches Manuskript, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Blatt 2. Ber. FDH 1864, S. 19; Prot. VS, 26.4.1863. Otto Volger an seine Eltern, 14.7.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 3401. Ebenda.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat sein Heer aufzusuchen, um Denselben Nachricht von den Stellungen der Freunde und Feinde und wo möglich noch rechtzeitig Hilfe zu bringen.65
Er war also nicht zufällig in die militärischen Ereignisse des Jahres 1866 verwickelt worden, sondern er ergriff die Initiative, um als Kundschafter Informationen zu erlangen und Nachrichten zu vermitteln. Ob er diese Mission in höherem Auftrag übernahm, ist nicht eindeutig zu beantworten, aber als er am 23. Juni Frankfurt Richtung Hanau verließ, wurde ihm der dort befindliche Generalleutnant von Lohrberg als Ansprechpartner empfohlen. Volger kooperierte zumindest mit den Militärs der Bundestruppen und unternahm seine Mission nicht nur als Privatperson. Seine Tochter Agnes Volger verfasste nach seinem Tod einen kurzen Lebensabriss. Sie war allerdings entgegen der Familienüberlieferung bestens über die Hintergründe unterrichtet, denn sie geht auch auf die Ereignisse des Jahres 1866 ein und spricht davon, dass er aus dem Umkreis des hannoverischen Militärbevollmächtigten Christian Friedrich Schultz66 beauftragt worden sei.67 Von Volger existieren aber keine Informationen über ein solches Verlangen. Unabhängig davon speiste sich diese Unternehmung auch aus dem starken persönlichen Antrieb Volgers. Erstens war er empört über das militärische Vorgehen Preußens gegen das Königreich Hannover, das er immer noch als seine Heimat betrachtete. Die Verbindung nach Lüneburg, wo seine Eltern lebten, blieb immer erhalten und nach der preußischen Annexion Frankfurts übersiedelte Volger sogar für längere Zeit in die Stadt. Zweitens war Volger von der Rechtmäßigkeit der bundestreuen Staaten überzeugt. Sie beruhte auf der Grundlage des Bundesrechts und zielte darauf, den Deutschen Bund zu erhalten. Drittens wurde Volger von einem „welfischen Patriotismus“ angetrieben, der darauf abzielte, die Taten der Hannoveraner bekannt zu machen, um die Vorurteile gegen die Führung durch einen blinden König zu widerlegen, der selbst nach Meinung wohlwollender Zeitgenossen eine Gefahr darstellte: Was man in größeren Verhältnissen, in der Regierung eines Landes nicht hat zugeben wollen, wird jetzt in kleineren, mehr auf einen Brennpunkt zusammenschießenden Zuständen, in der Heerführung, sich als evidente Thatsache darstellen: daß ein Blinder unter Curatel gestellt werden muß, und unfähig ist, selbstständig zu entscheiden. In der ganzen Welt wäre ein Blinder eo ispo unfähig zum Regiment erachtet; in Deutschland hat man sich nicht die geringste Bemerkung in aller Untertänigkeit erlaubt. Wir haben denn auch Unsinn genug in Hannover zu beobachten gehabt.68
Diese Vorbehalte gegenüber dem militärischen Beitrag Hannovers wollte Volger mit seinen Erkundigungen korrigieren. Er schrieb daher von der „heldenmüthigen Hannoverschen Armee“, die trotz der „geringschätzigen und erbärmlichen Schil65 66 67 68
Otto Volger, Aus den letzten Tagen der Hannoverschen Armee, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Bl. 4. Bernd Philipp Schröder, Die Militärbevollmächtigten der Bundesmilitärkommission, S. 319. Agnes Volger, Lebensabriß Dr. Otto Volgers, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Bl. 4, o. S. Carl Olivier von Beaulieu-Marconnay, Tagebuch-Blätter aus dem Jahre 1866, S. 31.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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derungen“ in „bester Ordnung“ von ihm vorgefunden wurde und über deren taktische Leistung der König Volger gegenüber geäußert haben soll, „[s]o etwas ist noch nie da gewesen!“.69 Als Zivilist setzte sich Volger einem hohen persönlichen Risiko aus und entging mehrmals knapp einer Verhaftung wegen Spionage. Seine Bekanntheit in Frankfurt half ihm allerdings in schwierigen Situationen, da er auf preußische Offiziere traf, „deren mehrere mir in bundestäglichen Gesellschaftskreisen bekannt geworden waren“ und „[f]reilich kannte man mich nur als Frankfurter, nicht als treuen Hannoveraner“.70 Allerdings geriet er in den thüringischen Dörfern durch seine Frankfurter Herkunft in Gefahr, weil „einige Tollköpfe mich als Frankfurter büßen lassen [wollten] für die beim Abzuge der Bundestruppen bewiesene Preußenfeindschaft“.71 Mitten durch die preußischen Linien hindurch gelangte Volger am Abend des 26. Juni zu den Vorposten der Hannoverschen Armee. Am folgenden Tag fand die Schlacht bei Langensalza statt. Das Gefecht wurde zwar von den Hannoveranern gewonnen, änderte aber nichts an ihrer ausweglosen Situation. Am frühen Morgen des 27. Juni gewährte König Georg V. Volger eine Audienz. Dieses Treffen hat Volger später nicht geleugnet. Aber er erklärte es als eine zufällige Verwicklung in die Kriegsereignisse, die ihn bei einer geologischen Wanderung in Thüringen überrascht hätten. Auch verdient es dem Gedächtnisse aufbewahrt zu werden, dass noch auf dem Felde von Langesalza in der Stunde des Beginns der traurigen Schlacht der König mit lebhafter Theilnahme dieser Beziehungen gedenken mochte und dem als Hannoveraner in der Stunde der Gefahr zu seinem Könige geeilten Obmanne des F.D.H. selber aus sicherer Ueberlieferung aufklärende Einzelheiten mittheilte.72
Dass der König und Volger kurz vor einer entscheidenden militärischen Entscheidung beiläufig „Goetheana“ austauschten, bezweifelte allerdings schon Adler.73 Durch die Verlegung preußischer Truppen mithilfe der Eisenbahn waren die Hannoveraner trotz ihres Sieges am 27. Juni in einer ausweglosen Lage und konnten aus ihrer Umzingelung nicht mehr ausbrechen, Proviant und Munition gingen zur Neige. Georg V. kapitulierte am 29. Juni. Noch vor der eigentlichen Schlacht verließ Volger das Hauptquartier, um nach Bayern zu gelangen. Agnes Volger berichtete, ihr Vater „ward am Tage der Schlacht selber vom Könige mit Botschaft ins bayerische Lager“ gesendet,74 seinen Eltern schrieb er später, dass er trotz des Verlustes seines ganzen Gepäcks am 28. Juni Schweinfurt erreicht, dort
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Otto Volger, Aus den letzten Tagen der Hannoverschen Armee, Bl. 2 u. Bl 15. Ebenda, Bl. 9 ff. Ebenda, Bl. 15. Ber. FDH 1880, S. 58. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 69. Agnes Volger, Lebensabriß Dr. Otto Volgers, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, o. S., Bl. 4.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
seine Aufträge ausgeführt und auch den Bundestagsgesandten Hannovers gesprochen habe.75 In den später veröffentlichten Akten des österreichischen Generalstabs findet sich ein Telegramm eines „Doctor Volger“ aus Frankfurt vom 28. Juni an den österreichischen Kaiser.76 Hierbei kann es sich nur um Otto Volger handeln. Darin berichtete Volger von der Schlacht bei Langensalza, bei der die „ungebeugte[n] hannover´sche[n] Armee [...] den übermächtigen Preussen“ eine „[f]urchtbare Niederlage“ beibrachte. Volger sei vom König Georg V. beauftragt, „um schleunige Cooperation der Bayern“ zu bitten. Er gibt weiter an, dass er das Schlachtfeld am Morgen des 27. Juni verließ und in Gotha vom Ausgang der Bataille erfuhr, und fügt an, dass die preußische Armee in „größter Bestürzung“ sei. Zu welcher Einschätzung über die Kriegsereignisse kam Volger? Zunächst einmal schildert er die hohe Kampfmoral der Hannoveraner und auch der kurhessischen Truppen, die nach der Besetzung Kassels nach Süden auswichen. Auch vermittelt sein Bericht anschaulich die chaotischen Zustände in Nordhessen. Nirgends waren verlässliche Informationen zu erhalten und die preußische Propaganda verbreitete gezielt Gerüchte, „um jeden Gedanken an Widerstand von vornherein zu entmuthigen“.77 Aber Volger übte auch Kritik an den Bundestruppen und deren Führung, die in Unentschlossenheit verharrten, statt sich nach Norden in Marsch zu setzen. Aus Gesprächen mit preußischen Offizieren erfuhr er von deren Unbehagen, gegen Deutsche kämpfen zu müssen und er habe sich dabei für einen freien Durchzug der Hannoveraner nach Süden eingesetzt.78 Der Plan Georgs V., sich mit seiner gesamten Armee nach Süddeutschland durchzuschlagen, scheiterte nach Volgers Meinung nicht nur an der Unentschlossenheit der Verbündeten, sondern war auch ein Ergebnis der preußischen Wortbrüchigkeit. Bismarck und der Herzog von Sachsen Coburg-Gotha hätten während der Kampagne fingierte Verhandlungen mit Georg V. geführt, um den Weitermarsch der Armee zu verzögern, bis diese von genügend preußischen Truppen umstellt war. Besonders den Ehrgeiz des Herzogs Ernst II. von Sachsen Coburg-Gotha machte Volger für das Gefecht bei Langensalza verantwortlich, da die ersten Kampfhandlungen durch seine Truppen, die unter preußischer Fahne marschierten, eröffnet worden waren.79 Preußen habe, so Volger, den Krieg seit Jahren geplant und dafür nicht einmal vor einer öffentlichen „Buhlerei mit Demokratie und Revolution“ zurückgeschreckt.80 Das preußische Bündnis mit Italien bewertete er als Hochverrat an der deutschen Sache. Ob Volger beabsichtigte, seinen Bericht zu veröffentlichen, bleibt ungewiss. Aber er verfasste ihn mit dem Vorsatz, „das richtige Urtheil über Zeitfolge, über 75 76 77 78 79 80
Otto Volger an seine Eltern, 14.7.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. Österreichs Kämpfe im Jahre 1866. Nach Feldacten bearbeitet durch das k. u. k. Generalstabs-Bureau für Kriegsgeschichte, Bd. 5, Die Kriegsereignisse in Westdeutschland, S. 14. Otto Volger, Aus den letzten Tagen der Hannoverschen Armee, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Bl. 6. Ebenda, Bl. 13. Ebenda, Bl. 11. Otto Volger an seine Eltern, 14.7.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 3401
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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Ursachen und Wirkungen“ festzuhalten.81 Als er seine Aufzeichnungen niederschrieb, war der Ausgang des Krieges noch offen. Erst am 3. Juli fand der entscheidende preußische Sieg bei Königgrätz statt. Am 28. Juni gelangten erste Berichte über die Schlacht bei Langensalza nach Frankfurt: Die Hannover´schen Truppen sollen rings von Preußischen Korps cernirt sein. In dem Treffen bei Langensalza haben Norddeutsche Soldaten zum erstenmale gegen einander gefochten, Kinder eines Stammes!.82
Im „Frankfurter Journal“ vom selben Tag konnte man lesen: Unsere Stadt war gestern abend in großer Aufregung wegen der in Thüringen operierenden Hannoveraner, deren Schicksal hier mit den wärmsten Sympathien verfolgt wird. Es ist ein peinliches Gefühl, diese zu der süddeutschen Armee gehörende Truppe, mit dem erblindeten König in der Mitte, so nahe am Freundesland und doch nicht mit der Bundesarmee vereinigt zu wissen.83
Nach der Niederlage Hannovers und Österreichs geriet Frankfurt in das Visier der preußischen Truppen. Die Stadt wurde nun nicht nur als Parteigänger Österreichs behandelt, sondern in der preußische Presse berichtete man vermehrt über preußenfeindliche Aktionen. In der Frankfurter Presse wies man solche Berichte zurück, wie z. B. den der Börsenzeitung, in der es hieß, bekanntlich ist man nirgends mit gleich großer Rigorosität den preußischen Staatsangehörigen entgegengetreten als in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, wo man u.a. alle preußischen Untertanen, selbst solche, die seit zehn Jahren dort ansässig sind, rücksichtslos ausgewiesen hat.84
Angebliche Augenzeugenberichte preußischer Sympathisanten aus Frankfurt schilderten später eine regelrechte Jagd auf Personen mit Berliner Dialekt, hinter denen man „Bismarcker“ und preußische Spione vermutete.85 Ein anonymer Verfasser hatte die Frankfurt Bürger als Maulhelden und Feiglinge geschildert und dabei antisemitische Klischees benutzt. Er charakterisierte die Frankfurter als „freche Judenbuben“, Spekulanten und Kriegsgewinnler, die den Krieg für ihre „Geschäftskonjunktur“ begrüßten: „Dass Geld liegt auf der Straße! schrieen Sie. Man kann Geschäfte machen wie nie“.86 Am 16. Juli besetzte die preußische Mainarmee Frankfurt.87 Zum Zeitpunkt der Besetzung war eine Annexion noch nicht beschlossen worden und hatte zu 81 82 83 84 85 86 87
Ders., Aus den letzten Tagen der Hannoverschen Armee, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, Ebenda, Bl, 1. Carl Olivier von Beaulieu-Marconnay, Tagebuch-Blätter aus dem Jahre 1866, S. 32. Frankfurter Journal, 29.6.1866, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866, S. 95. Frankfurt Journal, 3.7.1866, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurt 1866, S. 102. Juni- und Julitage. 1866 in Frankfurt am Main, S. 18. Ebenda. Zu den Vorgängen der Besetzung vgl. Otto Kanngieser, Geschichte der Eroberung der Freien Stadt Frankfurt durch Preußen im Jahre 1866; Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus S. 18–22; Wilfried Forstmann, Frankfurt am Main in Wilhelminischer Zeit 1866–1918; ders. 1866, Anmerkungen zu dem Epochenjahr in der neueren Frankfurter Geschichte.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
einer harten Behandlung der Bevölkerung durch die preußischen Truppen geführt. Neben Naturalleistungen verlangte der Oberkommandierende, General Vogel von Falckenstein, eine Kontributionssumme von 5 Millionen Gulden. Sein Nachfolger, General von Manteuffel, beanspruchte zusätzlich 25 Millionen Gulden und drohte bei Nichtzahlung mit Plünderungen, „daß Alba und Tilly übertroffen würden“.88 Daraufhin nahm sich der Bürgermeister Fellner das Leben und die Preußen begannen ihr Vorgehen zu mildern, da nach einer Vereinbarung mit Frankreich die endgültige Annexion Frankfurts vereinbart wurde.89 Nun folgten Wochen, „in denen Bismarck um die Mainmetropole warb“, und man stellte der Stadt und ihren Bürgern neue Privilegien in Aussicht.90 Der preußische Landtag stimmte am 20. September 1866 der Annexion von Frankfurt, Hannover, Nassau und Kurhessen zu. In Frankfurt entwickelte sich eine Opposition gegen die preußischen Besatzer, viele einflussreiche Demokraten, wie Leopold Sonnemann und Friedrich Stoltze, hatten die Stadt bereits verlassen. Die Verhaftungen von liberalen Zeitungsredakteuren verschärften das Klima und die Bürgerschaft empörte sich über die Kontributionsforderungen. In Berlin verhandelten darüber Vertreter der Stadt mit der Regierung. Schließlich fand am 8. Oktober 1866 im Frankfurter Römer der Akt der offiziellen Besitzergreifung durch Preußen statt. Für Otto Volger hatten seine Aktivitäten noch Konsequenzen. Am 27. Mai 1867 führte die Polizei eine Hausdurchsuchung in seiner Wohnung und in den Räumen des Goethehauses durch. Volger unterrichtete die Verwaltung des Hochstifts einen Tag später über die Vorgänge.91 Ein ausführlicher Bericht über die Durchsuchung erschien in bayerischen Zeitungen.92 Schon nach der Besetzung Frankfurts im Jahr 1866 wurde in Deutschland über das Schicksal der ehemals freien Bundesstadt berichtet, wobei man die Maßnahmen des preußischen Militärs und den Selbstmord des Bürgermeisters Fellner mit Empörung zur Kenntnis nahm.93 Volgers Schicksal war nun ein weiteres Beispiel für die preußische Willkür. Geleitet wurde die Untersuchung von dem Polizei-Assesor Dr. Rumpf und erfolgte im Auftrage des königlichen Civilkommisarius Landrat Dr. Guido von Madai. Volger wurde über seine Heimat und Verwandtschaftsverhältnisse befragt, ohne dass man ihm den Grund für die Durchsuchung mitteilte.94 Die Vermuthung selbst wurde in keiner Weise näher bezeichnet. Höchstens war sie durch die Frage angedeutet, ob Volger nicht einen Bruder habe, welcher hannoverscher Rittmeister sei – was nicht der Fall ist, 88 89 90 91 92 93 94
Zit. nach Wilhelm Forstmann, 1866, S. 102. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 787. Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 19. Prot. VS, 28.5.1867. Gegenwärtige Rechtszustände in Frankfurt a. M., in: Der deutsche Staatsbürger, Bayerische Volkszeitung, Nr. 49, 19.6.1867, S. 391 ff. Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 18. In der Presse wurde der Verdacht „welfischer Agitation“ mitgeteilt, Neues Bayerisches Volksblatt, Nr. 153, 5.6.1867, S. 611.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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so der Zeitungsbericht.95 Das verdeutlicht, dass die Maßnahme im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen des Jahres 1866 stand. Volger hat später eine Verwechslung mit einem gleichnamigen Vetter, der in den militärischen Diensten Hannovers gestanden hat, als Erklärung angegeben.96 Auf der Grundlage der Rekonstruktion von Volgers Verwicklungen bietet sich nun eine andere Erklärung an, dass nämlich Volgers „Erkundungsmission“ doch bekannt geworden war oder zumindest ein Verdacht gegen ihn bestand. Dafür spricht die gründliche Untersuchung: Die Eingedrungen bemächtigten sich nun aller Schlüssel zu den sämmtlichen Räumen und Gelassen der Wohnung, nahmen Volger´s Brieftasche und Notizbuch aus dessen Weste, die noch vor dem Bette lag, durchwühlten die Schränke, Schubfächer und Behälter vom größten Schreine bis zum kleinsten Schächtelchen, Kleider, Wäsche, Geräthe, und musterten alle Papiere. Selbst die Briefe aus der zeit des Brautstandes wurden nicht geschont. [...] Das ganze Haus war in Unordnung gebracht [...].97
Die Beamten setzten die Durchsuchung im Goethehaus fort, im, wie sich der bayerische Berichterstatter empörte, für die ganze gebildete Welt geheiligte, nur der Aufsammlung von Gegenständen frommer Erinnerung, der Wissenschaft und Kunst gewidmete freie deutsche Hochstift.98
Man durchsuchte Volgers Amtszimmer und das Gebäude der Brunnenbaustelle im Riederwald.99 Volger richtete im Anschluss an diese Maßnahmen eine Beschwerde an den Senat der Stadt Frankfurt. Der Senat erklärte sich in dieser Angelegenheit für nicht zuständig und leitete Volgers Eingabe an den Landrat von Madai weiter.100 „Das ist der ,enge‘ Anschluß Preußens an seine deutschen Brüder!“, so resümierte der Artikel der Volkszeitung, der auch über die unbeantwortete Beschwerde Volgers berichtete. Die Vorgänge stellten eine ernste Gefahr für Volger dar. Er hielt es deshalb für angebracht, mit seiner Familie Frankfurt zu verlassen, um zunächst in seine Heimat Lüneburg zurückzukehren. Die Frankfurter Nachrichten meldeten am 7. Juni: Gutem Vernehmen nach ist Herr Dr. Volger auf einige Zeit nach seiner Vaterstadt Lüneburg gegangen, um daselbst die Erschließung der reichen Steinsalzlager zu beginnen.101
Gegenwärtige Rechtszustände in Frankfurt a. M., in: Der deutsche Staatsbürger, Bayerische Volkszeitung, Nr. 49, 19.6.1867, S. 391. 96 Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 68. 97 Gegenwärtige Rechtszustände in Frankfurt a. M., in: Der deutsche Staatsbürger, Bayerische Volkszeitung, Nr. 49, 19.6.1867, S. 391. 98 Ebenda. 99 Neues Bayerisches Volksblatt, Nr. 153, 5.6.1867, S. 611. 100 Senatsprotokolle 1867, 29.5.1867, Nr. 3043, ISG Frankfurt a. Main. Weder im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden noch im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz konnten bisher weitere Hinweise auf die Hintergründe der Untersuchung gegen Volger ermittelt werden. (Anm. S. M.) 101 Frankfurter Nachrichten, Nr. 66, 7.6.1867, S. 521.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
Volger sprach davon, dass „uns allen das Haus verleidet war, wie dem Vogel das Nest, wenn der Marder daran gewesen“.102 Mit seiner Parteinahme für Österreich und den bundestreuen Staaten hatte sich Otto Volger 1866 wieder in die Sphäre der Politik begeben. Eine gemeinsame Kulturnation, wie sie das Hochstift propagiert hatte, unterlag 1866 den Realitäten der Machtpolitik. Nach diesen Ereignissen begann Volger, sich wieder verstärkt politisch zu engagieren. Ironischerweise ermöglichte ihm dies das preußische Kommunalwahlrecht, das nun in Frankfurt galt, wo er vorher nicht über das Bürgerrecht verfügte.103 Er wurde 1868 in die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt gewählt und schloss sich der Fraktion um den Großdeutschen und Altdemokraten Nikolaus Hadermann an.104 Hadermann war ein Gegner Bismarcks, ein überzeugter Antisemit, der sich intensiv mit der sozialen Frage beschäftigte, weshalb ihn Bismarck einmal als einen Führer der „roten Demokratie“ bezeichnete.105 3. DAS HOCHSTIFT UND DIE NATION 1866–1871 Was bedeuteten die Ergebnisse des Jahres 1866 für das Hochstift? Zunächst einmal führten die Ereignisse zu einem Stillstand der Tätigkeiten und der Besuche im Goethehaus. Der Krieg engte den finanziellen Spielraum weiter ein, da die Zinsen für die Hypotheken, die auf dem Goethehaus lasteten, stiegen.106 Eine Folge davon war die Einstellung der Berichte. Neben diesen praktischen Folgen wurden auch die nationalen Ziele des Hochstifts infrage gestellt. Der Deutsche Bund existierte nicht mehr. Preußen bildete mit seinen Verbündeten den Norddeutschen Bund, der bereits den Anschluss der verbliebenen süddeutschen Staaten ins Auge fasste.107 Österreich musste im Prager Frieden den Ausschluss aus Deutschland und dessen Neugestaltung akzeptieren. Diese Tatsache, die „erste moderne Teilung der Nation“108, wog für das Hochstift besonders schwer. Preußen, das dafür die Verantwortung trug, annektierte auch noch Frankfurt. Nur symbolisch konnte die Hochstiftsverwaltung ihre Ablehnung der Vorgänge zum Ausdruck bringen.
102 Zit. nach Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 69. Aus Protest gegen die preußische Okkupation Frankfurts weigerte sich Volger sogar, an der VDNA im September 1867 in Frankfurt am Main teilzunehmen, obwohl er früher immer wieder für ein Treffen in Frankfurt geworben hatte. Otto Volger an die Redaktion der Augsburger Allgemeinen Zeitung, 14.9.1867, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 20426. 103 Vgl. Berthold Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, S. 684. 104 Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 25. 105 Ebenda. 106 Prot. VS, 5.6.1866; Prot. VS, 15.8.1866. 107 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 420. 108 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1800–1866, S. 791.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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Nachdem die preußischen Truppen die Stadt besetzt hatten, hob man umgehend den kostenlosen Eintritt für Offiziere im Goethehaus auf. 109 Volger hielt aber ungebrochen an der nationalen Grundidee des Hochstifts fest. Allerdings war man nun gezwungen, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Volger riet deshalb zur Vorsicht hinsichtlich politischer Äußerungen, die bei den preußischen Behörden Missfallen erregen könnten. Als man im Januar 1867 eine Feier zu Ehren Friedrich Rückerts veranstaltete, bat Volger den Redner Conrad Beyer um Zurückhaltung bei Themen über den gegenwärtigen Zustand Deutschlands. Der Obmann konnte allerdings seine Enttäuschung über die deutschen Zustände nicht ganz unterdrücken: Am 31. Januar 1867 veranstaltete das Freie deutsche Hochstift in Goethe´s Vaterhaus zu Frankfurt a. M. eine der Erinnerung an Fr. Rückert, den ehrenhalber erwählten Meister des Freien deutschen Hochstifts, gewidmete Feier. Dr. Volger eröffnete dieselbe mit einer kurzen Ansprache, die den Tod Rückert´s als ein Glück für den Dichter pries, dessen Herz dadurch vor dem Schmerze über die Zerwürfnisse des Jahres 1866 bewahrt worden sei.110
In den Jahren 1866 und 1867 hielt man sogar die ersten und einzigen Hochstiftstage ab, die man wegen der politischen Umstände als eine Art Gegenprogramm betrachtete, um die gemeinsame Verbundenheit aller Deutschen durch Wissenschaft und Kunst zu bekräftigen. Diese Einstellung zeigt sich auch im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Das GMN hatte sich ebenfalls als eine gesamtdeutsche Institution verstanden und sich in diesem Sinne direkt um ein Protektorat des Deutschen Bundes bemüht. Der Krieg fordert auch die Nürnberger Institution heraus, da er den Deutschen Bund aufhob. Das Museum hatte den Konflikt verurteilt und seine gesamtdeutsche Ausrichtung betont: Der traurige Bruderkrieg muß ein Ende nehmen; dann wird das Museum, das weder Parlament noch Bundestag, weder Zoll- noch National-Verein, sondern der einmüthige, freie Wille des deutschen Volkes und sämmtlicher Fürsten geschaffen, wieder auf’s neue Zeugniß geben, dass ein Vaterland alle Stämme umfasst.111
Allerdings war man pragmatisch genug, den in Nürnberg einmarschierenden preußischen Truppen das Museum zu öffnen, aber auch für Nürnberg galt: Der deutsch-deutsche Krieg unterbrach nicht nur den Zufluß von Unterstützungen und führte zu einer Kassenkrise, sondern durch ihn wurde vor allem die geistige Grundlage dieses gesamtdeutschen Unternehmens in Frage gestellt.112
Das GNM begann nun, sich verstärkt um fürstliche Protektionen, etwa um die des bayerischen Königs, zu bemühen. Aber wie für das Hochstift, so galt auch für das GNM nach den Ereignissen von 1866: Nach den politischen Verwerfungen und dem Ende des Deutschen Bundes galten die Wissenschaft und Kunst nicht nur als Ausgangspunkte für die nationale Einheit, sondern zunächst dienten sie dazu, sich 109 110 111 112
Prot. VS, 30.7.1866. Conrad Beyer, Friedrich Rückert, Ein biographisches Denkmal, S. 447. Anzeiger GNM 1866, zit. nach Peter Burian, Das Germanische Nationalmuseum, S. 166. Ebenda.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
dieser Einheit zu vergewissern und sie zu repräsentieren, die durch die Politik bedroht worden war.113 Das Hochstift befand sich allerdings in einer fragileren Lage. Es wurde von den preußischen Behörden misstrauisch beobachtet und sein Obmann galt als Gegner Preußens. Im August 1867 verboten die Behörden ohne Begründung das Hissen der Hochstiftsfahne auf dem Giebel des Goethehauses. Volger berichtete, dass die Polizei die Einziehung der, als Schmuck des Hauses, wie alljährlich, verwandten SchwarzRoth-Gelben Fahne gebot, er zwar Beschwerde dagegen geführt bis jetzt jedoch keine Antwort darauf erhalten habe.114
Der deutsch-französische Krieg und die daraus folgende Reichsgründung im Januar 1871 bildeten weitere Herausforderungen für das nationale Konzept des Hochstifts. Nun war ein kleindeutscher Nationalstaat unter Führung Preußens entstanden. Das Hochstift verstummte fast in diesen Jahren. Nicht einmal der Krieg gegen die Franzosen, die Otto Volger 1859 noch als die großen Antipoden der Deutschen geschildert hatte, entfachte nationale Begeisterung. Dagegen herrschte in der Frankfurter Öffentlichkeit eine andere Atmosphäre. Trotz der Aversionen, die gegen Preußen aufgrund der Annexion weiterhin bestanden, existierte in der Bevölkerung eine patriotische Stimmung und die „Bejahung der preußischen Politik griff selbst bin in die bürgerlich-demokratischen Kreise ein“.115 Nur die liberale Frankfurter Presse hatte kritisch über den Krieg berichtet und weiterhin die Idee eines demokratischen Nationalstaates propagiert, auch warnte sie vor dem preußischen Militarismus.116 Nach der Nachricht vom Sieg der deutschen Truppen bei Sedan zogen Tausende Frankfurter zum Wohnsitz des Polizeipräsidenten von Madai, der 1867 die Untersuchung gegen Volger angeordnet hatte.117 Zumindest die demokratischen Kräfte, z. B. die Gruppe um Hadermann, zu der Volger gehörte, und die Liberalen um Sonnemann wandten sich 1870/71 gegen einen „Hurra-Patriotismus“ und forderten demokratische Reformen in Preußen.118 Die linksliberale Presse verurteilte den nationalen Chauvinismus und lehnte die Annexion von Elsass-Lothringen ab.119 Ganz anders reagierte das GMN in Nürnberg auf die Reichsgründung. Nach der Auflösung des Deutschen Bundes hatte man begonnen, sich den neuen politischen Verhältnissen anzupassen. Die Verwaltung bemühte sich sogar um die Protektion des preußischen Königs, der aber ablehnte. Man war sogar darauf bedacht, den preußischen Sieg für die Förderung der eigenen Sammlungen zu nutzen. So bat man die preußische Regierung, Österreich aufzufordern, die ehemaligen 113 114 115 116
Ebenda, S. 167. Prot. VS, 31.8.1867. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 30. Über die Frankfurter Presse und den Krieg, vgl. Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Provinzialismus und Nationalismus, S. 144–155. 117 Ebenda, S. 178. 118 Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 502 ff. 119 Wolf-Arno Kropat, Frankfurt zwischen Nationalismus, S. 181–195.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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Reichskleinodien herauszugeben, um sie im GNM aufzubewahren. Die Museumsleitung begründete ihre Forderung mit Österreichs Ausscheiden aus Deutschland. Das hielt das GNM aber nicht davon ab, auch in den nächsten Jahren in Österreich um weitere Unterstützung zu bitten. Der Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs wurde vom GNM mit nationaler Begeisterung aufgenommen. Im Anzeiger des Museums konnte man 1870 lesen: Ein Krieg, desgleichen in der Geschichte Deutschlands nicht verzeichnet ist, hat alle Kraft der Nation in Anspruch genommen, und diese Kraftfülle hat Deutschland in der europäischen Völkerfamilie zu Einfluß und Ansehen in dem Grade erhoben, daß unser Volk jetzt thatsächlich das erste Europas ist.120
In einer Adresse an den bayerischen König sprach man von „herrlichen, wenn auch blutigen Früchten“, die nun gewonnen seien.121 Die Gründung des Deutschen Reichs und der Gewinn Elsass-Lothringens wurden ausdrücklich begrüßt, Österreichs Ausscheiden zwar bedauert, aber das Land würde als Träger deutscher Kultur in enger brüderlicher Verbindung stehen. Um einen Einblick in die Beurteilung der Ereignisse von 1870/71 in der Hochstiftsführung zu gewinnen, soll Otto Volgers Einschätzung der Geschehnisse dargestellt werden. Volger war weiterhin die unumstrittene Führungsfigur im Hochstift und prägte mit seinen Überzeugungen die Arbeit der Institution. 4. DIE REICHSGRÜNDUNG IN DER BEURTEILUNG OTTO VOLGERS „[E]in Hohenzollernsches Kaiserthum könnte ich nie ertragen“, hatte Volger noch 1866 geäußert.122 Daher lehnte er auch die Art und Weise der Reichsgründung von 1871 entschieden ab.123 Schon Fritz Adler hat anhand der ihm zugänglichen Dokumente die tiefe Enttäuschung des Obmanns geschildert. Der Nachlass Volgers ermöglicht nun den Zugang zu weiteren Dokumenten, die seine Einstellung zur Reichsgründung offenbaren und begründen. Der sächsische Politiker Woldemar Freiherr von Biedermann schrieb im März 1871 an Volger: Ihre Stimmungen über die Staatsverhältnisse Deutschlands sind auch die meinen. Deutschland ist dem Größenwahn verfallen und opfert diesem in seiner Unzurechnungsfähigkeit das, was es vor anderen Völkern voraus hatte, um nun eben das zu sein – nach oben aber auch nach unten – was die anderen. Daher vermag ich weder innerlich noch äußerlich die Sieges-
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Zit. nach Peter Burian, Das Germanische Nationalmuseum und die deutsche Nation, S. 191. Ebenda, S. 192. Otto Volger an seine Eltern, 14.7.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, o. S. Ähnlich negativ war die Einschätzung des „Großdeutschen“ Moriz Mohl, er „erlebte die Reichsgründung 1871 nicht als Sieg der deutschen Nation, sondern als ihre Spaltung und Unterwerfung durch einen Militärstaat mit ,halbslavischem Wesen‘“, Jörg Westermayer, Politik als Beruf, S. 92.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat freude zu theilen, wenn sie mir auch nicht schon dadurch verbittert worden wäre, daß mein ältester Sohn unter den Gefallenen der letzten Kämpfe war.124
1873 besuchte Volger Straßburg und zeigte sich erschüttert über die vorhandenen Spuren des Krieges. Den deutschen Truppen hatte das Münster als Zielpunkt für die Artillerie gedient und Volger schrieb darüber an Conrad Beyer: Welche unergründliche Rohheit setzt das voraus! Wer hätte geglaubt, daß eine solche unter der schönen Oberfläche unserer Bildung noch verborgen läge.125
Gewiss betrachtete Volger die Elsässer und Lothringer kulturell als Deutsche, aber dennoch konnte bei ihm über die Art des „Anschlusses“ des neuen Reichslandes „Elsass-Lothringen“ keine Begeisterung aufkommen. Im selben Jahr feierte man in Frankfurt den 25. Jahrestag des Zusammentritts der deutschen Nationalversammlung. Volger war zu einem der Redner ausgewählt worden und hatte versucht, den Dichter Georg Herwegh für eine Festrede zu gewinnen. Herwegh schlug Volgers Bitte ab, denn er hatte bereits dem Deutschen Arbeiterverein erklärt, keinen öffentlichen Auftritt wahrzunehmen. Für Herwegh waren es die Arbeiter, denen eine Würdigung gebühre, denn offen gesagt ohne die Arbeiter gab es keine Märztage [...], um die Früchte dieser Tage sind wir vorzugsweise durch das Parlament betrogen worden, das die Throne wieder gefestigt hat.126
Dass auch Volger mit den Umständen der Feier unzufrieden war, machte er Herwegh in einem Brief deutlich, der etwas ausführlicher zitiert werden soll. Zunächst bekannte er sich zur Bedeutung der sozialen Frage und der wichtigen Rolle der Arbeiter: Ich war schon im Jahre 1848 Vorsitzender des Socialdemokratischen Klubs in Göttingen – freilich längst nicht Roth genug für Herrn Miquel und andere Leute, die sich jetzt als nationalliberale Gründer die Taschen füllen – aber ich war doch damals und bin noch heute der Ansicht, daß eine bloße Änderung der Regierungsform weit weniger wichtig und nothwendig sei, als eine Umgestaltung unsere socialen Umstände.127
Allerdings verschwieg er nicht seine Skepsis gegenüber den Sozialdemokraten, die er nicht als legitime Vertreter der Arbeiterinteressen betrachtete. Er könne die jetzt unter der Bezeichnung „Sozialdemokraten“ auftretenden Personen nicht zu den Socialdemokraten zählen, unter welchen wir nur Marionetten erkennen, die am Schnürchen tanzen, welches unsre Gegner, die Gegner jeglicher wahren Neugestaltung in ihren Händen halten.128
124 Woldemar Freiherr von Biedermann an Otto Volger, 25.5.1871, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger; teilweise zitiert bei Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 71. 125 Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 14.7.1873, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642. 126 Georg Herwegh an Otto Volger, ohne Datum, 1873, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. 127 Otto Volger an Georg Herwegh, Ds., 17.3.1873, ebenda. 128 Ebenda.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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Warum Volger den Sozialdemokraten misstraute, erklärt er nicht weiter, aber als eine mögliche Ursache kann man anführen, dass Ferdinand Lassalle Preußen für die Gestaltung der deutschen Einheit favorisiert hatte. Zumindest habe man die Sozialdemokraten eingeladen, so Volger, die nun aber eine eigene Feier organisierten. Volgers Beurteilung der „Sozialdemokraten“ war nicht ohne Doppelsinn, denn Georg Herwegh war seit 1863 Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und er hatte auf Wunsch Lassalles ein Gedicht anlässlich der Gründung des ADAV verfasst, das Hans von Bülow129 vertonte. Hinsichtlich der Folgen der Revolution von 1848/49 stimmte Volger mit Herwegh überein: Auch das ist kein Zweifel, daß die Bewegung von 1848 gescheitert ist. Aber gültig und unverlierbar bleiben uns die Ziele, welche sie verfolgte, preiswürdig bleibt uns der Geist, welcher in derselben aufflammte.130
Mit Blick auf die Feier in Frankfurt hieß das: Auch wir können und werden unsre Gedanken bei der öffentlichen Feier nicht völlig aussprechen [...], die Gelegenheit dazu bietet später das vertraute Beisammensein beim Bankett, welches selber uns nur die Form, den Vorwand zu einer der Polizei in Preußen nicht zugänglichen Vereinigung leihen muß. Aber wir halten es für Pflicht, die Gelegenheit zu benutzen, um nur überhaupt erst einmal wieder einen anderen gemeinsamen Gedanken durch unser Volk zucken zu lassen, als den der dummen Siegestrunkenheit und des Moltkethums.131
Auch in der Ablehnung des preußischen Militarismus waren Herwegh und Volger vereint, denn der Dichter war ein entschiedener Kritiker des Kriegs gegen Frankreich gewesen und hatte sich wiederholt öffentlich gegen die Annexion von Elsass-Lothringen ausgesprochen. In seinem Gedicht „Die Siegestrunkenen“ karikierte er das neue Reich als eine Ausgeburt des preußischen Militarismus, dessen zweite Strophe sicher auch Volgers Ansichten ausdrückte: Ihr habt ein neues deutsches Reich, / Von Junkerhänden aufgerichtet. / [...] Ihr habt ein neues Oberhaupt, / Ihr Elsaß-Lothringer-Verspeiser; / Den Papst, an den ihr nicht mehr glaubt,/ Ersetzt ein infallibler Kaiser.132
In einem Artikel von Herweghs Frau Emma im „Volksstaat“, den diese 1875 an Volger sandte und dessen Abdruck die „Gartenlaube“ verweigert hatte, wird Herweghs Reaktion auf den deutsch-französischen Krieg geschildert: Von Sedan an schämte er sich ein Deutscher zu sein, denn er besaß jenen allerdings selten gewordenen Patriotismus, der über die Fehler des eigenen Volkes mit erröthet, weil er sich mit dafür verantwortlich fühlt, der das am französischen Volk durch die Annexion begangene Unrecht wie eine persönliche Schuld mit empfand, und nicht die wohlfeile Vaterlandsliebe
129 Hans von Bülow (1830–1894) war Hofkapellmeister in München, großer Förderer von Wagners Werken und in erster Ehe mit Cosima Liszt, der späteren Frau Richard Wagners, verheiratet. 130 Otto Volger an Georg Herwegh, Ds., 17.3.1873, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. 131 Ebenda. 132 Georg Herwegh, Die Siegestrunkenen, in: Günther Mahal (Hg.), Lyrik der Gründerzeit, S. 216.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat Derer, die sich nur im Siege ihrer Nation erinnern [...], für die auch der im Blut der Freiheit getränkte Lorbeer noch eine Ruhmestrophäe bleibt.133
Volger nutzte schließlich 1873 seine Rede dazu, um seine Unzufriedenheit und Enttäuschung über die Reichsgründung von 1871 zum Ausdruck zu bringen: Heute fragen wir schon trotz alle dem künstlich genährten Siegesrausche, für alle die unermeßlichen Opfer unseres Volkes im jüngsten Kriege, was ist der Lohn? Man will uns von der erlangten Einheit sprechen? – es ist nicht die Einheit, welche wir fordern.134
Auch den gewaltsamen Anschluss der Bevölkerung von Elsass-Lothringen kritisierte er, „weil sie wider ihren Willen gewonnen werden mussten“; das kleindeutsche Reich entsprach nicht seinen nationalen Vorstellungen, denn „nach Österreich rufen wir vergebens“.135 Die französischen Kriegsentschädigungen von 5 Milliarden Franc galten Volger als Blendwerk, um die missglückte Reichsgründung zu bemänteln. Volgers Urteil über die Annexion von Elsass-Lothringen ist auch deshalb erstaunlich, weil er trotz des nationalen Konzepts, das auf einer gemeinsamen Sprache und Kultur fußte, eine freiwillige Zustimmung der Bevölkerung forderte. Seine Kritik wies eine Nähe zu der Einschätzung von Ernst Renan auf. Renan äußerte gegenüber David Friedrich Strauß in einem veröffentlichten Briefwechsel: Das Elsaß ist von der Sprache und der Rasse her deutsch; aber es will nicht Teil des deutschen Staates sein; das entscheidet die Frage.136
Es war also nicht so, dass bei allen in Deutschland, die sich auf eine gemeinsame Abstammung und Kultur bezogen, die Frage eines „Plebiszits“ zur Nation keinerlei Rolle spielte.137 Das Unbehagen Volgers nahm in den nächsten Jahren noch zu. 1875 spielte er mit dem Gedanken, mit seiner Familie Deutschland zu verlassen: „So ungern wir von hier gehen – wir sehen es kommen, daß wir im Deutschen Reich nicht bleiben können“.138 Volger war in dieser Zeit bemüht, Emma Herwegh zu unterstützen, die nach dem Tode ihres Mannes (1875) in eine finanzielle Notlage geriet.139 Besonders war er über ihre Pläne beunruhigt, dessen Manuskripte zu verkaufen.140 In seinen Briefen an Emma Herwegh kam er oftmals auf seine Resignation in Bezug auf die deutschen Zustände zu sprechen und beschwor dabei immer wieder Georg Herweghs Vermächtnis, weil „unsere Anschauung, unser Denken vollständig mit 133 Der Volksstaat, Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, Nr. 73, 30.6.1875, S. 1. 134 Frankfurter Zeitung, Nr. 93, 3. April 1873. 135 Ebenda, 136 Zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, S. 220. 137 So aber Winkler, der zwar die Sozialdemokraten ausnahm, aber urteilt: „Im kaiserlichen Deutschland fand dieser politische, an der subjektiven Entscheidung der Einzelnen appellierende Begriff von Nation keinen Widerhall“. Ebenda, S. 221. 138 Otto Volger an Emma Herwegh, 22.4. 1875, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. 139 Volger trug selbst im Mai 1875 mit 100 Mark dazu bei. Otto Volger an Emma Herwegh, Ds. 15.5.1875, ebenda. 140 Darauf spekulierten bereits Gläubiger. Otto Volger an Emma Herwegh, 7.7.1875, ebenda.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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dem Sinne unseres so schmerzlich betrauerten Todten im Einklang war und ist“.141 Im kleindeutschen Kaiserreich erblickte der großdeutsche Demokrat Volger keinen Platz für seine Prinzipien, denn Thatsache ist, daß unsre gesammte freiheitliche Partei für jetzt völlig darnieder liegt und, da die meisten Menschen nun einmal schwach sind, in voller Fahnenflucht begriffen ist.142
Zu den „Fahnenflüchtigen“ zählte er die Nationalliberalen, die nun auf Bismarck setzten und die auch Herwegh abfällig als „Bismarcks Sauhirten“143 bezeichnet hatte. Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Erbitterung überkamen also Volger angesichts der Reichsgründung. Schon dessen Ausrufung auf den französischen Schlachtfeldern galt ihm als eine Entartung der Kulturnation. Sein „linker Nationalismus“, der noch 1859 den „Erbfeind“ Frankreich beschworen hatte und Napoleon III. als größte Gefahr für Deutschland bezeichnete, mündete im Kaiserreich später nicht in einen „rechten Nationalismus“.144 Es finden sich keine Herabsetzungen und Verunglimpfungen der französischen Nation, vielmehr überwog das Entsetzen über den preußischen Macht- und Militärapparat. Weder die Einheit noch die Freiheit konnte Volger in der Reichsverfassung verwirklicht finden. Der wirtschaftliche Aufschwung verblendete seiner Meinung nach das deutsche Bürgertum. Diese Einschätzung motivierte auch Volgers späteren Beitrag zum sogenannten „Antisemitismusstreit“, der noch ausführlicher geschildert wird. Seine kritische Haltung über die staatlichen Verhältnisse und die Tatsache, dass er bei seinen Äußerungen „keine persönlichen Rücksichten nehme“145, hatten einige Frankfurter Demokraten auf die Idee gebracht, Volger eine Kandidatur für den Reichstag anzutragen. Volger lehnte dieses Ansinnen ab, aber es hätte einen gewissen Reiz gehabt, dem Bismarck mit Windthorst gemeinsam das Leben schwer zu machen und die auf ihre brutale Zahl trotzende Mehrheit am Feuer des Witzes und Verstandes der Minorität schwitzen zu lassen,
resümierte er.146 Auch ein Jahrzehnt später, als er nicht mehr Mitglied des Hochstifts war, blieb die Reichsgründung für ihn mit ambivalenten Gefühlen verbunden. An Conrad Beyer schrieb er 1884: Ich habe Bismarck so gehasst, dass ich ihn kalten Bluthes hätte hinrichten können – und ich habe ihn auch bewundern müssen, dass ich ihn hätte vergöttern dürfen.147
Ganz konnte sich also auch Volger der Faszination für den Staatsmann Bismarck nicht entziehen, der „bei allem unbezweifelbaren Geschick [...] doch den vollen 141 Otto Volger an Emma Herwegh, Ds., 4.7. 1875, ebenda. 142 Otto Volger an Emma Herwegh, Ds., 22.7.1875, ebenda. 143 Der Volksstaat, Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, Nr. 73, 30.6.1875, S. 1. 144 Vgl. Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen. 145 Otto Volger an seine Eltern, 22.1.1874, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. 146 Ebenda. 147 Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 28.10.1884, ebenda, HS 19642.
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Einsatz gewagt“ hatte und als „Revolutionär von Oben“ der bürgerlichen Nationalbewegung die Initiative aus der Hand genommen hatte.148 Volgers Zorn richtete sich dagegen ungebremst gegen das Bürgertum. Dort erblickte er nur negative Auswüchse. Jede Unterstützung und jeder Kompromiss gegenüber der Regierung galt ihm als Verrat an der heiligen Sache der Nation. Dass es auch innerhalb des politischen Bürgertums zu Verwerfungen, Widerstand und Resignation gekommen war, ignorierte er. Der im bürgerlichen Leben gescheiterte und verbitterte Volger sah nur die angeblichen nationalliberalen Gewinner, die als Bismarcks Marionetten die Demokratie und Nation verraten hätten. Doch auch gegenüber der Aristokratie blieb er auf Distanz. Gestand er den Dynastien in ihrer Herrschaftspraxis auch gewisse „Klugheits=Rücksichten“ zu, so bewahrte sich Volger einen Restbestand seiner demokratischen Überzeugung: [E]benso verfluche ich alle Fürstenheit [...] und wir sind Narren, uns für diese Geschlechter zu begeistern, welchen wir schließlich höchst gleichgültig sind.149
5. DAS HOCHSTIFT IM KAISERREICH – ZWISCHEN ANPASSUNG UND OPPOSITION Das Hochstift stand seit 1871 vor einem doppelten Dilemma. Die Reichsgründung hatte die nationale Frage in Deutschland zu einem Abschluss gebracht. Somit wurden dessen Bestrebungen, die Bildung der nationalen Gemeinschaft zu fördern, problematisch. Prekärer aber war die Tatsache, dass mit dem Kaiserreich ein Nationalstaat entstand, der nicht der großdeutschen Idee, die das Hochstift favorisierte, entsprach, sondern eher eine Staatsbürgernation war. Zu fragen ist nun, wie sich das Hochstift im Deutschen Reich positionierte und wie es sein Verhältnis zu Österreich gestaltete. Zunächst war es unabdingbar, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, um den Betrieb und vor allem den Besuch des Goethehauses aufrechtzuerhalten und um eine Basis für den Fortbestand zu sichern. Volger weilte in den Jahren nach der Reichsgründung längere Zeit in Lüneburg oder er ging anderen Unternehmungen nach, sodass es zeitweise zu einem Stillstand bei den anderen Hochstiftsaktivitäten kam. Nur wenig lässt sich aus den Quellen über die allgemeine Stimmung der Mitglieder über die staatlichen Umwälzungen erfahren. Keinesfalls war Volgers Haltung für alle Mitglieder repräsentativ. Schon der erwähnte Vortrag von Albert Wittstock verdeutlichte, dass durchaus gegensätzliche Auffassungen über die nationale Gestaltung Deutschlands existierten. Volger war aber bemüht, den preußenfeindlichen Ruf des Hochstifts zu mildern. In den folgenden Jahren ergingen Einladungen an den deutschen Kaiser und den Kronprinzen, das Goethehaus zu besuchen, als sich beide in Frankfurt bzw. Bad Homburg aufhielten. Zudem
148 Lothar Gall, Bismarck, S. 339. 149 Otto Volger an Conrad Beyer, Ds., 28.10.1884, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19642.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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schmückte man nun bei Kaiserbesuchen in Frankfurt das Goethehaus festlich.150 Gleichzeitig bewahrte man sich eine kritische Distanz gegenüber Preußen und dem Reich. Dies entsprach ganz den liberalen Traditionen Frankfurts, die das politische Leben in der Stadt weiterhin dominierten und dort zu einer „monopolartigen Stellung des Liberalismus“ führten.151 Ein Beispiel dafür waren die „Sozialistengesetze“.152 Im Mai 1878 wurde der Kaiser Opfer zweier Attentate. Bismarck nutzte den Anlass, um seinen Kampf gegen die Sozialisten auszuweiten. Ein entsprechendes Gesetz verbot alle sozialdemokratischen Vereine, Versammlungen und Schriften. In Frankfurt erhielten die verfolgten Sozialdemokraten Unterstützung durch die Liberalen.153 Als der Sozialdemokratische Wahlverein seine Tätigkeit einstellen musste, bekamen seine Mitglieder die Möglichkeit, bei Veranstaltungen des Demokratischen Vereins aufzutreten.154 Linksliberale, wie Leopold Sonnemann, griffen das Gesetz scharf an, weil sie befürchteten, dass damit staatliche Repressionen auch gegen andere politische Gegner erfolgen könnten.155 In den Hochstiftssitzungen nahm auch Otto Volger mehrmals Stellung zu den „Sozialistengesetzen“. Während er die beiden Attentate auf den Kaiser verurteilte und „als abscheuliches Verbrechen“ bezeichnete, bestritt er, dass die Sozialdemokraten dafür verantwortlich seien: Weder das ganze Volk, noch irgend eine, etwa im Ringen nach der besten Entwicklung staatlicher Verhältnisse zur Geltung kommende Richtung sei verantwortlich und gleichsam mitschuldig zu erklären für die vielleicht ohne Jemandes Mitwissenschaft in einem einzigen kranken Gehirne oder verbitterten Gemüthe ausgebrütete Uebelthat.156
Für den Obmann waren es vielmehr die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen, die bei einzelnen Individuen zu einem Verlust an Orientierung und sittlicher Gesinnung führten. Eine kollektive Verantwortung, die auf einen „gemeinsamen sittlichen Verfall auch nur irgend eines nennbaren Theils des Deutschen Volkes hindeuten“, wies er entschieden zurück.157 Seine Ausführungen sind aufschlussreich, weil er seine ablehnende Haltung gegenüber den Sozialdemokraten, die er ja noch 1873 gegenüber Herwegh geäußert hatte, nun zurücknahm. Sie waren also keineswegs nur „Marionetten“, sondern wurden zu „Reichsfeinden“ erklärt. Insofern führte der Kampf Bismarcks gegen die Sozialdemokraten dazu, dass Volger wieder mit ihnen sympathisierte. 150 Prot. VS, 15.9.1877. 151 Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 501. 152 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849–1914, S. 902–907; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 395–403; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, S. 239–242; über die Folgen für die Sozialdemokratie in Frankfurt vgl. Volker Eichler, Sozialistische Arbeiterbewegung, S. 31 ff. 153 Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 88–94. 154 Ebenda, S. 91. 155 Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann, S. 66–69. 156 Ber. FDH 1880, S. 53. 157 Ebenda, S. 55.
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In seinen Bemerkungen über das Sozialistengesetz entwickelte Volger Gedanken, die das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betrafen. Die Gestaltung der Gesellschaftsordnung, zu der auch ihre soziale Verfassung gehört, sollte nach Volgers Willen aus der Gesellschaft selbst erfolgen. Er lehnte die staatlichen Repressionen gegen die Sozialdemokraten ab, um eine durchaus der Aufsicht des allgemeinen Sittlichkeitsbewußtseins unterliegende Erscheinung der mißbräuchlichen Ausnutzung für staatliche Sonderzwecke zu entziehen und rein vom gesellschaftlichen Standpunkte zu beleuchten.158
In diesem Sinne reklamierte Volger, dass seine Auslassungen über die Sozialdemokraten keineswegs „vom staatlichen Gesichtspunkte in’s Auge gefasst worden sei[en]“, sondern vom „gesellschaftlich =sittliche[n] Gebiet“.159 Eine Aufgabe des Hochstifts sollte nun darin bestehen, gesellschaftlichen Krisen und sozialen Herausforderungen durch die Verbreitung von Kultur und Bildung zu begegnen, um ein neues sittliches und geistiges Fundament zu errichten. Mit dieser Intention sah man sich berechtigt, auch andere gesellschaftliche Auswüchse zu kritisieren, etwa den um sich greifenden Militarismus. Wie gestaltete sich nun das Verhältnis zu Österreich nach 1871? Österreich blieb in Volgers Verständnis weiterhin ein unverzichtbarer Bestandteil der deutschen Nation, auch wenn die staatlichen Verhältnisse eine Annäherung zunächst verhinderten. Die inneren Spannungen in der Donaumonarchie, die wesentlich aus den Rivalitäten der verschiedenen Nationen resultierten, boten dem Hochstift nach 1866 eine Plattform, um nationales Sendungsbewusstsein mit Rückgriffen auf die kulturellen Traditionen zu behaupten.160 Im Dezember 1867 hatte die österreichische Regierung einen Nationalitätenartikel verabschiedet, der allen Volksstämmen des Reiches ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität garantierte.161 Damit verwandelte sich die österreichische Reichshälfte (Cisleithanien) in einen Nationalitätenstaat, [...] während die ungarische Reichshälfte (Transleithanien) mit ihrem Nationalitätengesetz [...] den Weg zu einem einheitlichen ungarischen Nationalstaat beschritt.162
Die verschiedenen Nationalitäten in Österreich bemühten sich vermehrt um kulturelle Autonomie und Unabhängigkeit von Wien. Besonders in den Gebieten, in denen die Deutschen in der Minderheit waren, versuchten sie dennoch, ihre Vormachtstellung zu behaupten. Für die Deutschen in Österreich galt: „Nicht nur politisch, sondern auch demographisch wurde die eigene Position zunehmend als
158 Ebenda, S. 70. 159 Ebenda, S. 69. 160 Zur Nationalitätenpolitik vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849– 1914, S. 961–965. 161 Arnold Suppan, Die Untersteiermark, Krain und das Küstenland zwischen Maria Theresia und Franz Joseph (1740–1918), S. 316. 162 Ebenda.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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eine defensive wahrgenommen.“163 Ein wesentliches Mittel in den Auseinandersetzungen stellte die jeweilige nationale Kultur da.164 Die eigene selbstständige Sprache wurde als entscheidendes Zeichen der nationalen Zugehörigkeit angesehen, die Sprache als wesentliches Element der Nation.165
Das Hochstift unterstützte die Vorherrschaft des deutschen Volkstums in Österreich und Ungarn seit Langem. Volger hatte 1864 die Existenz einer eigenständigen magyarischen Kultur geleugnet: Der Vorsitzende machte aus dem Briefe eines in Ungarn wohnenden Mitgliedes Mittheilungen über das thörigte Gebahren einer krankhaften Absonderungssucht und Selbstvergötterung des Magyarenthums, welches sich von den Brosamen deutscher Bildung nährt und dabei sich nicht scheut, diese gemeinsame Mittlerquelle zu verläugnen und sich in lächerlichster Weise derselben gegenüber zu überheben.166
Um den Führungsanspruch der Deutschen in Ungarn zu behaupten, hatte Volger damals gefordert, dass „recht viele Deutsche in jenem Lande sich an das Hochstift anschließen und dessen Bestrebungen unter ihren Landsleuten vertreten“.167 In diesem Sinne begrüßte man die Gründung des Deutschen Schulvereins in Wien 1880. Dessen Ziel war es, in Österreich an Orten mit sprachlich gemischter Bevölkerung, besonders an den deutschen Sprachgrenzen und auf den deutschen Sprachinseln die Bestrebungen zur Erlangung und Erhaltung deutscher Schulen zu unterstützen.168
Im Deutschen Reich wurde als Schwesterverein im August 1881 der „Allgemeine Deutsche Schulverein“169 gegründet, der sich für alle Deutschen im Ausland einsetzte und aus dem wiederum der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ hervorging, der die deutsche Bevölkerung in Österreich-Ungarn gegen die ungarischen Selbstständigkeitsbestrebungen mobilisieren wollte.170 In den Hochstiftsberichten wurde dessen Aufgabe, „die Erhaltung der Sprachgemeinschaft“, um das „gedeihen des geistigen Volksthums“ zu fördern, hervorgehoben.171 Darunter verstand man ausschließlich das deutsche Volkstum. Demzufolge setzte man sich dafür ein, die Vormachtstellung der deutschen Kultur in der Doppelmonarchie zu behaupten. Die Slawen galten als ein kulturell unterent163 Julia Schmid, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914, S. 29. 164 Zu den Deutschnationalen Konzepten, vgl. ebenda, S. 298–305. 165 Richard Georg Plaschka, Zum Begriff des Nationalismus und zu seinen Strukturen in Südosteuropa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 136. 166 Ber. FDH 1864, S. 24. 167 Ebenda. Auch Adolf Kolatschek hatte die Zugehörigkeit der Tschechen zu einem Großdeutschland vertreten. 168 Arnold Suppan, Die Untersteiermark, Krain und das Küstenland, S. 331. 169 Er hatte bereits 1882 ca. 68.300 Mitglieder, vgl. Julia Schmid, Kampf um das Deutschtum, S. 31; vgl. Gerhard Weidenfeller, VDA, Verein für das Deutschtum im Ausland, Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881–1918). 170 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849–1914, S. 951. 171 Ber. FDH 1881, S. 13.
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V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
wickeltes Volk, dessen wenige beachtenswerte Leistungen nur als Produkte deutscher Kolonisation anzusehen waren. Das deckte sich mit ähnlichen Gedanken, die etwa Paul de Lagarde in seinen populären „Deutschen Schriften“ verbreitete. Für Lagarde galt: „Deutschlands Mission liege in der Kolonisierung Österreichs, das wiederum eine herrschende Rasse brauche“.172 Eine deutsche Kulturmission in Österreich war vor allem für jene von Relevanz, die nach der Reichsgründung weiterhin von einer großdeutschen Nationalgemeinschaft träumten.173 Gerade in den Grenzgebieten Österreichs waren unterschiedliche Nationalitäten beheimatet. Hier galt es, das Deutschtum zu festigen, um gleichzeitig die staatliche Integrität des Kaiserreichs zu behaupten. Deshalb unterstützte das Hochstift die „Gesellschaft zur Unterstützung der deutschen Schulen in Wälschtirol“ und Volger erklärte, „wie werthvoll die Gründung derartiger Vereine in allen von deutschen bewohnten Nachbarländern und an den Grenzen unseres Vaterlandes sein würden“.174 Es sei daher eine wichtige Aufgabe des Hochstifts, „seine mögliche Mitwirkung zur Pflege Deutscher Sprache, Sitte und Bildung in allen von deutschen besiedelten Außenlanden, gleich wie im engeren Vaterlande bei jeder Gelegenheit auszusprechen“.175 Das Hochstift trat 1881 dem Allgemeinen Deutschen Schulverein bei, weil die Erhaltung der Sprachgemeinschaft auch mit den auf vorgeschobenster Gränze wohnenden und nicht minder mit den ins Ausland gewanderten Stammesgenossen [...] für das Gedeihen des geistigen Volksthums von größter Wichtigkeit
sei.176 Dem Schicksal der Auslandsdeutschen wurde nach der Reichgründung wieder größere Aufmerksamkeit zuteil. Neben den Deutschen in Österreich engagierte man sich für die Deutschen in den Vereinigten Staaten. Als 1863 das amerikanische Generalkonsulat mit der Bitte an das Hochstift herangetreten war, Bücherspenden für Kriegsgefangene deutscher Abstammung im amerikanischen Bürgerkrieg zu sammeln, griff man diese Initiative sofort auf. Denn hier handele es sich darum, die Selbstständigkeit des Deutschthums in Amerika durch zweckmäßige Schriften zu stärken“ und dafür sollten „mit der Zeit auch Mittel, um seinen Einfluß in dieser Beziehung geltend zu machen,
gefunden werden.177 Das Schicksal der Deutschen in Amerika beschäftigte das Hochstift unter Volgers Führung bis zum Schluss. Für Volger waren die Deut172 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, S. 205. 173 In einem Begleitschreiben an den preußischen Prinzen Wilhelm, dem Lagarde 1886 seine Schriften übersandte, äußerte Lagarde: „Klein-Deutschland darf [...] nur als eine [...] Etappe auf dem Marsche nach Groß-Deutschland gelten, wie der norddeutsche Bund eine Etappe für das jetzige deutsche Reich war.“ Zit. nach Anna de Lagarde, Paul de Lagarde. Erinnerungen aus seinem Leben für die Freunde zusammengestellt, S. 103. 174 Prot. OS, 10.3.1878. 175 Ebenda. 176 Ber. FDH 1881, S. 14.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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schen ein wesentlicher Kulturträger in der amerikanischen Gesellschaft. In seinen Plänen schwebte ihm die Gründung deutscher Hochschulen in ganz Amerika vor. Angesichts der Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Hochstifts blieben solche Erwägungen aber ohne Folgen. Auch das Schicksal der Deutschen in Russland wurde in jenen Jahren im Hochstift thematisiert. Dort wehrte sich eine deutsche Minderheit, besonders im Baltikum, gegen die Politik der „Russifizierung“. Im Bewusstsein der kulturellen Überlegenheit und durch die reichsdeutsche Agitation unterstützt, kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. Alldeutscher Nationalismus und Panslawismus trafen hier direkt aufeinander und verschärften das Klima in der russischen und deutschen Öffentlichkeit.178 Das Hochstift betrachtete mit Sorgen die Konflikte, unterstützte aber die Forderungen der Deutschen in Russland. Auch hier betrachtete man die gesamte Bildung und höhere Kultur des Zarenreichs als einen deutschen Import und daher waren die Ansprüche der Deutschen als der „wahren Kulturschöpfer“ legitim, während man gleichzeitig die slawische Kultur abwertete.179 Diese Sicht vertrat man auch im Hinblick auf die „Transvaalischen Niederdeutschen in Afrika“.180 Afrika rückte in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der imperialistischen Machtpolitik der europäischen Staaten. Auch das Deutsche Reich begann, sich für koloniale Erwerbungen zu interessieren. Diese „Weltmachtpolitik“ war in Deutschland gleichzeitig eine Kompensation für die „großdeutsche Unterströmung“, die durch die kleindeutsche Reichsgründung nicht befriedigt worden war.181 „Großdeutsche Denkmuster“ konnten nun in einer imperialen Politik, in dem Erwerb von Kolonien, einen Ausgleich finden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die „koloniale Bewegung“ in Deutschland vom liberalen Bürgertum getragen wurde, während die konservativen Kreise sich lange zögerlich verhielten.182 Wie positionierte sich das Hochstift zu diesen Entwicklungen? Den geografischen Entdeckungen und der Geografie als Wissenschaft hatte das Hochstift schon lange seine Aufmerksamkeit geschenkt und sogar versucht, sich selbst als eine Art nationale geografische Gesellschaft zu generieren, wobei an die vom Hochstift organisierte Geografenversammlung und die dort beschlossene Nordfahrt erinnert sei. Volger war es nun, der die Aufmerksamkeit der Mitglieder wieder auf den afrikanischen Kontinent lenkte. Das Hochstift befürwortete aber keinen ökonomischen Kolonialismus oder einen Kampf um imperiale Groß- und Lebensräume,
177 Ber. FDH 1864, S. 40. 178 Vgl. Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutschrussische Kulturgeschichte, S. 332–356. 179 Ber. FDH 1881, S. 14 f. 180 Ebenda. 181 Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 60–63. 182 Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, S. 21.
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sondern vertrat eine friedliche „Zivilisierung“ Afrikas durch die europäischen Großmächte.183 Europäische Kultur und Bildung – und natürlich vorrangig auch deutsche Kultur und Bildung – sollten in Afrika verbreitet werden. Inspiriert wurde Volger durch den belgischen König Leopold II. Dieser hatte 1876 eine internationale Geografenversammlung einberufen, um im Namen des Fortschritts und der Humanität für eine zivilisatorische Durchdringung Afrikas zu werben. Auch in Deutschland fand Leopolds Vorhaben eifrige Befürworter, wie den deutschen Kolonialpolitiker Johann Jakob Sturz.184 Er hatte sich seit Langem für die Abschaffung der Sklaverei in Afrika eingesetzt und unterstützte aus idealistischen Antrieben den belgischen König. Sturz war Mitglied und Meister des Hochstifts. Zum ersten Mal erörterte Volger im Februar 1877 in einer ordentlichen Sitzung des Hochstifts die „afrikanische Frage“. Der Obmann kam auf den belgischen König und seine Pläne für Afrika zu sprechen. Er bezeichnete dessen Projekt als eine „Humanitätsbestrebung“ und meinte, wie passend es wäre, wenn man ihn von Seiten des FDH in Frankfurt im Namen des deutschen Volkes eine Anerkennung seiner idealen Bestrebungen zuertheilen würde.185
Im August 1878 verlieh man Leopold II. die Ehrenmitgliedschaft des Hochstifts. In Leopolds Ankündigungen sah man die Chance für ein zivilisatorisches Betätigungsfeld deutscher Kulturmacht, die aus den engen Grenzen des kleindeutschen Reiches heraus wiederum zu Weltgeltung kommen konnte. Allerdings sollte die Deutschen zusammen mit den europäischen Großmächten im Sinne eines „Völkergedankens“ zusammenarbeiten, um die Erforschung Afrikas, im Dienste der Wissenschaft und zum Zwecke der veredlenden Gesittung der unglücklichen Völker dieses unerschlossenen Ländergebietes, planmäßig zur Aufgabe eines völkergemeinschaftlichen Bundes [...] [zu] machen.186
In diesem Konzept galten die Afrikaner und ihre kulturellen Traditionen als minderwertig, ihre Europäisierung war ein zivilisatorischer Fortschritt. Das Hochstift sprach von einer „geistigen Eroberung“ Afrikas, die von den Zeitgenossen tatsächlich als ein „Akt der Humanität“ betrachtet wurde. Auf dem Feld der Kolonialpolitik erlebte das Deutungsmuster kultureller Hegemonie eine Renaissance. Hier schienen unendliche Möglichkeiten und Wirkungsräume bereitzustehen. Das Hochstift begleitete nur kurz die ersten Anfänge der kolonialen Bewegung in Deutschland. Ihre eigentliche „Geburtsstunde“ war erst am 27. April 1884, als Bismarck befahl, die deutschen Handelsvertretungen in Südwestafrika unter deutschen Schutz zu stellen.187 Im November 1884 tagte schließlich in Berlin die Kongo-Konferenz, bei der die europäischen Mächte ihre Einflussgebiete in Zentralafrika festlegten. 183 184 185 186 187
Dirk van Laak, Über alles in der Welt, S. 62. Ebenda, S. 66; vgl. Hugo Schramm-Macdonald, „Johann Jakob Sturz“, in: ADB 37, S. 61–68. Prot. OS, 11.2.1877. Ber. FDH 1880, S. 90. Dirk van Laak, Über alles in der Welt, S. 66.
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Als Volger 1881 aus der leitenden Verantwortung des Hochstifts ausschied, verschwanden jene Initiativen, die auf eine großdeutsche Kulturgemeinschaft abzielten. Für die neue Führungsgeneration des Hochstifts stellte der kleindeutsche Nationalstaat die Erfüllung der nationalen Frage dar. Ein Jahrzehnt nach der Reichsgründung wurden Deutschland und das Deutsche Reich als synonyme Begriffe verwendet. Selbst in Österreich, wo die Nationalitätenkonflikte immer mehr an Schärfe zunahmen und den inneren Frieden bedrohten, gab das Hochstift sein Engagement für die Deutsch-Österreicher auf. Eine weitere Bitte um Unterstützung lehnte die Verwaltung gegenüber dem Schulverein mit Hinweis auf die geänderte Satzung ab und verwies ihn an andere Organisationen.188 Die Einstellung des Hochstifts unter Volgers Führung zur Frage der Reichsgründung entspricht dem Befund von Andreas Dörner: Die kleindeutsche Lösung ist gleichwohl über lange Zeit keineswegs die einzige Option. Schließlich tritt die Nationalbewegung immer wieder unter dem Arndtschen Motto ,Das ganze Deutschland soll es sein‘ an. Nicht nur Partikularisten, auch linke und rechte ,Großdeutsche‘ setzen der Perspektive einer preußisch dominierten Staatsgründung unter Ausschluß Österreichs energischen Widerstand entgegen.189
Der großdeutsche Demokrat Volger blieb gegenüber dem Kaiserreich auf Distanz. Es entsprach als Staat nicht der Idee einer großdeutschen Kulturnation, deren Traditionen in den universalistischen Ansprüchen des Alten Reiches lagen. Das Alte Reich und der aus ihm hervorgegangene Deutsche Bund waren zwar keine perfekten Staatsgebilde, aber sie repräsentierten eher eine Föderativnation. Noch im Rückblick hat Volger die Bestimmungen der alten Satzung des Hochstifts verteidigt, denn der „in ihnen lebendige Geist“ war ein „Denkmal der freien Beweglichkeit“ unter „der Obhut des vielgeschmähten weiland deutschen Bundes“.190 Ähnlich gerichtet waren die Forderungen, die Anfang der 1860er Jahre Demokraten in Frankfurt, wie Sonnemann und Hadermann, aufstellten. Unter Sonnemanns Führung hatte sich der Frankfurter Zweigverein des Nationalvereins für eine Einbeziehung der deutschen Teile Österreichs ausgesprochen.191 Volgers Konzept zeichnete sich zudem dadurch aus, dass der Staat nur eine sekundäre Rolle spielte. Mag die Idee der Kulturnation als „nachträglicher Mythos des anderen Deutschlands“192 gebraucht worden sein, für das Hochstift stellte sie eine Realität dar und war mit ihren Ansprüchen keineswegs auf einen elitären Adressatenkreis begrenzt. Und diese Realität schloss einen kleindeutschen Machtstaat und den preußischen Militarismus entschieden aus. Erst das Wirken der
188 Prot. VA, 23.11.1887. 189 Andreas Dörner, Der Mythos der nationalen Einheit. Symbolpolitik und Deutungskämpfe bei der Einweihung des Hermannsdenkmals im Jahre 1875, S. 390. 190 Otto Volger, Offene Briefe, Nr. 1, 1882, S. 9. 191 Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann, S. 27 f.; Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 15–17; Ralf Roth, Liberalismus in Frankfurt am Main 1814–1914. Probleme seiner Strukturgeschichte, S. 63. 192 Helga Schulz, Mythos und Aufklärung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland, S. 34.
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kleindeutschen, borussischen Historiografie, die eine „nationale Geschichtsüberlieferung“ lieferte, prägte über lange Zeit die Bewertung der Reichsgründung.193 Dabei richtete sich die Kritik gegen den Deutschen Bund und dessen unzeitgemäße Form. In seiner weit verbreiteten „Kulturgeschichte der Neuzeit“ hat der österreichische Schriftsteller und Kulturphilosoph Egon Friedell Bismarcks Superiorität gerühmt und über den „lächerlichen Deutschen Bund“ geurteilt: „Es war auf die Dauer vollkommen unerträglich, daß ein verkalkter Morlakenstaat sich die Herrschaft über das deutsche Volk anmaßte“ und der „Zusammenbruch dieses Systems war seit dem Tage, an dem es geschaffen worden war, eine historische Notwendigkeit.“194 Der Historiker Franz Schnabel hat in einem Aufsatz einige Jahre danach Betrachtungen über die Belastungen der Reichsgründung formuliert und dabei „das Bismarcksche Reich“ als etwas „nichts Endgültiges“ bezeichnet, weil „Große Teile Deutschlands“ draußen blieben.195 Nur sechs Jahre später erhielt dieses Problem der Nationalgeschichte wiederum politische Aktualität durch den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, dass seit 1938 die Bezeichnung „Großdeutschland“ führte. Die Bezugnahme der Nationalsozialisten auf die großdeutschen Nationskonzepte des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass diese nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur politisch belastet waren. Überschattet wurden diese Fragen noch zusätzlich durch die deutsche Teilung, die ganz andere Probleme aufwarf. Das mag die Motivation gewesen sein, zumindest der Reichsgründung von 1871 eine historische Notwendigkeit zu unterstellen. So hat Thomas Nipperdey in seiner einflussreichen Gesamtdarstellung die Entwicklungen, die seit 1866 zur Nationalstaatsbildung führten, als folgerichtig bezeichnet.196 Für ihn war der Ausschluss Österreichs eine politische Notwendigkeit. Er konzediert zwar, dass der linke Nationalismus sich nicht sofort mit dem Reich identifizierte, aber im Ganzen habe die „deutsche Nationalbewegung 1871 gesiegt“, denn sie habe „ihr Ziel, die deutsche Einheit, den deutschen Nationalstaat, erreicht.“197 Überhaupt habe sich, so Nipperdey, die Rolle des Kulturnationalismus seit 1866 relativiert und für die „Reichsdeutschen verschwand das Problem der Deutschen jenseits der Grenzen zunächst jedenfalls weitgehend.“198 Auch andere Autoren schlossen sich der Auf193 Andreas Biefang, Der Streit um Treitschkes „deutsche Geschichte“ 1882/83. Zur Spaltung des Nationalliberalismus und der Etablierung eins national-konservativen Geschichtsbildes, S. 394; vgl. Wolfgang Hardtwig, Erinnerung, Wissenschaft, Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, S. 224–263; ders., Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und Borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: HZ 231, S. 265–324; Holger Th. Gräf, Reich, Nation und Kirche in der Gross- und kleindeutschen Historiographie, in: HJB 116, S. 367–394. 194 Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, S. 1247. 195 Franz Schnabel, Das Werden des Reiches, S. 133. 196 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 792; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849–1914, S. 334. 197 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 251. 198 Ebenda, S. 253.
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fassung an, dass die „deutsche Nationalbewegung [...] bis zum Jahr 1866 eine politische Oppositionsbewegung gegen das System des Deutschen Bundes“ gewesen sei und schließlich die „kleindeutsche[n] Staatsgründung“ den Wünschen „der bürgerlichen Mehrheit entsprach“.199 Auf die Gruppen, die der Reichsgründung kritisch gegenüberstanden, hat Theodor Schieder wiederum hingewiesen.200 Besonderes Augenmerk richtete Schieder dabei auf die Rolle der Nationalitäten im Reich, die weiterhin eine Herausforderung darstellten, aber er sah auch Herders Ideen im bürgerlichen Liberalismus noch nicht ganz verschwunden.201 Als eine Erklärung für die Akzeptanz der Reichsgründung führt er den Abstieg des Idealismus an, an dessen Stelle der philosophische Pessimismus und die moderne Naturwissenschaft getreten seien.202 Doch in den letzten Jahrzehnten wurde verstärkt nach Alternativen zur Reichsgründung gefragt. Dabei werden einerseits die Traditionen kultureller Nationskonzepte wieder stärker wahrgenommen, ohne sie pauschal als Vorstufen der späteren Entwicklung zu relativieren.203 „Mit der Reichsgründung“, so Dieter Langewiesche, habe man lange Zeit, als „Gravitationszentrum [...] viele Traditionen, die sich nicht einfügen ließen, aus dem nationalen Selbstbild“ ausgeblendet.204 Neben den alternativen Nationskonzepten erhielten auch die staatlichen Alternativen neue Bewertungen, etwa die Entwicklungsmöglichkeiten des Deutschen Bundes oder der Triasbewegung. Vor allem Dieter Langewiesche mahnt mit Blick auf die föderativen Traditionen der Nationalbewegung davor, den „Wunsch nach nationaler Einheit mit der Forderung nach einem Nationalstaat gleichzusetzen.“205 Das Freie Deutsche Hochstift stellt ein bisher kaum beachtetes Beispiel für die Alternativen zur Reichsgründung dar. In ihm lebte, zumindest solange der Einfluss Otto Volgers bestand, ein großdeutscher Kulturnationalismus fort, der sich auch über die Zäsur von 1871 hinaus behauptete. Dabei waren es mit Volger oder Büchner gerade naturwissenschaftlich Gebildete, die eine scheinbar idealistische Nationsidee verteidigten und sich einem machtstaatlichen Pragmatismus verweigerten. Dafür blieben auch die demokratischen Traditionen von Bedeutung. Erinnert sei an die Kritik am Vorgehen des Staates gegen die Sozialdemokraten, die Volger als Obmann des Hochstifts geäußert hatte oder an die Ablehnung des Militarismus. Insofern ist das Hochstift auch eine Institution, die nicht die These Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, S. 186. Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, S. 21 ff. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 64 ff. Vgl. James J. Sheehan, Nation und Staat. Deutschland als „imaginierte Gemeinschaft“; Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 40 ff. 204 Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich, S. 63. 205 Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: ders., (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, S. 242–2 15, hier S. 215; ders., Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. 199 200 201 202 203
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eines deutschen Sonderwegs stützt. Dafür wurde beispielsweise ein „integraler Nationalismus“ ausgemacht, der nach der Reichsgründung das deutsche Bürgertum ausgezeichnet habe und sich etwa im Berliner Antisemitismusstreit niederschlug. Diese Debatte kann aber nicht nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Vielmehr waren die Motive derjenigen vielfältiger, die sich daran auch zustimmend beteiligten. Otto Volgers Beitrag zu dieser Diskussion soll daher auf seine Motive hin untersucht werden. Dabei soll deutlich werden, dass es ein letztes Rückzugsgefecht des großdeutschen Nationalismus war. 6. OTTO VOLGER UND DER „BERLINER ANTISEMITISMUSSTREIT“ Obwohl die Beurteilung, die das Freie Deutsche Hochstift gegenüber der staatlichen Entwicklung Deutschlands einnahm, im liberal-demokratischen Milieu des städtischen Bürgertums in Frankfurt durchaus geteilt wurde, blieb das Hochstift bis zu Volgers Sturz in einer Außenseiterposition. Ein Debattenbeitrag wirkte sich besonders nachteilig für Volger und das Ansehen des Hochstifts in Frankfurt aus, aber er war zugleich der Ausdruck der Unzufriedenheit des Obmanns mit den staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen nach 1871. Gemeint ist Volgers Beitrag „Zur Judenfrage“, der nicht nur in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, sondern auch in den offiziellen Hochstiftsberichten veröffentlicht wurde.206 Dieser Beitrag war Volgers Abrechnung mit den Liberalen und den deutschen Zuständen seit 1871. Anlass war der im Anschluss an die „Judenreden“ (1879) des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker207 entfachte „Berliner Antisemitismusstreit“, der durch den Historiker Heinrich von Treitschke eröffnet wurde.208 Er markierte den Beginn eines modernen, politischen Antisemitismus209, der die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Nation infrage stellte und stand im Zusammenhang mit Bis-
206 Volger veröffentlichte seinen Beitrag „Zur Judenfrage“ zunächst in der Augsburgischen Allgemeinen Zeitung, Nr. 356, 21.12.1880. 207 Vgl. Werner Bergmann, „Adolf Stoecker“, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2/II, S. 798–802. 208 Vgl. Karsten Krieger (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation (2 Bd.), ders., Einleitung, Bd. 1, S. X–XXXI; Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 239–265. 209 Vgl. Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914; Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945; Richard S. Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany. Den Begriff „Antisemitismus“ prägte der Journalist Wilhelm Marr (1819–1904). Er hatte einen ähnlichen politischen Hintergrund wie Otto Volger, denn er zählte zur „extremen Linken der demokratisch-radikalen Partei“ und hatte während seines Aufenthalts in Zürich die Bekanntschaft mit Georg Herwegh gemacht, dazu Uwe Puschner, „Wilhelm Marr“, in: NDB 16, S. 247–249, hier, S. 248; vgl. Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr. The Patriarch of Anti-Semitism.
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marcks konservativer Wende von 1878/79.210 Nach den wirtschaftlichen Krisen in den 1870er Jahren beendete der Kanzler die Zusammenarbeit mit den Liberalen und wandte sich einer Schutzzollpolitik zu, die von den Konservativen gestützt wurde.211 Für die sozioökonomischen Krisen wurden von Teilen der deutschen Öffentlichkeit die Juden und die Liberalen verantwortlich gemacht. Das „Unbehagen an den Konsequenzen des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels“ mündete in der Kritik an dem Liberalismus, in der antisemitische Angriffe eine wichtige Rolle spielten.212 Bezeichnungen, wie „Judenliberalen“, dienten als „Synonym für eine ungehemmte, undurchschaubare, prinzipiell korrupte, unchristlich-entseelte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.“213 Das Neue an der antisemitischen Bewegung war ihre politische Organisation in Parteien und Verbänden, die verstärkt mit rassischen Begründungen argumentierten. Einer der einflussreichsten antisemitischen Stichwortgeber, der Göttinger Orientalist Paul de Lagarde, lehnte zwar Rassenkategorien ab, aber er behauptete in seinen Schriften eine unüberwindbare kulturelle und religiöse Distanz des Judentums zum Deutschtum. In seinen „Deutschen Schriften“ verband er die Kulturkritik mit antisemitischen Angriffen. Auch Lagarde betrachtete seinen Kampf gegen das Judentum als einen Kampf gegen den Liberalismus. Er entwickelte eine regelrechte „Deutschtumsmetaphysik“, die ihre Identität durch Feindbilder gewann.214 Es waren die Liberalen, welche die rechtliche Gleichstellung der Juden im Norddeutschen Bund und später im Deutschen Reich durchgesetzt hatten. Allerdings wurden in vielen Bereichen, z. B. dem Militär, der Bürokratie und der Politik, weiterhin massive Benachteiligungen jüdischer Bürger praktiziert.215 In Frankfurt am Main hatten die Juden 1864 nach der Verabschiedung der neuen Gewerbefreiheit die volle staatsbürgerliche Freiheit erhalten, die schließlich durch die Verordnungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches bestätigt wurden.216 Auch hier war es das liberale Bürgertum, das in den Jahrzehnten nach der Revolution aus „eigener Kraft eine Liberalisierung der stadtbürgerlichen Gesellschaft“ erreichte.217 Der Kampf der Juden um bürgerliche Gleichstellung war im 19. Jahrhundert nicht nur an politische und wirtschaftliche Freiheiten geknüpft, sondern die jüdische Emanzipation orientierte sich auch an den bürgerlichen Idealen und Lebens210 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 924; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1914, Bd. 2, S. 382–408; Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945, S. 99–122. 211 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im Wilhelminischen Reich (1893–1914). 212 Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, S. 521. 213 Ebenda. 214 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 212. 215 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 396–413. 216 Stefi Jersch-Wenzel, Minderheiten in der bürgerlichen Gesellschaft, Juden in Amsterdam, Frankfurt und Posen, S. 398. 217 Ralf Roth, Liberalismus in Frankfurt am Main 1814–1914, S. 61 f.
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gewohnheiten.218 Die Assimilation an die bürgerliche Lebenswelt geschah durch die Rezeption und das Bekenntnis zur deutschen Kultur.219 Dabei spielten die bürgerlichen Vereine eine wichtige Rolle, da sie der jüdischen Minderheit die Möglichkeit boten, am bürgerlichen Kulturleben teilzunehmen. Auch in Frankfurt öffneten sich die Vereine trotz einiger Ausnahmen jüdischen Mitgliedern.220 So auch das Hochstift, das von Anfang an keinen Unterschied zu jüdischen Mitgliedern machte. Franz Lerner hat sogar die zahlreichen jüdischen Mitglieder des Hochstifts als eine Ursache dafür angeführt, dass zunächst keine namhaften Vertreter des städtischen Bürgertums als Mitglieder gewonnen werden konnten.221 Bemerkenswert sind der hohe Anteil und die Akzeptanz der jüdischen Mitglieder im Hochstift, weil es zunächst einen stark national aufgeladenen Begriff von deutscher Kultur propagiert hatte, der sich von Vorstellungen eines „Weltbürgertums“ abgrenzte. Eine Identifizierung der jüdischen Mitglieder mit dieser nationalen Kulturgemeinschaft war also möglich. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass den Juden im Hochstift mangelnde Loyalität oder eine Andersartigkeit vorgeworfen worden wäre. Es sind auch keine antisemitischen Äußerungen Volgers aus dieser Zeit überliefert. Dessen Vater, Wilhelm Friedrich Volger, hatte sich als langjähriger Meister der Freimaurerloge „Selene zu den drei Türmen“ in Lüneburg frühzeitig dafür eingesetzt, jüdische Mitglieder aufzunehmen.222 Volger griff im Hochstift für die Reform der deutschen Rechtschreibung sogar auf den jüdischen Sprachforscher Daniel Sanders und dessen Wörterbuch zurück, obwohl die gemeinsame Sprache in Volgers Konzept der nationalen Identität eine zentrale Funktion besaß. Sanders jüdische Herkunft wurde in seinem Fach durchaus thematisiert. Jacob Grimm, dessen sprachgeschichtliche Forschungen Sanders kritisiert hatte, äußerte über ihn: „er hat ganz die jüdische frechheit und zudringlichkeit“.223 Volgers antisemitische Einstellung gründet vielmehr auf den Erfahrungen, die er nach 1871 sammelte. In seiner Argumentation finden sich Motive und Muster, die in der öffentlichen Debatte bereits eine Rolle gespielt hatten und die Volger nur aufzugreifen brauchte. Zunächst soll seine Argumentation verdeutlicht werden, um sie danach in die öffentliche Debatte einzuordnen und um aufzuzeigen, welcher Motivation sie entsprang. In seinem Beitrag „Zur Judenfrage. An Deutschlands Fürsten und Völker“ konstatierte der Obmann zunächst, dass die „Judenfrage“ neue Aktualität gewon218 Vgl. die Beiträge in Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. 219 Dazu gehörte auch die nationale Festkultur, wie beispielsweise die Schillerfeiern des Jahres 1859, bei der die deutschen Juden ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur demonstrierten. Vgl. Erik Lindner, Deutsche Juden und die bürgerlich-nationale Festkultur, Die Schiller- und Fichtefeiern von 1859 und 1862, ebenda, S. 171–191. 220 Andrea Hopp, Zur Konstituierung des Frankfurter Jüdischen Bürgertums, S. 141. 221 Franz Lerner, Die ersten Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts, S. 71. 222 Arthur Zechlin, Geschichte der Loge Selene zu den 3 Türmen in Lüneburg, S. 52 f.; vgl. Jacob Katz, Jews and Freemasons in Europe, 1723–1939, S. 73 ff. 223 Zit. nach Ulrike Haß-Zumkehr, Daniel Sanders, S. 512.
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nen habe, rief aber gleichzeitig zur Mäßigung auf. Diese Strategie hatte auch Treitschke verfolgt, indem er sich scheinbar von den Antisemiten distanzierte und seine Beschuldigungen in das Gewand vermeintlich werturteilsfreier Beobachtungen kleidete.224
Das wiederholte Volger auch in einer Hochstiftssitzung, in der er am 12. Dezember 1880 über die Debatte sprach. Dabei mahnte er eine sachliche Diskussion an, um das „deutsche Volk gegen die Schmach der mittelalterlichen Judenverfolgung“ zu schützen.225 Auch von Forderungen, den Juden die staatsbürgerlichen Rechte abzuerkennen, distanzierte sich Volger entschieden. Gleichwohl betonte er die Wichtigkeit der Diskussion, weil mit ihr endlich eine gesellschaftliche und kulturelle Krise thematisiert würde. Denn nach der Reichsgründung wäre in der deutschen Gesellschaft ein krasser Materialismus ausgebrochen, der zu einem „wahnsinnigen Tanz um das goldene Kalb“, zu „erdenselige[r] Genusssucht“ und „geldfreche[r] Gemeinheit“ geführt habe.226 Diese Diagnose betraf alle gesellschaftlichen Gruppen, aber die Juden seien ein „Ansteckungsherd“ gewesen, da sie ihre Lebensgrundlage seit jeher auf „rücksichtslosem Geldgewinn“ stützen. Ihr Beispiel führe zu einer allmählichen „Verjudung“ der Gesellschaft, die drohe, alle kulturellen Grundlagen zu zerstören. Doch die jüngsten Debatten seien ein erstes Zeichen der Besinnung: Das Deutsche Volk fängt an, sich bewusst zu werden, daß es in Gefahr ist seine höchsten und heiligsten Güter, das Erbtheil unserer Väter, zu verlieren [...], jene demuthsvolle Ehrfurcht vor dem Heiligen, jenes erhebende Streben nach innerem Werthe und nach Verklärung der Seele.227
Die Hauptursache für die beschriebenen Phänomene stellte für Volger der Hergang der Reichsgründung dar. Die französischen Kriegsentschädigungen hätten eine Spekulationswut entfacht, die auch dazu gedient habe, das Volk über die verfehlte Einheit zu täuschen. Das Militär und die Wirtschaft waren nach Meinung Volgers die gestaltenden Kräfte von 1871. Unter deren Patronat musste es zu der sittlichen Entartung kommen. Doch jetzt würde in der Öffentlichkeit eine Umkehr „zu den Tugenden, welche unser Vaterland zierten, als es in staatlicher Beziehung noch so viele Wünsche übrig hatte“, gefordert.228 Die Wandlung, die Volger erhoffte, sollte im „Geiste unserer Goethe und Schiller zur Kräftigung [...] des Deutschen Volkes“ geschehen und eine Rückbesinnung auf die Ideale deutscher Kultur- und Geistesgeschichte beinhalten. Mit den kritisierten wirtschaftlichen Kräften zielte Volger auf die Liberalen, speziell die Nationalliberalen. Volger spricht hier aus der Perspektive des „Unzufriedenen und Verunsicherten, der eine „nicht arrivierte, außenseiterische Existenz“ führte.229 Er hatte ja 224 225 226 227 228 229
Karsten Krieger (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“, Bd. 1, S. XVI. Prot. OS, 12.12.1880. Otto Volger, Zur Judenfrage, in: Ber. FDH 1881, S. 135. Ebenda. Ebenda, S. 136. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 294.
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nicht nur 1877 Konkurs anmelden müssen, er sah auch, wie ehemalige Weggefährten im neuen Reich zu Ansehen und Einkommen kamen. Dazu gehörte beispielsweise Johannes Miquel. Der hatte 1848 zu jenen Revolutionären gehört, die unter Führung Otto Volgers eine große Landvolkversammlung auf der Burg Plesse bei Göttingen organisierten, und wurde zusammen mit Volger im Zuge der gewalttätigen Auseinandersetzungen verletzt. Miquel bekannte sich damals zum Kommunismus und Atheismus und stand in Briefkontakt mit Karl Marx. Später gehörte er zu den Gründern des Nationalvereins und war als Nationalliberaler Mitglied des Reichstags. Durch seine Tätigkeit in der Reichsjustizkommission arbeitete er an der reichsweiten Rechtsvereinheitlichung mit.230 Nachdem er zweimal in Osnabrück Oberbürgermeister gewesen war, wurde er 1880 nach Frankfurt berufen. 1890 ernannte ihn der Kaiser zum preußischen Finanzminister und Miquel war zeitweise stellvertretender Ministerpräsident. Seine erstaunliche Karriere wurde auch von August Bebel später spöttisch kommentiert. Es war Bebel, der Miquels Briefe an Karl Marx 1893 veröffentlichte, in denen sich dieser zum Kommunismus bekannt hatte.231 In seiner Autobiografie schrieb Bebel über Miquels frühere Kontakte zu Marx und seine Absichten, Bauernaufstände zu organisieren, aber dreißig Jahre später war Johannes Miquel, als Herr von Miquel, Finanzminister eines Hohenzollern und war ihm selbst die mittlerweile sehr zahm gewordene national-liberale Partei, zu deren Gründern er gehörte, noch zu liberal.232
Für Volger zählte Miquel zu den „liberalen Wendehälsen“, die sich schließlich Bismarck andienten und sich „jetzt als nationalliberale Gründer die Taschen füllen“.233 Den Antisemitismus als ein Vehikel für eine Kritik an den Nationalliberalen zu nutzen, hatten bereits Stoecker und Treitschke demonstriert. Heinrich von Treitschke stellte die „leidenschaftliche Bewegung gegen das Judenthum“ in einen Zusammenhang mit den „Sünden der Gründerzeiten“ und der „zunehmenden Verwilderung der Massen“.234 Der Historiker machte dafür die Juden verantwortlich, denn unbestreitbar hat das Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des GründerUnwesens einen großen Antheil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht.235
230 Rita Aldenhoff, „Johannes von Miquel“, in: NDB 17, S. 553–554. 231 Hans Herzfeld, Johannes von Miquel, Bd. 2, S. 363 ff.; Hans Blum, der Sohn Robert Blums, verschweigt in seiner Apologie der Reichsgründung diesen Teil von Miquels Vergangenheit; vgl. ders., Vorkämpfer der deutschen Einheit, Lebens- und Charakterbilder, Johannes von Miquel, S. 179–190. 232 August Bebel, Aus meinem Leben, Erster Teil, S. 49. 233 Otto Volger an Georg Herwegh, Ds., 17.3.1873, FDH-Hauarchiv, Nachlass Volger, HS 19712. 234 Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, S. 8. 235 Ebenda, S. 13.
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In die gleiche Kerbe schlug Paul de Lagarde. Lagarde bezog sich wie Volger auf die französischen Reparationszahlungen, die er als „Fäulniskrankheit“ im Herzen der Nation bezeichnete, die dadurch zu Spekulationswut und Materialismus verleitet wurde.236 Beide warnten vor den schädlichen Einflüssen des Judentums. Neben dem Materialismus rechnete man dazu den ungebundenen jüdischen Intellektualismus: Zehn Jahre lang wurde die öffentliche Meinung in vielen deutschen Städten zumeist durch jüdische Federn gemacht; es war ein Unglück für die liberale Partei und einer der Gründe ihres Verfalls, daß gerade die Presse dem Judenthum einen viel größeren Spielraum gewährte.237
Was Treitschke allgemein für die Presse und besonders für die liberale Presse konstatierte, das behauptete Volger im Blick auf die Frankfurter Verhältnisse. Hier konnte er endlich mit seinen Gegnern im liberal-demokratischen Lager in Frankfurt abrechnen. Denn Volger machte die Frankfurter Zeitung und Leopold Sonnemann dafür verantwortlich, dass sich das Hochstift nicht weiterentwickelt hatte. In der Frankfurter Zeitung waren immer wieder kritische bis spöttische Artikel über Volger und das Hochstift erschienen. Zudem weigerte sich das Blatt, Einladungen zu Hochstiftssitzungen abzudrucken.238 Der Obmann hatte schließlich die Frankfurter Zeitung, die er zur „Partei des Judenthums“ zählte, aus dem Lesezimmer des Hochstifts verbannt.239 In seinem Kampf gegen Sonnemann benutzte Volger die Argumentationen der in Frankfurt kursierenden antisemitischen Literatur. Dort wurde neben dem wirtschaftlichen Einfluss der Juden immer die Rolle der jüdischen Presse thematisiert.240 Leopold Sonnemann avancierte zum zentralen Feindbild in den antisemitischen Pamphleten, weil dessen Frankfurter Zeitung als Arm des jüdischen Geschäfts- und Spekulationswesens bezeichnet wurde. Als der „israelitische Moniteur“ im „Neu-Jerusalem am fränkischen Jordan“ wurde die Zeitung betitelt.241 Als ausgerechnet die Frankfurter Zeitung242 Stellungnahmen von Volgers Gegnern veröffentlichte, die sich mit dessen Äußerungen über die Juden auseinandersetzten, verschärfte der Obmann seine antisemitischen Angriffe. Volger unterstellte den Juden, sie verlangen keineswegs bloß Gleichberechtigung, nein vielmehr ein Vorrecht, und wären gar nicht abgeneigt, zur Abwechslung die Nichtjuden in eine Judengasse zu sperren.243
Er ließ sich sogar zu der Äußerung hinreißen, die Leistungen der jüdischen Mitglieder innerhalb des Hochstifts seien unbedeutend.244 236 237 238 239 240 241 242 243 244
Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet, S. 208. Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, S. 13. Prot. VS, 6.4.1877. Otto Volger, Offene Briefe, 1882, Nr. 3, S. 15. Inge Schlotzhauer, Ideologie und Organisation des politischen Antisemitismus in Frankfurt am Main 1880–1914, S. 35. Ebenda, S. 37. FZ, Nr. 229, 17.8.1881. Ber. FDH 1881, S. 130 Ber. FDH 1880, 142.
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Ohne Zweifel bediente sich Volger in seinem Beitrag „Zur Judenfrage“ der üblichen antisemitischen Klischees, obwohl er, wie im übrigen auch Treitschke, erklärt hatte, nicht die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden antasten zu wollen. Er nutzte aber die aufkommende antisemitische Bewegung, um seine Kritik an den deutschen Zuständen zu äußern. Volgers Beitrag zum Antisemitismusstreit entstand allerdings aus einer anderen Perspektive heraus. Während Treitschke die Debatte benutzte, um im konservativen Sinne die Integration des Reiches zu befördern, war sie für Volger eine weitere Gelegenheit, um Kritik an der Reichsgründung zu üben. Verbunden waren Treitschke und Volger aber durch den Angriff auf die Liberalen. Während Volger ihnen den Verrat an ihren Prinzipien und der deutschen Einheit vorwarf, hielt er den Frankfurter Linksliberalen in Gestalt Sonnemanns die mangelnde Unterstützung des Hochstifts vor. Im Gegensatz zu den Positionen von Treitschke oder Lagarde hat Volger aber keine unüberbrückbare kulturelle Differenz zwischen Deutschen und Juden vertreten, auch die rasseideologische Argumentation benutzte er nicht. Aber er verlangte von einem Teil des Judentums einen Wandel seiner Mentalität. Mit seiner öffentlichen Stellungnahme schürte Volger allerdings Widerstände im Hochstift. Dessen ca. 150 jüdische Mitglieder, die mehrheitlich aus Frankfurt stammten, fühlten sich durch seine Ausführungen herausgefordert.245 7. NATIONALE SELBSTBILDER – DER WANDEL DER NATIONALEN SELBSTINSZENIERUNG Das Verhältnis zwischen der nationalen Selbstinszenierung und der nationalstaatlichen Entwicklung kann im Freien Deutschen Hochstifts anhand der nationalen Selbstbilder beschrieben werden, die zwischen 1859 und 1914 entworfen wurden. Nationale Selbstbilder werden hier in Anlehnung an Dieter Langewiesche als gruppenspezifische Vorstellungen von Nation begriffen: Sie postulieren Werte, die beanspruchen, für die gesamte Nation verbindlich und ewig gültig zu sein, doch sie gehen aus historischen Entwicklungen hervor, werden also geschaffen, verändern sich und bleiben umstritten.246
Trotz der Kritik an dem Begriff „kollektiver Identität“247, soll Selbstbild hier als ein Konstrukt, als identitätsstiftender Versuch beschrieben werden, ein nationales Selbstbild zu generieren. Nationale Identitätszuschreibungen waren immer Teil geschichtlicher Deutungskämpfe.248
245 Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden, Bd. 2, S. 281; Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus, S. 26–30. 246 Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland, S. 154. 247 Vgl. Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. 248 Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland, S. 154 ff.
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Unter Nation wurde im Hochstift zunächst eine „Geistesgemeinschaft“ verstanden, die auf einen transzendenten Code zurückgriff.249 Die transzendente Identität (Bernhard Giesen) benötigte aber eine sichtbare Repräsentation. Mit Nationaldenkmälern250 und Nationalfesten251 inszenierte die bürgerliche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert die Nation. Kulturwissenschaftliche Ansätze begreifen Denkmäler und Feste als Teil einer Erinnerungskultur.252 Neben den Initiativen, die sich auf eine nationale Akademie und eine Hochschule gründeten, fand die nationale Selbstinszenierung innerhalb des Hochstifts durch eine Festkultur, durch Vorträge und Denkmalsinitiativen ihren Ausdruck. Allein schon die Symbolik des Hochstifts verwies auf die nationalen Traditionen. Die schwarz-rot-goldenen Hochstiftsfarben waren die Farben der bürgerlichen Nationalbewegung, unter deren Farben Volger 1848 in Göttingen die Revolution auf das Land tragen wollte. Sie waren auch nach 1848 weiterhin ein Kennzeichen der bürgerlichen Nationalbewegung. Auch das Emblem des Hochstifts, ein aus einer Eichel sprießender Eichentrieb knüpfte an nationale Mythen an. Die Eiche stand für die germanischen Traditionen und war ein Symbol für Stärke und Festigkeit. Sie war zugleich ein symbolischer Gegenentwurf zu den aus Frankreich stammenden Freiheitsbäumen.253 Im Sinne der auf gemeinsamer Sprache und Kultur beruhenden Nationsvorstellung erlangten im Hochstift die Vertreter dieser Kulturnation eine besondere Bedeutung, die als Beispiele für die Größe des Volkstums galten.254 Für die Zeitgenossen symbolisierte Schiller 1859 „den“ Nationaldichter und damit war ein Dichter gemeint, der in seiner poetischen Kunst uns durch solche Züge seiner Dichtung ergreift, die den eigenthümlichen Charakter seines Volkes wiederspiegeln; wenn er das feiert, was mit dem Wesen der Nation und ihren heiligsten Ueberzeugungen auf´s innigste verwachsen ist, wenn er das ausspricht, was die Gemüther seiner Zeitgenossen am tiefsten bewegt.255
249 Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, S. 145 ff. 250 Vgl. Franz Schnabel, Die Denkmalskunst und der Geist des 19. Jahrhunderts; Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. 251 Vgl. Dieter Düding/Peter Friedmann/Paul Münch (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum ersten Weltkrieg; Uwe Schulz (Hg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart; Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert; Michael Maurer (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. 252 Vgl. Marcus Sandl, Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung; Friedrich Jaeger, Historische Kulturwissenschaft; Etienne François/Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, (3 Bd.). 253 Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), S. 424; vgl. Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, S. 66–67. 254 Franz Schnabel, Die Denkmalskunst, S. 135. 255 Wilhelm Wiedasch, Wodurch ist Schiller der Lieblingsdichter der deutschen Nation geworden? Festrede gehalten am 10. November 1859, S. 4.
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„Die Nation soll sich ihres Wesens und ihrer Individualität bewusst werden vor den durch Geist oder Tat großen Deutschen“, und der „in der Welt des Geistes Große galt als Repräsentant der einheitlichen deutschen und bürgerlichen Nation“, so Thomas Nipperdey über die Denkmäler der Bildungs- und Kulturnation.256 In diesem Sinne erfolgte die Gründung des Hochstifts 1859 anlässlich der Schillerfeiern. Dass sowohl die Feiern als auch die Monumente, die dabei gestiftet wurden, immer einen über die Persönlichkeit hinausgehenden Deutungszusammenhang entwickelten, war allgemeine Überzeugung. Das Schiller-Denkmal kann wichtig werden den Künstlern, die es entwerfen und ausführen, den Kunstfreunden, die sich daran erfreuen, den Künstlern, denen es selbst wieder zu weiterer Ausbildung förderlich ist [...], [f]ür Schiller´s Gedächtnis, in abstracto, ist es gewiss weniger wichtig.257
Denkmäler dieser Art wurden aber nicht nur von der bürgerlichen Öffentlichkeit errichtet, sondern waren z. B. mit der 1842 eingeweihten „Walhalla“ bei Regensburg auch Ausdruck königlicher Denkmalsstiftung.258 Noch als Kronprinz soll Ludwig im Laufe des Jahres 1807 den Plan das erste Mal entwickelt haben. Bedrückt durch die politische Ohnmacht Deutschlands, reifte in ihm der Plan, „fünfzig rühmlichst ausgezeichneten Teutschen Bildnisse in Marmor verfertigen zu lassen“, wobei ihm der Historiker Johannes von Müller die Idee einer „Walhalla“ vorschlug.259 Erst 1830, am Jahrestag der „Völkerschlacht“ bei Leipzig, wurde der Grundstein gelegt, nach zwölf Jahren Bauzeit erfolgte 1842 die festliche Einweihung. Dieses Vorbild griff das Hochstift 1863 auf, nachdem es das Goethehaus in Frankfurt erworben hatte. Das Haus sollte nicht nur als Nationalheiligtum für das Andenken an Goethe dienen, sondern ausdrücklich zu einer „Walhalla des deutschen Geistes“ umfunktioniert werden. Damit waren zum einen die Mitglieder der im Hochstift geplanten Akademie für Wissenschaft und Kunst gemeint. Zum Anderen sollte „verdienstvollsten Deutschen die höchste Ehre durch Aufstellung ihrer Brustbilder im Goethehause“ zuteilwerden, um das Haus „zu einer Walhalla der größten Geister unseres Volkes“ zu machen.260 Die „Walhalla“ des Hochstifts war damit ein bürgerlicher Gegenentwurf zu dem Bauwerk des bayerischen Königs. Überhaupt wurde das Denkmal als Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert eine Domäne des Bürgertums. Die bürgerliche „Denkmalswut“ (Franz Schnabel) löste die Denkmäler aus dem bisherigen Verfügungsbereich fürstlicher Macht- und Herrschaftsrepräsentation heraus. Besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren bürgerliche Denkmäler für Vertreter der Kulturnation verbreitet, da sie dem politisch gegängelten Bürgertum die Ausdrucksmöglichkeit boten, natio256 Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, S. 148 u. 151. 257 Ludwig Friedrich von Froriep, Ueber öffentliche Ehrendenkmäler (1836), S. 11. 258 Vgl. Simone Steger, Die Bildnisbüsten der Walhalla bei Donaustauf. Von der Konzeption durch Ludwig I. von Bayern zur Ausführung (1807–1842). 259 Ebenda, S. 12 ff. 260 Satzungen des Freien Deutschen Hochstifts (1865), Satz 7, S. 4.
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nale Identitäten und Selbstbilder zu präsentieren. Die Kultur war hier ein Ersatzraum für politisches Handeln und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwogen in den Nationaldenkmälern zunehmend die politischen Bezugnahmen. Das ist auch nachweisbar in den Denkmälern, die das Hochstift unterstützte. Nach dem Tod von Ernst Moritz Arndt (1860) sprach sich Volger für ein nationales Arndtdenkmal in Frankfurt aus. Frankfurt stellte aus seiner Sicht ohnehin das nationale Zentrum Deutschlands dar und damit wäre die Beachtung eines Arndtdenkmals umso größer in einer Stadt, „auf welche alle Teile des deutschen Volkes ihre Augen richten“.261 Für Volger war Arndt nicht nur ein herausragender Dichter und Repräsentant deutscher Kultur, er verband mit ihm eine großdeutsche Nation, die Arndt in seinem Gedicht „Was ist des Deutschen Vaterland?“ beschworen hatte. Das Arndtdenkmal, das Nipperdey zu den nationaldemokratischen Denkmälern zählte, offenbart in seiner Symbolik „die Struktur des frühen Nationalismus, der sich erst an einem Feinde und gegen ihn konstituiert“.262 Dieser Feind, der für Arndt seit den „Befreiungskriegen“ Frankreich war, spielte auch für das Konzept nationaler Identität im Hochstift während der Gründung eine entscheidende Rolle und Volger übernahm diese Diskurse, die eine Abwehrhaltung gegenüber der französischen Nation beinhalteten. Nicht in Frankfurt, sondern in Bonn wurde das Denkmal errichtet und am 20. Juli 1865 eingeweiht. Das Hochstift hatte sich schließlich dem Aufruf des Bonner Ausschusses angeschlossen, dessen Inhalt auch den Zielen des Hochstifts entsprach. Dort hieß es: In allen großen Gegenden unseres Vaterlandes sind großen Männern Standbilder errichtet zum Zeugniß, daß Deutschland erkennt, es ehre sich selbst, indem es die Männer seines Ruhms und seiner Liebe ehrt,
und Arndt verdiene ein solches Denkmal, weil das Volk in ihm die besten Tugenden, die edelsten Bestrebungen, die theuersten Erinnerungen des deutschen Volks wie in einem Bilde anschaut.263
Unterstützung fand der Aufruf in Frankfurt auch deswegen, weil er ausdrücklich auf die öffentliche Unterstützung in Österreich setzte. Kaiser Franz Joseph lehnte aber eine Beteiligung ab.264 Arndt gehörte nämlich 1849 zu der Deputation der Nationalversammlung, die erfolglos dem preußischen König Wilhelm IV. die Kaiserkrone eines kleindeutschen Nationalstaates angetragen hatte. Darauf verwiesen nicht zuletzt die „Deutschen Jahrbücher“ aus Berlin anlässlich des Frankfurter Schützenfestes 1862.
261 262 263 264
Ber. FDH 1860, S. 23. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, S. 154. Süddeutsche Zeitung, Nr. 51, 20.2.1860, S. 4. Süddeutsche Zeitung, Nr. 72, 12.3.1860. S. 3.
262
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat War das Schützenfest großdeutsch, so war es das, wie ein Arndtsches Lied; aber zu Frankfurt auf dem Parlament, wo E. M. Arndt seine Lieder sang, war er nicht so großdeutsch, als in seinem berühmten Vaterlandsliede.265
Die Politisierung der Nationalbewegung machte es immer schwieriger, allgemein verbindliche Symbole zu finden. Selbst Arndt, dessen Werke im national gesinnten Bürgertum große Verbreitung fanden, wurde nun aufgrund seiner politischen Biografie beurteilt. Wie Arndt zählte im Hochstift auch Friedrich Rückert zu den herausragenden Vertretern der deutschen Kultur. Keinem anderen lebenden Künstler widerfuhr in Volgers Amtszeit eine solche Wertschätzung, denn er erhielt die Ehrenmitgliedschaft sowie einen silbernen Ring und seine Büste wurde im Goethehaus aufgestellt. Rückert war für Volger noch vor Goethe der größte deutsche Dichter und dessen „Geharnischte Sonetten“ zählten zu den prägendsten Bildungserlebnissen des Obmanns. Rückerts Auszeichnung geschah noch zu Lebzeiten des Dichters und hier zeigt sich der gegenwartsbezogene Ansatz des Hochstifts, nicht nur die „großen Verblichenen“ zu ehren, sondern bereits zu Lebzeiten den Dank der Nation auszudrücken. Rückert hatte in seinem populären Gedicht über Kaiser Barbarossa die Reichsvorstellungen in der nationalen Dichtung bewahrt und damit auch das katholische Bürgertum angesprochen.266 Er eignete sich für das Hochstift als Repräsentant des großdeutschen Nationalismus. Conrad Beyer, der eine Biografie über den Dichter verfasste und zu Volgers engsten Unterstützern im Hochstift gehörte, bezeichnete Rückerts Sonette als „Zeugniß seiner deutschen Gesinnungstüchtigkeit“, die mit „Gluthbuchstaben“ halfen, das „deutsche Selbstgefühl mitten in der Verzagtheit“ zu wecken.267 Doch auch im Hochstift registrierte man, dass eine von den tagespolitischen Geschehnissen unberührte Würdigung deutscher Geistesgrößen immer problematischer wurde. Fünf Jahre nach seiner Gründung reflektierte Volger diese Situation und brachte Schiller in Stellung gegen die „ungünstigen äußeren Bedingungen, inmitten einer bis in den tiefsten Grund unterwühlten und erschütterten Weltordnung“.268 Es war die nationale Frage, die zunehmend die deutsche Öffentlichkeit spaltete. Volger warnte dabei vor einer „einseitigen Richtung“: Wahrlich, das Deutsche Herz muß bluten, wenn der Bau Deutscher Ehre deshalb unvollendet liegen bleibt, weil die zu demselben Berufenen in unseliger Verblendung auseinandergehen [...] weil sie von politischer oder religiöser Parteileidenschaft ergriffen, den vereinigenden Mittelpunkt nicht finden können.269
Den Mittelpunkt, den Volger meinte, das war in erster Linie die gemeinsame kulturelle Überlieferung, das war das „Reich des deutschen Geistes“. Nur in dieser Einheit sei Deutschlands Zukunft verbürgt:
265 266 267 268 269
Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur, Band 4, S. 316. Otto Dann, Nationale Fragen in Deutschland. Kulturnation, Volksnation, Reichsnation, S. 78 Conrad Beyer, Friedrich Rückert, Ein biographisches Denkmal, S. 76 u. 78. Ber. FDH 1864, S. 7. Ebenda.
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Das Deutsche Volk scheint von dem allweisen Lenker der Weltgeschichte nun einmal nicht berufen zu sein, eine großartige politische Wirksamkeit nach Außen zu entfalten. Seine erobernde Macht ist die Macht des Geistes, seine Thaten sind die Thaten der Humanität, seine weltgeschichtliche Aufgabe erfüllt es durch die Ausbreitung Deutscher Bildung über alle Länder der Erde.270
Mit Schiller als „Feldherren, Propheten und Hohepriester“ beschwor der Lehrer Heinrich Reidt 1865 die geistigen Qualitäten der Nation, deren Vollendung im Zeichen jener Ideale geschehen sollte, die der Dichter beschworen hatte. Eine Verknüpfung der nationalen Hoffnungen mit der politischen Sphäre, die durch Ereignisse wie den Konflikt um Schleswig-Holstein neue Nahrung erhielt, findet sich in jener Zeit nicht in den öffentlichen Stellungnahmen des Hochstifts. Die unterschiedlichen Erwartungen, die bei den Schillerfeiern von 1859 noch unter den abstrakten Forderungen nach Einheit und Freiheit vereint worden waren, „drifteten zunehmend auseinander, kleindeutsch-protestantische konkurrierten mit großdeutsch-katholischen Lösungen.“271 Selbst Heinrich von Treitschke hatte 1863 die politische Vereinnahmung deutscher Geistesgrößen beklagt: Der politische Parteikampf wirkt bereits verwirrend und verfälschend auf jene Gefühle, die unser Volk als einen gemeinsamen Schatz hegen sollte, er lässt den einen als fremde, unheimliche Gestalten jene Männer erscheinen, zu denen die große Mehrheit des Volkes mit herzlicher Liebe emporblickt.272
Der Nationalheld vertritt immer als Selbstbild eine Geschichtsvision, die auf eine politische Symbolik zurückgreift.273 Als solche standen sie in der Spannung zwischen „staatenbündisch-föderativen und zentralstaatlichen Lösungen“, wobei das „Jahrzehnt vor und nach der Reichsgründung [...] eine Ära [...] des kulturellen Kampfes um die Deutungshoheit der deutschen Nation“ war.274 Die vom Hochstift vertretene Idee einer Kulturnation, die staatlich ein Großdeutschland favorisierte, führte die Nationalhelden als Zeugen dieser Vorstellungen ins Feld. In diesem Sinne beanspruchte das Freie Deutsche Hochstift sogar, als Vertreter der deutschen Kulturnation aufzutreten. 1864 jährte sich der 300. Geburtstag von Shakespeare. Dazu schickte das Hochstift eine Delegation nach Stratfordupon-Avon, die ein auf Pergament verfasstes Glückwunschschreiben überreichte, dekoriert mit den Farben und dem Siegel des Hochstifts. Shakespeare, der damals in Deutschland als „dritter deutscher Klassiker“ betrachtet wurde, gehörte im 19. Jahrhundert zum selbstverständlichen Inventar des kulturellen Gedächtnisses und die 1864 gegründete „Deutsche Shakespeare–Gesellschaft“ ist die älteste literarische Gesellschaft Deutschlands.275 Ihre Gründung ging auf den Intendanten des 270 271 272 273
Ebenda, S. 6. Ute Frevert, Ein Dichter für viele deutsche Nationen, S. 63. Heinrich von Treitschke, Ludwig Uhland, S. 258. Dieter Langewiesche, Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Friedrich Ludwig Jahn und Ludwig Uhland, S. 126 ff. 274 Ebenda, S. 129. 275 Ruth Freifrau von Lebedur, Shakespeare: Der dritte deutsche Klassiker in Weimar, S. 1.
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Weimarer Hoftheaters, Franz Dingelstedt, zurück, der zum Shakespearejubiläum 1864 Aufführungen von dessen Werken veranstaltete, für die das Hochstift in seinen Berichten warb.276 Unter den Teilnehmern der Hochstiftsdelegation in Stratford gehörten der Verleger Heinrich Brockhaus, Friedrich Max Müller, Professor in Oxford und Gottlieb Wilhelm Leitner, Professor am Kings College in London. Für das Hochstift zählte Shakespeare zum Inventar der nationalen Kultur, denn die „Deutschen haben Shakespeare früher noch, als die Engländer, zu einem Gemeingute aller Gebildeten und aller nach Bildung Strebenden gemacht“.277 Gottlieb Müller erhob Shakespeare in seiner Rede in Stratford in den Rang eines deutschen Klassikers, denn nächst Goethe und Schiller gibt es keinen Dichter, der von uns so wahr geliebt wird, [...] [e]r ist einer der Unsrigen geworden, nimmt seine eigene Stelle in der Geschichte unserer Literatur ein.278
Das Hochstift begriff sich als legitimen Vertreter des gesamten deutschen Volkes. Da nur die „Thatsachen der geistigen Geschichte der Menschheit“ von Bedeutung seien und daher Kultur und Bildung über dem „niederen Pfuhle der staatlichen Wirren“ stehen, sei das Hochstift als eine nationale Institution, die sich Wissenschaft, Kunst und Bildung verschrieben hat, prädestiniert, dem „gesamten Deutschen Volke seine Stimme“ zu leihen.279 Durch den Besitz des Goethehauses, die Geburtsstätte des größten deutschen Dichters, könne man in Stratford „von Volk zu Volk“ sprechen. Weil das Hochstift „das Volk Goethes vertrete“, bat dessen Delegation, den Text der Urkunde während der offiziellen Feier im Rathaus öffentlich verlesen zu dürfen. Darin wurde die Verbundenheit beider Völker beschworen, da das Englische eine „Tochtersprache“ des Deutschen sei. Die Wiederentdeckung von Shakespeare im Deutschland des 18. Jahrhunderts sei der Beginn einer Rückkehr zur Muttersprache gewesen, die half, die „eingedrungene welsche Unart“ zurückzudrängen. „Welsch“, so erläuterte eine Fußnote, dient „zur Bezeichnung des fremdländischen, undeutschen, besonders des romanisch=gallischen, französischen Wesens“.280 Zugleich wurden die Dichter zu den großen Führern und Erziehern der Nation stilisiert. Die Werke von Shakespeare, Goethe und Schiller seien eine „glänzende Schaar, leuchtender als einst“ der Glanz, der um die „Burgen der Hohenstauffen“ schwebte.281 Die Ehrung Shakespeares erfolgte aber immer noch im Zeichen der nationalen Kultur, die sich von anderen Völkern unterschied und die Vorrangstellung der Deutschen behauptete. Die Deutschen seien die Ersten, die „Shakespeare gelesen, [...] gesichtet, [...] gründlich erforscht [...] und ihn ganz verstanden“ haben.282 276 277 278 279 280 281 282
Ber. FDH 1864, S. 16 ff. Ber. FDH 1864, S. 93. Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 93 u. 95. Ebenda, S. 95. Ebenda. Ebenda, S. 96.
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Wir glauben, daß bei der Vertheilung der Pflichten der einzelnen Völker, die eine ganz besonders den Deutschen auferlegt ist: zu beherrschen den Gedanken und die auf Bildung gerichteten Bestrebungen aller Völker des Erdkreises.
Nur den deutschen Gelehrten sei es durch „untersuchen und durchforschen“ gelungen, Shakespeare zum „Gemeingut und Gemeinwissen der ganzen gebildeten Welt“ zu machen.283 Shakespeare wurde zugleich zum Symbol für die Überlegenheit der nordisch-germanischen Kultur. Was wir auch immer für Schätze in andern Theilen der Welt finden, so verdienstvoll auch die Leistungen anderer Völker sein mögen, sie alle werden – wenn wir uns selbst nicht vergessen – in unserer Hochachtung stets der riesenhaften Größe, dem überwältigenden Genius Shakespears untergeordnet sein.284
In der Festsitzung, die am 24. April 1864 im Goethehaus in Frankfurt zu Ehren Shakespeares stattfand, wurde eine Büste des Dichters neben einem Bildnis Goethes aufgestellt. Otto Volger hob in seiner Rede die Bedeutung der Dichter für die Bildung der Nation hervor und bezeichnete das Interesse an Shakespeare in Deutschland als Folge der „Deutschen Faustnatur“, die das deutsche Volk zum „Träger des geistigen Weltverkehrs“ erhebe.285 Das Hochstift repräsentiere mit Goethe an der Spitze ein Reich des Geistes, welches dem angelsächsischen Brudervolk mit Shakespeare als seinem dichterischen Führer seine Referenz erweise. Auch hier wird noch einmal die Kulturnation, vertreten durch die Dichter, beschworen, ein „Reich des Geistes“, das nicht durch „Maaß und Größes des Raumes“ oder die „Zahl der Stimmen“ zu bemessen sei.286 Die Feier Shakespeares, der als „Goethes große[r] Lehrer“ galt, sollte, wie bereits die Schillerfeiern von 1859, beitragen zur „Erhöhung unseres Selbstgefühls, zur Stärkung der Empfindung unserer eingebornen Vorzüge“.287 Die Einverleibung Shakespeares als eines deutschen Klassikers findet sich auch in den damaligen Publikationen der „Shakespeare-Gesellschaft“, die am 23. April 1863 in Weimar auf Anregung des Industriellen Wilhelm Oechelhäuser gegründet wurde.288 In einer im Jahrbuch der Gesellschaft abgedruckten Rede des Literaturhistorikers Karl August Koberstein (1797–1870) über „Shakespeare in Deutschland“289 wird Shakespeare als Klassiker und Wahrzeichen der deutschen Kultur gewürdigt. Ihm wird eine „urgermanische Natur“ attestiert, die dem deutschen Geiste innerlich verwandt sei.290 Auch Koberstein rechnete es den Deutschen hoch an, Shakespeare wiederentdeckt zu haben. Die Rezeption seiner Werke habe die deutsche Literatur und Bildung von „fremden Auswüchsen“ befreit. Darunter rechnete Koberstein die Vorliebe des Adels für das französische Theater 283 284 285 286 287 288 289 290
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 99. Ebenda. Ebenda. Ruth Freifrau von Lebedur, Shakespeare: Der dritte deutsche Klassiker in Weimar, S. 1. Shakespeare-Jahrbuch (1865), S. 1–17. Ebenda, S. 3.
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im 18. Jahrhunderts, was zu einer „Unnatur“, zu „willkürlichen Regeln“ und der „Nachahmung fremder Vorbilder“ geführt habe.291 Für ihn steht Shakespeare in „seiner Dichtergrösse [...] einzig in der Geschichte der Weltliteratur da.“292 Auch der Festredner des Hochstifts in Stratford, Gottlieb Wilhelm Leitner, erklärte, dass „Shakespeare der erste und größte Dichter sein dürfte, den je die Welt hervorgebracht hatte, Goethe der zweite und Homer der dritte“.293 Shakespeares Stilisierung als deutscher Dichter, als ein Produkt des nordischen Geistes und als Stifter deutscher Identität wurde allerdings durch einen Komplex gefährdet, den Volger zwar als nebensächlich bezeichnete, der aber dennoch die deutsche Öffentlichkeit bewegte. Durch die Schleswig-HolsteinFrage und das englische Engagement für Dänemark kam es in Deutschland zu antibritischen Kampagnen, die auch eine Ehrung Shakespeares in Deutschland kritisierten.294 Obwohl Volger durchblicken ließ, einige der Vorurteile, etwa gegen die kulturelle Bildung der Engländer, zu teilen, und deren Haltung in der Schleswig-Holstein-Frage tadelte, wies er den Vorwurf des „halben Vaterlandsverrates“ zurück, den Teile der Presse und Öffentlichkeit gegenüber den geplanten Feiern erhoben hatten. Hier standen nun wiederum politische Debatten dem verbindenden Ideal einer Kulturnation entgegen, denn die Feiern gelten einem Dichter „einer uns gerade jetzt am wenigsten befreundeten Nation“.295 Volger und das Hochstift verteidigten aber dennoch mit den Feiern die Verbundenheit der nordischen Völker, die tiefer reiche als kurzfristige, tagespolitische Divergenzen. Gleichwohl war es eine Feier in Frankfurt, die von einem Zwischenfall überschattet wurde, der in Deutschland und Großbritannien die Öffentlichkeit bewegte. Am 23. April fand ein Bankett zu Ehren Shakespeares im Saalbau statt, zu dem auch der englische Gesandte geladen war.296 Die Feier hatte aber, wie es in den Berichten des Hochstifts steht, leider durch herbes Hereinklingen des gehässigen Streites um Dänemark viel Mißtöne erregt[e] und noch wochenlang die Zeitungen Deutschlands und Englands beschäftigt.297
Ausgelöst wurden diese Unstimmigkeiten durch verschiedene Toasts, unter anderem durch den britischen Gesandten Malet. Dieser drückte seine Vorliebe für die Dänen noch deutlicher aus, indem er Shakespeare hereinzog und Shylock citierte, dessen Benehmen er mit dem Benehmen der Deutschen in eine Reihe stellte.298
291 292 293 294
295 296 297 298
Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 7. Ber. FDH 1864, S. 97. Nicht nur die britische Öffentlichkeit sympathisierte mit Dänemark, Premierminister Palmerston hatte Dänemark sogar ein Hilfsversprechen in Aussicht gestellt. Vgl. Keith A. P. Sandiford, Great Britain and the Schleswig-Holstein Question 1848–64. A Study in Diplomacy, Politics and Public Opinion. Shakespeare-Jahrbuch (1865), S. 2. Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt, Nr. 97, 23.4.1864. Ber. FDH 1864, S. 99. Allgemeine Zeitung, Nr. 119, 28.4.1864, S. 1932.
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„Große Entrüstung gab sich kund“, aber man habe den britischen Gesandten durch einen deutschen Trinkspruch gereizt, der sich sehr scharf „über Englands Haltung in der Herzogthümerfrage ausgesprochen“ habe und dazu führte, dass das „Bankett für die Feier des großen englischen Dichters politisch und animos wurde“.299 Die Münchner Zeitung bescheinigte den Deutschen den wahren Ernst und die ideelle Überzeugung, die in Großbritannien angeblich fehlten.300 Die Feiern in London waren eine geschäftliche Profanation, ein complicirter Humbug, der roheste Mittel anwendet um aus dem Andenken des großen Dichters [...] Capital zu schlagen,
während die ganze Festlichkeit „weder dem Bedürfniß der Nation entsprach, noch überhaupt Verständniß bei der Masse der Bevölkerung fand“. Volger und das Hochstift bemühten sich, die Politik aus der Feier herauszuhalten, obwohl man ein gewisses Wohlwollen gegenüber der deutschen Kritik an den Verhältnissen in Großbritannien durchscheinen ließ. Dennoch zeigte sich, dass Shakespeare als eine Art Selbstbild deutsch-englischer Gemeinsamkeit nicht unwidersprochen Anerkennung fand. Neue Formen nationalistischer Diskurse, die sich an den Ereignissen in Schleswig-Holstein aufluden und sich mit politischen und staatlichen Präferenzen verbanden, wirkten dem kulturellen Gemeinschaftssymbol entgegen. Eindeutige Stellungnahmen über die Ereignisse in SchleswigHolstein finden sich in den Berichten des Hochstifts nicht, auch wenn ohne Frage die Zugehörigkeit der Herzogtümer zur deutschen Kulturgemeinschaft durch das Hochstift anerkannt worden ist. Für die Inszenierung der deutschen Kulturnation wurde nicht nur auf den bürgerlichen, humanistischen Bildungskanon zurückgegriffen, denn neben Dichtern, Schriftstellern und Künstlern berief man sich auch auf Naturforscher, Mathematiker und die Pioniere der Technik. Technische Erfindungen und Entwicklungen zählten im Hochstift zu den „Kulturwerten“ der Nation.301 1863 beschloss der „Physikalische Verein“ in Frankfurt am Main, Samuel Thomas von Sömmerring (1755–1830) in Frankfurt ein Denkmal zu errichten. Sömmerring war nicht nur ein bedeutender Anatom gewesen, sondern er hatte 1809 einen ersten galvanischen Telegrafen entwickelt.302 Diese Erfindung war der Beginn der modernen Telegrafie, doch „die Aufnahme des Gedankens und seine Ausbeutung zum Wohl der Menschheit blieb unserer Zeit vorbehalten“.303 Es wurde vom Physikalischen Verein ein Komitee eingesetzt, das sich zur Aufgabe machte, ein Denkmal Sömmerrings, der die letzten Jahre seines Lebens in Frankfurt verbracht hatte, „mit einem Aufrufe an die deutsche Nation zur Beschaffung 299 Ebenda. 300 Ebenda, S. 1929. 301 Über die Debatten um den „Kulturwert der Technik“, vgl. Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, S. 56–71. 302 Vgl. Friedrich Jännicke, „Samuel Thomas von Sömmerring“, in: ADB 34, S. 610–615. 303 Frankfurter Nachrichten, Nr. 6., 16.1.1863, S. 44. Anregungen dazu kamen schon 1862 aus dem Verein für Geschichte und Altertumskunde in Frankfurt. Vgl. Neujahrs-Blatt, den Mitgliedern des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde (1862), S. V.
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der Geldmittel“ zu errichten.304 Otto Volger wurde zum Vorsitzenden des Komitees gewählt und auch das Hochstift unterstützte das Vorhaben. Bei dem Bildhauer Eduard Schmidt wurde ein Modell in Auftrag gegeben.305 Allerdings dauerte es noch drei Jahrzehnte, bevor das Denkmal 1897 in der Bockenheimer Anlage eingeweiht werden konnte.306 Im Jahr 1878 wurden die Büsten des Mineralogen Johann Friedrich Hausmann, des Chemikers Friedrich Wöhler und Justus Liebigs im Goethehaus aufgestellt.307 Wöhler und Hausmann kannte Volger noch aus seinem Studium an der Universität Göttingen. Anlässlich des 100. Geburtstages des Mathematikers Karl Friedrich Gauß fand am 29. April 1877 eine Festsitzung im Hochstift statt. Dort beschloss man, für das in Braunschweig geplante Denkmal des Mathematikers Spenden zu sammeln. In seinem Aufruf für das Denkmal musste die Verwaltung eingestehen, dass die Bedeutung eines Gauß und seiner Leistungen für die Erweiterung der rechnenden und messenden Wissenschaft [...] freilich nicht für Jedermann ermeßbar ist,
dass Gauß aber dennoch zu den großen Forschern gehöre.308 Zur Enttäuschung des Hochstifts blieb der Aufruf in Frankfurt ohne Resonanz. Nur die Frankfurter Nachrichten ermöglichten dem finanzschwachen Hochstift einen unentgeltlichen Abdruck der Bekanntmachung.309 Die 215 Mark, die man schließlich am Ende gesammelt hatte, stammten fast alle aus der Sammlung innerhalb des Hochstifts und wurden nach Braunschweig überwiesen.310 Der Vorgang verdeutlicht, dass für ein Denkmal, das im Namen der Kulturnation einen wenig bekannten Wissenschaftler würdigen wollte, nur eine geringe Unterstützung zu finden war und dass die Erwartung des Hochstifts, Frankfurt werde sich „von allen deutschen Städten zuvorderst“ daran beteiligen, unerfüllt blieb. Neben den eigenen Initiativen und der Unterstützung ähnlicher Denkmalsprojekte sollten die Berichte des Hochstifts einen regelmäßigen Überblick über die im Bau befindlichen „Denkmäler für große Männer in Deutschland“ vermitteln. Da unter Volger nur wenige Jahrgänge erscheinen konnten, blieb es nur bei der Ankündigung. Dabei erwähnte man beispielsweise das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, die Schillerdenkmäler in Berlin, Frankfurt und Marbach sowie die Denkmäler für Schubert, Arndt, Jean Paul und Johann Gottfried Seume.311 Die Bezugnahme auf die Figur Hermanns bzw. des Arminius gehörte im 19. Jahrhun-
304 Ebenda. 305 Ber. FDH 1864, S. 13 ff. 306 Im Zuge der „Metallspende des deutschen Volkes“ wurde es 1942 abmontiert und gilt seitdem als vermisst. 307 Ber. FDH 1880, S. 106. 308 Aufruf zu Beiträgen zum Denkmal für Karl Friedrich Gauss, FDH-Hausarchiv. 309 Prot. VS, 6.4.1877. 310 Prot. VS, 25.6.1877. 311 Ber. FDH 1864, S. 13.
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dert zum ständigen Repertoire nationaler Diskurse.312 Ein Widerhall davon fand sich auch in den Vorträgen von Carl Ulrichs Dichtung „Hermannsschild“ in verschiedenen Hochstiftssitzungen. Das Hermannsdenkmal gehört zu den Denkmälern „der nationalen Sammlung“ (Thomas Nipperdey). Mit ihnen sollte das neue Reich eine Gründungslegende erhalten, um „eine Identität zwischen Volk und Staat„ zu stiften. Der Hermannsmythos zählte bald zu den zentralen Gründungsmythen des kleindeutschen Reiches.313 Die erste Idee für das Denkmal hatte 1819 der Architekt Ernst von Bandel entwickelt, beeinflusst durch die nationale Begeisterung der „Befreiungskriege“.314 Dabei wurde der germanische Führer zunächst zu einem Symbol der bürgerlichen Nationalbewegung und Bandels Denkmalsplan wurde von den Regierungen im Vormärz beargwöhnt. Die Grundsteinlegung erfolgte 1841, aber fehlende Gelder verzögerten den Weiterbau. Erst nach der Reichsgründung gelang mit Spenden des Kaisers und des Reichstages die Fertigstellung. Die Einweihung des Denkmals am 16. August 1875 fand in Anwesenheit des Kaisers und mit einer großen Militärparade statt. In ihr wurde die Einheit von Reich und Nation symbolisch vollzogen. Arminius, den Bandel noch Jahrzehnte vorher als Symbol deutschen Freiheitsstrebens feierte, wurde nun zum symbolischen Zeugen, um das zweite Kaiserreich als „Zielpunkt einer Jahrtausende währenden Geschichte“ zu stilisieren.315 Diese Mythisierung konnte vom Hochstift nicht unterstützt werden. In ihm blieb Arminius Teil einer deutschen Mythengeschichte, die weiterhin auf eine großdeutsche Nation zielte. Daher zog es das Hochstift 1875 vor, sich nicht an der Einweihung des Denkmals zu beteiligen, weil es den „Bestrebungen des FDH fern liege“.316 Das Hochstift hatte im selben Jahr in einer großen Feier des 400. Geburtstages Michelangelos gedacht.317 Man ließ einen silbernen Kranz anfertigen, auf dessen Blättern die Namen der beteiligten Vereine und Akademien eingraviert waren. Im Aufruf zur Feier resümierte man, dass die Künstler zuerst ihrem eigenen Volke angehören, aber als „Hochbegnadete des Geistes“ einen Segen für die ganze Menschheit entfalteten. Zur Feier Shakespeares hatte man den Dichter noch über seine Zugehörigkeit zu einer stammverwandten Nation als Teil der nordischgermanischen Kultur definiert, die sich explizit von dem „romanisch-welschen Wesen“ absetzte. Michelangelos Ehrung öffnete den nationalen Kulturkreis für die europäische Kultur. Im Rahmen des Jubiläums begann ein Austausch, der dazu führte, dass italienische Akademien dem Hochstift 1877 eine Büste Michelangelos übergaben, die 312 Hans Peter Herrmann, Arminius und die Erfindung der Männlichkeit im 18. Jahrhundert, S. 162. 313 Andreas Dörner, Der Mythos der nationalen Einheit, S. 396; vgl. ders., Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos. Zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen. 314 Wermer M. Doyé, Arminius, S. 596. 315 Andreas Dörner, Der Mythos der nationalen Einheit, S. 397. 316 Zit. nach Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 61. 317 Ebenda, S. 62.
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im Vorplatz der zweiten Etage des Goethehauses aufgestellt wurde. Zur feierlichen Aufstellung am 29. April 1877 lud man alle italienischen Bewohner Frankfurts ein.318 Unter Beisein des italienischen Vizekonsuls hielt Herr Dr. Guidal eine Rede in italienischer Sprache, in der er Michelangelo und Albrecht Dürer als ebenbürtige Vertreter beider Nationen ehrte. Die „Feierlichkeit schloß mit Vivats auf den unsterblichen Buonarroti und die Freundschaft der Künstler Italiens und Deutschlands“.319 Nach Volgers Ausscheiden als Obmann und der Neugestaltung des Hochstifts änderten sich die Funktion und Gestalt der nationalen Selbstbilder, die in den Reden und Feiern des Hochstifts präsentiert wurden. Die nationalen Ideale des Hochstifts hatten „ihre Tragkraft verloren“.320 Nun begann eine Entwicklung, die bereits Thomas Nipperdey für die Nationaldenkmäler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts skizziert hat. Denkmäler und Selbstbilder, die eine nationale Kulturgemeinschaft stiften sollten, verloren an Bedeutung und wurden durch nationale Denkmäler ersetzt, welche die politische Selbstpräsentation der Staatsnation verkörperten.321 Wie fremd der Generation von 1889 die Schillerfeiern von 1859 waren, machte Max Koch in seiner Festrede am 9. November 1889 im Hochstift deutlich. Von der Feier des hundertjährigen Geburtstages unseres Friedrich Schiller am 10. November 1859 erzählen die Teilnehmer noch heute gerne in gehobener Stimmung, während das jüngere Geschlecht vielleicht Grund hätte, vor der Frage zu bangen, ob denn auch wir noch die Fähigkeit haben mit so lauterer und leidenschaftlicher Begeisterung eine Dichterfeier zu begehen.322
Koch verneint das, weil nun vieles „sich zum Heile und zu glücklicher Wirksamkeit vollendet, was vor dreißig Jahren nur im weiten Reiche der Gedanken und Wünsche“ lag. Die heutige Generation habe das Glück, „im fest geeinten und geschirmten Vaterlande heranreifen zu dürfen“.323 Die Reichsgründung von 1871 stellt für Koch die Vollendung der nationalen Einheit dar, die Schillerfeiern von 1859 betrachtete er als Auftakt zur Reichsgründung. Dem hätte Otto Volger widersprochen. Schiller, Rückert und andere dienten nun dazu, die nationale Legitimität des Kaiserreichs zu behaupten. Die Denkmäler für Schiller und die Schillerfeiern werden zwar als „Merkstein unserer politischen Geschichte“324 anerkannt, aber in den Beschäftigungen geraten die früheren nationalen Diskurse, die sich mit ihnen verbunden hatten, ins Abseits und werden durch ästhetische Betrachtungen ersetzt. Das Denkmal im öffentlichen Raum, auch wenn es sich um Schiller handel318 319 320 321 322
Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt, Nr. 98, 28.4.1877, FDH-Hausarchiv. General-Anzeiger, 5.5.1877, FDH-Hausarchiv. Jb. FDH 1909, S. XI. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland, S.153 f. Max Koch, Festvortrag zur Feier des Schillertages und der vor dreißig Jahren beim Schillerjubiläum 1859 erfolgten Gründung des Hochstiftes, in: Ber. FDH 1890, S. 29*–51*, hier S. 29*. 323 Ebenda. 324 Julius Ziehen, Die Standbilder Schillers, in: Ber. FDH 1898, S. 19*–43*, hier S. 21*.
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te, erregt nur dann noch Aufmerksamkeit „von dem Gewühle des alltäglichen Lebens“, wenn die Monumentalplastik ansprechend und sinnreich ist und durch eine richtige Platzierung Aufmerksamkeit und Verständnis fördert. In diesem Sinne wurden auch die früheren Schillerstandbilder von Ziehen einer durchgehend ästhetischen Kunstkritik unterworfen, die sich an Faltenwürfen und Sockelleisten produzierte. Dichter, wie Friedrich Hebbel, werden als Propheten der Reichsgründung in Anspruch genommen. Hebbel wird nicht nur als nationaler Heros gefeiert, der den „Geist des deutschen Volkes“ in seinen Werken zum Ausdruck brachte, Hebbels Drama „Agnes Bernauer“ sei geradezu eine „Verherrlichung des Reichsgedankens“.325 Der Redner hob hervor, dass Hebbel in seinem Drama das Verhältnis des Individuums zum Staat behandelt habe, und dabei sprach er „dem Staat die sittliche Berechtigung zu, in einem außerordentlichen Falle das Einzelgeschöpf zu Grunde zu richten“ und [d]as ist eine Bismarckische Idee, und vom Standpunkte des Staates aus, dem das Heiligste nicht das Einzel=, sondern das Gemeinwohl sein muß, eine Notwendigkeit.326
Die Bedeutung von Ordnung und geltendem Recht als erste Notwendigkeiten jedes Staates wird hier gegenüber den individuellen Bedürfnissen hervorgehoben und muss vom „Oberhaupt wie von dem letzten Unterthan geachtet werden“.327 In anderen Festvorträgen wurde Schiller als Gründungssymbol des Hochstifts nun auf den kleindeutschen Nationalstaat bezogen. Albert von Pfister feierte 1902 in seinem Festvortrag Schiller als Führer des deutschen Volkes, dessen Werke und Andenken einen Enthusiasmus entfacht hätten, der schließlich zur Reichsgründung führte. In diesem Sinne wurden die Motive des Bürgertums bei den Feiern von 1859 auf das Jahr 1871 bezogen: Wonach sehnte es sich? – Nach etwas Gemeinschaftlichem für alle Deutschen, nach einer Tat, nach einer Leistung, die alle Getrennten verband, die Selbstachtung zurückbrachte und zugleich der gepressten Stimmung Luft verschaffte.328
Während Volger und die Gründungsgeneration des Hochstifts noch mit den Schillerfeiern die Stärkung der „geistigen Volkskraft“ und eine „Geistesgemeinschaft“ erhofft hatten, wurden von Pfister diese Vorstellungen zugunsten einer tatkräftigen Nationsgründung abgewertet. So seien es gerade Deutschlands Gegner gewesen, die 1859 noch gehofft hätten, die Deutschen würden im Reich des Geistes, „in diesem Traumland phantasiereiche Spaziergänge“ unternehmen und es wäre besser, „als wenn sie nach irdischen oder gar nach nationalen Gütern trachteten“.329 Für Pfister standen die Feiern von 1859 unter dem Schatten der kommen325 Fritz Lemmermeyer, Friedrich Hebbel als nationaler Dichter, in: Ber. FDH 1894, S. 52*–66*, hier S. 58* u. 61*. 326 Ebenda, S. 61*. 327 Ebenda, S. 62* 328 Albert von Pfister, Schiller im deutschen Bürgertum, in: Jb. FDH 1903, S. 249–264, hier S. 257. 329 Ebenda, S. 260.
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den Reichsgründung und Schillers Erbe spornte schließlich das Bürgertum zu einer „realpolitischen Wende“ an, „um mit Begeisterung und Opferwilligkeit dem Vaterland die Weltstellung zu erringen, die ihm gebührt“.330 Die opferfähige Tat und die Selbstzucht seien die großen Ideale des deutschen Bürgertums, die Schiller den Deutschen vermittelte, und waren einem „Traumland“, einer „ästhetische[n] Welt, die aus dem Tränenvergießen einen Beruf machte“, vollkommen entgegengesetzt.331 Allerdings sah Pfister jene Tugenden durch die Moderne in Gefahr, die „das Geistige zum Reizmittel für die Sinne macht“ und „den Idealismus von seiner Höhe zu stoßen sucht“.332 Ähnliche Klagen fanden sich schon in den letzten Berichten in Volgers Amtszeit. Sie spiegeln ein Unbehagen über die modernen Entwicklungen wider, die vor kulturellen Überlieferungen und Traditionen keinen Halt machten. In diesem Sinn waren die Evokationen über Schillers Erbe ein Beitrag des Bildungsbürgertums, um Orientierung und Selbstvergewisserung zu fördern. Im Blick auf das Jubiläum der „Völkerschlacht“ und den Beginn der „Befreiungskriege“ hielt Karl Berger 1911 eine Schillerrede, welche die Entwicklung des Dichters „Vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken“ aufzeigte.333 Berger stützte sich dabei wesentlich auf Arbeiten Friedrich Meineckes.334 Deutschlands Entwicklung von einer großen selbstständigen Kulturnation zu einem geeinten Nationalstaat wird hier am Beispiel der Entwicklung Schillers beschrieben. In diesem Prozess sei es Schiller, so Berger, gelungen, seine früheren weltbürgerlichen und kosmopolitischen Ideen abzustreifen, um einen nationalen Standpunkt zu entwickeln. Der Idee einer Kulturnation erkennt Berger durchaus die Notwendigkeit im Entwicklungsprozess der Nation zu. Sie habe kulturelle und geistige Impulse ermöglicht.335 Schiller habe die damit verbundene Idee des Weltbürgertums aber überwunden und zum Ideal der Nation gefunden: Die Kluft zwischen dem nationalen Patriotismus und dem weltbürgerlichen Humanitätsgedanken löst sich in der erhabenen Gleichung, dass die deutsche Nation die eigentliche Menschheitsnation sei.336
Damit habe Schiller den Grundstein für 1871 gelegt, denn vom „Weltbürgertum zum Vaterland war der letzte entscheidende Schritt getan, von Rousseau zu Bismarck war die Bahn eingeschlagen“.337 Einer, der diesen Gedanken zuerst radikal ausdrückte, sei Heinrich von Kleist gewesen, der die beiden Mächte der deutschen
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Ebenda, S. 261. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 264. Vgl. Karl Berger, Vom Weltbürgertum zum Nationalgedanken, in: Jb. FDH 1912, S. 212– 236. Berger bezog sich u. a. auf Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (1908) und „Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1795–1815“ (1906). Karl Berger, Vom Weltbürgertum, S. 223. Ebenda, S. 232. Ebenda, S. 235.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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Geschichte, Soldatengeist und den freien Geist der deutschen Bildung, in sich vereint habe.338 Zwischen Bergers Schillerrede zum Hochstiftsjubiläum und Volgers Rede „Gegen das Weltbürgerthum“ liegen fünf Jahrzehnte. Volger hatte 1860 mit Analogien aus der Naturwissenschaft die Unterschiede zwischen den Nationen und ihrer Bildung verteidigt. Er beabsichtigte, mit der Gründung des Hochstifts die Entfaltung der eigenen nationalen Bildungsgemeinschaft zu fördern. Zwar nahm er zur Kenntnis, dass Teile der nationalen Bewegung sich bemühten, die staatliche Entwicklung Deutschlands weiter politisch zu gestalten, aber mit einer gewissen Skepsis überließ er diese Diskussionen anderen. Die „Einheit im Geist“ war aus seiner Sicht nicht nur entscheidender für die nationale Entwicklung, sie garantierte – anders als die Politik – ein „parteiloses Einheitsgefühl“.339 In diesem Sinne lag auch der Vorrang von Bildung und Kultur vor der Sphäre der politischen und staatlichen Interessen begründet. Schiller war daher in der Überzeugung Volgers ein Symbol für die geistige Gemeinschaft, auch wenn er die nationale Eigentümlichkeit von dessen Werken genauso verteidigte wie Berger. Dass im Deutschen Reich die Idee des alten Deutschtums nicht mit dem Staat aufging, stellte Eugen Kühnemann 1909 zwar fest, aber gleichzeitig begriff er die Reichsgründung als die Geburt des neuen deutschen Volkes, welches in „all seinen Lebenstrieben seit der Gründung des Reiches gründlich verändert, auf neue gewaltige Aufgaben der Lebensgestaltung“ sich einrichtete.340 Nun galt es, dass die Reichsnation als neue Volksgemeinschaft nicht „müßige Rückschau“ auf die früheren Jubiläen der Dichter zu halten habe, sondern dass unter veränderten Bedingungen deren Werke neue Horizonte eröffnen. Als geistige Führer des Reichs verlangen sie weiter ein Bekenntnis des Volkes, denn sie seien „der Inbegriff der Kulturgedanken, auf die die Bildung des Volkes sich gründet“.341 Den Höhepunkt der Indienstnahme der Dichter für den Staat bot das Jahr 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch das Hochstift verstand nun seine Tätigkeit als einen Dienst am Vaterland. Otto Heuer hielt am 10. November 1914 die Festrede über „Unsere großen Dichter und unsere große Zeit“.342 Im Blick auf den Krieg und dessen Ausgang beschwor Heuer den deutschen Sieg, denn der „Sieg gehört immer dem Stärkeren, und auch wir werden siegen, weil wir die Stärkeren sind“.343 Diese Überzeugung begründete er mit den Schwächen der Gegner, denn „wir erkennen mit Staunen wie rückständig die französische, wie gänzlich versumpft die englische Kultur ist“.344 Die deutsche Stärke lag für Heuer in der „fest gefügten, in Leib und Blut übergegangenen staatlichen, bürgerlichen und militärischen Ordnung“, zu deren Herausbildung nicht nur die preußi338 339 340 341 342
Ebenda. Otto Volger, Gegen das Weltbürgerthum, in: Ber. FDH 1860, S. 3 ff. Eugen Kühnemann, Schiller und die deutsche Bildung von heute, in: Jb. FDH 1910, S. 264. Ebenda, S. 263. Vgl. Otto Heuer, Unsere großen Dichter und unsere große Zeit, in: Jb FDH 1914–1915, S. 217–239. 343 Ebenda, S. 218. 344 Ebenda, S. 221.
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sche Ordnung beigetragen habe, sondern auch in deren Verbindung mit der klassischen Kultur, deren Höhepunkte Schiller und Goethe seien. In einer Entwicklungsgeschichte, die jener ähnelte, die Volger 1859 in seiner Gründungsschrift entworfen hatte, verdeutlicht Heuer, warum die Deutschen erst spät zu einer geeinten Nation gelangten und erklärt dies mit dem deutschen Freiheitsdrang, welcher der staatliche Einheit zunächst im Wege gestanden habe. Als Gegensatz dazu führt er die französische Geschichte an, in der durch eine größere Disziplinierung – Volger nannte dies 1859 Uniformität – des Volkes ein Einheitsstaat früher entstand. Im 19. Jahrhundert haben sich aber die Vorzeichen umgekehrt. Während Frankreich durch Umstürze und Revolutionen jedes Maß an Beständigkeit, Disziplin und Kultur aufgab, erlangten die Deutschen durch die Verbindung von Kultur und Preußentum ihre nationale Form. Die großen Dichter Schiller und Goethe würdigt Heuer als Erzieher des Volkes, die mit ihrem Idealismus die politischen und staatlichen Grundsätze komplementierten. Heuer sieht sich 1914 in einem Kampf der deutschen Kultur gegen „Barbarei und Überkultur“.345 Der deutsche Sieg werde, so Heuer, dazu führen, dass „Geibels Wort zur Wahrheit werde, daß am deutschen Wesen einst die Welt genesen müsse“.346 Die nationalen Selbstbilder, die das Hochstift nach 1881 produzierte, stehen alle im Zusammenhang mit der Reichsgründung von 1871. Die großdeutsche Nation Volgers wurde durch das kleindeutsche Reich abgelöst. Zur Jahrhundertwende sind die Probleme der inneren Einheit des Reiches und des Aufbaus einer Reichsidentität schon als weitgehend gelöst zu betrachten,
so Dörner.347 Nun zählten die Nationalhelden als Stichwortgeber einer nationalen Idee, die zwar eine Kulturnation formten, welche aber ihre Vollendung erst durch die Verbindung mit Preußen im Kaiserreich fand. Die Kultur wurde nicht zwangsläufig dem Machtstaat untergeordnet, denn das Bildungsbürgertum legte darauf Wert, seinen Beitrag zum Prozess der Nationalstaatsgründung zu betonen. Beide Sphären blieben aufeinander angewiesen. Aber Kultur und Bildung verloren ihren Vorrang, den ihnen Volger noch eingeräumt hatte. Volger hatte 1873 den preußischen Militarismus und das „Moltketum“ gegenüber Georg Herwegh noch als Gefahren für die deutsche Kultur beschrieben. Ähnlich argumentierten auch Gelehrte, wie Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche.348 Der Erste Weltkrieg verschärfte noch einmal die nationalen Machtfantasien. Führende Intellektuelle in Deutschland propagierten die „Ideen von 1914“, die einen eigenständigen Entwicklungsgang der deutschen Geschichte behaupteten.349 Hier wurde noch einmal eine „deutsche Mission“ in der Welt in Anspruch ge-
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Ebenda, S. 229. Ebenda, S. 239. Andreas Dörner, Der Mythos der nationalen Einheit, S. 413. Vgl. Wolf Lepenies, Kultur und Politik, S. 53 ff. Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 272 ff.; Wolfgang J. Mommsen, Die kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg; der., Der Geist von 1914.
V. Das Freie Deutsche Hochstift und der deutsche Nationalstaat
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nommen, aber sie wurde als Fortsetzung von 1871 verstanden.350 Otto Heuers Beitrag von 1914 reiht sich ein in diesen „Kulturkrieg“ gegen die „westliche Zivilisation“.
350 Wolfgang J. Mommsen, Die kulturellen Eliten, S. 180.
VI. DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT IN FRANKFURT AM MAIN 1. ZWISCHEN BÜRGERKULTUR UND KOMMUNALER FÖRDERUNG 1859–1881 Die Gründung des Hochstifts in Frankfurt am Main war von der Idee getragen, die Mainmetropole zu einem kulturellen Zentrum Deutschlands zu erheben. „Das Freie Deutsche Hochstift [...] kann nur Frankfurt zum Stiftsorte haben“, schrieb Volger 1859.1 Dabei spielte nicht nur Frankfurts historische Tradition oder die neuerliche Bedeutung als ein Zentrum der nationalen Bewegung eine Rolle. Für Volger ging es ganz konkret um die Selbstverwaltungsautonomie des Stadtbürgertums. Er betonte das Gleichgewicht zwischen Traditionalismus und Modernismus in einer Stadtbürgerrepublik wie Frankfurt am Main und sah in ihr das Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft schon weit fortgeschritten, das Handwerker, Kaufleute und Bildungsbürger vereinte. Volgers Erwartungen richteten sich also auch auf jene Gruppierung, die lange als ein Hemmnis und als Symbol für Stillstand und Agonie beschrieben wurde.2 Dagegen betonte man lange Zeit in der Forschung den Einfluss des Wirtschaftsund Bildungsbürgertums für die Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung.3 Die Kritik an diesen Bewertungen führte auf der anderen Seite zu einem Ansatz, der sich gegen die begriffliche Isolierung des Begriffs „Bürgertum“ wandte und wieder auf die konkrete Sozialform des Stadtbürgertums verwies.4 Aus dem Frankfurter Forschungsbereich „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ entstand eine Reihe von Untersuchungen, die spezifische Städtetypen und die Rolle des dortigen Stadtbürgertums analysierten. Offenbar war die alte Stadt für die Entstehung einer modernen ,bürgerlichen Gesellschaft‘ dort von größerer Bedeutung,
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Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 33. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, S. 130–140; Mack Walker, German Home Towns. Community, State and General Estate 1648–1871; Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert; Hannes Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorie „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode. Vgl. Utz Haltern, Die Gesellschaft der Bürger, S. 103 ff. Lothar Gall, Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, S. 2.
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so ein Resümee.5 Für Frankfurt am Main kam Ralf Roth mit seiner Studie zu einem ähnlichen Befund.6 Im Rahmen dieser Forschungen zum Bürgertum gewannen Stiftungen und das Mäzenatentum eine neue Beachtung.7 Sie werden als wesentliche Instrumente bürgerlichen Handelns beschrieben.8 Auch in Frankfurt am Main spielten Stiftungen und Mäzene eine herausragende Rolle für das Entstehen einer spezifischen Bürgerkultur.9 Es ist nun zu fragen, welche Erwartungen vonseiten des Freien Deutschen Hochstifts an das Frankfurter Stadtbürgertum und dessen Bürgerkultur gerichtet wurden und auf welche Resonanz sie stießen. Auf welche Instrumente der bürgerlichen Selbstverwaltung und der Selbstorganisation setzten Volger und seine Unterstützer ihre Hoffnungen? Zunächst hatten Männer wie Volger und Büchner das bürgerliche Mäzenatentum im Auge. Die große Anteilnahme, die man in Frankfurt an den Schillerfeiern nahm, und die nationale Mobilisierung der deutschen Öffentlichkeit schienen ihnen Garanten dafür zu sein, dass die Ziele des Hochstifts im Frankfurter Stadtbürgertum nicht nur auf eine ideelle Unterstützung trafen. Schon 1859 gab es die Hoffnung, vielleicht einen „großen Mäzen“ zu finden. Insofern war das Vorhaben nicht hybrid, wie Andreas Daum konstatierte, da Volger niemals daran dachte, auf Grundlage seiner „ungesicherten persönlichen Existenz“ das Hochstift zu entwickeln.10 Ohne Frage stellte das städtische Kulturleben in Frankfurt bis 1866 eine Domäne des Bürgertums dar, das vor allem durch ein bürgerliches Mäzenatentum charakterisiert war.11 Nur wenige Einrichtungen wurden durch die Stadt unterhalten oder gefördert, wie die Stadtbibliothek und der Theaterneubau.12 Man kann von einer „relativen Passivität des bürgerlichen Stadtregiments hinsichtlich der
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Hans-Werner Hahn, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1889–1870, S. 6. Vgl. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Roth betont, ähnlich wie es Volger schon beschrieben hatte, dass die stadtbürgerliche Gesellschaft „kein starres Gefüge“ war, sondern durchaus dynamisch auf die inneren und äußeren Veränderungen reagierte; ebenda, S. 658. Vgl. Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Brecht (Hg.), Stadt und Mäzenatentum; Thomas W. Gaehtgens/Jürgen Kocka/Reinhard Rürup (Hg.), Bürgerlichkeit – Wertewandel – Mäzenatentum (5 Bd.); Günter und Waldtraut Braun (Hg.), Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen; Michael Werner, Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus. Dieter Hein, Das Stiftungswesen als Instrument bürgerlichen Handelns im 19. Jahrhundert, S. 84. Vgl. Ralf Roth, „Der Toten Nachruhm“. Aspekte des Mäzenatentums in Frankfurt am Main (1750–1914); Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main, S. 29– 36. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 170. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 79; vgl. Ralf Roth, „Der Toten Nachruhm“; ders., Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 309 ff.; vgl. Ursula Bartelsheim, Das Frankfurter Stiftungswesen im 19. Jahrhundert. Vgl. Rudolf Jung, Die städtischen Sammlungen in reichs- und freistädtischer Zeit 1691–1866.
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Kultur“13 sprechen. Dies war ein Ergebnis des vielfältigen bürgerlichen Engagements in diesen Bereichen.14 Ein Instrument war das private Mäzenatentum. Doch der Mäzen war im 19. Jahrhundert kein unumstrittenes Vorbild. Schon Kant hatte die Bindung an den mäzenatischen Willen als bedenklich eingestuft und auch danach existierte eine „starke Spannung zwischen Bürgertum und Mäzenatentum“.15 Vor allem die Willkür und Beschränkung des Stiftungswillens wurden kritisiert und Vereine und Gesellschaften sollten als eine neue Art von „assoziativem Mäzenatentum“ diese Mängel auffangen. Diese „starke Spannung zwischen Bürgertum und Mäzenatentum“16 sollte durch kollektives Handeln überwunden werden. Der Mäzen und Wohltäter sollte keine Ausnahmeerscheinung, sondern Vorbild für den Bürger sein, Mäzenatentum nicht mehr das Ergebnis vereinzelter, unverbundener, quasi zielloser Bestrebungen, sondern aus vereinten und zielgerichteten Aktivitäten hervorgehen.17
In den Bereichen Kunst und Kultur sollte „anstaltsmäßig, dauerhaft und zielorientiert“ vorgegangen werden.18 Diese Ziele finden sich auch in der Programmatik des Hochstifts, doch diese geht über das private Mäzenatentum hinaus. Nachdem sich die anfänglichen Hoffnungen nicht erfüllt hatten, einzelne Mäzene für das Hochstift zu gewinnen, entwickelte man einige Jahre später Ideen, die eine öffentliche Kulturförderung thematisierten. Bürgerliche Stiftungen und Mäzene galten dem Hochstift durchaus als lobenswerte Beispiele bürgerlicher Eigenverantwortung, deren Bedeutung und Leistungen man hervorhob. Allerdings hielt man diese Instrumente für unzureichend, um allen Zielen zu genügen. Das Denken Volgers zielte immer auf den Ausbau von Netzwerken und Zusammenschlüssen. Dem stand der exklusive, meist individuelle Wille der Stifter und Mäzene entgegen. Es genüge nicht, so Volger, die immerhin seltenen Entschlüsse Einzelner zu Stiftungen abzuwarten, welchen obendrein meistens, in Folge besonderer Liebhabereien und eigenthümlicher Ansichten, mancherlei Beschränkungen anzuhaften pflegen, deren Wirkungen in gewissen Fällen sogar als wahre Gegenwirkungen [...] sich geltend machen
und es wäre nicht gut, wenn die Gesammtheit sich daran gewöhnt, dem Seckel Einzelner zu Vieles anheimzustellen, sich der Verpflichtungen zu eigner Mithülfe ledig zu sprechen und den Reichthum wie eine Art Vorsehung anzubeten.19
Damit wurde das herkömmliche Mäzenatentum infrage gestellt, denn der mäzenatische Wille sollte sich in den Dienst der allgemeinen Bedürfnisse stellen. Diese 13 14 15 16 17 18 19
Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 87. Ebenda. Dieter Hein, Bürgerliches Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, S. 82 ff. Ebenda. Andreas Schulz, Mäzenatentum und Wohltätigkeit – Ausdrucksformen bürgerlichen Gemeinsinns in der Neuzeit, S. 244. Ebenda. Ber. FDH 1864, S. 40.
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Idee fußte auf der Vorstellung, Frankfurt zu dem kulturellen Mittelpunkt Deutschlands zu machen. Deutsche Stiftungen sollten, wo irgend möglich, immer in Frankfurt ihren Sitz haben, theils um diesen geschichtlichen Mittelpunkt Deutschlands als solchen zu erhalten und zu kräftigen, theils weil nur in dieser Stadt die sonderstaatlichen Einflüsse sich gegenseitig genügend aufheben, um ein wirkliches rein=Deutsches Wesen solcher Stiftungen dauernd zu sichern.20
„Berlin“ so urteilte man, „eignet sich zu diesen Zwecken gewiß nicht“.21 Das Hochstift setzte voraus, dass die städtische Bürgerschaft diese nationalen Ziele vorbehaltlos unterstützten würde: [K]ein schöneres Ziel kann der Ehrgeiz des wohlhabenden Frankfurter Bürgers finden als das, die innere Bedeutung seiner Stadt zu heben, auf dass auch noch andere Vorzüge, als nur die der geographischen Lage und der historischen Erinnerungen ihren Anspruch, Deutschlands Hauptstadt zu werden, unterstützen.22
In diesem Sinne entwickelte Volger ein frühes Programm einer öffentlichen Kulturförderung durch die städtische Administration, denn diese Aufgabe kann „nur durch den Staat geschehen“.23 Unter dem Staat verstand man in diesem Fall das Frankfurter Stadtregiment als Organ der bürgerlichen Selbstverwaltung.24 Diese Sonderstellung der Gemeindeverwaltungen entsprach den Vorstellungen des Liberalismus im 19. Jahrhundert, der die Gemeinde nicht als eine staatliche, sondern als eine gesellschaftliche Ebene begriff.25 In der Konstitutionsergänzungsakte der freien Stadt Frankfurt am Main von 1816 wurde das erste Mal der Begriff der Selbstverwaltung auf Gemeindeebene in einem Gesetz festgeschrieben und bezeugte damit die Tradition dieses stadtbürgerlichen Selbstverständnisses.26 Die Anliegen, welchen sich bisher einzelne Stifter verschrieben hatten, sollten in das allgemeine Bewusstsein der Bürgerschaft treten, um schließlich Eingang in die Agenda der kommunalen Verantwortungen zu finden. Die Bürgerkultur sollte durch kommunale Maßnahmen ergänzt werden. Das lief nicht auf eine Abschaffung der Stiftungen und der Mäzene hinaus, sondern auf eine Ergänzung durch den öffentlichen Sektor. Diese Ansätze bekräftigen die These von Schimpf, dass sich die Anfänge der kommunalen Kulturpolitik bereits im 19. Jahrhundert finden lassen.27 Allerdings blieben die Überlegungen des Hochstifts über eine verstärkte kommunale Kulturförderung zunächst nur Programmatik. Einen öffentlichen Diskurs über diese Vorstellungen konnte das Hochstift nicht in Gang setzen, obwohl es in seinen Berichten Forderungen über die Gestaltung der öffentlichen Ausga20 21 22 23 24 25
26 27
Ber. FDH 1864, Flugblatt 3, S. 8. Ebenda. Ebenda, S. 32. Ebenda, S. 41. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 34. Andrea Fischer, Kommunale Leistungsverwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main unter Mumm von Schwarzenstein, S. 20; vgl. Paul Nolte, Gemeindeliberalismus. Zur lokalen Entstehung und sozialen Verankerung der liberalen Partei in Baden. Gisela Mettele, Verwalten und Regieren oder Selbstverwalten und Selbstregieren, S. 343. Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 17.
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ben veröffentlichte. Diese Forderungen finden sich in jenen Jahrgängen der Berichte, die als Flugblätter zwischen 1864–1866 erschienen. In ihnen setzte sich das Hochstift für eine vermehrte Unterstützung der Vereine durch die Stadt ein.28 Man tadelte, dass alles was für Wissenschaften, Künste und höhere allgemeine Bildung in Frankfurt geleistet wird [...] nur die Leistungen von Stiftungen [...] von opferwilligen Gesellschaften und Vereinen gutthätiger Leute und zumal von den lehrenden Männern der Wissenschaft selbst [seien], welche inmitten der mit ihrem Reichtum prunkenden Kaiserstadt [...] bittere Noth und drückende Entsagung zu tragen haben.29
Das Hochstift verlangte eine entschiedenere Förderung der wissenschaftlichen und bildungsmäßigen Zwecke durch die Stadt. Von den städtischen Einnahmen in Höhe von ca. 2,6 Millionen Gulden kämen nur ca. 100.000 Gulden dem „KirchenSchul- und Studienwesen“ zugute, während man allein ca. 550.000 Gulden für „Militär und Polizei“ ausgäbe, rechnete man vor. „Wenn das in einer Freien Stadt der Fall ist, was soll man dann von den Militärstaaten erwarten?“30 Das Hochstift verlangte eine Erhöhung des städtischen Etats für Kultur und Bildung auf mindesten 250.000 Gulden. 1.1. Das Goethehaus Das von Volger entwickelte Konzept, dass man als „public-private partnership“ (Gudrun-Christine Schimpf) bezeichnen kann, wurde vonseiten des Hochstifts im Frühjahr 1866 zum ersten Mal in eigener Sache an die Kommune herangetragen. Den Hintergrund bildete der Ankauf des Goethehauses, der den Verein vor eine enorme finanzielle Herausforderung stellte. Volger hatte nicht nur beabsichtigt, das Haus als Denkmal zu erhalten, sondern es sollte auch als „Nationalheiligtum der Deutschen“ vom Hochstift verwaltet werden. Unter großen Anstrengungen und mithilfe öffentlicher Spendenaufrufe gelang es, einen Teil der Kaufsumme von 56.000 Gulden aufzutreiben. Dabei sollten zunächst private Spender den größten Teil der Summe aufbringen. Der Aufruf an die Frankfurter Bevölkerung betonte die nationale Verantwortung Frankfurts, denn wir vertrauen, daß unsere Stadt auch bei dieser Gelegenheit wieder den alten Ruhm der Freigebigkeit ihrer Bewohner bewähren und daß Frankfurt unter den deutschen Städten als die erste strahlen werde, welche dazu beigetragen, daß ein solches Nationaleigenthum der Vergessenheit entzogen und der hohen Bestimmung zugeführt werde, fernerhin deutsche Wissenschaft, Kunst und Bildung zu schützen und auszusenden.31
Obwohl es gelang, ca. 10.000 Gulden zu sammeln, belasteten die Hypotheken mit einem Gesamtwert von 46.000 Gulden weiterhin die Vereinskasse. Jährlich muss28 29 30 31
Vgl. Ber. FDH 1864, Flugblatt 4. Ebenda, Sp. 3. Ebenda. Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt, Nr. 295, 13.12.1862
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te das Hochstift 2.200 Gulden für die Hypothekenzinsen aufbringen. Die Hochstiftsverwaltung bat deshalb den Senat um Übernahme der jährlichen Hypothekenzinsen. Die Verhandlungen zwischen Hochstift und Senat im Frühjahr 1866 führten schließlich zu keiner Einigung, aber beide Seiten waren bereit, über Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu sprechen. Volgers spätere Kampagnen gegen die städtischen Behörden haben die Möglichkeiten einer Einigung immer kategorisch verneint und dafür der Stadt die Schuld zugewiesen. Auch nach Volger nahm das Hochstift immer wieder darauf Bezug und wies auf eine „Ehrenschuld“ der Stadt hin.32 Der Stadt bzw. dem Senat eine totale Verweigerung zu unterstellen, ist deshalb auch unangebracht, da das „bürgerlich-republikanische Stadtregiment [...] im allgemeinen für die Belange des öffentlichen Kulturlebens bis 1866 kein besonderes Engagement zeigte“.33 Der Erwartungshorizont, der in späteren Jahrzehnten die öffentliche Kulturpolitik bestimmte, kann nicht als Maßstab herangezogen werden. Der Senat hatte aber ein Interesse an der Wiederherstellung des Goethehauses durch das Hochstift bekundet. 1865 folgten die beiden Bürgermeister, Senator Dr. Gwinner und Dr. Speltz, einer Einladung und ließen sich die Fortschritte der Restaurierungsarbeiten zeigen.34 Der Senator Gwinner hatte gegenüber Volger erklärt, er zweifle nicht daß auch die übrigen Senatoren sich einem schriftlichen Gesuche von Seiten des H., zum Zwecke der Erlangung des fraglichen Kapitals, sich willfährlich zeigen würden, da es zulässig für die Stadt wäre, eine Hypothek von dem Göthehause [zu] übernähme[n].35
Der Senat signalisierte den Willen, das Hochstift zu unterstützen. Als Volger am 2. Februar erneut bei Gwinner vorsprach, empfahl ihm dieser, in den Antrag an den Senat zwei Vorschläge aufzunehmen. Erstens solle man der Stadt bei Auflösung des Hochstifts ein Vorkaufsrecht gewähren. Ein zweiter Vorschlag, der von Gwinner „noch mehr empfohlen“ wurde, zielte darauf, dass das Hochstift dem Hohem Senate das Eigenthumsrecht am Göthehause gegen Uebernahme der darauf haftenden ersten Insatzschuld von fl. 3000 u. Bezahlung der angesuchten fl. 18 000 unter der Zusicherung abtrete, daß das F.D.H. gegen eine zu vereinbarende, jedenfalls nur einer niedrigen Verzinsung gleichkommende u. den Verdiensten des F.D.H. um die Herstellung des Hauses Rechnung tragende Miethe ganz so in der Nutznießung des Hauses belassen bleibe, wie es solche seither als Eigenthümer gehabt habe.36
Für das Hochstift war nur der erste Vorschlag akzeptabel, weil die Satzungen des F.D.H. und die zahlreichen Spenden von Geldbeiträgen für den Erwerb des Göthehauses gegenüber übernommenen Verpflichtungen eine Veräußerung vor Auflösung des F.D.H., nicht zulassen.37
32 33 34 35 36 37
Auch Fritz Adler bezweifelte die Absichten der städtischen Behörden, vgl. ders., Freies Deutsches Hochstift, S. 136 ff. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 79. Ber. FDH 1865, Flugblatt 1, Sp. 1; Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 123 ff. Prot. VS, 23.1.1866. Prot. VS, 5.2.1866. Ebenda.
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Dennoch missfiel es vor allem Volger, dass der Senat überhaupt Bedingungen stellte. Er befürchtete, dass städtische Subventionen die Autonomie des Hochstifts gefährden, obwohl er die Zusammenarbeit zwischen Bürgerkultur und Kommune als Zukunftsmodell für die Stadt beschrieben hatte. Einzelne Mitglieder waren aber bereit, durch die Gründung einer „Goethestiftung“ das Haus aus der Verwaltung des Hochstifts herauszulösen, um damit eine organisatorische Basis für eine Kooperation zwischen Stadt und Hochstift zu schaffen, die zudem sicherstellte, dass die Stadt auf die weiteren Belange des Hochstifts keinen Einfluss nehmen konnte.38 Der Senat rückte schließlich von der Idee ab, das Haus zu erwerben und plädierte für ein Vorkaufsrecht. Allerdings verlangte er die Verabredung einer festen Kaufsumme.39 Die Unterstützung sollte zunächst auf zwanzig Jahre begrenzt werden und unkündbar sein.40 Das Hochstift war zwar bereit, „unter den verhandelten Bedingungen, das Vorkaufsrecht auf ewige Zeiten zu gewährleisten“, aber eine „Festsetzung des einstigen Verkaufspreises“ lehnte man ab.41 Senat und Hochstift gelang es also 1866 nicht, sich auf eine Unterstützung zu einigen, obwohl beide Seiten Bereitschaft signalisiert hatten. Die Stadt aber hatte eine Verantwortung für die Erhaltung des Goethehauses als historisches Bau- und Kulturdenkmal akzeptiert. Es war vielmehr eine Fülle von Faktoren, die für das Scheitern verantwortlich zu machen sind. Der Senat hatte durchaus das berechtigte Interesse, angesichts der noch nicht üblichen Praxis öffentlicher Kulturförderung gewisse Sicherheiten zu verlangen, die er durch ein Vorkaufsrecht bestimmte. Das Hochstift war zudem ein noch „junger“ Verein, dessen weitere Entwicklung und Bestand, wie das Ersuchen um Unterstützung an die Stadt zeigte, durchaus ungewiss waren. Immerhin handelte es sich um einen jährlichen Betrag von 2.000 Gulden, der für zwanzig Jahre zu zahlen war. Vonseiten des Hochstifts, vor allem aber bei Otto Volger stießen die Forderungen auf Ablehnung. Der Obmann fürchtete trotz der von ihm noch zuvor entwickelten Ideen einer öffentlichen Kulturförderung um die Autonomie des Hochstifts. Obwohl er 1866 zu den Vertretern der städtischen Administration noch in einem guten Einvernehmen stand, war er zu keinen Kompromissen bereit. Es war schließlich Volger, der im März 1866 eine Alternative ins Spiel brachte und mit dem Kanzleirat Adolf Müller wiederum eine „mäzenatische Lösung“ präsentierte. 38 39
40 41
Prot. VS, 6.2.1866. Prot. VS, 13.2.1866; Senatsprotokoll Nr. 884, 20.2.1866, Senatsprotokolle 1866, Januar-Juni, Bd. 19, ISG Frankfurt a. Main. Allerdings ist laut Senatsprotokoll nur davon die Rede, dass das „Hochstift als Eigenthümer des Göthehauses hiesiger Stadt auf ewige Zeiten das Vorkaufsrecht an dem Göthehause einräume“. Erst am 9. März findet sich in den Protokollen die Bedingung, „bei einer beabsichtigten Veräußerung desselben zu einem jetzt schon zu bestimmenden Preise in Unterhandlung zu treten“. Senatsprotokoll, Nr. 1228, 9.3.1866, Senatsprotokolle 1866, Januar-Juni, Bd. 19, ISG Frankfurt a. Main. Möglicherweise hatte Volger diese Bedingung bereits früher in Erfahrung gebracht. Prot. VS, 13.2.1866. Ebenda.
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Müller erklärte sich bereit, eine Hypothek von 18.000 Gulden zu finanzieren. Damit beendete Volger alle weiteren Verhandlungen mit der Stadt, weil er sich zu keiner weiteren „Nachgiebigkeit gegen den Senat“ bereitfand.42 Am 15. April genehmigten die Mitglieder in einer öffentlichen Sitzung des Hochstifts Müllers Angebot.43 Dadurch konnte die finanzielle Notlage des Hochstifts nur für kurze Zeit gemildert werden. 1878 betrugen die Hypothekenschulden 85.714 Mark und es fielen jährliche Zinszahlungen von über 3.800 Mark an. Die Verwaltung wandte sich deshalb 1878 erneut an die Stadt mit der Bitte, sie möge die Hypothekenzinsen übernehmen.
Abb. 3: Das Frankfurter Goethehaus 1867, Fotografie von Carl Friedrich Mylius
Anders als noch 1866 verband das Hochstift sein Gesuch mit einer umfassenden Begründung. Dennoch stand dieses Ansinnen – und das war auch Volger bewusst – unter einem ungünstigen Stern, obwohl die Ausgangslage vorteilhafter war als 42 43
Prot. VS, 6.3.1866. Prot. VS, 17.4.1866.
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ein Jahrzehnt zuvor. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann nämlich ein Prozess, der zu einem stärkeren kommunalen Engagement für den Bereich der Kultur führte.44 Auch in Frankfurt, das durch bürgerliche Traditionen geprägt war, finden sich Beispiele für diese Entwicklung, beispielsweise die Gründung des Historischen Museums. Dieses Projekt hatte Volgers langjähriger Unterstützer, der Frankfurter Anwalt Friedrich Scharff, bereits 1861 angeregt.45 Die Errichtung dieses kommunalen Museums wurde motiviert durch den Stolz auf die freistädtische Geschichte und Tradition, die man mit dem Museum präsentieren wollte. In diesem Sinne spielten auch Verweise auf die „moralische Verpflichtung der Goethestadt“ eine Rolle, mit der z. B. Subventionen begründet wurden.46 Das Hochstift begrüßte die Gründung des Museums und Volger forderte die Mitglieder auf, den Museumsverein zu unterstützen.47 In diesem Fall kooperierten verschiedene Akteure zusammen. Die Stadt errichtete und unterhielt das Museum, der Verein für Geschichte und Altertumskunde übergab dem Museum einen Teil seiner Sammlungen und der Verein für das Historische Museum unterstützte die Arbeit des Museums. Auch zahlreiche private Spenden bereicherten dessen Sammlungen. 1906 gründete die Stadt eine historische Kommission, die durch eine private Stiftung des Bankiers Jakob Stern in Höhe von 100.000 Mark veranlasst wurde. Stern wollte mit diesem Geld die stadtgeschichtliche Forschung unterstützen. Die eingereichten Arbeiten wurden durch die Kommission bewertet und ausgezeichnet. Eine ähnliche Entwicklung gab es auch in Hamburg, das als republikanischer Stadtstaat eine ähnliche Dominanz des städtischen Bürgertums aufwies. Auch in Hamburg waren Vereine die Initiatoren, z. B. der Verein für Hamburgische Geschichte, der eine Sammlung Hamburger Altertümer anregte, die schließlich in ein kommunal getragenes Museum für Hamburgische Geschichte überging.48 Diese Initiativen wurden ebenfalls von einem bürgerlichen Patriotismus getragen, der die freistaatliche Geschichte und deren Traditionen gegen die befürchtete preußische Vereinnahmung nach der Reichsgründung in Stellung brachte.49 Das Hochstift verwies in seinem Gesuch auf diese Projekte und die Unterstützung für andere „vielfältige[n] rühmliche[n] Aufwendungen“ der Stadt für Kultur und Bildung. Solche Zuwendungen würden auch eine Unterstützung des Hochstifts rechtfertigen, zumal die Stadt sogar eine nationale Einrichtung wie das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg bedacht hatte.50 Einen Verkauf des Goethehauses an die Stadt (die seit 1866 zu Preußen gehörte) lehnte man aber kategorisch ab, weil dessen Besitz einen integralen Bestandteil der Satzung bildete. Nur dann, wenn das Goethehaus im Besitz einer unabhängigen und bürgerlichen Stif44 45 46 47 48 49 50
Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 109 ff. Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 155–166. Ebenda, S. 393. Ber. FDH 1880, S. 63. Birgit-Katharine Seemann, Stadt, Bürgertum und Kultur. Kulturelle Entwicklung und Kulturpolitik in Hamburg von 1839 bis 1933 am Beispiel des Museumswesens, S. 29 ff. Ebenda, S. 34. FDH an den Magistrat, 30.9.1878, Magistratsakten 1769, Bd. 1, ISG Frankfurt a. Main.
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tung sei, könne es zu einem „wirklichen Nationaleigenthum“ werden, das unter der „Währschaft Derjenigen“ steht, die sich durch Spenden und andere Zuweisungen bereits verdient gemacht haben. Das Hochstift als nationale Vereinigung und mit der Möglichkeit des freien Beitritts biete dafür die Gewähr. Nach allem Obigen vertreten wir als Inhaber des Eigenthumsrechtes am Goethehaus das Anliegen der gesammten Nation und insbesondere das Anliegen derjenigen, welche ihre Beiträge, um uns den Ankauf des Hauses zum National-Eigenthum zu ermöglichen, in öffentlichem Vertrauen in unsere Hände gelegt haben.51
Die Stadt beharrte aber darauf, das Haus zu erwerben und es dem Hochstift zur Miete zu überlassen.52 Die Haltung der Stadt hatte zwei Gründe. Erstens stand man den bisherigen Erfolgen des Hochstifts skeptisch gegenüber. In seiner Antwort ging der Magistrat nicht einmal auf die anderen Tätigkeiten des Hochstifts ein. Volger hatte vor allem dessen Bildungsaufgaben hervorgehoben. Diese „geistige Arbeit“ sei der „Einwohnerschaft der Stadt Frankfurt zum Nutzen gediehen“.53 Die Frankfurter würden von der Offenheit und dem geringen Jahresbeitrag (6 Mark) profitieren, weil das Hochstift gegenüber den spezialisierten Vereinen eine größere Vielfalt an Themen anbiete. Außerdem belebe man den Wettbewerb durch diese „ergänzende Vielseitigkeit des Frankfurter Lebens“ und Frankfurt könne zu einem „Brennpunkt der geistigen Beziehungen“ gemacht werden.54 Zweitens zweifelte der Magistrat am Fortbestand des Hochstifts, weil dessen Aktivitäten nach dem Aufschwung Anfang der 1860er Jahre merklich zurückgegangen waren.55 Selbst Volger hatte gegenüber dem Magistrat die prekäre finanzielle Situation beschrieben, welche die „gesammte Wirksamkeit in geradezu unerträglichem Maße bedrückt und hindert“.56 Er äußerte die Hoffnung, dass die städtischen Hilfen die gesamte Fortentwicklung des Hochstifts garantierten. Ob die allgemeine Stagnation nach einer Übernahme der Zinszahlungen beendet sein würde, war nicht abschätzen. Zentrale Aufgaben, wie die Bildung einer freien Hochschule, waren bisher kaum über Ankündigungen hinaus verwirklicht worden und seit einem Jahrzehnt waren keine Berichte mehr erschienen. Obwohl der Magistrat erklärte, dass für den Erhalt des Hauses „das gesammte Deutsche Volk, zunächst und allermeist aber hiesige Stadt selber das größte Interesse hat“57, betrachtete man das Hochstift 1878 nicht als einen gleichberechtigten Partner. Die Stadt war nicht einmal bereit, wie noch 1866 der Senat, ein Vorkaufsrecht als Ge-
51 52 53 54 55 56 57
Ebenda. Auszugsprotokoll der Magistratssitzung vom 8.10.1878, Magistratsakten 1769, Bd. 1, ISG Frankfurt a. Main. FDH an den Magistrat, 14.8.1878, ebenda. Ebenda. Protokollauszug des Magistrats der Stadt Frankfurt a. Main, 13.9.1878, ebenda. FDH an Magistrat, 14.8.1878, ebenda. Ebenda.
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genleistung für städtische Hilfen zu akzeptieren, obwohl nun sogar Volger ein solches Angebot unterbreitete.58 Die Distanz des Magistrats beruhte aber nicht nur auf den Zweifeln in Bezug auf die Zukunft des Hochstifts. In zwei Bereichen, die wesentlich für die Zusammenarbeit zwischen Bürgerkultur und kommunaler Kulturpolitik waren, hatte das Hochstift unter Volgers Führung keine Vorteile gewinnen können. Das betraf das Verhältnis der Akteure untereinander und die Rolle der Presse.59 Schimpf hat zuletzt in ihrer Studie auf die Bedeutung der Beziehungen zwischen den Akteuren für die Aushandlungsprozesse in einem verflochtenen „bürgerlich-politischen System“ hingewiesen, bei dem auch die informellen Einflussmöglichkeiten wichtig waren.60 Die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung waren nicht nur Vertreter der Kommune. Sie waren als Mitglieder von Vereinen, Gesellschaften und Stiftungen auch Teil der Bürgerkultur. Für die Verschlechterung des Verhältnisses zum Magistrat war vor allem Otto Volger verantwortlich. Er hatte seit 1868 einem Prozess gegen die Stadt geführt, um die Vertragsbedingungen seines Quellwasserbrunnens im Riederwald durchzusetzen. Da der „öffentlich zunehmend rechthaberisch und uneinsichtig agierende Volger mehr und mehr isoliert“ wurde, waren dessen Beziehungen zum Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung immer mehr zerrüttet.61 Das Hochstift, das nicht nur Volger, sondern auch die Öffentlichkeit als dessen Schöpfung ansah, blieb davon nicht unberührt. Den Oberbürgermeister Daniel Heinrich Mumm betrachtete Volger als seinen persönlichen Feind. Denn Mumm, so Volgers Überzeugung, stecke hinter den Prozessen gegen ihn. Nach seinem Konkurs und dem Tod seines Sohnes kannte Volgers Verbitterung keine Grenzen mehr. Im Februar 1878, nur wenige Monate vor dem Gesuch an den Magistrat, veröffentlichte Volger in der Frankfurter Presse eine „Verwahrung“.62 Er verteidigte seine geschäftlichen Unternehmungen und verband diese mit scharfen Angriffen auf die Stadt. Volger stilisierte sich zu einem Märtyrer, der gegen Gehässigkeit, Neid und Unterstellung kämpfe und bereits den Ruf „Gegner der Stadt“ trage. Sein erlittenes Unrecht stellte er dabei in einen religiös verbrämten Zusammenhang, der ein Strafgericht zur Folge haben werde. Aber mit Trauer erblicke ich das Walten der ewigen Gerechtigkeit in dem rasch vorschreitenden wirthschaftlichen Verderben des Gemeinwesens unserer Stadt!63
Als ein Beispiel führte er den Bau der Oper an, deren Baukosten immer weiter stiegen. 1869 hatte Oberbürgermeister Mumm den Vorschlag unterbreitet, ein den Erfordernissen entsprechendes größeres Theater- und Operngebäude zu errichten.64 Ein privater Förderverein Frankfurter Bürger hatte bis 1870 über 800.000 58 59 60 61 62 63 64
FDH an den Magistrat, 30.9.1878, ebenda. Zu deren Bedeutung Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 20 ff. Ebenda. Karl Maly, Die Macht der Honoratioren, Bd. 1, S. 60. Frankfurter Intelligenzblatt, Nr. 42, 19.2.1878, FDH-Hausarchiv. Ebenda. Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 264.
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Mark gestiftet, unter der Bedingung, dass die Stadt die restliche Bausumme bereitstellte. Die privaten Stifter verlangten zudem bevorzugte Logenplätze und Einfluss auf den Bauplan und die Abonnements.65 Volger hatte bereits als Stadtverordneter das Bauvorhaben bekämpft und gegen eine „Logenaristokratie“ polemisiert.66 Die Baukosten überstiegen schließlich den Kostenvoranschlag um 3 Millionen Mark und es kam in der Stadtverordnetenversammlung zu heftigen Kontroversen.67 Volger nahm darauf Bezug und bezeichnete sich als einen Kämpfer gegen den „unbesonnenen voranschlaglosen Beginn des gewissenlos verschwenderischen Opernhausbaues“. Das Projekt galt ihm als Menetekel für den Verfall der Stadtgemeinde, denn „immer tiefer versinkt unser Gemeinwesen in den Abgrund der Ausbeutung durch seine leichtfertigen Beglücker“ und von „dem Mitversinken der Ehrenhaftigkeit und Sittlichkeit will ich nicht reden“.68 Volger warf der Stadt vor, sie betreibe eine Kulturpolitik für eine kleine vermögende „Logenaristokratie“, die sich mithilfe von städtischen, d.h. öffentlichen Geldern, eine privilegierte Einrichtung schaffe. Doch Kultur und Bildung müssen allen Kreisen zugänglich sein, so Volger. Das sei auch das Ziel des Hochstifts. Diese Polemik förderte nicht die Sympathie für das Hochstift und seinen Obmann in den Reihen des Magistrats und musste auch jene Kreise des Stadtbürgertums brüskieren, die den Bau des Opernhauses unterstützten. Da das Verhältnis zum Magistrat nachhaltig gestört war, boten sich hier kaum noch Möglichkeiten, Netzwerke, Koalitionen oder Hintergrundgespräche zu nutzen, um informelle Einflussmöglichkeiten auszuloten. Auch das Verhältnis zur Frankfurter Presse hatte sich in Volgers Amtszeit verschlechtert. Die örtliche Presse stellte einen wichtigen Akteur für die Kommunalpolitik dar.69 Als wichtiges Vermittlungsorgan „formulierte oder unterstützte sie Forderungen“ und trug Diskussionen in die städtische Öffentlichkeit.70 Eine der wichtigsten Presseorgane Frankfurts war die seit 1866 erscheinende Frankfurter Zeitung, die Leopold Sonnemann herausgab. In der Frankfurter Zeitung erschienen immer wieder Artikel, die sich kritisch oder ironisch mit dem Hochstift und dem selbstherrlichen Auftreten seines Obmanns beschäftigten. 1877 ließ Volger die Frankfurter Zeitung aus dem Lesezimmer des Hochstifts verbannen. Auch hier fehlten dem Hochstift wichtige Fürsprecher in der städtischen Öffentlichkeit. Als letztes Mittel sah Volger deshalb nur die Möglichkeit, in direkter Konfrontation die Akteure durch eine öffentliche Kampagne unter Druck zu setzen. Das hatte der Obmann schon 1878 gegenüber dem Magistrat unverhohlen ausgesprochen. Falls dieser nicht bereit sei, „in der Annahme seines Vorschlages von 65 66 67 68 69 70
Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 276. Karl Maly, Die Macht der Honoratioren, Bd. 1, S. 127 ff. Frankfurter Intelligenzblatt, Nr. 42, 19.2.1878, FDH-Hausarchiv. Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 21, 134–154. Ebenda, S. 147.
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Seiten des Freien Deutschen Hochstiftes die erwünschte Möglichkeit finden zu können“, dann „bliebe uns nur der Weg einer Anrufung der Hilfe anderer Kreise offen“ und man kündigte an, die Verhandlungen zu veröffentlichen.71 In den Berichten, die seit 1880 wieder erschienen, wurden die Verhandlungen aus Sicht des Hochstifts geschildert und wuchsen an zu einer massiven Anklage gegen den Magistrat. Der Ankauf des Goethehauses durch Volger wurde als nationale Tat gefeiert und gleichzeitig warf man der Stadt vor, sich nicht für den Erhalt des nationalen Kulturdenkmals eingesetzt zu haben. Dass der Senat 1866 schon ein Darlehen verweigert hatte, entsprach allerdings nicht der ganzen Wahrheit. Vielmehr hatte man sich damals nicht über die Konditionen einigen können. Die Haltung der städtischen Behörden bezeichnete man nun als Ausdruck „spießbürgerlicher Engherzigkeit“, die zudem noch von „Anfeindungen und Gehässigkeiten“ gegenüber Volger begleitet seien. Das Hochstift habe deshalb den berechtigten Wunsch geäußert, dass die Behörden der Stadt [...] welche jetzt von der sorgfältigen Erhaltung, würdigen Benutzung und Verwaltung des Goethehauses vielfach den gänzlich unverdienten Ruhm genießen, endlich ihre Ehrenpflicht erkennen und dem F.D.H. die Zinslast, welche dessen anderweitige Thätigkeit in bedauerlicher Weise behindert, abnehmen möchte.72
Man konstatierte die Gleichgültigkeit der städtischen Behörden gegen die mit jedem Jahre für unser Volk und seine Bildung bedeutungsvoller werdenden Goethe=Erinnerungen.73
Während das Hochstift sich zum Hüter nationaler Kultur erklärte, an dessen Spitze Volger als „Märtyrer“ und Kämpfer“ stand, sei in Frankfurt nur noch das „goldene Kalb“, der „Tanz um den Mammon“, von Bedeutung. Man kritisierte die Stadt, die andere hiesige Vereine mit reichen Beträgen unterstützt [...] welche mehr dem Vergnügen und der Schaulust sich widmeten, wie der ,Thier= und Palmen-Garten‘.74
Diese Einrichtungen würden mit vielen Hunderttausenden an baarem Gelde und mit unverzinslich überlassenen Ländereien im Werthe von mehreren Millionen unterstützt,
während eine Stiftung wie das Hochstift, dass mit seinen Bildungsbestrebungen höheren Pflichten genügte und ein „Heiligthum aller Gebildeten gerettet und erhalten hat“, keine Wertschätzung genösse. Mit diesen Veröffentlichungen wurden endgültig alle Türen für Verhandlungen mit dem Magistrat geschlossen. Nun war es am Ende wieder die mäzenatische Tat eines Einzelnen, die das Hochstift rettete. Adolf Müller hinterließ nach seinem Tod 1880 eine entsprechende Stiftung von 500.000 Mark. Doch als die Behörden eine Aufsicht des Ma71 72 73 74
FDH an den Magistrat, 30.9.1878, Magistratsakten 1769, Bd. 1, ISG Frankfurt a. Main. Ber. FDH 1880, S. 136. Ebenda, S. 140. Ebenda.
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gistrats über die Vermögensverhältnisse des Hochstifts verlangten, war Volger sogar bereit, auf die Stiftung zu verzichten, da er, verbittert durch die Auseinandersetzungen der letzten Jahre, jeden Einfluss der Kommune auf das Hochstift ablehnte. Seine Haltung führte schließlich zu seinem Sturz und die neue Verwaltung, die teilweise aus Männern bestand, die lange in der städtischen Administration gewirkt hatten, leitete sofort einen Neuanfang in den Beziehungen zur Stadtverwaltung ein. Eine erste Zusammenarbeit ergab sich in der Frage des Grabs der „Frau Rath“, die noch aus Volgers Amtszeit rührte. 1.2. Das Grab der „Frau Rath“ Wie schwierig sich das Verhältnis zwischen Hochstift und der Stadt in den letzten Jahren von Volgers Amtszeit gestaltete, zeigen die Auseinandersetzungen um die Rettung der Grabstelle von Catharina Elisabeth Goethe. Auch in diesem Fall waren die Gegensätze in der Sache nicht unüberwindbar und man hätte zu einer Einigung kommen können. Allerdings führte Volgers Handeln zu einer Eskalation, die dem Hochstift bei der Stadt und den preußischen Behörden einen weiteren Ansehensverlust einbrachte. Ursache war die Absicht des Magistrats, auf dem Friedhof an der Peterskirche eine Straße zu bauen.75 Der Friedhof, der nicht mehr benutzt wurde, sollte nach einem Beschluss des Senats von 1825 für hundert Jahre unangetastet bleiben. Auf ihm befanden sich die Gräber von Goethes Eltern. Das Grab von Catharina Elisabeth Goethe hatte man 1849 „mit einem neuen Steine bedeckt, der Geburts= und Sterbetag der berühmten Mutter bezeichnet und das Datum der Stiftung“.76 Nachdem Volger vom Vorhaben der Stadt erfahren hatte, unterrichtete er sofort die Hochstiftsverwaltung.77 Er fürchtete, dass die geplante Straße zur Beseitigung der Gräber führen könne. Zunächst zog der Magistrat das Projekt zurück, aber ein Jahr später wurde wieder darüber verhandelt. Die Stadt wies die erneuten Eingaben des Hochstifts gegen den Straßenbau zurück. Das Hochstift beanspruchte, in dieser Angelegenheit ein nationaler Sachwalter für Goethes Andenken zu sein. Es versicherte sich auch der Unterstützung der Familie Goethe. Walther und Wolfgang von Goethe wurden bereits 1877 von Volger unterrichtet und beauftragten das Hochstift, sich für die Sicherung der Grabstelle einzusetzen.78 Der Magistrat hatte sicherlich nicht die Absicht, die prominente Grabstätte, die außerdem als Gedenkstätte gekennzeichnet war, zu beseitigen. Vielmehr weigerte er sich, mit dem Hochstift über die Pläne zu sprechen oder dem Verein eine Verantwortung in dieser Sache zuzuerkennen. 75 76 77 78
Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 158–164. Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 207, 31.8.1849, S. 827. Prot. VS, 21.12.1877. Eine Abschrift der Ermächtigung liegt den Magistratsakten S 543, ISG Frankfurt a. Main, bei. Die Enkel besaßen allerdings kein Eigentumsrecht an der Grablege, sondern beanspruchten einen symbolischen Besitz, der ihnen von den Beteiligten auch nicht bestritten wurde.
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Volger wandte sich daraufhin an die übergeordneten Behörden, um darzulegen, dass die Stadt entgegen der Verfügung von 1825 beabsichtige, den Friedhof zu zerstören. Durch die geplante Wegführung bestünde die Gefahr, dass „das Grab der Frau Rath Goethe, der Mutter unseres größten Dichters, auf die Frankfurt, ja ganz Deutschland stolz sein sollte, vernichtet“ werde und „der offenen Strasse zufallen würde“.79 Die Regierung in Wiesbaden solle dem Magistrat das Vorhaben verbieten. Gleichzeitig beschuldigte Volger die Familie Mumm, deren Mitglied Daniel Heinrich Mumm seit 1868 Frankfurter Oberbürgermeister war, private Interessen zu verfolgen. Die Weinhandlung Mumm plane, so das Hochstift, ein großes Geschäftsgebäude auf der südlichen Grenze zu errichten und ihr solle dafür der südliche Teil des Friedhofs zufallen. Volger unterstellte dem Oberbürgermeister eine direkte Einflussnahme. Er sprach von einer Manipulation der öffentlichen Meinung, von einer „gegen den Fortbestand des Friedhofes gerrichtete[n] Wühlerei“, denn die „städtischen Behörden unterliegen hinreichenden Einflüssen, um zu den Maßregeln gedrängt zu werden“.80 Auch August Ravenstein, Eigentümer der Kartographischen Verlagsanstalt, bezeichnete Volger als Anstifter. Ravenstein, immerhin einst Gründungsmitglied und Meister des Hochstifts, hatte der Stadt vorgeschlagen, mithilfe des Verschönerungsvereins, die Straße auf dem Friedhof zu planen. Er habe, so Volger, bereits „gewaltige Summen städtischen Vermögens für sich zu werben gewusst“ und der Straßenbau sei nur eine Vorstufe für Spekulationen mit dem Baugrund des Friedhofsgeländes.81 Diese Bauspekulationen gefährdeten ein „höheres sittliches Anliegen der ganzen Deutschen Nation“ und Volger drohte gegenüber dem Wiesbadener Regierungspräsidium eine Beschwerde beim Kaiser vorzubringen.82 Der Frankfurter Magistrat hatte unterdessen eine Umfassung der Grabstelle angeordnet. Das Hochstift gab sich aber damit nicht zufrieden und verlangte den Einbau einer Tür, um das Grab entsprechend pflegen und begrünen zu können, was der Magistrat umgehend zurückwies.83 Auch das Wiesbadener Regierungspräsidium hielt die Ansprüche des Hochstifts für unbegründet. Volger wandte sich nun an den Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Kassel und an den deutschen Kaiser. Doch weder die Behörden in Kassel, noch der Kaiser84 sahen die Forderung als berechtigt an, zumal das Grab nun durch die Stadt geschützt wurde. Dies war immerhin ein Erfolg in der Sache, aber er war mit einem gewaltigen Ansehensverlust verbunden. Der Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau rügte 79 80 81 82 83 84
FDH an Königliche Regierung in Wiesbaden, 16.5.1879, Abschrift, Magistratsakten, S 543, ISG Frankfurt a. Main. Ebenda. Ebenda. Ebenda. FDH an den Magistrat der Stadt Frankfurt, 12.12.1879, Magistratsakten S 543, ISG Frankfurt a. Main. Wilhelm I. hatte die „Beschwerde für unbegründet erachtet und demgemäß Seine Königliche Hoheit den Großherzog von Sachsen=Weimar von der Sachlage in Kenntniß gesetzt“. Königliche Regierung, Abteilung des Inneren an die Königliche Regierung zu Wiesbaden, 17.8.1881, Abschrift, Magistratsakten S 543, ISG Frankfurt a. Main.
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das Vorgehen des Hochstifts in dieser Angelegenheit scharf. Dessen „erhobene schwere Anschuldigungen gegenüber den städtischen Behörden“ hätten sich „in keinem einzigen Punkte als begründet erwiesen“.85 Vor allem aber kritisierte die Provinzbehörde, dass sich die Verwaltung des Freien Deutschen Hochstifts nicht nur zu Uebertreibungen, sondern auch zu unberechtigten Unterstellungen und verletzenden Verdächtigungen hat hinreißen lassen, welche ebenso wenig der eigenen Würde des Hochstifts angemessen erscheinen, als mit der den Regierungsbehörden und den Verwaltungsorganen der dortigen Stadtgemeinde schuldigen Achtung in Einklang gebracht werden können.86
Zu dieser Rüge kam noch die Entdeckung, dass sich die Grabstätte von Catharina Elisabeth Goethe an einem anderen Platz befand, was der Stadtarchivar Grotefend 1881 herausfand.87 Am Beispiel der Grabstätte wurde wieder einmal deutlich, wie zerrüttet das Verhältnis zu den Stadtbehörden war und wie Volgers ungestümes Vorgehen einen Interessenausgleich verhinderte. Dabei setzte er sich sogar über die Wünsche der Familie Goethe hinweg, die eine Beschwerde in dieser Sache beim Kaiser ausdrücklich untersagt hatte.88 Nachdem im November 1881 eine neue Verwaltung unter dem Vorsitz des ehemaligen Bürgermeisters Nikolaus Berg gewählt worden war, kam es in dieser Angelegenheit zügig zu einer Verständigung mit der Stadt Frankfurt. Zusammen bildete man einen Ausschuss, um eine gemeinsame feierliche Einweihung der Grabstätte vorzubereiten. Nun akzeptierte der Magistrat das Anliegen des Hochstifts und befürwortete eine Zusammenarbeit. Volger war als Verwaltungsmitglied noch einige Monate in der gemeinsamen Kommission vertreten. Er erkannte, dass sein Vorgehen gegen die Stadt seinen Sturz mit herbeigeführt hatte. Da er die Hoffnung hegte, wieder an die Spitze des Hochstifts zurückzukehren, bemühte er sich nun um Entspannung. Er schlug im April 1882 Oberbürgermeister Miquel als Ehrenmitglied der gemeinsamen Kommission vor. Gegen Miquel, der seit 1880 Frankfurter Oberbürgermeister war, hatte das Hochstift unter Volgers Leitung noch vor einigen Monaten Beschwerde geführt. Miquel hatte Volger sogar die Einsicht in das Stadtarchiv verweigert, in dem der Obmann Dokumente über die Grabstellen einsehen wollte. Volger begründete nun seinen Vorschlag, um „auf diese Weise den Verhandlungen über die für Frankfurts Ehre bedeutsame Angelegenheit eine höhere Weihe zu ertheilen“. Ohne auf seine eigene Rolle zu sprechen zu kommen, schrieb er an Miquel:
85 86 87
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Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau an FDH, 24.7.1880, Abschrift, Magistratsakten 543, ISG Frankfurt a. Main. Ebenda. Die irrtümliche Bezeichnung erfolgte anlässlich der Goethefeier von 1849 auf Grund ungenauer Kenntnisse, vgl. FZ, Nr. 170, 19.6.1881; Grotefend an Magistrat, 29.9.1881. Die Stadt verweigerte dem Hochstift zunächst einen Einblick in die Akten der Friedhofsverwaltung, Grotefend an Magistrat, 5.8.1881, Magistratsakten 543, ISG Frankfurt a. Main. Walther von Goethe an Otto Volger, 18.7.1878, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 8959.
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VI. Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main In dieser so sehr die Gefühle der Einzelnen erregenden Frage kann leicht viel verderben, durch eine weise Beherrschung des Streites aber andererseits gar viel erworben werden. Meine Hoffnung geht dahin, dass es Ihnen vorbehalten sei, als Oberbürgermeister, durch günstige Leitung der Gemüther, Ihnen das Verdienst der Beilegung des Streites über Goethe in dieser Stadt zu erwerben.89
Miquel erklärte sich schließlich dazu bereit und auch die Stadt Frankfurt bekannte sich nun öffentlich zu der Verantwortung für den Erhalt der Gräber, für deren Wiederherstellung man 2.100 Mark bereitstellte. 90 Auch nach dem Neubau der Peterskirche (1890) und der Umgestaltung des Friedhofs sicherte die Stadt die Grabstellen. Für eine Umbauung stellte die Kommune 1908 eine Summe von 15.240 Mark zur Verfügung.91 2. DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT UND DIE STÄDTISCHEN BEHÖRDEN 1881–1914 Während es in der Zeit vor 1881 nicht zu einer Zusammenarbeit zwischen dem Hochstift und den städtischen Behörden kam, begann danach eine Phase vielfältiger Kooperationen. Die ersten Verbindungen zwischen Hochstift und der Kommune stiftete das Vermächtnis von Adolf Müller. Aufgrund der Vorgaben durch das Regierungspräsidium in Wiesbaden musste die Verwaltung eine Aufsicht des Magistrats über das Stiftungsvermögen akzeptieren. Gleichzeitig regelte die Satzung, dass nach einer Auflösung des Hochstifts das Goethehaus in den Besitz der Stadt überging. Die Verantwortung der Kommune für das Haus und seine Erhaltung wurde damit erstmals schriftlich fixiert. Für die Stadt gewann das Hochstift zudem ein neues Interesse, weil dessen Bildungsaufgaben nach seiner Reorganisation auf das städtische Publikum gerichtet waren. Da Frankfurt aber über keine Universität verfügte, trugen die Vereine und Stiftungen das öffentliche Bildungswesen. Ein ähnlicher Befund lässt sich auch für Hamburg nachweisen. Die Museen, die dort von der Kommune übernommen worden waren, zeigten im gleichen Zeitraum eine Tendenz zur „Verwissenschaftlichung“.92 Da die Schaffung einer Hamburger Universität [...] noch nicht durchsetzbar war, wurde der ,Bildungsauftrag‘ [...] auf die Wissenschaftlichen Anstalten und somit auch auf die Museen übertragen.93
Zwar blieb das Hochstift eine unabhängige Institution, aber es kooperierte mit der Stadt in vielfältigen Bereichen seiner Bildungsbestrebungen, wie bereits geschildert wurde. Zudem führte die Umgestaltung zu einer Professionalisierung, die 89 90 91 92 93
Otto Volger an Oberbürgermeister Miquel, 25.4.1882, Magistratsakten S 543, ISG Frankfurt a. Main. Magistratsbeschluss vom 8.9.1882, ebenda. Magistratsbeschluss vom 22.12.1908, ebenda. Birgit-Katharine Seemann, Stadt, Bürgertum und Kultur, S. 62. Ebenda.
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auch ein Beispiel für den von Hansert beschriebenen Rationalisierungsdruck auf das Mäzenatentum war. Müllers Vermächtnis hatte ja darauf abgezielt, die bestehenden Strukturen der Volgerschen Gründung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Mit der Satzung von 1884 wurde aber eine neue Grundlage geschaffen, die nun durch Müllers Stiftung getragen wurde. Insofern hatte die Stadt auch ein Interesse, das Goethehaus und seine Sammlungen als Museum und Bildungseinrichtung zu fördern. Und nur durch die Unterstützung der Stadt gelang es dem Hochstift, in den nächsten Jahren das Goethehaus als Denkmal zu sichern und einen Museums- und Bibliotheksbau zu errichten. In der Zusammenarbeit kam es aber zu wiederkehrenden Konflikten, in der beide Akteure um die Zuständigkeiten und die Grenzen ihrer Autonomie rangen. Was aus Sicht der Hochstiftsverwaltung zunächst eine positive Entwicklung darstellte, nämlich das wachsende Engagement der Kommune für die kulturellen Belange, hatte aber auch zur Folge, dass die städtischen Behörden mehr Einfluss und Mitsprache beanspruchten. Je mehr das Hochstift durch kommunale Darlehen in eine finanzielle Abhängigkeit geriet, desto größeren Einfluss übten die städtische Verwaltung und Politik auf dessen Angelegenheiten aus. Von den zwei größten Projekten, die man bis 1914 realisieren wollte, gelang nur 1897 die Errichtung des Museums- und Bibliotheksbaus. Der geplante Erweiterungsbau des Museums verlief im Sande kommunalpolitischer Diskussionen und wurde schließlich aufgrund des Kriegsausbruchs endgültig aufgegeben. An beiden Projekten kann man gut die unterschiedlichen Phasen der Kooperationen veranschaulichen, in denen immer mehr um die Fragen von Autonomie und Zuständigkeit gestritten wurde. 2.1. Der Museums- und Bibliotheksbau Der Ausgangspunkt für den 1897 eröffneten Neubau war eine für den Bestand des Goethehauses bedrohliche Situation, weil der Besitzer des Nachbargrundstücks 1889 die Errichtung eines kleineren Fabrikgebäudes beabsichtigte.94 Dieser Bau hätte, wie er geplant war, dem Goethehause, durch Entziehung von Luft und Licht auf der Hofseite, nicht nur seinen heiteren Charakter rauben, sondern auch den baulichen Bestand des Hauses im Lauf der Jahre gefährden
können.95 In Gesprächen, die Vertreter der Verwaltung mit dem Apotheker Engelhardt führten, erklärte sich dieser dazu bereit, das Grundstück für 82.000 Mark zu verkaufen. Die Summe überstieg aber die Möglichkeiten des Hochstifts. Obwohl man in der Verwaltung zunächst daran dachte, einen öffentlichen Spendenaufruf zu veranlassen, verwarf man diese Idee.96 Die schlechten Erfahrungen früherer Spen94 95 96
Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 124–132. Ber. FDH 1890, S. 150. Prot. VA, 17.5.1889.
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densammlungen hafteten noch im Gedächtnis der Mitglieder. Die Verwaltung entschloss sich deshalb, den Magistrat direkt um Unterstützung zu bitten: Valentin macht unter Hinweis auf die Unterstützung, welche andere hiesige Vereine von der Stadt empfangen, geltend, daß auch das Hochstift, das durch seine wissenschaftliche u. künstlerische Thätigkeit mit großen Opfern für das öffentliche Interesse wirke, einer fortlaufenden Unterstützung aus städtischen Mitteln würdig sei.97
In dem Gesuch bat man den Magistrat, entweder den Bau zu verbieten oder ein Darlehen für den Erwerb des Grundstücks bereitzustellen.98 Drei Gründe, die eine Unterstützung rechtfertigten, wurden angeführt. Das Vaterhaus Goethe´s zu erhalten und in einen Zustand zu versetzen, welcher es würdig erscheinen lässt der großen Erinnerungen, die an ihm haften,
war eine besondere und durch die Stadt anerkannte Aufgabe des Hochstifts. Zudem stelle das Haus ein „Heiligthum der deutschen Nation“ dar. Dafür seien seit 1885 bereits 16.000 Mark investiert worden. Zweitens würden die Bildungsbestrebungen des Hochstifts zum Vorteil der Stadt geschehen. Ihr Ziel sei es ja auch, „die Pflege des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens möglichst allgemein auszubreiten und auch den minder Begüterten zugänglich zu machen“. Drittens sei das Goethehaus ein Anziehungspunkt für den städtischen Fremdenverkehr und diene dem „öffentlichen städtischen Interesse“. Die Besucherzahlen hätten sich seit einem Jahrzehnt auf jährlich ca. 7.500 Personen verdoppelt. Die Unterstützung durch die Stadt sei daher eine „das gesamte geistige Leben Frankfurts hebende und fördernde Thätigkeit“. Mit Ausnahme der Hinweise auf die touristischen und wirtschaftlichen Vorteile des Goethehauses waren die anderen Punkte schon 1878 von Otto Volger vorgebracht worden. Der Magistrat entschied, dem Hochstift ein Darlehen von 72.000 Mark zu gewähren.99 Das Hochstift plante nun, auf dem Grundstück ein Verwaltungsgebäude zu errichten.100 Schon lange bot das Goethehaus keinen hinreichenden Platz mehr. 1878 hatte man eine Auslagerung des Verwaltungsbüros und der Sitzungsräume erwogen.101 Das Haus sollte nur noch als Museum dienen. Aber woher „die zu solchen Zwecken erforderlichen Geldmittel kommen sollen, sei [...] allerdings unabsehbar“. Damals verfügte man noch nicht über die Stiftung Müllers und mit dem Magistrat hatte man sich über einen Zuschuss nicht einigen können. Deswegen richtete man die Hoffnungen auf die „Gesammtheit des Deutschen Volkes“, auf die Hilfe „einzelner begüterter Stiftsgenossen“. 1892 besaß man zwar ein entsprechendes Grundstück, aber der Magistrat untersagte nun ausdrücklich einen Neubau. Dieser war nur mithilfe weiterer Kredite finanzierbar, doch die ablehnende Haltung der Stadt, die nunmehr größter Gläubi97 98 99
Prot. VA, 7.6.1889. FDH an den Magistrat, 4.6.1889, Magistratsakten S 1770, ISG Frankfurt a. Main. Magistratsbeschluss Nr. 1064, 2.8.1889, Magistratsakten S 1769, Bd. 1, ISG Frankfurt a. Main. 100 FDH an den Magistrat, 4.3.1892, Magistratsakten S 1770, ISG Frankfurt a. Main. 101 Ber. FDH 1880, S. 157.
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ger des Hochstifts war, blockierte zum Ärger der Verwaltung das Projekt. Als Zwischenlösung ergab sich 1893 die Möglichkeit, auf dem benachbarten Grundstück des ehemaligen Cronstettischen Stifts Räume anzumieten, die von den Pächtern, der Firma Baresel & Bauer, für eine jährliche Miete von 4.000 Mark angeboten wurden. Die Verwaltung versuchte nun, beim Magistrat zwei Forderungen durchzusetzen. Erstens beanspruchte sie eine jährliche Unterstützungszahlung für die Anmietung der Räume und zweitens forderte sie, „zur gänzlichen Entfaltung und Freistellung des Goethehauses noch einen Bibliotheksraum und eine Hausmeisterwohnung“ auf dem ehemaligen Grundstück Engelhards errichten zu dürfen.102 Die Auslagerung der Verwaltung sei notwendig, weil wir die „weitere[n] Benutzung des Goethehauses mit den uns gegen das letztere obliegenden Pflichten kaum noch vereinbaren können“.103 Im Hochstift hatte man für die Einmietung bei Baresel & Bauer einen Kostenplan erstellt, der jährliche Mehrausgaben von 9.690 Mark aufführte. Davon sollte die Stadt 7.000 Mark übernehmen, während das Hochstift einen selbst finanzierten Neubau in Aussicht stellte. Doch der Magistrat lehnte diesen Vorschlag ab. Er war nur bereit, eine jährliche Subvention von 4.000 Mark zu gewähren, unter der Bedingung, dass ein Neubau nicht ohne seine Zustimmung erfolgen dürfe.104 Für ihn stellte die Anmietung eine ausreichende Lösung dar, während das Hochstift nur von einem Provisorium sprach. Dessen Verwaltung musste erkennen, dass die Zusammenarbeit mit der Stadt sie dazu zwang, Kompromisse einzugehen, während der Magistrat bestrebt war, die Kosten zu minimieren. Auch innerhalb der Verwaltung gab es kritische Stimmen gegenüber einem Neubau. Für Karl Flesch lagen die Schwerpunkte des Hochstifts in der Bildungsvermittlung, deswegen kritisierte er den „kostspieligen Neubau“ und enthielt sich bei der Abstimmung.105 Dagegen traten die Mitglieder der GoethehausKommission und der Bibliothekar und Verwaltungsschreiber Otto Heuer für einen Neubau ein, um das Haus bald wieder in den historischen Zustand versetzen zu können. Dafür sollte verstärkt in der Frankfurter Öffentlichkeit geworben werden, in der man bereits auf Zustimmung stieß, welche die berechtigte Hoffnung giebt, daß es in nicht allzuferner Zeit gelingen werde, das ehrwürdige Haus, in dem Frankfurts größter Sohn geboren wurde, vollständig so wieder herzustellen und einzurichten, wie es war.106
Erst eine weitere, für den Bestand des Goethehauses bedrohliche Situation brachte eine neue Dynamik in die festgefahrenen Verhandlungen. Der Apotheker Engelhard beabsichtigte nun, auf einem anderen benachbarten Grundstück ein Gebäude zu errichten. Damit war der Zugang für das erworbene Grundstück hinter dem Goethehaus bedroht. Nur ein eigener Bau des Hochstifts konnte die Pläne Engel102 FDH an Magistrat, 22.6.1893, Magistratsakten S 1769, Bd. 2, ISG Frankfurt a. Main. 103 Ebenda. 104 Protokollauszug des Magistrats, 6.10.1893, Magistratsakten S 1769, Bd. 2, ISG Frankfurt a. Main. 105 Prot. VA, 3.3.1893. 106 Ber. FDH 1895, S. 82.
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hards verhindern.107 Auch der Magistrat sah ein, dass in dieser Situation eine Bebauung sinnvoll, ja geboten war. Das Hochstift dagegen erweiterte nun seine ursprünglichen Baupläne. Während man 1892 nur von einer Hausmeisterwohnung und einem Bibliotheksraum gesprochen hatte, fügt der Architekt von Hoven ein Geschoss hinzu, indem auch die Goethesammlungen untergebracht werden sollten. Der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung bewilligten schließlich 60.000 Mark.108 Das Hochstift hat neben den Mietzuschüssen von der Stadt Gelder in Höhe von 132.000 Mark erhalten. Im Vergleich dazu betrugen die Jahreseinnahmen 45.000 Mark. Diese Kredite schufen neue Abhängigkeiten, bei denen selbst eifrige Befürworter, wie Otto Heuer, Bedenken trugen. Er hatte deswegen erwogen, die Stadt nur um einen weiteren jährlichen Zuschuss von 3.000 Mark zu bitten. Das hätte einen raschen Baubeginn verzögert. Um aber sofort mit dem Bau beginnen zu können und damit das Grundstück für „einen Bibliotheksbau“ zu retten, beschloss man, sich um die kompletten Baukosten bei der Stadt zu bemühen, und „[d]ie ganze Angelegenheit soll mit möglichster Beschleunigung betrieben werden“.109 Das Verwaltungsmitglied Bertold Geiger warb erfolgreich als Abgeordneter der Stadtverordnetenversammlung dort für das Anliegen des Hochstifts.110 Mit Genugtuung vermerkte man, dass die Bewilligung vonseiten der Stadt ausdrücklich von einem „Bibliotheks- u. Museumsbau“ sprach.111 Bei den Kreditkonditionen kam die Stadt dem Hochstift entgegen und verzichtete bis zur Abzahlung des früheren Kredits (75.000 Mark) auf die Zinsen. Dafür nahm das Hochstift eine Hypothek auf das Grundstück auf. Bei der Eröffnung des Neubaus am 20. Juni 1897 feierte das Hochstift die kommunalen Behörden als Partner und Retter des Goethehauses. Damit wurde die Stadt von dem Makel befreit, bisher kein Interesse an der Erhaltung des Hauses gezeigt zu haben, was immer wieder von Volger thematisiert worden war. Der stellvertretende Verwaltungsvorsitzende Dr. Reinhardt hielt in Anwesenheit des Oberbürgermeisters Adickes eine Festrede, in der er die Unterstützung und das Entgegenkommen der städtischen Behörden hervorhob.112 Die Stadt habe wiederum ausgesprochen, daß der schönste Adelsbrief, den sie hat, der ist, Geburts- und Vaterstadt des mächtigsten, umfassendsten Geistes zu sein, den unser Volk hervorgebracht hat. [...] Mit besonderem Dank haben wir die Entschließung des Magistrats hervorzuheben, dessen einsichtsvoller Unterstützung das Hochstift sich ja bei dem ganzen Unternehmen in so hohem Maße erfreuen durfte,113
erklärte man in den Hochstiftsberichten.114 107 Engelhard an das FDH, 12.6.1895, Magistratsakten S 1770, ISG Frankfurt a. Main. 108 Protokollauszug des Magistrats vom 25.6.1896 und Protokoll Auszug der Stadtverordnetenversammlung vom 25.6.1895, Magistratsakten S 1770, ISG Frankfurt a. Main. 109 Ebenda. 110 Prot. VA, 1.7.1895. 111 Ebenda. 112 Ber. FDH 1897, S. 347. 113 Ebenda. 114 Ber. FDH 1898, S. 45.
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Der Museumsbau schuf nun weitere Anknüpfungspunkte, da die Stadt die Einrichtung als wesentlichen Baustein für die städtische Museumslandschaft betrachtete. Das Stadtarchiv übergab dem Museum wertvolle Bücher und Sammlungsgegenstände, die sich auf Goethe bezogen, als Depositum.
Abb. 5: Das Frankfurter Goethe-Museum 1897
In dem Bestreben, Frankfurt touristisch als Goethestadt zu etablieren, erwarb die Kommune 1899 das ehemalige „Weinberghaus“ der Familie Willemer. Dort hatte sich Goethe 1814 und 1815 als Gast aufgehalten und seine Bekanntschaft mit Marianne von Willemer fand bekanntermaßen ihren literarischen Niederschlag in der Gedichtsammlung des „West-östlichen Divan“. Der Magistrat beabsichtigte, das Hochstift als Partner für die Unterhaltung der Gedenkstätte zu gewinnen. Das Hochstift übernahm die innere Herstellung und Einrichtung des Gebäudes.115 Zusätzlich beabsichtigte der Magistrat, das Hochstift mit der Verwaltung und Betreibung dieser Museumsstätte zu beauftragen. Allgemein zeigte die Verwaltung Interesse, gab aber zu bedenken, dass dort keine geeignete Wohnung für Personal zur Verfügung stand.116 Zwar kam es noch zu einem Meinungsaustausch zwischen 115 Ber. FDH 1901, S. 19. 116 Prot. VA, 12.1.1899.
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dem städtischen Hochbauamt und dem Hochstift über die Wohnungsfrage, aber schließlich übernahm der Nachbar und Gärtner Amberger die Aufsicht des Hauses.117 Der gewachsene Einfluss des Magistrats in den Hochstiftsbelangen zeigte sich auch nach dem Tode Otto Volgers 1897. Als Volgers Frau und später dessen Tochter um eine Rente baten, weigerte sich das Hochstift zunächst, auf die Wünsche einzugehen. Die Verbitterung über den Altobmann war noch nicht abgeklungen. Da aber Volgers Rettung des Goethehauses öffentlich anerkannt war, suchte der Magistrat einen Ausgleich, was ihm dadurch möglich wurde, weil er über den Volgerschen Pensionsfonds nach dessen Tod verfügen konnte. Dem folgenden Vorschlag des Rechnei Amtes schlossen sich Magistrat und Stadtverordnetenversammlung an: Mit Rücksicht auf die Thätigkeiten, welche Herr Dr. Volger Jahrzehnte lang im Interesse des Hochstifts entfaltet hat [...] gestatten wir uns vorzuschlagen, der Magistrat möchte mit Zustimmung der Stadtverordneten Versammlung [...] auf Auszahlung der Darlehens-Zinsen bis zum 1. April 1898 mit M 743,75 Verzicht leisten.118
Auch gegen die Widerstände der Hochstiftsverwaltung setzten die städtischen Behörden im Jahr 1902 eine weitere Unterstützung von Volgers Tochter Agnes durch, die eine jährliche Rente von 750 Mark erhielt. In den ersten beiden Jahrzehnten begann also eine Zusammenarbeit zwischen Hochstift und Stadt, die man als gelungenes Beispiel einer „public-private partnership“ bezeichnen kann.119 Städtische Subventionen und Darlehen ermöglichten die Errichtung des Goethemuseums. Erste Konfliktlinien zeichneten sich aber in der Frage der Autonomie des Hochstifts ab, das erfahren musste, dass seine Unabhängigkeit in Gefahr geriet. Die städtischen Subventionen bedeuteten eine wachsende Abhängigkeit. Diese Entwicklung verschärfte sich in der nächsten Dekade und führte dazu, dass über einen weiteren Erweiterungsbau keine Einigung mehr erzielt werden konnte. 2.2. Die Erweiterung des Goethemuseums Nach der Jahrhundertwende intensivierten sich die Beziehungen zwischen dem Hochstift und der Stadt. Das Goethemuseum und die Goethepflege boten dafür eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Das Hochstift begrüßte die kommunale Unterstützung – für einige Projekte war sie unerlässlich – andererseits bemühte man sich, nicht in weitere Abhängigkeiten zu geraten. Dennoch ergaben sich vermehrt Spannungen. Kompliziert wurde das Verhältnis, weil sich aufseiten der Stadt die politischen Akteure stärker in den Projekten engagierten. Die städtische Kulturpolitik wurde immer stärker von der Parteipolitik innerhalb der Stadtverordnetenversammlung dominiert. Dabei mussten die 117 Prot. VA, 29.3.1900 und 17.8.1900. 118 Rechnei Amt an Magistrat, 10.12.1897, Magistratsakten S 1770, ISG Frankfurt a. Main. 119 Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 13.
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öffentlichen Subventionen und Darlehen, bei denen es sich ja um Steuergelder handelte, einer öffentlichen Rechtfertigung unterziehen. Bevor auf die Verhandlungen über den Erweiterungsbau eingegangen werden soll, muss kurz die Entwicklung des Museums geschildert werden. Trotz des Neubaus von 1897 waren dessen Kapazitäten schneller erschöpft, als man erwartet hatte: Das Goethemuseum hat in den wenigen Jahren seines Bestehens an interessantem Inhalt so rasch gewonnen, dass es die Fülle kaum noch zu fassen vermag. Die Frage der Vergrößerung wird immer ernstlicher erwogen werden müssen.120
Die Stadt hatte daran ihren Anteil, weil sie eine Reihe von Gegenständen der Bibliothek und dem Museum übergeben hatte. Sie förderte auch danach die Vermehrung der Sammlungen. So konnten 1905 mit Unterstützung der Stadt Frankfurt über 100 wertvolle Autografen aus der Sammlung von Alexander Meyer Cohn erworben werden. [Auf] Anregung des Herrn Oberbürgermeisters Dr. Adickes wurde ein Garantiefonds gebildet, und es gelang auf dem Wege der Sammlung die Erwerbung im Gesamtbetrage von rund 40 000 Mark dem Frankfurter Goethemuseum zu sichern.121
Während der Großteil der Summe von privaten Spendern aufgebracht wurde, beteiligte sich die Stadt Frankfurt mit 5.000 Mark.122 1907 gelang der Erwerb einer Gemäldesammlung des Grafen François de Thèas de Thoranc (1719–1794) aus Grasse in Südfrankreich. Thoranc hatte jene Bilder während der französischen Besatzung Frankfurts im Siebenjährigen Krieg in Auftrag gegeben und war zeitweise im Goethehaus (1759–1761) einquartiert.123 In diesem Fall wollte das Hochstift, das nun bereits intensiv Pläne für einen Erweiterungsbau entwickelte, die Stadt aus dem Ankauf heraushalten. Otto Heuer war überzeugt, die Kaufsumme von 32.000 Mark allein durch Spenden aufbringen zu können. Daher wollte er auf die Unterstützung der Stadt Frankfurt verzichten, um nicht unnötigerweise neue Verpflichtungen einzugehen. Verärgert reagierte er deshalb auf den Antrag des Stadtrats Wilhelm Hanau, der vorgeschlagen hatte: Der Magistrat möge in Erwägung ziehen, durch welche Mittel und in welcher Weise diese Werke unserer Stadt erhalten und in ihrer Zusammenfügung als geschlossenes Ganzes zur Zierde und zum Ruhm eines unserer Museen, sei es nun des städtischen Historischen oder des Goethemuseum verwendet werden könnten.124
Der Magistrat griff Hanaus Idee auf und sprach sich für das Goethemuseum als Aufstellungsort aus. Dafür wurden 12.000 Mark aus dem Fond zur Förderung von Gewerbe, Kunst und Wissenschaft bewilligt. Den restlichen Betrag sollten das
120 121 122 123 124
Jb. FDH, 1902, S. 374. Jb. FDH 1906, S. 324. Eine Auflistung der Spender in: Jb. FDH 1906, S. 324–325. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 178–180. Wilhelm Hanau an Magistrat, 23.3.1907, Magistratsakten S 1769 III, ISG Frankfurt a. Main.
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Freie Deutsche Hochstift und die Frankfurter Bürger zusammenbringen.125 Heuer und die Verwaltung lehnten das aber ab, denn im Hinblick auf den unbestreitbar notwendigen Erweiterungsbau des Goethemuseums, der nur mit Hilfe der Stadt durchzuführen sein wird, glaubt es aber die Güte der städtischen Behörden nur im äußersten Notfalle in Anspruch nehmen zu dürfen.126
Die Bilder konnten schließlich, wie Heuer gehofft hatte, allein durch die Spenden von Frankfurter Bürgern erworben werden. Der Verwaltung kam die Unterstützung durch private Mäzene gelegen, weil dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit und das Interesse am Goethemuseum und dessen Sammlung deutlich wurden. So sollte die Entscheidung der Stadt für den Erweiterungsbau befördert werden und zugleich wurde die autonome Stellung des Hochstifts als Teil der städtischen Bürgerkultur unterstrichen. Das Beispiel der Erwerbung der Thoranc-Gemälde bestätigt zudem Erkenntnisse über das Verhältnis von Mäzenatentum und städtischer Verwaltung nach der Jahrhundertwende. Das „individuelle“ und „assoziative Mäzenatentum“ blieb in der Wilhelminischen Zeit gerade dort besonders ausgeprägt [...], wo sich die verschiedenen Formen bürgerlichen Handelns – kommunale Selbstverwaltung, Vereine, Stiftungen, private Initiativen verschiedenster Art – zu einem Modell bürgerlicher Herrschaft, einer Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, verdichteten.127
Hochstift, Mäzene und Stadtverwaltung kooperierten auch in Frankfurt. Dabei war es im Fall der Thoranc-Bilder typisch, dass die „Anregung neuer Projekte“ hinsichtlich der „Ideen und Konzepte nur teilweise von den Mäzenen selbst beigesteuert“ wurde, aber „in enger Kooperation mit der städtischen Verwaltung“ geschah.128 Besonders jüdischen Bürgern bot sich dadurch die Möglichkeit, „Defizite staatsbürgerlicher Gleichstellung und politischer Partizipation zu kompensieren“.129 Die Gemäldesammlung wurde als ein „großartige[s] Geschenk der Frankfurter Bürgerschaft“ bezeichnet.130 Dieses „Geschenk“ blieb aber nun den Spendern verborgen, denn wegen des Platzmangels „harrt [es] noch in einer Mansardenkammer des Goethehauses“.131 Die Thoranc-Gemälde gaben nun den Anstoß, die Öffentlichkeit für die Notwendigkeit des Erweiterungsbaus zu gewinnen.
125 Magistratsbeschluss 3.4.1907, ebenda. 126 FDH an Magistrat, 15.4.1907, ebenda. 127 Dieter Hein, Bürgerliches Mäzenatentum im 19. Jahrhundert. Überlegungen am Beispiel der Kunst- und Künstlerförderung in Karlsruhe und Mannheim, S. 93. 128 Ebenda, S. 94. 129 Elisabeth Kraus, Jüdisches Mäzenatentum im Kaiserreich. Befunde – Motive – Hypothesen, S. 41. 130 Jb. FDH 1908, S. 327. 131 Ebenda.
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Das Frankfurter Goethemuseum ist aber auch längst nicht mehr eine Privatangelegenheit des Hochstifts, es ist eine Angelegenheit Frankfurts, ja ganz Deutschlands, und wo in solchem Falle die Kräfte des einzelnen zu schwach sind, muß die Gesamtheit eintreten.132
In der Frankfurter Presse ist im September 1907 ein positiver und detaillierter Artikel über das Projekt erschienen, wobei nicht mehr zu klären ist, woher die Informationen stammten. Der Artikel suggerierte bereits eine einvernehmliche Lösung mit dem Magistrat, der sehr wahrscheinlich bereits über die Pläne im Bilde war. 133 Zwar enthielt der Artikel aus Heuers Sicht eine „Mischung von Dichtung und Wahrheit“, aber er ermöglichte nun dem Hochstift, durch eine Erwiderung in der Presse die Öffentlichkeit über die Pläne zu informieren. In dem von Heuer verfassten Artikel „Für Frankfurts größten Sohn“ wurden die Gespräche über eine Südvariante des Erweiterungsbaus zwischen Oberbürgermeister Adickes und der Verwaltung bestätigt.134 Das Goethehaus ist somit ganz in einem Häuserkomplex städtischen Eigentums eingebettet und hat nicht mehr zu befürchten, irgendwo baulich benachteiligt zu werden.135
Die Kosten des Neubaus würden sich auf ca. 300.000 Mark belaufen und wären „Sache der Stadt, die diese Räume dem Hochstift in Pacht gebe“, denn sie „ist überhaupt verpflichtet, für ihren größten Sohn ein einzigartiges Denkmal zu schaffen“.136 Allerdings dauerte es noch fast sieben Monate, bevor das Hochstift ein offizielles Gesuch an den Magistrat richtete, in der es ihn bat, den Erweiterungsbau zu genehmigen und zu finanzieren. Man argumentierte dabei ganz im Sinne der „Kulturpolitik“ von Adickes, der verstärkt Museen und die Kunst in Frankfurt förderte.137 In Frankfurt erreichten die „kulturpolitischen Anstrengungen der Kommune [...] in der zweiten Phase zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt“.138 Es kam zur Gründung weiterer kommunaler Museen, wie dem Völkerkundemuseum (1904) und der Städtischen Galerie (1905). Der Antrag des Hochstifts griff diese Entwicklung auf, weil er die Bedeutung des Museums hervorhob. Neben den Vorteilen, die man für die Urbanität und den Fremdenverkehr prognostizierte, verwies man auf dessen Funktion als wissenschaftliches Institut für die „Erforschung deutscher Literatur“. Das Frankfurter Goethemuseum sei dadurch dem Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach und dem Pariser Viktor Hugo-Museum gleichrangig und stelle einen „materiellen und geistigen Gewinn für die Stadt“ dar. Gleichzeitig machte man deutlich, dass dessen Besitz und Betrieb nur im Rahmen 132 Ebenda. 133 Das vermutet auch Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 183. In den Akten des Magistrats und den Verwaltungsprotokollen des Hochstifts finden sich aber keine Hinweise auf offizielle Besprechungen im Jahr 1907. 134 Frankfurter Neueste Nachrichten, Nr. 221, 20.9.1907. 135 Ebenda. 136 Ebenda. 137 Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 119. 138 Gudrun-Christine Schimpf, Geld Macht Kultur, S. 412.
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des Hochstifts als dem „berufenen Organ“ erfolgen könne, da Museum und Hochstift untrennbar zusammengehören. Man griff sogar wieder die „Ehrenschuld“ der Stadt Frankfurt auf, die man noch 1897 für erledigt gehalten hatte. Für den Bau veranschlagte man ca. 300.000 Mark. Der Magistrat antwortete erst am 2. November 1909 auf das Gesuch. Warum er mit seiner Antwort so lange zögerte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In seinem Schreiben wurde das Ersuchen des Hochstifts, „mit städtischen Mitteln zugunsten der für Frankfurt so bedeutsamen Anstalt [...] einzutreten“, ausdrücklich anerkannt.139 Das war ein Teilerfolg. Auch in der Frankfurter Presse wurde nun ein Erweiterungsbau gefordert.140 Obwohl sich die Akteure scheinbar geeinigt hatten und auch die öffentliche Meinung das Projekt unterstützte, verschleppten sich die Verhandlungen. Der Grund dafür waren die Einsprüche der städtischen Behörden gegen die Pläne des Hochstifts. Hier stand nun die Frage der Autonomie des Hochstifts im Mittelpunkt. Zunächst beanspruchte der Magistrat ein umfassendes Mitspracherecht. Das war ein Resultat der gestiegenen Bedeutung, die unter Adickes die Kulturförderung einnahm, bei der die Stadtverwaltung sich selbst als offensive kulturgestaltende Kraft begriff.141 Die Stadt sollte ja schließlich 300.000 Mark für den Bau zur Verfügung stellen. Der Magistrat setzte die ursprüngliche Südvariante durch und verfügte, dass der ehemalige Frankfurter Stadtbauinspektor Paul Kanold einen Entwurf anfertigte. Die Hochstiftsverwaltung musste diese Änderungen akzeptieren. Nun verfasste der Magistrat eine entsprechende Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung. Er beantragte, dem Hochstift die städtischen Liegenschaften Großer Hirschgraben 19 und 21 im Erbbau zu übertragen und unter Fortfall der bisher von der Stadt [...] gewährten Mietsentschädigung von M. 4000 jährlich, die Verzinsungs-Amortisation und Rückzahlung der vom Hochstift im Betrage von 300 000 M., mit 10 % Spielraum nach oben und unten, als Hypothek aufzunehmenden Bausumme zu garantieren.142
Das Grundstück Hirschgraben 21 hatte die Stadt 1901 gekauft, weil ein dort geplanter Neubau das Ensemble des Goethehauses bedroht hatte. In der Antragsbegründung hieß es: Die in der Eingabe gemachten Darlegungen halten wir zutreffend und sind der Ansicht, dass es für die Stadtgemeinde eine nicht zu umgehende Notwendigkeit ist, dieser wichtigen Angelegenheit die zum Zustandekommen des Unternehmens erforderliche Förderung angedeihen zu lassen.143
Bis zur Eingabe in die Stadtverordnetenversammlung waren seit dem ersten Antrag des Hochstifts bereits vier Jahre vergangen. Nun geriet das Projekt in die 139 140 141 142 143
Magistrat an FDH, 2.11.1909, Magistratsakten S 1773, ISG Frankfurt a. Main. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 187. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 117. Ebenda. Entwurf des Magistratsvortrags an die Stadtverordnetenversammlung, 10.5.1912, Magistratsakten S 1773, ISG Frankfurt a. Main. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Bausumme bereits auf 386.000 Mark beziffert.
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Mühlen der Parteipolitik, wobei die Abgeordneten auch ihren Einfluss gegenüber dem Magistrat betonten. Die Abgeordneten forderten nicht nur Änderungen, sie verlangten zudem einen Einfluss auf die innere Gestaltung des Hochstifts. Jetzt gefährdete die Partnerschaft mit der Kommune die gesamte Autonomie des Hochstifts. Zur Begründung führten die Stadtverordneten die hohen Kosten für den Museumsbau an, da die Stadt bereits für die Städtische Galerie und das Historische Museum beträchtliche Ausgaben hatte. Darum sei „ein verständiges Maßhalten beim Neubau des Goethemuseums geboten“.144 Um die Kosten zu kontrollieren, forderte man eine „zeitgemäße Reorganisation“ des Hochstifts, da es „von Anfang an seine Ziele zu weit gesteckt habe im Verhältnis zu seinen Einnahmen“.145 Die Vorschläge lieferten einige Stadtverordneten gleich mit. Dazu sollten die Verwaltungs- und Personalkosten gesenkt und die Zahl der Lehrgänge vermindert werden. Auch ein Verzicht auf das Jahrbuch und die Abtrennung des GoetheMuseums wurden vorgeschlagen. Damit stellte man nicht nur das Hochstift in seiner damaligen Form infrage, dies hätte auch die Kommunalisierung des Goethemuseums bedeutet. Andere Abgeordnete unterstützten den Museumsbau und dessen Förderung durch die Stadt und hielten die Organisationsform des Hochstifts, speziell seine Bildungsfunktion, für gerechtfertigt. Sie verwiesen auf das große Interesse der Öffentlichkeit an einem neuen Museumsbau, das die zahlreichen privaten Beiträge zeigen, die in den letzten sechs Jahren 100.000 Mark betrugen. Der Ausschuss der Stadtverordnetenversammlung stellte einen Kostenvoranschlag auf, der neben den Baukosten auch die beiden Grundstücke einschloss und die Gesamtsumme auf 758.000 Mark bezifferte. Einigkeit bestand dahin gehend, dass aufgrund dieser „hohen finanziellen Belastung der Stadt seitens des Hochstifts“ der Kommune ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Ausgaben zu gewähren sei. In den Debatten in der Stadtverordnetenversammlung über den Antrag und den Bericht der Kommission traten auch die verschiedenen politischen Standpunkte zutage. Die Sozialdemokraten benutzten die Gelegenheit, um mit Adickes Politik abzurechnen. „Die Kultur-Aufgabe ist bisher ein Opfer der Universitätsverhandlungen gewesen“, so der sozialdemokratische Abgeordnete Max Quarck.146 Quarck lehnte Eingriffe in die Vereinstätigkeit des Hochstifts ab, kritisierte aber dessen frühere „Ausschliessung der Frauen“. Der Nationalliberale Abgeordnete Fritz von Lasaulx forderte dagegen eine stärkere Kontrolle der Stadt über das Hochstift, da es um erhebliche Gelder für das Museum ginge. Die Stadtverordnetenversammlung kippte schließlich die Magistratsvorlage. Das Hochstift stimmte einer erneuten Ausschreibung unter ausgewählten Architekten zu und war bereit, die Stadt an dem Erlös der Eintrittsgelder und deren
144 Bericht des Sonder-Ausschusses zum Vortrag des Magistrats vom 10.5.1912, S. 2, ebenda. 145 Ebenda. 146 Prot. Stadtverordnetenversammlung, 5.11.1912, S. 1347, ISG Frankfurt a. Main.
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Festlegung zu beteiligen.147 Außerdem sollte in der Satzung vermerkt werden, dass nach einer Auflösung des Hochstifts das Museum mit seinen Sammlungen und das Goethehaus in das Eigentum der Stadt übergehen sollten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete schließlich alle weiteren Verhandlungen. Erst unter Ernst Beutler gelang ein alternativer Erweiterungsbau an der Nordseite des Goethehauses, der 1932 eröffnet wurde.148 Die Verhandlungen über den geplanten Erweiterungsbau verdeutlichen die Schwierigkeiten, die Kompetenzverteilung zwischen dem Hochstift als unabhängiger Institution der Bürgerkultur und den Vertretern der kommunalen Kulturpolitik auszuhandeln. Mit den wachsenden Ansprüchen des Hochstifts auf Subventionen und Darlehen waren gleichzeitig steigende Ansprüche der Kommune auf Kontrolle und Mitspracherecht verbunden, die nicht immer sofort in einen Kompromiss gefügt werden konnten. Nicht nur die stätische Verwaltung, sondern auch die politischen Parteien beanspruchten ein verstärktes Mitspracherecht in Bezug auf die Gestaltung der Frankfurter Kulturlandschaft. Dazu mussten die parteipolitischen Divergenzen überwunden werden. Dennoch kann nicht pauschal von einer Antinomie von Bürgerkultur und Kulturpolitik gesprochen werden149, da die generelle Kooperationsbereitschaft von allen Partnern anerkannt wurde. Ziel des Hochstifts blieb es dabei immer, seine Unabhängigkeit zu bewahren und eine teilweise oder komplette Kommunalisierung abzuwehren. Von Otto Heuer ist der Ausspruch überliefert: Wenn das Hochstift städtisch wird [...] wird man höchstens eine Putzfrau ins Goethehaus setzen, die Bürgerschaft aber wird um ein reiches geistiges Kraftfeld ärmer sein.150
3. DIE GRÜNDUNG DER UNIVERSITÄT Das Hochstift beteiligte sich nicht an der Gründung der 1914 eröffneten Frankfurter Universität. Das scheint erklärungsbedürftig, da es doch seit seiner Gründung den Anspruch erhob, eine „freie Hochschule“ zu sein.151 Blickt man aber genauer auf dessen Hochschulpläne und ihre Entwicklung, dann war das Fernbleiben von der Stiftungsuniversität die Konsequenz dieser Prozesse. Die Grundidee der Stiftungsuniversität, ein Zusammenschluss von Vereinen und Institutionen der Frankfurter Bürgerkultur, war bereits von Otto Volger 1859 entworfen worden. Dennoch gilt bis heute Otto Kanngießer mit seiner 1890 publizierten Schrift „Frankfurts Gegenwart und nächste Zukunft“ als erster Anreger der Universitätsgründung. Die zentralen Überlegungen über die Zusammenschlüsse der örtlichen Institutionen und Vereine entsprachen aber in ihren Grundzügen Volgers Ideen. Die Hochschulpläne des Hochstifts waren allerdings ohne Reso147 148 149 150 151
FDH an Magistrat, 29.11.1912, Magistratsakten S 1773, ISG Frankfurt a. Main. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 324–358. So Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 35. Ernst Beutler, Neunzig Jahre Freies Deutsches Hochstift, S. 16. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 194–212, hier S. 195.
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nanz geblieben und in Volgers Amtszeit konnte nur ein unregelmäßiges Vorlesungsprogramm realisiert werden. So fielen diese Pläne der Vergessenheit anheim und verschwanden aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen. Julius Ziehen, Hochstiftsmitglied und Stadtrat, beschrieb 1914 den Schwerpunkt des Hochstifts in den Geisteswissenschaften, was für die Jahre unter Volger sicherlich nicht zutraf.152 Franz Lerner bezeichnete das Hochstift später als „bürgerliche Akademie zur Pflege der Geisteswissenschaften“.153 Siegbert Wolf sprach von den „vom Freien Deutschen Hochstift ausgehenden Geisteswissenschaftler[n]“154 und auch in einer aktuellen Publikation wird das Hochstift zu einer „Volksakademie zur politischen Bildung“155. Volger hatte aber eine Hochschule im Auge gehabt, die, wie das Hochstift selbst, alle Fächer bedienen sollte und neben wissenschaftlichen Ansprüchen auch Wissenspopularisierung betreiben sollte. Ein Grundsatz war dabei für Volger unverrückbar gewesen. Die Hochschule sollte unabhängig von allen staatlichen Aufsichten und Eingriffen sein. Als 1866 nach der preußischen Inbesitznahme Frankfurts Pläne für eine Universität diskutiert wurden, äußerte Volger, dass eine staatliche Hochschule, die „Staatsdiener“ ausbildet, nicht mit seinen Grundsätzen einer freien Bildung vereinbar sei.156 Frankfurter Bürger, wie Carl Jügel, dessen Söhne später fast zwei Millionen Mark für die Universität stifteten, begrüßten dagegen die Pläne.157 Aus Sicht Jügels hätte eine preußische Universität den Charakter des Hochstifts als ein „vermittelndes Institut, zwischen dem streng wissenschaftlichen und dem mehr belehrenden“ festigen können.158 Befürworter, wie Jügel, betonten dabei vor allem die wirtschaftlichen Aspekte einer Universität, um den Verlust der Selbstständigkeit Frankfurts wettzumachen. Volgers Ideen fanden in den städtischen Kreisen keine Unterstützung. Eine Einladung des Hochstifts an 34 Frankfurter Vereine und Stiftungen zu einer Aussprache, um über alternative Hochschulpläne zu diskutieren, blieb ohne Reaktion.159 Die Aufsicht des preußischen Staates über die 1912 gestiftete Universität entsprach sicher nicht Volgers Vorstellungen. Die Reorganisation des Hochstifts nach Volgers Ausscheiden führte zu einer Professionalisierung seiner Bildungsziele. Die früheren wissenschaftlichen Ansprüche verschwanden und die Lehrgänge hatten das Ziel, Wissensvermittlung für ein bürgerliches Publikum zu bieten. 160 Selbst die Fachabteilungen sollten ihren akademisch gebildeten Mitgliedern nur noch einen Überblick über die Fortschritte der jeweiligen Fachgebiete vermitteln. Neben diesen Entwicklungen gewannen 152 Zit. nach ebenda, S. 194. 153 Franz Lerner, Bürgersinn und Bürgertat. Geschichte der Frankfurter Polytechnischen Gesellschaft 1816–1966, S. 230. 154 Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main, S. 119. 155 Ralf Roth, Wilhelm Merton. Ein Weltbürger gründet eine Universität, S. 129. 156 Prot. VS, 16.10.1866. 157 Rudolf Jung, Frankfurter Hochschulpläne 1384–1866, S. 88. 158 Ebenda. 159 Prot. VS, 30.10.1866. 160 Ber. FDH 1885, S. 72 ff.
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seit der Jahrhundertwende, unterstützt durch das 1897 eingeweihte Goethemuseum, die musealen und literaturgeschichtlichen Aufgaben eine größere Bedeutung. Nicht das Hochstift, sondern die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften stellte für die Mitglieder des Hochstifts, wie den Statistiker Gottlieb Schnapper-Arndt, eine Institution dar, die mit einer Hochschule vergleichbar war.161 Deshalb findet sich in den Protokollen kaum ein Hinweis auf die geplante Universitätsgründung. Nur Karl Flesch, der ein Befürworter der Vortrags- und Bildungsvermittlung im Hochstift war, brachte 1902 die Frage über die Verwendung der Jügel-Stiftung in die Verwaltungssitzung ein.162 Die Mehrheit der Verwaltungsmitglieder wünschte eine Zurückhaltung des Hochstifts in diesen Diskussionen und Flesch blieb mit seinem Antrag isoliert. Später lud Oberbürgermeister Adickes das Hochstift zu einer Besprechung über die Verwendung der Jügelschen Stiftung ein. Die Verwaltung entsandte zwei Vertreter, die aber keine „Vollmacht zu bindenden Erklärungen“ besaßen.163 In den Protokollen der Verwaltungssitzungen wird die Universitätsgründung bis 1914 nicht weiter erwähnt. Auch für Oberbürgermeister Adickes spielte das Hochstift keine Rolle bei der Universitätsgründung. Der Stadtrat Julius Ziehen erklärte dies mit der generellen Reserviertheit Adickes gegenüber dem Hochstift: Zum Hochstift hat Oberbürgermeister Adickes wohl niemals ein näheres Verhältnis gehabt. Für seine Universitätspläne kam die Stiftung nicht in Frage, und für das große Maß wirklich vortrefflicher Arbeit [...] hatte er offenbar nur geringes Verständnis. So kam es ihm denn auch keineswegs gelegen, als Heuer, an die Stadt herantrat, um für die Errichtung eines Goethemuseums einen größeren Beitrag zu erhalten.164
Für die Universitätspläne greift diese Erklärung aber zu kurz. Adickes hegte vielmehr Bedenken gegen die Einbindung des Hochstifts, weil er eine Verwässerung seiner Pläne befürchtete. Der Oberbürgermeister plante die Gründung einer Universität, welche die wissenschaftliche Ausbildung fördern sollte.165 Zwischen ihm und Wilhelm Merton kam es in dieser Frage zu Differenzen über die Schwerpunkte in der Akademie der Sozial- und Handelswissenschaften. Adickes überzeugte Merton schließlich, sie als Grundlage für eine Universität zu begreifen, die durch weitere Verbindungen mit Frankfurter Stiftungen und Vereinen zustande kommen sollte.166 Auch der Frankfurter Carl Funck (1852–1918), Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei, verteidigte im Preußischen Abgeordnetenhaus die Universitätsgrün-
161 Sie bot ihm die Möglichkeit, „doch noch in den Verband einer Hochschule“ einzutreten, Jb. FDH 1904, S. 410. 162 Prot. VA, 2.1.1902. 163 Prot. VA, 5.1.1902. 164 Julius Ziehen, Erinnerungen 1864–1925, S. 311. 165 Vgl. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932; Richard Wachsmuth (Hg.), Die Gründung der Universität Frankfurt. 166 Hans Achinger, Wilhelm Merton in seiner Zeit, S. 207–222; Ralf Roth, Wilhelm Merton, S. 141–146.l
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dung und warb für ein breites Bildungsangebot, das er auch im Blick auf die volkswirtschaftliche Entwicklung für notwendig hielt: Ich bin der Meinung, daß in der Verbreitung und Vertiefung von Bildung, gerade durch ein tieferes Eindringen derselben in weite Volksschichten, für die Zukunft ein außerordentlich großer Segen liegt und daß besonders dieses Moment fördernd auf den sozialen Frieden wirken kann [...]. Man soll mir nicht einwenden, daß die Universitäten speziell zu diesem Zweck nicht beitragen können. Ich bin der Ansicht, daß durch die Errichtung von populärem Volkskursen [....], in dieser Richtung viel geschehen kann.167
Schon Julius Ziehen war mit Adickes in eine Auseinandersetzung über die Ausrichtung der Universität geraten. Ziehen begriff die Hochschule auch als eine Art „Fortbildungshochschule“ und wurde von Adickes für einen „verkappten Gegner seines Planes gehalten“.168 Nach Ziehens Vorstellung sollten alle bisherigen Aufgaben der Sozial- und Handelsakademie „unverkürzt in das Programm der neuen Anstalt“ aufgenommen werden.169 Insofern stand der Stadtrat einer Beteiligung des Hochstifts positiv gegenüber, da es seinen Schwerpunkt in der höheren Erwachsenbildung verortete. Die Debatten über die Universitätsgründung illustrieren, dass Gegner wie Befürworter der Universität das Hochstift primär als eine Institution für die allgemeine Bildungsvermittlung begriffen. In einem vertraulichen Brief an die Mitglieder des Magistrats, des Hochstifts und des Vereins für Volksvorlesungen teilte Karl Flesch den Beschluss des Rats der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften mit: Die Akademie glaubte jedenfalls z. Zt. von der Veranstaltung populärer Vorträge absehen zu sollen und so kam natürlich in Erwägung, ob nicht das Hochstift insbesondere dessen volkswirtschaftliche Section oder die Volksvorlesungen die Sache in die Hand nehmen sollten.170
Dazu wollte die Speyersche Studienstiftung ein Kapital bereitstellen, um „im nächsten Jahre dem Freien Deutschen Hochstift 3.000 M. zuzuwenden zur Ausgestaltung der Vorträge dieses Instituts“, unter der Voraussetzung, dass „das Hochstift sich bereit findet, besondere Vortrags-Cyklen zu veranstalten für junge Kaufleute“.171 Als im Zuge der Verhandlungen über den Erweiterungsbau des GoetheMuseums die Stadtverordneten den Magistratsantrag berieten, sprach sich eine Mehrheit dafür aus, die Volksbildung und allgemeine Bildung im Hochstift zu stärken. Die Beibehaltung der Lehrgänge war aus Sicht der Abgeordneten sogar ein Vorteil für die Universität, weil
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Carl Funck, Lebenserinnerungen, S. 22. Julius Ziehen, Erinnerungen 1864–1925, S. 304. Ebenda. Karl Flesch an Reinhardt, Benkard, Pohle, Epstein, Arndt, Mannheimer, Hallgarten, Opificius, Schnapper-Arndt, Hatschek, Thorwart, 21.8.1903, Magistratsakten S 1769 III, ISG Frankfurt a. Main. 171 Protokollauszug Georg und Franziska Speyersche Studienstiftung, 6.11.1903, ebenda. Unterschrieben wurde dieses Angebot von Franziska Speyer, Franz Adickes und dem AGAVorsitzenden des Hochstifts, Reinhardt.
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VI. Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main ein Nebeneinander [...] nur von Vorteil für die Universität sein kann, denn das Hochstift zieht zu seinen Vorträgen hervorragende Fachmänner der Wissenschaft heran, [...] welche der Universität Anregungen geben können.172
Die Gegner der Universität hatten ja schon die Einbeziehung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften heftig kritisiert. Als 1907 die städtische Unterstützung von 45.000 auf 75.000 Mark erhöht wurde, vertraten die Kritiker und Unterstützer noch eine verbindende Auffassung über deren Fortentwicklung: Gegner und Anhänger finden sich zunächst in der Ansicht zusammen, dass die Akademie in erster Linie ein Fortbildungsinstitut für im praktischen Berufe stehende Personen sein und bleiben solle, dass vor allem die städtischen Zuschüsse nicht dazu dienen dürfen, sie in eine Universität zu entwickeln.173
Nachdem aber die Akademie im Sinne Adickes in die Hochschulplanung einbezogen worden war, geriet das Hochstift in den Mittelpunkt der Kontroversen. Der sozialdemokratische Stadtverordnete Max Quarck und langjähriges Hochstiftsmitglied kritisierte die Benachteiligung des Hochstifts durch die städtischen Behörden. Er sprach sich unter Einbeziehung des Hochstifts für eine alternative Hochschule aus, die als „Goethestiftung“ staatlich unabhängig auch die Bedürfnisse der allgemeinen Volksbildung erfüllen sollte.174 Weder im Hochstift noch in der Frankfurter Öffentlichkeit stießen Quarcks Pläne auf größere Resonanz. Sie konnten auch Adickes Position nur bestätigen, der in seinen Plänen keine Rücksicht auf das Hochstift genommen hatte. Durch seine Bildungsziele passte es nicht in Adickes Konzept und selbst die Hochstiftsverwaltung unter Einfluss Otto Heuers zeigte kein Interesse, das Institut in diese Diskussion einzubringen, sondern er war vor allem an der Erweiterung des Goethemuseums interessiert. Max Quarck hatten in der Debatte die Behauptung geäußert, die auch später von Otto Heuer wiederholt wurde, dass Adickes geplant habe, das Goethemuseum mit seinen Sammlungen und der Bibliothek vom Hochstift zu trennen und der Universität anzugliedern. 175 „[D]ie Verlegung des [...] Museums in die Nähe von Hauptbahnhof und neuer Universität“ hätte, so Joachim Seng, gut „zu Adickes´ Universitätsplänen gepasst“, so dass man im Hochstift „allen Grund“ hatte, die „Universitätspläne und eine mögliche Beteiligung [...] zu hinterfragen“.176 Vor dem Hintergrund der Differenzierung der Bildungsaufgaben des Hochstifts und dessen zunehmender Konzentration auf die literaturhistorischen und musealen Aufgaben seit der Jahrhundertwende war die Nichtbeteiligung an der Stiftungsuniversität schließlich eine aus der Logik der Entwicklung resultierende Konsequenz. Dennoch gehört das Freie Deutsche Hochstift zu den wesentlichen Vordenkern der Universitätsgründung, die sich maßgeblich auf die Strukturen und 172 Bericht des Sonderausschusses zum Vortrag des Magistrats vom 10.5.1912, S. 3, Magistratsakten 1773, ISG Frankfurt a. Main. 173 Frankfurter Nachrichten, Nr. 103, 14.4.1907, S. 5. 174 Prot. Stadtverordnetenversammlung, 5.11.1912, ISG Frankfurt a. Main. 175 Jb. FDH 1914/1915, S. 274. 176 Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 212.
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Organisationen der Bürgerkultur stützte. In diesem Sinne fand Otto Volgers Hoffnung, die bürgerlichen Vereine und Stiftungen als Alternative zu einem vom Staat organisierten Wissenschaftssektor zusammenzuschließen, ihre späte Erfüllung.177 4. DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT UND DIE FRANKFURTER VEREINE UND STIFTUNGEN 4.1. 1859–1881 Betrachtet man die ersten beiden Jahrzehnte der Entwicklung des Hochstifts, dann kann das Verhältnis zu den Frankfurter Vereinen und Stiftungen als eine Mischung aus Abwehr und Desinteresse beschrieben werden. Joachim Seng resümiert, dass unter „Volger die Beziehungen zu den anderen Frankfurter Gesellschaften und Stiftungen nicht sehr gepflegt worden [seien]“.178 Diese Einschätzung täuscht aber, weil sie aus der Rückschau nur die Ergebnisse betrachtet, ohne die vielfältigen und auch intensiven Werbungen des Hochstifts zu berücksichtigen. Volger selbst hat dieser Bewertung insofern Recht gegeben, als er im Rückblick auf seine Tätigkeit ein vollkommenes Scheitern der Bemühungen um die Frankfurter Vereine und Anstalten konstatierte. Warum blieb es nach anfänglicher Sympathie und Neugier der Frankfurter Vereine dem Hochstift verwehrt, eine weitere Zusammenarbeit zu entwickeln? Für diese Erklärung lassen sich drei Gründe anführen. Erstens waren die Vereine nicht bereit, im Sinne des Volgerschen Netzwerkgedankens ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Zweitens teilten nicht alle Vereine und Stiftungen das Bildungsideal des Hochstifts, sondern vertraten ein exklusiveres Modell. Drittens belasteten Volgers forsches Vorgehen und seine sendungsbewusstes Auftreten das Verhältnis zu wichtigen Persönlichkeiten und Vorständen. Dieses Erklärungsmuster kann idealtypisch am Verhältnis des Hochstifts zur Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft verdeutlicht werden. Schon Volger hatte die Beziehungen zu dieser Gesellschaft als Ursache für die isolierte Stellung des Hochstifts unter den Frankfurter Vereinen und Stiftungen bezeichnet. Denn von all der Abneigung, die ihm aus den Vereinen entgegenschlug, hob er besonders den „unglaublichen Haß [...] der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft“ rückblickend hervor.179 Dabei war es gerade die SNG, auf deren Ruf hin Otto Volger 1856 nach Frankfurt gekommen war, um dort eine Dozentenstelle zu übernehmen. Aufgrund der Begegnungen und Gespräche, die Volger in der SNG geführt hatte, glaubte er, eine breite Unterstützung für die Idee des 177 Auch ihre Organisation war gegenüber den bestehenden Universitäten fortschrittlich. Es gab keine theologische, aber eine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät. Vgl. Matti Klinge, Die Universitätslehrer, S. 115. Für die Durchsetzung dieser Fakultäten trug nicht zuletzt das Wirken der volkswirtschaftlichen Sektion des Hochstifts bei. 178 Ebenda, S. 48. 179 Otto Volger, Die dermalige Nothlage, S. 9.
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Hochstifts zu finden. Von den 30 Frankfurter Gründungsmitgliedern des Hochstifts gehörte fast ein Drittel auch der SNG an. Von Anfang an stand die SNG im Mittelpunkt der Werbungen von Volger in Frankfurt. Gegenüber den Frankfurter Vereinen hatte des Hochstift 1859 erklärt: [D]eshalb haben alle Mitglieder der hier bestehenden Vereine freien Zutritt; eben damit bietet unser Verein das Mittel dar, um die Bestrebungen aller dieser Vereine einem gemeinsamen höheren Ziele entgegen zu führen.180
Volger sah die Idee des Hochstifts bereits in Senckenbergs ursprünglichen Stiftungsabsichten angelegt. Er widmete sein 1863 erschienenes Buch über „Goethe´s Vaterhaus“ dem hundertjährigen Jubiläum der Senckenbergischen Stiftung und hob in seiner Festrede hervor, die Stiftung sei in „ihrem wissenschaftlichen Zwecke nach wohl der erste Versuch, eine freie Anstalt zur Pflege der Wissenschaft in Deutschland zu begründen“.181 Senckenberg wollte, so Volger, seine „Stiftung offenbar unter einen universellen Gesichtspunkt“ stellen und so kann diese Erkenntniß auch nicht ohne die förderndste Rückwirkung auf die geistige Thätigkeit in Frankfurt, als auf Senckenbergs Werk selbst, bleiben und eine Stiftung, welche, wie das Freie Deutsche Hochstift, sich die Aufgabe stellt, diese höheren Zwecke hervorzuheben und ihr Bewußtsein beständig wach zu erhalten – und in diesem Sinne auch die Bedeutung der Senckenbergischen Stiftung in das rechte, volle Licht zu setzen – darf nicht zweifeln, dass sie in Senckenbergs Geiste gegründet ist.182
Die SNG nahm aber Volgers Anregungen nicht auf. Weder war sie bereit, ihre Berichte in den Publikationen des Hochstifts zu veröffentlichen, noch strebte sie anderweitige Kooperationen an. Volger selbst musste sich in der Gesellschaft vorwerfen lassen, sich als „Nichtfrankfurter“ in die inneren Angelegenheiten einzumischen.183 Volger hatte die Widerstände im Vorstand der SNG unterschätzt. Auch trennte beide Vereinigungen die unterschiedliche Auffassung hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualifikation. Das Hochstift vertrat einen weit gefassten Begriff von Wissenschaft, der nur die einzelne Leistung bewertete, ohne die Ausbildung und Bildungspatente zwingend zu berücksichtigen. In der SNG waren die Mitglieder in exklusivere Gruppen unterteilt. Dazu wurden die Mitglieder in ordentliche und außerordentliche Mitglieder unterteilt: Diejenigen Mitglieder, welche sich vorzugsweise mit der inneren Verwaltung der Gesellschaft und eben deswegen mit den vorkommenden Arbeiten der verschiedenen Fächer be-
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Ber. FDH 1864, S. 30. Ebenda. Ebenda, S. 30 ff. „In einer Eingabe wünschen 14 Mitglieder, daß die Satzung dahingehend abgeändert werde, daß 1. die in Frankfurt wohnenden Korresp. Mitglieder nicht zu den Verwaltungssitzungen eingeladen werden, 2. daß die Direktion nur aus Frankfurter Bürgern zu wählen ist, 3. daß jedem Mitglied verboten wird, hier gehaltene Vorträge zu veröffentlichen.“ Der auch gegen Volger gerichtete Antrag wurde mit 16 zu 13 Stimmen aber abgelehnt. Zit. nach Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, S. 322.
VI. Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main
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schäftigen und also ,würkliche Naturforscher‘ sind, führen den Namen: Ordentliche Mitglieder
und jene, welche dagegen, ihrer Verhältnisse und Kenntnisse halber, keinen wesentlichen Anteil an den Verrichtungen der Gesellschaft nehmen, dagegen dieselbe durch jährliche Beiträge unterstützen, werden mit dem Namen der Außerordentlichen Mitglieder der Gesellschaft beehrt.184
Die unterschiedlichen Kriterien zeigen sich am Beispiel des Frankfurter Spenglermeisters Gabriel Koch185. Dieser führte 1866 eine öffentliche Auseinandersetzung mit der SNG, weil man ihm die Aufnahme als ordentliches Mitglied verweigerte. Da er durch seine beträchtliche Schmetterlingssammlung und seine Arbeiten sich vielfältige Kenntnisse erworben hatte, meinte er, Anspruch auf die Mitgliedschaft zu besitzen. Die SNG lehnte das Ansinnen ab und bestritt Kochs wissenschaftliche Qualifikation, da man bei ihm nur einen Hang zum „Naturalienhandel“ zu erkennen glaubte.186 Im Hochstift dagegen wurden Kochs wissenschaftliche Qualifikationen anerkannt. Er fand Aufnahme in der Meisterschaft und wurde dort als Entomologe aufgeführt. In der Zeitschrift „Volksfreund für das Mittlere Deutschland“ verfasste Koch einen Schmähartikel über die „Cliquenwirtschaft des naturhistorischen Museums“, indem er seinen Fall schilderte und auch auf Volgers Stellung in der SNG zu sprechen kam. Koch unterstellte der SNG, einem „vorweltlichen gelehrten Zopfthum“ anzuhängen, welche durch eigene Rangordnungen ihre wissenschaftlichen Grundlagen beseitigt habe und es nicht für schicklich halte, „einem Handwerker dieselbe Ehre zu erweisen“.187 Er verlangte eine Satzungsreform, die auch „arbeitenden und beitragenden Mitgliedern“ ein Stimmrecht gewähren sollte. Koch verwies dabei auf prominente „Ordentliche Mitglieder“ der Gesellschaft, wie den Afrikaforscher Eduard Rüppell. Auch Rüppell hatte nur eine abgeschlossene Ausbildung im väterlichen Bankhaus absolviert. Kochs Angriff fand durch Volgers persönliche Erfahrungen in der Gesellschaft neue Nahrung. Volger hatte dort wenig Zustimmung für seine Auffassungen finden können. Darauf nahm Koch in seiner Pressefehde Bezug: Bekanntlich berief man von Seiten der Gesellschaft Herrn Dr. Volger als Docent der Mineralogie und der dahin gehörenden Zweigwissenschaften. Anfänglich wurden seine Leistungen bis zum siebenten Himmel Mahomeds erhoben und nebenbei für sich selbst bedeutend Reklame gemacht. Als man jedoch bemerkte, daß der neue Docent nicht gewohnt war, sich von denen, ihm nicht das Wasser reichenden, aber mit desto höherer Einbildung behafteter Autoritäten dominieren zu lassen, erkaltete eben so schnell das Lob und artete zuletzt in Intrigen und sogar in gemeine Beleidigungen aus.188
184 Ebenda, S. 193. 185 Gabriel Koch (1807–1881) veröffentlichte zahlreiche lepidopterologische Werke, war Mitglied in zahlreichen Vereinen, u. a. Ehrendoktor der Universitäten Moskau und Göttingen. 186 Ebenda, S. 325. 187 Volksfreund für das Mittlere Deutschland, Nr. 47, 20.4.1866, FDH-Hausarchiv. 188 Ebenda.
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Koch erwähnte auch den „pfahlbürgerfreundliche[n] Antrag“, der sich gegen Volger gerichtet habe, um nur Frankfurter Bürgern die Mitgliedschaft in der Direktion der Gesellschaft zu ermöglichen und korrespondierenden Mitgliedern den Zugang zu den Verwaltungssitzungen zu verbieten.189 Volgers Verdienste, seine Dozententätigkeit und die Verwaltung der Sammlungen fanden dennoch Anerkennung. Eduard Rüppell hob in seiner Entgegnung die „großen Opfer an Zeit und Arbeit“ hervor, die Volger erbracht hatte und sprach von den „eloquenten Vorlesungen über Mineralogie und Geologie, welche Herr Dr. Volger in unseren Museums=Hörsälen gehalten hat“ und mit denen er sich um die Zwecke der Gesellschaft verdient gemacht habe.190 Doch hätte Volger seine Vorlesungen plötzlich beendet und regte wiederholt in den Verwaltungssitzungen Streitfragen an, durch welche er seine völlige Unkenntniß der Verhältnisse [...] bekundete und durch welche einige Mitglieder der Gesellschaft veranlaßt wurden, zu beantragen, daß künftig Fremde zu wirklichen Mitgliedern nicht aufgenommen werden sollten.191
Auch die vom Hochstift mit initiierten Forschungsprojekte, wie die Nordfahrt, wurden von der SNG boykottiert. Man fand es eigenthümlich, dass Prof. Petermann sich der Vermittlung Dr. Volgers bedient, der eine Vorbesprechung mit deutschen Geographen im Goethehaus anberaumt hatte,
denn „Dr. Rüppell sieht den Plan als ein Phantasiegebilde“.192 Nach dem Ausscheiden Volgers aus der SNG fand die Gesellschaft keine große Erwähnung mehr in den Berichten und Protokollen des Hochstifts. Volger fühlte sich als ein „Abtrünniger“ und „Feind“ aus dem „Tempel der SNG“ hinausgetrieben.193 Auch zu anderen Vereinen gelang es nicht, trotz vieler persönlicher Kontakte in ein engeres Verhältnis zu treten. Dabei hatte man die Berichte des Hochstifts, die zwischen 1864 und 1866 als Flugblätter erschienen waren, genutzt, um über die vielfältigen Bildungsangebote und die Sitzungen der Frankfurter Vereine und Stiftungen ausführlich zu berichten. Der Stillstand der Hochstiftsaktivitäten, der sich nach 1866 immer öfter bemerkbar machte und auf die schwierige Finanzlage zurückzuführen ist, war nicht geeignet, den lokalen Vereinen die Attraktivität einer Kooperation vor Augen zu führen. Hinzu kamen Volgers Angriffe auf die Stadtbehörden und seine wachsende Verbitterung über die Stagnation des Hochstifts, die ihn und das Hochstift immer mehr in eine Außenseiterposition versetzten und isolierten.
189 Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, S. 322. 190 Frankfurter Reform, Nr. 56, 13.5.1866, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger. 191 Ebenda. 192 Wilhelm Schäfer/Waldemar Kramer, Chronik der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft S. 324. 193 Otto Volger, Die dermalige Notlage, S. 9.
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4.2. 1881–1914 Das Verhältnis zu den Frankfurter Vereinen wurde ab 1881 auf eine neue Grundlage gestellt, was nicht nur durch Volgers Abwahl und die neue Verwaltung bedingt war, sondern auch aus dem veränderten Selbstverständnis des Hochstifts resultierte. Anstatt in Frankfurt eine Führungsposition zu beanspruchen, begriff man sich nun als eine Bildungsanstalt, welche gleichberechtigt mit den bestehenden Vereinen und Stiftungen beanspruchte, bisher unerfüllte Bildungsbedürfnisse zu befriedigen. So gelang es dem Hochstift, durch den Aufbau entsprechender Fachabteilungen ein eigenständiges Profil zu entwickeln. In der „Herbeiführung wechselseitiger Beziehungen zu andern, verwandte Zwecke anstrebenden Vereinen und Gesellschaften“ nahm man wieder Kontakte mit der SNG auf, die Volger noch zum „Hauptgegner des Hochstifts“ stilisiert hatte.194 Gegenseitige Einladungen wurden ausgetauscht und auch zur Polytechnischen Gesellschaft195 und zum Kunstverein entwickelten sich neue Kontakte. Das Städelsche Kunstinstitut folgte der Einladung zur „Richterausstellung“ und das Hochstift sprach die Hoffnung aus, dass „auch hier ein gemeinsames Arbeiten nach gleichen Zielen sich in vielen Fällen wird ermöglichen lassen“.196 Mit den Kunstausstellungen zu Führich (1885), Richter (1886) und Schwind (1887) übernahm das Hochstift Themen, die bisher durch das „Städel“ und den Kunstverein besetzt worden waren. Dennoch unterstützte das „Städel“ diese Bestrebungen und erweiterte 1887 die Schwindausstellung durch eine eigene Ausstellung in seinen Räumen, deren Bilder Aufnahme in den Katalog des Hochstifts fanden. 197 Diese Tätigkeiten des Hochstifts wurden nicht als Konkurrenz wahrgenommen, sondern als Ergänzung. Vor allem die Abteilung für Bildkunst und Kunstwissenschaft unter Veit Valentins maßgeblicher Führung intensivierte die Kontakte zum Städelschen Kunstinstitut. 1887 fand auf Anregung dieser Abteilung auch eine Ausstellung von Werken Eduard von Steinles statt, bei der die Mitglieder der Abteilung an der Abfassung des Katalogs beteiligt waren.198 Bereits 1885 hatte sich die Abteilung an einem Bildhauerwettbewerb des Kunstgewerbevereins beteiligt, bei dem man 500 Mark für den zweiten Preis stiftete.199 Kooperationen wurden auch mit dem Verein für Geschichte und Altertumskunde und dem historischen Museum geschlossen. Die von den beiden Vereinen veranstaltete jährliche Winkelmannfeier fand nun alle drei Jahre im Rahmen des Hochstifts statt. Auch die Beziehungen zum Verein für Geographie und Statistik und zum Physikalischen Verein wurden wieder erneuert. 194 195 196 197 198 199
Ber. FDH 1886/87, S. 12*. In den Räumen der Gesellschaft fanden u. a. Lehrgänge und die Kunstaustellungen statt. Ber. FDH 1886/87, S. 12*. Ber. FDH 1888, S. 116–118. Ebenda, S. 112. Die Höhe des Beitrags wurde von Karl Flesch kritisiert, der 400 Mark für ausreichend erachtete und deshalb verlangte, die Mitglieder der Abteilung sollten bei der Auszeichnung darauf achten, dass es keine Gegenstände für den Luxus seien, sondern sich „auch für das bürgerliche Haus eigne[n|“. Prot. AGA, 20.10.1885.
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VI. Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main
Die bedeutendste Zusammenarbeit war die bereits geschilderte Unterstützung des Vereins für Volksvorlesungen. Der Verein wurde maßgeblich durch Hochstiftsmitglieder gegründet und erhielt vom Hochstift einen jährlichen finanziellen Zuschuss. Auch die Stadt unterstützte den Verein mit Beihilfen. Ähnliche Bestrebungen hatte das Hochstift schon früher gefördert. Es unterstützte 1887 den Volksbildungsverein mit einer Spende von 250 Mark und gewährte dem Kaufmännischen Verein Freikarten für die Lehrgänge.200 Hier war wiederum Karl Flesch die treibende Kraft im AGA, der sich mehrmals für eine Unterstützung des Volksbildungsvereins ausgesprochen hatte. Der AGA lehnte zwar einen regelmäßigen Zuschuss ab, aber neben einzelnen Beiträgen beteiligten sich viele Mitglieder des Hochstifts mit unentgeltlichen Vorträgen.201 Auch die Ermäßigungen, die das Goethemuseum Arbeitervereinen und Gewerkschaften anbot, waren Teil der „Aufbruchsstimmung in die bürgerliche Lebenswelt“.202 Nach der Jahrhundertwende näherten sich die organisierte Arbeiterschaft und die bürgerlichen Vereine wieder einander an. In vielen Bereichen kam es zu Kooperationen mit dem liberalen Bürgertum. Die abgebrochenen Verhandlungen über die städtische Arbeitsvermittlungsstelle wurden wieder aufgenommen, Fortund Weiterbildungsmöglichkeiten gefördert und kulturelle Angebote für die Arbeiterschaft geschaffen.203 Hinzu kam der zunehmende Einfluss der Sozialdemokraten bei den Kommunalwahlen, die ihre Position stärkten. Teil der bürgerlichen Integrationsbemühungen waren die Vereinskooperationen des Hochstifts und die kulturellen Angebote, die auf der Vereinsebene das „Auseinandertriften der proletarischen und bürgerlichen Vereinswelt“ verzögerten.204 Die Kunstausstellungen und die Förderung der Volksbildung prägten in den Jahren bis 1914 die Kooperationen mit den Frankfurter Vereinen. Das war Ausdruck der Wandlungen innerhalb des Hochstifts, die belehrende Unterhaltung und Vermittlung allgemeiner Bildungsinhalte in den Vordergrund gestellt hatten. Für die neuen Kooperationen standen zwei Namen, die besonderen Anteil daran hatten. Veit Valentin an der Spitze der Sektion für Bildkunst und Kunstwissenschaft befürwortete nicht nur die Bildungsaufgaben durch die Lehrgänge, sondern er förderte auch die frühen Kunstausstellungen. Karl Flesch setzte die Unterstützung der Volksbildung durch, die er als wesentliches Mittel bürgerlicher Sozialpolitik begriff. Zwar war das Hochstift wieder in freundschaftliche Beziehungen zur SNG getreten, aber die Gesellschaft spielte für die Bildungskonzeption des Hochstifts keine Rolle mehr. Die Naturwissenschaften wurden nur noch eingeschränkt behandelt, was ausdrücklich mit dem Hinweis auf bereits bestehende Vereine geschah. Die Abteilung für Mathematik und Naturwissenschaften konzentrierte sich in ihren Vorträgen immer mehr auf den Bereich der Mathematik. Einige Vorträge 200 201 202 203 204
Prot. VA, 28.10.1887. Prot. AGA, 11.12.1885. Ralf Roth, Das Vereinswesen, S. 209. Ebenda, S. 208. Ebenda, S. 209.
VI. Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main
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fanden in Kooperation mit der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften und dem Physikalischen Verein statt, die dazu ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellten.205 Die Mitglieder sprachen die Hoffnung aus, dass bei der erfreulichen Entwicklung der hiesigen Akademien immer mehr ein willkommener, gemeinsamer Boden für alle Mathematiker und Naturforscher [geschaffen] werden möge.206
Die mathematische Sektion des Hochstifts verfügte nicht über eine entsprechende Fachbibliothek. Dieser Umstand wurde kritisiert: In der Sitzung vom 14. November 1902 wurde lebhaft darüber geklagt, daß es in Frankfurt keine mathematische Bibliothek gibt; in dieser und in mehreren anderen Sitzungen wurden die bedauerlichen Folgen dieses Mangels für das mathematische Leben Frankfurts hervorgehoben, und es wurde beschlossen, im kommenden Jahre geeignete Schritte zur Hebung dieses Übelstandes zu unternehmen.207
Das Hochstift erweiterte aber für dieses Fach nicht mehr seine Kapazitäten, sondern trug diese Bedürfnisse an andere Institutionen heran. Schließlich wurde eine solche Abteilung in der Stadtbibliothek eingerichtet. Nach der Jahrhundertwende gewannen die museale Tätigkeit und das Goethemuseum immer größere Bedeutung. Aus der Unterstützung des Vereins für Volksvorlesungen zog man sich zurück. Dennoch blieb das Hochstift mit seinen Lehrgängen bis 1914 eine wesentliche Institution für die bürgerliche Erwachsenenbildung in Frankfurt.
205 Jb. FDH 1908, S. 317. 206 Jb. FDH 1907, S. 338. 207 Jb. FDH 1903, S. 316.
VII. GOETHEHAUS, GOETHEMUSEUM UND GOETHEREZEPTION Indessen war dem Verfasser dieser Zeilen jene Veränderung des Goethehauses sehr betrübend. Schon ging derselbe mit dem Plane zur Gründung der Gesellschaft um, welche jetzt endlich sich im Besitze des Goethehauses sieht und dasselbe unter ihren Schutz genommen hat.1
1863 erwarb das Hochstift das Geburtshaus Goethes. Das Haus als Gedenkstätte mit seinen Sammlungen und die Beiträge des Hochstifts zur nationalen Goetherezeption gewannen seitdem immer größere Bedeutung. Höhepunkt dieser Entwicklungen war der 1880 von Volger entwickelte Plan, eine nationale Goethestiftung zu begründen. Diese sollte unter der Schirmherrschaft des Weimarer Großherzogs stehen und unter Leitung des Hochstifts die Weimarer und Frankfurter Goethestätten vereinigen. Volgers knüpfte mit seiner Idee an das frühere Projekt einer Goethe-Nationalstiftung an, das bereits 1842 im Rahmen des Deutschen Bundes geplant worden war. Volgers Abwahl 1881 beendete schließlich alle Erörterungen darüber. Das Vermächtnis von Adolf Müller und die Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden in Frankfurt ermöglichten es dem Hochstift schließlich, 1897 einen eigenen Museums- und Bibliotheksbau zu errichten. Die museale Goethepflege professionalisierte sich zunehmend, aber ihre Ansprüche blieben hinter den monumentalen Zielen Volgers zurück. Für die folgende Darstellung sollen die Entwicklung des Goethehauses und des Goethemuseums und die Goetherezeption des Hochstifts skizziert werden. Zur Goetherezeption werden dabei nicht nur die schriftlichen Beiträge des Hochstifts, sondern auch die Goethefeiern gezählt. In Volgers Plan einer nationalen Goethestiftung verbanden sich diese Bereiche zu einer umfassenden Idee, die bisher in der allgemeinen Rezeptionsgeschichte Goethes kaum Erwähnung gefunden hatte und daher ein besonderes Kapitel einnimmt. Dies ist umso mehr gerechtfertigt, weil Volger die Grundideen des Hochstifts in Form der Goethestiftung noch einmal in einer nationalen Dimension umzusetzen beabsichtigte.
1
Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 179 ff.
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
317
1. DIE ENTSTEHUNG VON PERSONENGEDENKSTÄTTEN IM 19. JAHRHUNDERT Die Einrichtung von Gedenkstätten begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts.2 Die Schillerhäuser in Weimar (1847) und in Leipzig-Gohlis (1848) gehörten zu den ersten Beispielen, 1859 folgte das Marbacher Schillerhaus.3 Gedenkstätten sind eine Stätte des Gedenkens, die keine Sammlung benötigen und die Gedenkstätte als einen authentischen Ort begreifen.4 Sie waren Memorialstätten, an denen man das Andenken an herausragende Personen pflegte, die zum Inventar einer nationalen Erinnerungskultur gehörten.5 Dabei muss zwischen privaten und öffentlich zugänglichen Gedenkstätten unterschieden werden. Bevor der Marbacher Schillerverein 1859 das Schillerhaus erwarb, existierte in dessen Räumlichkeiten eine private Gedenkstätte an den Dichter, die der Besitzer in einem Zimmer eingerichtet hatte und die auf Anfrage zu besichtigen war. Dort befand sich ein Gästebuch, in das sich die Besucher eintragen konnten. Die Vermischung aus gewerblicher Nutzung des Hauses (Bäckerei) und Gedenkstätte verstimmte aber die Öffentlichkeit, weil man dadurch die Pietät des Ortes verletzt sah. So schrieb die Frankfurter Didaskalia 1856 über das Marbacher Schillerhaus: Das bescheidene Häuschen zu Marbach, wo vor bald einem Jahrhundert Deutschlands Stolz und Zierde das Licht der Welt erblickt hat, ist schon längst zu einem viel besuchten Wallfahrtsort geworden; der Verehrer des Dichters jedoch, der ihn besucht, muß auch alle seine Pietät mitbringen, wenn er aus der nackten Wirklichkeit, die ihm in diesem Heiligthume auf jedem Schritt und Tritt begegnet, noch sein bisschen Illusion herausretten will.6
Gestört sah man die Pietät des Ortes etwa durch die Anbringung einer hölzernen Gedenktafel, die einer Wirtshaustafel glich und neben dem „BäckergewerbsWappen“ hing, und auch dadurch, dass eine Backmulde „just auf den Platz gestellt ist, wo vor Zeiten Schiller´s Wiege stand“ und durch die wenigen anspruchslosen Memorabilien und ein Gästebuch, das ein Oberkellner eröffnet hatte und dass „in diesem Pseudo=Album Tintenkleckse und schlechte Witze, Unsinn und Rohheiten nicht die geringste Rollen spielen“.7 Die Didaskalia berichtete im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Schillerjubiläum von 1859 auch über die Schillerhäuser in Oggersheim und Bauerbach.8 Goethes Weimarer Wohnhaus war nach dessen Tod bis 1840 nur für ausgewählte Besucher zugänglich gewesen. Theodor Kräuter (1790–1856), Goethes ehemaliger Sekretär und in dessen Testament als Aufseher über die Sammlungen und die Bibliothek eingesetzt, führte gelegentlich Besucher durch einzelne Räu2 3
4 5 6 7 8
Als Vorläufer gelten die Luther-Häuser. Vgl. Albrecht Bergold/Friedrich Pfäffin (Hg.), Schillers Geburtshaus in Marbach am Neckar; Paul Kahl, „...ein Tempel der Erinnerung an Deutschlands großen Dichter“. Das Weimarer Schillerhaus 1847–2007. Ebenda, S. 357. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal, S. 148 ff. Das Schillerhaus zu Marbach, Didaskalia, Nr. 278, 20.11.1856. Ebenda. Didaskalia, Nr. 174, 22.7.1856 und Nr. 224, 18.9.1856.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
me. Allerdings war nicht jeder Besucher willkommen. Kräuter, der darauf achtete, dass alles so blieb, wie es beim Tod des Dichters war, beklagte das allgemeine Verlangen, das Haus zu besuchen, das „sich lawinenartig vergrößerte“.9 Um „Handwerksburschen“ und „Vagabunden“ den Zutritt zu verwehren, verlangte Kräuter ein „Aufschlussgeld“ von einem Taler. Dabei sollte nicht nur ein Diebstahl von Gegenständen verhindert werden, sondern nur ein der Pietät des Ortes entsprechendes Publikum zugelassen sein. Goethes Haus, dessen Sammlungen, Bibliothek, Erinnerungen – die Zimmer, die der große Dahingeschiedene bewohnte und die genau in dem Zustande belassen sind, in dem sie bei seinem Tode waren – alles das zusammen bildet einen Tempel, keiner andern irdischen Wohnstätte an Wert vergleichbar,
so ein Besucher 1834.10 Die Enkel, Walter und Wolfgang von Goethe, untersagten 1840 alle weiteren Führungen durch das Haus, das mit Ausnahmen bis 1885 der Öffentlichkeit verschlossen blieb. Dagegen konnte seit 1847 das Weimarer Schillerhaus, das in den Besitz der Stadt Weimar gelangte, unentgeltlich besucht werden und war damit das erste zugängliche „weltliche Privathaus“ (Paul Kahl). In den Instruktionen des von der Stadt bestellten Kastellans wurde festgelegt: Diese Räumlichkeiten und die darin aufbewahrten Gegenstände hat der Kastellan jedem Fremden, hohen und niedrigen, Armen und Reichen, sobald sie sich für Schillers unsterbliche Werke interessieren und dies zu erkennen geben, auch eben darum Verlangen tragen, jene Räumlichkeiten zu besehen, mit Bereitwilligkeit und freundlicher Zuvorkommendheit aufzuschließen und vorzuzeigen, dabei aber darauf zu sehen, dass die Besuchenden jene Räume mit sauberen Füßen betreten und überhaupt keinen Schaden anrichten.11
Öffentlichkeit und Gemeinnützigkeit waren wesentliche Prinzipien für diese erste Personengedenkstätte. Diese Prinzipien bestimmten auch das Projekt einer Nationalstiftung des Deutschen Bundes. Die Idee, das Weimarer Goethehaus und seine Sammlungen für eine „National-Stiftung“ in den Besitz des Deutschen Bundes zu bringen, war ein Vorhaben, das zu jener Zeit in der „allgemeinen Museumsgeschichte ohne Vorbild“ war.12 Das Haus, die Bibliothek und die Sammlungen sollten als Nationaleigentum jedem zugänglich sein und unter dem besonderen Schutz der Weimarer Regierung stehen. 9
10 11 12
Paul Kahl, „ich hätte sonst Handwerksbursche und Vagabunden darin herumführen müssen...“. Wer durfte im neunzehnten Jahrhundert das Weimarer Goethehaus besichtigen? S. 3. Gedenkstätten sind eine Stätte des Gedenkens, die keine Sammlung benötigen und die Gedenkstätte als einen authentischen Ort begreifen. Bernhard von Beskow, „Weimar ist nicht mehr, was es vordem gewesen ist...“ (1834), in: Heinrich Pleticha (Hg.), Das klassische Weimar, Texte und Zeugnisse, S. 325. Paul Kahl, „ich hätte sonst Handwerksbursche und Vagabunden darin herumführen müssen...“, S. 2. Paul Kahl, Das Scheitern der „immerwährenden Nationalstiftung“ in Weimar und die Gründung des Goethe-Nationalmuseums, S. 253; Vgl. Johannes Schultze, Der Plan eines GoetheNationaldenkmals in Weimar. Der Deutsche Bund und die Erben Goethes, in: Jb. GG 12, S. 239–263.
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
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Damit sind erstmals in der Geschichte moderne Museumskriterien auf ein Dichterhaus bezogen: Gemeinnützigkeit, Ständigkeit, Zugänglichkeit, Forschung und Bildung.13
Die Verhandlungen scheiterten schließlich an der Familie Goethe, die einen Verkauf ablehnte. Wie groß das öffentliche Bedürfnis war, das Haus und die Sammlungen zu besichtigen, geht aus einem Brief Theodor Kräuters an Johann Peter Eckermann hervor. Kräuter, der zu diesem Zeitpunkt noch an eine Vereinbarung mit der Familie Goethe glaubte, schrieb: Was sollte das für eine Völkerwanderung nach diesem Hause werden, wenn die Aufstellung dieser Schätze mit Beendigung der Eisenbahn zusammenträfe.14
Der Deutsche Bund wurde in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit als geeignete Institution betrachtet, um die nationalen Kulturgüter zu sichern. So schrieb E. M. Sellinger über das Projekt: Bei fortschreitender Entwicklung unserer Zustände wird der deutsche Bundestag dahin kommen, in gewissen größeren Zwischenräumen als höchste Entscheidungsbehörde über Nationalverdienste aufzutreten. In solcher Eigenschaft wird der deutsche Bundestag diejenigen der Verstorbenen bezeichnen, die um das Gesammtvaterland sich verdient gemacht und wird bestimmen, welch´ ein Denkmal ihnen in der deutschen Ruhmeshalle zu setzen sei.15
Kräuter gab schon gegenüber Eckermann zu bedenken, dass kleine Staaten, wie Sachsen-Weimar, finanziell nicht der Lage wären, eine Nationalstiftung, wie sie der Deutsche Bund plante, alleine zu betreiben, weil „es für den hiesigen Staat kostspielig werden würde“, wobei nicht nur der Erwerb, sondern auch die Konservierung und Ausstellung in Rechnung kämen.16 2. DIE FRANKFURTER GOETHESTÄTTEN Das Frankfurter Goethehaus war schon vor Goethes Tod ein Wallfahrtsort für die Verehrer des Dichters gewesen. Zu dessen Lebzeiten, als das Haus sich noch im Besitz der Familie befand, besuchten Freunde und Bewunderer des Dichters Frankfurt. Goethes Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ und Bettina von Arnims „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ rückten das Haus am Hirschgraben später auch literarisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Goethes Mutter, Catharina Elisabeth Goethe, hatte das Haus 1795 verkauft und es blieb bis 1862 unter wechselnden Eigentümern in Privatbesitz.17 Als private Gedenkstätte diente im 19. Jahrhundert das sogenannte „Dichterzimmer“, in dem Erinnerungsstücke und ein Gästebuch auslagen. 13 14 15 16 17
Paul Kahl, Das Scheitern der „immerwährenden Nationalstiftung“ in Weimar, S. 256. Max Hecker, Die Briefe Theodor Kräuters an Eckermann, in: Jb. GG 12, S. 264–306, hier S. 271. E. M. Sellinger, Denksteine deutscher Geschichte des Jahres 1842, S. 246. Max Hecker, Die Briefe Theodor Kräuters an Eckermann, S. 271. Vgl. Petra Maisak/Hans-Georg Dewitz, Das Goethe-Haus, S. 21 ff.; vgl. Ernst Beutler, Das Haus.; Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 101–114.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
1819 wurde von Frankfurter Bürgern zum ersten Mal die Idee eines Goethedenkmals erwogen, ohne dass der Plan zunächst die erhoffte Unterstützung fand.18 Der für die Sammlung der Geldmittel verantwortliche Bankier Simon Moritz von Bethmann erklärte das mit der Abwesenheit vieler Glieder des ursprünglichen Vereins, Erkaltung des Eifers für dieses Unternehmen, selbst Abneigung im deutschen Publikum...; auch im Senat wird es Goethe sehr übel vermerkt, daß er sein Frankfurter Bürgerrecht aufgegeben hat.19
Selbst Goethe stand dem Plan für ein Denkmal zu Lebzeiten ablehnend gegenüber. Drei Frankfurter Bürger, Heinrich Mylius, Eduard Rüppell und Marquard Seufferfeld, denen „die Abtragung der Nationalschuld zu lange währte“, hatten 1834 in „allzuschwachem Vertrauen auf die Theilnahme ihrer Mitbürger den Entschluß gefasst, auf ihre Kosten dem Dichter in seiner Vaterstadt ein Denkmal zu errichten“.20 Sie beauftragten den Mailänder Bildhauer Pompeo Marchesi mit einer Marmorplastik, die 1840 in der Stadtbibliothek aufgestellt wurde. Erst 1837 konstituierte sich erneut ein Komitee, um „Goethe, ein öffentliches und dauerndes, ein seiner und unserer würdiges Denkmal zu stiften“.21 1844 erfolgte dessen Einweihung.22 Das Denkmal wurde der Stadt als Eigentum übergeben. Der Bildhauer Ludwig Schwanthaler verzichtete auf einen Teil seines Honorars, das als Stiftung (1.800 Gulden) an den allgemeinen Almosenkasten übergeben wurde, damit der „Zinsenertrag jährlich am Enthüllungstage des Denkmals an die Armen der drei christlichen Confesssionen vertheilt werde“.23 Im Zuge dieser Denkmalsstiftung erfuhr das Haus am Hirschgraben wieder öffentliche Aufmerksamkeit. Auf Anregung Arthur Schopenhauers, der sich auch an den Diskussionen über die künstlerische Gestaltung des Denkmals beteiligt hatte24, wurde dort am 22. Oktober, am Tag der Einweihung des Goethedenkmals in Frankfurt, eine weiße Marmortafel angebracht.25 Das Gebäude spielte an diesem Tag ein wichtige Rolle bei den Festlichkeiten, wie die Didaskalia berichtete: „Das Geburtshaus Goethe´s und das Monument waren erleuchtet und von den dicht gedrängten Haufen der Beschauer um= und belagert“.26 In den Berichten über die Feier wurde Goethes Bedeutung für seine Vaterstadt betont und der Festzug als ein alle Volksschichten verbindendes Ereignis gefeiert. „Jung und Alt, Reich und Arm, Vornehm und Gering strömte herbei und wogte 18 19 20 21 22 23 24
25 26
Vgl. Roland Hoede, Ein Denkmal und ein Haus, S. 255–258. Ebenda, S. 256. Friedrich Gwinner, Kunst und Künstler in Frankfurt, S. 424. Goethe´s Denkmal, in: Frankfurter Jahrbücher, Nr. 20, 18.3.1837, S. 127. Vgl. Das Goethedenkmal in Frankfurt am Main. Festschrift zur Einweihung des Goethedenkmals am 22. Oktober 1844. Friedrich Gwinner, Kunst und Künstler in Frankfurt am Main, S. 423. Als Ergebnis dieser Diskussionen wurde ein früherer Entwurf von Bertel Thorvaldsen verworfen und Ludwig Schwanthaler mit der Ausführung beauftragt. Vgl. Gerhard Eimer, Thorvaldsen, Schopenhauer und der „Zeitungslesende Goethe“. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 108; Roland Hoede, Ein Denkmal und ein Haus, S. 259. Die Enthüllung des Goethe=Monuments in Frankfurt a. M., Didaskalia, Nr. 296, 26.10.1844.
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
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auf und nieder“.27 Die Einweihung fand zu einer Zeit statt, in welcher das Weimarer Goethehaus im Mittelpunkt der Bemühungen des Deutschen Bundes stand, eine nationale Goethestiftung zu begründen. Als Gast aus Weimar nahm der Kanzler Friedrich von Müller an den Frankfurter Feierlichkeiten teil, der ein enger Vertrauter Goethes gewesen war und zu seinen Testamentsvollstreckern gehörte. Als 1849 der hundertste Geburtstag Goethes bevorstand, bildete sich in Frankfurt ein Festkomitee, um eine Feier zu gestalten. Allgemein gelten die Goethefeiern des Jahres 1849 als ein Tiefpunkt des Goethegedenkens im 19. Jahrhundert.28 Auch in Frankfurt gab es Vorbehalte gegen den Dichter, wie das Scheitern der ersten Sammlung für das Denkmal gezeigt hatte. Kritik an Goethes Werk hatte unter anderem die literarische Bewegung des „Jungen Deutschland“ im Vormärz geübt. Sie warfen ihm klassenspezifischen Egoismus und ein reaktionäres Denken vor.29 Einen Nachhall fanden diese Vorwürfe schon bei den Feierlichkeiten 1844, als man den „Landsmann Goethe gegen den Vorwurf, als habe er für das Volk nichts gethan, in Schutz nahm“.30 Die Einweihung des Frankfurter Denkmals wurde als „würdige akademische Morgenfeier“ charakterisiert, der jedes volksfesthafte Gepränge fehlte, und auch die Feiern des Jahres 1849 blieben überschaubar.31 Kontrastiert man diese Feiern mit den Schillerfeiern des Jahres 1859, dann kann man zu der Überzeugung gelangen, dass „die Schiller-Verehrung an öffentlicher Wirksamkeit und gesellschaftlicher Relevanz zunimmt, die Verehrung Goethes demgegenüber zurücktritt“32, und auch das Frankfurter Goethehaus in einem „Dornröschenschlaf“ versank, aus dem es erst Volger wieder erweckte.33 Ein Vergleich der Schillerfeiern von 1859 mit den Goethefeiern von 1849 bleibt aber problematisch, weil die unterschiedlichen Zeitumstände und Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit nicht notwendig mit dem Gegenstand der Verehrung zusammenhingen. Was man 1859 an Schiller feierte, das wurde schon 1849 mit Goethe unter ungünstigeren Bedingungen beansprucht. Im Aufruf zu „Goethes Jubelfeier“ wurde das Jahr 1849 als eine Wegscheide beschrieben, die unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution von 1848/49 stand. Verwelkte Kränze, zerrissene Fahnen, erschlagene Männer liegen zu unsern Füßen, weiterhin erblickt das Auge brennende Dörfer und verwüstete Städte, es wendet sich ab vor Entsetzen: da ragen vor ihm die Kreuze auf den Gräbern, darunter manch gutes und mach arges Herz die Ruhe gefunden hat, aber auch manche der jüngsten Hoffnungen des Vaterlandes und seines Volkes. Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden.34 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebenda. Vgl. Wolfgang Leppmann, Goethe und die Deutschen, S. 61–80; Kritischer gegenüber dieser Einschätzung, Jochen Golz, Frühe Formen der Goethe-Pflege, S. 82. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 101–120. Didaskalia, Nr. 296, 26.10.1844. Roland Hoede, Ein Denkmal und ein Haus, S. 259–260. Jochen Golz, Gesellschaften vor der Gesellschaft, Frühe Formen der Goethe-Pflege, S. 83. Roland Hoede, Ein Denkmal und ein Haus, S. 261. Zu Goethes Jubelfeier, Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 166, 14.7.1849, S. 662.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
Der Verfasser des Aufrufs, Eduard Sattler, bezeichnete die Goethefeier als eine „Adventfeier“, weil sie „in der Vorahnung der nahenden Weihnacht, da endlich das neue große deutsche Reich der Einheit und Freiheit zu uns kommen werde“ stattfände.35 Die „geistige Saat“ dafür hätten Dichter wie Goethe gelegt und noch „heute wie in den trübsten Tagen stellt sich die Einheit und Urzusammengehörigkeit des deutschen Volkes nur in seiner Wissenschaft, Kunst und Literatur dar.“ Solange die politische Form der Nation noch zu entbehren sei, solle die „unveräußerliche Einheit der deutschen Geisteswelt“ gefeiert werden. Der Inhalt des Aufrufs unterschied sich von der Aufforderung des Komitees für ein Goethedenkmal von 1837. Damals war besonders das Verhältnis des Dichters zu Frankfurt herausgehoben worden und Goethe war als einer der größten deutschen Dichter bezeichnet worden. 1849 feierte man in Frankfurt Goethe als „größten Bürger“ und „Deutschland seinen größten Dichter“. Die Aufladung des Dichters zur Zentralgestalt der deutschen Kulturnation verband sich mit dem nationalen Bedeutungsgewinn der Stadt Frankfurt, die zum „Herzen Deutschlands“ stilisiert wurde: Denn das Herz Deutschlands muß die Stadt genannt werden, in der seit langer Zeit der politische Lebensproceß der Nation seine Bedingung fand und die keine sonst am ersten und tiefsten berührt worden ist von allem, was Gutes oder Schlimmes die Gesammtheit des deutschen Volkes betroffen hat. Und ist es nicht eine wunderbare Fügung, dass unter diesem Herzen Deutschlands auch der größte Dichter der Nation und in ihm der Dichter aller Jahrhunderte geboren und groß geworden ist.36
Wenn Frankfurt das Herz der Kulturnation darstellte, dann konnte das Haus am Hirschgraben zur „Santa Casa“ dieser Kulturnation aufsteigen. Als Folge dieses Aufrufs konstituierte sich am 24. Juli 1849 in Frankfurt ein Komitee und die Feier sollte sowohl ein städtisches wie ein allgemein deutsches Fest werden, ein ernstes und zugleich volkstümliches; alle Stände und alle Klassen sollen daran Antheil nehmen.37
Nun rückte das „Haus zu den drei Leiern“ wieder in den Mittelpunkt und J. W. Appell verfasste eine Artikelserie über dessen Geschichte, die zuerst im Frankfurter Konversationsblatt erschien und später als Broschüre veröffentlicht wurde.38 Das Haus befand sich damals im Besitze der Witwe des Senators Rössing, Jeanette Rössing. Die Eigentümerin hatte im hinteren Mansardenstübchen des zweiten Stocks, das man für Goethes Zimmer hielt, einen Gedenkraum eingerichtet. Neben einer Büste des Dichters waren einige Handschriften und Möbelstücke platziert, wie ein Stehpult, das angeblich aus dem Besitz Goethes stammte. Dennoch kritisierte Appell den Zustand der Gedenkstätte: „Im Inneren der Poetenklause hat man sich leider nicht gescheut, mit unpietätischer Hand die Spu35 36 37 38
Ebenda. S. 663. Ebenda. Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 183, 3.8.1849, S. 731. J. W. Appell, Das Haus mit den drei Lyren und das Goethedenkmal in Franfurt a. M.; ders., Das Haus mit den drei Leiern, Frankfurter Konversationsblatt Nr. 203, 27.8.1849 und Nr. 204, 28.8.1849.
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
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ren der alten Einrichtung zu verwischen“.39 Appell hatte schon die „neue Betünchung“ der Fassade gerügt, durch die das Haus „vieles von seiner ehrwürdigen Physiognomie verloren“ habe.40 Auch das Erinnerungszimmer, in dem ein Gästebuch auslag, enthielt Gegenstände aus dem Besitz des verstorbenen Sohnes der Witwe Rössing, die damit das Andenken an Goethe mit privaten Memorabilien unzulässig vermischte, wie Appell meinte. Doch zum 28. August 1849 „entfernte man diese störenden und unpassenden Gegenstände, bis auf die Vögelsammlung“ und das Zimmer war an jenem Tage durch eine Anzahl Blumenstöcke auf erhöhtem Gestell festlich geschmückt, aus deren Mitte die Gypsbüste des einstigen Bewohners schimmerte.41
Authentizität und Pietät forderte Appell von den Besitzern des historischen Hauses ein. Eine private Nutzung galt als ein Hindernis für ein ehrenvolles Gedenken, wie etwa im Marbacher Schillerhaus, in dem gewerbliche Backstube und Gedenkstätte miteinander verbunden waren. Im Vergleich mit dem Goethedenkmal spielte das Goethehaus bei den Feiern von 1849 nur eine untergeordnete Rolle: Sonst hatte man übrigens das Geburtshaus bei der Feier seltsamerweise als Aschenbrödel behandelt. Während Abends der Denkmalsplatz von Gascandelabern prächtig erhellt war und die anliegenden Häuser in freudigem Glanze strahlten, während verschiedene Plätze, welche besondere Erinnerungen an den Dichter weckten, auf Veranlassung des Festausschusses mit Transparenten bedacht worden, sah man hier bloß ein dürftig Kränzlein um die marmorne Gedenktafel, und auch die Erleuchtung war trübselig.42
Bestätigt wird diese Schilderung durch eine Fotografie, die Carl Friedrich Vogel 1849 in der Stunde der Geburt des Goethehauses aufnahm.43 Das Denkmal als öffentliche Gedenkstätte bot die geeignetere Lokalität für eine pietätvolle Feier, die unter Beteiligung eines zahlreichen Publikums stattfinden konnte. Um das Monument errichtete man einen Hain aus Eichenlaub, an dem achtzehn Tafeln mit Zitaten aus Goethes Dichtungen angebracht waren.44 Festaufführungen und Ansprachen umrahmten die Feierlichkeiten. Neben dem Denkmal spielte 1849 die Grabstätte von Catharina Elisabeth Goethe auf dem Friedhof der Peterskirche noch eine wichtige Rolle. Am Morgen des 28. August fand dort eine kleine Feier statt, bei der unter Choralgesängen das geschmückte Grab mit einer Steinplatte versehen wurde.45 „Wohl der sinnigste und weihevollste Moment des Festtages“, wie Appell feststellte.46
39 40 41 42 43 44 45 46
Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 204, 28.8.1849, S. 813. Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 203, 27.8.1849, S. 809. J. W. Appell, Das Haus mit den drei Lyren, S. 9. Ebenda, S. 9 ff. Abgebildet bei Roland Hoede, Ein Denkmal und ein Haus, S. 257. Das Negativ befindet sich im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Frankfurter Konversationsblatt, Nr. 207, 31.8.1849. S. 827. Ebenda, J. W. Appell, Das Haus mit den drei Lyren, S. 13.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
Obwohl während der Frankfurter Goethefeier von 1849 das Goethedenkmal der Zentralort der Festivitäten war, gewannen andere Stätten, wie das Geburtshaus und die Grabstätte neue Aufmerksamkeit. Das Goethehaus konnte durch seine private Nutzung nur bedingt eine zentrale Rolle bei der Feier spielen. Die Auslage eines Gästebuches im Frankfurter Goethehaus (seit 1840) dokumentierte aber das wachsende Interesse der Besucher, aber von einer „Völkerwanderung“, wie sie Theodor Kräuter 1845 für das Weimarer Wohnhaus befürchtete, konnte keine Rede sein. Von den Besuchern des Denkmals in Frankfurt dachte „nur eine kleine Zahl daran, dem Hause, worin unser theurer Goethe vor hundert Jahren zur Welt kam, einen Besuch zu machen“.47 Allerdings korrigierte Appell später die Besuchszahlen der Goethestätten nach oben, während im Frankfurter Konversationsblatt von „Hunderten“ die Rede, konnte man in der Broschüre später von „Tausende[n]“ lesen. Fand die Goethefeier 1849 noch in einem bescheideneren Umfang statt als andere Nationalfeiern, so findet man in den Aufrufen dagegen eine rhetorische Aufrüstung der Bedeutung des Dichters. Goethe wurde als größter deutscher Dichter zu einem Symbol der nationalen Einheit. Die Berufung auf die gemeinsame Kultur erneuerte die 1849 enttäuschten Hoffnungen auf die zukünftige nationale Einheit. 3. DAS GOETHEHAUS IM BESITZ DES HOCHSTIFTS Nach 1849 geriet das Haus wieder aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit, aber noch bevor Volger sich 1862 dazu entschloss, es zu erwerben, hatten sich bereits Frankfurter Bürger um dessen Erhalt und Sicherung als Gedenkstätte Gedanken gemacht.48 Carl Jügel formulierte 1857 entsprechende Vorstellungen, das Haus der Öffentlichkeit endlich dauerhaft zugänglich zu machen.49 Er hatte es zuvor zum ersten Mal besichtigt und war dabei mit „einer Art von Pietät“ an das Schreibpult getreten, welches im sogenannten Dichterzimmer stand. Dessen Erinnerungsgegenstände hatten sich vermehrt, da nun mehrere Büsten Goethes dort standen.50 Jügel regte an, das Gebäude, das im Wesentlichen seinen Charakter bewahrt hatte, zu einer öffentlichen Gedenkstätte umzuwandeln. Shakespear´s Vaterhaus zu Stratford ist unlängst vom Staate angekauft und mit Allem ausgeschmückt worden, was an den großen Dichter erinnern kann, obgleich von dem Hause selbst kaum ähnliche Traditionen, wie die hier erwähnten, auf unsere Zeit gekommen sein mögen. Hier aber ließe sich, mit Göthe´s Lebensschildrungen in der Hand, eine Restauration vornehmen, deren poetisches Interesse jenes an seinem Wohnhause in Weimar bei weitem überwiegen würde, und darum hoffe ich, unser von Credits mobiliers überschwindeltes Zeitalter wird
47 48 49 50
Ebenda, S. 3. Vgl. Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 101–114. Carl Jügel, Das Puppenhaus, S. 243. Ebenda, S. 247.
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auch einst wieder zu sich kommen, um an diesem interessanten Hause die Schuld der Pietät abzutragen, auf die es so gerechte Ansprüche hat.51
Über den Kauf des Shakespearehauses in Stratford 1847 durch ein privates Komitee war die deutsche Öffentlichkeit unterrichtet worden. 52 Dessen Nutzung als Gedenkstätte wurde als vorbildliche Tat gelobt: Das Haus ist aus Staatsmitteln angekauft und Nationaleigenthum geworden. Der Beutel des britischen Volkes ist Gott sei Dank groß genug, um dem mürben Bau nun eine freie und anständige Altersversorgung zu sichern.53
In einer Londoner Zeitschrift, so berichtete das Neue Frankfurter Museum 1861 seinen Lesern, empfahl man diese Maßnahme den Deutschen in Bezug auf das Frankfurter Goethehaus. Deutschland und zunächst unser einspännig ausfahrendes Frankfurt erhält im Londoner Athenäum folgenden Zuruf: In Deutschland sehen wir ein Volk, dessen Ruf nach Einheit vom Baltischen Meer bis zur Adria, von der russischen zur französischen Grenze widerhallt, [...] und Goethe´s Haus bleibt Privateigenthum! Wo ist der Fortschritt des Nationalgefühls? Mag der gegenwärtige Besitzer des Hauses ein vernünftiger und gebildeter Mann sein: das bürgt nicht für die Zukunft und schützt das deutsche Volk nicht vor der Schmach, erlaubt zu haben, daß Goethe´s Haus etwas anderes wird, als ein Nationalheiligthum.54
Der Frankfurter Verein für Geschichte und Altertumskunde hatte bereits 1858 den Versuch unternommen, das Haus zu erwerben. Volger war als Mitglied des Vereins über dieses Vorhaben bestens unterrichtet.55 Die Verhandlungen scheiterten aber, weil „dem Verein die nöthigen Gelder fehlten und keine Hoffnung bestehe, daß der Staat etwas beitragen werde“.56 1861 verkauften die Besitzer das Haus für 40.000 Gulden an den Tapezierer Johann Georg Clauer. Als das Haus in Clauers Besitz überging, berichtete die Frankfurter Presse über die baulichen Veränderungen. Es sollte neue Fenster erhalten, ein Seitenbau des Hofes vergrößert und schließlich im Erdgeschoss neue Ladenräume eingerichtet werden.57 Clauer beließ aber das „Dichterzimmer“ mit seinen Gegenständen im ursprünglichen Zustand und vermietete es an eine Buchhandlung im Erdgeschoss, die weiterhin Besuchern den Zutritt gewährte. 58 Trotz der umfangreichen Eingriffe in die Bausubstanz war die Bedeutung des Hauses als Gedenkstätte soweit gefestigt, dass auch der neue Eigentümer Rücksicht darauf nahm. Aber die Frankfurter Presse unterstützte dennoch den öffentlichen Ankauf. Für Volger und andere Frankfurter Bürger gingen die Eingriffe Clauers zu weit. Noch vor der Gründung des Hochstifts hatte Volger die Veränderungen des Hauses beobachtet 51 52 53 54 55 56 57 58
Ebenda, S. 248. Verkauf von Shakespeare´s Haus in Stratford, in: Magazin für die Literatur des Auslandes, Nr. 117, 30.9.1847, S. 468. Die Geburtsstätte eines Dichters, Die Gartenlaube, Nr. 32, 1863, S. 508. Das Goethehaus, Neues Frankfurter Museum, Nr. 145, 20.9.1861, S. 1156. Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 179. Ebenda. Frankfurter Nachrichten, Nr. 98, 23.8.1861, S. 788. Ebenda.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
und Gespräche mit dessen Besitzern geführt. Nach seinen Aussagen hätten 1861 auch „einige Herren Mitglieder hoher und höchster Staatsbehörden [...] wärmeren Antheil an dem Schicksale des Hauses genommen“ und dem früheren Besitzer Dr. Blum versichert, dass „dasselbe durch Ankauf für die freie Stadt Frankfurt gesichert und fortan zu geeigneter Verwendung bestimmt werden sollte“.59 Auch nach dem Verkauf an Clauer „sollen zu jener Zeit von einigen Mitgliedern hoher und höchster Behörde neue Anregungen zum Ankaufe des Hauses von Seiten des Staates gegeben sein“.60 Volger beschäftigte sich seit 1858 also intensiv mit dem Schicksal des Hauses, aber „[m]it Schmerz verschloß ich meine Wünsche in tiefster Brust, verlor aber meine Pläne nicht aus den Augen“.61 Das Hochstift hatte nach seiner Gründung 1859 „noch so wenig Wurzel gefasst, daß, in seinem Namen sich das Goethe-Hauses anzunehmen, unmöglich war“.62 Warum vollzog Volger 1862 doch noch den Ankauf des Hauses für das Hochstift? Dessen Entwicklung hatte bis 1862 nicht die erwünschten Hoffnungen erfüllt. Schon Fritz Adler stellte fest, dass der Kauf in einer Phase gescheiterter Erwartungen erfolgte. Weder die Frankfurter Vereine, noch nationale Gesellschaften hatten sich dem Hochstift bisher angeschlossen. Die Verhandlungen mit der Kaiserlich-Leopoldinischen Akademie waren gescheitert. Das Hochstift lief Gefahr, ein Wunschgebilde zu bleiben. Insofern war der Kauf ein Risiko und gleichzeitig ein Befreiungsschlag. Ein Risiko, weil dem Verein kaum Mittel zur Verfügung standen. Jene, die man hatte, reichten nicht einmal aus, um weitere Berichte herauszugeben. Um das Hochstift vor einem unberechenbaren Wagnis zu bewahren, erwarb zunächst Volger nach Vermittlung durch Friedrich Wilhelm Quilling das Haus als Privatperson. Ein Teil der Kaufsumme von 56.000 Gulden musste sofort angezahlt werden. Erst als diese 10.000 Gulden durch Spenden aufgebracht waren, übertrug Volger das Haus im April 1863 auf das Hochstift. Da er die Bemühungen und Diskussionen aus nächster Nähe kannte63, das Haus in ein „Nationalheiligtum“ umzuwandeln, schien es ihm geeignet, die „nationale Geistesgemeinschaft“, der sich das Hochstift verpflichtete, durch dessen Besitz symbolisch aufzuwerten. Frankfurts Bedeutung als „Goethestadt“ war von Volger schon 1859 hervorgehoben worden. Er pries damals Goethe als „Deutschlands größte[n] Dichter“.64 Schon 1860 ist die erste Goethefeier im Hochstift nachweisbar.65 Volger knüpfte also nur an die früheren Pläne an, aber es war schließlich seine entschlossene Tat, die zur Umsetzung führte.
59 60 61 62 63 64 65
Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 180. Ebenda, S. 182. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 178. Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 36 ff. Ber. FDH 1860, S. 103.
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
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Schon im Dezember 1862 ließ das Hochstift einen Aufruf veröffentlichen, der um Spenden warb. Alle Spender wurden in einem Gedenkbuch aufgelistet, das in dem bisher zugänglichen Goethezimmer ausgelegt wurde.
Abb. 4: Anteilsschein für das Frankfurter Goethehaus 1863
Um den Übergang in den Besitz der Nation zu unterstreichen, wurden Anteilsscheine ab einem Betrag von 10 Gulden ausgegeben, welche „den opferwilligen
328
VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
Förderern des schönen Zweckes die Mitwirkung zur ewigen Aufrechterhaltung desselben sichern“.66 Die Scheine waren unverzinslich und nur dann kündbar, wenn das „Goethehaus durch Auflösung unserer Gesellschaft, durch Verkauf oder in anderer denkbarer Weise [...] entfremdet werden sollte“.67 4. DAS GOETHEHAUS ALS GEDENKSTÄTTE UND MUSEUM Die Entstehungsgeschichte der literarischen Museen im 19. Jahrhundert ist noch ein Desiderat der Forschung, dem sich bisher nur einzelne Untersuchungen ausgewählter Institutionen widmeten.68 Die Unterscheidung zwischen Gedenkstätte, Museum und Literaturmuseum fußt auf späteren Definitionen, wobei sich nicht nur die Begrifflichkeiten änderten, sondern deren Verwendung im 19. Jahrhundert variierte. Das zeigt sich auch am Beispiel des Hochstifts. Für eine eindeutige Begrifflichkeit werden die Überlegungen von Paul Kahl für die Darstellung herangezogen. Das Goethehaus vereinte zunächst beide Funktionen, denn es war Gedenkstätte und Ort einer wachsenden Sammlung. Daneben beherbergte es die Verwaltung des Hochstifts, dessen Bibliothek und ein öffentlich zugängliches Lesezimmer. Paul Kahl hat auf die Problematik verwiesen69, das Goethehaus schon seit 1840 als Gedenkstätte zu bezeichnen und in Beziehung zur Öffnung des Weimarer Goethehauses 1885 zu setzen.70 Der Zutritt zum „Goethezimmer“ für Besucher seit 1840 stellte vielmehr eine Form von privater Gedenkstätte dar, die man als Vorläufer einer öffentlichen Gedenkstätte betrachten muss. Weder war die Zugänglichkeit garantiert, noch waren Gemeinnützigkeit und Beständigkeit verbürgt. Schon die Zeitgenossen kritisierten zudem die private Nutzung des Hauses. Erst der Erwerb des Hauses durch das Hochstift garantierte die Kriterien, die Kahl für Museum und Gedenkstätte zugrunde legt. Das Haus stand seit 1863 unter der Verwaltung des Hochstifts, das sich als Verein verpflichtete, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um das Haus als Gedenkstätte herzurichten, bemühte man sich, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Schon im März 1863 wurden erste Pläne besprochen.71 Die Authentizität des Ortes galt als wesentliche Voraussetzung für eine angemessene Form der Gedenkstätte. Beeinträchtigt wurden diese Bemühungen durch die Tatsache, dass 1863 noch Teile des Gebäudes ver66 67 68
69 70 71
Ankauf des Göthehauses, An die Bürger und Einwohnerschaft von Frankfurt! Beilage zum Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt, Nr. 295, 13.12.1862, FDH-Hausarchiv. Ebenda. Paul Kahl, Museum – Gedenkstätte – Literaturmuseum. Versuch einer Begriffsklärung am Beispiel von Schillers Marbacher Geburtshaus 1859–2009, S. 342; vgl. Personengedenkstätten des 19. Jahrhunderts. Eine Tagung im Frankfurter Goethe-Haus/Freien Deutschen Hochstift, in: ALG Umschau, Nr. 46, S. 11–13; vgl. Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hg.), Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik. Paul Kahl, Museum – Gedenkstätte – Literaturmuseum, S. 350. Petra Maisak/Hans-Georg Dewitz, Das Goethe-Haus, S. 114. Prot. VA, 15.3.1863.
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mietet waren und auch die Hochstiftsverwaltung Räumlichkeiten beanspruchte. Trotz der willkommenen Mieteinnahmen von 2.310 Gulden kündigte man den Geschäftsinhabern, weil die Räume „nicht wieder vermiethet werden durfte[n], um den Tempel nicht ferner als Kaufhaus erscheinen zu lassen“.72 Das Erdgeschoss war der am größten „entstellt gewesene Teil“ an der Vorderseite des Hauses, da dort Schaufenster für die Geschäfte in die Fassade gebrochen worden waren, die man nun beseitigte, um die alte Fensterfront wieder herzustellen. Es gelang Volger sogar, wieder die originalen Fenstergitter aufzutreiben. Volger unternahm zunächst eine baugeschichtliche Rekonstruktion des Hauses, deren Ergebnisse er 1863 publizierte. Als wichtigstes Ergebnis seiner Untersuchungen konnte er mitteilen, dass der als „Dichterzimmer“ bezeichnete Raum nicht der ursprünglichen Benutzung entsprach. Vielmehr war der mittlere, der Straße zugewandte Raum des dritten Stocks das ursprüngliche Zimmer Goethes. Das bisherige „Dichterzimmer“ bildete seit 1840 den Mittelpunkt des Hauses als Gedenkstätte und wurde noch von Appell und Gwinner so bezeichnet. Volger gelang es, das „ächte Heiligthum“ ausfindig zu machen, dessen Auffindung zunächst den Charakter des Hauses als authentische Gedenkstätte trotz aller Fremdbelegungen betonte. Das Zimmer galt als „geistiges Zentrum“ des Hauses, weil in ihm Goethes Frühwerke entstanden waren und dort dem „Höchsten in anderer Weise geopfert“ wurde.73 Über diese Entdeckung sprach Volger im Verein für Geschichte und Altertumskunde zu dessen Goethefeier am 28. August 1863.74 Dennoch wurde Volgers Befund dort kontrovers diskutiert, bei der „die Herren Director Classen und Dr. Creizenach durch mannichfache Nachweise [...] die von Herrn Dr. Volger aufgestellte Behauptung“ unterstützten.75 Das war nicht nur der jahrzehntelangen Fehldeutung geschuldet, sondern zeigte auch, wie wichtig die Authentizität des Zimmers für das Gedenken war. Für die Besucher des Hauses wurden später zur besseren Orientierung kurze Erklärungen in den Räumen angebracht. Zunächst war der Besuch „der nicht mehr vermietheten Theile des Hauses [...] jedermann unentgeltlich gestattet“.76 Später beschränkte man den kostenlosen Besuch auf Mittwoch zwischen 14–16 Uhr. Zu den anderen Zeiten konnte man gegen ein Eintrittsgeld von 18 Kreuzern die zugänglichen Zimmer besichtigen. Die Besucher erhielten eine Erinnerungskarte mit einer Ansicht des Hauses, einen kurzen geschichtlichen Überblick und die Satzungen des Hochstifts ausgehändigt.77 Im August 1864 räumte der ehemalige Besitzer Clauer den ersten Stock, den er noch als Wohnung genutzt hatte. Nun konnte auch hier die Rekonstruktion der Räume beginnen. Bei den Arbeiten ging man äußerst behutsam vor, indem man 72 73 74 75 76 77
Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 184. Ebenda, S. 130. Frankfurter Nachrichten, Nr. 102, 2.9.1863, S. 313. Ebenda. Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 193. Ber. FDH 1864, S. 105.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption
nach alten Spuren der einst getrennten Häuser suchte, die während des Umbaus 1755 zu einem Haus vereint worden waren. Volger konnte nachweisen, dass 1755 kein neues Gebäude errichtet worden war, wie lange vermutet wurde.78 Der vormalige Besitzer hatte nicht nur im Haus durch das Einziehen von Wänden neue Räume geschaffen, er hatte auch den Hinterhof teilweise überdachen lassen. Auch dort begann man, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Clauer versuchte, den Umbau zu verhindern, da er den Rückbau der gewerblich nutzbaren Räumlichkeiten als eine Wertminderung des Hauses betrachtete und damit als eine „Verminderung der Sicherheit seines auf dem Hause lastenden Insatzes“.79 Er verlangte eine Auszahlung von 3.000 Gulden. Zwei Mitglieder der Verwaltung, Ludwig Euler, Vorstand des Vereins für Geschichte und Altertumskunde, und der Lehrer Carl Schneider halfen schließlich durch eine Bürgschaft aus. Die Wiederherstellung verfolgte das Ziel, das Haus in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen, um den Besuchern zu ermöglichen, „sich einigermaßen in die Zeit versetzen“ zu können, in der Goethe das Haus bewohnt hatte.80 Es sollte ein „bleibendes Denkmal für des Dichters Ursprung“ werden.81 Nachdem 1865 die letzten Mieter das Haus verlassen hatten, konnte Volger zur jährlichen Festsitzung am 12. November 1865 das wiederhergestellte Goethehaus präsentieren.82 Das Haus steht als Eigenthum des Deutschen Volkes da, wieder hergestellt mit bewunderswerther, der durchsetzenden Thatkraft des Dichters würdiger Sorgfalt in der Weise, wie es der Knabe, der Jüngling, der Mann schaute.83
Und der Literaturhistoriker Heinrich Düntzer äußerte in den Berichten des Hochstifts: Die finstere Absicht, daß man das Andenken eines geliebten Heimgegangenen durch kein sinnliches Zeichen ehren, die Erinnerung an ihn nicht an einen Gegenstand heften dürfte, [...] diese Ansicht widerspricht der menschlichen Natur, die nun einmal durch die Sinnlichkeit an geistiges Schauen gebunden ist. 84,
Düntzer erklärte das Haus zu einer „geweihten Stätte“ neben dem Weimarer Goethehaus und dem „Bretterhäuschen auf dem Kickelhahn“ und forderte: „Darum Ehre den Männern, die an diesem Hause die Pflicht des Deutschen Volkes so rühmlich erfüllt!“85 Ganz besonders hob Volger die Beiträge des einfachen Volkes für den Ankauf und den Erhalt des Hauses hervor. 86 Hier finden sich die ersten Ansätze, ein volkstümliches Dichterbild zu entwerfen. Später erhielten diese Deutungen für 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Ber. FDH 1864, S. 144. Ebenda. Ber. FDH 1865, Flugblatt 34, S. 6. Ebenda, Flugblatt 37 und 38, S. 9. Ber. FDH 1865, Flugblatt 1, S. 2. Ebenda. Ebenda, S. 3. Ebenda. Ber. FDH 1865, Flugblatt 35 und 36, S. 6.
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Volgers Idee, die Goethefeiern als Volksfeste zu inszenieren, noch eine zentrale Relevanz. Neben der Funktion als nationale Gedenkstätte sollte das Haus auch als Museum dienen. Volger gebrauchte selten den Begriff „Museum“, weil er diese Bezeichnung schon mit Blick auf das Germanische Nationalmuseum als undeutsch verworfen hatte.87 Er sprach lieber vom „Goetheschatz“, ohne zwischen Handschriften, Bildnissen oder Gebrauchsgegenständen zu differenzieren. „Alle Verehrer Goethe´s“ wurden vom Hochstift aufgefordert, Ausgaben Goethe´scher Werke, Druckschriften, worin Einzelnes von Goethe zuerst veröffentlicht worden ist (Almanache, Taschenbücher, Zeitschriften) und sonstige Erinnerungsgegenstände zur würdigen Aufbewahrung im Goethe-Hause zu widmen.88
Im April 1863 wurde ein verschließbarer Schrank angeschafft, in dem man die Handschriften verwahrte.89 Viele Frankfurter übergaben in der Folge Gegenstände aus dem Besitz der Familie Goethe oder andere Memorabilien.90 In den Berichten führte man diese Schenkungen auf. Auch das Hochstift begann, gezielt Gegenstände zu erwerben. Im Juni 1863 kaufte man einen Schrank, der Goethe als Kleiderschrank gedient haben soll.91 1873 übergab Walther von Goethe einen Briefbehälter, den Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe dem Dichter zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum geschenkt hatte.92 Walther und Wolfgang von Goethe, ihre Mutter Ottilie von Goethe und Schillers Tochter Emilie von Gleichen-Rußwurm waren 1863/64 zu Pflegern des Hochstifts ernannt worden, um die nationale Bedeutung der Frankfurter Goethestätte auch durch die Verbundenheit mit den Nachkommen zu demonstrieren. Solange das Hochstift das einzige Goethemuseum verwaltete, gelangten viele Handschriften und Erinnerungsstücke nach Frankfurt. Selbst aus Weimar erhielt man aus privaten Besitz Handschriften Goethes und Anna Amalias.93 Eigene Ankäufe waren aber angesichts knapper Mittel selten. Bei einigen Erwerbungen war man gezwungen, zusätzliche Darlehen aufnehmen. Seit den 1870er Jahren erlangten Goetheautographen und andere Andenken an den Dichter eine immer größere Nachfrage, was mit der wachsenden Goetherezeption nach der Reichsgründung zusammenhing. Zunehmende Kaufofferten waren gleichzeitig mit steigenden Preisen verbunden. Im August 1877 erwarb das Hochstift eine Zeichnung Goethes von Johann Heinrich Lips, die zusammen mit zwei anderen Bildnissen 300 Mark
87 88
89 90
91 92 93
Otto Volger, Das Freie Deutsche Hochstift, S. 29. Ber. FDH 1864, S. 35. Als Vorbild diente die Goethebibliothek des Verlegers Salomon Hirzel, deren Katalog im Besitz des Hochstifts war. Hirzel vermachte seine Sammlung später der Universität Leipzig. Prot. OS, 26.4.1863. Vgl. Joachim Seng, „Bilder sind Chiffren des Geistes“. Das Frankfurter Goethe-Museum und seine Erweiterung durch Ernst Beutler, S. 151–154; Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 127. Prot. OS, 12.7.1863. Prot. OS, 12.4.1873. Ber. FDH 1880, S. 234 u. 277.
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kostete.94 Im April 1878 musste die Verwaltung eine Anleihe aufnehmen, um den Haushalt zu sichern, nachdem man schon im Vorjahr 1.800 Mark aufgenommen hatte. 95 Bei anderen Angeboten bereiteten schon die Kosten für die Echtheitsprüfung Schwierigkeiten.96 Gleichwohl gelang es, die Sammlungen stetig zu vermehren, sodass man 1878 den Versicherungswert des Hauses erhöhen musste.97 Museum, Gedenkstätte und Hochstiftsverwaltung mussten sich den beschränkten Platz des Goethehauses teilen. Die wachsenden Sammlungen und Besucherzahlen führten schon 1878 zu ersten Überlegungen, die Verwaltung aus dem Haus zu verlegen, da die im Goethehause sich sammelnden, auf Goethe und besonders seine Entwicklungszeit im Vaterhause bezüglichen Erinnerungsgegenstände und Weihegeschenke allmählig eine entsprechende Einrichtung der einzelnen Zimmer verlangen werden.98
Schon frühzeitig hatte man damit begonnen, eine Goethebibliothek anzulegen, die alle Schriften von und über Goethe sammeln sollte, um auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm zu ermöglichen. Die eigenen Mittel waren allerdings auch hier begrenzt und man forderte die deutschen Verlagsbuchhandlungen auf, entsprechende Werke kostenlos abzugeben. Wie das Hochstift bereits beabsichtigt hatte, alle wissenschaftlichen Werke und die Veröffentlichungen von wissenschaftlichen und künstlerischen Vereinen in Deutschland zu sammeln, so sollte gleichzeitig eine nationale Goethebibliothek in Frankfurt entstehen. Einen bescheidenen Grundstock für dieses Vorhaben lieferte wiederum der bewährte Stifter Adolf Müller, der 1869 einen Betrag von 1.000 Mark zur Verfügung stellte. Aus dessen Zinsen erfolgten Ankäufe. 1876 zählte die Goethebibliothek schon 1.500 Nummern.99 Die Verwaltung der Sammlungen und die Anschaffungen der Goethebibliothek lagen in der persönlichen Verantwortung Volgers. Zu den Anfängen einer wissenschaftlichen Goethephilologie konnte das Hochstift nur bescheidene Beiträge leisten, aber es war die erste Institution, die vor Gründung der Goethegesellschaft und der Eröffnung des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar in umfangreichem Maße Handschriften, Werke und Sekundärliteratur über Goethe und seine Zeit sammelte. Der bedeutendste Beitrag des Hochstifts war die Veröffentlichung des Manuskripts des Trauerspiels „Dido“ von Charlotte von Stein. Emilie von GleichenRußwurm schenkte das handschriftliche Manuskript im Januar 1865 dem Hochstift zur Aufbewahrung und Veröffentlichung.100 Die Herausgabe übernahm Heinrich Düntzer (1813–1901), der bereits Vorträge über Goethe gehalten hatte und zur Meisterschaft des Hochstifts gehörte. Mandelkow zählte Düntzer zu einem „Goethe-Ausleger kat´exchon“, der als Goethephilologe in diesem Zeitraum zum 94 95 96 97 98 99 100
Prot. VS, 20.8.1877. Prot. VS, 4.6.1876. Prot. VS, 18.6.1876. Prot. VS, 2.6.1878. Ber. FDH 1880, S. 157. Prot. VS, 31.7.1876. Prot. OS, 24.1.1865.
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„vielzitierten und vielverlästerten Vertreter eines dichtungsfremden Kommentargewebes geworden ist“.101 1867 erschien im Auftrage und im Verlag des Freien Deutschen Hochstifts das von Düntzer kommentierte Werk. Emilie von GleichenRußwurm übergab dem Hochstift auch eine von Goethe bearbeitete Abschrift aus seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Goethe Schiller im Juni 1796 übersandt hatte.102 Im April 1881 sprach Volger den Wunsch aus, das Hochstift möge nun endlich jährliche Sammlungen von Forschungen über Goethes Leben und seine Werke veröffentlichen.103 Vorbild war das seit 1880 erscheinende Goethe-Jahrbuch, das Ludwig Geiger104 herausgab: Dieses Jahrbuch hat die Aufgabe, ein Repertorium der Goethe-Literatur zu werden, welches das bisher sehr zerstreute und nicht leicht zugängliche Material dem Gebildeten in einer leicht zugänglichen Sammlung vereinigt darbieten und welches alles diejenigen, welche der Erforschungen Erklärung und Verbreitung von Goethe´s Werken ihre Thätigkeit widmen, zu einer gemeinsamen Arbeit verbinden soll,
so Geiger im Vorwort des ersten Bandes.105 Schon im zweiten Band hatte Geiger aber das Hochstift einer vernichtenden Kritik unterzogen, der im Vorwurf des unberufenen Dilettantismus gipfelte. Die Goetheforscher und – Verehrer, welche dem Hochstift für die Erwerbung des Goethehauses dankbar sind, können unmöglich das Gebaren jenes Vereins billigen. Und eben darum hielt ich es für meine Pflicht, grade im Goethe-Jahrbuch meine Meinung über den Verein zu sagen, jeden Zusammenhang mit demselben abzulehnen, um nicht durch Stillschweigen die irrige Meinung zu erwecken, als billigte ich sein Streben und sein Verhalten.106
Im Kampf um die publizistische Vorherrschaft im Feld der Goetheforschung konnte sich schließlich Geigers Organ durchsetzen, das zum offiziellen Jahrbuch der Goethegesellschaft avancierte. Der Besitz des Goethehauses führte also nicht zu einer Beschränkung der Hochstiftsaktivitäten, sondern er entfachte neue Impulse durch neue Möglichkeiten. Die Flugblätter, die zwischen 1864–66 erschienen, waren die intensivste Kampagne, um die Frankfurter Vereine und Stiftungen zur Mitarbeit zu werben. Auch auf nationaler Ebene versuchte Volger, noch einmal vergeblich Verbindungen zur Kaiserlich-Leopoldinischen-Gesellschaft und zur Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte anzuknüpfen. Der erste Stock des Goethehauses sollte
101 102 103 104
Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 157. Es handelte sich dabei um das 7. Buch des Romans, Ber. FDH 1864, S. 113. Prot. VS, 10.4.1881. Ludwig Geigers (1848–1919) Vater, Abraham Geiger (1810–1874), gehörte zum liberalen Judentum, war von 1863 bis 1870 Rabbiner in Frankfurt. Ludwig G. studierte Philosophie und Philologie, Promotion 1868, 1880 a. o. Professor für neuere Literaturgeschichte in Berlin, vgl. Ludwig Geiger, Intermezzo in Frankfurt, in: Frankfurter jüdische Erinnerungen. Ein Lesebuch zur Sozialgeschichte 1864–195, S. 51. 105 GJb 1880, S. IV. 106 GJb 1881, S. 472 ff.
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die Bibliotheken beider Gesellschaften aufnehmen. Schon 1863 hatte er über das Goethehaus als Stiftshaus geschrieben: Die übrigen Räume des Hauses sollen theils zur Aufstellung der Bücherei des Hochstiftes, allfällig auch der Bücherschätze anderer Gesellschaften, zur Aufbewahrung von wissenschaftlichen Sammlungen und von Kunstwerken, sowie zu Hörsälen für wissenschaftliche Vorträge eingerichtet werden.107
Daneben sollte das Haus zu einer „Galerie des deutschen Geistes“ werden, denn es wurde beschlossen, „durch die Aufstellung der Brustbilder der um Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung verdienstvollsten Deutschen das Goethehaus zu einer Walhalla der größten Geister unseres Volkes zu weihen“.108 Büsten von Goethe, Schiller, Shakespeare, Rückert, Uhland, Voss und Gauß waren teilweise in einem Flur aufgestellt, der in die oberen Etagen führte.109 5. DIE GOETHEREZEPTION 1859–1881 Möge heute, wo das Hochstift durch die ihm von hohem Senate dieser freien Stadt verliehenen Rechte gleichsam eine zweite Geburt feiert, diese geweihte Stätte eine Vorbedeutung seiner Zukunft gewähren – möge das Hochstift, von kleinen, bescheidenen Anfängen, aber mit wahrer innerer Lebenskraft begonnen, seine segensreiche Wirksamkeit ausdehnen über das ganze Deutsche Volk, und durch dieses auf die Veredelung der gesammten Menschheit,
so Volger in der Festsitzung am 8. November 1863.110 Zu dieser Wirksamkeit sollten die Goetheverehrung und die Goetherezeption einen wesentlichen Beitrag leisten. Anfang der 1860er Jahre begann sich in der allgemeinen Goetherezeption im Zeichen des Historismus eine Art von Goethephilologie herauszubilden. Ihr wesentliches Merkmal war die Historisierung des Autors durch philologische und quellenkritische Forschungen, die dessen Entwicklung beschrieben.111 Reine Philologie konnte aber den Ansprüchen Volgers nicht gerecht werden. Für Volger war die Goetherezeption ein Mittel, um aktiv in die Gegenwart einzugreifen, um Kritik an den Zeitumständen zu üben und um Alternativen aufzuzeigen. Dafür wurde Goethe programmatisch aufgeladen. Volger wollte keine reine Rekonstruktion der historischen Gestalt, er schuf sich ein Idealbild des Dichters, das der Gegenwart als Vorbild dienen sollte. Die Goethephilologie war notwendig, denn sie eröffnete den Blick auf die Gestalt des Dichters, um ihn der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Rekonstruktion des Hauses, die Nutzung als Museum waren Beiträge, um dessen Entwicklungsgeschichte anschaulich zu machen. Keineswegs blieb der wachsende Goethekult ohne Kritik. Dieser stellte sich Heinrich Düntzer in seiner Festrede 1865, die er anlässlich der Einweihung des wiederhergestellten Goethehauses hielt. Sein Vortrag „Goethe´s angebliche Ver107 108 109 110 111
Otto Volger, Goethe´s Vaterhaus, S. 194. Ebenda. Joachim Seng, „Bilder sind Chiffren des Geistes“, S. 153. Ber. FDH 1864, Flugblatt 2, Sp. 3. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 156.
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götterung“ richtete sich an die Kritiker der Goetheverehrung. Dabei nahm Düntzer Goethe gegen die politischen Vorwürfe, die das „Junge Deutschland“ im Vormärz geäußert hatte, ebenso in Schutz wie gegen die Einwände von konfessioneller Seite, die bei Goethe ein christliches Bekenntnis vermissten und daher seine „Vergötterung“ ablehnten.112 Düntzer verteidigte auch die Goethephilologie, die dazu beitragen werde, das „ganze Menschenbild des Dichters in ureigenem Glanz erstrahlen zu lassen“.113 Obwohl er Goethes Persönlichkeit auch Schwächen und Nachlässigkeiten attestierte, bezeichnete er ihn als einen „vollendeten Menschen“, ein „Olympisches Götterbild“ und einen „menschlichen Gott“. Düntzer sah sich aber nicht nur zum Erklärer des Dichters berufen, sondern er verband mit der Goetherezeption die Hoffnung, dass sich „die Deutschen die Hand reichen zu einem einigen Deutschland, groß in Wort und That, stark durch innige Verbrüderung“ und skizzierte das Wunschbild eines einstigen Kaiserreichs: Wenn diese ersehnte Stunde einst erschallt, wenn der von allen Stämmen unseres großen Vaterlandes auf den Schild gehobene neue Deutsche Kaiser in die hohen Räume des Römers einzieht, dann wird auch das jubelnde Deutsche Volk in seiner Gesammtheit den Namen vor Allen feiern, der Deutschlands größten Ruhm bezeichnet, den Namen des großen Sohnes dieser alten Kaiserstadt, in welchem Deutsches Gemüth, Deutsches Sinnen, Fühlen und Ringen in innigster Durchdringung sich am Vollendetsten ausgeprägt haben, den Namen, auf den dieses Haus zu den drei Leiern geweiht ist, den erlauchten Namen Goethe.114
Diese Äußerungen verdeutlichen, dass selbst einer der bekanntesten Vertreter der Goethephilologie keineswegs ein Bild des Dichters entwarf, das ohne Bezüge zur Gegenwart war. Zumindest blieb Frankfurt in dieser Vision Düntzers das Zentrum des zukünftigen Reichs und die Figur des Kaisers wies keine dynastischen Verbindungen auf. In Düntzers Beitrag und in anderen verschiedenen Schriften und Reden fand eine Sakralisierung des Dichters statt. Schon in den Äußerungen über das Goethehaus als Gedenkstätte finden sich Begriffe wie „Heiligtum“, „Pietät“ und „das Höchste“. Düntzer bezeichnete Goethe ausdrücklich als einen „Gott“ und „Olympier“. „Die religiöse Überhöhung Goethes konnte auf eine längere Tradition zurückblicken“, die schon kurz nach seinem Tod begann.115 So sei auf Goethes Vergleich mit Jupiter verwiesen, den Heinrich Heine schon 1836 in seinem Werk „Die romantische Schule“ verwendet hatte. Auch die Schüler Hegels bemühten sich, Goethes Werke mit dem Christentum in Einklang zu bringen, um auch kritischen Einwänden aus den Kreisen der Theologie zu begegnen.116 Jan Rohls konnte den Topos von Goethe als einem „vollendeten Menschen“ schon bei den Goethefeiern von 1849 nachweisen.117 Düntzer brauchte diese For112 113 114 115
Heinrich Düntzer, Goethe’s angebliche Vergötterung, Ber. FDH 1864, Flugblatt 1, S. 2. Ebenda. Ebenda, S. 5. Jan Rohls, „Goethedienst ist Gottesdienst“. Theologische Anmerkungen zur Goethe-Verehrung, S. 33. 116 Ebenda, S. 35. 117 Ebenda, S. 38.
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mulierungen nur aufzugreifen. Ein Vorbild, auf das er sich dabei berief, war David Friedrich Strauß. Für Strauß war die Kunst zu einem Ersatz für die Religion geworden und er entwarf eine Kunstreligion, in der Goethe die „zentrale Rolle“ spielte.118 Allerdings stand Strauß für einen Protestantismus, der die Reicheinigung im Zeichen Goethes begrüßte und der Goethe und Schiller als „ideelle Fundamente“ der Bismarckschen Reichsgründung begriff.119 Diesen Schritt ging Volger nicht. Er tolerierte Düntzers Kaiservision, die sich noch als vages Symbol einer zukünftigen Einheit darstellte und an die alte Krönungsstadt Frankfurt gebunden war. Aber das Jahr 1866 stellte für Volger eine Zäsur in seinem Goetheverständnis dar. Er begriff Goethe und dessen Werke – da stimmte er mit Strauß überein – als die ideelle Grundlage der Nation. Dadurch sei eine gemeinsame Kultur erwachsen, deren Verbreitung Ziel des Hochstifts war. Das Ideal der großdeutschen Kulturnation war aber durch die Ereignisse des Jahres 1866 in Bedrängnis gekommen. Für Volger stellte daher auch die Goetherezeption ein Mittel dar, um auf die Ereignisse zu reagieren. Als 1867 Heinrich Düntzer im Auftrag des Hochstifts das Manuskript „Dido“ von Charlotte von Stein herausgab, wurde eine Festrede Volgers vorangestellt, die dieser am 28. August 1867 im Hochstift gehalten hatte. Das Thema „Goethe unter den Einflüssen des Hoflebens“ stand durchaus in Beziehung zu Charlotte von Steins Tragödie „Dido“.120 In seiner Rede stilisierte Volger Goethe zu einem bürgerlichen Künstler und entwarf ein Ideal des Dichters, das die Kritik des „Jungen Deutschlands“ in das positive Gegenteil verkehrte. Der „Olympier Goethe“ schien erst in der Goetherezeption des Kaiserreichs an Bedeutung gewonnen zu haben, er wird im neuen Reich zum Markenzeichen des zeitenthobenen, harmonischen und über jede Kritik erhabenen Dichterheros [...] zur Inkarnation des kulturellen Über-Ichs der zur politischen Großmacht sich entwickelnden [...] Nation.121
Solch eine Verwendung fand Goethe auch bei David Friedrich Strauß. Volger benutzte dagegen den Mythos des „Olympier Goethe“ als Mittel, um bereits 1867 die Entstehung des kleindeutschen Reichs zu desavouieren. Volger führte diesen Angriff aus „dem Herzen der deutschen Kultur“, denn er sprach davon, dass es keinen geweihteren Raum für eine Stiftung in Deutschland gebe als das Frankfurter Goethehaus, in dem die Mitglieder des Hochstifts ihren „Tempeldienst verrichten“.122 Der Tempel wird aber zugleich als Ort der Verborgenheit bezeichnet, weil hier etwas bewahrt werde, das nicht nur von den Ereignissen der Zeit bedroht wurde, sondern nach der preußischen Annexion Frankfurts in akuter Gefahr sei. Damit spielte er auf die Ereignisse des Jahres 1866 an, deren 118 Ebenda, S. 39. 119 Ebenda, S. 41. 120 Ortrud Gutjahr, Charlotte von Steins Dido – eine Anti-Iphigenie? S. 241; Markus Wallenborn, Frauen. Dichten. Goethe, S. 214 ff. 121 Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 201. 122 Otto Volger, Goethe unter den Einflüssen des Hoflebens. Festrede am 118. Jahrestage der Geburt Goethe’s, in: Heinrich Düntzer (Hg.), Dido. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Charlotte Albertine Ernestine von Stein-Kochberg, S. V–XXIII, hier S. VIII.
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Ergebnis er zusammenfasste: „Vor allem gibt es heute staatlich kein Deutschland mehr“.123 Das wahre Deutschland musste sich in den „Tempel“ des Goethehauses zurückziehen und selbst dessen schmückendes Symbol, die schwarz-rot-goldene Festfahne, wurde 1867 auf Befehl der Königlich Preußischen Polizeibehörde eingezogen [...] trotzdem dass die Mitglieder des F.D.H. [...] der gesammten Deutschheit angehören und unser Haus satzungsgemäß von uns als Deutsches Nationaleigenthum besessen wird.124
Jetzt erscheint die Vision eines neuen Kaiserreichs als Bedrohung, weil es offensichtlich nur auf ein kleindeutsches Reich hinauslief. Ein preußisches Kaisertum „würde keine Freiheit seiner Glieder dulden“.125 Volger erkennt nur noch ein geistiges Kaisertum an, denn „Goethe war Deutschlands geistiger Kaiser“ und das weltliche Kaiserthum ist der Weltgeschichte und der Zeit verfallen, wirkungslos für die Zukunft, [aber] Goethe´s Wirksamkeit wird fortdauern und mit der Zukunft wachsen.126
In diesem Zusammenhang diskutierte er nun Goethes Wirken in Weimar und dessen Erfahrungen am dortigen Hof, um seine These vom Vorrang des „Reichs des Geistes“ zu beweisen. Dabei widersprach er der Auffassung, dass der Adel einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Entwicklung Deutschlands geleistet habe: „Was ist heute noch Karl August? – und was ist Goethe!“, so fragt er polemisch und der geläufigen Ansicht, die „dem Herzoge Karl August und dem Weimarer Hofe große Verdienste um Goethe und Schiller zuschreibt“, entgegnet er, ohne Furcht vor dem Bannfluche, der solcher Ketzerei drohen könnte, wage ich es auszusprechen, daß nur die Schmeichelei diese Ansicht erzeugt und genährt hat.127
Goethes Werke der Weimarer Zeit, so Volger, verdanken ihre Entstehung nicht den Einflüssen eines angeblichen „Musenhofes“, sondern seien geradewegs im Widerspruch gegen die Einflüsse des Ortes, gegen Intrigen und Junkerlaunen der höfischen Gesellschaft verfasst worden. Nur Goethes bürgerliche Tugenden haben die Persönlichkeit des Herzogs ein wenig bessern können, allerdings um den Preis, dass Goethe zwischen 1775 und 1786 keine bedeutenden Werke zustande bringen konnte: Wie vieles Große hätte unser Volk von ihm hoffen dürfen, wäre er nie an den Hof gegangen, wäre er ein freier Bürger einer freien Vaterstadt geblieben.128
Im Ganzen galt also Volger Goethes Weimarer Existenz als eine verlorene Zeit, dagegen sei Frankfurt „eine bessere Stätte für sein dichterisches Gedeihen gewe123 124 125 126
Ebenda, S. VI ff. Ebenda, S. VIII. Ebenda, S. IX. Ebenda, S. VIII. In diesem Zusammenhang kritisiert Volger auch die Initiativen, den durch einen Brand zerstörten Kaiserdom in Frankfurt wiederaufzubauen, während die Bürgerschaft für das Goethehaus – ein viel wichtigeres und bedeutsameres Denkmal, so Volger – weniger Engagement gezeigt habe. 127 Ebenda, S. X. 128 Ebenda.
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sen, als jener Fürstenhof es war“.129 Das hatten schon die Vertreter des „Jungen Deutschland“, wie Ludwig Börne und Wolfgang Menzel, so beschrieben. Sie zogen aber den Schluss, dass Goethe in Weimar zu einem Hofmann und Fürstenknecht degeneriert sei.130 Dem widersprach Volger energisch, denn in allem, was Goethe in Weimar tat, habe er sich sein Bürgertum bewahrt. Er wählte eine „bürgerliche Ehe“, eine von der höfischen Etikette nicht goutierte Verbindung und entzog sich den Launen des Herzogs so oft es ihm möglich war.131 Zwar kann man, so Volger, Goethes Werke nicht auf Herkunft und Stand reduzieren, weil geistige Größe nicht begrenzbar sei, aber die „glühenden Leidenschaften, welche Goethe’s Jugendjahre bewegten, waren in einfachen, bürgerlichen Verhältnissen entsprungen“ und es sind jene Jugendwerke, denen Volger wegen ihrer Volkstümlichkeit einen besonderen Wert zuerkannte.132 Wie ordnete Volger nun Charlotte von Steins Werk „Dido“ ein? Die allgemeine Rezeption des Stückes, darauf wurde schon hinreichend hingewiesen, stand unter dem Verdikt einer persönlichen Abrechnung, die es zudem als künstlerisch minderwertig klassifizierte.133 Düntzer hatte dafür den Grund bereitet, denn sein „Editionsverfahren [...] behandelt den Text als privates Dokument und supponiert [...], daß ihm allein ob seines Bezuges zu Goethes Biographie literarhistorisches Interesse zukommt.“134 Volger schloss sich dieser Anschauung an. Dido sei das harmlose Produkt einer gekränkten Seele. Die am Ende des Stückes verfügte Verbannung des Hofdichters Ogon, der die Züge Goethes trägt, interpretiert Volger als eine Selbstverbannung des Dichters, da die „Höhe, auf welcher er zu wandeln berufen war, nicht jene Höhe sein konnte, auf der die Könige wandeln“.135 Die Höhe, welche Volger meinte, war die des „Olympiers“, des zum Gott erhobenen Dichters: „Neben dem herzoglichen Hofe thronte er zu Weimar wie ein Gott [...] [j]a, der Hof verschwand neben seiner Hoheit“.136 Aus dieser Interpretation zog Volger nun den Schluss, dass es Aufgabe des Hochstifts sei, das Bild des volkstümlichen und bürgerlichen Dichters zu pflegen und gleichzeitig entgegen den politischen Umständen der Gegenwart das ungeteilte und unsterbliche Volkstum zu bewahren. So wahr es eine Deutschheit gibt, welcher Goethe angehört, so wahr ein Deutsches Volk, dem dieses Haus gehört. In diesem Haus ist noch Deutschland. Ist auch das Band zerschnitten – der Geist lebt in uns Allen! Er lebe ewig fort!137
129 Ebenda, S. XIII. 130 Wolfgang Leppmann, Goethe und die Deustchen, S. 66 f.; Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 101 ff. 131 Immerhin rechnet Volger es Carl August als Verdienst an, dass dieser die Ehe Goethes mit Christiane Vulpius toleriert habe. 132 Ebenda, S. XIV. 133 Markus Wallenborn, Frauen. Dichten. Goethe, S. 215. 134 Ortrud Gutjahr, Charlotte von Steins Dido, S. 223. 135 Otto Volger, Goethe unter den Einflüssen des Hoflebens, S. XXI. 136 Ebenda, S. XXII. 137 Ebenda.
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Mit der Herausgabe der „Dido“ erregte das Hochstift Aufmerksamkeit. Gleichwohl galt diese nicht nur dem Stück allein, sondern auch Volgers Interpretation. Die Herausgabe der „Dido“ konnten wohlmeinende Rezensenten gegenüber dem Publikum dadurch rechtfertigen, da Heinrich Düntzer durch seine Kommentierung „Goethe gegen alle Anschuldigungen seiner Freundin“ verteidigte. Gegenüber Volgers Vorrede monierte allerdings der Rezensent Rudolf Gottschall, es „wird Goethe mehr gefeiert als Bismarck“. Nach Ansicht Gottschalls sei Goethe am Weimarer Fürstenhof „recht stattlich gediehen“.138 Ihm erschien Bismarck 1868 als einzige zeitgenössische Figur, die mit Goethe vergleichbar war. Entschiedener kritisierte das Berliner „Magazin für die Literatur des Auslandes“ die Veröffentlichung. Die Veröffentlichung der „Dido“, ein Werk der „Rache und Unwahrheit, der widerwärtigsten, unweiblichen Gefühle gegen den Dichter“ war dem Blatt ein Skandal.139 Und diese so genannte Tragödie, voll der trivialsten Bemerkungen und gemeiner Invektiven gegen den Dichter [...] hat das Freie Deutsche Hochstift [...] als erste freie Huldigung Göthe´s aus seiner ,nicht mehr freien deutschen Vaterstadt‘ drucken lassen.140
Volgers Einschätzung der gegenwärtigen politischen Lage wurde zurückgewiesen. Diese sei durch den „Schmerz verblendet“ und sehe nicht was der ganzen Welt klar ist, dass Deutschland durch die Aufhebung einiger souverainer Kleinstaaten im Jahr 1866 und durch die freie Einigung Nord= und Süddeutschlands [...] gewonnen und dadurch ein nationales Band hergestellt worden ist, welches ebenso veredelnd und sittigend auf das deutsche Volk wirken wird, wie nur jemals das Band der gemeinsamen Sprache und Literatur.141
Volgers Kritik am Weimarer Hof begegnete der Rezensent Joseph Lehmann mit einer Replik über Frankfurt als einer „zopfigen, philiströsen Reichsstadt“, die dem „glühenden, hochfliegenden Geiste“ Goethes nicht entsprach und den Dichter sogar aus ihrer Bürgerliste „feierlichst“ gestrichen habe.142 Lehmann bezeichnete Goethe als einen Vordenker für die nationale Einheit, die sich nur unter Preußens Führung vollenden könne und forderte Volger und das Hochstift dazu auf: Sollte nicht auch das Freie Deutsche Hochstift Vertrauen zu einer Zeit fassen können, die Deutschlands großen Söhnen auch ein großes Vaterland, ein einig denkendes, dem Auslande einig gegenüberstehendes Volk zuführt.143
Volgers Goethebild, das den „Olympier“ für eine großdeutsche Nation beanspruchte, stand hier einem Goethebild gegenüber, das bald Berlin und Weimar zu Grundfesten des neuen Deutschen Kaiserreichs stilisierte. Nicht nur in der Litera-
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Blätter für literarische Unterhaltung, (1868), Bd. 1, S. 311. Magazin für die Literatur des Auslandes, (37. Jg.), Nr. 1, 4.1.1868, S. 1. Ebenda. Ebenda, S. 2. In Wirklichkeit hatte Goethe um die Entlassung aus der Bürgerschaft nachgesucht, die man ihm im Dezember 1817 gegen eine Gebühr von 30 Kreuzern gewährte. 143 Ebenda, S. 2.
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turwissenschaft, auch in der Geschichtswissenschaft finden sich diese Verknüpfungen.144 Eine in dieser Richtung einflussreiche Veröffentlichung waren die Goethevorlesungen, die Hermann Grimm (1828–1901), Sohn von Wilhelm Grimm, 1874/75 an der Berliner Universität hielt und die später als Druck erschienen und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein immer neue Auflagen erlebten. Goethe, dessen Natur jede Agitation fremd war, der, in seinen letzten Jahren zumal, wo nach seiner Meinung am meisten gefragt wurde, den Anschein einer behaglich reaktionären Denkungsart trug, nimmt als Politiker und Historiker jetzt eine andere Position ein,
verkündete Grimm in der Einleitung seiner Vorlesungen.145 Grimm wollte mit seinen Vorlesungen „Goethe in den Dienst der neuen, durch die Reichsgründung geschaffenen Zeit“ stellen.146 Auch Grimm hatte zu jenen gehört, die noch 1859 eine „Gemeinschaft des Geistes“ für das Merkmal der deutschen Nation erklärten und die Geschichte der Literatur als eigentliche Geschichte des Volkes betrachteten.147 1874 änderte er seine Auffassung. Nun galten die Dichter nur noch als Vorbereiter der 1871 vollendeten nationalen Einheit. Weimar wurde zwar durch Goethe die „literarische Hauptstadt Deutschlands“148, aber erst in Berlin wurde die Einheit vollendet. Während Volger 1867 Frankfurt gegen Berlin und Weimar positioniert hatte, sah Grimm Geist und Politik durch die „ideologische Achse Berlin-Weimar“ versöhnt.149 Bismarck und Goethe repräsentierten dieses Bündnis. Um diese Deutung der Geschichte zu legitimieren, war es notwendig, die Rezeptionstendenzen Goethes umzudeuten. Besonders die Kritik der Liberalen und Demokraten im Vormärz, die Goethe mangelndes nationales Bewusstsein vorgehalten hatten, musste korrigiert werden.150 Die alte Gegenposition bürgerlich-liberaler Geistigkeit zum feudal dominierten Machtstaat und dessen ideologischen Vertretern, deren Überwindung sich auch schon im ,konsensuellen Kunstnationalismus‘ der Schillerfeiern des Jahres 1859 angedeutet hatte, war nun endgültig zur Partnerschaft von Geist und Macht, von ,Weimar‘ und ,Berlin‘ folgenreich verändert worden,
so Justus H. Ulbricht.151 Allerdings täuschen die späteren Deutungsmuster eine Kontinuität vor, die auch Ulbricht bis 1859 zurückdatierte und damit entschiedene
144 Adalbert Wichert, Bismarck und Goethe. Klassikrezeption der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und Drittem Reich, S. 322. 145 Hermann Grimm, Goethe, Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin, Bd. 1, S. 9. 146 Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 206. 147 Ebenda, S. 207. 148 Hermann Grimm, Goethe, S. 13. 149 Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 208. 150 Adalbert Wichert, Bismarck und Goethe, S. 324 151 Justus H. Ulbricht, „Goethe und Bismarck“. Varianten eines deutschen Deutungsmuster, S. 102
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Gegenpositionen, wie sie das Hochstift vertreten hatte, übersieht oder marginalisierte. Besonders wirkungsmächtig waren die Arbeiten Heinrich von Treitschkes. Er begriff, wie Hermann Grimm, Goethe als ideellen Vorkämpfer des neuen Reichs. Goethe „erscheint als Gegner liberaler Ideale und als preußisch gesinnter Konservativer“ und er begriff „Bildungsbürgertum und Preußentum“ als gleichwertige Grundlagen des Kaiserreichs.152 Aber auch Treitschke hatte in den 1860er Jahren seine liberalen Positionen zugunsten einer propreußischen Haltung aufgegeben. An den Positionen von Volger, Grimm und Treitschke wird deutlich, in welch unterschiedlichen Kontexten der Topos des „Olympiers“ verwendet wurde. Der Rezensent des Berliner Journals Bezug hielt Volger zudem entgegen, das neue Reich werde ein ganz anderes als dasjenige war, welches den großen Sohn Frankfurts im engen Bezirk seiner Vaterstadt nicht zurückzuhalten vermochte und ihn, wie der Jahresbericht von 1867 sagt, auch jetzt noch nicht durch würdige Unterstützung des ,Freien Deutschen Hochstiftes‘ zu ehren weiß. 153
Volger selbst hatte über die Goethepflege in Frankfurt harsche Kritik geübt: Leider ist gerade hier in Frankfurt die Theilnahme für Goethe und das Verständniß der Bedeutung seines Andenkens für den Werth dieser Stadt sehr wenig verbreitet. Es geht alljährlich Unersetzbares verloren. Kaum finde ich Unterstützung in meinen Bemühungen für die Erhaltung der durch die Erinnerung geheiligten Örtlichkeiten.154
Diese Unzulänglichkeiten, die es nach Meinung Volgers verhinderten, in Frankfurt eine adäquate Goethepflege zu etablieren, wurden durch die Reichsgründung noch verstärkt, weil diese das nationale Konzept Volgers infrage stellte. Deswegen kam es Ende der 1870er Jahre zu einem Umschwung in der Goetherezeption. Volger suchte nach neuen Verbündeten, um Goethe weiterhin in den Dienst einer großdeutschen Kulturnation stellen zu können. Sein Blick richtete sich nun nach Weimar, wo seit fast fünf Jahrzehnten der Großteil von Goethes Nachlass verschlossen lag. In der Goethefeier von 1879 deutet sich der Wandel in der Rezeption bereits an. Es kam zu einer grundlegenden Neubewertung des Verhältnisses des Dichters zum Weimarer Hof und zur Dynastie Sachsen-Weimar. Im Mittelpunkt der Feiern stand das hundertjährige Jubiläum des Aufenthalts des Herzogs Carl August in Frankfurt. Nun würdigte Volger Goethes Entscheidung, 1775 nach Weimar zu gehen, wo der Dichter die „höchste Stellung in einem selbstständigen Deutschen Staate“ einnahm.155 Das Verhältnis Goethes zum Herzog sei, so erklärte Volger, ein idealer Bund zwischen Geist und Macht gewesen, dem „eine volle Würdigung bislang noch nicht zu Theil geworden“ sei.156 Dem Hochstift als Sachwalter Goe152 Adalbert Wichert, Bismarck und Goethe, S. 325. 153 Magazin für die Literatur des Auslandes, (37), Nr. 1, 4.1.1868, S. 2. 154 Otto Volger an Ferdinand Eckbrecht Graf von Dürckheim, 22.12.1878, FDH Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19670. 155 Ber. FDH 1880, S. 457. 156 Ebenda.
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thes und des Frankfurter Goethehauses obliege es, die „edelste Blüthezeit Weimar´s“ zu würdigen. Die Stellung, die früher Schiller einnahm, wurde nun mit dem Weimarer Herzog besetzt. Goethe und Carl August hätten einen „unvergleichlichen Freundschaftsbund“ geschlossen, „dessen segensreiche Wirksamkeit sich über unser ganzes Volk, ja über die ganze Menschheit und durch alle kommenden Zeiten erstrecken sollte“157 und „im Dienste der Menschheit“ wirkte.158 Das Weimarer Fürstenhaus und die Herzoginmutter Anna Amalia galten nun als Förderer der deutschen Kultur, da sie erkannt hatten, dass dem Deutschen Volke eine Wiedergeburt Noth thue, welche ihren Anfang zu nehmen habe in der Wiedergewinnung der Selbstachtung, in der Erhöhung der eigenen Bildung.159
Goethes politisches Wirken als Mitglied der Weimarer Regierung habe dazu beigetragen, aus dem Herzogtum einen aufgeklärten Musterstaat zu machen. 160 Mit dieser Darstellung verabschiedete sich Volger von der früheren Deutungsfigur des bürgerlichen Dichters, dessen Weg nach Weimar er als einen Irrtum bezeichnet hatte. Weder von der Enge des Hofes, den Junkerlaunen oder anderen Bedrängnissen, denen Goethe in Weimar ausgesetzt gewesen war, ist nun die Rede. Goethe bleibt weiterhin ein Repräsentant deutscher Kultur, der seine bürgerlichen Ursprünge nicht verleugnete, der aber in Weimar die Möglichkeit erhalten habe, den Geist in eine politische Wirksamkeit zu überführen. Insofern bildete der Besuch des Herzogs 1779 eine Etappe in Goethes Bemühungen, Carl August zu bilden, für den der Aufenthalt „im Vaterhaus und Vaterstadt [...] eine unschätzbare Quelle reicher Erfahrungen und Einsichten“ bot und das „sollte der gute Eingang in’s neue Leben, der Anfang der geplanten Wanderschaft sein“.161 Der bürgerliche Dichter und der Herzog stellten in Volgers Deutung eine Symbiose dar, bei der das bürgerliche Erbe und die Frankfurter Traditionen Goethes das Herrschaftsethos des Herzogs prägten. Volger konstruierte eine Achse Frankfurt-Weimar, die sich von Treitschkes und Grimms Achse Berlin-Weimar unterschied. Frankfurt stand für bürgerliche Ideale und Freiheiten, Weimar für eine aufgeklärte, den Einflüssen von Kultur und Bildung sich öffnende Administration und als „Kleinstaat“ für die föderalen Traditionen Deutschlands. Mithilfe dieser neuen Deutung unternahm Volger in den folgenden Jahren den Versuch, das Hochstift in Weimar und bei Großherzog Carl Alexander als die einzig legitime nationale Institution für die Goethepflege zu etablieren. Dazu hatte man bereits 1879 eine persönliche Einladung an den Großherzog zur Teilnahme an der Frankfurter Goethefeier ausgesprochen. Es entspann sich in den folgenden Jahren ein näheres Verhältnis zwischen Otto Volger und Carl Alexander. Der überaus distinguierte Großherzog zeigte sich beeindruckt von der Persönlichkeit und dem Idealismus des Obmanns und unterstützte auch das Hochstift mit Leihgaben. Höhepunkt dieser Beziehungen bildete schließlich das Projekt Volgers, eine nationa157 158 159 160 161
Ebenda, S. 460. Ber. FDH 1880, S. 465. Ber. FDH 1880, S. 462 ff. Ebenda, S. 467. Ebenda, S. 471.
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le Goethestiftung zu gründen, die Frankfurt und Weimar vereinen sollte, was im anschließenden Kapitel ausführlicher geschildert wird. Das Jahr 1879, das symbolisch für eine Wende in der Goethedeutung steht, brachte noch einen anderen wesentlichen Beitrag des Hochstifts hervor, mit dem man die Goethepflege national institutionalisieren wollte. Man beabsichtigte, jährlich nationale Goethefeiern am 28. August im Deutschen Reich und Österreich zu begründen. Die in Frankfurt 1879 veranstaltete Feier inszenierte das Hochstift als einen Prototyp für die zukünftigen Goethefeiern. Überhaupt hatte die Bedeutung der jährlichen Goethefeiern im Hochstift im Laufe der Jahre zugenommen und stellte die alljährliche Festsitzung zu Ehren von Schillers Geburtstag und der Hochstiftsgründung in den Schatten. Das Mitglied Karl Fulda regte 1876 an, ob „es nicht zweckdienlicher sei, die Festsitzung auf Goethes Geburtstag zu verlegen“, was einen „größeren Zuspruch von auswärtigen Genossen und Verehrern bringen“ würde, aber die Verwaltung hielt an den traditionellen Festsitzungen fest.162 Bisher fanden die Goethefeiern im Rahmen einer öffentlichen Hochstiftssitzung im Goethehaus statt, bei der Festreden, musikalische Aufführungen und zum Abschluss ein geselliges Mahl abgehalten worden waren. Besucher konnten an diesem Tag das Goethehaus kostenlos besichtigen. Am 28. August 1874 hatte man über 10.000 Personen gezählt.163 Zu diesem Anlass wurde das Gebäude mit Blumen geschmückt, die schwarz-rot-goldene Fahne wehte auf dem Giebel, die Gedenktafel an der Haustür war mit einem Kranz aus Eichenlaub geschmückt, Lorbeerbäume standen am Eingang, die an den Treppenaufgängen und den Zimmertüren aufgestellten Büsten wurden mit Blumenkränzen geschmückt. Das „Geburtszimmer“ wurde besonders festlich hergerichtet und war allein der „Schmückung von Frauenhand vorbehalten“.164 1879 wollte man die Feier in die Öffentlichkeit transportieren, um daraus zunächst eine städtische Veranstaltung unter Führung des Hochstifts zu machen. Dazu veröffentlichte man einen Aufruf als „Mahnung zur Feier des GoetheTages“, um den „Tag mehr und mehr zu einem allgemeinen Freudenfeste der Deutschen zu benutzen“.165 Der Festtag sollte „zur Erhebung der Seele“ beitragen und ein „erbauendes und veredelndes Volksfest“ sein. Schulen, Vereine und Theater sollten ihn jährlich an dem 28. August „zunächst fallende[n] Sonntag“ begehen. Es sollte ein Fest unter Einbeziehung des „gemeinen Volks“ werden, das Musik- und Gesangsvereine unterstützen, indem sie „fröhliche, kräftige, ernste, weihevolle“ Lieder aufführen. Als geeigneten Ort für die Feier schlug man waldige Plätze vor, „wo der Deutsche, den das Glück des freien Waldes vor manchen Völkern bevorzugt, sich die wohlthuendste Erquickung sucht“.166 In diesem Sinne verpflichtete sich das Hochstift, der 162 163 164 165 166
Prot. VS, 1.5.1876. Prot. OS, 13.9.1874. Ber. FDH 1880, S. 109. FDH (Hg.), Die Feier des Goethe=Tages als erbauendes und veredlendes Volksfest, S. 1. Ebenda, S. 2.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption obigen Mahnung nunmehr Selber nachzuleben und am Stiftsorte selbst ein Fest zu gestalten, dessen Grundzüge in derselben [...] vorgezeichnet
sind.167 Die Dramaturgie war auf drei Tage angelegt. Am Abend des 27. August fand eine Zusammenkunft am Grab von Catharina Elisabeth Goethe statt, am 28. August versammelte man sich vor dem Goethehaus und zog von dort in einem Festzug zum Goethedenkmal. Am folgenden Sonntag fand das eigentliche Volksfest statt, bei dem wiederum nach einer Feier im Goethehaus sich ein Festzug zum Goethedenkmal anschloss. Am Nachmittag versammelte man sich schließlich am Mainufer und zog zum Stadtwald, in dem ein Festplatz errichtet worden war. Von dort zogen am Abend die Teilnehmer in einer mit farbigen Windlichtern und Fackeln beleuchteten Prozession zurück in die Stadt. Alle wesentlichen Frankfurter Gedenkstätten und Denkmäler Goethes waren in den Festverlauf eingebunden. Die Feier auf dem Friedhof der Peterskirche unterstrich den Anspruch des Hochstifts, die Bedeutung dieser Goethestätte, für deren Erhalt und Schutz man sich engagierte, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Goethe wurde 1879 als Symbol für die nationale Gemeinschaft gefeiert, welche die Zusammengehörigkeit aller Deutschen durch die gemeinsame Kultur beschwor, denn über dem Haus wehte das Hausbanner in den Hochstiftsfarben: Schwarz-roth-gold – die noch immer an die große Geisteseinheit des Alldeutschen Vaterlandes mahnen und im Oesterreiche wie im PreußischDeutschen Reiche gleiche Geltung haben: die Erinnerung an die Burschenschaft mit ihrem edlen Freiheitstreben, mit ihrem Tugendbunde, die Erinnerung an den Gedanken der Einheit durch freudiges Lichtstreben der Geister.168
Frankfurt blieb in diesem Sinne weiterhin das Zentrum dieser großdeutschen Nationsidee, von wo der Deutschen Nation ein Wink gegeben werden solle, dass sie durch freie Entfaltung auf geistigem Gebiete ihre Aufgabe im Kreise der Menschheit zu vollziehen berufen sei.169
Dabei kam dem Volk eine besondere Bedeutung zu, denn ein Teil des Bürgertums und der Gebildeten hat sich, so Volger, von diesen Vorstellungen abgewandt. Goethe fungierte auch als ein Symbol für die kulturellen Werte, die durch die modernen Entwicklungen der Gegenwart bedroht waren. Der Naturwissenschaftler Volger verteidigte dabei das humanistische Bildungsideal gegen die Herausforderungen, die von den aufstrebenden Naturwissenschaften ausgingen.170 In einer Rede, die Volger 1878 anlässlich der Goethefeier des Hochstifts hielt, bezeichnete er „Goethes Manen“ als jene, die an die „Welt des Geistes“ glauben, die entgegen den Entwicklungen der Moderne eine Welt der Transzendenz verteidigen.171 167 168 169 170 171
Ebenda. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 6. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 226. Ber. FDH 1880, S. 110–112.
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Die Bedeutungszunahme der modernen Wissenschaften hatte sich bereits in der Goethe-Rezeption niedergeschlagen. Ein Teil der Naturwissenschaftler war bemüht, Goethes Beiträge zur eigenen Disziplin wohlwollend darzustellen, ja sogar dessen Ansatz „gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten“.172 Aufsehen erregte schließlich der Physiologen Emil Du Bois-Reymond (1818–1896), der Goethe jede naturwissenschaftliche Bedeutung in seiner bekannten Berliner Rektoratsrede „Goethe und keine Ende“ absprach. Volger beunruhigte eher die Indienstnahme des Dichters, wie sie sein Antipode Ernst Haeckel betrieb. Haeckel nahm Goethe als „Begründer der Deszendenztheorie in Anspruch“ und betrachtete ihn sogar als einen Vorläufer Darwins.173 1877 kam es zu einer öffentlichen Kontroverse zwischen Ernst Haeckel und Rudolf Virchow, bei der es um die Verbreitung des Darwinismus im Schulunterricht ging und die als „Höhepunkt der weltanschaulichen Auseinandersetzung über die Evolutionstheorie in Deutschland“ gilt.174 Den Alleingeltungsanspruch des wissenschaftlichen Materialismus, für den Haeckel, aber auch Büchner standen, betrachtete Volger als Gefahr, vor dessen gesellschaftlichen Auswirkungen er immer wieder warnte. Die Goethefeiern sollten deshalb als „erbauendes und die Seele veredelndes Fest“ auch diesen Tendenzen begegnen und gleichzeitig Goethes idealistische Weltsicht betonen. Da aus Sicht Volgers die gesellschaftlichen Eliten sich bereits von den alten Wertvorstellungen entfernten, er sogar in den bürgerlichen Kreisen Frankfurts gegenüber Goethe „eine fast unglaubliche Unkenntniß“ beobachtete, die „nicht etwa von den minder Bemittelten und von den auf gesellschaftliche Bildung den geringeren Anspruch machenden Schichten der Bewohnerschaft“ ausging, blieb nur das einfache Volk als noch unverdorbener Träger dieser Gedanken übrig.175 „[H]ier freut sich ein noch von warmen Gefühlen für ein edleres menschenwürdiges Dasein erfülltes Volk an jeder gemeinsamen Erhebung“.176 Die durch das Fest zu fördernde „Veredlung und Erbauung“ sollten von den unteren Volksschichten bis zu den oberen gesellschaftlichen Schichten getragen werden. Ein Gemeinschaftsgefühl und ein Zusammenwirken aller Beteiligten boten die gemeinsamen Gesänge der zu diesem Anlass gedichteten Festlieder. Im Rückblick auf die Feiern resümierte Volger: Jeder fühlte sich gehoben durch den Geist, [...] grossartig, überwältigend entfaltete sich [...] der Volksgesang, [...] es war eine Feierstunde, welche diese Scharen zu einer erhebenden Andacht vereinigte, [...] [s]ie fand gewiß nur gute Menschen versammelt. [...] Fortan wird Goethe´s Geburtstag alljährlich Frankfurts schönstes Volksfest sein! Hochstift und Verein werden sich der dankbaren Aufgabe nicht entziehen, dasselbe auch in folgenden Jahren in einen
172 173 174 175 176
Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 184. Ebenda. S. 187. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 65–83. FDH (Hg.), Die Feier des Goethe=Tages als erbauendes und veredlendes Volksfest, S. 5. Ebenda, S. 25.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption schönen feierlichen Rahmen zu fassen und immer edler auszugestalten; alles Übrige besorgt der herrliche Geist, der in unserem Volke lebt 177,
so die Einschätzung der Feiern von 1879.178 Entgegen diesen salbungsvollen Worten und den großartigen Ankündigungen waren die Goethefeiern des Hochstifts ein überschaubares Ereignis geblieben. Volgers Hinweis an die Frankfurter Bevölkerung, sie sei „leider bislang noch nicht zu den bewussten Empfindungen der Schmach gelangt, welche für sie in der Leitung ihrer Stadt durch solche Vertreter bereitet wird“ konnte die offiziellen Vertreter der Stadt und ihre Körperschaften nicht überzeugen, an den Feiern teilzunehmen.179Auch kein bedeutender Frankfurter Verein ließ sich zur Mitarbeit bewegen oder war bereit, am Festzug teilzunehmen. Demzufolge stellten die Goethefeiern einen Misserfolg dar. Weder in Frankfurt, noch in anderen Teilen Deutschlands fanden sie Resonanz. Für Volger bedeutete dies, sich um neue Partner zu bemühen. In den letzten beiden Jahren seiner Amtszeit bestimmte deswegen der Plan einer Goethestiftung sein Handeln. 6. VOLGERS PLAN EINER GROSSDEUTSCHEN GOETHESTIFTUNG Die Volgersche Goethestiftung, deren Dimensionen mit der Nationalstiftung des Deutschen Bundes vergleichbar sind, ist in der Forschung fast unbemerkt geblieben.180 Im Jahr 1880 entwickelte Volger erste Ideen, die er im August 1880 auf Wunsch des Weimarer Großherzogs Carl Alexander in einer Denkschrift zusammenfasste. Bis zu seiner Abwahl als Obmann verhandelte Volger mit dem Großherzog über dieses Projekt. Über die Korrespondenz hinaus kam es nicht zu weiteren konkreten Schritten. Zu ersten Verbindungen zum Weimarer Fürstenhaus hatte sich Volger bereits kurz nach dem Erwerb des Goethehauses bemüht und den Großherzog um Spenden gebeten. Als der Großherzog 1878 sein fünfundzwanzigstes Thronjubiläum feierte, übersandte das Hochstift eine Festurkunde, da die „Beziehungen, welche zwischen Goethe´s Vaterhause und dem Weimarischen Lande für alle Zeiten geknüpft sind“.181 Der Großherzog wurde als ein Regent gewürdigt, der „ein Musterfürst“ sei und „welcher Sein Land beglückt und dadurch ganz Deutschland Sich zu Dank verpflichtet“.182 In der zeitgleichen Goetherezeption des Hochstifts wurden Goethes Weimarer Zeit und seine Verbindungen zum Fürstenhaus neu bewertet. Im Laufe der Jahre kam es zu weiteren Anknüpfungspunkten mit dem Weimarer Großherzog. Dieser 177 178 179 180 181 182
Ebenda, S. 30 ff. Ebenda, S. 31. Ebenda. Eine erste Darstellung findet sich bei Fritz Adler, Freies Deutsches Hochstift, S. 169–178. Ber. FDH 1880, S. 70. Ebenda.
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lieh dem Hochstift Gemälde und Handschriften für Ausstellungen, Volger wurde in Weimar empfangen und Carl Alexander besuchte das Frankfurter Goethehaus. Gleichzeitig wurden die Kontakte zu Wolfgang und Walther von Goethe erneuert. Bereits seit 1864 waren sie zu „Pfleger des Hochstifts“ ernannt worden, ohne dass sich daraus ein weiterer Umgang ergeben hatte. Sie stiften allerdings dem „Goetheschatz“ kleinere Devotionalien. Seit 1878 erneuerte sich der Kontakt, als es darum ging, die Grabstätte von Goethes Mutter in Frankfurt zu erhalten. Bei dieser Gelegenheit ermächtigten sie Volger, die Interessen der Familie zu vertreten.183 Der überschritt allerdings seine Kompetenzen, da er gegen den ausdrücklichen Wunsch beider Enkel eine Beschwerde an den deutschen Kaiser richtete. 184 Nach dieser Eigenmächtigkeit bemühte sich Volger um einen diplomatischeren Umgang mit beiden, die ohnehin als einzelgängerisch und überaus misstrauisch galten. Weihnachten 1879 schickte er Frankfurter Bratwürstchen und Quittenteig als Festgaben nach Weimar. Walther von Goethe gehörte zu den Ersten, die Volger im Dezember 1880 über die testamentarischen Verfügungen Adolf Müllers informierten. Da die Enkel Goethes nur über ein geringes Einkommen verfügten, waren sie gezwungen, das Weimarer Haus am Frauenplan teilweise zu vermieten. Davon waren Räume im ersten Stock betroffen. Volger wollte diese Gelegenheit benutzen, das Hochstift im Goethehaus einzumieten. Er bot im Januar 1881 Walther von Goethe an, die entsprechenden Räume im ersten Stock durch das Hochstift anzumieten, „umso keine Unbefugten ins Goethehaus zu lassen“.185 Die Benutzung der Räume würde man den Enkeln überlassen. Walther von Goethe lehnte das Ansinnen aber ab, denn er wünschte, die Beziehungen zum Hochstift sollten „geistiger Art“ bleiben und nicht zu Geschäftsbeziehungen führen.186 Volger verteidigte die Enkel auch gegen öffentliche Kritik, die ihnen zum Vorwurf gemacht hatte, das Haus und seine Sammlungen aus egoistischen Gründen zu verschließen. Über die Bedeutung des Hochstifts hatte Walther von Goethe dagegen wohlmeinend geäußert: Wie wichtig und bedeutungsvoll das Bestehen des freien Deutschen Hochstiftes als geistige Warte, davon geben die uns beschäftigenden [...] Thatsachen, ein nur zu beredtes Zeugniß.187
Weimar besaß mit dem Goethehaus und dem Nachlass des Dichters wichtige Bausteine, die für die zukünftige Goetherezeption, besonders für die Goethephilologie, von Bedeutung waren. Die dortige Dynastie kam mit ihrer Kulturförderung als Mittel der Herrschaftspraxis Volgers Plänen entgegen. Die Nachfolger Carl Augusts wollten an die Bedeutung Weimars anknüpfen und setzten vielfältige Impulse, die als Weimars „Silberne Zeit“ bezeichnet wird:
183 Otto Volger an Walther von Goethe, 23.12.1879, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 19695. 184 Walther von Goethe an Otto Volger, 18.7.1878, ebenda.. 185 Otto Volger an Walther von Goethe. 11.2.1881, Kopie, ebenda. 186 Walther von Gothe an Otto Volger, 30.1.1881, ebenda. 187 Walther von Goethe an Otto Volger, 9.1.1878, ebenda.
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VII. Goethehaus, Goethemuseum und Goetherezeption Die Residenz und der Fürst nehmen wichtige Funktionen der Kulturförderung wahr [...] und die Kulturvermittlung und – stimulierung, die Verantwortung der regierenden Fürsten, ihre individuelle Anschauung auch, ihr Wesen, ihr Geschmack bestimmen die Prozesse nachhaltiger als Marktverhältnisse und öffentliche Meinung.188
Der Großherzog förderte Musik, Kunst und Literatur. Schon unter der Regentschaft seines Vaters Carl Friedrich (1783–1853) und dem Einfluss von dessen Gemahlin Maria Pawlowna (1786–1859) waren Künstler, wie Franz Liszt, nach Weimar berufen worden, der dort die Werke Richard Wagners zur Uraufführung brachte. Diesen Traditionen fühlte sich Carl Alexander verpflichtet und die Pflege und Berufung auf das klassische Erbe wurden zu Konstanten seiner Regentschaft. 1857 wurden das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar eingeweiht und der Grundstein zu einem Carl-August-Denkmal gelegt. Die als Volksfest gefeierten Anlässe sollten ein harmonisches und „konfliktarmes Kontinuum“ zwischen Dynastie und Bürgern betonen.189 Die Goethepflege war Teil der fürstlichen Inszenierung und Rietschels Klassiker-Denkmal galt dem Großherzog zuerst „nur als Teil einer verklärenden Memorialfeier samt eigener Denkmalstiftung [...] für Herzog Carl August und mithin für sein Haus“, das erst „in der Folgezeit gleichsam zu einem Nationalsymbol avancierte“.190 Carl Alexander hatte schon als Erbgroßherzog 1842 die Nationalstiftung des Deutschen Bundes begeistert unterstützt. Er kannte Wolfgang und Walther von Goethe aus gemeinsamen Kindertagen und besonders mit Walther von Goethe verband ihn eine innige, aber komplizierte Freundschaft.191 Der junge Thronfolger hatte im April 1845 einen letzten Versuch unternommen, die beiden Enkel zu überzeugen, das Angebot des Deutschen Bundes anzunehmen. Er präsentierte ihnen einen neuen Vertragsentwurf, der beiden ein lebenslanges Wohnrecht im Weimarer Goethehaus garantierte.192 Carl Alexander beriet sich in dieser Angelegenheit im Juli 1845 auch mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in Weimar. Der preußische König gehörte zu den Förderern des Projekts. Die Familie Goethe lehnte aber die Pläne ab. Die anschließenden Versuche der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar, nur die Sammlungen zu erwerben, scheiterten ebenfalls.193 Was führte nun das Hochstift und dessen Goethestätte mit dem Weimarer Großherzog zusammen, auf welcher Basis konnte sich die bürgerliche Goethepflege Frankfurts mit der großherzoglichen Traditionspflege verbinden? Eine Einbeziehung der Dynastien in seine Goethepflege hatte das Hochstift schon 1863 188 Angelika Pöthe, Carl Alexander. Mäzen in Weimars „Silberner Zeit“, S. 5. 189 Ebenda, S. 164. 190 Andreas Beyer, „Wir sind keine Griechen mehr“. Goethe und Schiller als Denkmal in Weimar, S. 42. 191 Vgl. Wolfgang Vulpius, Walther von Goethe und der Nachlaß seines Grovaters; René Jacques Baerlocher/Christa Rudnik, „Weimars Pflichten auf der Bühne der Vergangenheit“. Der Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Walther Wolfgang von Goethe. 192 Johannes Schultze, Der Plan eines Goethe-Nationaldenkmals in Weimar, S. 360 f.; Angelika Pöthe, Carl Alexander, S. 187. 193 Angelika Pöthe, Carl Alexander, S. 187.
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unternommen. Als Treuhänder des deutschen Volkes hatte man damals die deutschen Staaten um finanzielle Unterstützung ersucht. Die Spender, z. B. der Kaiser von Österreich und der König von Preußen, erhielten den Ehrentitel „Hohe Beschützer“. Auch in die Meisterschaft fanden Monarchen Aufnahme oder wurden aufgrund des besonderen Verhältnisses zu Goethe, wie der ehemalige bayerische König Ludwig I., zu Ehrenmitgliedern ernannt. Diese Auszeichnungen wurden als Anerkennung für die Förderung von Wissenschaft und Kunst vorgenommen und der bayerische König erhielt die gleiche Form der Urkunde, die vor ihm bereits der Dichter Friedrich Rückert erhalten hatte. Carl Alexander und Volger verband zudem ein Idealismus, der auf der Wertschätzung der kulturellen Normen und Überlieferung beruhte. Beide waren Gegner von Bismarcks Politik. Carl Alexander hatte zunächst Preußens Führung in der Frage der nationalen Einigung begrüßt. Seine Hoffnungen auf einen nach liberal-konstitutionellen Grundsätzen gestalteten Nationalstaat erlitten durch Bismarcks Ernennung, die in Weimar auf „völlige Ablehnung“ stieß, einen Rückschlag, wobei man Bismarck zunächst für ein „kurzes Intermezzo“ hielt.194 Der Großherzog lehnte die Politik des preußischen Ministerpräsidenten ab und war bestrebt, einen Ausgleich zwischen Preußen und Österreich zu vermitteln. Er beschwor 1863 vergebens seinen Schwager, den preußischen König Wilhelm I., am Fürstentag in Frankfurt teilzunehmen. Auch in der Krise um die dänischen Herzogtümer, die den Konflikt zwischen Preußen und Österreich zum Ausbruch bringt, stehen der Großherzog und seine Regierung nicht auf der Seite Preußens.195
Durch massiven preußischen Druck gezwungen, entschloss er sich 1866, gegen seine innere Überzeugung der preußischen Sache beizutreten, obwohl er und seine Schwester Augusta den „Bruderkrieg“ entschieden ablehnten.196 „Tun zu müssen, was man nicht will, weil alles in der Seele sich sträubt, ist hart“, schrieb Carl Alexander an seinen Minister Watzdorf.197 Die Verfassung des Norddeutschen Bundes, der Sachsen-Weimar schließlich beitrat, missfiel dem Großherzog, der zum Ärger Bismarcks sogar eine Kolonie exilierter Welfen in Weimar duldete.198 Während der Reichsgründung spielte der Großherzog nur eine Statistenrolle, das Misstrauen gegenüber Bismarck bewahrte sich Carl Alexander weiterhin. Die Beschäftigung und Förderung von Kunst und Kultur boten ihm immer öfter willkommene Anlässe, um vor den unbefriedigenden Realitäten zu fliehen. Das klassische Weimar wurde dabei zu einem Ideal hochstilisiert, in dem „damals Größeres auf dem Gebiet des Geistes wirkte“.199 Schon 1858 hatte er ein „KunstGlaubensbekenntnis“ verfasst, das einen Herrschaftsanspruch beinhaltete. Carl 194 195 196 197 198 199
Ulrich Hess, Geschichte Thüringens 1866–1914, S. 15. Angelika Pöthe, Carl Alexander, S. 92. Ebenda, S. 94 ff. Ulrich Hess, Geschichte Thüringen 1866–1914, S. 36 Ebenda, S. 45 u. S. 57. Carl Alexander an Fanny Lewald, 29. Oktober 1873, in: Eckart Kleßmann/Rudolf Göhler (Hg.), Mein gnädigster Herr! Meine gütige Korrespondentin! Fanny Lewalds Briefwechsel mit Carl Alexander von Sachsen-Weimar, S. 283.
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Alexander beabsichtigte, Weimar zum Zentrum der nationalen Kultur zu machen, um eine Verbindung von solchen Geistern zu erreichen, welche die Kunst [...] in ihrer Heiligkeit erkennen und ausüben und sich dabei fest binden an den nationellen Boden.200
Der Großherzog betrachtete wie Volger mit Skepsis die modernen Entwicklungen und sah die Kultur durch Materialismus und Sozialismus bedroht. Den „Gründerkrach“ wertete er als Folge dieser Erscheinungen, die durch die Art der Reichsgründung mit verschuldet waren. Wie Sie habe ich denn auch die ,Krache‘ in Wien und Berlin keineswegs als Unglück betrachtet; wir wollen nur wünschen und sorgen, dass die Lehre, die eine gütige Gottheit uns gibt, richtig benutzt werden und Berlin hat hierin vor allem das Beispiel zu geben,
schrieb er an Fanny Lewald.201 Für die Rolle Weimars im Reich blieb allein die Förderung der Kultur die Möglichkeit, die Bedeutung des kleinen Staates zu behaupten. Die Dynastie konnte den damit verbundenen Prestigeverlust nur noch dadurch zu kompensieren suchen, dass sie ihr kulturelles Engagement in das neue Deutsche Reich einbrachte und so der allgemein befürchteten ,Verpreußung‘ Deutschlands entgegenwirkte,
so Gerhard Müller.202 Das romantisch veranlagte, träumerische, zur Weltflucht neigende Naturell des Großherzogs konnte Volger für sich und seine Ideen gewinnen. In einem Brief an den Großherzog bezeichnete sich Volger als einen „bloßen Pfadsucher einer geistigen Weiterführung des Deutschen Volkes“ und erklärte es zur Aufgabe des Hochstifts, die „freie geistige Einigung der Nation“ zu verwirklichen.203 Den Entwurf für eine Goethestiftung, die er dem Schreiben in Form eines dreißigseitigen Manuskripts beilegte, hatte er auf Wunsch des Großherzogs verfasst, nachdem beide in Weimar darüber ausführlich gesprochen hatten. Er nahm somit auch Rücksicht auf die Gedanken und Vorstellungen des Großherzogs. Volger versicherte Carl Alexander, dass die Stiftung ein Erfolg werde, da er nicht beabsichtige, dem Großherzog etwas vorzuschlagen, „was ein ungewisses Beginnen von vorn herein“ darstelle. Vielmehr sei das Gelingen gerade durch Carl Alexanders Unterstützung garantiert, da er mit seinen vielfältigen Kontakten und Beziehungen die Realisierung in der Hand habe. Er müsse nur das „entscheidende Weckwort“ öffentlich sprechen. Das war nicht nur Ausdruck einer simplen Schmeichelei, sondern Volger setzte bis zum Schluss, auch als es später um seine Rückkehr an die Spitze des Hochstifts ging, seine Hoffnungen auf die Möglichkeiten und Kontakte des Großherzogs. 200 Zit. nach Gerhard Müller, Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 93. 201 Carl Alexander an Fanny Lewald, 29.10.1873, in: Eckart Kleßmann/Rudolf Göhler (Hg.), Mein gnädigster Herr! Meine gütige Korrespondentin! Fanny Lewalds Briefwechsel mit Carl Alexander von Sachsen-Weimar, S. 283. 202 Gerhard Müller, Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 96. 203 Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 24.8.1880, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 8975.
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Bestärkt wurde er in seinen Erwartungen zunächst auch durch Franz Liszt, der vom Weimarer Hof vielfältige Förderung erhalten hatte. Volger sprach mit Liszt in Weimar über seine Pläne und überzeugte ihn von der Idee der Goethestiftung. Liszt hatte bereits 1849 die Gründung einer Goethe-Stiftung in Weimar angeregt, um eine „aus einer lebendigen Traditionsbeziehung erwachsende moderne Kunst zu fördern“ und seine Vorschläge 1851 publiziert.204 Er wollte Weimar zu einem künstlerischen Zentrum ausbauen und bezweckte, mithilfe der Stiftung Kunstfeste, Preisaufgaben und Wettbewerbe zu organisieren. Volgers Ideen gingen allerdings über eine bloße Kunststiftung hinaus: Die hohe Aufgabe, welche in Frage steht, ist die Schaffung einer äußeren Lebensform und Gliederung der Deutschen Geistesgemeinschaft. Diese war es, durch welche sich das Einheitsbewusstsein und das Bedürfnis des Zusammenwirkens der Deutschen Völkerstimmen durch alle geschichtlichen Wechsel der staatlichen Gestaltungen erhielt. Die letzteren entsprechen auch in der Gegenwart dem Umfange des Bereiches jener Gemeinschaft und ihrer Einigungsbedürfnisse keineswegs. Die Zweitheilung des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in das nunmehrige Deutsche Reich und das auf sich hinaus verwiesene Oesterreich erscheint als ein Widerspruch gegen das Einheitsbewusstsein der Deutschen Bevölkerung beider Kaiserthümer, für welches sie ihren Halt dermalen hauptsächlich in der Sprache Goethe´s und Schiller´s findet, die uns Alle verbindet, in dem Schriftthume, welches mittelst dieser Sprache uns Alle geistig ernährt und in gleichem Sinne geistig wachsen lässt.205
Die Stiftung sollte im Zeichen Goethes das Einheitsbewusstsein der gesamtdeutschen Nation bewahren. Volger betonte aber, dass es sich nicht um eine politische Revision der Ergebnisse von 1871 handele, da die „jetzigen Staatsverhältnisse von Dauer seien“, sondern vielmehr um eine ideelle Aufgabe. Der Großherzog sollte nicht weiter als Gegner der preußischen Politik durch die Stiftung kompromittiert werden. Alle Deutschen sollten sich „sammeln um ein gemeinsames Heiligthum im fruchtbringenden Dienste friedlichen Strebens nach Erhöhung des geistigen Bodens unseres gesammten Lebens“.206 Nicht die deutschen Staaten seien dazu berufen, sondern nur das „freie[n], von keiner staatlichen Gränze beschränkten Walten des Geistes selber“207, worunter Volger auch die Unabhängigkeit der vom Hochstift getragenen Stiftungsidee verstand. Nur das Weimarer Fürstenhaus sei berufen, an der Spitze einer solchen Stiftung zu stehen, weil es in der Vergangenheit Weimar zum „unsichtbaren Anziehungspunkt des gesammten Deutschen Geisteslebens“ gemacht habe.208 Was einst nur für Frankfurt in Anspruch genommen worden war, galt nun für Weimar, nämlich geistiger Mittelpunkt der Nation zu sein.
204 Jochen Golz, Frühe Formen der Goethe-Pflege, S. 89. 205 Otto Volger, Entwurf, 24.8.1880, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9039, Bl. 1 ff. 206 Ebenda, Bl. 3. 207 Ebenda. 208 Ebenda, Bl. 4.
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Um das zu verdeutlichen, entwickelte Volger einen historischen Überblick, der Weimars führende Stellung im Prozess der Nationswerdung beweisen sollte und der bis in das 17. Jahrhundert zur Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft zurückreichte. 1617 war diese literarische Gesellschaft durch Mitglieder des Weimarer Hofes gegründet worden, um die deutsche Sprache zu pflegen.209 Volger empfahl deshalb die Erneuerung dieser Gesellschaft, weil deren Aufgaben, die „Pflege Deutscher Sprache“ und die „Sittenreinheit“ zu kräftigen, auch für die Zukunft notwendig seien. Die deutschen Fürsten, welche die Gesellschaft wieder vereinige, könnten die „Würde des Fürstenstandes in den Augen der Nation verklären“. Volger erwähnte auch die Ideen des Markgrafen von Baden und Herders Entwurf für ein „Patriotisches Institut“, die er schon in einer Festrede von 1864 als Vorläufer des Hochstifts bezeichnet hatte.210 Auch den Fürstenbund führte er an und nahm Bezug auf die Idee der „Trias“, eines „Dritten Deutschlands“. Vom Ende des Alten Reiches bis 1866 stellte die „Trias“ die Idee des alternativen Staatenverbundes dar, nämlich des Zusammenschlusses der deutschen Mittelstaaten.211 Auch die GDNA und die Germanistenversammlung in Frankfurt wurden von Volger als wichtige Zusammenschlüsse genannt. Ohne auf die Revolution von 1848/49 einzugehen212, hob er die Goethefeiern vom 1849 hervor, die er als Tiefpunkt der Goetheverehrung charakterisierte, denn damals sei es zu „Ausbrüchen von Rohheit“ gegen den Dichter gekommen, der als „Aristokrat und Fürstendiener“ galt.213 Franz Liszts Entwurf einer Goethestiftung von 1851 würdigte Volger ebenso, erklärte aber ihr Scheitern durch die Zeitumstände und die Tatsache, dass der Entwurf in französischer Sprache verfasst worden war. Erst mit den Schillerfeiern von 1859 sei schließlich eine neue Dynamik in das nationale Einheitsstreben gelangt, allerdings mit fatalen Konsequenzen für deren Fortgang. Das Jahr 1859 stilisiert Volger zur alles entscheidenden Wegmarke der jüngsten deutschen Geschichte, das zwei Alternativen generierte: Zwei Wege wurden im Sommer jenes Jahres betreten, um dem Einheitsgedanken eine äußere Gestaltung zu verleihen, der eine zielte auf die Schaffung eines Einheits-Staates und führte zu den unbefriedigenden Ereignissen des Jahres 1866, der andere richtete sich nach einer Stätte,
209 Vgl. Klaus Manger, Die Fruchtbringer, Eine Teutschherzige Gesellschaft. 210 Vgl. Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar und Herders Entwurf zu einer Vereinigung der geistigen Volkskraft Deutschlands und der Versuch seiner Verwirklichung durch das Freie Deutsche Hochstift, (1865). 211 Vgl. Peter Burg, Die Deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom alten Reich zum Deutschen Zollverein. 212 Für den damaligen Erbgroßherzog Carl Alexander stellte die Revolution einen tiefen Einschnitt dar, vgl. Reinhard Jonscher, Großherzog Carl Alexander von Sachsen-WeimarEisenach (1853–1901). Politische Konstanten und Wandlungen in einer fast 50jährigen Regierungszeit, S. 18. 213 Otto Volger, Entwurf, 24.8.1880, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9039, Bl. 10.
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welche geeignet sei, einen friedlichen Mittelpunkt für die geistige Gemeinschaft aller Deutschen zu bilden.214
Zwei Vereinsgründungen symbolisierten die damaligen Alternativen: Der Nationalverein und das Freie Deutsche Hochstift. Während der Nationalverein die kleindeutsche Einigung unter Ausschluss Österreichs favorisierte, hielt das Hochstift an dem großdeutschen Nationsverbund fest. Politisch setzten sich jene Kräfte durch, für die der Nationalverein stand. Dennoch reklamierte Volger die seitherige Entwicklung des Hochstifts als eine Erfolgsgeschichte. Er bezeichnete dessen Goethepflege und die Bildungsvermittlung als gelungene Aufgaben. Allerdings musste er einräumen, dass Anspruch und Wirklichkeit aufgrund der „völligen Mittellosigkeit“ in einem Missverhältnis standen.215 „Zu erheblicheren Leistungen kann das F.D.H. daher erst dann befähigt werden, wenn seine Mitgliedschaft nach Zehntausenden zählt“.216 Um diesen Entwicklungsschub zu bewerkstelligen, sollte die Goethestiftung gegründet werden. In ihrer Konzeption entsprach sie einer Nationalstiftung, da neben dem Hochstift und dem Weimarer Fürstenhaus eine Beteiligung „von den Gesammtvertretungen des Deutschen Reiches einerseits und Oesterreichs [...] andererseits erwartet“ wurde.217 Die Stiftung sollte nicht nur „das Geburtshaus Goethe´s, sondern auch Sein Weimarisches Wohnhaus zum Gegenstand seiner Obhut und Pflege“ machen.218 In Weimar sollten sich die Mitglieder des Hochstifts zu einer Zweigvereinigung zusammenschließen, um die dortigen Goethestätten zu verwalten. Um jene in öffentlichen Besitz zu überführen, sollte der Großherzog Carl Alexander erneut Verhandlungen mit Walther und Wolfgang von Goethe führen, weil er durch seine freundschaftlichen Beziehungen über die besten Einflussmöglichkeiten verfüge. Die Anknüpfungen mit Goethe´s Enkeln [...] mit Rücksicht auf eine gewisse spröde Zurückhaltung welche bei Denselben als Folge der in unerfreulicher Weise abgebrochenen Verhandlungen mit dem ehemaligen Durchlauchtigen Deutschen Bunde, erwartet werden müssen – können in keiner anderen Form geschehen, als dass Denselben vertraulich der bezügliche Wunsch des Erhabenen Enkels Carl August´s kundgegeben werde, mit dem Antrage: einzuwilligen, daß Goethe´s Wohnhaus (und Gartenhaus), nebst dem von dem Dichter nachgelassenen Inhalte an Schriften, Büchern und Sammlungen von Kunst- und Naturgegenständen, als bleibendes Nationaleigenthum des Deutschen Volkes erworben und unter dem zu diesem Zwecke [...] durch die Hochstiftsgenossenschaft Weimar verwaltet und gepflegt werde, wogegen Denselben Freiherrn von Goethe vom Deutschen Reich und Oesterreich gemeinsam eine Ehrenausstattung in entsprechendem Betrage zu überweisen wäre.219
Die Beteiligung der anderen Staaten hatte auch eine fiskalische Bedeutung, denn sie sollten den Unterhalt der gesamten Stiftung durch Zuschüsse garantieren. Zu diesem Zweck sollte ein Antrag des Hochstifts mit Unterstützung des Weimarer 214 215 216 217 218 219
Ebenda, Bl. 12. Ebenda, Bl. 15. Ebenda, Bl. 17. Ebenda, Bl. 18. Ebenda. Ebenda, Bl. 20 ff.
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Großherzogs und der Enkel Goethes an die deutschen und die österreichischen Parlamente und Regierungen gerichtet werden. Zusätzlich verpflichtete sich das Hochstift, einen Aufruf zum Anschlusse an alle Gelehrten, Künstler und Freunde Deutscher Bildung in beiden Reichen, die gesammte Deutsche Nation zu veranlassen, Ihre Vertreter in den beiderseitigen hohen Reichstagen zur Bewilligung der beantragten Gewährungen zu bestimmen.220
Carl Alexander sollte die „Oberhoheit und Aufsicht über die Erhaltung und Verwaltung der Goethehäuser zu Frankfurt a. M. und zu Weimar [...] übernehmen“.221 Teil der Stiftung sollte eine Fürstenversammlung werden, die als erneuerte „Fruchtbringende Gesellschaft“ das „Fürstenhaus“ der Stiftung darstellen sollte. Mit dieser Idee kam Volger Carl Alexanders romantischen Vorstellungen über die Rolle der Aristokratie entgegen. Das klassische Weimar und der Musenhof dienten Carl Alexander als ein Mittel, die Bedeutung seines Hauses durch die Berufung auf dessen kulturelle Leistungen herauszustellen. Dazu gehörte die Wiederherstellung der Wartburg, die als „Gesamtkunstwerk“ im Sinne des Historismus das mittelalterliche Herrschaftsideal sichtbar machte.222 Carl Alexander wollte die Wartburg „zu einer Art Museum für die Geschichte unseres Hauses, unseres Landes, ja von ganz Deutschland [...] gestalten“.223 Freilich fand ein Teil der politischen und nationalen Aspekte, etwa das Wartburgfest, keine Berücksichtigung in diesem Konzept.224 Die Rolle des Weimarer Fürstenhauses wäre als „primus inter pares“ in der Fürstengesellschaft betont worden. Weimar wäre nicht Teil einer Achse BerlinWeimar, sondern es würde das „wahre Reich“ symbolisieren. Schon 1853 waren in Weimar Pläne diskutiert worden, initiiert durch den Schriftsteller Karl Gutzkow, die Fruchtbringende Gesellschaft wieder zu erneuern.225 Diese Versammlung sollte nach Volgers Vorstellung alle „selbstständig gewesenen Fürstenthümern beider Kaiserreiche des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches“ umfassen.226 Das Alte Reich diente hier als mythisches Symbol für einen Verband, der „unabhängig von staatlichen Gestaltungen und geschichtlich vorübergehenden Machtverhältnissen“ der Gegenwart ein „geistiges Reich“ bildet.227 In diesem Fürstenbund wären auch wieder alle Dynastien vertreten, die seit dem Reichsdeputationshauptschluss und den Napoleonischen Kriegen von der politischen Landkarte verschwunden waren. Dazu gehörten allerdings auch jene Häuser, die 1866 Opfer der preußischen Einigungspolitik geworden waren. 220 Ebenda, Bl. 22. 221 Ebenda, Bl. 22. 222 Angelika, Pöthe, Carl Alexander, S. 297; vgl. Günter Schuchardt, „Die Burg des Lichtes“. Zur Restaurierungsgeschichte der Wartburg als national-dynastisches Projekt. 223 Zit. nach Etienne François, Die Wartburg, S. 160. 224 Ebenda, S. 161. 225 Wolfgang Goetz, Fünfzig Jahre Goethe=Gesellschaft, S. 12. Gutzkow gehörte seit 1864 der Meisterschaft des Hochstifts an. 226 Otto Volger, Entwurf, 24.8.1880, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9039, Bl. 25. 227 Ebenda, Bl. 30.
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Die Fürstengesellschaft sollte sich jedes Jahr an Goethes Geburtstag in Weimar versammeln und sich mit finanziellen Beiträgen an der Goethestiftung beteiligen, etwa bei Preisverleihungen. Über die Art der Preissauschreibungen machte Volger allerdings keine genaueren Angaben. Möglicherweise dachte er an ähnliche Wettbewerbe, wie sie Franz Liszt bereits 1851 in Betracht gezogen hatte. Liszt plante, mit seiner Goethestiftung Wettbewerbe in den Bereichen Literatur, Malerei, Skulptur und Musik zu veranstalten. Die ausgezeichneten Werke sollten Eigentum der Goethestiftung werden und die Künstler Geldprämien erhalten. Als Grundkapital der Stiftung, an deren Spitze der damalige Erbgroßherzog Carl Alexander stehen sollte, wollte Liszt durch öffentliche Subskription 60.000 bis 100.000 Taler sammeln. „Die Sache ist in solcher Art eben unausführbar“, bemerkten damals zeitgenössische Kritiker.228 Auch Richard Wagner hatte sich in einer öffentlichen Stellungnahme zu den Plänen Liszts geäußert.229 Wagner lehnte eine Stiftung ab, die nur Auszeichnungen verteilt, denn dadurch würde die „Goethestiftung [...] zu der Geschäftigkeit unserer bestehenden Kunstvereine herabsinken“ und „nichts anderes als eine Kunstlotterie unter der Firma ,Göthe‘ werden“.230 Die Stiftung sollte nach Wagners Meinung dem Künstler – dabei dachte er an die Musik und das Theater – die Möglichkeit eröffnen, „sein gedachtes und entworfenes Werk zu der, seiner Absicht entsprechenden Erscheinung zu bringen“.231 Ziel der Wagnerschen Goethestiftung war die Herstellung eines Theaters im edelsten Sinne des dichterischen Geistes der Nation [...], welches dem eigenthümlichsten Gedanken des deutschen Geistes als entsprechendes Organ zu seiner Verwirklichung im dramatischen Kunstwerke diene.232
Die Kritik Wagners am damaligen Kulturbetrieb und speziell am Zustand des Musiktheaters zielte auf ein neues Musikdrama, zu dessen Etablierung er die Goethestiftung ins Auge fasste.233 Wagner gelang es später, den bayerischen König Ludwig II. für seine Festspielideen zu gewinnen. Die Rolle des fürstlichen Mäzens und Förderers nahm auch Carl Alexander von Sachsen-Weimar in Volgers Plänen ein, nachdem es dem Obmann nicht gelungen war, in Frankfurt genügend Unterstützung zu bekommen, obwohl er sich immer wieder für eine öffentliche Förderung der Kultur ausgesprochen hatte. Liszts Pläne blieben zunächst ohne Folgen, erst 1861 gründete sich in Weimar eine Goethestiftung, die unregelmäßig Preise für bildende Künstler ausschrieb. In Dresden hatte sich dagegen schon 1855 eine Schillerstiftung zur Unterstützung deutscher Schriftsteller gegründet, die bald in vielen Städten Deutschlands Filia228 F. Kugler, Goethe-Stiftung, in: Deutsches Kunstblatt, Nr. 28, 12.7.1851, S. 222. 229 Richard Wagner, Brief an Franz Liszt (über die Goethe=Stiftung), in: Richard Wagner, Zwei Briefe (1852), S. 25–48. 230 Ebenda, S. 38. 231 Ebenda, S. 39. 232 Ebenda, S. 44. 233 Vgl. Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politischästhetische Utopie, S. 180–188.
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len besaß, so auch in Frankfurt.234 Mitinitiator des Frankfurter Vereins war Carl Jügel, der dafür warb, auch „Naturforscher und andere Männer, die zur Bildung und geistigen Erhebung beitragen“, zu berücksichtigen.235 1859 bildete sich in Weimar die Deutsche Schillerstiftung als bürgerlicher Unterstützungsverein für in Not geratene Schriftsteller, die auch Preise vergab. Mit diesen Gründungen sollte die „Bildungsbewegung als integrative Grundlage der politischen Bewegung einen neuen Impuls erhalten“.236 Das Hochstift hat über die Tätigkeiten der Weimarer Schillerstiftung regelmäßig berichtet: Diese beiden Stiftungen (Schillerstiftung und Freies Deutsches Hochstift, Anm. S.M.) haben verwandte Zwecke und gingen aus einem Grundgedanken hervor: dem, die Ehre Deutschlands zu erhöhen durch Erhöhung seiner geistigen Arbeit.237
Die Wettbewerbe von Volgers Goethestiftung stellten aber nur einen Teil ihrer Aufgaben dar. Ihre Hauptaufgabe war es, die Weimarer und Frankfurter Goethestätten als Museum und Gedenkstätte für jeden Besucher zugänglich machen und gleichzeitig der Goetheforschung zu dienen. Dafür sollten „Arbeitsstätten des deutschen Geistes“ in Form von Reichsbüchereien und Arbeitsräumen für Forscher entstehen. An die Reichsbüchereien sollten Exemplare aller in Deutschland erscheinenden Bücher abgegeben werden. Sie waren also nicht nur als spezialisierte Goethebibliotheken gedacht und griffen Pläne auf, die Volger schon 1865 im Hochstift entwickelt hatte, um eine deutsche Nationalbibliothek zu gründen. Volger regte zudem an, die in Frankfurt und Weimar bestehenden Sammlungen, Museen und Bibliotheken auszubauen und in ein näheres Verhältnis zur Goethestiftung zu bringen. Die Weimarer Goethestätte sollte durch eine lokale Zweiggesellschaft des Hochstifts verwaltet werden. Wie sich Volger die detaillierte Organisation der Institute vorstellte, ist nicht überliefert. Der Zugang zu Goethes schriftlichem Weimarer Nachlass sollte aber in der Verantwortung des Großherzogs liegen. Der Obmann des Hochstifts sollte als Sekretär an der Spitze der Goethestiftung stehen. Keineswegs wäre damit die Unabhängigkeit des Hochstifts aufgegeben worden. Volger sprach in diesem Zusammenhang von einer „Ehe“ zwischen Frankfurt und Weimar, die sich nur auf die Goethestiftung zu beschränken habe.238 Die Stiftungsidee knüpft an den älteren Plan des Deutschen Bundes an. Gemeinnützigkeit, Ständigkeit, Zugänglichkeit, Forschung und Bildung waren Kernelemente, die auch Volger aufnahm.239 Allerdings nahm in Volgers Konzept 234 Jahrbücher der Schiller=Stiftung, Bd. 1, S. 166. 235 Heinrich Meidinger, Frankfurt´s gemeinnützige Anstalten, Bd. 2, S. 13; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, S. 464. 236 Ebenda. 237 Otto Volger, Des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, S. 5. 238 Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 5.1.1881, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9047. 239 Paul Kahl, Das Scheitern der „immerwährenden Nationalstiftung“ in Weimar und die Gründung des Goethe-Nationalmuseums, S. 256. Ein ähnliches Projekt verfolgte 1849 Karl August
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nun das Hochstift als unabhängiger Verein eine führende Stellung ein, die vorher die deutschen Staaten beanspruchten. Für Volger bedeutete die Goethestiftung eine zweite „Reichsgründung“ aus dem Geist Weimars heraus: Wie im Leib die Seele lebt, so wird in dem mächtigen verbündeten Reiche der Hohenzollern und der Lothringer das geistige Reich von Weimar sein, von freiester Zustimmung getragen, segensreiche Wirksamkeit entfalten.240
Volger sprach von einem „allumfassende[n] Friedensreich der Geister und der edelsten Bildung“.241 Der Großherzog sollte in Berlin seinen Schwager Kaiser Wilhelm I. und seine Schwester Kaiserin Augusta für die Idee gewinnen. Als konkreten Anlass schlug ihm Volger die Hochzeit des preußischen Prinzen Wilhelm mit Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg im Februar 1881 vor, bei der auch zahlreiche Vertreter anderer Dynastien anwesend wären. Volger selbst versprach, in Vorträgen für die Sache zu werben.242 Im Februar 1881 hielt sich Volger für einige Tage in Weimar auf. Er traf dort nicht nur mit dem Großherzog zusammen, sondern lernte dabei auch Walther von Goethe persönlich kennen. Den Kontakt vermittelte Carl Alexander, der an Walther von Goethe schrieb: Indem lieber Walter, benachrichtige daß D. Otto Volger, Obmann des freien Deutschen Hochstiftes [...] heute hier ist und ich ihn empfangen habe, bitte ich Dich dem würdigen, obgenannten ergrauten Mann, Zutritt bei Dir zu gestatten, da er den Wunsch äußerte Dich kennen zu lernen.243
Der Großherzog teilte Walther von Goethe mit, dass er das Protektorat über das Hochstift übernommen habe und dass dessen Fortbestand im Sinne der „Deutschen Nation“ durch ein „bedeutendes Legat“ gesichert sei. Nach seinem Besuch in Weimarer konnte Volger im Hochstift mitteilen, dass sich der Großherzog mit den Grundzügen der Stiftung einverstanden erklärt habe und als ersten Schritt das Protektorat über das Hochstift übernehme.244 Franz Liszt besuchte im Mai 1881 das Frankfurter Goethehaus und sagte Volger seine weitere Unterstützung zu.245
240 241 242 243
244 245
Varnhagen, indem die Klassiker als „Versöhnungsinstanz“ nach der Revolution dienen sollten, vgl. Jochen Golz, Frühe Formen der Goethe-Pflege, S. 87. Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 5.1.1881, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9047. Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 11.1.1881, Kopie, ebenda, HS 9046. Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 31.3.1881, Kopie, ebenda, HS 9050. Carl Alexander von Sachsen-Weimar an Walther von Goethe, 4. Januar(?) 1881, in: René Jacques Baerlocher (Hg.), „Weimars Pflichten auf der Bühne der Vergangenheit“, Der Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Walther Wolfgang von Goethe, Nr. 504, S. 388. Prot. OS, 19.6.1881. Otto Volger an Carl-Alexander von Sachsen-Weimar, 11.1.1881 und 7.5.1881, Kopien, FDHHausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9046 u. 9052.
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Die Position Volgers hatte sich durch die Eröffnung des Testaments von Adolf Müller im Dezember 1880 deutlich verbessert, weil ihm nun bedeutende finanzielle Mittel in Aussicht standen. In der Öffentlichkeit geriet das Hochstift hingegen durch Ludwig Geiger in Bedrängnis, der einen vernichtenden Artikel im zweiten Band des Goethe-Jahrbuchs veröffentlichte. Ob Geiger über die Pläne von Volgers Goethestiftung informiert war, ist unbekannt, aber seine Äußerungen erschienen in der Phase der intensiven Verhandlungen zwischen Frankfurt und Weimar und Volger musste sich gegenüber dem Großherzog erklären. Carl Alexander hatte 1880 das Erscheinen von Geigers Goethe-Jahrbuch ausdrücklich begrüßt, da es für ihn ein Zeichen war, dass sich die „deutsche Nation [...] immer wieder und immer mehr mit Goethe beschäftigt“.246 Seinen Autor, Dr. Ludwig Geiger, wünsche ich umso mehr nunmehr kennen zu lernen, da Sie ihn mir empfehlen. Ich habe ihm deshalb den Wunsch aussprechen lassen, ihn kennen zu lernen und deshalb hierher zu kommen gebeten.247
Volger versuchte, Geigers Angriff als „jüdischen Rachenakt“ zu erklären. Geiger sei ein „Stammesgenosse[n] der Frankfurter Zeitung“, mit der Volger seit Jahren eine erbitterte Auseinandersetzung führte.248 Dessen Goethe-Jahrbuch, versicherte Volger dem Großherzog, werde bald durch die Goetheforschungen des Hochstifts ins Abseits gestellt werden. Im November 1881 wurde Volger als Obmann abgewählt, damit endeten alle weiteren Verhandlungen über die Goethestiftung. Carl Alexander hielt sich aus den Auseinandersetzungen innerhalb des Hochstifts heraus. Sein Kabinettssekretär Oskar Graf von Wedel schrieb an Volger im März 1882: Seine Königliche Hoheit sich jeglichen Eingreifens in die Neugestaltung des Hochstiftes enthalten müsse, da diese nur durch Verständigung der Parteien und nach Maßgabe der Landesgesetze in gedeihlicher Weise geschehen könne.249
Zwar ermunterte der Großherzog Volger in seinen Bemühungen, aber er unterließ es, offiziell gegen die Maßnahmen der neuen Verwaltung vorzugehen. Als Volger ankündigte, eine Rechtfertigungsschrift zu verfassen und diese auch an den Kaiser zu senden, bat Carl Alexander, ihn nicht als Ratgeber oder Unterstützer zu benennen.250 Der Großherzog riet Volger, die Entscheidung der Behörden und die Antwort „bei seiner Majestät dem Kaiser abzuwarten“251, doch weder die Behörden noch der Kaiser beachteten Volgers Einwände. 246 Carl Alexander von Sachsen-Weimar an Fanny Lewald, 13.7.1880, in: Eckart Kleßmann/Rudolf Göhler (Hg.), Mein gnädigster Herr! Meine gütige Korrespondentin! Fanny Lewalds Briefwechsel mit Carl Alexander von Sachsen-Weimar, S. 361. 247 Ebenda. 248 Otto Volger an Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 31.3. 1881, Kopie, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 9050. 249 Oskar Graf von Wedel an Otto Volger, 31.3.1882, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 8968. 250 Carl Alexander von Sachsen-Weimar an Otto Volger, 9.6.1882, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 8970. 251 Oskar Graf von Wedel an Otto Volger, 25.11.1882, ebenda, HS 8971.
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Als Walther von Goethe am 15. April 1885 starb, vermachte der letzte Enkel des Dichters die Weimarer Häuser und Sammlungen dem Weimarer Staat, den schriftlichen Nachlass Goethes erhielt die Großherzogin Sophie. 1885 wurden daraufhin das Goethenationalmuseum und das Goethearchiv (1889 zum GoetheSchiller-Archiv erweitert) in Weimar gegründet. Im Juni 1885 konstituierte sich unter dem Patronat des Großherzogs die Goethe-Gesellschaft in Weimar. In ihrem Aufruf vom 1. Juli 1885 „An alle Verehrer Goethes“ hieß es: Mit dem neuen Deutschen Reich ist die Zeit einer großen nationalen und politischen Denkart gekommen, für welche jene Vorurteile und Befangenheiten nicht mehr sind, die in vergangenen Jahrzehnten die richtige Erkenntnis und Würdigung Goethes bei vielen gehemmt haben. Ein großes nationales Reich weiß den größten seiner Dichter in seinem vollen Werte zu schätzen. Die Begründung und Erhaltung der politischen Größe unseres Volkes geht Hand in Hand mit der Pflege und Förderung seiner idealen Güter.252
Zwar gab es kritische Einwände gegen diese politische Vereinnahmung Goethes, doch begann in Weimar nun eine Goethepflege, die Weimar und Berlin als sich bedingende Achsen des Deutschen Reiches verstand. Vor allem die Großherzogin Sophie förderte deren Vertreter. Ihr Vertrauter Gustav von Loeper, preußischer Beamter, passionierter Goetheforscher und erster Archivmitarbeiter, hielt 1890 den Festvortrag „Berlin und Weimar“, in dem er „die konfliktfreie Verbindung von Macht und Geist im neuen Reich postuliert“.253 „Sophie und Carl Alexander stimmen mit einer solchen Sicht grundsätzlich überein“, schrieb Angelika Pöthe.254 Zumindest für die Person des Großherzogs verdeckt eine solche Pauschalisierung die alternativen Ansätze einer Goethepflege, die sich in dem Projekt der Volgerschen Goethestiftung finden und die ausdrücklich von Carl Alexander gebilligt worden waren. Der Einfluss der Goethephilologie und Goethedeutung, die sich in Weimar ab 1885 etablierten, führte dazu, ihren Erfolg als natürlichen Gang zu begreifen.255 Mit dem ersten Präsidenten der Goethe-Gesellschaft, Eduard von Simson, schienen die Epochen, die für 1848 und 1871 standen, im Zeichen Goethes miteinander versöhnt zu sein. Dagegen hatte sich Volger entschieden gewehrt. Die Unteilbarkeit der Nation war ein Ideal, das er aus dem Erbe der Revolution von 1848 bewahrt hatte. Otto Volger nahm sogar 1885 an der Gründung der Weimarer GoetheGesellschaft teil.256 Er beteiligte sich an den Diskussionen und versuchte vergeblich zu verhindern, dass Geigers Goethe-Jahrbuch zum Publikationsorgan der Goethe-Gesellschaft wurde.257 Seine Gegner im Hochstift betrachteten mit Sorge Volgers Engagement, zumal das Hochstift keinen offiziellen Vertreter zur Konstituierung der Goethe-Gesellschaft entsandt hatte. Veit Valentin teilte 1886 die Be252 253 254 255 256
Zit. nach Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 226 ff. Angelika Pöthe, Die Gründung der Goethe-Gesellschaft, S. 95. Ebenda. Wolfgang Leppmann, Goethe und die Deutschen, S. 136. Allerdings nicht als Mitglied des Hochstifts, wie Angelika Pöthe schrieb, da Volger 1882 ausgeschlossen worden war. Angelika Pöthe, Die Gründung der Goethe-Gesellschaft im Zusammenhang Grossherzoglicher ,Erbe‘-Politik, S. 92. 257 Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 105.
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fürchtung, Volger könnte in Frankfurt Vorsitzender eines Zweigvereins werden.258 Volgers hatte anfänglich die Hoffnung gehegt, es gebe „zur Erfüllung der Zwecke des Hochstiftes nunmehr in Weimar eine neue Stiftung [...]: die GoetheGesellschaft“, aber musste erkennen, dass deren Ziele nicht mit seinen Vorstellungen übereinstimmten.259 Mit dem Großherzog Carl Alexander, der Volger immer noch Sympathie entgegenbrachte, blieb er weiter in Kontakt. 1891 entwickelte er die Idee, die von Deutschland wiedererlangte Insel Helgoland zu einem Marineposten auszubauen, wobei er sich auf seine geologischen Kenntnisse der Insel stützte. Carl Alexander sollte Volger eine Audienz bei Kaiser Wilhelm II. vermitteln, was der Großherzog aber höflich ablehnte. In der Zeit des Imperialismus und der beginnenden Flottenrüstung mit Großbritannien war Volger immerhin bereit, seine Dienste dem Reich auch für politisch-militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. 7. DAS FRANKFURTER GOETHEHAUS UND GOETHEMUSEUM 1881–1914 Nach Volgers Abwahl 1881 wurden die Pläne einer Goethestiftung nie wieder thematisiert. Die neue Verwaltung hielt es nicht einmal für nötig, den Großherzog über die Veränderung im Hochstift zu informieren.260 Das verdeutlicht, wie wenig Unterstützung der Plan einer Goethestiftung bei den Frankfurter Mitgliedern besaß. Vielmehr war es ein Projekt, das vor allem Volger bewegt hatte. Mit der neuen Satzung wurde die Lehr- und Vortragstätigkeit wieder in den Mittelpunkt gerückt und bei den Beratungen diskutierten einige Mitglieder sogar die Idee, das Goethehaus vom Hochstift abzutrennen.261 Es blieb weiterhin ein Teil des Hochstifts und sollte dazu dienen, eine Sammlung von Gegenständen im Gedenken an Goethe, Schiller und deren Zeitgenossen anzulegen (Satz 7).262 Neu war allerdings die Regelung, das Haus nach einer möglichen Auflösung des Hochstifts der Stadt Frankfurt zu übereignen, die sich verpflichtete, es weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Satz 94). Das Haus war somit auch für die fernere Zukunft als öffentliche Gedenkstätte bestimmt. Nach 1881 vereinte es weiterhin verschiedene Funktionen in sich. Es diente als Gedenkstätte, Museum, Verwaltungssitz, Ort der Hochstiftsbibliothek, des Lesezimmers, als Treffpunkt von Fachabteilungen und als Wohnung für Angestellte. 1885 beschloss die Hauptversammlung, eine Goethehaus-Kommission einzusetzen. Ihre elf Mitglieder bestanden aus drei Vertretern des Verwaltungsausschusses, des Akademischen Gesamtausschusses, des Pflegamtes und zwei koop258 Prot. VA, 17.5.1886. 259 Otto Volger, Die Goethe-Gesellschaft in Weimar, zit. nach Joachim Seng, GoetheEnthusiasmus, S. 106. 260 Oskar Graf Wedel an Otto Volger, 3.2.1882, FDH-Hausarchiv, Nachlass Otto Volger, HS 8967. 261 Hermann Rumpf, Aus der Geschichte des Freien Deutschen Hochstifts, S. 33. 262 Satzungen des FDH (1884), S. 5 u. 7.
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tierten Mitgliedern.263 Das Gremium konstituierte sich am 23. Dezember 1885, in dem Jahr also, wo in Weimar das Goethemuseum, das Goethearchiv und die Goethe-Gesellschaft gegründet wurden. Die Kommission besaß nur eine „begutachtende und vorzuschlagende Stellung [...], ohne Recht der Bewilligung von Geldsummen“, war aber ermächtigt, gefasste Beschlüsse auszuführen.264 Sie begann nun, jene Wiederherstellungsarbeiten fortzusetzen, die bereits unter Volger zur Bewahrung des Hauses veranlasst worden waren. Der Anstrich wurde erneuert, der Dachstuhl ausgebessert, die Räume im zweiten Stock „stil- und zeitgerecht“ renoviert. Der alte Zustand des Hauses und seiner Räume sollte wiederhergestellt werden, wie „sie der Rat Goethe hatte herstellen lassen“.265 Die Restaurierung war bemüht, alte Spuren aufzudecken, etwa Tapeten- oder Farbreste, um diese wieder zu erneuern. Diese Denkmalpflege war eine „praktische Intervention am Objekt“, bei der Erhaltung und Authentizität im Vordergrund standen.266 Wo sich allerdings keine Spuren oder Überlieferungen mehr fanden, da begann die Denkmalpflege, selbst einen Raum zu schaffen und eine Geschichte zu schreiben.267 Dies betraf vor allem die Einrichtung. Schon Volger hatte versucht, originale Gegenstände und Mobiliar aufzutreiben. Da leider von dem ehemaligen Goetheschen Hausmobiliar außer zwei Schränken, welche der jetzige Besitzer trotz mehrfacher Anfragen nicht veräußern will, nichts mehr vorhanden ist, so musste die Kommission wohl oder übel andere zeitgemäße Stücke erwerben, wenn anders die Zimmer das Ansehen von Wohnräumen aus dem vorigen Jahrhundert erhalten sollten.268
Authentischer Ort und Darstellung einer historischen Epoche vermischten sich nun. Die Tapetenauswahl sollte der „Farbgebung dem Stile der Mitte des 18. Jahrhunderts soviel als möglich sich annähern.“269 Bereits 1884 hatte man die städtische Baudeputation um die Genehmigung ersucht, die alten Fensterkörbe wieder anbringen zu dürfen. Die Verwaltung begründete die Bitte, die gegen die amtlichen Bauvorschriften verstieß, damit, weil wir von nun an mehr als seither schon unser Augenmerk darauf richten können, das uns gehörige Geburtshaus Goethes, dieses nicht bloß von den Bewohnern Frankfurts, sondern von der ganzen gebildeten Welt hoch und heilig gehaltene Besitztum in die Verfassung zu versetzen, in welcher sich dasselbe zu Lebzeiten des großen Dichters befand.270
Die städtischen Behörden genehmigten die Anbringung der Gitter, die Volger wieder aufgefunden hatte.
263 264 265 266 267 268 269 270
Ber. FDH 1886/1887, S. 15*; vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 99–102. Ber. FDH 1886/87, S. 15*. Ebenda, S. 16*. Wilfried Lipp, Denkmalpflege und Geschichte, S. 131. Ebenda, S. 133. Ber. FDH 1886/87, S. 17*. Ebenda, S. 16*. FDH an Städtische Baudeputation, 31.5.1884, Magistratsakten S 1769/1, ISG Frankfurt a. Main.
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Gleichzeitig wurde durch diese Aktivitäten immer wieder eine Strömung im Hochstift infrage gestellt, die dessen Entwicklung zu einer reinen Akademie favorisierte. Für sie war die Gründung der Goethegesellschaft und des Weimarer Goethemuseums und -archivs eine willkommene Gelegenheit, die Goethepflege im Hochstift einzuschränken. Sie vertrat die Ansicht, dass „das Hochstift jetzt noch weniger als im vergangenen Jahr mit dem Goethekultus sich beschäftigen könne“ und verwies dabei auf die Weimarer Institutionen.271 Diese Auffassung findet sich auch in den publizierten Berichten, in denen es über die Beziehungen zur GoetheGesellschaft heißt: Wir verfolgen die schöne Entwicklung der Gesellschaft und ihre auch uns so nahe berührenden Ziele [...], wo [...] eine Förderung geleistet werden kann, wird es nach Maßgabe unserer Verhältnisse gerne geschehen. Immerhin muß es auch hier wieder betont werden, daß dem Hochstifte mannigfaltigere Aufgaben gestellt sind, als die Goethekenntnis und Goetheverehrung; diese zu fördern bildet einen Teil unseres Wirkens, welchem wir besonders durch Vermehrung unseres Goetheschatzes gerecht zu werden wünschen.272
Die Bestände des Weimarer Goethearchivs bewirkten aber neue Impulse für die Wiederherstellung des Frankfurter Goethehauses, weil sich dort Unterlagen und Rechnungen fanden, die Aufschlüsse über den Umbau des Hauses und seine ursprüngliche Gestalt vermittelten. Die Unterlagen wurden leihweise an das Frankfurter Stadtarchiv übergeben, in dem sie der Verwaltungsschreiber Heinrich Pallmann einsehen konnte.273 Dadurch war es möglich, Volgers erste Beschreibung des Goethehauses durch eine neue Darstellung zu ergänzen, die Pallmann verfasste.274 Alle Maßnahmen waren begleitet von dem Willen, die Form des Hauses als literarisches Denkmal über die Zeit hinweg zu konservieren und dabei auch einer möglichen Zerstörung, die im März 1944 durch einen Bombenangriff tatsächlich geschah, entgegenzuwirken. 1890 gründeten sich solche Sorgen noch allein auf die Zerstörungen durch einen Brand, dessen Risiko man etwa durch eine Blitzableiteranlage zu begegnen versuchte. Man begann bereits damals, genaue Pläne und Zeichnungen anzufertigen, die man dem Stadtarchiv zur Aufbewahrung übergab.275 Es war die Goethehaus-Kommission, die einen Museums- und Bibliotheksbau wünschte, um das Haus zu entlasten, denn auch dann, als die Verwaltungsräume in die angemieteten Räume bei Baresel & Bauer umzogen, blieb die Bibliothek weiter im Goethehaus untergebracht.276 Zwischen 1895–1897 konnte dann mit Unterstützung der Stadt ein Museums- und Bibliotheksbau errichtet werden. In den Anträgen, mit denen die Verwaltung bei den städtischen Behörden um Unterstützung bat, stand der Schutz des historischen Gebäudes als Denkmal an erster Stelle. Auch die städtischen Behörden nahmen, wie bereits beschrieben 271 272 273 274 275 276
Prot. AGA, 2.4.1886. Ber. FDH 1886/87, S. 10*. Ber. FDH 1888, S. 121 ff. Vgl. Heinrich Pallmann, Das Goethehaus in Frankfurt am Main (1889). Ber. FDH 1890, S. 151. Ber. FDH 1892, S. 81.
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wurde, diesen Punkt in ihrer Argumentation auf. Das Goethehaus bildete, wie Joachim Seng schildert, den „Keim zu einem Goethe-Museum [...] auch in einem konkret räumlichen Sinn“, denn alle Pläne [...] beruhten auf Gebäude- beziehungsweise Grundstückskäufen am Großen Hirschgraben“.277 Das Museum war als „museale Ergänzung zum Goethe-Haus gedacht“, und stellte einen „bebilderte[n] Kommentar“ dar.278 Museum und Gedenkstätte (Goethehaus) separierten sich.279 Das Haus als Gedenkstätte war zugleich Literaturmuseum, das „eine Sammlung von Gegenständen aus dem Besitz oder Umfeld der jeweiligen Persönlichkeit ist“.280 Die Erweiterung des Museumsbegriffs und seine Erörterung in den letzten Jahren haben „ihre Wurzeln in der Geschichte der Dichterhäuser im neunzehnten Jahrhundert“.281 Aus Sicht der Goethehaus-Kommission sollte das Haus im eigentlichen Sinne kein Museum darstellen, das eine Sammlung präsentierte, sondern eine Erinnerungsstätte: Bei diesem Vorgehen wurde streng der Grundsatz festgehalten, die Zimmer nur mit echten Stücken der Zeit [...], der Bestimmung der einzelnen Räume wie dem Charakter ihrer Bewohner gemäß, mit Vermeidung alles Museumsartigen, einzurichten, so daß das Ganze den Eindruck des behäbigen Frankfurter Bürgerhauses, in dem Goethe heranwuchs, gewährt.282
Immer wieder finden sich auch hier Vorgaben, alles mit „Sorgfalt und Pietät“ umzusetzen.283 Solange diese Häuser nur private Gedenkstätten waren, die nebenbei andere Funktionen erfüllten, führte dies zu Kritik, wie im Falle des Marbacher Schillerhauses und des Frankfurter Goethehauses. Die Pietät beinhaltete aber auch, einen öffentlichen Zugang (Weimarer Goethehaus) zu schaffen, um öffentliches Gedenken zu ermöglichen. Ein Wandel erfolgte in dem Bedeutungszusammenhang, den das Haus und später das Museum einnahmen. Für Volger war es immer ein „Heiligtum der Nation“ gewesen, das vom Hochstift als „Treuhänder der Nation“ verwahrt wurde. Die nationale Perspektive des Hochstifts der Volgerzeit verschmolz mit dem Haus zu einer nationalen Erinnerungsstätte. Nach 1881 verringerten sich diese Bezüge zugunsten einer Sicht auf die Gedenkstätte, die vermehrt stadtgeschichtliche Traditionen präsentieren wollte. Wegen des Mangels an originalen Einrichtungsgegenständen und deren Ersetzung durch zeitgenössische Objekte sollte das Haus auch „beredtes Zeugnis von dem echten Frankfurter Bürgersinn ablegen“.284 Originalen Objekten aus dem Besitz der Familie gebührte absoluter Vorrang und immer wieder bat die Goethehaus-Kommission in den Berichten um Schenkungen
277 278 279 280 281 282 283 284
Joachim Seng, Das Frankfurter Goethe-Museum, S. 154. Ebenda, S. 155. Paul Kahl, Museum – Gedenkstätte – Literaturmuseum, S. 346. Ebenda, S. 359. Ebenda, S. 360. Ber. FDH 1892, S. 79. Ber. FDH 1893, S. 56. Ber. FDH 1895, S. 82.
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oder Leihgaben entsprechender Gegenstände, denn „auch das Kleinste ist von Wert“.285 Die Spezialisierung auf Goethes Frankfurter Zeit war der Tatsache geschuldet, dass mit den Beständen des Weimarer Goethe-Schiller-Archivs und dem dortigen Goethemuseum Sammlungen bestanden, mit denen man nicht konkurrieren konnte. In Frankfurt verpflichtete man sich auf die „bescheidenere Ergänzung für die Frankfurter Zeit Goethes“.286 Mit dieser Beschränkung konnten auch Kritiker der Goethepflege im Hochstift gewonnen werden. Allerdings hielt man am Anspruch fest, eine wissenschaftliche Goethebibliothek aufzubauen. Sie sollte der „allgemeinen wissenschaftlichen Forschung“ zur Verfügung stehen und durch eine moderne Standortsignatur leicht zugänglich sein. 287 Schon Volger hatte die Anlegung einer Goethebibliothek gefördert, die 1876 immerhin schon 1500 Bände zählte. 288 1902 umfasste sie bereits 20.000 Bände. Hinzu kamen 1.200 Briefe und Handschriften, 1.500 Kunstblätter. Jedes Jahr wuchs der Buchbestand durchschnittlich um ca. 1.100 Bände.289 Die Sammlung der Bibliothek wurde einer Neuordnung unterzogen, die sich an den veränderten Zielen des Hochstifts orientierte. Man plante „die Schaffung einer möglichst vollständigen Bibliothek der klassischen Litteraturepoche unseres Volkes mit Goethe als Mittelpunkt“.290 Diese Literaturepoche hatte die Aufgabe erfüllt, das „Band der geistigen Einheit um die einzelnen deutschen Stämme zu schlingen, der geistigen Einheit, die der politischen vorausgehen mußte“.291 Mit der Reichsgründung war diese Aufgabe beendet und die Literatur erhielt ihren Platz in den Bibliotheken. Die Gegenwart wäre „[o]hne jene [...] nicht zu verstehen“ und man „wird daher immer wieder auf sie zurückgreifen müssen, so weit auch die Zeit sich von ihr entfernt“.292 Alte Bestände der Hochstiftsbibliothek, die nicht mehr zu den neuen Aufgaben passten, verkaufte man. Viele naturwissenschaftliche Werke übergab man der Frankfurter Buchhandlung Baer.293 Dagegen spezialisierte man sich auf neue Themen und legte eine Faustbibliothek an, die 1902 schon 1.400 Bände umfasste. Die Goetherezeption nach der Reichsgründung führte zu einer Kanonisierung des Stückes, das Werk avancierte zum wichtigsten dichterischen Werk Goethes.294 Auch das Museum gewann an Bedeutung. Noch vor der Jahrhundertwende stiegen die Besucherzahlen kontinuierlich an. Die Eintrittsgelder gehörten zu den 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294
Ber. FDH 1896, S. 55. Ber. FDH 1896, S. 54. Jb. FDH 1906, S. 331. Prot. VS, 31.7.1876. Jb. FDH 1902, S. 378. Ber. FDH 1899, S. 163. Ebenda, S. 164. Ebenda. Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 153. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 240; Gert Mattenklott, Faust, in: Etienne François/Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 603–619; vgl. Hans Schwerte, Faust und das Faustische, Ein Kapitel deutscher Ideologie.
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wichtigsten Einnahmequellen des Hochstifts und rechtfertigten die Zweckmäßigkeit des Museumsbaus. Zwischen 1885 und 1895 stieg der Erlös von jährlich 6.771 auf 10.513 Mark.295 Im Verwaltungsjahr 1897/98, also nach der Eröffnung des Museums, überstiegen die Einnahmen mit 12.190 Mark das erste Mal die Mitgliedsbeiträge, die 11.874 Mark betrugen. Dieser Trend setzte sich fort und im letzten Verwaltungsjahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs betrugen die Einnahmen des Museums 31.288 Mark.296 8. DIE GOETHEREZEPTION IM HOCHSTIFT 1881–1914 Mit der Neuorganisation des Hochstifts verlor die Goethepflege des Hochstifts zunächst an Stellenwert. Die Goetherezeption diente nicht mehr dazu, eine großdeutsche Nationsidee zu behaupten, sondern beschränkte sich zunehmend auf die lokalen Bezüge Goethes in Frankfurt und begann später, das literarische Umfeld des Dichters mit einzubeziehen. Von der Idee, eigene Goetheforschungen zu veröffentlichen, verabschiedete man sich, aber man erwog, das Goethe-Jahrbuch zum Publikationsorgan für die Goethebeiträge des Hochstifts zu gewinnen. Dessen Herausgeber, Ludwig Geiger, trat 1884 dem Hochstift bei und begrüßte die Abwahl Volgers und die Neuorganisation in einem Beitrag des Goethe-Jahrbuchs ausdrücklich.297 Der AGA bewilligte dem Jahrbuch eine Unterstützung von 500 Mark, unter der Bedingung, weiter positiv über die Entwicklung des Hochstifts zu berichten.298 Das Hochstift erwog, das Goethe-Jahrbuch mit einem jährlichen Zuschuss von 1.000 Mark zu unterstützen. Man plante, dort eigene Beiträge über Goethe zu veröffentlichen und den Mitgliedern einen ermäßigten Bezug (25 %) zu ermöglichen. Damit wäre das Goethe-Jahrbuch zu einer Art Publikationsorgan des Hochstifts geworden.299 Für Geiger und die sich etablierende Goethephilologie verlor das Hochstift aber rapide an Bedeutung, als 1885 Walther von Goethe starb und dessen testamentarische Verfügung bekannt wurde. Schon kurz nach dessen Tod kursierten in Weimar Pläne für die Goethe-Gesellschaft. Ludwig Geiger hielt sich zu dieser Zeit in Weimar auf und vereinbarte mit dem Generalintendanten des Theaters, August Freiherr von Loen, folgende Maßregel über die zu gründende GoetheGesellschaft: Eine Vereinigung mit dem deutschen Hochstift wird entschieden abgelehnt; sollte dieses sich entschließen, eine Sektion für den Goethe=Cultus aus seinen sonstigen Bestrebungen auszuscheiden, so wäre diese Sektion als integrierender Teil der Gesellschaft willkommen, mag sie auch sonst in ihren Bestrebungen ganz selbstständig bleiben.300
295 296 297 298 299 300
Haushaltsplan des FDH 1895/96, S. 10, FDH-Hausarchiv. Haushaltsplan des FDH 1913/14, S. 7, FDH-Hausarchiv. GJb 1884, S. 377. Prot. AGA, 5.5.1885. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 103. Zit. nach Wolfgang Goetz, Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft, S. 18 ff.
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Geiger versprach, für die „entwickelten Pläne Propaganda [zu] machen“.301 Die Beziehungen des Hochstifts zur Goethe-Gesellschaft, die schließlich Geigers Goethe-Jahrbuch zum offiziellen Publikationsorgan bestimmte, waren dadurch von Anfang an belastet.302 Als Otto Speyer und Otto Donner von Richter dem Verwaltungsausschuss des Hochstifts den Vorschlag unterbreiteten, der Goethe-Gesellschaft beizutreten, um in den Besitz der Publikationen zu gelangen, lehnten das die Mitglieder ab.303 Allein Speyers Vorschlag, dass nur die Bibliothek des Hochstifts beitreten solle, fand Zustimmung. In den Diskussionen war „besonders das zurückhaltende Benehmen der Goethe-Gesellschaft gegenüber dem Hochstift getadelt wurde[n]“ und „[w]eitere Maßnahmen“ sollten „von den Kundgebungen der Goethe-Gesellschaft abhängen“.304 Irritiert war man auch über Gerüchte, dass in Frankfurt eine Ortsvereinigung unter Volgers Leitung geplant sei. Während kein offizieller Vertreter des Hochstifts bei der Gründung der Goethe-Gesellschaft in Weimar anwesend war, hatte sich Volger intensiv an der Konstituierungsphase beteiligt und die vergebliche Hoffnung gehegt, die Gesellschaft könne eine Richtung einschlagen, die er mit seiner Goethestiftung vorgezeichnet hatte. Eine Annäherung zwischen Hochstift und Goethe-Gesellschaft kam erst 1886 zustande. Das war der Haltung des Hochstifts zu verdanken, das der Weimarer Gesellschaft den ersten Rang als Vereinigung der nationalen Goetheforschung einräumte, denn die Pflege der Goethephilologie, welche für das Hochstift doch nur ein einzelner Teil seiner umfassenden Thätigkeiten werden könnte, nun dort in Verbindung mit dem reichen Schatze des Nachlasses ein festes Zentrum gefunden hat.305
1887 trat die Goethe-Gesellschaft schließlich dem Hochstift bei. Veit Valentin nahm 1887 das erste Mal an der Generalversammlung in Weimar teil und berichtete, dass er dort nun „allenthalben Beweise der großen Teilnahme und Billigung der jetzigen Bestrebungen des Hochstiftes erhalten habe“.306 Er wurde 1890 schließlich in den Vorstand gewählt. Das Hochstift besaß nun weder ein eigenes Organ zur Goetheforschung, wie es Volger geplant hatte, noch war man am Goethe-Jahrbuch beteiligt. Die Goetherezeption des Hochstifts musste in dessen allgemeinen Berichten ihren Platz finden. Goethe blieb ein präsentes Thema von Vorträgen in den allgemeinen Sitzungen und von Festvorträgen. In den Berichten wurde eine Abteilung „Literarische Mitteilungen“ platziert, die sich neuen Veröffentlichungen der Goethe- und Schillerforschung widmete. Dort gab es eine kommentierte Übersicht über die entsprechende Literatur. Als man 1902 die Berichte in ein Jahrbuch umwandelte, entstand die Abteilung „Aus Museum und Bibliothek“, die später in „Aus dem 301 302 303 304 305 306
Ebenda, S. 19. Über die Beziehungen vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 102–113. Prot. VA, 12.1.1886. Ebenda. Ber. FDH 1885/86, S. 55. Prot. VA, 27.5.1887.
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Goethemuseum“ umbenannt wurde. Dort finden sich die Beiträge zur Goetheforschung. Die bibliografische Übersicht fiel dagegen weg. Auch hier hatte sich das Goethe-Jahrbuch als Zentralorgan durchgesetzt. In den Grundlinien der Rezeption finden sich nun verstärkt Bezüge, welche die Reichsgründung und das Erbe des klassischen Dichters aufeinander beziehen. Das kleindeutsche Reich galt als gelungenes Resultat der nationalen Hoffnungen. Für die Goetherezeption, deren wechselvolle Geschichte im 19. Jahrhundert Otto Harnack reflektierte, bedeutete dies, dass die nationalen und politischen Kämpfe der Vergangenheit, die nun im Reich keine Rolle mehr spielten, ein harmonisches, der Politik abgewandtes Goethebild ermöglichten.307 Vorarbeit leistete dazu die „philologisch sich gestaltende Litteraturwissenschaft“, denn sie brachte eine Kontinuität in die wechselvolle Rezeptionsgeschichte und wurde seit 1860 eine „Macht im deutschen Geistesleben“.308 Goethe blieb in den Reden und Veröffentlichungen des Hochstifts immer ein Symbol für die Größe der deutschen Kultur, „Goethe ist in der Welt eine deutsche Kulturmacht geworden“.309 Diese Kulturmacht sollte auch dazu dienen, die sozialen Widersprüche zu überwinden. Die Vermittlung und Kenntnis von Goethes Werken im Rahmen der Volksbildung, an der sich das Hochstift beteiligte, sollten die Arbeiterschaft mit den bürgerlichen Kulturwerten vertraut machen und waren wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Sozialpolitik. Kostenlose Führungen im Goethehaus und Vorträge im Rahmen der Volksvorlesungen gehörten dazu.310 Wesentliche Impulse oder Alternativen einer nationalen Goethedeutung finden sich nicht in den Publikationen des Hochstifts. Auch in der Festkultur des Hochstifts zeigte sich der Wandel der Goetherezeption. Volger hatte die Goethefeier 1879 dazu nutzen wollen, jährliche Feiern in Frankfurt und ganz Deutschland, einschließlich Österreichs, zu initiieren, die er als nationale Volksfeste begriff. Goethe diente als Symbol „des Alldeutschen Vaterlandes“.311 Von den großdeutschen Ideen Volgers hatte man sich geräuschlos verabschiedet. Die neue Satzung schrieb nur vor, an Goethes und Schillers Geburtstagen Festsitzungen abzuhalten. Selbst ein entschiedener Gegner Volgers, wie Ludwig Geiger, der 1886 die Festrede zur Goethefeier im Hochstift hielt, bedauerte, dass fast im gesamten deutschen Vaterlande dieser Tag fest- und feierlos vorübergeht, dass höchstens einige Zeitungen in Artikeln auf die Bedeutung des Tages hinweisen.312
Erst 1899 organisierte das Hochstift eine Goethefeier zum 150. Geburtstag, die im ganzen Reich Beachtung fand.313 Diese Feier stand unter einem anderen Vorzei307 Otto Harnack, Wandlungen des Urteils über Goethe, in: Ber. FDH 1901, S. 47*–65*, hier S. 47*. 308 Ebenda, S. 60*. 309 Reinhold Steig, Goethe in Bettinens Darstellung, in: Jb. FDH 1904, S. 339. 310 Ber. FDH 1900, S. 27. 311 FDH (Hg.), Die Feier des Goethe-Tages, S. 15. 312 Ludwig Geiger, Zur Feier von Goethes Geburtstag, in: Ber. FDH 1886/87, S. 4 ff. 313 Vgl. Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus, S. 157–161 .
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chen als die von 1879. In ihren Ausmaßen erinnerte sie zwar die Zeitgenossen an die Schillerfeiern des Jahres 1859, aber die Frankfurter Zeitung bemerkte dazu: Allein während damals mit der Dichterfeier sich sehnsuchtsvolle Klage um unseres Volkes entschwundene Einheit und Freiheit verband, als deren Sänger man ihn liebte, verknüpft sich mit dieser Feier kein politischer Nebengedanke.314
„Vom festen Boden des neuen Reiches aus und darum sicherer, lebendiger und umfassender als vor vierzig Jahren“ wurde, so das Blatt, die Feier abgehalten.315 In Frankfurt veranstaltete man vom 19. bis 28. August eine Festwoche mit Ausstellungen, Theateraufführungen und Vorträgen. Höhepunkt bildeten aber die Veranstaltungen am 27. und 28. August. Am 27. August fand ein „Fest-Zug“ zum Goethedenkmal statt. Auf dem Paulsplatz versammelten sich am Morgen 200 Vertreter von Körperschaften, Kooperationen, Vereinen, Gewerkschaften und Schulen, die in einem Festzug, eingeteilt in neun Abteilungen, zum Goetheplatz zogen. Hinter den Abgeordneten des Magistrats, der Stadtverordnetenversammlung und der Handelskammer marschierten die Mitglieder des Hochstifts und der Weimarer Goethe-Gesellschaft an der Spitze des Zuges. Am Goethedenkmal hielt Oberbürgermeister Adickes eine kurze Ansprache und danach legten die Abordnungen ihre Kränze unter dem Gesang der Frankfurter Sänger-Vereinigung nieder. Am Abend veranstaltete man einen Fackelzug, an dem sich wiederum Vertreter aus 133 Körperschaften und Vereinen beteiligten und der auch am GoetheHaus vorbeiführte.316 Den 27. August hatte man deshalb für den großen Umzug gewählt, weil es ein arbeitsfreier Sonntag war. Am 28. August fand im Saalbau die „Akademische Feier“ statt, die zusammen vom Hochstift und der Goethe-Gesellschaft organisiert wurde. Das Hochstift und die Goethe-Gesellschaft hatten sich in Bezug auf den akademischen Teil der Feier in der Weise verständigt, dass je ein Vertreter der beiden Vereinigungen eine Festrede halten sollte, [...] [d]er auswärtige Redner sollte den Dichter und seine Geburtsstadt, der einheimische Redner dagegen den der Welt gehörigen Dichter und Denker feiern.317
Für die Goethe-Gesellschaft sprach deren Vizepräsident Erich Schmidt, für das Hochstift Veit Valentin. Neben Vertretern deutscher Universitäten waren Delegierte des Goethenationalmuseums, der Großherzoglichen Hofbibliothek, des Wiener Goethe-Vereins, der Goethe-Society aus London, der städtischen Behörden Frankfurts anwesend. Unter den Teilnehmern der Feier befand sich auch die Witwe Kaiser Friedrichs III., die Kaiserin Victoria. Die Feiern von 1899 symbolisierten den Anschluss des Hochstifts an die nationale Goetherezeption Weimars, die auf dem Boden des kleindeutschen Reiches Geist und Staat versöhnen wollte. Goethe wurde als Integrationsfigur des neuen 314 FZ, Nr. 238, 28.8.1899, FDH-Hausarchiv. 315 Ebenda. 316 Vgl. Officielles Fest-Programm zur 150jährigen Geburtsfeier von Johann Wolfgang von Goethe, Frankfurt a. M. 1899, FDH-Hausarchiv. 317 Ber. FDH 1900, S. 30.
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Reiches gefeiert und nicht mehr als ein Mittel der „Heilung“ gegen die „Übel“ von 1871, wie es Volger noch 1879 beabsichtigt hatte. Bernhard Suphan, Direktor des Goethe-Schiller-Archivs und Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft stellte 1898 Bismarck in die Nachfolge Goethes, was in den Berichten des Hochstifts mit Zustimmung registriert wurde. Wollen wir aber auch jenes andere geflügelte Wort aus Goethes Nachruf an Schiller gebrauchen, so mögen wir uns fort und fort dabei erinnern, daß wir zu dem stolzen Bewusstsein: ,Er war unser!´ dem Dichter wie dem Staatsmann gegenüber nur das Recht behalten, wenn und so lange wir jeder in seinem engen Kreise, wirken in dem großen Sinn, der jene belebte und aus ihren Werken mahnend zu den Nachkommen spricht.318
Das Hochstift erkannte Weimars Stellung als erste Goethestadt an und war bemüht, durch die Zusammenarbeit mit der Goethe-Gesellschaft das eigene Prestige zu fördern. Dazu sollte die Goethefeier von 1899 dienen. Nun besann man sich sogar wieder auf das Protektorat des Weimarer Großherzogs. 1882 hatte man die Tatsache geflissentlich übersehen und die Wünsche Carl Alexanders mit Blick auf die Neugestaltung des Hochstifts ignoriert. 1898 feierte man den achtzigsten Geburtstag des Großherzogs, den „auch das Hochstift als Protektor verehrt“ mit einem Glückwunschtelegramm.319 Man würdigte Carl Alexander als „ehrfurchtserheischende Persönlichkeit“, die Goethe mit unserer Nachwelt [...] vor allen Dingen durch den Ernst und die Begeisterung, mit der er die Tradition der klassischen Zeit aufrechterhält und mit der er es als seine Aufgabe betrachtet, alle Bestrebungen gleicher Richtung wirksam zu unterstützen und zu fördern.320
Auch das Volk spielte bei den Feiern 1899 nur mehr eine dekorative Rolle, deren Ton und Inszenierung das Bildungsbürgertum und die gesellschaftlichen Eliten angaben. In der vierten Abteilung des Festzugs marschierten die Gewerkschaften und Arbeitervereine Frankfurts. Auch die Arbeiterschaft brachte dem Genius Goethe´s ihre Huldigung dar, [...] [d]ie gewaltige Blumenspende der Gewerkschaften und der sozialistischen Arbeiterschaft galt, Dem Dichter des Egmont, Faust und Prometheus‘ und trug die Aufschrift: ,Gesetz ist mächtig, mächtiger ist die Noth!321
Die Arbeiter spielten keine zentrale Rolle in den offiziellen Feiern, aber durch ihre Kranzbeschriftungen wiesen sie auf ihre sozialen Bedingungen hin und würdigten ungebundene und emanzipatorische Figuren aus Goethes Werk. Volger hatte die Goethefeiern noch als Volksfeiern geplant, um durch eine „volkstümliche Goetheverehrung“ das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und „erhebend auf das Volk einzuwirken“.322 Was Volger 1879 noch im Sinne einer großdeutschen Gemeinschaft gedacht hatte, feierte man 1899 als Integration von Volkes und Reich. Noch in vielen spä318 319 320 321 322
Ber. FDH, 1898, S. 410. Ber. FDH 1899, S. 28. Ebenda. FZ, Nr. 238, 28.8.1899, FDH-Hausarchiv. FDH (Hg.), Die Feier des Goethe-Tages, S. 5.
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teren Festreden im Hochstift wurde auf die Bedeutung der Goethefeiern von 1899 Bezug genommen. „Alle Unterschiede des Stammes, des Glaubens, der politischen Parteistellung schienen vor Goethes übermächtiger Persönlichkeit damals wie ausgelöscht“.323 Das Fest wurde als „Versöhnungstag“ bezeichnet, am dem „der kleine Hader der Parteien einen kurzen Moment ruhte, daß einmal in einem Sinne die Deutschen einig waren“.324 Das entsprach dem „harmonischen Modell einer konfliktlosen Kooperation von Macht und Geist“, die für einen Teil der Goetherezeption des Kaiserreichs charakteristisch war.325
323 Reinhold Steig, Goethe in Bettinens Darstellung, in: Jb. FDH (1904), S. 339. 324 Jb. FDH 1909, S. V. 325 Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 209.
VIII. ZUSAMMENFASSUNG In seiner Untersuchung über das Verhältnis von Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main hat Andreas Hansert über die Gründung des Hochstifts durch Otto Volger bemerkt, dass „auch das gesteigerte praktische Engagement eines Vermögenslosen im öffentlichen Kulturleben bestimmte Resultate erzielen kann“.1 Das Hochstift wäre ohne Volger niemals ins Leben getreten und es war seinem prägenden Einfluss zu verdanken, dass es auch in den Jahrzehnten nach ihm seine Unabhängigkeit behaupten konnte. Seine Gründung im Jahre 1859 geschah infolge der nationalen Mobilisierung, die in Deutschland eine breite Öffentlichkeit erfasst hatte. Die landesweit veranstalteten Schillerfeiern waren ein eindrückliches Signal für den Wunsch, die nationale Einheit zu vollenden. Für Otto Volger, der 1848 nach seinem Engagement in der Revolution Göttingen für ein selbst gewähltes Exil in der Schweiz verlassen hatte und der 1856 aufgrund einer Dozentenstelle an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt Deutschland wieder betrat, blieb die nationale Einigung Deutschlands weiterhin ein vorrangiges Ziel. Auch für ihn galt, was Biefang über das politische Bürgertum schrieb: Die Mehrzahl der Beteiligten empfand das Ergebnis der Jahre 1848/49 als politisches und persönliches Versagen. [...] An einer generellen Überprüfung von politischer Theorie und Praxis kam kein politisch Denkender oder Handelnder vorbei.2
Für einen Großteil des Bürgertums und der politischen Funktionselite wird konstatiert, dass nunmehr politischer Idealismus durch Realpolitik verdrängt wurde. Auch Volger zog aus der gescheiterten Revolution seine Lehren. Allerdings bedeutete das für den Naturforscher Volger keinen Abschied von idealistischen Positionen. Vielmehr entwickelte er einen idealistisch gefärbten Kulturnationalismus, der großdeutsch-föderal geprägt war, auf die integrative Kraft von Bildung vertraute und die gesellschaftlichen, d.h. bürgerlichen Kräfte ansprach. Nicht die Revolution, sondern nur ein langsamer, aber stetiger Wandlungsprozess erschien ihm als einzig gangbarer Weg, um dauerhafte Veränderungen zu erreichen. Nationalismus und der Glaube an den ungebrochenen Fortschritt der Wissenschaften und Kultur waren die beiden Komponenten, denen sich das Hochstift mit seiner Gründung verschrieb. Volger zielte damit auf die Stärkung der „Kulturnation“, die er ausdrücklich gegenüber dem Modell der „Staatsnation“ favorisierte. Volgers nationale Vorstellungen speisten sich aus bekannten Diskursen, deren wesentliche Elemente aus der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft stammten. Unverkennbar dominierten die Einflüsse Fichtes, aber auch Ernst Moritz Arndt, 1 2
Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik, S. 285. Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland, S. 39.
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VIII. Zusammenfassung
Ludwig Jahn und Friedrich Rückert waren wichtige Stichwortgeber. Vor allem aber Fichtes Sprachtheorie und dessen Konzept einer Nationalerziehung, die er in den „Reden an die deutsche Nation“ formuliert hatte, besaßen eine prägende Wirkung auf Volgers Vorstellungswelt. Er griff jedoch auch auf ältere Traditionen zurück, etwa auf die Schriften Herders. Typisch für Volgers Nationalkonzept war die Bezugnahme auf einen imaginären Feind, den er in Frankreich sah. Die französische Nation diente ihm als eine negative Schablone, um die eigene nationale Identität umso wirkungsvoller darzustellen. Das Ergebnis dieses Vergleichs war die qualitative Auszeichnung der Deutschen als der hervorragendsten Nation aufgrund ihrer Stellung als führendstes Kulturvolk der Erde. Volgers Nationsbegriff war durch sprachliche, kulturelle und geschichtliche Merkmale charakterisiert. Besonders in den ersten Jahren des Hochstifts wurden immer wieder die Ausgrenzungstendenzen dieser Vorstellungen deutlich, die dazu dienten, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das sich zugleich über Abwertungs- und Abgrenzungstendenzen gegenüber anderen Nationen konstituierte. Rückgriffe auf Kultur und Geschichte waren Mitte des 19. Jahrhunderts eine übliche Methode, um das Nationalgefühl zu stärken. Institutionen wie das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, welches für Volger ein Vorbild war, beschritten diesen Weg. Dazu zählten auch die Gesellschaften und Akademien der Naturforscher und die Zusammenschlüsse der Geschichtsvereine. Das Hochstift, so der kühne Plan Volgers, sollte, auf diesen Zusammenschlüssen aufbauend, einst eine Art Zentralvereinigung dieser Initiativen darstellen. Diese Vorstellungen über die zukünftige nationale Einheit standen allerdings in Konkurrenz zu anderen Bewegungen, in denen sich ein national gesinntes Bürgertum politisch organisierte. Volgers Absage an jede Form von Politik geriet im Zeitalter der „Realpolitik“ ins Abseits. Ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit erwartete eine schnellere Lösung der nationalen Frage, bei der nicht zuletzt ganz praktische machtpolitische, wirtschaftliche und soziale Aspekte eine Rolle spielten, gegenüber denen ein idealistischer Kulturnationalismus wenig konkrete Antworten und Perspektiven bot. Volgers Nationsbegriff verlor in den nächsten Jahrzehnten rapide an Anziehungskraft. Die kleindeutsche Staatsnation, die das Kaiserreich 1871 darstellte, entsprach nicht seinem weit gefassten, großdeutschen Kulturnationalismus. Die alten nationalen Feindbilder verloren an Bedeutung, da es Volger nun darum ging, seine Vorstellungen gegen eine verfehlte Nationsbildung zu behaupten. Den neuen „Reichsnationalismus“, der Deutschlands Stärke auf Militär und Preußentum zurückführte, lehnte Volger entschieden ab. Andere Institutionen, wie das Germanische Nationalmuseum, passten sich dagegen nach 1866 schneller den neuen Gegebenheiten an und begrüßten schließlich die Reichsgründung. Für Volger blieb diese vielmehr ein Ärgernis und wurde zum Menetekel einer allgemeinen Krise, in der er die Bedeutung der kulturellen Normen und Orientierungen in Gefahr sah. In diesem Zusammenhang griff er in den sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit“ mit einer antisemitischen Stellungnahme ein, obwohl das Hochstift bisher keinen Unterschied zu den jüdischen Mitgliedern gemacht
VIII. Zusammenfassung
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hatte. Viele der fast zweihundert jüdischen Mitglieder waren empört, dass Volger dazu sogar auf die Berichte des Hochstifts zurückgriff, um seinen Beitrag zu veröffentlichen. Anders als beispielsweise Heinrich von Treitschke nutzte Volger die Debatte, um nicht nur mit den Liberalen ins Gericht zu gehen, sondern um zugleich die verfehlte nationale Einheit anzuprangern. Volger hielt auch nach 1871 weiterhin an einer gemeinsamen Kulturnation unter Einschluss Österreichs fest. Im Wiener Vielvölkerreich unterstützte das Hochstift nach 1871 die hegemonialen Ansprüche der deutschen Volksgruppen, die sich an die Vorrangstellung deutscher Kultur und Sprache knüpften. Hier hatte, anders als im übrigen Deutschland, der kulturelle Nationalismus nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Ähnlichen Initiativen der deutschen Minderheiten im Baltikum und im russischen Zarenreich begegnete man ebenfalls mit Sympathien. Im beginnenden Zeitalter des europäischen Imperialismus, der auch in Deutschland verstärkt eine Begeisterung für koloniale Erwerbungen weckte, sah Volger ein weiteres Betätigungsfeld, um die Überlegenheit der deutschen Kultur zur Geltung zu bringen. Allerdings sollte die Zivilisierung Afrikas in Kooperation mit den europäischen Großmächten erfolgen. Viele dieser Vorstellungen entsprangen Volgers Denkweise und waren seinem dominierenden Einfluss als Obmann zu verdanken. Als er 1881 schließlich von seinem Posten verdrängt wurde, verschwand mit ihm auch sein Kulturnationalismus aus dem Hochstift. Langfristig Einfluss übten Volgers Vorstellungen über die Bildungsfunktionen im Hochstift aus. An Volgers Bildungsbegriff wurde dargestellt, wie eng er zunächst mit nationalen Vorstellungen verknüpft war. Das äußerte sich etwa in Volgers Vorhaben, eine „Deutsche Wissenschaft“ zu begründen, für die er bereits ein eigenes Instrumentarium entwickelt hatte. Selbst die Naturwissenschaften sollten 1859 nationalisiert werden. Die Bildung diente im Hochstift als verbindendes Element im Sinne der Kulturnation. Frankfurt sollte sich für dafür zu einer Kommunikationszentrale entwickeln, in der das Hochstift eine nationale Wissenschafts- und Künstlerakademie sowie eine freie Hochschule gründen wollte. Kommunikation in Form von Zusammenschlüssen und Kooperationen auf lokaler und nationaler Ebene waren wesentliche Elemente in diesem Konzept, das durch Bildung eine Nation formen wollte. Im Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Popularisierung zeigte sich, dass Volger einen weit gefassten Begriff von Wissenschaft vertrat, der auch jenen Bereich einschloss, die man als Amateurwissenschaft bezeichnet. Gerade in der Frühzeit des Hochstifts spiegelte sich diese Auffassung in der Haltung zu den Universitäten wider. Sie galten als reformunfähig und aufgrund der staatlichen Kontrollen über den Lehrbetrieb als wenig dazu geeignet, den Wissenschaften die notwendigen Freiräume zu geben. Volger und seine Mitstreiter setzten ganz auf unabhängige Vereine und wissenschaftliche Gesellschaften. In ihnen konnten auch solche Personen wissenschaftlich tätig sein, denen wegen mangelnder Bildungspatente oder politischer Verfolgung die Universität verschlossen blieb. In dieser Hinsicht konnte im Hochstift jeder in die Klasse der Meisterschaft aufsteigen. Diese Ideen scheiterten aber an vielfältigen Hemmnissen. Besonders erschwerend war die Tatsache, dass die erwarteten Zusammenschlüsse mit anderen
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Vereinen nicht zustande kamen, dass das Hochstift weiterhin nur eine singuläre Stellung einnahm. Gleichzeitig nahmen die Wissenschaften im Rahmen der Universitäten einen neuen Aufschwung. Selbst der Betrieb einer Hochschule im Rahmen des Hochstifts war kaum über erste Ansätze hinausgelangt. So war die Reorganisation des Hochstifts eine notwendige Anpassung an die äußeren und inneren Entwicklungen. Hauptziel der Bildungstätigkeiten nach 1881 war die Wissenspopularisierung für ein bürgerliches Publikum, das sich in Lehrgängen verschiedener Fachbereiche organisierte. Besonders den weiblichen Mitgliedern, die damals noch von vielen Ausbildungsmöglichkeiten ausgeschlossen blieben, bot das Vortragsprogramm die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Für die akademisch gebildeten Mitglieder boten die Fachabteilungen die Möglichkeit, sich gemeinsam über die Entwicklung ihrer Disziplinen zu unterrichten und auszutauschen. Der Sektion für Volkswirtschaft gelang es sogar, durch ihre statistischen Untersuchungen und Kongresse die Basis zu schaffen, um Wissenschaftler und praktische Sozialpolitiker zu vereinen und damit reichsweit Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erregen. Im Verhältnis des Hochstifts zur Stadt und den kommunalen Behörden kann als ein Ergebnis festgehalten werden, dass man vonseiten des Hochstifts und Volgers bereits in der Phase der Gründung an Kooperationen interessiert war. In der Konzeption des Hochstifts, Frankfurt zu einem Mittelpunkt für die Wissenschaften und Künste zu machen, spielten die Kommune und das städtische Bürgertum eine wichtige Rolle. Von ihnen erhoffte man sich nicht zuletzt eine finanzielle Unterstützung dieser Pläne und forderte in diesem Zusammenhang ein stärkeres öffentliches Engagement für alle Bereiche der Kultur. Um Vereine gezielt zu fördern, sollten kommunale Subventionen und Zuschüsse den bisherigen Trägerformen der Bürgerkultur, etwa dem Mäzenatentum, zur Seite gestellt werden. Hier zeigte sich, dass bereits im Rahmen des Hochstifts erste konkrete Überlegungen hinsichtlich einer kommunalen Kulturförderung seit Anfang der 1860er Jahre nachweisbar sind. Diese Formen der Zusammenarbeit hatte Volger auch für die Institutionen der Bürgerkultur gefordert. Kooperationen zwischen dem Hochstift und den Frankfurter Vereinen und Stiftungen sollten in Frankfurt bereits auf lokaler Ebene ein Netzwerk bilden, um die Stadt zu einer „Kulturhauptstadt“ zu entwickeln. Das Zögern der Frankfurter Vereine und Volgers wachsende Unduldsamkeit haben die ersten Ansätze dieser Zusammenarbeit verdeckt. Vor allem Volgers Agitationen gegen die Stadtbehörden, die in einen offenen Kampf mit dem Magistrat ausarteten, bei dem der Obmann sein persönliches Schicksal mit dem des Hochstifts verband, überschatteten die letzten Jahre seiner Amtszeit. Sie prägten das nachhaltige und einseitige Bild einer tiefen Kluft zwischen Hochstift, städtischen Behörden und Vereinen. Nach 1881 entwickelte sich das Hochstift zu einem der wichtigsten Vereine für die Erwachsenbildung. Indem es sich den Bildungsbedürfnissen des meist bürgerlichen Publikums öffnete und mit anderen Vereinen wieder in engere Kooperationen trat, konnte es seine Ressourcen auch für den Bereich der Volksbildung einsetzen. In diesem Sinne leistete das Hochstift Vorarbeiten, die dann spä-
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ter vom Institut für Gemeinwohl und der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften übernommen wurden. Die Konzentration auf die allgemeine Erwachsenbildung, aber auch die seit der Jahrhundertwende zunehmende museale Beschäftigung führte dazu, dass sich das Hochstift nicht in die Universitätsgründung einbrachte. Führende Initiatoren, wie der Frankfurter Oberbürgermeister Adickes, hielten das Hochstift aus der Bildung der Stiftungsuniversität heraus, weil sie es als eine Institution für die Volksbildung betrachteten. Besonders eindrücklich konnte das gewandelte Verhältnis zu den städtischen Behörden am Beispiel des Goethehauses aufgezeigt werden. Während Otto Volger vergeblich mit der Stadt über eine Unterstützung der Kommune für das Haus verhandelt hatte, begann ab 1881 eine Phase intensiver Zusammenarbeit. Die Stadt erkannte ihre Verpflichtung gegenüber dem historischen Baudenkmal an. Mithilfe städtischer Darlehen konnten Grundstücke erworben werden, deren geplante Bebauung das „Denkmalensemble Goethehaus“ bedrohte. Schließlich ermöglichten kommunale Darlehen den Bau eines Museums- und Bibliotheksgebäudes. Die wachsende Bereitschaft der Kommune, sich für die Förderung der kulturellen Belange zu engagieren, kam den Bedürfnissen des Hochstifts entgegen, das auf diese Kooperation angewiesen war. Allerdings ergaben sich nun neue Konflikte. Am Beispiel des geplanten Erweiterungsbaus für das Museum wurde deutlich, dass die Kommune ein immer größeres Mitsprache- und Gestaltungsrecht einforderte, zumal sie öffentliche Gelder investierte, während das Hochstift darauf bedacht war, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Der Erste Weltkrieg beendete schließlich abrupt die schleppenden Verhandlungen. Mit Blick auf die Goetherezeption wurde zunächst der Erwerb des Goethehauses als Nationaldenkmal beschrieben, was den Anspruch des Hochstifts untermauern sollte, im Sinne einer kulturellen Nationsbildung zu wirken. Bereits vor dem Ankauf des Hauses durch Volger existierten Initiativen, es als öffentliche Gedenkstätte zu sichern. Die Einrichtung des Goethehauses als Gedenkstätte und Museum entsprach der damaligen Entwicklung, Dichterhäuser als Memorialstätten zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen. Neben diesen Funktionen trat die Beschäftigung mit Goethe im Hochstift immer stärker in den Vordergrund. Schon Volger plante, eine Goethebibliothek einzurichten und die wissenschaftliche Goetherezeption voranzutreiben. Eine zentrale Rolle nahm die Goetherezeption unter Volger im Blick auf die nationale Entwicklung ein. Goethe galt nicht nur als Symbol der deutschen Kulturmacht, sondern Volger stellte dieses Symbol in den Dienst seiner Nationsidee. Als das Epochenjahr 1866 die großdeutschen Einigungshoffnungen zu begraben drohte, entwickelte Volger eine Goethedeutung, die das Ideal eines bürgerlichen Dichters vertrat, das er gegen die sich abzeichnende kleindeutsche Reichsgründung positionierte. Nach der Reichsgründung stellte Volger die Goetherezeption weiterhin in den Dienst der großdeutschen Kulturnation, suchte aber nun nach neuen Verbündeten, die er in Gestalt des Weimarer Großherzogs fand. Das Ziel des Zusammenwirkens mit Weimar sollte eine nationale Goethestiftung werden, die unter Leitung des
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Hochstifts und dem Schutz der Weimarer Dynastie Frankfurt und Weimar vereinen sollte. Die Stiftung sollte Museen und Archive unterhalten, um eine Goetheforschung zu fördern, die sich als gesamtdeutsche Unternehmung verstand und ausdrücklich Österreich mit einschloss. Volger förderte in der Rezeption des Hochstifts einen Goethemythos, der alle Embleme trug, die eine gleichzeitige Rezeptionstradition benutzte, um mit ihnen die harmonische Vereinigung von Kultur- und Staatsnation seit 1871 zu behaupten. Diese Strömung erhielt später im Rahmen der 1885 gegründeten Weimarer Goethe-Gesellschaft eine institutionelle Form, wobei auch im Rahmen dieser literarischen Gesellschaft die Deutungsmuster und Beiträge zu differenzieren sind. Eine detaillierte Untersuchung der Goetherezeption in der Goethe-Gesellschaft stellt noch ein Desiderat dar. Fast unbemerkt blieb aber die Tatsache, dass die alternative Goethedeutung des Hochstifts, wie sie Volger in der Idee einer Goethestiftung niederlegte, in Weimar mit Sympathie aufgenommen wurde. Großherzog Carl Alexander, der spätere Schirmherr der Goethe-Gesellschaft, war bereit, auf Volgers Vorstellungen einzugehen und befürwortete dessen Ideen in ihren Grundsätzen. Allerdings muss offenbleiben, inwieweit diese Pläne zur Realisierung gelangt wären, da sie durch Volgers Abwahl ein jähes Ende fanden und selbst im Hochstift danach nie wieder thematisiert wurden. Für Volger ging es bei der Goethestiftung ja gerade auch um den Weimarer Nachlass des Dichters und dessen Erschließung, um die Deutungshoheit seines Goethebildes zu bekräftigen. Anhand der Goetherezeption nach 1881 im Hochstift konnte aufgezeigt werden, dass sie nicht an die früheren nationalen Entwürfe Volgers anknüpfte. Zunächst geriet die Goethepflege sogar in Gefahr, hinter die anderen Tätigkeiten zurückzutreten. Die stetige Vergrößerung der Sammlungen und die beschränkten Platzverhältnisse führten allerdings zur Errichtung eines eigenen Goethemuseums und das stärkte wiederum die Goethepflege im Hochstift. Im Blick auf die nationale Goetherezeption beschränkte man sich in Frankfurt auf die lokalen biografischen Bezüge des Dichters oder spezialisierte sich auf bestimmte Themen, wie den Fauststoff. Dagegen überließ man der Weimarer Goethe-Gesellschaft und dem dortigen Archiv die führende Stellung in der Goetheforschung. Besonders deutlich wurde diese Veränderung anhand der wechselnden Festkultur, die sich mit dem Namen Goethe im Hochstift verband. Otto Volger hatte 1879 beabsichtigt, jährliche Goethefeiern am 28. August zu etablieren, die als nationale Volksfeste im Zeichen „Alldeutschlands“ stehen sollten. Dieser Vorschlag fand weder in Frankfurt noch später in den Reihen des Hochstifts eine Resonanz. Im Hochstift setzte sich vielmehr die Ansicht durch, dass das kleindeutsche Reich die ersehnte nationale Einheit verkörpert. In verschiedenen Reden und Aufsätzen spiegelte sich die diese Auffassung wider. Symbolisch dafür stand die Goethefeier des Jahres 1899, die Hochstift und Goethe-Gesellschaft vereinte. Die gesellschaftlichen Eliten gaben nun den Ton der Feiern an, die man als Versöhnung von Kultur und Staat inszenierte.
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Nun erschien das Kaiserreich, zumindest als Nationalstaat, als das „vermeintliche[n] Ziel deutscher Geschichte“.3 Davor hatte bereits 1863 der Historiker und Archivar des hannoverschen Königs, Onno Klopp (1822–1903), gewarnt: Nachdem ich nämlich seit langer Zeit mich überzeugt hatte, wie sehr die einseitig kleindeutsche Richtung in der deutschen Geschichtsschreibung vorherrsche, wie sehr dadurch die Thatsachen der Vergangenheit in ein falsches Licht gestellt, wie verwirrend dadurch auf das Urtheil der Deutschen in der Gegenwart eingewirkt werde, faßte ich den Entschluß, so viel ich vermöchte, dieser Richtung entgegenzutreten.4
Während Klopp damals sein Vorhaben als publizistisch-historischen Debattenbeitrag, etwa gegen Heinrich von Sybel, verstand, bei der es beispielsweise um die Bewertung der Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges oder das Wirken des Preußenkönigs Friedrich II. ging, befand er sich 1866, wie sein gleichaltriger Landsmann Otto Volger, mitten in der politisch-militärischen Auseinandersetzung. Klopp begleitete „seinen“ König Georg V. auf das Schlachtfeld von Langensalza und ging mit ihm schließlich in das Wiener Exil, in dem Klopp weiterhin als „Verfechter einer großdeutschen Idee“ publizierte und für die dynastische Legitimität des Hauses Hannovers eintrat.5 Für das Andenken Georg V. im Hochstift setzte sich auch Volger nach 1866 noch ein. Später aber dominierte in der Historiographie lange jene Richtung, die dem kleindeutschen Nationalstaat Legitimation verlieh, wenn auch weiterhin – man denke etwa an die welfischen Parteigänger und nicht zuletzt auch an Otto Volger – alternative Nationsvorstellungen fortlebten, deren Wirken hier beispielhaft beschrieben wurde. Die „deutsche Einheit wurde nicht mit den Waffen des Geistes, sondern durch Blut und Eisen erkämpft“6 und das Hochstift passte sich später den Ergebnissen der „realen Mächte“ an, aber es blieb, bedingt durch die liberal-demokratischen Tradition Frankfurts und seines Gründers eine unabhängige Institution des Bürgertums. Als solche entwickelte es genuin bürgerliche Integrationsleistungen für die Gesellschaft des Kaiserreichs, die dabei weiterhin auf die „Waffen des Geistes“ setzten, nämlich auf die integrative Funktion von Bildung und Kultur. Insofern verkörperte es sowohl für die Geschichte der bürgerlichen Nationalbewegung als auch für die Geschichte des Bürgertums in einem konkreten städtischen Rahmen ein außerordentliches Beispiel, dessen Beständigkeit auf die oft unterschätzten bürgerlichen Traditionen verweist.
3 4 5 6
Dieter Langewiesche, ,Nation‘, ,Nationalismus‘, ,Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, S. 9. Onno Klopp, Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, S. V. Holger Th. Gräf, Reich, Nation und Kirche in der Gross- und kleindeutschen Historiographie, S. 387. Jb. FDH 1909, S. XI.
IX. TABELLEN1
Tabelle 1: Mitgliederstruktur bei Gründung des FDH 1859
1
Alle Tabellen wurden vom Verfasser erstellt und beziehen sich auf die gedruckten Mitgliederlisten der genannten Jahre. Der Verfasser hat zudem nur die lebenden Mitglieder jener Jahre berücksichtigt, denn in Volgers Amtszeit wurden auch die verstorbenen Mitglieder aufgeführt.
IX. Tabellen
Tabelle 2: Mitgliederstruktur der Genossen und Meister 1864
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IX. Tabellen
Tabelle 3: Mitgliederstruktur der Genossen und Meister 1876
IX. Tabellen
Tabelle 4: Mitgliederstruktur 1885 und 1908
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IX. Tabellen
Tabelle 5: Mitgliederstruktur der Fachabteilungen 1885
IX. Tabellen
Tabelle 6: Herkunft der Mitglieder 1885 und 1908
383
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IX. Tabellen
Tabelle 7: Mitgliederstruktur der Fachabteilungen 1908
X. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 1. VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN AA AFGK AfV AGA AKG Ber. FDH FAZ FDH FN FZ GDNA GG GJb HJb HZ Jb. FDH Jb. GG OS PA Prot. SNG VA VDNA VS
= Akademischer Ausschuss = Archiv für Frankfurts Geschichte und Kultur = Ausschuss für Volksvorlesungen = Akademischer Gesamtausschuss = Archiv für Kulturgeschichte = Berichte des Freien Deutschen Hochstiftes = Frankfurter Allgemeine Zeitung = Freies Deutsches Hochstift = Frankfurter Nachrichten = Frankfurter Zeitung = Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte = Geschichte und Gesellschaft = Goethe-Jahrbuch = Historisches Jahrbuch = Historische Zeitschrift = Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts = Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft = Ordentliche Sitzung = Pflegamt = Protokoll = Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft = Verwaltungsausschuss = Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte = Verwaltungssitzung
2. UNGEDRUCKTE QUELLEN 1.
Archiv des Offenbacher Vereins für Naturkunde a) Protokollbücher b) Briefwechsel Otto Volger
2.
Freies Deutsches Hochstift a) Frauenfrage b) Haushaltspläne c) Mitgliedsakten d) Nachlass Otto Volger e) Protokollbücher
3.
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main a) Magistratsakten
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X. Quellen- und Literaturverzeichnis b) c) d)
Protokolle der Stadtverordnetenversammlung Otto Volger, Sammlung Personengeschichte S2, 7.424 Senatsprotokolle
4.
Stadtarchiv Göttingen a) Göttingensche Wochenzeitung für Stadt und Land (Jahrgang 1848), Göttingen. b) Göttingensches Bürgerblatt (Jahrgang 1848), Göttingen. c) Hannoversche Zeitung (Jahrgang 1848), Hannover.
5.
Universitätsarchiv Göttingen a) Criminalia Untersuchungs-Acten wider den Dr. philos. Georg Heinrich Otto Volger zu Göttingen wegen Verleumdung der Beamten des Königl. Amtes Bovenden D XXVIII 21 (1) b) Personalakte Philosophische Facultäts Lehrer, Privat Docenten, Dr. phil. Volger 4/Vc 56.
3. PERIODIKA UND ZEITSCHRIFTEN Allgemeine Deutsche Biographie (1875–1912), (München und Leipzig). Allgemeine Zeitung, (Stuttgart und Augsburg). Amtlicher Bericht über die VDNA, vers. Orte. Berichte des Freien Deutschen Hochstiftes zu Frankfurt am Main (1882–1901), (Frankfurt am Main). Berichte des Offenbacher Vereins für Naturkunde (1859–1966), (Offenbach am Main). Bericht über die Senckenbergische naturforschende Gesellschaft (Frankfurt am Main) Berichte über die Verhandlungen des Freien Deutschen Hochstiftes für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung in Goethe´s Vaterhause zu Frankfurt a. M. (1859–1881), (Frankfurt am Main). Blätter für literarische Unterhaltung, (Leipzig). Bonplandia, Zeitschrift für die gesammte Botanik, Organ für Botaniker, Pharmaceuten, Gärtner, Forst- und Landwirthe, (Hannover). Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur, (Berlin). Deutsches Kunstblatt, (Leipzig). Deutsches Museum, Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, (Leipzig). Didaskalia, Blätter für Geist, Gemüth und Publizität, (Frankfurt am Main). Die Gartenlaube, Illustriertes Familienblatt, (Leipzig). Die Hilfe, Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe (Berlin). Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt am Main) Frankfurter Jahrbücher, Eine Zeitschrift für die Erörterung hiesiger öffentlicher Angelegenheiten, (Frankfurt am Main). Frankfurter Konversationsblatt, Belletristische Beilage der Oberpostamts-Zeitung, (Frankfurt am Main). Frankfurter Nachrichten, Extrabeilage zum Intelligenzblatt der Freien Stadt Frankfurt, (Frankfurt am Main). Frankfurter Zeitung, (Frankfurt am Main). Goethe-Jahrbuch, (Frankfurt am Main/Weimar/Göttingen). Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt (Frankfurt am Main) Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, (Berlin).
X. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts ( ab 1902), (Frankfurt am Main/Tübingen). Jahrbücher zur Schiller=Stiftung, (Dresden). Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft zu Emden, (Emden). Jahresbericht der Wetterauischen Gesellschaft für die gesammte Naturkunde, (Hanau). Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main, (Frankfurt am Main). Magazin für die Literatur des Auslandes, (Leipzig). Mittheilungen aus Justus Perthes´ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie, (Gotha). Mittheilungen der Kaiserlich-Königlichen Geographischen Gesellschaft, (Wien). Neue Deutsche Biographie, (Berlin). Neues Bayerisches Volksblatt (Stadtamhof). Neujahrsblatt, den Mitgliedern des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt am Main, (Frankfurt am Main). Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart (Altenburg). Sozialpolitisches Centralblatt (Berlin). Stimmen der Zeit, Monatsschrift für Politik und Literatur, (Leipzig und Heidelberg). Süddeutsche Zeitung (München). Volksfreund für das Mittlere Deutschland (Frankfurt am Main). Wochenblatt des Deutschen Reformvereins, Organ der Großdeutschen Parthei (Frankfurt am Main).
4. GEDRUCKTE QUELLEN UND LITERATUR 100 Jahre Frankfurter Goethe-Museum. Reden beim Festakt zur Wiedereröffnung am 20. Juni 1997, in: Jb. FDH 1997, S. 313–344. Abhandlungen des frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache, Bd. 1, Frankfurt am Main 1818. Adam, Thomas/Frey, Manuel (Hg.): Stiftungen seit 1800. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 2009. Adler, Fritz: Freies Deutsches Hochstift. Seine Geschichte. Erster Teil 1859–1885, Frankfurt am Main 1959. Achinger, Hans: Wilhelm Merton in seiner Zeit, Frankfurt am Main 1965. Aldenhoff, Rita: Kapitalismusanalyse und Kulturkritik. Bürgerliche Nationalökonomen entdecken Karl Marx, in: Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Kaiserreich, Frankfurt am Main 1993, S. 78–94. Amburger, Erik (Hg.): Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, Bd. 3), Berlin 1976. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, (Mit einem Nachwort von Thomas Mergel), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1996. Appell, J. W.: Das Haus mit den drei Lyren und das Goethedenkmal in Frankfurt a. M., Frankfurt am Main 1849. Arnsberg, Paul: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution (Herausgegeben vom Kuratorium für Jüdische Geschichte e. V., Frankfurt am Main, Bearbeitet und vollendet durch Hans-Otto Schembs), Bd. 1: Der Gang der Ereignisse, Bd. 2: Struktur und Aktivitäten der Frankfurter Juden, Bd. 3: Biographisches Lexikon, Darmstadt 1983. Ash, Mitchell G. (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien u. a. 1999. Ash, Mitchell G.: Wissenschaftspopularisierung und Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert, in: GG 28 (2002), S. 322–324.
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X. Quellen- und Literaturverzeichnis
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X. Quellen- und Literaturverzeichnis
389
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X. Quellen- und Literaturverzeichnis
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5. ABBILDUNGSNACHWEISE Frankfurter Goethe-Museum / Freies Deutsches Hochstift S. 46, 88, 283, 297, 327
Michael Maaser
Humanismus und Landesherrschaft Herzog Julius (1528-1589) und die Universität Helmstedt
Frankfurter historische abhandlungen – band 46 Die Geschichte der Universität Helmstedt während der Regierungszeit des Herzogs Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel ist die Geschichte eines Erfolgs. Seinem Nachfolger Heinrich Julius hinterließ der Gründer der Julia eine Hochschule, die über vier funktionierende Fakultäten mit angesehenen Lehrern verfügte und die zu den bestbesuchten Anstalten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zählte. Im Todesjahr Julius’, 1589, frequentierten 340 Studenten die Helmstedter Universität, fast ebenso viele wie die Universitäten in Leipzig und Frankfurt an der Oder. Nur die Leucorea in Wittenberg verzeichnete zu dieser Zeit mehr Besucher. Herzog Julius legte seiner Gründung ein humanistisches Wissensideal zugrunde. Die Praxis und das Ergebnis kann man als späthumanistisch charakterisieren, wenn man den Begriff im Sinne einer Öffnung der Wissenschaften gegenüber der Welt auffasst. Aus dem Inhalt Einleitung | Gründung der Universität Helmstedt | Theologische Fakultät | Medizinische Fakultät | Juristische Fakultät | Artistische Fakultät | Quellen und Literatur
222 Seiten 978-3-515-09177-0 gebunden
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Das anlässlich der Schillerfeiern im Jahre 1859 in Frankfurt am Main von Otto Volger gegründete Freie Deutsche Hochstift entfaltete als bürgerlicher Bildungsverein zahlreiche Initiativen. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 unternahm es den Versuch, den Prozess der Nationsbildung durch die Vermittlung von Bildung und Kultur voranzubringen. Zu seinen Impulsen für die kulturelle Nationsbildung zählten unter anderem die Errichtung einer Nationalakademie und einer freien Hochschule. Dahinter stand die Absicht, eine bürgerlich-demokratische Alternative
zu den bestehenden Formen der staatlich-bürokratischen Verwaltung zu etablieren. Viele seiner hochgesteckten Ziele konnte das Hochstift nicht verwirklichen, die kleindeutsche Reichsgründung von 1871 durchkreuzte sein föderatives Nationskonzept. Dennoch gelang es dem Hochstift, nicht zuletzt durch den Besitz des Frankfurter Goethehauses, sich zu einem bedeutenden bürgerlichen Bildungs- und Kulturinstitut zu entwickeln, dessen Traditionen bis in die Gegenwart fortwirken.
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ISBN 978-3-515-11448-6