Ein Mensch zeugt einen Menschen: Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung

Diese Arbeit wurde zuerst veröffentlicht in der Fesischrift 'Einsichten. Für Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag.

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German Pages 65 [70] Year 1963

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Ein Mensch zeugt einen Menschen: Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung

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KLAUS

OEHLER

Ein Mensch

zeugt einen Menschen Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung

I5] VITIORIO KLOSTERMANN FRANKFURT AM MAIN

Klaus Oehler . Ein Mensch zeugt einen Menschen

KLAUS

OEHLER

Fin Mensch

zeugt einen Menschen Über den Mißbrauch der Spracbanalyse in der Aristotelesforschung

[6]

[numm a

VITTORIO

KLOSTERMANN

FRANKFURT

AM

MAIN

WISSENSCHAFT

UND

GEGENWART

HEFT 27

Diese Arbeit wurde zuerst veróffentlicht in der Festschrift „Einsichten. Für Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag”, die 1962 im gleichen Verlag erschienen ist. ©

1963 bei Vittorio Klostermann

Frankfurt am Main

Druck: Julius Beltz Weinheim/Bergstraße Printed in Germany

VORWORT

Die nachfolgende Abhandlung erschien 1962 als Beitrag zur Festschrift für Gerhard Krüger. Seitdem ist von verschiedenen Seiten wiederholt angeregt worden, die Abhandlung durch einen Einzeldruck leichter zugänglich zu machen. Der Verlag hat diesem Wunsch großzügigerweise entsprochen. Herrn Vittorio Klostermann gilt dafür mein besonderer Dank.

z. Z. Dumbarton Oaks Research Library of Harvard University

Klaus Oehler

Die Aristotelesforschung steht heute wieder an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer Geschichte. Die in den letzten Jahrzehnten die Forschung maßgeblich bestimmende Methode war die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise. Sie hatte nach einer langen Vorherrschaft der systematischen Auslegung einen neuen Zugang zum Werk des Aristoteles freigelegt. Wie problematisch auch immer die Unterscheidung zwischen einer systematischen und einer entwicklungsgeschichtlichen Interpretation im Grunde sein mag, so ist es doch ein historisches Faktum, daß die sogenannte entwicklungsgeschichtliche Aristotelesauslegung zu wesentlich neuen Einsichten geführt hat. Es ist als eine Folge der Verabsolutierung der genetischen Betrachtungsweise anzusehen, wenn heute in der Aristotelesforschung das Bewußtsein von den Grenzen dieser Methode stärker entwickelt ist als das Vertrauen in ihre Zuverlássigkeit. Unbeschadet ihrer großen Verdienste ist die entwicklungsgeschichtliche Aristotelesauffassung ein Opfer ihrer Einseitigkeit geworden. In dieser Situation der Forschung treten verständlicherweise die lange vernachlássigten sachlichen Probleme der Aristotelischen Philosophie wieder in den Vordergrund. Dabei zeigt es sich unter anderem, daß den Reflexionen des Aristoteles auf die Sprache eine sehr viel größere Aufmerksamkeit zuteil wird, als das früher geschehen ist. Das steht in engem Zusammenhang mit wissenschaftstheoretischen Fragen unserer Zeit und ist nur verständlich, wenn man diesen Zusammenhang kennt. Diese Kenntnis ist um so wichtiger, als der Versuch unternommen wird, der Sprache bei Aristoteles eine Funktion zukommen zu

lassen, die sie bei Aristoteles nicht hat. Die sprachanalytische Aristotelesinterpretation beruht auf den systematischen Voraussetzungen der Sprachanalyse des Neopositivismus, und es ist daher für den fol7

genden Nachweis erforderlich, zunüchst die Grundzüge der neopositivistischen Sprachanalyse zu skizzieren, um dann die systematische Abhängigkeit der sprachanalytischen Aristotelesinterpretation von der Sprachanalyse des Neopositivismus aufzeigen zu können. Im zweiten Teil der Arbeit wird die ontologische Bedeutung des Aristotelischen Argumentes „Ein Mensch zeugt einen Menschen“ herausgearbeitet und gezeigt, daß die Prinzipien von Aristoteles nicht als bloß formale Einteilungsgesichtspunkte ohne inhaltliche Bestimmung verstanden werden, wie die sprachanalytische Interpretation behauptet, sondern daß Aristoteles die Prinzipien als aktuelle Entitäten verstanden hat.

I

Neopositivistische Sprachanalyse und Aristotelesforschung Der logische Positivismus ist innerhalb der verschiedenen Strömungen der gegenwärtigen Philosophie eine bestimmte Bewegung, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts entstanden ist. Er ist eine Konsequenz

des älteren Positivismus, von dem er sich aber vor

allem dadurch unterscheidet, daß in ihm, dem logischen Positivismus oder Neopositivismus!, die Sprache und die Logik die zentralen Probleme sind. Ihren Ausgang hat diese Bewegung genommen von dem Wiener Kreis und denen, die diesem Kreis nahestanden.

Schon früh

bestanden Verbindungen ins Ausland, vor allem nach England und Amerika. Die politischen Ereignisse der DreiDiger Jahre veranlaßten mehrere Mitglieder dieses Kreises, Österreich zu verlassen. Die Wirkung ihrer Lehren im angelsáchsischen Sprachbereich war bedeutend und hat sich seitdem kontinuierlich vergrößert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wirkt diese Bewegung auf den europäischen Kontinent zurück. Das charakteristische Kennzeichen der neopositivistischen Bewe1. Vgl. dazu Sp. 473 ff., und gegenwärtigen Vollendung der Charles Morris.

8

den Artikel ‚Positivismus‘ von G. Patzig, RGG* V (1961) den Beitrag von K. O. Apel, Sprache und Wahrheit in der Situation der Philosophie. Eine Betrachtung anläßlich der neopositivistischen Sprachphilosophie in der Semiotik von Philosophische Rundschau 7 (1959) 161 ff.

gung ist die Metamorphose von Erkenntnistheorie in Sprachanalyse.

Ausgelóst wurde diese Metamorphose von dem Russellschüler Lud-

wig Wittgenstein, der im Zusammenhang

seiner Forschungen zur

Grundlegung der mathematischen Logik zu der Vermutung kam, daf)

die Aussagen der Philosophie jedweden Sinnes entbehren, da sie

ohne ein Wissen von der Logik der Sprache formuliert seien. Seitdem ist dieser Sinnlosigkeitsverdacht das entscheidende Argument des Neopositivismus in seiner Polemik gegen die Metaphysik geblieben. Mit dem Wittgensteinschen Sinnlosigkeitsverdacht war die funda-

mentale Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wahrheit auf-

geworfen und in umfassender Weise gestellt. Wittgensteins ,, LogischPhilosophische Abhandlung" von 1921 hat den Wiener Kreis nachhaltig beeinflußt und diesen zur Formulierung des empiristischen Sinnkriteriums oder Verifikationsprinzips veranlaßt. Denn die wichtigste Frage var jetzt die Frage nach dem Grund der Möglichkeit sinnvoller Sátze überhaupt. Die verschiedenen Antworten auf diese Frage haben die Geschichte der sprachanalytischen Philosophie im wesentlichen bestimmt. Die erste grundlegende Antwort war der Versuch von Carnap, den er in seinem 1984 erschienenen Werk „Logische Syntax der Sprache“ unternahm. Carnap blendete als konsequenter Verfechter des Formalismus den inhaltlichen Sinn der Sprache aus und verstand die Sprache rein als eine Kombination von Zeichen. Die Klärung der syntaktischen Beziehungen zwischen den Zeichen eines operativen Formalismus war für ihn auf dieser Stufe eines reinen Syntaktizismus das eigentliche Gescháft der Philosophie. Philosophie wurde zur Logik der Wissenschaftssprache. Die Philosophie hat es gemäß dieser Definition auch nicht mit der empirischen Verifikation wissenschaftlicher Sätze durch außersprachliche Tatsachen zu tun; das ist Sache der Wissenschaften

selbst. Kann

diese

empirische Verifikation nicht geleistet werden, wie bei den aus den philosophischen Allwörtern gebildeten philosophischen Allsätzen, so sind diese Sätze nicht auf außersprachliche Tatsachen zu beziehen,

sondern allein aus ihrer Syntax heraus zu verstehen, das heißt in diesem Fall: sie sind als bloße Sprachkonventionen zu enthüllen. Der erste Ansatz Carnaps war in Wahrheit keine Lösung, sondern der Versuch einer Auflösung des Verifikationsproblems. Aber auch der Versuch einer Auflösung mißlang, weil schon die logischen Grundwörter einen bestimmten Sinn haben, der nicht durch Sprach9

regelung beliebig definiert werden kann, wenn das Operieren mit den Zeichen kein willkürliches sein soll. Läßt man trotzdem in der formalisierten Sprache, im Kalkül, kein Verifikationsproblem gelten, so stellt sich dasselbe gleichwohl unabweisbar ein, sobald der Kalkül erklärt werden soll; denn das ist letztlich nur möglich, ‚indem man

die natürliche Sprache benützt und dabei ständig voraussetzt, daß man in ihr wahre Sätze von falschen in irgendeinem, praktisch hinreichenden, Umfang unterscheiden kann“.” Man verläßt sich auch bei der Erklärung des Kalküls ‚auf die vorweg bekannte Verständlichkeit der Sprache^.? Das bedeutet, daß das Verifikationsproblem der Logik im Grunde dasselbe ist wie das Verifikationsproblem bezüglich der Umgangssprache. Carnaps Ausblendung des inhaltlichen Sinnes der Sprache, ihrer Bedeutung, und die angebliche Beschränkung auf den operativen Formalismus der Syntax erwiesen sich aus diesem Grunde denn schließlich auch als nur scheinbare. Der logische Positivismus hat aus dieser Einsicht die richtige Folgerung gezogen, indem er nun auch die Untersuchung der Beziehung der Zeichen zu dem bezeichneten Außersprachlichen in seine Sprachanalyse einbezog und damit die Sprachlogik bis zur Semantik ausweitete. Diesen Schritt hat auch Carnap mitvollzogen, nachdem die logistische Semantik allerdings schon sehr viel früher durch Tarski begründet worden war. Im Unterschied aber zur traditionellen scholastischen Sprachlogik, die sich in naiver Ausschließlichkeit an der lateinischen Sprache orientierte, entwarf die moderne logische Semantik apriorische Regeln für mögliche Bezeichnungen außersprachlicher Tatsachen überhaupt, um auf diese bestimmte Weise einer definitorischen Fixierung von Bedeutungsregeln zu einer Verifikation des Sinnes sprachlicher Sätze zu gelangen. Aber diese konstruktive Semantik ließ dieselbe Schwierigkeit erkennen wie der Versuch einer gänzlichen Ausklammerung des Bedeutungsproblems in einem rein syntaktischen System: auch die konstruktive logische Semantik bezieht ihre leitenden Gesichtspunkte aus der Metasprache und damit letzten Endes aus der Umgangssprache als der letzten Metasprache. Die Bedeutungen von Begriffen der Umgangssprache bleiben bestimmend auch für die Bedeutungs- und Wahrheitsregeln a priori eines semantischen Systems. In dieser Beziehung führte die 2. C. F. von Weizsäcker, Sprache als Information, S. 76. 3. C. F. von Weizsäcker, Sprache als Information, S. 74.

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logische Semantik also nicht über die logische Syntax hinaus. Aber in einer anderen Beziehung war sie ganz entschieden ein Fortschritt,

nämlich insofern sie auf die grundsätzliche Verifizierbarkeit sprach-

licher Zeichen durch außersprachliche Tatsachen hinwies und damit

die Tatsachenrichtigkeit der Sätze zum Maßstab für jedwede sprachliche Wahrheit machte. Gleichwohl war das Problem der sprachlichen Bedeutung mit der Aufdeckung des syntaktischen und semantischen Beziehungsgefüges der Sprachzeichen noch nicht gelóst. Ein sprachlich sich artikulierendes Denken setzt immer schon Bedeutungen voraus, die einer ganz anderen Dimension

entstammen

als der

logischen Syntax und Semantik. Diese Dimension ist die Dimension der Alltagssprache, der Umgangssprache, der natürlichen Sprache. In ihr sind jene Bedeutungsgehalte lebendig, die nicht nur für die vorwissenschaftlichen Sátze, sondern auch für die Prinzipien der Wissenschaften konstitutiv sind, wie das Problem der Metasprache zeigt.

. Dieses Ergebnis ist für die Entwicklung der neopositivistischen Sprachanalyse von entscheidender Bedeutung gewesen. Die logische Sprachanalyse wandte sich nach der Einsicht in diese Zusammenhünge von der apriorischen Sprachkonstruktion mittels definitorisch fixierter Bedeutungsregeln mehr und mehr ab und lenkte nun um so intensiver ihre Aufmerksamkeit auf die Umgangssprache. Der spáte Wittgenstein und in seiner Nachfolge der englische Neopositivismus ganz allgemein begegneten darin dem amerikanischen Pragmatismus, dessen behavioristische Auslegung der sprachlichen Bedeutungsfunktion einen wichtigen Bestandteil der modernen logischen Sprachanalyse darstellt. Das Entscheidende in dieser Entwicklung ist nun aber noch nicht, daß die Umgangssprache als solche und überhaupt zu einem wesentlichen Faktor der modernen logischen Sprachanalyse

geworden ist, sondern in welcher Weise das der Fall ist. Sowohl die

griechische Semantik als auch die scholastische Semantik gingen in naiver Selbstverstándlichkeit von den Bedeutungsgehalten der Umgangssprache aus und fragten nicht nach der Móglichkeit einer vorgüngigen, immer schon vollzogenen Weltauslegung durch die Sprache selbst. Das Problem der Verifikation des Sinnes von Sátzen war in der traditionellen Semantik nur ein Problem der Beziehung dieses Sinnes zu den wie auch immer verstandenen Dingen gewesen. Erst in der modernen logischen Semantik wurde deutlich, daß diese Be-

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ziehung das Problem der Verifikation nicht lóst, weil allein schon mit dem Begriff des Dinges Bestimmungen in Ansatz gebracht werden,

die nicht der philosophischen Überlegung, sondern der alltäglichen

Umgangssprache entstammen. Man erkannte, daf die inhaltliche Weltauslegung der Umgangssprache immer schon der erkenntniskritischen Reflexion auf die Sprache vorausgeht und daß die Beschreibung des Ansichseins der Dinge, von dem in der philosophischen Tradition immer wieder die Rede war, móglicherweise nichts anderes als sprachliche Ausgelegtheit der Welt gewesen ist. Hier berührt sich die moderne logische Sprachanalyse mit der Grundauffassung der humanistischen Sprachphilosophie seit Vico, daß nämlich die Sprache die Weltansicht konstituiere. Wilhelm von Humboldt hat diese Einsicht nach wesentlichen Anregungen durch Hamann zur philosophischen Grundlage des vergleichenden Sprachstudiums gemacht. Die Verschiedenheit der Sprachen wurde

als ‚eine Verschiedenheit

der

Weltansichten selbst" verstanden. Diese Parallele zur humanistischen Sprachphilosophie und ihrer Tradition, in der auch Heidegger steht, hat ihre geschichtliche Grundlage in der gemeinsamen Wurzel, der beide Spracherklärungen entstammen. Der entscheidende erkenntnistheoretische Ansatz des Positivismus war die Auffassung, daß nur das Gegebene, das Tatsächliche, das in der sinnlichen Wahrnehmung Vorfindliche und Feststellbare die Quelle der menschlichen Erkenntnis sei. Dieses Gegebene, dessen genaue Bestimmung große Schwierigkeiten bereitete, verstand man allgemein als eine Pluralität von Sinneseindrücken mit sich wiederholenden Beziehungsgefügen. Weitergehende, die Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung transzendierende Aussagen über die Struktur der Welt wurden

als Pseudo-Objektsätze

„entlarvt“,

also als Sätze,

die nur scheinbar einen Sachverhalt bezeichnen. Dieser Auflösung der Wirklichkeit der Welt in Empfindungsinhalte entsprach die Ablehnung der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Ich und Welt, zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, zwischen Innenwelt des Subjekts und Außenwelt, weil man unter den gemachten Voraussetzungen für diese Unterscheidung in den gegebenen Sinneseindrücken keine Anhaltspunkte finden konnte. Die primäre Folge dieser Grundüberzeugungen des Positivismus ist seine Metaphysikkritik oder, genauer, seine grundsätzliche Polemik gegen Sätze, die nicht durch Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung

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verifi-

zierbar sind. Mit dieser Einstellung verband sich ein neues Verständnis der Aufgabe der Philosophie, das im Neopositivismus oder logischen Positivismus seinen programmatischen Ausdruck gefunden hat.

Die Philosophie hat es danach nicht mit irgendeinem bestimmten Be-

reich der Welt zu tun, nicht mit bestimmten Tatsachen. Ihre Aufgabe soll vielmehr bestehen in der Analyse von Sátzen über Tatsachen und in der Analyse des Zusammenhanges solcher Sátze in der Wissenschaftssprache oder in der Umgangssprache. Es ist danach also

nicht mehr Aufgabe der Philosophie, die Struktur der uns bekannten

Welt ontologisch, psychologisch, biologisch oder auf andere Weise zu erklären, sondern als einzige Aufgabe der Philosophie bleibt übrig die logische Analyse von ,,sinnnvollen* Sätzen und ihrer Beziehungen untereinander. Dabei ist es eine wesentliche Funktion der sprachanalytischen Methode, die umgangssprachliche und wissenschaftliche Gliederung der Welt in Personen, Gegenstände. Eigenschaften, Strukturen und andere Kategorien als bloße Sprachkonventionen offenbar zu machen, denen vorgeblich keine Wirklichkeit entspricht. Der solchermaßen auf die Sprachlichkeit konzentrierte logische Positivismus hat unter dem beherrschenden Einfluß des späten Wittgenstein eine linguistische Richtung aus sich hervorgetrieben, die sich vornehmlich mit der Bedeutungs- und Strukturanalyse von Elementen und Komplexen der Umgangssprache und der traditionellen philosophischen Topik bescháftigt. Man kann dieser Bewegung, wie dem logischen Positivismus überhaupt, die Anerkennung für das große Verdienst nicht versagen, durch die Klärung, Differenzierung und prüzise Fassung sprachlicher Formulierungen eine philosophische Kritik von hohem Rang zu leisten, die zu einem neuen Selbstverstándnis der Philosophie Erhebliches beizutragen vermag. Gleichwohl wird man dem neuen Positivismus gerade in seiner wichtigsten Intention, nämlich Begriff und Aufgabe der Philosophie ausschließlich von sich her zu bestimmen,

schwerlich folgen kónnen.

Denn

er

láDt viele sinnvolle Fragen ungefragt. Diese ungefragten Fragen betreffen vor allem das Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit der Tatsachen und Sachverhalte. Wenn die Aspekte unseres Weltbildes nichts anderes als sprachliche Konventionen sind, wie kommt es dann gerade zu diesen Aspekten der Weltauslegung und zu keinen anderen? Legt diese Beobachtungstatsache nicht die Vermutung nahe, daß nicht die Sprache in autonomer Souveränität apriorische Bedeut-

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samkeitsformen der Erfahrung konstituiert, sondern daf) umgekehrt die Seinsformen des Seienden von sich her und auf sich hin die Sprache konstituieren, durch die sie angemessen beschrieben werden? Mit anderen Worten: es kónnte móglicherweise sinnvoller sein, „aus den Erfordernissen eines bestimmten Sachgebietes die Regeln eines Sprachsystems zu entnehmen statt umgekehrt".* Der Mangel an Einsicht in diese Zusammenhänge ist um so gravierender, als der logische Positivismus einen erkenntnistheoretischen Subjektivismus voraussetzt, den zu bekämpfen er erklärtermaßen ausgezogen ist. Nirgendwo deutlicher als hier zeigt sich, daß es unmöglich ist, dem Problem des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit und damit auch dem

Problem

des Wahrheitsbegriffs beizukommen

‚ohne eine

angemessene Problematik der Subjektivität“.° Der Verzicht auf diese Problematik ist das πρῶτον ψεῦδος des logischen Positivismus, der übersieht, daß diese Problematik nicht dadurch zu lösen ist, daß man

die Wörter Subjekt und Objekt nicht mehr benutzt oder den Verdacht äußert, daß diese Alternative das Problem nicht richtig stellt. Der logische Positivismus sieht das Problem des Bewußtseins nicht und wird dadurch notwendig ein Opfer seiner methodischen Naivität.° Eine thematische Erörterung der Bewußtseinsproblematik wird beharrlich vermieden. Dieser Tatbestand ist charakteristisch für die Tendenz des Positivismus, mit der Untersuchung von Problemen da auszusetzen,

wo

sich eine Wahrheitsdimension

auftut,

die mit den

eigenen systematischen Voraussetzungen nicht erklärt werden kann. Auf diese Weise ist es möglich, die Problematik willkürlich einzuschränken; gerade die entscheidenden Probleme, die undiskutiert bleiben, lassen sich aber dadurch nicht an ihrem Fortbestand hindern.

Ein solches Grundlagenproblem, das der logische Positivismus we4. E. Tugendhat, Tarskis semantische Definition der Wahrheit und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheitsproblems im logischen Positivismus. Philosophische Rundschau 8 (1960) 156 Anm. 46. Vgl. auch die übrigen Ausführungen in diesem ausgezeichneten Aufsatz. 5. E. Tugendhat,

ἃ. ἃ. Ο. S. 151.

6. Vgl. dazu E. Tugendhat, a. a. O. S. 152 und vor allem den Satz: Solange kein anderer Subjektsbegriff als der naturalistische verfügbar ist, läßt sich der eigentümliche Charakter der Verifikationsdimension nicht thematisieren und es bleibt nichts anderes übrig als zwischen Physikalismus und Psychologismus hin und her zu pendeln.‘

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gen seiner eng szientistischen Tendenz undiskutiert läßt beziehungsweise undiskutiert lassen muß, ist die Klärung des Rechtsgrundes für ein Sinnkriterium, das in der inneren Angemessenheit eines Satzes oder eines Begriffes an den allgemeinen Sprachgebrauch bestehen soll. Denn das ist die Absicht der positivistischen Sprachanalyse, in der inneren Kongruenz mit der vorgegebenen Umgangssprache das Kriterium eines sinnvollen Denkens zu finden. Diese Selbstbescheidung vollzieht sich indes auf einem begrifflich ganz unabgeklärten Fundament. Es wird versichert, daß das Sinnkriterium als Explikation einer vorgegebenen Idee von Sinn zu verstehen sei und daß diese Vorgegebenheit in der Bedeutsamkeitskonstitution der Umgangssprache existiere. Aber mit dieser Auskunft wird man sich nicht begnügen können. Sie weist entscheidende Mängel auf, die darauf zurückgehen, daß trotz der vorgeblichen Metaphysikaskese ständig metaphysische Implikationen unterlaufen, die man mit erstaunlicher Kritiklosigkeit übersieht. Darüber hinaus aber bleibt eben die für die Begründung des sprachanalytischen Sinnkriteriums wichtigste Frage ganz ungefragt, nämlich die Frage, worauf sich denn eigentlich die Gewißheit der Überzeugung gründet, daß die Sinnidee, deren Explikation das Sinnkriterium sein soll, in der alltäglichen Umgangssprache wirklich faßbar ist. Anders formuliert: Was kann überhaupt als der zureichende Grund dafür gelten, daß der Consensus omnium, die allgemeine Meinung, die gewöhnliche Vorstellung, die in dem üblichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt, in dieser Weise zum Kriterium der Wahrheit gemacht wird? Der Philosophie soll die Aufgabe bleiben, darüber zu wachen, daß die Definition eines philosophischen Begriffs mit dem üblichen Gebrauch dieses Begriffs übereinstimmt. und daß sie in dem Rahmen des üblichen Sprachgebrauchs, der unexakt und vage ist, eindeutig und exakt ist.

Damit beschränkt sich die Funktion der Philosophie auf die Übersetzung des unbestimmten Ausdrucks in den bestimmten Begriff.

Das läuft praktisch auf eine Anwendung der Methoden der empirischen Meinungsforschung hinaus. Dagegen wäre nun allerdings nichts einzuwenden, wenn der logische Positivismus seinerseits einen Begriff von seiner Methode hätte, das heißt eine seinem wissenschaftlichen Anspruch angemessene Begründung dafür besäße, weshalb sich die philosophische Explikation an das Medium des allgemeinen Sprachgebrauchs zu halten hat, wenn doch noch gar nichts darüber 15

ausgemacht ist, wie sich denn überhaupt die allgemeine Meinung zu der Sache verhält, die sie jeweils meint. Mit dem bewußten Ausweichen vor diesen Fragen verstellt sich der Positivismus auch die Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens, die erst in dieser Fragedimension sichtbar wird.’ Es ist klar, daß der Positi-

vismus dieser Einschränkung seiner Thematik auch in höchstem Maße bedarf. Eine Erörterung der Grundlagenprobleme ist für seine Metaphysikaskese eine ernste Gefahr. Das dogmatische Abschneiden aller weiterführenden Fragen ist ein Versuch, dieser Gefahr zuvorzukommen.

Der logische Positivismus, dessen eigene systematische Voraussetzungen von unaufgeklürten subjektivistischen Implikationen durchsetzt sind, hat auch die Ablehnung und Auflósung der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt in sein Programm aufgenommen und verwahrt sich allen offenkundigen Tatbestánden zum Trotz entschieden gegen den Einwand, selbst ein Ergebnis dieser Unterscheidung zu sein. Man beobachtet diese Haltung, die eine der auffallendsten Paradoxien der modernen Geistesgeschichte ist und die sich zumeist mit der Bereitschaft verbindet, das Denken ,neuzeitlichen Subjektivismus" zu zeihen, heute

der anderen des ganz allgemein,

und man kann bei dieser Redeweise schon von einem neuen rhetorischen Topos sprechen. Indes ist dieser rhetorische Topos nichts anderes als die Projektion der eigenen Bewußtseinsstellung, aus deren Gefangenschaft man keinen Ausweg sieht.? Dieser Verpónung des Subjektivismus bei gleichzeitigem Gebundensein an ihn liegt ein neuer Geschichtsmythos zugrunde, der für 7. Siehe auch dazu E. Tugendhat, a. a. O. S. 159: ‚Darin gründet auch die Geschichtlichkeit philosophischer Probleme, die eben deswegen im Positivismus übersehen ist. Die vorgegebene Vorstellung ist nicht eine fixe Größe,

die nur zu registrieren wäre, sondern hat selbst eine Tiefendimen-

sion, die die philosophische Explikation durchschreiten muß, um sie und damit sich selbst zur Adáquation zu bringen. Nur so ist auch die Ganzheit des jeweiligen Problems

zu sichern, und nur so ist zu vermeiden,

daß ein

beliebiger Teilaspekt isoliert und diese Isolierung durch eine vorzeitige ‚formal korrekte‘ Definition verhärtet wird.‘ 8. Zu diesem zentralen Problem vergleiche die grundlegenden Ausführungen von Gerhard Krüger, Martin Heidegger und der Humanismus. Theologische Rundschau, N. F. 18 (1950) S. 148—178.

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die meisten Deutungen der Geistesgeschichte heute leitend ist. Konstitutiv für diesen Mythos ist die Fiktion, daß das Problem der Subjektivität erst durch Descartes entstanden sei. Unter diesem Aspekt zerfällt die Geschichte in eine vorcartesische und eine nachcartesische Phase. Die vorcartesische Phase zerfällt wiederum in zwei große Abschnitte: in die Zeit der griechischen Antike bis Aristoteles einschließlich und in die folgende Zeit bis zum Ende des Mittelalters. Die nachcartesische Phase ist unter dem genannten Gesichtspunkt eine Periode der immer radikaler werdenden Subjektivierung, die erst in jüngster Zeit durch neue Ansätze überwunden wird. Während das griechische Denken bis Aristoteles noch in unreflektierter Selbstverstándlichkeit nur auf das Seiende gerichtet war und nicht zwischen

Bewußtsein

und

Sein,

zwischen

Ich

und

Welt,

zwischen

dem Innen des erkennenden Selbst und dem Draußen der erkannten Gegenstände unterschied, kam diese reflexive Einstellung erst in der Philosophie des Hellenismus auf und erfuhr dann durch den Eintritt des Christentums in die Geschichte weitere Impulse. Ohne sich über die weitere Tradition des Problems vergewissert zu haben, bleibt für diese Betrachtungsweise gleichwohl Descartes der eigentliche Initiator des Problems der Subjektivität, und erst mit ihm läßt man dann jene Entwicklung beginnen, für die man ihn unausgesetzt verantwortlich macht. Daß diese Geschichtskonstruktion, deren

Grundstruktur

in

der

angegebenen

Weise

beschaffen

ist,

im

einen oder anderen Fall gewisse Phasenverschiebungen aufweist, ist für die Charakterisierung des Ganzen unerheblich. Wichtig ist vor allem die Wertung, die mit derartigen Konstruktionen zum Ausdruck gebracht wird und die, wie wir wissen, nur selten zugunsten der Spätphasen ausfällt. In dem vorliegenden Fall der Geschichte des Bewußtseinsproblems

fällt die Entscheidung

heute

ganz

eindeutig

zugunsten der Frühphasen aus, und man sieht in der Philosophie Descartes’ allgemein den verhängnisvollen Sündenfall des abendländischen Geistes. Die Folge davon ist eine Frühgeschichtsromantik, die in der Erforschung der Philosophiegeschichte — nur um diese geht es hier — zu einer groben Verzeichnung der historischen, durch das Selbstzeugnis der Texte gesicherten Tatbestände geführt hat. Außerdem hat diese Romantik eine unsachgemäße Verschiebung der Perspektiven für das, was in der Geschichte des philosophischen Denkens von umgreifender Bedeutung geworden ist, zur Folge ge17

habt. Die Legende von dem Ursprung der reflexiven Bewußtseinsstellung in der stoischen Philosophie des Hellenismus ist die Erfindung eines romantisierenden Archaismus, der bemüht war, vor allem die vorsokratische, dann aber auch noch die klassische Philosophie Platons und Aristoteles vor dem Anathema zu bewahren, das ein

spätes, reflektiertes Denken auf der Höhe der Subjektivität gegen

seine eigenen geschichtlichen Anfänge auszusprechen bereit war. Es ist nicht nur die Meinung falsch, erst die Neuzeit habe einen durchdachten Begriff vom Selbstbewußtsein des erkennenden Subjekts ausgebildet, falsch ist auch die Meinung, daß dieses Problem in der Geschichte des antiken Denkens erst nach Aristoteles zum erstenmal auftaucht. Die klassische griechische Philosophie hat eine in ihrem eigenen Rahmen vollgültige Reflexion auf das Erkennen selbst besessen. Die Frage in dieser Richtung war Platon und Aristoteles vertraut, wenn sie auch auf diese Frage eine andere Antwort geben mußten als die Neuzeit. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder berührtes Problem ist die Unterscheidung von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt. Es ist ein charakteristischer Topos der Frühgeschichtsromantik, zu behaupten, das griechische Denken habe erst in der stoischen Philosophie des Hellenismus angefangen, so zu unterscheiden, während sich der Mensch bis dahin in einem einheitlichen Gefüge mit dem Seienden erlebt habe. Das Selbstzeugnis der Texte, des Dabeigewesenen, ist auch in diesem Fall sehr viel nüchterner.’ Ich habe an anderer Stelle!’ zu zeigen versucht, daß die Geschichte der SubjektObjekt-Problematik mit dem herkómmlichen Bild von dieser Geschichte nicht übereinstimmt und daß insonderheit die Bedeutung Descartes' nicht in der Aufspaltung der Welt in Subjekt und Objekt besteht, sondern in der schópferischen Radikalisierung eines lüngst bestehenden Problembestandes.'' 9. Vgl. O. Seel, Zur Vorgeschichte des Gewissens-Begriffes im altgriechischen

Denken.

Festschrift

Dornseiff,

1953,

S. 295.

10. RGG? VI (1962) s. v. ‚Subjekt und Objekt‘. 11. Vgl.dazu das lehrreiche Werk von M. Hagmann, Descartes in der Auffassung durch die Historiker der Philosophie. Zur Geschichte der neuzeitlichen Philosophiegeschichte, Winterthur 1955. Hagmann formuliert das Ergebnis seiner gründlichen Untersuchung wie folgt, S. 186: ‚Angesichts der Resultate der neueren Descartes-Forschung, die um die Jahrhundertwende

18

Es charakterisiert die geistige Situation unserer Zeit, wenn

aus

Überdruf an der eigenen Rationalität in romantischer Sentimentali-

tät die Sehnsucht nach den mythischen Denkformen kultiviert wird und in der historischen Rückschau diese mythischen Denkformen noch für Menschen in Anspruch genommen werden, die bereits über den Mythos philosophierten, wie es die Vorsokratiker getan haben. Das Selbstzeugnis der Texte spricht eine eigene Sprache, und diese Sprache

lehrt,

daß

keine

Veranlassung

besteht,

anzunehmen,

das

philosophische Denken der Griechen hátte zu irgendeiner Zeit nicht zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen (im Sinne von Außenwelt),

zwischen

Bewußtsein

und

Sein, zwischen

Subjekt und

Objekt unterschieden und die Begriffe Logik, Ontologie und Erkenntnistheorie seien hier inadäquate, dem griechischen Denken nicht gemäße, neuzeitlich-subjektivistische Übertragungen. Diese Einwände widersprechen den historischen Fakten. Erscheinen sie aber berechtigt, so beruht ihre scheinbare Gültigkeit darauf, daß der fast gleichzeitig in Deutschland und Frankreich eingesetzt hat, ist es jedenfalls schlechterdings nicht mehr möglich, Descartes als den radikalen Bruch und Neuanfang zu sehen, wie er sich selbst gesehen haben wollte und wie ihn etwa noch Kuno Fischer gesehen hat. Auch mit seiner vielbewunderten und -zitierten ,clarté' steht er keineswegs einzig in seiner Zeit. Er ist ein Exponent des durchgreifenden Vorgangs der rationalen Aufhellung am Beginne der Neuzeit. Ihn weiterhin ‚Vater der neuzeitlichen Philosophie‘ oder des modernen Geistes gar zu nennen — eine Diskussion darüber hat im Lager der katholischen Philosophie schon vor hundert Jahren stattgefunden — läßt sich nicht mehr rechtfertigen.‘ — Trotz dieser längst erarbeiteten und gesicherten Resultate der neueren Descartesforschung besteht wenig Aussicht, daß sich an dem — vor allem in Deutschland — eingebürgerten Descartesbild in absehbarer Zeit etwas ándert. Mit diesem Descartesbild steht die erwähnte Frühgeschichtsromantik in genauer Übereinstimmung. So ist eine Legende entstanden, die eine der am meisten verbreiteten historischen Fables convenues unseres Jahrhunderts ist. Sie ist ein stabil gewordenes Vorurteil, das, wie wir heute allmählich sehen lernen, zu einem

erheblichen Teil seinen verhüngnisvollen Ursprung im Ressentiment Nietz-

sches gegenüber der historisch-kritischen Methode der klassischen Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat. Der ungeheure Einfluß Nietzsches auf die Geisteswissenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein noch immer ungeschriebenes Kapitel der modernen Wissenschaftsgeschichte.

19

Interpret diese Begriffe in einer Weise definiert, die dem antiken Denken fremd war. Diese inadáquate Weise des Vorgehens zeigt sich, das lehrt die Erfahrung, nicht so sehr bei den Philologen und Historikern, die nur ihre Sache im Auge haben und sich im übrigen der bedeutungsvagen Umgangssprache bedienen, als vielmehr bei

den Philosophen, die mit einer ganz bestimmten, bedeutungsdefini-

ten Begrifflichkeit die Texte interpretieren und auf ihre eigene systematische Fragestellung hin abhorchen. Die größere Gefahr liegt also gerade nicht in dem hermeneutischen Vorurteil, das in der praereflexiven Umgangssprache des Philologen und Historikers liegt, sondern in dem Vorurteil, das in der systematischen Begrifflichkeit des „sprachbewußten“ Philosophen liegt. Hier zeigt sich auch der zureichende Grund für jene Aussagen, nach denen die eben aufgezählten Begriffe dem griechischen Denken scheinbar nicht adáquat sind: man gibt diesen Begriffen von vornherein einen ganz speziellen Inhalt und stellt dann fest, daß diese Begriffe den zu bestimmenden Sachverhalten in der Antike nicht adáquat sind. Das beste Beispiel dafür ist der Begriff der Sprache. Es wird heute gelegentlich behauptet, die Griechen bis zu Aristoteles hin hátten keinen Begriff der Sprache gehabt. Bei solcher Versicherung wird die Bestimmung dessen, was Sprache ist beziehungsweise zu sein hat, dogmatisch dem eigenen systembedingten Vorurteil entnommen. Das leitende Interesse bei dieser Feststellung ist wissenschaftstheoretischer Natur. Es geht im Grunde gar nicht um den historischen Sachverhalt, sondern um eine moderne Fragestellung, deren spezifische Gegenwartsproblematik man auf frühere Perioden der Geistesgeschichte überträgt, um auf diese Weise ein Vorfeld, eine Abstoß-

fläche für die Erörterung der Gegenwartsprobleme zu gewinnen. Gegen diese Methode ist unter bestimmten Bedingungen nichts einzuwenden, jedenfalls solange sie nicht zu Verzeichnungen der historischen Zeugnisse führt. Das ist aber sehr oft und auch in dem genannten Beispiel der Fall. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Griechen der vorhellenistischen Zeit einen Begriff der Sprache gehabt haben oder nicht, ist es ratsam,

sich an den

seine Geltung behauptet: 20

Grundsatz

zu halten,

‚der in der Regel

daß jeder der einen Namen

findet auch

über die dazu gehörige Sache verfügt". Die Umkehrung dieses Satzes gilt bekanntlich nicht, wie die tágliche Erfahrung lehrt; das zeigen auch zahlreiche Beispiele bei Platon und Aristoteles. Der Name in dem vorliegenden Fall heißt λόγος. Daran ändert der Umstand nichts, daß das Wort Logos im Laufe seiner Geschichte zu mannigfacher Bedeutung gelangte und so die Bedeutung Sprache nur eine neben mehreren anderen Bedeutungen dieses Wortes ist. Logos bedeutet Wort, Satz, Rede und dann eben auch das Ganze

der Sprache. Es bedeutet aber auch Rechnung, Berechnung, Proportion, Verhältnis, Beziehung und schließlich den menschlichen Geist.

Weil all dieses immer auf ein Sachliches bezogen ist, bedeutet Logos

sehr oft auch das, was in Rede steht, die Sache selbst. Diese Vielheit

der Wortbedeutung von Logos ist nicht zufällig, sondern in hohem Grade kennzeichnend für eine Welterfahrung, die diese verschiedenen Elemente noch mit demselben Namen benennen konnte. Diese Einheit in der Vielheit täuscht nun allerdings leicht darüber hinweg, daß man ein sehr genaues Bewußtsein von den verschiedenen Bedeutungssphären hatte. Schon die kurze, in den Dialogen Platons ständig wiederkehrende Frage nach dem Sinn dessen, was der Mitunterredner sagt (ti λέγεις;), weist darauf hin, daß nicht das bloße Aussprechen des Gesprochenen das Entscheidende ist, sondern der bei allem Sprechen gemeinte Sinngehalt, die Bedeutung. Im Unterschied von dem bloß Lautlichen des Stimmklanges ist das Wesentliche das Nachdenken und dessen Resultat, der Gedanke, dessen Aussprechen eine Funktion des Logos ist. Das Nachdenken selbst wird von Platon als ein Logos, als Dia-logos verstanden und gedeutet. Es ist ein inneres Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt, in dem das Seiende bestimmt wird als das, was es entweder ist oder nicht ist. In dieser Möglichkeit des Logos, das Seiende so sehen zu lassen, wie es ist, liegt für Platon auch die Möglichkeit der Philosophie beschlossen, die deshalb in der Dialektik die große Offenbarerin alles Seienden ist. Auch für Aristoteles hat der Logos die Funktion des Sehenlassens des Seienden,

des Offenbarmachens,

des Zeigens und

Bezeichnens.

In diesem Sinne stehen Sein, Denken und Sprache im Logos-Begriff in einer umfassenden Beziehung und drücken einen genauen Parallelismus dieser drei Sphären aus. Dadurch wird der Logos-Begriff auch 12. W. Griechen.

Schadewaldt,

Die

Antike X, 1934,

Anfänge

der Geschichtsschreibung

bei den

144.

21

der doppelten Bezüglichkeit des Phänomens der Sprache in sehr viel hóherem Grade gerecht als irgendein entsprechender Ausdruck in den modernen europáischen Sprachen. Der Parallelismus von Sein, Denken und Sprache ist bei Platon und Aristoteles bereits voll entwickelt und kommt nicht nur dauernd zur Anwendung, sondern ist auch mehrfach Gegenstand der Erórterung. Besonders kommt er überall dort ganz deutlich zum Vorschein, wo es um das Problem der Satzwahrheit geht. Da zeigt sich dann eine genaue Stufenfolge der einzelnen Bereiche. In einem allgemeinsten Sinne lautet die Definition der Satzwahrheit bei Platon und Aristoteles gleich: Ein Satz ist dann

wahr,

wenn

er einen wirklichen

Sachverhalt bezeichnet.

Die

Analyse von Sätzen läßt regelmäßig erkennen, daß zwischen dem Laut- und Schriftgebilde, also dem Satz als bloß sprachlichem Ausdruck, und

dem

Sinn, das heißt dem

Urteil, sowie dem

wirklichen

Sachverhalt präzis unterschieden wird. Innerhalb dieser Schichtung vollzieht sich das Verständnis

der Satzwahrheit.

Ein Satz ist wahr,

wenn das von ihm ausgedrückte Urteil wahr ist, das Urteil ist aber nur wahr,

wenn

es einen wirklichen

Sachverhalt bezeichnet.

Auch

Platon und Aristoteles waren sich schon der Tatsache bewußt, daß es keine direkte Beziehung des Satzes auf den wirklichen Sachverhalt gibt, sondern daß erst die Bedeutung des Satzes, sein Urteilssinn, diese Beziehung möglich macht. Die Frage freilich, ob ein Urteil wahr oder falsch ist, kann nicht wieder durch ein Urteil entschieden

werden. Hier weist das Urteil in der Begründung seines Wahrheitswertes über sich hinaus in eine andere Wahrheitsdimension. Die Entsprechung von Sachverhalt, Urteil und Satz oder, allgemein, von Sein, Denken und Sprache ist in dem angegebenen Parallelismus festgelegt. Die Einheit von Wort und Sache, wie sie in der Frühzeit des griechischen Denkens einmal bestanden hatte und wie sie für die Frühzeit jeder Kultur charakteristisch ist, kann für Platon und Aristoteles nicht mehr in Anspruch genommen werden. Man würde das Reflexionsniveau dieser Denker sehr unterschätzen, wenn man auch noch

bei ihnen von dieser Einheit ausginge, und außerdem geriete man in lauter törichte Ungereimtheiten, wenn man so verführe. In Wirklichkeit hatte schon längst die griechische Aufklärung diese Einheit problematisch werden lassen, und das Philosophieren Platons war ja im wesentlichen ein Kampf gegen die dadurch freigesetzten Rela-

22

tivierungen auf allen Gebieten. Die Antwort Platons ist uns aus dem Kratylos und aus anderen Dialogen ziemlich gut bekannt. Er läßt keinen Zweifel

an seiner Lehre,

daß

die Erkenntnis

des

Seienden

ohne die Worte rein aus sich selbst erfolgen kann und erst die solchermaßen vollzogene Einsicht in das Seiende darüber entscheidet, ob ein Wort einer Sache gemäß ist oder nicht. Das schließt ein, daß

umgekehrt auch die Wörter von sich aus zum Anlaß solcher Nachprüfungen gemacht werden kónnen, wie das in der Tat bei Platon in großem Umfang geschieht. Die Wörter haben dabei die Funktion eines Leitfadens. ‚So kann sich das Denken diesem Vorrat, den ihm

die Sprache angelegt hat, zu seiner eigenen Belehrung zuwenden“.'” Das Wahrheitskriterium dagegen liegt ganz bei dern einsichtigen Erkennen der Ideen, nicht beim Wort. Das Wort in seinem Eigensein rein

als

Wort

hat

keine

eigene,

selbstindige

Erkenntnisfunktion,

wenn es auch als Mittel weiteste Verwendung findet. Oft genug äußert Platon sein Mißfallen an dem Fehlen passender Ausdrücke oder an der Uneindeutigkeit von vorhandenen Wörtern, so besonders

in den dialektischen Spätdialogen und in dem erkenntnistheoretischen Exkurs des 7. Briefes.!! Trotz dieser Sprachkritik gelangt Platon aber nicht zu der Einsicht in die Sprachgebundenheit auch des denkenden Erfassens der Ideen. Diese Einsicht bleibt auch Aristoteles verwehrt. Zwar wendet er den Formen der Aussage und den Topoi des Sprechens große Auf-

merksamkeit zu. Aber er sieht in der Sprache, die er spricht und die 18. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode.

phischen Hermeneutik, 1960, S. 144. 14. Der erkenntnistheoretische Teil

des

Grundzüge einer philoso-

7. Briefes

ist

denen,

die

die

These vertreten, die Griechen bis Aristoteles einschließlich hätten keinen

Begriff der Sprache gehabt, ein Stein des Anstoßes. J. Lohmann, der eine

erkenntnistheoretische Reflexion auf die Sprache bei Platon in Abrede stellt, hat deshalb den 7. Brief für ein erst im Hellenismus geschriebenes ‚Elaborat‘ erklärt: „einfach deshalb, weil er ... ein überhaupt erst im Hellenismus so mögliches Verhältnis zur Sprache reflektiert“; in: Gnomon 26, 1954, 453. Hier wird zur Rechtfertigung eines modernen sprachphilosophischen Anliegens nicht nur ein Eingriff in den Text vorgenommen, sondern Platon gleich ein ganzes Werk abgesprochen, mit dem bedeutungs-

vollen Hinweis auf den ‚Hellenismus‘. Diese Methode würden einige Inter-

preten

auch

sehr

gern

in

bezug

ἑρμηνείας zur Anwendung bringen.

auf

die

Aristotelische

Schrift

Περὶ

28

das Volk spricht, in dem er lebt, nicht eine Vorentscheidung, die eine

ganz bestimmte Weltansicht neben anderen móglichen Weltansichten konstituiert. Für ihn wird in der Art, wie die Menschen sprechen, die Struktur der Welt sichtbar. Das geschieht freilich nur annáhe-

rungsweise, aber doch immerhin deutlich genug, um der Philosophie

als geeignete Handhabe für die genaue begriffliche Bestimmung zu dienen. In diesem Sinne ist die Umgangssprache der Horizont, innerhalb dessen die Bedeutung eines Wortes eindeutig eingegrenzt und dadurch zum wissenschaftlichen Begriff, zum Terminus werden

kann. Obwohl Aristoteles auf diese Weise ständig bemüht ist, die Ungenauigkeiten der Sprache zu eliminieren, bleibt er doch, ohne die hier liegende Problematik zu sehen, praktisch der Einheit von Sprechen und Denken verhaftet. Aber dieses von ihm so vorausgesetzte Verhältnis konnte für ihn auch gar nicht in einem grundsätzlichen Sinne problematisch werden, weil er in dem sprachlich-bedeutungsmäßigen Übereingekommensein der Menschen, wie in jeder

Form

allgemeiner Übereinstimmung,

ein Kriterium der Wahrheit

sah, das unmittelbar auf die Übereinstimmung

mit dem

Seienden

verweist. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Aristoteles

davon spricht, daß die Sprachsymbole nicht von Natur, sondern nach

Übereinkunft (κατὰ συνθήκην) sind, das heißt gelten.’ Sie gelten

nicht auf Grund einer Verabredung, nicht durch willkürliche Festsetzung, sondern infolge der allmählichen kommunikativen Übereinkunft im Consensus omnium. Dieses von Aristoteles so verstandene Verhältnis von Sprechen und Denken macht einsichtig, daß er entsprechend dem genannten Parallelismus die Sachwelt von der Denksphäre unterschieden hat. Eine Reflexion über die oben berührten Probleme hätte Aristoteles ohne eine solche Differenzierung gar nicht durchführen können. Seine Abhandlung De interpretatione, aber auch andere Aristotelische Werke lassen die Unterscheidung dieser drei Dimensionen klar erkennen und machen sie sogar zum Gegenstand der Erörterung. Daher ist die Behauptung, erst in der stoischen Logik sei es zu dieser Unterscheidung gekommen, schlicht falsch. Die Stoiker, um dieses Mißver-

ständnis aufzuklären, waren der Überzeugung, daß sich die Richtigkeit 15. Mit Recht bemerkt

H.-G. Gadamer,

„Man muß die terminologischen Aussagen Lichte der ‚Politik‘ sehen (Polit. A 2)“.

24

Wahrheit

von

und Methode

περὶ ἑρμηνείας

408, 2:

also

im

des Ausdrucks von der Richtigkeit des Gedankens nicht trennen lasse, weil Gedanke und Wort nur in bestimmter Hinsicht verschieden, in

anderer Hinsicht aber dasselbe seien, denn der Logos als Gedanke im Inneren des Menschen werde zum Wort, sobald er durch stimmliche Verlautbarung geäußert werde. In diesem Sinne unterschied die stoische Philosophie zwischen dem λόγος ἐνδιάϑετος und προφορικός, eine Unterscheidung, die sich ebenso schon bei Platon und Aristoteles findet.* Entsprechend dieser Unterscheidung gliederte sich die stoische Dialektik in zwei Hauptteile: von dem Bezeichneten und von dem Bezeichnenden, den Gedanken und den Worten. Aufschlußreich für den Vergleich mit Aristoteles ist in diesem Zusammenhang, daß die Stoiker zu der Wissenschaft von dem Bezeichnenden nicht nur die Laut- und Sprachlehre záhlten, sondern auch die Lehre von der Dichtkunst. Gegenstand der Wissenschaft von dem Bezeichneten, der Logik, war das Gedachte, das die Stoiker als das Ausgesprochene, als Aexvóv bezeichneten, worunter sie den Inhalt des Denkens, den Gedanken verstanden, und zwar im Unterschied erstens zu den Din-

gen draußen, zweitens zu dem Denken als Funktion der Seele und drittens zu den Worten als Mittel des Ausdrucks. Dasselbe Schema findet sich schon bei Platon und Aristoteles. Es ist die ontologische Dreiteilung von πρᾶγμα (εἶδος), νόημα und ὄνομα. Das stoische λεκτόν ist also gleichbedeutend mit dem νόημα, und es ist kein geringerer als Simplikios gewesen, der auf diese Identität hingewiesen hat." Der bezeichnende Laut der Stimme, das bezeichnete Ding als Gedanke in der Seele und das Ding selbst als das Zugrundeliegende draußen, das sind drei Elemente in der stoischen Logik, die auch schon bei Platon und Aristoteles begrifflich fixiert sind. Es genügt hier vóllig der Hinweis auf die Aussagen in De interpretatione und die dort immer wiederkehrenden, bereits zu formelhaften Wendungen erstarr16. Sophistes 263 E und Anal. post. A 10. 76 b 24 ff. εν ὃ ἐν τῇ ψυχῇ).

(ὃ ἔξω λόγος ....

17. In Aristotelis Categorias. CAG VIII 10, 3. Vgl. dazu Ph. De Lacy, The Stoic Categories as Methodological Principles, Transactions and Proceedings

of

the

American

Philological

Association

76,

1945,

246—263.

B. Mates, Stoic Logic and the Text of Sextus Empiricus, American Journal of Philology 70, 1949, 290—298.

M.

E. Reesor, The Stoic Categories, Ame-

rican Journal of Philology 78, 1957, 63—82.

25

ten Ausdrücke.'* Es kann also auch nicht die Rede davon sein, daß diese Betrachtungsweise, die man so gern erst der stoischen Philosophie des Hellenismus zuschreiben möchte, bei Aristoteles ,,vorbereitet“ wird: sie ist bei Platon und Aristoteles schon längst da — wie so vieles andere, das man erst der Stoa zuzuschreiben sich gewóhnt hat. Die Welt wird, wie entsprechende Untersuchungen zeigen, auch

schon vor der Stoa unter dem Aspekt von Außenwelt und Innenwelt gesehen und erlebt — freilich anders als bei Descartes. Die Anwen-

dungen der Präpositionen ἔξω, ἐκτός, πλῆν, εἴσω, ἐντός, £v und andere

dazu gehörige Präpositionen geben wertvolle Hinweise. Darüber hinaus aber genügt es, um diese Zusammenhänge zu durchschauen, nicht, sich ausschlieDlich mit einigen Dialogen Platons und einigen Werken des Aristoteles zu beschäftigen. Dazu gehört ebenso der Einblick in die griechische Lyrik, Tragódie und Geschichtsschreibung. Man wird sich also auf die Dauer der Tatsache nicht verschließen können, daß das Denken über Sprache nicht erst im Hellenismus einsetzt. Die zweisprachige Verstündigung in der hellenistischen Welt hat diese Reflexionen sicherlich vertieft. Aber auf derselben Ebene liegen auch schon die Reflexionen über den Unterschied von Prosa und Poesie. Schadewaldt hat in seiner Abhandlung ,,Die Anfánge der

Geschichtsschreibung bei den Griechen"!? darauf hingewiesen, daß mit „dem Aufkommen des auf das Reale gerichteten rationalen Denkens"

im 6. Jahrhundert v. Chr.

,,dieser neue

Geist sich nicht mehr

ausschließlich im poetischen Worte auszusprechen vermochte... Denn die Sprache der Prosa ist ihrem Wesen nach die Sprache der

Ratio, ja sie ist die wortgewordene Ratio selbst, sie ist Logos“.

Das

ist der Sinn, in dem Platon die Sprache der Prosa von der Sprache der Poesie unterscheidet. Platons Analyse des Satzes im Sophistes ist eine genaue Bestätigung dieser Unterscheidung. Auch Aristoteles hat darüber nachgedacht und in seiner Poetik der Sprachform ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem unter anderem von den Satzfiguren und von den einzelnen Teilen der Sprache (Buchstabe, Silbe, Wort usw.) in einer Weise gehandelt wird, die es erlaubt, diesen Entwurf 18. 1. 16 48 f£., 9. 18 b 36 ff., 19 a 32 ff., 14. 23 a 32 ff., 24 b 1 ff. u.a. Vgl. auch Cat. 5. 4b 8 ff., 12. 14 b 18 ff. (ich halte die Postprüdikamente aus anderen Gründen für Aristotelisch). 19. a. a. O. S. 154 f.

26

„einen Grundrif der wissenschaftlichen Grammatik?" zu nennen. Es kommt hier nicht nur zu der üblichen Unterscheidung von Sprachform und

Gedanke

(λέξις καὶ διάνοια,

19. 1456 a 34), sondern

auch,

in einer Gegenüberstellung mit der Sprache der Dichtung, zu einer genauen Fixierung der Umgangssprache als f) διάλεκτος ἣ πρὸς ἀλλήλους (4. 1449 a 26 f.). Es ist also gar kein Grund dafür vorhanden,

für die vorhellenistische Zeit eine begriffliche Unauflósbarkeit von

Sprechen und Denken in Anspruch zu nehmen, nicht zuletzt aber

eben auch deshalb, weil alles für eine solche Differenzierung in Frage Kommende in dieser Zeit schon seinen Namen hat. Dieses Wissen von der begrifflichen Auflósbarkeit der Einheit von Sprechen und Denken verhindert freilich nicht, daß man faktisch in dieser Einheit lebte und dachte. Tatsächlich sah man hier kein Problem. Das Sein der Sprache als eine bestimmte Vorentscheidung für das Denken ist der griechischen Philosophie nie zum Bewußtsein gekommen und konnte ihr unter den gegebenen Voraussetzungen auch nicht zum Bewußtsein kommen. Sie sah in der Sprache entweder ein zusätzliches Hilfsmittel zur Erkenntnis des ansichseienden Seienden oder aber, wenn das nicht möglich schien, eine Behinderung dieser Erkenntnis, die es durch Denken oder Beobachtung der Sachen selbst zu überwinden galt. Daß das Denken seinerseits möglicherweise in den Bahnen

der vorgegebenen

Sprache verläuft, diese

Möglichkeit

wurde nicht gesehen. Hätten Platon und Aristoteles nur von der vorgegebenen Sprache her gedacht, so wären sie schwerlich in die Verlegenheiten peraten, die ihnen angesichts der unendlichen Differenziertheit des seienden die Mangelhaftigkeit der vorhandenen Sprache durch das Fehlen geeigneter Wörter und Wendungen eingestandenermaßen immer wieder bereitet hat. Die griechischen Philosophen haben zu allen Zeiten einen Begriff der Sprache gehabt, nur freilich nicht den, den die moderne Sprachphilosophie

und

Sprachwissenschaft

haben.

„Daß

die beginnende

Zweisprachigkeit der hellenistischen Oikumene für das Denken über Sprache eine fördernde Rolle gespielt hat, ist wohl unbestreitbar. Vielleicht aber liegen die Ursprünge dieser Entwicklung weit früher, und es ist die Entstehung der Wissenschaft überhaupt, die diesen Prozeß auslöst. Dann werden die Anfänge desselben in die Frühzeit 20. O. Gigon, Aristoteles: Vom Himmel, Von der Seele, Von der Dichtkunst. BAW, 1950, S. 379.

27

der

griechischen

Wissenschaft

hat sich vollauf bestätigt.

Der

zurückreichen.* Umstand,

daß

Dieser

die moderne

Verdacht Sprach-

philosophie und Sprachwissenschaft ihren Begriff von Sprache in der vorhellenistischen Philosophie nicht wiederfinden, kann nicht zum Maßstab dafür gemacht werden, ob es in der vorhellenistischen Philosophie einen Begriff von Sprache gegeben hat oder nicht. Die in dieser Beziehung gelegentlich geäußerte Skepsis beruht auf einem dogmatisch ins Spiel gebrachten Begriff von Sprache, der mit dem Sprachbegriff dieser Zeit nicht viel gemeinsam hat. Die Sprache ist für das klassische griechische Denken in der Tat kein Instrumentarium der Subjektivitát, keine mathematische Zeichensprache in größtmöglicher Distanz zur Wirklichkeit der Umgangssprache, kein eingeführtes Zeichensystem, sondern inhaltlich erfüllte Sprache, Sprache als Antwort des Menschen auf den Anspruch des Seienden. Und gerade durch diesen Anspruch des Seienden erfährt der Mensch seine spezifische Fähigkeit des Sprechens, die ihn in das Bewußtsein der Sprache bringt und damit zugleich zur Bewußtheit der Sprache, zur Sprachbewußtheit. Wenn heute behauptet wird, das klassische Griechentum sei sprachunbewußt gewesen und die Sprachbewußtheit sei überhaupt erst das Ergebnis einer späten Entwicklung des abendländischen Denkens, so beruht diese Aussage auf der Induzierung eines inadáquaten Sprachbegriffs, der ein Produkt der modernen Sprachentwertung ist. Denn Sprache ist nie nur Form der Sprache. Aber es ist gerade die Voraussetzung, unter der die moderne Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft arbeiten, „daß die Form

der Sprache ihr alleiniges Thema ist^.? Im Gegensatz zu diesem spezialistischen Sprachbegriff steht der Sprachbegriff unserer alltäglichen Umgangssprache der Bedeutung des antiken Sprachbegriffs sehr viel näher. Das Gleiche gilt auch für viele andere Begriffe der modernen Wissenschaftssprache. Auch hier gilt also: das 2]. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 410. Gadamer fährt fort: ‚Daß das so ist, dafür spricht die wissenschaftliche Begriffsbildung im Bereich von Musik, Mathematik und Physik, weil dort ein Feld rationaler Gegenstündlichkeit vermessen wird, deren konstruktive Erzeugung entsprechende Bezeichnungen ins Leben ruft, die man nicht mehr eigentlich Worte nennen kann.‘ 22.

H.-G.

Gadamer,

Wahrheit

und

Methode,

S. 381. Siehe auch die für

unser Thema wichtigen Ausführungen auf Seite 382.

28

Vorurteil der Umgangssprache ist sehr viel weniger gravierend als das Vorurteil der Wissenschaftssprache; dabei ist die Belastung der Umgangssprache durch die Wissenschaftssprache praktisch ohne Bedeutung; das ist ein empirischer Tatbestand, der durch singuláre Gegenbeispiele nicht widerlegt wird. Die Wórter bezeichnen bei Platon den Begriff der Dinge, ihre Idee, nicht die Dinge selbst. Das ist auch bei Aristoteles so, nur mit

dem Unterschied, daf die Idee ontologisch anders verstanden wird, nämlich als die den Dingen immanente Form, die im Erkennen als der Begriff der Dinge gedacht wird, und nur deshalb kónnen die Aussagen über die Dinge die Wirklichkeit der Dinge vermitteln, weil die Aussageformen auch die Formen des Seins der Dinge sind. Die bezüglich ihrer lautlichen Gestalt im Grunde willkürlichen Wórter bezeichnen danach die für alle Menschen selben Begriffe der für alle Menschen selben Sachen oder Sachverhalte. Der Formenbestand der Sprache ist, so gesehen, der Formenbestand der Wirklichkeit. Wenn Aristoteles seine ontologischen Grundbegriffe, die Kategorien, durch eine Analyse der Sprache gewonnen hat, dann gewif) nicht in dem Bewußtsein, daß die griechische Sprache nur eine mögliche Auslegung der Welt neben anderen möglichen Auslegungen ist, son-

dern in der Überzeugung, daß die Formen, in denen die griechische

Sprache von dem Seienden spricht, zugleich auch die Formen des Seienden selbst sind. Diese Auffassung der Beziehung von Sprache und Sein ist auf lange Zeit für alle Sprachtheorien bestimmend geblieben, bis schließlich die Erkenntnis der Verschiedenheit des grammatischen Sprachbaus zu neuen Einsichten führte. Daß die von Aristoteles durchgeführte Reflexion auf das Verhältnis der Sprache zu den bezeichneten Gegenständen nur möglich war, weil er zwischen der Sprachsphäre und der Sachsphäre ontologisch differenziert, ist offenkundig. Das war auch spätestens nach der Entdeckung der Subjektivität durch die Sophistik nicht mehr anders denkbar, und eine bewußte Negation dieser Differenz wäre zweifellos als ein Rückfall auf die mythische Stufe des magischen Wortzaubers verstanden worden. Aristoteles hat die ontische Differenz zwischen der Sprachsphäre und der Sachsphäre und ihre gegenseitige Beziehung in seinen Werken immer wieder berührt. Eine besonders instruktive Stelle ist Metaph. Z 15, wo Aristoteles die Nichtdefinier-

barkeit des individuellen Gegenstandes unter anderem an der Spra29

che beweist. Zuletzt hat Paul Wilpert in seiner Interpretation dieses Kapitels diesen Beweis zutreffend analysiert: ,,Diesen Beweis liefert

Aristoteles auf dem Umweg über die Sprache. Die Sprache muß Wörter gebrauchen, die nicht auf einer individuellen Beobachtung

eines einzelnen Falles beruhen, weil sie sonst dem anderen nicht ver-

ständlich wären. Sie muß also ihre Wortbedeutungen auf Beobachtungen stützen, die auch anderen an anderen Gegenständen möglich

sind, denn es ist nicht vorauszusetzen, daß alle den gleichen indivi-

duellen Gegenstand oder Vorgang beobachten. Eine gewisse Gleichheit der beobachteten Sachverhalte ist also Voraussetzung dafür, daß intersubjektive Verständigung in der Sprache möglich wird. Ein solcher Gedankengang führt von der Allgemeinverständlichkeit der Sprache auf die Allgemeinheit der mit einem Wort bezeichneten Erscheinungen. Die Sprachtheorie des Aristoteles ist kein Konventionalismus. Er ist überzeugt, daß eine von allen verstandene Bedeutung auch eine gegenständliche Allgemeinheit zur Voraussetzung hat. Man kann darüber streiten, ob diese Aristotelische Sprachtheorie richtig ist, aber man kann wohl nicht bestreiten, daß ihm diese Pa-

rallele selbstverständlich ist.“” Diese Parallele ist Aristoteles selbstverständlich, weil zu seinen theoretischen Voraussetzungen die Überzeugung gehört, daß der Konsens der Menschen ein Kriterium der Wahrheit ist. Von dieser Voraussetzung her erklärt sich auch der Tatbestand, daß Aristoteles bei fast allen seinen Untersuchungen sowohl den Lehren seiner Vorgänger als auch der Sprache große Aufmerksamkeit zukommen läßt. Er sieht die Struktur der Sprache in genauer Ent23. P. Wilpert, Zur Interpretation von Metaphysik Z 15. Archiv für Geschichte der Philosophie 42 (1960) 144 f. Siehe auch S. 156: ‚Die Wörter haben aber nur dann für den Sprechenden Inhalt, wenn er diese Inhalte

irgendwie erfährt. Man könnte an Kants Wort denken, daß Begriffe ohne

Anschauung leer sind. Da es jedoch nicht möglich ist, daß alle den gleichen Gegenstand

erfahren,

muf

die Erfahrung,

welche

sich zu Worten

formt,

allgemein sein, wenigstens in dem Sinn, daß mehrere individuelle Gegenstánde die gleiche Erfahrung vermitteln. — Zu dieser Fassung des Verhältnisses der Korrespondenz bei Aristoteles siehe die in ihrer Begründung richtige, ausgezeichnete Darstellung von W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Ges. Schr. I, 2. Buch, 2. Abschnitt, 6. Kapitel, S. 198 f.

(„Die Sonderung der Logik von der Metaphysik und ihre Beziehung auf dieselbe“).

30

sprechung zu der Struktur der gegenständlichen Wirklichkeit, und in den Wortbedeutungen der Umgangssprache sieht er das alle bisherige Erfahrung zusàmmenfassende Ergebnis der Begegnung der Menschen mit den Dingen. Diese in die Sprache eingegangene Erfahrung verweist aber für Aristoteles nicht nur auf die „Gleichheit der beobachteten Sachverhalte“, sondern darüber hinaus auch und ganz wesentlich auf die Struktur der Sachen überhaupt. Das ist der letzte, entscheidende Grund, weshalb Aristoteles der Sprache eine so große Bedeutung zukommen läßt. Die Sprache hat für ihn eine spezielle hermeneutische Funktion bei der Erforschung dessen, was ist. Sie dient ihm sehr oft als Leitfaden bei seinen Analysen und als Hinweis auf die wesentlichen Strukturelemente in den Sachen selbst. Von ihr läßt er sich immer wieder die Ansatzstellen für seine Sachuntersuchungen zeigen. Diese Funktion, die die Sprache bei Aristoteles hat, wird aber nur verständlich, wenn man zwei

Voraussetzungen des Aristotelischen Sprachverständnisses erkennt, erstens, daß die Sprache für Aristoteles in einer genauen Korrespondenz zu den bezeichneten gegenständlichen Sachen und Sachverhalten steht, und zweitens, daß die Sprache als ein Übereingekommensein der Menschen von Aristoteles unter dem Aspekt seiner Consensus-omnium-Theorie gesehen wird — mit allen dazugehórigen spekulativen Konsequenzen." Wenn man also sagt, daf Aristoteles Sprachanalyse betrieben habe, so ist das nur richtig, solange man dem Wort ,,Sprachanalyse"

keine andere Bedeutung gibt, als es bei Aristoteles billigerweise haben kann. Das ist aber nicht der Fall, wenn man bei dem Nachweis,

daß Aristoteles „Sprachanalyse“ betrieben habe, ganz bewußt, aber latent, von den systematischen Voraussetzungen des modernen logischen Positivismus ausgeht und dann notwendigerweise zu den diesem Ansatz entsprechenden Ergebnissen kommt. In der auf diesem Wege entdeckten „Sprachanalyse“ des „Aristoteles“ hat die Sprache nicht mehr Verweisungscharakter, in dem oben aufgezeigten Sinne, daß sie auf etwas verweist, was nicht sie selbst ist, nämlich auf die

gegenstándlichen 24.

Siehe

dazu

Dinge,

meinen

sondern

Aufsatz

die Sprache hat die apriorische

,Der

Consensus

omnium

als Kriterium

der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. Eine Studie zur Geschichte des Begriffs der Allgemeinen Meinung.‘ Antike und Abendland X, 1961, S. 108—129.

9]

Funktion, den Modus der Erfahrung zu bestimmen. Von diesem Ansatz aus erscheint dann die Aristotelische Sprachanalyse als die von Aristoteles bewußt durchgeführte Untersuchung der Bedingungen der Móglichkeit der Erfahrung, und da die gesamte theoretische Philosophie des Aristoteles in diesem Sinne nur als „Sprachanalyse“ betrachtet wird, werden die in der Aristotelischen Philosophie erarbeiteten universalen Prinzipien und Grundbegriffe wie Form, Stoff usw. lediglich als begriffliche Distinktionen, als Unterscheidungsmerkmale unseres Sprechens von den Dingen, als bloße Einteilungsgesichtspunkte im Sinne funktionaler Aspekte der Sprache gedeutet, von denen rein als solchen keine sachhaltigen Bestimmungen ausgesagt werden, in der Weise, daß reale Entsprechungen derselben in Ansatz

gebracht

und

diese als die den

standen würden.

Die Erkenntnis

Dingen

immanenten

Kräfte

ver-

der ,,Prinzipien" wird nach dieser

Interpretation allein dadurch móglich, daf das in der konkreten Umgangssprache immer schon vorgegebene, unreflektierte, unbestimmte,

unausdrückliche Vorverstándnis, das wir immer schon haben, wenn wir von den Dingen sprechen, bestimmt und ausdrücklich gemacht,

das heift auf Begriffe gebracht wird, wobei aber nur die formale Struktur des in der natürlichen Sprache unreflektiert enthaltenen Vorwissens begrifflich abgeklärt wird. Danach hat es also die theoretische Philosophie

des Aristoteles

nicht mit dem

Seienden

zu tun,

sondern nur mit der Struktur der Aussagen, in denen von dem Seienden gesprochen wird. Das Ergebnis solcher Analysen sind die Prinzipienbegriffe, die selber keine eigene konkrete inhaltliche Bedeutung

haben,

aber

als formale

Gesichtspunkte

und

funktionale

Aspekte für das Zustandekommen inhaltlich bestimmter Begriffe grundlegend sein sollen. Das betrifft auch die Begriffe von Art und Gattung, die ebenfalls für Aristoteles keine unmittelbare inhaltliche Bedeutung haben sollen, sondern als bloße Topoi aufgefaDt werden, die die Funktion haben, umgangssprachliche Aussagen über Dinge nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen. Die Prinzipien und Grundbegriffe würden in dieser Weise von Aristoteles bewußt nur im Umkreis der Sprache erschlossen, da es für ihn einen von der Sprache

unabhängigen Bereich gegenständlicher Wirklichkeit, einen außersprachlichen Bereich, eine sprachfreie Wirklichkeit angeblich überhaupt nicht gibt. Es liegt offen zutage, woher diese sprachanalytische Interpretation 32

ihre Auslegungskategorien bezieht. Es ist die Sprachanalyse des logischen Positivismus, deren moderne Begrifflichkeit hier auf die Philosophie des Aristoteles angewendet wird. Das wäre an sich noch kein Fehler, wenn man diese Übertragung auch als solche kennzeichnen würde. Das geschieht aber gerade nicht. Vielmehr wird versichert, daß sich die sprachanalytische Interpretation bewußt freihält von systematischen Voraussetzungen und Begriffen, die erst durch den ,neuzeitlichen Subjektivismus“ möglich geworden und aus diesem Grunde für das Verstándnis der Philosophie des Aristoteles ungeeignet seien. Es ist aber sicher unbestreitbar, daß der logische Positivismus

móglich

geworden

erst durch

den

ist. Tatsáchlich

,,neuzeitlichen

Subjektivismus“

gibt es trotz gegenteiliger Be-

hauptungen kaum eine moderne Theorie, die der Philosophie des

Aristoteles so inadáquat ist wie die Sprachphilosophie des logischen Positivismus. Das läßt sich aus dem oben Ausgeführten leicht ersehen, weshalb wir auf eine Gegenüberstellung im einzelnen hier verzichten kónnen. Die sprachanalytische Interpretation der Aristotelischen Philosophie geht von der modernen systematischen Voraussetzung aus, daf) die Sprache von der inneren Form her zu verstehen und diese das konstituierende Prinzip der notwendig sprachgebundenen Weltansicht ist. Wenn Aristoteles also die

Formen untersucht, in denen über

die Dinge gedacht und gesprochen wird, dann angeblich deshalb, um die Strukturen zu bestimmen, die immer schon vorausgesetzt sind, wenn in sinnvoller Weise über die Dinge gedacht und gesprochen wird. Es geht Aristoteles also hiernach um die Erforschung der Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Redens überhaupt. Die Frage, in welcher Beziehung die sich dabei zeigenden Strukturelemente des Redens über Dinge zur außersprachlichen Wirklichkeit der Dinge stehen, stellt Aristoteles angeblich gar nicht, weil es für ihn nach der Voraussetzung der sprachanalytischen Interpretation ja keine sprachfreie Wirklichkeit gegeben hat und die Sprache für Aristoteles kein eigener Gegenstandsbereich gewesen sei, dem das Ansichsein der Dinge selbstándig gegenüberstand. Hier zeigt sich der große Rif, der quer durch die ganze sprachanalytische Interpretation geht: es ist gar nicht möglich, daß Aristoteles der Sprache eine so

große Bedeutung in seiner Philosophie hätte zukommen lassen kón-

nen, wie er es tatsächlich getan hat, wenn

er nicht ein gegenständ-

33

liches Verstándnis der Sprache gehabt hátte. Es ist der fundamentale Widerspruch in der sprachanalytischen Interpretation, daß sie latent einen Begriff von Sprache systematisch voraussetzt, den sie Aristoteles selbst ostentativ abspricht, um so nicht in den Verdacht zu geraten, Aristoteles eine Sprachauffassung zu unterstellen, die spezifisch modern ist, wie es der Fall ist. Weder hat Aristoteles die Formen des

Sprechens mit dem Ziel analysiert, die Prinzipien zu bestimmen, unter denen über Dinge allein sinnvoll gedacht und gesprochen werden kann, noch hat er die Formen des Sprechens mit dem Ziel analysiert, dadurch die in der griechischen Sprache verborgene Weltansicht bewußt zu machen. Diese Interpretation geht von modernen systematischen Voraussetzungen aus. Wenn Aristoteles die Strukturen des Sprechens analysiert, dann sind diese Analysen für ihn nichts, was auch nur von Ferne damit etwas zu tun haben kónnte, was man trans-

zendentale Reflexion genannt hat, und es ging ihm nicht um die Bewußtmachung und begriffliche Formulierung der in der griechischen Sprache vorfindlichen Strukturen als Bedingungen einer Weltansicht, denn das setzt von vornherein die Annahme der Móglichkeit grundsätzlich anderer Weltansichten

voraus —

eine Möglichkeit,

die für

Aristoteles überhaupt nicht bestand. Die Weise, wie Aristoteles seine Prinzipien gefunden hat, ist ein

schweres Problem. Nach allem, was wir von ihm selbst wissen, inson-

derheit auch aus seinen in der Einleitung zu De partibus animalium enthaltenen Aussagen über die Methodik naturphilosophischer und naturwissenschaftlicher Forschung, haben die Reflexionen auf die Formen, in denen von den Dingen gesprochen wird, für die Prinzipienfindung nur akzidentelle Bedeutung. In welchem Sinne die Reflexion auf die Strukturen des alltäglichen Sprechens dabei eine Funktion hat, ist oben angedeutet worden. Eine Antwort auf die Frage nach der Prinzipienfindung kann mit einiger Aussicht auf Erfolg nur im Umkreis der Lehre vom νοῦς gesucht werden, wie das in richtiger Erkenntnis des Sachverhaltes von den Kommentatoren auch immer vorgeschlagen worden ist. Der νοῦς bezeichnet aber gegenüber den Prinzipien nicht einen hóheren Standpunkt, denn Aristoteles kennt den sogenannten

‚höheren

Standpunkt"

noch

nicht. Ari-

stoteles verzichtet also nicht auf eine erkenntnistheoretische Begründung der Prinzipien. Aber dieser Weg führt primär nicht über die Sprache, sondern über die Beobachtung, in der sich die Dinge als sol-

94

che in der Wahrnehmung für Aristoteles unmittelbar von sich selbst her zeigen. Dieser Weg ist ein Prozeß, der für Aristoteles erkenntnistheoretisch durch die Komplementaritát des noetischen und dianoetischen Denkens ermóglicht wird. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, diesen Prozeß der Prinzipienfindung zu beschreiben. Es genügt der Hinweis darauf, daß sich Aristoteles dazu geäußert hat

und daß diese Äußerungen eine Theorie der Prinzipienfindung erken-

nen lassen. Die in der Anschauung gegebene Erfahrungstatsache ist die Basis für die Einsicht in die Struktur der vorgegebenen Welt.” Daß die von Aristoteles entwickelte Ontologie für einen modernen Betrachter eine am Leitfaden der (griechischen) Sprache entwickelte Ontologie ist, mag als nachtrügliche historische Feststellung richtig sein, besagt aber gar nichts für das wissenschaftliche Bewußtsein des Aristoteles selbst. Aristoteles betreibt keine Prinzipienforschung in dem Bewußtsein, den Bereich der Sprache niemals zu verlassen. Die sprachanalytische Interpretation nimmt für Aristoteles einen Sprachapriorismus in Anspruch, der seinem Denken schlechthin ungemäß ist." Für Aristoteles steht nicht die Sprache am Anfang, sondern die

davon verschiedene Wirklichkeit der Dinge, die sich in der Sprache lediglich spiegelt. Nur deshalb ist die Sprache für Aristoteles überhaupt interessant. Der entscheidende Grundzug, den die sprachanalytische Aristotelesinterpretation mit der Sprachanalyse des logischen Positivismus gemeinsam hat, ist die Metaphysik- und im letzten Grunde die Theologiekritik. Man will an der Theologie vorbei,

und

das

wäre

bei

Platon

und

Aristoteles

nur

möglich,

25. Für die Interpretation der dafür in Frage kommenden Aristotelestexte ist der Hinweis darauf, was ‚phänomenologisch‘ richtig oder falsch ist, kein angemessenes hermeneutisches Prinzip. Vgl. ein für die Aristotelische Methode sehr instruktives Beispiel: De generatione animalium T" 10. 760 b 30—34. 26. Vgl. dazu jetzt auch den Aufsatz von G. Patzig, Bemerkungen über den Begriff der Form. Archiv für Philosophie 9 (1960) 93—111, bes. 101 u. 108 ff.

27. In diesem Interpretationsversuch macht sich auch der Einfluß spekulativen Idealismus bemerkbar, der ,die absolute Aposterioritát

des der

Erfahrung ins Denken einholen‘ will. ‚Das ist der genaue Sinn der trans-

zendentalen Reflexion'. Gadamer a. a. O. S. 119. Dieser Ansatz liegt ganz außerhalb des Aristotelischen Denkens, weil für Aristoteles die Wesensform der Dinge immer schon die Form ihres Gedachtwerdens ist.

39

wenn man an der Metaphysik vorbeikäme, denn ihre Metaphysik ist eine theologische Metaphysik. Die hier bestehenden Beziehungen in einleuchtender Klarheit aufgezeigt zu haben, ist das Werk von Gerhard Krüger. Von dieser so zu verstehenden Metaphysikkritik her lassen sich alle Argumente der sprachanalytischen Aristotelesinterpretation ableiten. Diese Argumente sind die Prámissen, die man für die von vornherein aus modernen systematischen Gründen feststehende Conclusio nachtrüglich zusammengestellt hat. Das zeigt sich besonders deutlich an dem Schicksal, das diese Interpretation den Lehrstücken des Aristoteles widerfahren läßt, die mit ihrem systematischen Ansatz unvereinbar sind. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn Aristoteles bei seinen Untersuchungen sogar nach Auffassung der sprachanalytischen Interpretation den Umkreis der Sprache verläßt. Diese Ausführungen des Aristoteles, die seinen Dualismus von Seinsordnung und Sprachordnung noch besonders deutlich in Erscheinung treten lassen, werden dann als Protreptik, Dialektik und Rhetorik etikettiert und auf diese Weise neutralisiert. Vor diesem Hintergrund wird der Anspruch einer widerspruchsfreien Interpretation erhoben,

der auch

deshalb

stücke, die für das Verstündnis

Aristoteles

unentbehrlich

sind,

bedeutungslos

bleibt, weil

Lehr-

der theoretischen Philosophie

von

der

Erörterung

des

ausgeschlossen

bleiben. Darüber hinaus verzichtet man aber auch deshalb auf die Heranziehung

kumentieren,

anderer

daß

Lehrstücke

und

die vorgeschlagene

anderer

Stellen, um

Interpretation

eines

zu do-

Textes

darauf nicht angewiesen ist, sondern selbständig bestehen kann, — ein hermeneutisches Ideal, das in Anbetracht des Zustandes, in dem

uns die Werke des Aristoteles überliefert sind, sinnlos ist, ganz abgesehen von der grundsätzlichen philologischen Fragwürdigkeit dieses Ideals. Im Gegensatz zu der sprachanalytischen Interpretation läßt sich zeigen, daß die Prinzipien bei Aristoteles keine inhaltsleeren Ordnungsbegriffe sind, sondern aktuelle Entitäten, die die Wirklichkeit der Dinge konstituieren. Das läßt sich besonders schön für das Prinzip der Form an dem Gebrauch zeigen, den Aristoteles von seinem oft benutzten Argument, daß es ein Mensch ist, der einen Menschen

zeugt (ἄνϑρωπος γὰρ ἄνϑρωπον γεννᾷ), gemacht hat. Es wird sich 28. Die nachfolgenden Ausführungen über dieses Argument sind weiterführende Bemerkungen zu der Bedeutung dieses Argumentes im Rahmen

36

im Folgenden bei der Erörterung dieses Argumentes zeigen, daß Aristoteles dieses Argument nicht etwa dazu benutzt, um mit ihm die Frage nach der Seinsweise des Eidos en passant abzutun, sondern mit ihm diese Frage recht eigentlich zu beantworten. Die Einsicht in den Sinn dieses Argumentes ist für das Verständnis der Aristotelischen Philosophie zentral.

II

Ein Mensch zeugt einen Menschen Die Form ist nach Aristoteles ein Allgemeines. Als solche bringt sie das gemeinsame Wesen aller Einzeldinge derselben Art zur Erscheinung. Die Unterschiede zwischen den Einzeldingen derselben Art aber führt Aristoteles nicht auf ein weiteres Formelement,

etwa

auf ein individuelles εἶδος, zurück, sondern auf den Stoff. Der Stoff ist der Grund

der Individualität,

das heißt die Ursache dafür,

daß

die allgemeine Form nie rein als solche, sondern immer nur in individuell bestimmten Ausprägungen zur Darstellung kommt. Was Kallias und Sokrates unterscheidet, ist in ihrer verschiedenen Materiali-

tät begründet. Ihre Form, das elöog „Mensch“, ist dasselbe, Metaph.

Z 8. 1034 a 5-8: „Das Ganze, diese so beschaffene Form in diesem bestimmten Fleisch und in diesen bestimmten Knochen, ist Kallias und Sokrates. Sie sind verschieden der Materie wegen, die verschie-

den ist, identisch aber der Form nach. Denn die Form ist unteilbar." Daß so die Individualität des Individuellen mehr problematisiert als erklärt ist, bedarf kaum eines Hinweises. Hier zeigt sich die entscheidende Schwáche nicht nur der Aristotelischen, sondern der griechischen otoía-Metaphysik überhaupt. Das Problem der Existenz wird im Horizont der Platonisch-Aristotelischen Wesensontologie gar nicht sichtbar.? Die Unteilbarkeit der Form aber begründet die All-

gemeinheit der Form, die eben darin besteht, daß ihre Merkmale

der Aristotelischen Noetik und knüpfen überleitend an das an, was ich in meinem Buch: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles, München 1962, gesagt habe. 29. Vgl. dazu die Ausführungen von W. Wieland, Aristoteles als Rhetoriker und die exoterischen Schriften. Hermes 86 (1958) 327 ff.

37

mehreren Dingen zugleich zukommen. Diese Merkmale sind einerseits die der zugehórigen Gattung, andererseits die der artbildenden Unterschiede, wodurch diese Form als ein Teil aus dem Umfang der Gattung in ihrem Artcharakter bestimmt wird. Diese Bestimmung erfolgt durch fortlaufende Zerlegung der betreffenden Art in die Unterarten bis hin zu jener letzten Einheit, von der es keine weitere Teilung mehr gibt. Damit erst ist die Form, das heißt für Aristoteles das Wesen eines Dinges, genau bestimmt, in der Weise, daß diese Bestimmung unverwechselbar anwendbar ist, und es ist nur dieses sein Wesen oder seine Substanz, was der Begriff eines Dinges zum Inhalt hat. Er ist „der Gedanke dieses Wesens“ (Zeller), das heißt es sind die wesentlichen Merkmale eines Dinges, die diesen Gedanken in seiner noetischen Einheit konstituieren, und diese wesentlichen Merkmale sind zugleich die seiner Art überhaupt, so daß

der Wesensbegriff mit dem Artbegriff identisch ist. Insofern nun das Wesen der Dinge nach Aristoteles in ihrer Form liegt und diese den Inhalt des Begriffes eines Dinges ausmacht, kann Aristoteles die Wesensform eines Dinges auch als seinen Begriff fassen, der ihm immanent ist und es in seinem Sosein konstituiert. So gesehen ist der Wesens- oder Artbegriff nicht bloß noetisch, in der Weise, daß er nur im Denken seinen Ort hätte, sondern er ist zugleich in den Dingen selbst existent, und der Wesensbegriff als noetische Einheit im Denken ist nur seine adäquate Entsprechung. Diese Aussage trifft in vollem Umfang auf den Bereich der Lebewesen zu, wo sich Gattungen und Arten am deutlichsten realisiert finden.’ Die biologische Spezies „Pferd“ ist nicht ein vom ordnenden und differenzierenden

Denken willkürlich gewähltes bloßes Einteilungsprinzip, sondern eine lebendige, sich selbst erhaltende Wirklichkeit. Denn durch die

Fortpflanzung ihrer Individuen erneuert sich die Art ständig und

hält sich so im immerwährenden Prozeß der natura naturans durch.

30. Insofern ist es möglich, hier die Wesensform als ‚schöpferischen Begriff‘ zu verstehen. Vgl. auch E. Kapp, Artikel ‚Syllogistik‘ in Pauly-Wissowa

RE

IV

A,

Sp.

1050,

der die

Möglichkeit

einräumt,

das

ti ἦν εἶναι

der Aristotelischen Metaphysik als ‚schöpferischen Begriff‘ zu bezeichnen. Zu dem oben Ausgeführten siehe auch den Aufsatz von C. F. von Weizsük-

ker, Allgemeinheit und Gewißheit, in der Heidegger-Festschrift 1959. S. 157

bis 171 (S. 157: „Wahre Erkenntnis gibt es vom Wesen. Das Wesen erscheint logisch als das Allgemeine.“)

38

aber

Der logische Artbegriff ist also hier in der realiter existierenden Art voll wirklich, genauer in der Gesamtheit ihrer Individuen, in denen

er jedoch im einzelnen nie ganz, sondern immer nur unter den einschránkenden Bedingungen der Materie zur Darstellung kommt. Nur im Zeugungsprozeß hat das Allgemeine des Begriffs noch eine ,,potentielle latente

Existenz“.

„Darum

wird

für Aristoteles

der

Satz:

‚Ein Mensch zeugt einen Menschen‘ (ἄνθρωπος ἄνθρωπον γεννᾷ) zum formelhaften Ausdruck für das wahre Wesen des Begriffs und des Seins überhaupt, für die Kreisform der φύσις.“ Es ist das große Verdienst von Erich Frank, mit dieser Interpretation den Sinn der von Aristoteles häufig gebrauchten ἄνϑρωπος ἄνθρωπον yevva-Formel wieder erschlossen zu haben.?! Mit Recht erinnert Frank in diesem Zusammenhang an die berühmte Stelle in der Diotima-Rede des Symposion, wo Platon die Zeugung als Teilhabe der sterblichen Kreatur am Ewigen, Unsterblichen aus dem Wesen des Eros erklärt. Nur vor diesem Hintergrund wird die ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yevva-Formel verständlich, mit der Aristoteles lakonisch die lebendige Wirklichkeit und Wirksamkeit des Artbegriffs bezeichnet, dessen zeitlose Allgemeinheit im schöpferischen Moment der Zeugung gegenwärtig ist. Es empfiehlt sich deshalb, die Gedanken Platons noch einmal, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Aristotelischen Problematik, nachzuvollziehen (206 C 5—8): ,,Zeugung ist die Vereinigung von Mann und Weib. Es ist das eine góttliche Sache. Und dies beides ist in dem sterblichen Lebewesen als ein Unsterbliches: Schwangerschaft und Erzeugung...(206 E 8). Die Zeugung ist ein Ewiges und Unsterbliches, soweit das einem sterblichen Wesen möglich ist... (207 C 9—208 B 4). Die sterbliche Natur sucht nach Vermógen immer und unsterblich zu sein. Sie vermag das aber nur auf diese Weise, durch die Zeugung, daß sie immer ein anderes Junges zurückläßt anstelle des Alten. Denn auch von jedem einzelnen Lebewesen sagt man, es lebe und sei dasselbe, so wie einer von Kindheit an derselbe

genannt wird bis ins Alter. Obwohl er niemals dasselbe in sich befaßt,

8l. E. Frank, Das Problem des Lebens bei Hegel und Aristoteles. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5 (1927) 609—643. Jetzt abgedruckt in: Wissen, Wollen, Glauben. Gesammelte Aufsátze zur Philosophiegeschichte und Existentialphilosophie. Hg. von Ludwig Edelstein. Zürich-Stuttgart 1955, 213—949. Zu der Problematik vgl. ferner N. Hartmann, Aristoteles und Hegel. Kl. Schr. II, 1957, 214-252.

99

wird er dennoch derselbe genannt, während er doch immer ein neuer wird, anderes wieder verliert, so bezüglich der Haare, des Fleisches,

der Knochen, des Blutes und des ganzen Kórpers. Und nicht nur be-

züglich des Kórpers, sondern auch bezüglich der Seele bleiben der Charakter, die Gewohnheiten, Ansichten, Begierden, Freuden,

Schmerzen, Ängste, überhaupt alles derartige in einem jeden niemals dieselben, sondern das eine entsteht, das andere vergeht. Aber

noch viel wundersamer als das ist, daß auch von den Erkenntnissen

nicht nur die einen entstehen, die anderen vergehen und wir nicht einmal bezüglich der Erkenntnisse dieselben sind, sondern daß auch jede einzelne Erkenntnis dasselbe erfährt. Denn was man Nachsinnen nennt, das bezieht sich auf die Erkenntnis, sofern sie entschwin-

det. Vergessen nämlich ist das Entschwinden einer Erkenntnis, Nachsinnen aber setzt eine neue Erkenntnis anstelle der entschwindenden ein und erhält so die Erkenntnis, so daß sie dieselbe zu sein scheint. Denn auf diese Weise erhält sich alles Sterbliche, nicht dadurch, daß es schlechthin immer als dasselbe ist, wie das Göttliche, sondern dadurch,

daß das Entschwindende

deres Junges von der Art zurückläßt, Mittel hat das Sterbliche Anteil an sowohl wie alles andere.“ ”* Den wissenschaftlich nüchternen, großartigen Platonischen Konzeption

und Veraltende ein an-

wie es selber war. Durch dieses der Unsterblichkeit, der Körper

schmucklosen Nachhall dieser finden wir bei Aristoteles im 4.

Kapitel des 2. Buches von De Anima (415 a 26 — b 7): „Die natürlich-

ste Funktion ist für das Lebewesen, soweit sie vollkommen und nicht Verstümmelungen sind oder von selbst entstehen, ein anderes hervorzubringen wie sie selbst, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, um nach Vermógen am Ewigen und Góttlichen teilzuhaben. Denn danach strebt alles und um dessentwillen handelt alles, was der Natur

gemäß handelt. Das ‚um dessentwillen' aber hat zwei Bedeutungen, als das Wozu und das Wofür. Da es (das Leben) nun nicht imstande ist, am

Ewigen

und

Góttlichen

in stetiger Dauer

teilzuhaben,

weil

32. Vgl. Leges IV 721 B 6 — D 4, VI 773 E f. Siehe dazu auch H. Jonas, Immortality and the Modem Temper. Harvard Theological Review 55 (1962) 1—20. Jonas geht in seiner sehr gehaltvollen und nachdenkenswerten Studie von der Platonstelle aus, um dann über Sinn und Möglichkeit des Unsterblichkeitsgedankens „in the profound distemper of the contemporary mind" (19) zu reflektieren.

40

kein Vergängliches als dasselbe und als der Zahl nach eines fortbestehen kann,

so nimmt

ein jedes

auf die Weise

daran

teil, wie es

ihm móglich ist, das eine mehr, das andere weniger. Und nicht es

selbst dauert fort, sondern ein Wesen, wie es selbst, eins mit ihm zwar nicht der Zahl, aber der Art nach. ^? Diese biologische Art”, die allgemeine Form oder das Wesen, ist

das Prinzip der immanenten Zwecktütigkeit der Natur, denn die Form oder das Wesen eines Dinges ist sein Zweck, der als solcher 33. Vgl. De gen. animal. B 1. 731 b 24 — 7/32 a 1.

34. Über das Verhältnis des biologischen Art- und Gattungsbegriffs bei

Aristoteles informiert sehr gut G. Senn, Die Einführung des Art- und Gattungsbegriffs in die Biologie. Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden

Gesellschaft

1925,

II. Teil,

183 f.:

„Die

Begriffe

‚Art‘

und

‚Gattung‘, ‚Species‘ und ‚Genus‘, εἶδος und γένος waren in der Biologie keineswegs von jeher gebráuchlich, sondern sind aus der antik-griechischen Logik allmáhlich auf die Biologie übertragen und auf Organismen angewendet worden. Während Plato die Gesamtheit gleich aussehender toter Körper und lebender Organismen als εἶδος -Species bezeichnete, führte Aristoteles den Gegensatz von γένος und εἶδος ein, wobei εἶδος für relativ untergeordnete, γένος für relativ übergeordnete Einheiten verwendet wurden. Die Einheiten mittleren Ranges, z. B. Familien, konnten somit ‚Genus‘ im Verhältnis zur nächst unteren Einheit. z. B. der Gattung, sein,

gleichzeitig aber auch ,Species' der náchst hóhern Einheit, z. B. der Ordnung. Diese Termini verwendeten Aristoteles und Theophrast sowohl für unbelebte Kórper wie Steine, Sáfte und Gerüche, als auch für Tiere und Pflanzen. Jedoch bezeichneten sie eine bestimmte Einheit dieser Kórper keineswegs stets mit demselben Ausdruck, sondern je nach dem Verháltnis zu einer nächst untern oder nächst höhern Einheit bald mit γένος, bald mit εἶδος (...) Die von Aristoteles eingeführten wissenschaftlichen Ter-

mini γένος und εἶδος

(sc. haben sich) und zwar nur in der biologischen

Naturwissenschaft dauernd eingebürgert. Dabei haben aber beide Termini ihre ursprünglich relative Bedeutung verloren und sind zu Bezeichnungen von

zwei

genau

bestimmten,

absoluten

Einheiten

geworden,

von

denen

nämlich, die man jetzt als Gattung und die Art bezeichnet. Dieser Fixierungsprozeß hatte — zunächst fast unmerklich — schon im späteren Altertum (bei Dioskurides um 77 n. Chr.) und im Mittelalter (bei Albertus Magnus 1193—1280) begonnen. Vollendet war er dann bei Bauhin (1550—1624),

wenn die Fixierung auch erst durch die Einführung der streng binären Nomenclatur durch Linne (1707—1778) in dem jetzt allgemein gebräuchlichen Sinn in der Biologie zur Herrschaft gelangt ist.“

41

zugleich die eigentliche Ursache seiner Bewegung ist, durch deren Vollzug jenes Ding, sofern es der Natur angehórt, seine Wesensform selbst zu verwirklichen trachtet, wozu gerade auch die ,,natürlichste Funktion" gehórt, so daf bei dem, was von Natur wird, sowohl der

Stoff (τὸ ἐξ οὗ, f| ὕλη) als auch die bewegende Ursache (τὸ ὅϑεν f ἀρχὴ τῆς κινήσεως) und der Zweck (τὸ οὗ ἕνεκα) die Natur selbst

ist." Die bewegende Ursache und der Zweck aber sind auch bei der Zeugung insofern identisch, als sie von derselben Art (oder Form) sind: die Zeugung neuer Lebewesen setzt die Existenz anderer, voll entwickelter, artgleicher Lebewesen voraus, die durch die Zeugung den allgemeinen Gattungscharakter fortpflanzen, was für Aristoteles eben beweist, daß die Form kein selbständiges Einzelwesen (τόδε),

keine Substanz, sondern eine allgemeine Beschaffenheit (τοιόνδε) ist. Im Unterschied nun zu dem Werden von Natur, das mit seinen

immanenten Zwecken das Prinzip der Bewegung in sich selbst hat, hat das Werden durch künstliche Tätigkeit das Prinzip der Bewegung außer sich. Der allgemeine Gattungsbegriff wirkt im Lebendigen von innen heraus konstant weiter, während die Herstellung von Artefakten der von außen her wirkenden kontingenten Tätigkeit des menschlichen Verstandes bedarf, wie zum Beispiel bei dem Bau eines Hauses, wenngleich nach Aristoteles auch hier — im Bereich der τέχνη --- die Zweckmäßigkeit der Tätigkeiten eine solche ist, daß die Natur nichts anderes würde

entstehen lassen, wenn

sie ihre Funk-

tionen übernähme und etwa ein Haus wachsen ließe. Die Kunst ist 35. Vgl. dazu W. Theiler, Zur Geschichte der betrachtung bis auf Aristoteles 1925, S. 91: „Damit gegeben. Das τέλος ist ja überhaupt nur Ausdruck εἶδος. Es ist eine andere Ausdrucksweise für die aller Ideen durch die Idee des Guten. So stehen

teleologischen Naturist aber auch das τέλος des Eigenwertes jedes platonische Umfassung sich (da die ὕλη nur

sekundär φύσις ist) als Hauptkonkurrenten gegenüber φύσις ε]ς ἀρχὴ τῆς

κινήσεως und φύσις εἶδος als -τέλος. Jeder Prozeß aber in der Natur ist ὁδὸς εἰς φύσιν, diese im Sinne der οὐσία, des τέλος (Phys. 193 b 12). Die ἀρχὴ τῆς κινήσεως, die jedes Naturding in sich hat, hat die Tendenz, eben dieses der Bestimmung zuzuführen, das Feuer in die Hóhe an seinen Platz und das Lebewesen zum Wachstum und zur Vollendung im Sinne

der Gattung. φύσις als ἀρχὴ τῆς κινήσεως

eines Einzeldinges

und

als

εἶδος-τέλος fallen im gewissen Sinne zusammen. So erklärt sich die Zweckmäßigkeit in der Natur, eine Zweckmäßigkeit, die nun völlig ihre Analogie hat in der Technik."

42

nur Nachahmung der Natur und da, wo ein natürliches Paradeigma fehlt, sozusagen ihr verlängerter Arm.” Aber auch bei der Herstellung von Artefakten ist — das ist für unseren Zusammenhang das Entscheidende



die Form

immer

schon

vorher

existent, nämlich

als Begriff im Geiste dessen, der die Artefakten herstellt. Hier liegt nun allerdings zugleich auch wieder der wesentliche Unterschied gegenüber den Naturdingen, die nicht spontan entstehen und den Anstoß zu ihrer Entstehung von außen empfangen, sondern zufolge der inneren Zwecktätigkeit der Natur werden und als Glieder der Natur selbst wieder Prinzip der Bewegung sind und im Kreislauf der Natur

den

Bestand

ihrer Arten,

das heißt

aber Aristotelisch

ihrer

Formen sichern. Die Aristotelische Fassung der Lehre von der Ungewordenheit und Unvergänglichkeit der Form als solcher hat ihren unverkennbaren Ursprung und ihren erfahrungsmäßigen Rückhalt in der Anschauung der organischen Natur, und von hier ist diese Lehre auf alle Einzeldinge ausgedehnt worden. Wie sehr Aristoteles aber gleichwohl den Unterschied zwischen Naturdingen und Artefakten akzentuiert, zeigt nichts deutlicher als seine wiederholt geäußerte 36. Vgl. dazu Phys. B 8. 199 a 8—20. Vgl. auch Phys. B 2. 194 a 21, De anima B 4. 415 b 16 f£, sodann den Jamblichabschnitt Prortr. 9 (49, 3—52. Pistelli. W 11. Ross 43—45). Zur Sache siehe den Beitrag von H. Blumenberg, ,,Nachahmung der Natur*. Zur Vorgeschichte der Idee des schópferischen Menschen. Studium Generale 10 (1957) 266 ff. — Der Zwecktütigkeit der Natur bei Aristoteles entspricht bei Platon die Funktion

der Weltseele. Wie Aristoteles vom βούλεσθαι der φύσις spricht, so Platon vom βούλεσθαι derspvyr| der Welt. Vgl. Theiler 89 f. Vgl. ferner G. v. Hertling, Materie und Form und die Definition der Seele bei Ari-

stoteles, 1871, 52 ff. Cl. Baeumker, Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie, 1890, 252 f. H. Meyer, Geschichte der Lehre von

den Keimkráften von der Stoa bis zum Ausgang der Patristik, 1914, 69.

Ders., Natur und Kunst bei Aristoteles. Ableitung und Bestimmung der Ursächlichkeitsfaktoren. Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums Bd. 10, H.2, 1919, passim. H. Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, 1942, 52 ff. Dieselbe, Aristotle's Teleology and Uexkülls Theory of Living Nature. Class. Quart. 42 (1948) 44ff. G. K. Plochmann, Nature and the Living Thing in Aristotle’s Biology. Journal of the History of Ideas 14 (1953) 167—190. Vgl. auch P. Natorp, Platos Ideenlehre,

?1921,

11. Kap.:

Aristoteles

klárungsgrund des Werdens, S. 415 ff.

und

Plato,

b)

Die

Form

als Er-

43

Auffassung, daß die Naturdinge am meisten selbständige Dinge, Substanzen seien und eigentlich nur ihnen eine Wesenheit, námlich die zwecktätige Natur, zukomme.? Von hier aus fällt ein bezeichnendes Licht auf das ἄνθρωπος ἄνϑρωπον yevvä-Argument, insofern jetzt auch sein paradeigmatischer Charakter offenbar wird, was die Aussage Franks weiter bestätigt, daß dieses Argument für Aristoteles „zum formelhaften Ausdruck für das wahre Wesen des Begriffs und des Seins überhaupt" wird. Denn in der Fortpflanzung der Lebewesen einer bestimmten Art spaltet sich der allgemeine Artbegriff in immer neue Individuen dieser Art auf und verwirklicht so immer mehr sein wahres Wesen, námlich seine zeitlose Allgemeinheit, und zwar mit einer Konstanz, wie sie nur in der Natur Wirklichkeit wird,

weshalb denn auch gerade in den Zeugungsprozessen „das wahre Wesen des Begriffs und des Seins überhaupt" für Aristoteles in Erscheinung tritt und nicht etwa in der kontingenten Herstellung von Artefakten, deren Einteilung nach Gattung und Art ja nur nach dem Vorbild der natürlichen Unterscheidung der Lebewesen durchgeführt ist. Wir wollen der eigentümlichen Funktion des ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον vevvä-Argumentes einmal weiter nachgehen, da es für das Verständnis der Voraussetzungen der Aristotelischen eldos-Lehre von zentraler Bedeutung ist, wie sich ja schon gezeigt hat, und da auDerdem bisher noch nie der Versuch gemacht worden ist, die Hauptstellen, wo dieser zumeist als Kuriosum und eigenwillige Marotte des Aristoteles mißverstandene Satz vorkommt, näher zu prüfen. Zunächst sei hier noch zu dem Vorhergehenden die Stelle Metaph. Z 7. 1032 a 15-27 zitiert, wo Aristoteles über das natürliche Werden spricht: ‚Natürlich

ist dasjenige Werden, was aus der Natur wird. Das, woraus etwas

wird, ist die Materie; das, wodurch es wird, ist ein von Natur Seiendes; das, was es wird, ist ein Mensch, eine Pflanze oder sonst etwas

Derartiges, was wir vorzugsweise Einzelding nennen. Alles, was von Natur oder durch Kunst wird, hat Materie. Denn jedes derartige Ding

kann sowohl sein als nicht sein; der Grund dafür ist seine Materie. Allgemein aber ist sowohl das, woraus etwas wird, als auch das, wozu etwas wird, Natur. Denn das Werdende hat Natur, wie Pflanze oder

Tier.

Und

das, wodurch

37. Vgl. Metaph. 1042 a 7 ft.

44

A

etwas

wird, ist die artmäßig

8. 1017 b 10 ff., Z

2.

1028b

8ff,

bestimmte,

1034a

4, Hl.

gleichartige Natur, die in einem anderen ist. Ein Mensch nämlich zeugt einen Menschen. Auf diese Weise nun wird das, was durch Natur entsteht. Die anderen Entstehungsweisen werden Tátigkeiten genannt.“ Das Erzeugende ist also normalerweise mit dem Erzeugten gleichartig, und das gilt nicht nur für die Naturdinge, sondern auch für die Artefakten, denn der Begriff des Hauses im Denken des Baumei-

sters und das wirkliche Haus sind der Art nach, das heißt begrifflich ein und dasselbe. Eine scheinbare Ausnahme von dieser Regel ist es, wenn das Pferd ein Maultier zeugt. Denn hier scheint wider die Natur (παρὰ φύσιν) Erzeugendes und Erzeugtes nicht von derselben

Art zu sein. Aber Aristoteles sieht auch in diesem Fall eine Bestäti-

gung seiner Lehre und nicht etwa eine Abweichung von der aufgestellten Regel. Der Unterschied ist lediglich ein nomineller: während man sonst die Zeugungspartner unter den, beiden Partnern gemeinsamen Namen der Gattung beziehungsweise Art zusammenfassen

kann, wie etwa Mann und Weib unter Mensch, fehlt dagegen im

Falle der Zeugungspartner Esel und Pferd das ὄνομα κοινόν, so daß hier die Gleichartigkeit von Zeugendem und Erzeugtem nicht namentlich aufgewiesen werden kann, obwohl sie sachlich durchaus gegeben ist: „Bei Einigem ist es augenscheinlich, daß das Erzeugende

von der gleichen Beschaffenheit ist wie das Erzeugte, zwar nicht als dasselbe und nicht als eines der Zahl nach, aber der Art nach, wie

bei den Naturdingen —, denn ein Mensch erzeugt einen Menschen, — wenn nicht etwas gegen die Natur geschieht, wie zum Beispiel, wenn ein Pferd einen Maulesel zeugt. Aber auch in diesem Falle geschieht etwas auf gleiche Weise, nur, daß das, was dem Pferd und

dem Esel gemeinsam ist, die nächsthöhere Gattung, unbenannt ist, beide aber dürften wohl zu einer solchen Gattung gehören, wie sie zum Beispiel schon der Name ,Maulesel' kennzeichnen würde.“” Eine weitere Funktion des ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yevvä-Argumentes besteht darin, die Aussage

zu erhärten,

daß

das Aktuelle der Zeit

nach früher ist als das Potentielle. In Metaph. Θ 8. 1049 b 17—27 führt Aristoteles unter Heranziehung des Argumentes Folgendes aus. Von einem aktuell und einem potentiell Seienden derselben Art ist 38. Vgl. dazu Metaph. Z 8. 1033b 32. 39. Metaph. Z 8. 1033 b 29 —1034 a 2. Vgl. dazu Hist. animal. 577 b 5—8 und De gen. animal. 738 b 27—35.

45

das aktuell Seiende das Frühere. Früher als dieser bestimmte aktuell existierende Mensch ist zwar die Materie, aus der er geworden ist, also das, was Mensch potentiell ist. Aber noch früher ist ein Aktuelles, der voll entwickelte Mensch, der das Potentielle verwandelt: „Denn immer wird aus dem potentiell Seienden das aktuell Seiende

vermittels eines aktuell Seienden:

so wird 'ein Mensch

aus einem

Menschen, ein Gebildeter durch einen Gebildeten, indem immer ein

Erstes da ist, das bewegt; was aber bewegt, ist bereits aktuell". Die Materie,

aus

der ein Mensch

wird,

der Mensch

potentiell,

ist der

weibliche Zeugungsstoff, als welchen Aristoteles die Katamenien anspricht. Der männliche Same dagegen ist die Kraft, die die Entwicklung des Embryo auslóst, in den er aber stofflich nicht mit eingeht. Diese Vorstellungen über die verschiedenen Funktionen der beiden Geschlechter bei der Zeugung liegen der eben zitierten Stelle zugrunde.“ Daß das Aktuelle aber auch dem Wesen — nicht nur der Zeit nach — früher, das heißt in höherem Grade wirklich ist als das Potentielle,

demonstriert Aristoteles ebenfalls an dem Phänomen der Entstehung der Lebewesen, speziell des Menschen, wobei er von der allgemeinen Aussage ausgeht, daß das, was der Entstehung nach das Spätere ist, der

Form und dem Wesen nach das Frühere ist, „wie der Mann frü-

her ist als das Kind und der Mensch früher als der Same, denn jenes hat schon die Form, dieses hat sie noch nicht" (Metaph. © 8. 1050 a 5—7). Das aktuell Seiende hat immer schon die Form, die das poten40. Vgl.

dazu

die

detaillierten

und

instruktiven

Ausführungen

von

E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen

der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1950, Nr. 19: 1349—1382 „Die Zeugungs- und Vererbungslehre des Aristoteles“, bes. 1356 ff. Ferner

W. Johannsen, Die Vererbungslehre bei Aristoteles und Hippokrates im Lichte heutiger Forschung. Die Naturwissenschaften 5 (1917) 389 ff. H. Meyer, Das Vererbungsproblem bei Aristoteles. Philologus 75 (1918) 323 ff. H. Balss, Die Zeugungslehre und Embryologie in der Antike. Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissensch. und Medizin 5 (1936) 1 ff. Vgl. jetzt auch E. Lesky - J. H. Waszink, RAC IV (1960) s. v. Embryologie, bes. Sp. 1231. — Zu der philosophischen Bedeutung der oben berührten Lehre des Aristoteles siehe die Darstellung von G. Patzig, Die Entwicklung des Begriffs der Usia in der ‚Metaphysik‘ des Aristoteles, Diss. Göttingen 1950 (mschr.), S. 125 ff.

46

tiell Seiende noch nicht hat. Insofern also ist das Aktuelle auch dem Wesen nach früher. Daß das ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yegvvq-Argument von Aristoteles, wie schon die bisherige Untersuchung lehrt, nicht nur in einem einzigen Sinne gebraucht wird, zeigt besonders instruktiv das 3. Kapitel von Metaph. A, wo das Argument zweimal zur Anwendung kommt, wie auch in dem nachfolgenden 4. Kapitel von A, worauf schon hier hingewiesen sei. Das 3. Kapitel beginnt mit dem kurzen Referat des Lehrstücks, daß die Form und die Materie, für sich genommen, nicht

werden, und geht dann weiter: ‚Jedes Ding entsteht aus einem Synonymen (ἔκ συνωνύμου). Dinge (οὐσίαι) sind die Naturdinge und die anderen. Denn etwas entsteht entweder durch Kunst, Natur, Zufall oder von Ungefähr. Die Kunst hat den Ursprung in einem anderen, die Natur aber in sich selbst: denn ein Mensch zeugt einen Menschen“, (1070 a 4—8). Es liegt hier wieder das allgemeine Prinzip zugrunde, daß bei der natürlichen wie künstlichen Entstehung ein aktuell Seiendes aus einem potentiell Seienden ein aktuell Seiendes macht, wobei das Erzeugende schon die Form des Erzeugten hat. Aber der Modus dieses Habens ist verschieden. In der Natur hat das Erzeugende die Form des Erzeugten in der Weise, daß es selber von dieser Form ist: ein Mensch wird aus einem Menschen, eine Pflanze

aus einer Pflanze. Das Erzeugende hat hier die Form auf dieselbe Weise wie das Erzeugte. Anders bei der künstlichen Hervorbringung. Hier hat das Erzeugende, der Hersteller, die Form des Erzeugten nur als Inhalt seines Denkens: das Haus wird zwar durch die Form des Hauses, aber diese ist zunächst nur als Gedanke im Geiste des Baumeisters.

Da in der Natur das Hervorbringende und das Hervorgebrachte schlechthin demselben Genus angehóren — der Mensch zeugt einen Menschen —, so gilt hier die Aussage, daß das eine mit dem anderen synonym ist und also hier im strengen Sinne immer nur etwas aus einem Synonymen (ἐκ συνωνύμου) entsteht, also aus etwas, das denselben Namen und dasselbe Wesen hat, das heißt nominell und begrifflich identisch ist. Demgegenüber hat bei dem, was auf künstlichem Wege entsteht, das Hervorbringende in Gestalt des Herstellers nicht einmal den Namen mit dem Hervorgebrachten gemein: das Haus wird nicht durch ein Haus hergestellt, sondern durch den Baumeister. Insofern nun aber die Idee des Hauses im Geiste des Baumei47

sters denselben Namen

hat wie das wirkliche Haus, und jene ein

Teil von diesem ist, nämlich seine Form, kann Aristoteles sagen, daß

die Artefakten aus einem gleichnamigen Teil (ἔκ μέρους ὁμωνύμου) entstehen. Aber diese Unterscheidung der verschiedenen Modi, in denen das

Erzeugende die Form des Erzeugten hat, bleibt äußerlich. In Wahr-

heit entstehen auch die Artefakten ἐκ συνωνύμου, denn die gedachte Form des Hauses ist mit dem wirklichen, erbauten Haus nicht nur nominell, sondern eben der Form, das heißt aber dem Begriff nach

identisch, also synonym: das Wesen dieses Wirklichen, aus Stein erbauten Hauses ist sein Begriff, das gedachte Haus im Geiste des Baumeisters, und insofern wird das Haus aus einem Haus (τὴν οἰκίαν ἐξ οἰκίας, τῇς ἄνευ ὕλης τὴν ἔχουσαν ὕλην 1032 b 12 oder ἢ οἰκία ἐξ οἰκίας, T] ὑπὸ νοῦ, 1034 a 24) wie ein Mensch aus einem Menschen;

denn was den

Menschen

zum

Menschen

macht,

ist die

Form, die der männliche Elternteil der Materie, in diesem Falle dem weiblichen Zeugungsbeitrag, dem potentiellen Menschen, einprágt, auf welche Weise er einen Menschen zeugt, der der Form nach, das heißt aber begrifflich mit ihm identisch ist. Deshalb kann Aristoteles die Entstehung der Naturdinge und der Artefakten auch mit dem Prozeß des syllogistischen Schließens vergleichen. Im Syllogismus wird eine Eigenschaft aus einem Subjekt abgeleitet, die diesem Subjekt wesensmäßig, gemäß seiner Definition, zukommt. Der Syllogismus hat es nicht mit dem Wesen als solchem zu tun, wie die Definition, sondern mit den Eigenschaften, die

daraus mit Notwendigkeit folgen. Wie nun im Syllogismus das Einzelne aus dem synonymen Allgemeinen folgt, so folgt in der Natur vornehmlich und entsprechend in der Kunst das Individuum aus der Gattung. Das logische Einzelne, das natürliche Einzelne und das künstliche Einzelne gehen so aus dem synonymen Allgemeinen hervor. Wie also das schließende Denken vom Wesensbegriff ausgeht (ἐκ τοῦ τί ἐστι) und von da zu den wesentlichen Bestimmungen fortschreitet, so erfolgt in der Natur und in der herstellenden Tätigkeit

(τέχνη) das Werden des Bestimmten ἐκ τοῦ τί ἔστι aus dem als der

Wesen

Form der Gattung, aus dem Begriff: „Wie bei den Schlüssen

ist der Anfang von allem das Wesen. Denn aus dem Wesensbegriff ergeben sich die Schlüsse, — und hier die Weisen des Entstehens (sc. der Artefakten). Und auf gleiche Weise verhält es sich mit den 48

Naturdingen. Denn der Same erzeugt — wie die Kunst das Kunstwerk. Er hat dem Vermógen nach die Form in sich, und dasjenige, wovon

der Same

stammt, ist mit dem, was erzeugt wird, normaler-

weise gleichartig, — wenn keine Anomalie vorliegt: deshalb wird ein Maulesel nicht aus einem Maulesel. Denn man darf nicht fordern, daf) alles so wird, wie ein Mensch aus einem Menschen:

vom Mann

wird auch das Weib gezeugt“, 1034 a 30 — b 4. Inwiefern der Spezialfall des Maulesels trotzdem der allgemeinen Regel der Gleichartigkeit von Erzeugendem und Erzeugtem entspricht, haben wir bereits von Aristoteles selbst erfahren. Und ebenso ist es mutatis mutandis bezüglich des Tatbestandes, daß ein Mann ein Weib zeugt

oder ein Weib einen Mann gebiert. Auch hier ist das tertium comparationis (das κοινόν) die Gattung: ein Mensch erzeugt einen Menschen. Und wenn Aristoteles sagt: man darf nicht fordern, daf alles so wird, wie ein Mensch aus einem Menschen, das heißt also, wie es die allgemeine Regel abstrakt formuliert, dann bedeutet das, daß man sich nicht nur an dem Fall orientieren soll, der dann vorliegt,

wenn ein Mann einen Sohn zeugt. Die Allgemeinheit der Regel wird durch die Besonderheiten des Individuellen nicht aufgehoben. Diese Ausführungen waren nótig, um die schon zitierte Stelle in Metaph. A 8 zu verstehen, der wir uns jetzt wieder zuwenden wollen. Wenn es dort heißt: jedes Ding entsteht aus einem Synonymen (1070 a 5), so ist nunmehr deutlich, daß damit sowohl die Naturdinge als auch die Artefakten gemeint sind und nicht, wie die bisherigen Interpreten annehmen, nur die Naturdinge. Das wirkliche Haus entsteht aus dem gedachten Haus, jenes ist mit diesem synonym. Es besteht deshalb nicht nur keine Notwendigkeit, sondern es ist geradezu falsch, das ἄνϑρωπος Avdownov yevva-Argument von 1070 a 8 umzustellen und hinter den Satz, daß jedes Ding aus einem Synony-

men entsteht, einzufügen. Zu dieser Umstellung ist man allerdings aufgefordert, wenn man auch das ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yevvä-Argument hier nicht versteht und es an der Stelle, an der es uns hier überliefert ist, für ursprünglich nicht hergehörig hält. Die Stelle lautet: „Die Kunst hat den Ursprung

in einem

anderen,

die Natur aber in

sich selbst: denn ein Mensch zeugt einen Menschen“ (10704 7 £.). DieAussage, daß die herstellende Tätigkeit den Ursprung derBewegung in einem anderen hat, die Natur dagegen in sich selbst, macht als solche noch keine Schwierigkeit und entspricht der durchgángi-

49

gen Unterscheidung, wie sie Aristoteles zwischen Natur und herstellender Tätigkeit von Gegenständen durch den Menschen vornimmt. Problematisch wird diese Unterscheidung aber, wenn man an die Entstehung der Lebewesen denkt. Denn hier geht offensichtlich der Ursprung der Bewegung von einem anderen aus, während er ihnen eben sonst charakteristischerweise immanent ist, weshalb nach der Meinung der Interpreten das ἄνϑρωπος ἄνθρωπον yevva-Argument als Stütze der These ,,f| φύσις ἀρχὴ ἐν αὐτῷ“ denkbar ungeeignet sei. Das ist ein Scheinproblem. Wir sahen: die herstellende Tátigkeit (τέχνη) geht aus von dem vorgängig gedachten εἶδος einer Sache, mit dem die hergestellte Sache synonym ist. Insofern aber die gedachte Sache, die also mit der hergestellten begrifflich identisch ist,

vorgängig in einem anderen ist, das vom

nach verschieden ist, námlich

zum

Hergestellten der Form

Beispiel im Baumeister,

ist der

Ursprung der herstellenden Tátigkeit in einem anderen, und zwar wesensmäßig anderen. Das aber ist bei der Entstehung der Lebewesen nicht der Fall. Hier ist nicht nur das εἶδος, aus dem sie werden,

dasselbe,

sondern

auch

das,

dem

dieses

immanent

ist.

Des-

halb kann Aristoteles die Aussage, daß die Natur den Ursprung in sich selbst hat, mit vollem Recht mit dem ävdownos ἄνθρωπον γεννᾷArgument erhärten, das hier in der Bedeutung zu fassen ist, daß die Natur sich in ihren verschiedenen Ausprägungen selbst erhält. Neben τέχνη und φύσις werden an der zitierten Stelle 1076 a 6 als Ursprung des Werdens noch τύχη und ταὐτόματον genannt. Von ihnen wird a9 ausgesagt, sie seien nur Privationen (στερήσεις) der beiden ersten. ταὐτόματον ist der weitere Begriff, der sowohl das bezeichnet, was sich bei einem natürlichen WerdeprozeD, der auf ein bestimmtes τέλος gerichtet ist, zufállig nebenbei ereignet, als auch das, was sich bei einer zweckgerichteten Handlung zufällig nebenbei ereignet. Die Ursächlichkeit der τύχη dagegen beschränkt sich auf den zweiten Fall. Aber beide Begriffe werden auch unterschiedslos

gebraucht oder auch so, daß ταὐτόματον auf die erste und τύχη auf

die zweite festgelegt sind.* Das ist hier der Fall, wo ταὐτόματον die 41. Vgl. dazu A. Torstrik, Περὶ τυχῆς xoi τοῦ αὐτομάτου,

B 4—986. Hermes 9 (1875) 425 ff. D. D. Heath, On Some

Arist. Phys.

Misconceptions

of

Aristotle's Doctrine on Causation and τὸ αὐτόματον, Journal of Phil. 7

(1877) 97 ff. H. Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles 44 ff.

50

στέρησις φύσεως, τύχη die βτέρηξις τέχνης ist Von dem durch diese Privationen Hervorgebrachten gilt nun nicht, daß es ἐκ συνωνύμου entstanden ist. In De historia animalium E 1. 539 a 22 bezeichnet Aristoteles die von selbst entstandenen Tiere (τὰ αὐτόματα) als οὐκ ἀπὸ συγγενῶν geworden. Analog ist es bei dem, was im Bereich der menschlichen Tätigkeit durch Zufall geschieht. Hier fehlt dann die τέχνη. Beide Privationen sind ,,exceptions that prove the rule. The words ,chance' and ,spontaneity', being meant merely to indicate the absence, in certain cases, of artistic or natural action, indicate that such action, with the ,synonymity' which it implies, is the normal thing" (Ross II 355).

Nicht weniger aufschlußreich für die Aristotelische si6og-Lehre

als der bisher untersuchte Teil von Metaph. A 8 ist die zweite Hälfte des Kapitels. Nach einer kurzen Unterscheidung der drei Arten von οὐσία: Materie, Form und Einzelding, führt Aristoteles aus, daß bei

den Artefakten die Form nicht neben der aus Form und Materie zusammengesetzten Substanz (παρὰ τὴν συνϑετὴν οὐσίαν) noch für sich existiert, etwa als eine Form des Hauses neben dem Hause selbst, ausgenommen, insofern die Kunst selbst, die mit dem formalen Element des wirklichen Hauses identisch ist, die Form ist. Wenn

über-

haupt irgendwo die Form für sich bestünde, so sei dies noch am ehe-

sten in der Natur der Fall, weshalb Platons Ansicht eigentlich gar

nicht so abwegig sei, es gäbe so viele Ideen wie Naturdinge", vorausgesetzt, daf? solche Ideen überhaupt existierten. Diese seien nun aber gar nicht gefordert, weder zur Erklárung der natürlichen Entstehung: ,,denn ein Mensch zeugt einen Menschen, der einzelne den einzelnen“ (1070 a 28), noch zur Erklärung der künstlichen Herstellung: hier bedarf es nur einer Fertigkeit, die sich auf etwas versteht. Weshalb

Aristoteles die Annahme

von Ideen für Naturdinge an

sich gar nicht als so unbegründet erscheint, ist offensichtlich. Der

sich stándig durchhaltende Formenbestand der Natur scheint selbst

dazu aufzufordern, für die augenscheinlich konstanten“? Gattungen

und Arten Ideen im Sinne selbstándiger Wesenheiten anzunehmen.

49. Vgl. dazu die lehrreichen Ausführungen von Ross, Aristotle's Metaphysics I, XLIX—LI,

191 ff., 199 f. Ferner zu dem Problem R. S.Bluck, Ari-

stotle, Plato and Ideas of Artefacta, Classical Review 61 (1947) 75—76. 43. Zur Aristotelischen Lehre von der Unveränderlichkeit der Gattungen und Arten der Dinge vergleiche den Artikel ‚Entwicklung‘ von H. Dörrie

ol

Das

Lob,

das Aristoteles Platon

zollt, ist deshalb

eine Bestátigung

unserer Interpretation des ἄνϑρωπος üvüponxov yevva-Argumentes und beleuchtet die naturphilosophischen, im metaphysischen Sinne

des Wortes bio-logischen Ursprünge der Aristotelischen elöog-Lehre.

Daß diese Ursprünge auch zugleich von logisch-ontologischer Relevanz sind, hat die bisherige Untersuchung erkennen lassen und wird sich auch weiterhin bestátigen. Man hat Aristoteles oft vorgeworfen, daß er trotz seiner Kritik an der Platonischen Ideenmetaphysik im Grunde mit seiner erneut gestellten Frage nach der οὐσία und noch mehr mit seiner Beantwortung dieser Frage von dem Platonischen Ansatz nicht losgekommen sei, indem er nur die transzendente Wesenheit Platons zu einer im-

manenten gemacht habe, ohne die entscheidende Frage befriedigend zu beantworten, worin das Sein dieser Wesenheit denn nun eigentlich besteht. Diese Aporie entsteht nur dann, wenn man nicht genü-

gend die naturphilosophische und naturwissenschaftliche Bedeutung

des εἶδος bei Aristoteles berücksichtigt. Das Aristotelische εἶδος ist

ursprünglich und eigentlich die innerhalb gleicher Individuen Einheit stiftende Form der Gattung und der Art, deren Persistenz im Kreislauf der φύσις durch diesen ihren eidetischen Charakter bedingt und bestimmt ist. Der durch ihre Materialität je eingeschränkte Anteil der Individuen an dem allgemeinen Eidos der Gattung und der Art ist ihr Wesen, das logisch den Inhalt der Definition ausmacht, ontisch dem Einzelding immanent ist und dieses in seinem Sosein konstituiert. Das

stimmende ἀνϑρώπῳ,

die einzelnen Menschen,

ist das

Mensch-,

Pferd-,

Pferde, Ochsen

Ochse-sein

usw. Be-

(τὸ τί ἦν

εἶναι

ἵππῳ, Bot). Es ist das, was Aristoteles in der Kategorien-

schrift die zweite Substanz (δευτέρα οὐσία) genannt hat — im Unterschied zum Einzelding, der ersten Substanz: „Substanz ist am eigent-

lichsten und ursprünglich und vorzüglich diejenige, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, noch in einem Zugrundeliegenden ist, zum Beispiel der bestimmte Mensch oder das bestimmte Pferd. Zweite Substanzen heißen die Arten (ción), denen die Substanzen im ersten Sinne angehóren, diese und die Gattungen (γένη) dieser Arten. So gehórt der bestimmte Mensch zur Art Mensch, die im ,Reallexikon für Antike und Christentum‘,

Lieferung 35/36,

1960/61,

Sp. 483 ff. und den wichtigen Aufsatz von K. Reich, Der historische Ur-

sprung des Naturgesetzbegriffs. Festschrift Ernst Kapp, 1958, 121 ff.

92

Gattung aber dieser Art ist Lebewesen. Sie also heißen zweite Substanzen, wie Mensch und Lebewesen", Kateg. 5. 2 a 11—19. In hohem Grade bezeichnend für die naturphilosophische Tendenz der Aristotelischen elöog-Lehre ist der Tatbestand, daß Aristoteles hier an bedeutsamer Stelle seine Beispiele ausschließlich dem Bereich der organischen Natur entlehnt.** Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß für Aristoteles οὐσίαι im eigentlichsten Sinne immer nur die Naturdinge waren und bis zuletzt auch geblieben sind. Daß er nun hier am Anfang der Kategorienunterscheidung die zweite Substanz aus der ersten ableitet und damit die art- und gattungsmäßige Bestimmtheit der ersten Substanz feststellt, ist nicht das Ergebnis einer bloß logisch-formalen Distinktion, sondern ein für ihn naturwissenschaftlich aufweisbarer Sachverhalt, der sich im Bestand und

Fortbestand der natürlichen Gattungen und Arten dokumentiert, in den Gattungen und Arten, die es im einzelnen möglichst exakt zu ermitteln und zu bestimmen galt.“ In der monumentalen und durch ihre Materialfülle erdrückenden

,,Tiergeschichte" haben wir ein an-

schauliches Zeugnis dieses großartigen und auf seine Weise einzigartigen Unternehmens, diesem beobachtend aufweisbaren Tatbestand mit den Mitteln der einfachen Deskription gerecht zu werden.

Die Aussage, daß das εἶδος ein der Natur nach Früheres sei, näm-

lich jeweils früher als das einzelne konkrete Ding, dessen εἶδος es ist, hat von hier aus gesehen etwas Selbstverständliches und verliert ganz seinen zunüchst so befremdlichen Charakter. Und ebenso ist es mit

der Aussage, daß das εἶδος ungeworden und unvergänglich sei, wenn

wir hier an das denken, was Aristoteles zunüchst und eigentlich dabei im Blick hat, nämlich die Formenwelt der organischen Natur, für die ja gerade bezeichnend ist, daß sich in ihr das Individuelle vom Allgemeinen her versteht. Und so gilt für die zweiten Substanzen, was für die ersten nicht gilt, daß. sie von einem anderen ausgesagt werden: 44. Dieser

Tatbestand

New

1942,

steht in auffallender Parallele dazu,

daß

auch

der

Katalog der Kategorien auf Grund der Analyse solcher Sätze aufgestellt wurde, die vornehmlich ein Lebewesen und speziell den Menschen zum Gegenstand haben. Vgl. E. Kapp, Greek Foundations of Traditional Logic, York

S. 37 £, besonders

aufschlußreich

die Statistik auf Seite

38, 14. 45. Vgl. dazu jetzt G. E. R. Lloyd, The Development of Aristotle's Theory of the Classification of Animals. Phrenesis 6 (1961) 59—81.

599

Denn die Arten und Gattungen werden von den Individuen prádiziert: Kallias ist ein Mensch,

Kallias ist ein Lebewesen.

Im vierten Kapitel von Metaph. A taucht das ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yevvaü-Argument im Zusammenhang der Unterscheidung der allem Existierenden gemeinsamen Prinzipien auf und dient hier zur Erläuterung der Identität von Formursache und bewegender Ursache. Es werden zwei Arten von Prinzipien unterschieden: die den Dingen immanenten Ursachen, die als solche auch Elemente (στοιχεῖα) der Dinge sind: Materie, Form und Privation, und die bewegende Ursache, die, insofern sie als den Dingen äußerlich gedacht wird, kein

Element der Dinge selbst ist, so daß es zwar vier Prinzipien, doch nur drei Elemente gibt. Aber Aristoteles reduziert die bewegende Ursache auf die Formursache, so daß die drei erstgenannten Prinzipien übrigbleiben:

‚In

diese

Ursachen

sundheit

selbst, und der

(sc.

Materie,

Form,

Privation,

bewe-

gende Ursache) teilt sich das Prinzip auf. Da nun bei den natürlichen Dingen die bewegende Ursache (von der Art) ist (wie) der Mensch für den Menschen, bei den gedachten es aber die Form oder das Gegenteil ist, so gibt es in gewissem Sinne drei Ursachen, wáhrend es sonst vier sind. Denn die Heilkunst ist gewissermaßen die GeMensch

zeugt

den

Menschen.

Außerdem

existiert als das erste von allem ein alles Bewegendes“, 1070 b 29—35. Der Akzent liegt hier auf der ontischen Prioritát der Form, die die Identitát von Form- und Wirkursache allererst móglich macht. Hat Aristoteles im vierten Kapitel von A ausgeführt, daß letztlich alles dieselben Prinzipien habe,

nämlich

Materie und

Form,

Priva-

tion und bewegende Ursache, so führt er im fünften Kapitel von A aus, daß das Gleiche von den Prinzipien der Potentialität und der Aktualität gilt, die, insofern die Aktualität der Form, die Potentialität

der Materie entspricht, mit den erstgenannten Prinzipien zusammenfallen, —

denn

die bewegende

Ursache

ist ohnehin

mit der Form

identisch und die Privation ist nur ein anderer Modus der Form. Hinsichtlich der Unterscheidung von Potentialität und Aktualität ist aber zu differenzieren zwischen der Gültigkeit dieser Unterscheidung in bezug auf ein und dieselbe Sache und in bezug auf verschiedene Individuen. Im ersten Fall wird dieselbe Sache einmal als potentiell, das andere Mal als aktuell existierend gedacht, wogegen im zweiten Fall die eine Sache als Potenz (δύναμις) verstanden wird, die ein anderes Aktuelles hervorbringt,

o4

sich also die Gültigkeit des Be-

griffspaares δύναμις-ἐνέργεια auf zwei Individuen verteilt. Das bedeutet, daß die äußeren Ursachen nicht dieselbe Materie haben wie das Verursachte und manchmal nicht einmal dieselbe Form, wie zum Beispiel bei den äußeren Ursachen des Menschen, als welche Aristoteles hier den Vater und die Sonne anführt, wobei Vater und Sonne materiell von dem Kind verschieden sind, die Sonne auch noch der Form nach, so daß sie mit dem Hervorgebrachten nicht gleichartig (ὁμοειδές) ist. Inwiefern auch die Sonne Ursache des Menschen ist, erhellt aus De generatione et corruptione 336 a 31 (vgl. Meteorol. 354 b 27, De gen. animal. 777 b 16 u. 30 f£), wo der ganze Prozeß des sublunaren Entstehens und Vergehens auf die Schiefe der Sonnenbahn (ὁ AoEóc κύκλος) zurückgeführt wird.“ Die Prinzipien oder Ursachen der Dinge kónnen nun zwar in ihrer Allgemeinheit angegeben werden, aber, so führt Aristoteles weiter aus, im einzelnen

sind sie von Fall zu Fall verschieden.

Denn

die

konkreten Dinge als solche werden nicht aus Allgemeinem, sondern aus ebenso konkreten Dingen: alles wird erstlich aus einem bestimmten, aktuell Seienden (τὸ ἐνεργείᾳ πρῶτον τοδί) und zweitens aus einem besonderen materiellen Substrat (ἄλλο ὃ δυνάμει). „Denn Prinzip des Einzelnen ist das Einzelne. Zwar ist der Mensch Prinzip des Menschen, im allgemeinen, aber nicht so, daß es kein bestimmter Mensch wäre, sondern Peleus ist es für Achill, für dich aber ist es dein Vater. Dieses bestimmte B ist Prinzip für dieses bestimmte BA, allgemein gefaßt aber ist das B Prinzip für BA schlechthin“, Metaph. A 5. 1071 a 20—24. 46. Dazu W. Theiler 97: „Mit dem Nahen oder Sichentfernen in der Ekliptik ist ein kosmischer Gegensatz geschaffen, nach welchem Entstehen und Vergehen der Lebewesen sich richtet. Die Ekliptik ist Symbol der

γένεσις geworden (der Fixstemhimmel das der Dauer: 336 b δτῆς .... συνεχείας ἡ τοῦ ὅλου φορὰ αἰτία) wie sie bei Plato Ausdruck des ϑάτερον

ist (Tim. 36 c). Eine feste Korrelation zwischen der obern Welt des Seins und der irdischen des Werdens ist so geschaffen. Darauf geht offenbar

auch Phys. 194b 13 ἄνθρωπος γὰρ ἄνϑρωπον γεννᾷ xai ἥλιος.“ Vgl. auch J. Stenzel, Metaphysik des Altertums 165f. Der Zusatz xai ἥλιος

birgt keine tiefsinnige Problematik in sich, sondern drückt den dem antiken

Menschen selbstverständlichen Gedanken aus, daß jede Art der Bewegung in letzter Instanz kosmischen Ursprungs ist. Dieser Gedanke war so selbstverständlich, daß es sinnlos wäre, daraus irgendetwas für irgendetwas ableiten zu wollen. Vgl. dazu meinen Aufsatz ,Der Beweis für den unbewegten Beweger‘, Philologus 99 (1955) S. 70 ff.

59

Eine weitere interessante Anwendung des ἄνθρωπος ἄνϑρωπον Yevviü-Argumentes in einem uns schon vertrauten Sinne begegnet im 5. Kapitel von Metaph. N, wo Aristoteles 1092 a 11 ff. gegen Speusipp polemisiert, dem der Vorwurf gemacht wird, ohne zureichen-

den Grund auf seine Weise die Prinzipien des Universums (ai τοῦ

ὅλου ἀρχαί) mit demjenigen zusammenzubringen, was fälschlicherweise von Tieren und Pflanzen gelte, nämlich daß hier aus Unbestimmtem und Unvollkommenem (ἐξ ἀορίστων ἀτελῶν te, das heißt aus den Katamenien und dem Samen, im Falle der Urzeugung aus dem Schlamm) immer das Vollkommenere werde, was doch bedeuten würde, daß dem Eins überhaupt kein Sein zukäme. Dieser Schluß gehört allerdings nicht mehr dem Speusipp an, sondern Aristoteles. Die Argumentation des Speusipp beschränkte sich offensichtlich auf die Feststellung, daß, da alle Anfänge unvollkommen seien, das Eins aber der Anfang von allem sei, das Eins also unvollkommen sei. Dazwischen schiebt sich nun die weitere Folgerung des Aristoteles, daß, da alles, was unbestimmt und unvollkommen kein wirklich Seiendes sei, das Eins nicht einmal ein Seiendes

sei, sei,

wenn man das Eins als ein Unvollkommenes ansetzt. Der Einwand des Aristoteles richtet sich natürlich gegen die Prämisse, daß alle Anfänge unvollkommen seien, wobei wieder mit dem Aristoteles eigenen Pathos der Sachlichkeit und gewiß nicht ohne Schadenfreude über den Verlierer Speusipp als besonders wirksame und zweifellos überzeugende Attraktion lakonisch das ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον vyevvd-Argument bemüht wird, das, sooft es von Aristoteles in der mündlichen Diskussion gebracht wurde, durch seine verblüffende Logik wohl immer den hohen Tonfall seiner akademischen Gegner fürs erste einigermaßen gedämpft haben dürfte. Daß Aristoteles schon früh auf das Argument verfallen ist, darauf deutet vieles. Um so auffallender die eigenwillige Penetranz, mit der er es immer wieder zitiert. Offensichtlich konnten sich auch die Zuhórer der einleuchtenden Beweiskraft desselben nicht entziehen. Jedenfalls wird den auf Hóheres erpichten Platonikern unter ihnen ein ähnlich plausibles Gegenargument wohl kaum eingefallen sein, mit dem sie die exemplarische

Bedeutung

jenes factum brutum,

an dem

Aristoteles

immerhin seine gesamte theoretische Philosophie demonstrierte, hátten annullieren kónnen. Dabei hatte Platon selbst bei dem Ursprung dieses Argumentes 96

Pate gestanden. Denn abgesehen von dem allgemeineren Gedanken der überindividuellen Existenz des Menschengeschlechts, der sich auch schon vor Platon bei den Dichtern findet, war es ja allererst die Reduktion der transzendenten Platonischen Ideen auf die den Dingen und Lebewesen immanenten Wesensformen und die dadurch

bedingte

Möglichkeit

der Erklärung

des Naturgeschehens

durch

Prinzipien, die die Konstanz der Arten und das Werden der Organismen biologisch zu begründen erlaubten, wenn auch freilich im Sinne einer Teleologie, für die die Erhaltung der Art oder Gattung das letzte Ziel alles organischen Geschehens überhaupt war. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der Träger dieses Geschehens die durch

Aristoteles

säkularisierte

Platonische

Idee

war,

die nun

nicht mehr als das ἕν παρὰ τὰ πολλά existiert, sondern als das Ev κατὰ τῶν πολλῶν die artspezifischen Merkmale des von ihr konstituierten Individuums auf sich vereinigt — dieses Individuums und aller anderen, die zu derselben Art gehóren.*' Im Rahmen der Aristotelischen 47. Vgl. E. Frank, a. a. O.. S. 219f.: „Mag es auch sonst berechtigt und notwendig sein, logisch allgemeine Gattungsbegriffe zu bilden, ursprünglich gibt es eine ihnen ganz entsprechende empirische Realitüt nur auf dem Gebiet der organischen Lebewesen, und es ist nicht Zufall, daß die griechischen Begriffe für Gattung und Art — auch εἶδος bezeichnet

ursprünglich nur die lebendige Form —

aus der logischen Betrachtung

dieses Gebietes stammen. Die moderne Biologie ist seit den Versuchen Mendels immer mehr zu der Ansicht gedrängt, daß die ‚Art‘ kein bloß logisch-subjektives, formales Einteilungsmittel sein kann, das wir etwa nur brauchen, um die unermeßliche Zahl verschiedener Tierformen zu ordnen,

sondern daß wir es bei ihr mit einem Naturprodukt zu tun haben, und man definiert wohl die ‚Art‘ als diejenige Anzahl verschiedener Einzelindividuen, die miteinander gekreuzt noch lebensfähige und zeugungsfähige Nachkommen erzeugen und von denen jedes einzelne einen bestimmten Reichtum an ‚Genen‘ besitzt. Ähnlich ist für Aristoteles der allgemeine Gattungsbegriff, die logische Art, nicht etwas, was bloß im abstrahierenden logischen Denken, im subjektiven Bewußtsein als Einteilungsformel sein Dasein hat, sondern ist im Lebensprozeß selbst wirklich, in der Natur, in der Materie inkarniert, ist da ‚Fleisch und Knochen‘ geworden. Daß dieses lebendige Individuum unter den Begriff Pferd fällt, heißt, daß

es wieder

(mit Individuen

seinesgleichen

und

ver-

schiedenen Geschlechts) seinesgleichen zu zeugen die Potenz hat, und der ‚Begriff‘ Pferd drückt diese Potenz aus, die sein eigentümliches Dasein

und seine Existenz ausmacht. Wenn

dagegen ein Individuum einmal ‚wider

od

Erkenntnislehre ist das εἶδος, wie schon bei Platon, das genaue Korrelat des Wissens im strengen Sinne, das nur das Allgemeine zum Inhalt hat. Die Kenntnis dieses Allgemeinen allein verschafft jenen

ordnenden Überblick über die individuelle Geschehensfülle, in dem

sich das Wesen aller echten Wissenschaft verwirklicht. Mit ihr besitzt der Mensch das Wissen um Anfang und Ende eines jeden Prozesses natürlicher wie künstlich herstellender Art. Denn am Ende steht wie am Anfang derselbe Arttypus, der sich in diesem Prozef) nur noch einmal mehr und aufs neue verwirklicht. Das ist der Sinn jener Formel ,,Ein Mensch zeugt einen Menschen":

am Anfang und

am Ende dieses Prozesses steht ein ausgebildeter fertiger Mensch: das εἶδος des Zeugenden und des Gezeugten ist dasselbe. Der natürliche und entsprechend auch der künstliche Werdeprozeß unterstehen also dem Gesetz der Synonymie, wie man es folgerichtig genannt hat. Inwieweit dieses Gesetz schon Platonisch vorgebildet war, haben wir gesehen. Angesichts dieses ganzen Tatbestandes ist es hóchst unwahrscheindie Natur‘ ein anderes zeugt, das ihm nicht gleicht, so ist das eben eine

Mißgeburt, ein Monstrum (τέρας), gleichsam ein (Denk)fehler (ἁμάρτημα)

der Natur. Der logische Begriff ,Pferd' ist freilich so, wie er in abstracto gedacht wird, als identische Einheit (ἕν und τὸ αὐτό), die alle Individuen dieser Gattung umfaßt, in der Wirklichkeit nicht empirisch wahrnehmbar und existent, es vollendet sich eben als ein Allgemeines nicht im einzelnen Individuum, ist aber gleichsam sein fruchtbarer Keim." — Zur Frage der Generation vgl. auch die Ausführungen in der Hippokratischen Schrift De

natura hominis 3 (VI, 36 Littre).

48. H. Meyer, Der Entwicklungsgedanke bei Aristoteles, Bonn 1909, 59. Ders., Geschichte

der Lehre

von

den

Keimkräften

von

der Stoa bis zum

Ausgang der Patristik 194—199. Ders., Natur und Kunst bei Aristoteles 60 ff. Siehe auch H. Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles 65. Ferner E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken 1363. Wichtig F. Brentano, Aristoteles und seine Weltanschauung, Leipzig 1911, 62 ff. (‚Das Gesetz der Synonymie“). Siehe auch, worauf auch Brentano 66,1 verweist, die Bemerkungen des Alexander von Aphrodisias über die Ausnahmefälle des Gesetzes der Synonymie (J. Freudenthal, Die durch Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders zur Metaphysik des Aristoteles untersucht und übersetzt, mit Beiträgen zur Erläuterung des arabischen Textes von S. Fränkel, Abh. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1885, Kap. 4).

98

lich, daß die Analogie zwischen Kunst und Natur bezüglich des teleologischen Aspekts in der Ontologie des Aristoteles als eine Übertragung des Bildes vom künstlerischen Gestalten auf den organischen Werdeprozeß zu verstehen ist, wie das seit altersher behauptet wird. Die Analogie von Kunst und Natur ist zwar ein alter Topos, und besonders Platon macht in seiner Naturphilosophie den ausgedehntesten Gebrauch von der Analogie mit der Kunst, und auch bei Aristoteles findet sich an vielen Stellen der traditionelle Gebrauch dieses Topos. Das darf aber nicht über den fundamentalen Tatbestand hinwegtäuschen, daß in der teleologischen Ontologie des Aristoteles die Gewichte genau umgekehrt verteilt sind, das heißt die Träger des analogen Verhältnisses sind vertauscht. Das erste Analogat ist hier nicht die Kunst, sondern die Natur, und die Erscheinung, daß in der Natur die ausgebildete Form der Zweck des Werdens ist, der auch schon am Anfang des Prozesses in einem anderen Individuum derselben Art verkórpert ist, hat ihr Analogon in der Kunst, wo auch eine vom Stoff verschiedene Form am Anfang und am Ende des künstlerischen Gestaltens aufweisbar ist. Das hier bestehende Analogieverháltnis benutzt Aristoteles in seiner teleologischen Ontologie dazu, den organischen Werdeprozeß mit Hilfe der parallelen Erscheinungen im Bereich der Kunst zu exemplifizieren, wie das an zahlreichen Stellen geschieht. Aber es kann nicht ernsthaft die Rede davon sein, daß das in der Absicht geschieht, die Erklárungsprinzipien der Kunst als dieselben auf die Natur zu überrtagen. Vielmehr ist ontologisch die Reihenfolge genau umgekehrt: die Natur dient in diesem Sinne zur Erklärung der Kunst; nur so ist auch das Dogma von der Naturnachahmung der Kunst aufzufassen, das sonst ganz unverständlich wäre. Hier wird man also noch sehr umdenken müssen. Das lehrt gerade die Analyse des ἄνϑρωπος Avdownov yevva-Argumentes. Auch in der „Physik“ hat sich Aristoteles wiederholt des Argumentes bedient. Im ersten Kapitel des zweiten Buches, wo er verschiedene Bedeutungen, in denen der Terminus ,,Natur^ ausgesagt wird, anführt, unterscheidet er unter anderem die Auffassung, nach der „Natur“ nur die materiellen Grundstoffe des von Natur aus Seienden,

also die Materie meint, von derjenigen Auffassung, nach der „Natur“ die Form

des von Natur

aus Seienden,

das heißt die Form

dessen,

was das Prinzip der Bewegung in sich selbst hat, bezeichnet, wozu Aristoteles dann bemerkt, daß die Natur in höherem Grade als Form

90

Natur sei denn als Materie, da jedes Ding als Aktuelles mehr es selbst

sei denn als Potentielles. Daneben verweist er darauf, daß die Tatsache, daß ein Bett, wenn es sprósse, nicht ein Bett, sondern nur Holz hervorbringen würde — das von Aristoteles zitierte Beispiel des Antiphon —, und also das Bett erst künstlich hergestellt werden muß, seine „Natur“ demnach nur in seinem Stoff besteht, gerade der Beweis dafür ist, daß die Natur auch Form ist, nämlich überall da, wo die Form mit schópferischer Kraft im ewigen Prozef) des Werdens und Vergehens die Allgemeinheit der Art im Einzelnen erhält: „Es wird ein Mensch aus einem Menschen, aber nicht ein Bett aus einem

Bett, Phys. B 1. 193 b 8 f. Cf. 11 £.” Am Schluß des zweiten Kapitels des zweiten Buches der „Physik“ wirft Aristoteles die Frage auf, wieweit der Naturphilosoph (φυσικός) die Form

der Dinge kennen muß. Die Antwort besagt, daß er nicht

die Form als allgemeine zu untersuchen hat, sondern nur soweit sie causa finalis vel formalis eines bestimmten Naturdinges (φυσικὸν σῶμα) ist, also die zwar gedanklich trennbare, ihrer Realexistenz nach aber immer der Materie inkorporierte Form. Als Beispiele solcher Formen fungieren die Formen des Menschen und der Sonne: „denn ein Mensch erzeugt einen Menschen, und die Sonne" (194 b 13), das heißt: zur Hervorbringung eines Menschen bedarf es ,,der zeugenden Kraft des Vaters“, die „wohl der Form nach von der Kórperlichkeit trennbar ist, „aber als das formgebende Prinzip eines concret völlig

determinierten Naturwesens ist sie ja doch nur an eben dieser concret so geformten Materie vorhanden“ (Prantl)?, und entsprechend ist es mit der Form der Sonne, die, wie schon in dem zu Metaph. A 5 Ausgeführten erwáhnt wurde, durch die Schiefe ihrer Bahn und ihre damit verbundene, periodisch alternierende Náhe und Ferne causa assistens alles Werdens ist. Die Unterscheidung der beiden Formen des Menschen und der Sonne ist hier dieselbe wie in Metaph. A 5. In „Physik“ B 7. 198 a 26 begegnet das Argument wieder als Erläuterung des Lehrstückes, daf) die Wirkursache der Form nach mit der Formalursache und diese mit der Finalursache, also alle drei letztlich identisch sind. Aber das ist, worauf hier náher eingegangen wird, 49. Vgl. W. K. C. Guthrie, Notes on Some Passages in the Second Book of Aristotle's Physics. Class. Quart. 40 (1946) 70 ff. 50. Aristoteles acht Bücher Physik. Griechisch und deutsch und mit sacherklärenden Anmerkungen hrsgg. von C. Prantl. Leipzig 1854, 482.

60

nur bei den bewegten Dingen (ἐν τοῖς κινητοῖς) der Fall: das Wesen eines Dinges ist mit seinem Zweck identisch und die bewegende Ursache eines Dinges ist das Wesen eines nur numerisch verschiedenen Dinges derselben Art: ein Mensch zeugt einen Menschen. So ist es bei allem, was als Bewegtes bewegt: seine bestimmte, gegenwärtige Form läßt es zur Wirkursache werden für die Präsenz dieser Form in dem von ihm Bewegten, und so fort. Bei dem Unbewegten (£v τοῖς ἀκινήτοις) dagegen ist die Formalursache nicht auch Finalursache oder Wirkursache, es sei denn, daß die Unbewegtheit von etwas nur eine momentane Ruhe ist, die durch die Berührung mit einem Bewegenden in Bewegtheit verwandelt und dadurch ein Potentielles in ein Aktuelles überführt wird. „Deshalb ist“, kann Aristoteles an einer anderen Stelle, Phys. Γ 2. 202 a 7—12, sagen, ,,die Bewegung die Verwirklichung des Bewegbaren, insofern es bewegbar ist. Dies aber geschieht durch Berührung von seiten dessen, was das Vermógen hat zu bewegen, so daß es zugleich auch selbst berührt wird. Eine Form aber wird das Bewegende immer bewirken, — entweder ein Dieses oder ein Solches oder ein So-großes —, welche Prinzip und Ursache

der Bewegung sein wird, sooft sie bewegt: der der Wirklichkeit nach

seiende Mensch macht aus dem der Móglichkeit nach seienden Menschen einen Menschen." In De generatione et corruptione B 6. 333 b 7 steht das Argument im Zusammenhang der Aristotelischen Kritik an der Entstehungslehre des Empedokles, wo der Einwand gemacht wird, daß das determinierende Prinzip der γένεσις ἣ χατὰ φύσιν und der zureichende Grund ihrer Gleichfórmigkeit nicht in den vier Elementen und nicht in φιλία und νεῖκος liegen kónnen, die nur einen mechanischen Erklárungsgrund abgeben, der dem natürlichen Werdeprozeß keineswegs gerecht wird. „Was ist der Grund dafür“, fragt Aristoteles, „daß aus einem Menschen ein Mensch wird... und aus dem Feuer Feuer, aber 51) Siehe dazu Prantl, Geschichte

der Logik im Abendlande

I, 1855,

S. 238 f.: „So ist die Wesenheit für das Entstehen des bestimmten Seienden

das thatkräftige und actuell wirksame, welches in seiner bestimmten Individualität stets schon mit vorausgegangener Actualitát den Bestand des ebenso bestimmten Daseins hervorruft, so dass, da die Wesenheit mit dem begrifflich bezeichnenden Worte ausgedrückt wird, gesagt werden kann, alles Entstehende entstehe aus Gleichnamigem, wofür bei Aristoteles das stehende Beispiel ist ,ein Mensch erzeugt einen Menschen' *.

61

nicht ein Ölbaum?“ Die Antwort liegt für den Fragenden fest: es ist

das Wesen eines jeden (τοῦτο δ᾽ ἐστὶν ἣ οὐσία ἣ ἑκάστου 333 b 13). Und ebensowenig wie das Werden kann Empedokles für Aristoteles das Wachsen befriedigend erklüren, da es nicht eine Zunahme im Sinne einer bloß mechanischen Hinzufügung (πρόσϑεσις) sei (333 a 35 — b 3). In De partibus animalium A 1. 640 a 25 wird das Argument ebenfalls gegen Empedokles in Anwendung gebracht, der lehre, daß vieles, was

den Lebewesen

zukomme,

auf ihr Werden

zurückgehe

(zum Beispiel die Beschaffenheit der Wirbelsáule). In Wirklichkeit geschehe das Werden infolge des Wesens, aber nicht sei das Wesen eine Folge des Werdens. Erstlich enthalte der Same schon alles und zweitens existiere das Hervorbringende nicht nur begrifflich, sondern auch zeitlich früher: ,,Denn es zeugt der Mensch einen Menschen, so daß, weil jener so beschaffen ist, das so beschaffene Werden dem

so beschaffenen Menschen nachfolgt."

Allgemeiner spricht Aristoteles diesen Gedanken im ersten Kapitel des zweiten Buches aus (646 a 30 — b 2): „Alles Werdende wird

der Bewegung nach aus etwas und zu etwas gemacht, und von einem Anfang zu einem Anfang: von dem schon immer eine bestimmte Beschaffenheit Habenden zu einer bestimmten Gestalt oder einem anderen derartigen Ziel. Denn ein Mensch erzeugt einen Menschen und eine Pflanze eine Pflanze aus der für ein jedes zugrundeliegenden Materie. Der Zeit nach früher ist zwar notwendigerweise die Materie und das Werden, dem Begriff nach aber ist es das Wesen und die Gestalt eines jeden." In De generatione animalium B 1. 735 a 16—21 haben wir das Parallelstück zu der schon zitierten Stelle aus De anima. Es lautet: „Sei es eine Pflanze, sei es ein Tier, allen kommt

in gleicher Weise

dies zu: der vegetative Teil der Seele (τὸ ϑρεπτικόν). Das aber ist das Vermógen, ein anderes zu erzeugen von gleicher Art (otov αὐτό). Denn das ist das Werk eines jeden von Natur aus vollkommenen Tier- und Pflanzenwesens ... Die Zeugung also erzeugt das Synonyme, wie ein Mensch einen Menschen; das Wachsen aber verrichtet es alleine.“ In der Eudemischen Ethik B 6. 1212 b 15—18 heißt es: „Alle Wesen sind gemäß der natürlichen Ordnung gewissermaßen Ursprünge, weshalb ein jedes auch viele gleichartige hervorzubrin62

gen vermag, wie ein Mensch einen Menschen und überhaupt Lebewesen Lebewesen, eine Pflanze Pflanzen."

Wir haben im Vorangehenden die Anwendung des ἄνϑρωπος àvὕρωπον yevva-Argumentes verfolgt und gesehen, wie Aristoteles mit diesem Argument die Fundamentalsátze seiner Ontologie immer wieder erláutert. Es hat sich dabei die tiefe Verwurzelung der Aristotelischen-eióog-Lehre in rein naturphilosophischen Gedankengängen gezeigt. Platons Ideenlehre hatte gegenüber dem Phánomen der Bewegung versagt; das ist der immer wiederholte Einwand des Aristoteles, der mit seiner eigenen Lehre von dem dem Einzelding immanenten und zwecktätigen εἶδος, das das Wesen dieses Einzeldinges und seiner Gattung in einem ist, der aufgetauchten Schwierigkeiten Herr zu werden versucht. Der Ausgangspunkt war für Aristoteles ein anderer als für Platon. Die Dialoge Euthyphron, Menon, Grofer Hippias lassen das Ursprungsgebiet der Ideenlehre noch zur Genüge erkennen: es ist der logisch-definitorische Bereich, in dem nach der Möglichkeit gültiger Prädikationen gefragt wird. Diese ihre Herkunft hat die Platonische Idee bis in die spáten Dialoge hinein nie verleugnet, ja hier erfüllt sich gerade in der Dialektik ihre ihrem Ursprung gemäße Bestimmung. Für Aristoteles verknüpften sich von vornherein mit der Ideenlehre Platons die Aporien bezüglich der Erklárung der Bewegung und des Werdens, weshalb bei ihm die Eidosspekulation sofort einen

spezifisch naturphilosophischen Charakter angenommen hat. Das ἄνϑρωπος ἄνϑρωπον yevvq-Argument ist die knappe Formel, auf die er mit glücklichem Griff schon früh seine eigene theoretische Philosophie gebracht hat. Es ist das positive Pendant zum τρίτος ἄνϑρωzoc-Argument??, mit dem er, und vor ihm schon Platon selbst im 52. Vgl. dazu A. Spielmann, Die Aristotelischen Stellen vom τρίτος ἄνϑρωπος, Paris 1891. O. Apelt, Beiträge 37 u. 53. K. v. Fritz, Die Ideenlehre des Eudoxos von Knidos und ihr Verhältnis zur platonischen Ideenlehre, Philologus 82 (1927) 25 ff. Ders., RE Suppl. V, 1931,722. C. Arpe, Das Argument vom dritten Menschen, Hermes 76 (1941) 190 ff. P. Wilpert, Das

Argument vom dritten Menschen, Philologus 94 (1941) 51—64. Vgl. 55: „Die platonische Ideenlehre, wonach der Mensch vermöge seiner Teilhabe an der Idee Mensch ist und als Mensch existiert, spricht von einem Menschen, für dessen Sein die Beziehung zur Idee wesenhaft ist.“ 56 f.: „Die

platonische Behauptung μετουσίᾳ αὐτοῦ τοῦ ἴσου τὸ ἴσον ἴσον und dem-

68

Parmenides, die Transzendenz der Ideen problematisch gemacht hat. Es ließe sich im einzelnen noch sehr viel zu dem Argument, daß es ein Mensch ist, der einen Menschen zeugt, sagen. Wir brechen hier unsere Analyse ab. Es ging uns um den Nachweis, daß das Prinzip der Form für Aristoteles kein bloßes Hilfsmittel der Forschung ist, kein bloßes formales Einteilungsprinzip, wie die sprachanalytische Aristotelesinterpretation behauptet. Die Form, das Eidos, das Wesen ist im Prozeß des Lebens selbst gegenwärtig und wirklich als der Keim des Lebendigen, als die Idee in der Realitát. Das Problem des organischen Lebens ist sehr wahrscheinlich für Aristoteles dei zentrale Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens überhaupt gewesen, und es ist bekannt, wie er in jener klassischen Formulierung im siebten Kapitel des Buches A der Metaphysik die Beziehung von Leben und Denken als Identitát bestimmt hat. In dieser Formulierung drückt sich das Wesen des Aristotelischen Denkens am stärksten aus. Es gehört zu dem Wesen dieses Denkens, daß es das Zunáchstliegende, das unmittelbar Gegebene, die wahrnehmbaren Erscheinun-

gen respektiert und daß es der Überzeugung ist, daß die Wahrheit

von daher erkannt werden kann. Die Welt ist für Aristoteles ein sinnvoll eingerichteter Kosmos, dessen Strukturen dem verstándigen Erkennen grundsätzlich einsichtig sind. Aristoteles war deshalb kein Freund des Paradoxon, und mit vollem Recht ist darauf hingewiesen

worden, daß seine Haltung „historisch als Protest gegen die Extravaganzen mancher Vorsokratiker und gegen die bei jedem Sokratiker vorhandene Neigung zum Paradoxon erklärt werden kann“.’* Aristoteles betreibt keine Polemik gegen das Evidente. Es gibt für ihn Tatsachen der Erfahrung, die weder eines logischen Beweises bedürfen nach μετουσίᾳ αὐτοῦ τοῦ ἀνθοώπου ὃ ἄνϑρωπος ἄνϑρωπος trifft nicht

für den einzelnen Menschen zu, der sein Sein nicht von derIdee hat und für den darum die Beziehung zur Idee ganz unwesentlich ist.“ 57, 18: „Aristoteles

erklärt in dieser Hinsicht immer wieder ἄνϑρωπος γὰρ ἄνθρωπον γεννᾷ, womit

immer,

auch ohne daf) dies besonders

gesagt zu sein braucht,

eine

Spitze gegen die Ideenlehre verbunden ist“. Ders., Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, Regensburg 1949, 20, 44, 83 ff. N.B. Booth, Assumptions involved in the ‚third man‘ argument. Phronesis 3 (1958) 146 ff. 93. O. Gigon, Aristoteles, Einführungsschriften.

64

BAW,

1961, 56.

noch vernünftigerweise bestritten werden kónnen. Über diejenigen, die das nicht beachten, hat er sich nicht sehr freundlich ausgespro-

chen: es hat keinen Sinn, mit ihnen zu diskutieren und den Versuch zu machen, sie zu belehren. Wer bei Aristoteles das Evidente mit dem

Trivialen verwechselt,

erliegt leicht der Versuchung, in der theoretischen Philosophie des Aristoteles ein Arsenal von Trivialitáten zu sehen. Man versichert zwar, das Triviale sei gerade das philosophisch Relevante, — ein Satz, dem zuzustimmen man unter gewissen Kautelen durchaus geneigt sein könnte. Allein, die Erfahrung lehrt, daß man es sich bei solchem Ansatz mit dem ,,Trivialen" in der Regel zu einfach macht.

Was Aristoteles mit dem Evidenten gemeint hat, läßt sich ebenfalls nicht ohne

eine angemessene

einsichtigen Denken,

vom

Berücksichtigung

νοεῖν, verstehen.

seiner Lehre

Man

begibt

vom

sich damit

nicht auf eine hóhere Reflexionsstufe, sondern bleibt damit genau im Umkreis der eigentlichen Problematik, um die es geht. Nur im Umkreis des νοῦς wird der Begriff des Evidenten und der Evidenz, der ἐνάργεια, verstándlich. Das Evidente ist für Aristoteles nicht das

„Selbstverständliche“,

in dem

Sinne,

daß

es für den

philoso-

phischen Betrachter kein Problem ist und es Bewunderung nicht verdient und unser Staunen nicht erregt. Das zeigt sich gerade auch am Phánomen des Eidos und seiner Gegenwart in der Realität, das

für Aristoteles

das

Evidenteste

war.

Diesem

Sachverhalt

hat Erich Frank in seinem Aufsatz den vornehmsten Ausdruck gegeben: „Die Gegenwart der Idee, des Allgemeinen, wie wir es im abstrakten, logisch-begrifflichen Denken fassen, gerade im lebendigsten, zeugenden Leben, in der schópferisch-fruchtbaren Natur, das ist eine von den großen Tatsachen, die immer wieder die Ehrfurcht des betrachtenden Philosophen herausfordert, so wie auf der andern Seite der gestirnte Himmel, dessen Veránderungen nach exakten

von

unserem

Verstande

erkennbaren

und

berechenbaren,

mathematischen Gesetzen vor sich gehen, und die vitale Schónheit, die den Menschen erschüttert, indem sie auf einen Ursprung der Welt deutet, der höher ist als sie selbst“.

54. a. a. O. 229.

65

WISSENSCHAFT

UND

GEGENWART

Jedes Hefl DM 3.80 Heft

7

WOLFGANG

Heft

8

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Heft

9

ARNOLD BERGSTRÄsSSER: 32 Seiten.

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Heft

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Heft

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Heft 21

Heft 22 Heft

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Sophokles und Athen. 1935.

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1947.

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WALTER Bröcker: Hölderlins Friedensfeier entstehungsgeschichtlich erklärt. 1960. 36 Seiten.

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1962. 76 Seiten. WALTER BrÖckEr: Formale, transzendentale und spekulative Logik. 1962. 36 Seiten. WALTER ScHuLz: Das Problem der absoluten Reflexion.

Zur Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus. 1962. 31 Seiten.

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1963. 54 Seiten.

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Die nicht aufgeführten Hefle sind vergriffen.

l6] [anna

cuna

VITTORIO KLOSTERMANN FRANKFURT AM MAIN