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German Pages 134 Year 2014
Literarische Landschaften Band 15
Edzard Schapers Blick auf die Totalitarismen seiner Zeit Herausgegeben von Karol Sauerland Ernst Gierlich
Duncker & Humblot · Berlin
KAROL SAUERLAND / ERNST GIERLICH (Hrsg.)
Edzard Schapers Blick auf die Totalitarismen seiner Zeit
Literarische Landschaften Herausgegeben im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen von Frank-Lothar Kroll
Band 15
Edzard Schapers Blick auf die Totalitarismen seiner Zeit
Herausgegeben von Karol Sauerland Ernst Gierlich
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Kommission bei Duncker & Humblot GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1439-1201 ISBN 978-3-428-14275-0 (Print) ISBN 978-3-428-54275-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84275-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Zum Geleit Am 30. September 1908 wurde der Schriftsteller Edzard Schaper in Ostrowo, Provinz Posen, an der damaligen Grenze Preußens zu Russland geboren. Am 29. Januar 1984 verstarb er in Bern in der Schweiz. Dazwischen liegen zahlreiche Ortswechsel: Glogau, Hannover, Stuttgart, Reval, Helsinki, Stockholm, Brig ... Zeitlebens blieb Edzard Schaper ein Getriebener, ein Grenzgänger zwischen Ost und West, nicht nur im Hinblick auf Staaten, sondern auch im Hinblick auf Konfessionen und Ideologien. Gleichwohl wurde für ihn in seiner Lebensmitte das Baltikum geliebte Wahlheimat, blieb er sich selbst stets treu als christlicher Humanist. Viele seiner Romane und Erzählungen sind von der Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus – bestimmt, doch war Schapers Blick auf diese nie nur gegenwartsbezogen, sondern überzeitlich. Der Vereinnahmung und Fremdbestimmung durch das Kollektiv stellte er die Freiheit und Verantwortung des Individuums gegenüber. Seine Helden sind solche des Gewissens. Edzard Schaper in Leben und Werk hinsichtlich der Totalitarismen seiner Zeit zu verorten, war Aufgabe und Anliegen des Symposiums, das anlässlich des 100. Geburtstags des Autors im Jahre 2008 in Stuttgart-Hohenheim von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn, in Zusammenarbeit mit der Edzard-Schaper-Stiftung, Brig, veranstaltet wurde. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Karol Sauerland, Warschau, referierten und diskutieren Germanisten aus Deutschland, Polen und dem Baltikum. Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen legt mit diesem Band die aktualisierten und um zwei Beiträge ergänzten Referate des Symposiums zu einem Schriftsteller vor, der in Leben und Werk wie kaum ein anderer des von tiefgreifenden Umbrüchen geprägten 20. Jahrhunderts die enge Verflechtung deutscher Kultur des östlichen und nördlichen Europas mit der Kultur der Nachbarvölker repräsentiert. Bonn, im November 2013
Ernst Gierlich
Inhalt
Karol Sauerland Einführung ............................................................................................................
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Uwe Wolff „Kein Landsmann sang mir gleich“. Edzard Schaper – ein deutscher Lebenslauf .......................................................... 19 Kathrin Laine Lehtma „Kulturträgertum“ versus „Unterdrückungstrauma“. Das deutsch-estnische Verhältnis in Edzard Schapers Roman „Der Henker“ ....... 31 Maris Saagpakk „Der Henker“ von Edzard Schaper aus postkolonialer Sicht ................................ 47 Kai Hendrik Patri Finnische Zeitgeschichte in Texten und Übersetzungen Edzard Schapers ............ 65 Monika Tokarzewska Edzard Schapers und Józef Mackiewiczs Blick auf die Geschichte der „konzessionierten Unfreiheit“ in Mitteleuropa ............................................... 89 Michael Garleff Zum Geschichtsbild im Spätwerk von Edzard Schaper ........................................ 105 Iso Baumer Die Ostkirche im Werk Edzard Schapers .............................................................. 121 Autorenverzeichnis ..................................................................................................... 133
Einführung Von Karol Sauerland Von Edzard Schaper stammt der einst häufig zitierte Ausspruch aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dass die Ausrottung der baltischen Völker auch die Ausrottung Europas bedeute,1 weswegen er sicher von vielen als ein ewig Gestriger abqualifiziert wurde. Er erwies sich als einer, der sich mit den neuen Machtverhältnissen nicht abfinden wollte, der von einer doppelten Okkupation, einer sowjetischen, dann deutschen und erneut sowjetischen Besatzung der baltischen Länder sprach. Noch heute fällt es den alten EU-Ländern schwer, dieses Faktum anzuerkennen. In der Bundesrepublik hat man auch den einstigen enormen Einfluss aus Deutschland stammender Männer und auch Frauen auf die nichtrussischen Gebiete in Ostmitteleuropa so gut wie ganz verdrängt. Es ist höchste Zeit, nachdem die Länder in die EU aufgenommen worden sind, diesen Einfluss nicht nur durch die Brille der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu sehen. In den ostmitteleuropäischen Regionen erwartet man dies förmlich. Je stärker sich der russische Eroberungsdrang gen Westen und Süden bemerkbar machte, desto mehr wurden die rechtlichen Einrichtungen und kulturellen Werte aus dem Westen als Gegensatz zum östlichen Zentralismus empfunden. Als solche Einrichtungen und Werte sah man u.a. das Magdeburger bzw. Kulmer Stadtrecht, die in der Hanse üblichen geschäftlichen Gepflogenheiten und die Autonomierechte der einzelnen Konfessionen dem Staat gegenüber an, um nur einiges zu nennen. Seit der gelungenen Sommeroffensive der Mittelmächte gegen die zaristischen Truppen im Jahre 1915, die mit der Besetzung jener Territorien endete, welche im Wesen von „Nicht-Russen“ bewohnt waren, erschienen Pläne zur Neuordnung dieser Gebiete mehr als real. In Deutschland erschien in dieser Zeit eine Vielzahl von Publikationen, in denen die unterschiedlichsten Autoren (unter ihnen auch deutsch-jüdische) darüber reflektierten, wie dieses östliche Mitteleuropa, das von Litauern, Letten, Esten, Polen, Weißrussen, Ukrainern, Ostjuden und anderen Völkern bewohnt war, in Zukunft aussehen könnte. Mit der Rückkehr einer russischen Dominanz rechnete damals so gut wie niemand. In einem Punkt war man gleicher Meinung: nur Deutschland könne dort als Ordnungsmacht auftreten. Dem ___________ 1
Siehe Edzard Schaper, Untergang und Verwandlung. Betrachtungen und Reden, Berlin 1956, S. 57.
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Habsburgreich traute man nicht viel zu, obwohl es seit den 1860er Jahren eine recht liberale Vielvölkerpolitik praktizierte. Man konnte sich aber auch nicht vorstellen, dass diese Völker sich selber regieren könnten, ohne einander dauernd zu bekämpfen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 abgeschlossen wurde, schien die deutsche Vormachtsstellung im Osten endgültig zu besiegeln. Deutschland konnte bei der Herausbildung von selbständigen Staaten wie Litauen und der Ukraine die Machtkonstellationen wesentlich mitbestimmen. In der heutigen deutschen Geschichtsschreibung wird dies im allgemeinen nur damit erklärt, es habe sich darum gehandelt, einen Sicherheitsgürtel gegenüber dem Bolschewismus zu schaffen,2 als hätte es nicht schon zuvor Erwägungen gegeben, wie das Gebiet (damals sprach man lieber vom Raum) zwischen Deutschland und Russland in Zukunft zu gestalten sei. Das zaristische Russland wurde in jener Zeit allgemein als Hort der Reaktion angesehen, das die fremden, d.h. nicht russischen Völker unterdrückt. Man denke in diesem Zusammenhang an Schapers Erzählung „Die Heimat der Verbannten“. Dort wird ein junger Litauer verhaftet, weil er aus Ostpreußen litauische Schriften über die russische Grenze in sein Heimatland schmuggelt. Die zaristischen Behörden hatten Druckerzeugnisse in lateinischen Lettern verboten, sie hofften damit, das Litauische überhaupt auszumerzen. Der junge Litauer wird nach Sibirien verbannt, wo er an seiner Sprache und seinem katholischen Glauben festzuhalten sucht. Gänzlich gelingt es ihm allerdings nicht. Wie so oft in den Erzählungen und Romanen Schapers lässt ihn eine Frau – es handelt sich um seine russische Ehefrau – inkonsequent werden. Die deutschen Eroberungen galten angesichts der zaristischen Versuche, alles zu russifizieren, zumeist als Befreiungen. Zum Ende des Krieges wurden die deutschen Besatzer jedoch durch die Ausbeutung der örtlichen Ressourcen immer mehr als Feinde empfunden. 1918 mussten die deutschen Militärs – für sie überraschenderweise – abziehen, obwohl die Alliierten ihnen Zeit ließen, damit nicht ein absoluter Leerraum entstand. Die Westfront war dank amerikanischen Eingreifens zusammengebrochen. Ostmitteleuropa blieb sich im Wesen selbst überlassen. Einen großen Teil dieser Region besetzten polnische Truppen unter der Führung von Józef Piłsudski. Das wiedererstandene Polen drängte zu den Grenzen vor den Teilungen zurück. Gleichzeitig bildeten sich die baltischen Staaten heraus, die es nicht leicht hatten, ihre Existenz zu sichern. Estland war wie Lettland durch die Grenze zur Sowjetunion am stärksten bedroht. Schaper nahm das estnische Schicksal fast wie ein eigenes wahr. Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs, der mit einem Deal zwischen Stalin und Hitler begann ___________ 2
So etwa Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 18061933, Bonn 2002, S. 358.
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und dadurch überhaupt erst möglich wurde, musste ihn mehr als pessimistisch stimmen. Doch er suchte immer wieder einen Hoffnungsstrahl. Diesen sah er darin, dass Einzelne an ihren Überzeugungen festhalten werden, so wie der Litauer in der bereits erwähnten Erzählung „Die Heimat der Verbannten“. Im gewissen Sinne nimmt Schaper den Dissidenten, wie wir ihn aus der Endphase des Sowjetregimes kennen, vorweg, doch konnte er nicht wissen, dass dieser einmal zu einer erfolgreichen Figur werden sollte. Im Dritten Reich und im Sowjetreich konnte derjenige, der auf seiner Meinung beharrte, nur mit einem Märtyrerschicksal rechnen, das noch dazu von der Öffentlichkeit kaum bemerkt wurde. Schaper vermag den aus dem Inneren erwachsenen Protest – das „Hier stehe ich und kann nicht anders“ – nur mit einem religiösen bzw. quasi-religiösen Glauben zu verbinden. Er lehnte zwar totalitäre Systeme ab, zu denen er auch das zaristische zu rechnen scheint, aber er hegte nicht die geringste Hoffnung, dass gewaltloser Widerstand einmal von Erfolg gekrönt sein könnte. Er setzte einzig auf ein Verharren in der nationalen Identität, die für ihn zumeist mit einem Festhalten an der entsprechenden Sprache und der religiösen Identität verbunden war, wie im Falle von Sabbas, der Hauptfigur des Romans „Der letzte Advent“, der sich in eine Art urchristlicher Untergrundtätigkeit zurückzieht und am Ende als „trotzkistischer Verschwörer“ verurteilt wird. Schaper war jedoch als Schriftsteller realistisch genug, auch Protagonisten zu gestalten, denen der Glaube recht fremd war. Man denke nur an den Arzt in der „Sterbenden Kirche“, der das Festhalten an religiösen Sitten, vor allem wenn es lebensbedrohend ist, nicht verstehen kann, aber immer zur rechten Zeit an Ort und Stelle ist, um zu helfen. Er ist zwar deutscher Herkunft, legt jedoch darauf kaum Wert. Ihm geht es um das Wohl der Menschen in dem estnischen Port, in dem er lebt und wirkt. Es ist kein Zufall, dass ihm die Verwaltung der Armenkasse obliegt. „Die Sterbende Kirche“ wirft auch die Frage auf, warum es möglich war, dass die russisch-orthodoxe Kirche im Osten so schnell an Einfluss verlor. Diese Frage ist heute wieder aktuell, wenn man bedenkt, welchen Beitrag der Katholizismus in Polen zum Niedergang des Sowjetsystems geleistet hat, was allerdings nur in einem gewissen Maße dem Klerus zu verdanken ist. Es ist vor allem das Verdienst des Volkes, das in großer Zahl an seinem Glauben festhielt und sich den Kirchenbesuch nicht nehmen ließ. In dem Roman „Die Sterbende Kirche“ versucht der orthodoxe Priester Vater Seraphim zu erklären, weswegen sich seine Kirche gegen den Ansturm der Bolschewiki nicht hatte halten können. Sie habe niemals wirklich selbständig gewirkt, stets sei sie mit den vom Volk nicht geliebten Machthabern verbunden geblieben. Den Kontakt zum Volk hätten die einfachen Popen aufrecht erhalten, indem sie so lebten wie die Landbevölkerung und nichts dazu taten, deren Bildungsniveau anzuheben. Ein Fehler der orthodoxen Kirche sei es auch gewesen, dass sie den Protestantismus
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mit Gewalt aus Russland verdrängt und dadurch sich nicht in Auseinandersetzung mit ihm geistig bereichert habe.3 Gleichzeitig wird in dem Roman der an und für sich lügenhafte Kompromiss des orthodoxen Moskauer Patriarchats mit der Sowjetführung akzeptiert, denn auf die Weise sei Tausenden von Priestern das Leben gerettet worden. Hier fällt auch die Formel vom „Martyrium der Lüge“, die im katholischen Polen stets zurückgewiesen wurde. In den 1980er Jahren starb ein Popiełuszko für ein Leben in Wahrheit, das er gepredigt hatte.4 Doch handelt es sich in Schapers Romanen um eine Zeit, in der die Protagonisten die Anfänge der Sowjetunion vor Augen haben. Aber selbst die im noch freien Estland lebenden Orthodoxen sind nicht imstande, ihre Kirche vor dem Zerfall zu retten. Dies ist einerseits wortwörtlich – das Kirchendach vor Ort zerbricht am Ostersonntag und begräbt unter sich Gemeindemitglieder mitsamt Vater Seraphim –, andererseits symbolisch gemeint. Der Synod habe unheilvoll gewirkt, dauernd habe er das kanonische Recht gebrochen.5 Schaper interessierte sich vor allem für die baltischen Staaten und die Auswirkungen des Roten Russlands auf deren Schicksal sowie auf Europa überhaupt. Er schloss sich bekanntlich nicht dem Exodus der Baltendeutschen aus den Ostseestaaten an, mit dem die Vertreibungen begannen. Ein Großteil der Baltendeutschen wurde im Warthegau angesiedelt, auf Kosten der dort lebenden Polen und Juden, die ins General-Gouvernement vertrieben wurden. Schaper erlebt als zurückgebliebener Deutscher in Estland die sofort einsetzende Expansionspolitik der Sowjetunion. Sie war schon vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen am 17. September 1939 ins ostpolnische Territorium zu spüren. Am 14. September hatte das polnische Kriegsschiff „Orzeł“ im Hafen von Tallinn Zuflucht gesucht, um seinen kranken Kapitän an Land zu bringen und Schäden auszubessern. Es wurde sofort „interniert“. Als es am 18. September insgeheim den Hafen verließ, protestierten die Sowjets aufs schärfste. Und Ende September zwangen sie Estland, ihnen Stützpunkte für ihre Truppen zu überlassen. Schaper beschreibt in der Erzählung „Epitaph für einen Patrioten“, wie dies im Oktober 1939 vor sich ging.6 Die angestammte Bevölkerung musste den Ort, in dem die sowjetischen Einheiten stationiert werden sollten, innerhalb von 48 Stunden verlassen. Zahlreiche Panzer und Militärfahrzeuge kamen angefahren. Nur ein Este durfte bleiben, der Kapitän Gnidin. Er sollte, da er die Ortsverhältnisse am besten kannte und russisch sprach, die Übergabe des Städtchens an den sowjetischen Kommandanten leiten. Die Soldaten werden als ___________ 3
Siehe Edzard Schaper, Die sterbende Kirche. Roman, Köln und Olten 1948, S. 41f. Siehe hierzu Karol Sauerland, Der Mord an Priester Popiełuszko. Ein Tagebuchbericht, in: Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur (Themenschwerpunkt: Tödliches System. Wenn das Regime lebensgefährlich wird), H.59, 1/2008, S. 30-33. 5 Siehe Edzard Schaper, Die sterbende Kirche, a.a.O. S. 91. 6 Die Sowjettruppen marschierten am 18. Oktober 1939 mit 25000 Soldaten, 350 Panzern und 240 Flugzeugen in das formal noch unabhängige Estland ein. 4
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primitiv geschildert. Sie verschmutzten die Erde mit Benzin, an einem vorsichtigen Auftanken der Fahrzeuge lag ihnen nicht. Gerade das sollte Kapitän Gnidin zum Verhängnis werden. Eines Tages kam es zu einem Brand mitten in dem Städtchen, wofür er mit dem Leben büßen musste, denn angeblich sei er der Brandstifter gewesen, obwohl er gerade gegen das sinnlose Vergießen von Benzin protestiert hatte. Die Erzählung ist mehr als wahr, denn noch bis heute sind nicht alle ehemaligen sowjetischen Kasernen- und Übungsgelände in Ostdeutschland und in Polen entsorgt. Als die Sowjetunion am 30. November 1939 Finnland überfällt, unterstützt Schaper insgeheim die finnische Seite, weswegen er nach Beendigung des Winterkriegs im Frühjahr 1940 von den Sowjets zu Tode verurteilt wurde, gottseidank in Abwesenheit. Er konnte noch in letzter Minute nach Finnland fliehen. Dort nahm er an dem sogenannten Fortsetzungskrieg Finnlands gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1944 teil. Nach seinen eigenen Worten bewegte er sich im „Dreieck deutsch-finnischer-estnischer Interessen“. Als Kriegsberichterstatter bekam er Einblick, auf welch mörderische Weise der Eismeerkanal gebaut worden war und wie sowjetische Lager funktionierten. Durch sein antisowjetisches Engagement ist er – von der Nachkriegssituation aus gesehen – auf der falschen Seite aktiv gewesen. Das nazifaschistische System scheint er viel weniger durchschaut zu haben als das sowjetische, vielleicht war er in jener Zeit der Meinung, es sei das geringere Übel gewesen. Erst Anfang 1944 hört er auf, Berichte an deutsche Zeitungen zu schicken,7 obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach schon einige Monate vorher über die deutschen Verbrechen Klarheit gewann. Kurz nach dem Separatfrieden, den Finnland mit der UdSSR am 19. September 1944 schloss, floh er vor den Sowjets nach Schweden.8 Zu gleicher Zeit, am 23. September, hatte ihn der deutsche Volksgerichtshof nach Berlin vorgeladen, der gegen ihn ein Verfahren wegen Spionage eingeleitet hatte. Am 22. Dezember wurde er als angeblich sowjetischer Agent in Abwesenheit zum Tode verurteilt.9 In Schweden musste er sich förmlich verstecken, denn es war zu befürchten, dass er an die Sowjets ausgeliefert wird. Er war dort erst als Holzfäller und dann als Hilfsbibliothekar in einem Krankenhaus tätig. Nach seinen eigenen Angaben, war es die schwerste Zeit in seinem Leben. Ein ruhigeres Leben, bei dem er sich nicht vor einer Entführung durch den KGB fürchten musste, konnte er in der Schweiz führen, in die er 1947 mit Hilfe von Freunden aus Finnland und dem anerkannten Literaturwissenschaftler Max ___________ 7 Nach Arnulf Otto-Sprunck („Edzard Schaper in Finnland und Schweden“) notierte die finnische Staatspolizei am 28.2.1944, dass Schaper seine Arbeit für die Berliner Börsenzeitung aufgegeben habe. Siehe Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 5 (1998), Sonderheft Edzard Schaper, hrsg. vom DAAD, S. 58. 8 Die Flucht erfolgte wahrscheinlich am 4. Oktober 1944 (siehe ebd. S. 59). 9 Ebd. S. 53.
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Wehrli gelangte. Innerlich trennte er sich jedoch nicht von seinem „Dreieck deutsch-finnischer-estnischer Interessen“, allerdings mit Russland im Hintergrund, was für Schaper selbstverständlich war. Elemente dieses Dreiecks mit Hintergrund werden von ihm in unterschiedlicher Weise sowohl in seinen Romanen wie auch in den Essays, die er in der Schweiz verfasste, behandelt. Das Schicksal von Estland stellte für ihn hierbei einen charakteristischen Einzelfall für das Schicksal des Baltikums überhaupt dar. Für die dauernde Unterdrückung der dort beheimateten Völker macht er sowohl die Deutschen und Russen wie auch die Polen verantwortlich. In seinem Vortrag „Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten“, den er 1952 in Zürich im Institut für Auslandsforschung hielt, weist er zu Recht darauf hin, dass Litauen einst ein blühender Staat war, bis er polonisiert wurde. Er habe nicht einmal „die Menschlichkeit und Redlichkeit des ritterschaftlich deutschen Landesstaates genossen“,10 obgleich man dessen feudale Machtausübung nicht akzeptieren könne. Hier muss man Schaper eindeutig eine schlechte Kenntnis der polnischen Adelsrepublik bescheinigen. Ohne die republikanische Tradition wäre der dauernde Drang Polens zu einer Demokratie – einschließlich Solidarność – nicht vorstellbar. Interessant ist dagegen Schapers Hinweis, dass Finnland insofern eine eigene Geschichte hatte, als dass die dortigen Bewohner nie die Leibeigenschaft über sich ergehen lassen mussten.11 Hieraus lässt sich der verbissene Kampf der Finnen gegen die sowjetische Intervention erklären. Es ging auch um das Eigentum eines jeden, während die Balten nach Gründung ihrer Staaten zwischen 1918 und 1920 neue Eigentumsverhältnisse durch die Enteignung der bisherigen Gutsbesitzer schaffen mussten. Sie hatten sich ferner der Losung der Befreiung aller Unterdrückten zu erwehren, der sogar die Sozialdemokratie nachhing. Sie musste nach Schaper erst einmal „nationalisiert“ werden.12 Gleichzeitig lobt er die Minoritätengesetzgebung der baltischen Staaten. An dieser Stelle werden auch die Juden erwähnt, über die Schaper höchst selten ein Wort verliert. Erst in den Erzählungen „Die neunte Stunde“ (1953) oder „Nikodemus und Simon“ (1961), „Die Söhne Hiobs“ und „Unser Vater Malchus“ (1962) berührte er das Problem des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum. Zuvor schien es so, als würden die Juden nicht existieren. In der „Sterbenden Kirche“ wird einmal ein Jude erwähnt, der Schuster im Ort war. Ich weiß nicht, ob man dem Bericht des Ikonenmalers Vater Robert, den Arnulf OttoSprunck mitteilt, hundertprozentig Glauben schenken darf, nach dem sich Schaper unter dem Eindruck der deutschen Verbrechen an den Juden in Estland vom Nationalsozialismus abgewandt habe. Wahrscheinlich gab es für dieses Sich-Abwenden verschiedenartige Gründe, vor allem die Nationalitätenpolitik ___________ 10 Siehe Edzard Schaper, Untergang und Verwandlung. Betrachtungen und Reden, Berlin 1956, S. 17. 11 Ebd. 12 Ebd. S. 20.
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der Nazis. In seinem Vortrag „Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten“ verweist Schaper auf die Litauer, welche die einzigen Balten gewesen seien, die mit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges eigene Machtstrukturen im Land aufbauten und in der Hoffnung lebten – übrigens ähnlich wie die Ukrainer –, dass sie von den Deutschen als ein eigener Staat anerkannt werden, was aber nicht der Fall war. Wörtlich heißt es in dem Vortrag: „Nur in Litauen, das von den Truppen der litauischen Untergrundarmee selbst befreit worden war, hatte sich schon wieder eine rechtmäßige Regierung konstituiert – freilich nur, um wenige Tage später den braunen Kommissaren und ihren Plänen von einem germanischen Großraum weichen zu müssen“.13 Bemerkenswert ist, dass die Nazis hier braune Kommissare genannt werden. Sie werden damit mit den roten assoziiert. Das ist ja erst seit kurzem zu einem Allgemeinplatz geworden, was allerdings nicht bedeuten darf, dass man die Unterschiede, die zwischen den einzelnen totalitären Machtstrukturen bestehen, außer acht lässt. Die Unterschiede beruhen u.a. darauf, dass die Sowjets mit der Losung auftreten, für eine weltweite Gerechtigkeit zu kämpfen, während die Nationalsozialisten eine extremale Idee von Nationalismus vertraten. Schaper ist ein Anhänger nationalen Denkens, schließlich geht es ihm um das Recht der kleinen Völker auf Selbstbestimmung, die mit der Herausbildung eines eigenen Staates verbunden sein müsse. Er weiß sicherlich, dass die Gründung von Staaten, die auf der Dominanz einer Ethnie und einer Sprache beruhen, zumeist mit Verfolgungen der sogenannten Minderheiten verbunden ist, was er aber in seinen Erörterungen kaum reflektiert. Er ist höchstwahrscheinlich der Ansicht, dass Verfolgungen vermeidbar sind, wenn sich die Völker von christlichen Werten, die er seinen Leser immer wieder vor Augen führt, leiten lassen. Ein besonderes Problem ist, wie Schaper in der NS-Zeit von den Lesern aufgenommen wurde (unter wie verstehe ich hier nicht, dass er begeisterte Leser hatte, sondern was ihnen Schapers Romane aus jener Zeit bedeuteten). In den NS-Blättern sollen seine Werke stets positiv besprochen worden sein, obwohl er 1936 aus der Reichsschriftumskammer ausgeschlossen worden war. Als Grund gibt Schaper in seiner Autobiographie von 1952 an, dass er sich auf einer Lesereise in Schlesien, in Waldenburg (dem heutigen Wałbrzych), mit der dortigen Gestapo zerstritten habe. Der Ausschluss habe aber keine praktischen Konsequenzen gehabt, „denn die Bücher“, schreibt er, „durften ja in Deutschland weiter verkauft, wenn auch z.T. nicht mehr für Bibliotheken angeschafft werden, und der ‚Henker‘ konnte 1940 auch noch erscheinen“.14 ___________ 13
Ebd. S. 29. Zu den damaligen Schaper-Lesern gehörte auch Gertrud Kolmar. Sie erwähnt ihn in ihren Briefen mehrmals. Sie hat 1940 „Das Lied der Väter“ (nur wegen des Titels) gekauft und fand es sehr schön. Sie schreibt am 14.7.1940: „Ich opferte also 80 Rpf. und erstand das Büchlein – und wurde auf die schönste Weise belohnt. Es ist eine Erzählung aus dem Leben des russischen Glau14
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In der Sekundärliteratur kann man lesen, dass seine Bücher der inneren Emigration zugerechnet werden können. Abgesehen davon, dass der Begriff innere Emigration sehr zweideutig ist, scheint mir wenig dafür zu sprechen. In der Sekundärliteratur werden zu häufig historische Romane als Zeichen für innere Emigration angeführt. Man beachtet hierbei nicht, dass in den dreißiger Jahren der historische Roman international wieder in Mode gekommen war. Es sei nur auf Thomas Mann (Joseph und seine Brüder), Feuchtwanger und Heinrich Mann (Henri Quatre) verwiesen, die es in der Emigration nicht nötig hatten, versteckt zu schreiben. „Die sterbende Kirche“ (1936) war, wie mir scheint, für jene Zeit ein relativ neutraler Roman. Die Revolution von 1917 wird als eine nicht akzeptierbare Protestaktion geschildert, sie hat zum Roten Terror geführt. Der „Henker“ ist ein gesondertes Problem. Er erschien 1940 in der Zeit der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit. Schaper schreibt in seiner autobiographischen Skizze, ihm scheine es, dass seine damaligen Arbeiten „Vorwegnahmen“ gewesen sind, dass sich die Arbeiten an seinem Leben rächten, nämlich das zurückfordern, was er „vorweg versprochen hatte“. Besonders beim „Henker“ sei es ihm „so gegangen“. Vielleicht hatten die Leser ein ähnliches Gefühl, dass man sich bald mit dem Osten wird beschäftigen müssen, abgesehen davon, dass die Deutschen noch nicht vergessen hatten, welche Rolle sie zwanzig Jahre zuvor im Osten gespielt hatten, als sie dort entweder lebten oder als Besatzer wirkten. Nach dem Krieg gab es übrigens eine recht verbreitete Vorliebe für die Ostkirche und deren Ikonen. Es sei daran erinnert, dass Ikonen in der Lyrik Bobrowskis, der Soldat an der Ostfront war, eine wesentliche Rolle spielen. 1950 schickte ihm sein Kriegskamerad Helmut Scheiffl das ein Jahr zuvor erschienene Buch „Die Göttliche Ikone“ von Leonhard Küppers. In diesen Jahren scheint bei den einstigen Landsern aus dem Osten das Interesse an der orthodoxen Kirche und Kunst zuzunehmen. Bereits 1946 liegt „Wege östlicher Theologie“ von Julius Tyciak vor. Ein Jahr später folgt „Geist und Geschichte der russischen Ostkirche“ von Konrad Onasch. 1948 ist sogar ein Titel wie der folgende möglich: „Die Gegenwartslage der Ostkirchen in ihrer völkischen und staatlichen Umwelt“. Der Autor ist Bertold Schuler (1911-1990), der später als aktiver Professor in Hamburg tätig war. Die Universität hat ihm u.a. die Gründung eines Lehrstuhls für Ägyptologie zu verdanken. Durch die Lektüre der ___________ bens, der Kirche, der Mönche; ich habe sie inzwischen auch jener Bekannten geschenkt, sie war ebenso überrascht und begeistert wie ich und ihr Mann vielleicht noch mehr. Das ist so sub specie aeternitas geschrieben.“ Daraufhin hat sie noch die früher gekaufte Erzählung „Die Arche, die Schiffbruch erlitt“ gelesen, fand es auch gut, aber nicht so „einmalig, nicht ewigkeitsnah wie ‚das Lied‘.“ Sie schreibt auch später noch – 1942 – mehrmals darüber. Kolmar war sehr religiös, außerdem liebte sie Rußland. Sie konnte seit ihrer Jugend etwas russisch, las Tolstoi, den sie sehr mochte. Als Kind hatte sie Nachbarn, die in Rußland lebten. Mit deren Tochter war sie befreundet. (Information von Prof. Marion Brandt, Danzig).
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genannten und anderer Bücher15 konnten sich Teilnehmer des Ostfeldzugs, die überlebt hatten, zu gemeinsamen christlichen Wurzeln bekennen und nachträglich die östlichen Völker, insbesondere das russische Volk, als zutiefst gläubig und friedfertig mit einer eigenen bodenständigen Kultur rühmen. Schaper gehörte nicht zu den Kriegsteilnehmern auf deutscher Seite, er war finnischer Soldat, aber dafür war er ein Kenner der Ostkirche, wenngleich ihm Iso Baumer in seinem Artikel „Die Ostkirche im Werk Edzard Schapers“ Fehler in einigen Details nachweist.16 Das Interesse für die Ostkirche und für religiöse Fragen überhaupt sollte am Ende der fünfziger Jahre abnehmen. Schaper, der in dieser Zeit als eine unbestrittene moralische Autorität galt, wurde von da an kaum noch gehört und immer weniger gelesen. Als er am 29. Januar 1984 in Bern verstarb, war er fast unbekannt geworden. Nach Hans Unterreitmeier hemmte in den nachfünfziger Jahren das ihm beigelegte Prädikat „religiöser Erzähler“ seinen Erfolg, obgleich er in den siebziger Jahren noch ganz andere Werke verfasste, etwa „Die Taurischen Spiele“ (1979), die „Geschichte einer erotischen Schuldverstrickung, die das Mythische dieser Verstrickung in modernes Gewand hüllt“.17 Schapers Erzählweise ist von Anfang an höchst interessant: auf der einen Seite wirkt sie herkömmlich, denn es gibt eine Handlung, die mit einem – zumeist tragischen – Ereignis endet, aber gleichzeitig tut sich in den Romanen zumeist recht wenig; die Protagonisten sind mit ihren inneren Zweifeln, deren Anlass zumeist Kleinigkeiten zu sein scheinen, so sehr beschäftigt, dass sich der Leser fragt, wohin das alles führen mag. Man ist so manches Mal an Kafka erinnert, den ja ein Max Brod auch als religiösen Schriftsteller zu qualifizieren suchte, und bedauert, dass es Schaper nicht bei den Zweifeln belassen hat.
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Etwa Ernst Benz, Die Ostkirche und die russische Christenheit, Tübingen, 1949. Siehe unten S. 127. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hrsg. von Dietz-Rüdiger Moser, München 1993, 976 (Stichwort Schaper, verfaßt von Hans Unterreitmeier). 16 17
„Kein Landsmann sang mir gleich“ Edzard Schaper – ein deutscher Lebenslauf Von Uwe Wolff „And even though it all went wrong I’ll stand before the Lord of Song with nothing on my lips but Hallelujah!“ Leonard Cohen „Hallelujah“
I. Herausragender Zeitzeuge Osteuropas im 20. Jahrhundert: Eine Wiederentdeckung Wie die Verleihung des Literaturnobelpreises an Hertha Müller zeigt, wendet sich ein neuer Blick dem Schicksal der Menschen in Osteuropa zu. Er wird zur Wiederentdeckung von Autoren führen, die im Zeitalter der Diktaturen den Erfahrungen ihrer Generation Sprache gaben. Dann wird sichtbar werden, dass der Preis auch dem deutschen Schriftsteller Edzard Schaper (1908-1984) als einem herausragenden Repräsentanten des 20. Jahrhunderts gelten könnte. Schaper wurde von Hitler und Stalin zum Tode verurteilt und nach seiner Flucht in Schweden als vermeintlicher Doppelagent unter Arrest gestellt. Vielleicht wird der Literaturnobelpreis 2009 eines Tages als Wiedergutmachung dieses historischen Unrechts verstanden werden. Dass Edzard Schapers Werk mit einer Gesamtauflage von sechs Millionen Büchern seit den Siebziger Jahren nahezu vergessen wurde, bestätigt den Charakter dieses Grenzgängers als Exponent einer Generation, die in wahrlich finsteren Zeiten leben musste und von deren Erfahrungen die Nachgeborenen nichts mehr hören wollten. Diese Verdrängung ging so weit, dass bereits vier Jahre nach Schapers Tod niemandem die Übernahme seines berühmten Romantitels „Die letzte Welt“ (1956) durch Christoph Ransmayrs Endzeitroman aus dem Jahre 1988 auffiel. Heute sind Schapers Bücher als eine exemplarische Erfahrung der Geschichte Europas überraschend aktuell. Die Wiederentdeckung von Schapers Leben und Werk gilt der Jahrhundertfigur eines deutschen Schriftstellers, der (bis auf die
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wenigen Jahre seiner Jugend) nie in Deutschland gelebt hat.1 Sie öffnet den einmaligen Blick in den Nordosten Europas – ins Baltikum, nach Finnland und Skandinavien, nach Polen und St. Petersburg – und erzählt die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts anhand bisher unbekannter Quellen aus den geheimen politischen Archiven Estlands, Finnlands, Schwedens, Polens und der Schweiz. Als der Schweizer Gelehrte Max Wehrli im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung einen Nachruf auf Edzard Schaper hielt, sprach er von einem Leben zwischen den Grenzen und hinter den Linien. Edzard Schaper habe von Menschen auf verlorenem Posten geschrieben. Sein „mächtiges erzählerisches Werk hat sich mit Vorliebe der Einsamen, der Flüchtlinge, der Verlorenen und Vergessenen der Geschichte angenommen.“ Es bleibe „verpflichtend als Dokument einer Geschichtserfahrung, die man einzigartig und großartig nennen möchte, wäre es nicht die Erfahrung der Geschichte in ihrem Dunkel und ihrer menschlichen Ausweglosigkeit. Dafür ist ihm, am ‚Abend der Zeit‘, der Untergang der deutsch-baltischen Welt und die Verwirrung der nationalen, politischen und konfessionellen Fronten im Zusammenstoß von Osten und Westen das immer neu ergründete Beispiel geworden, auch wenn er seine Figuren und Ereignisse auch in anderen Zeiten und Ländern spielen lassen konnte.“2 II. Stationen seines Lebenslaufes Die Mutter, so wird man später dem Kind erzählen, musste während der gesamten Schwangerschaft das Bett hüten. Edzard Hellmuth war das letzte ihrer neun Kinder, das sie im Alter von 46 Jahren zur Welt brachte. Johanne Schaper (1862-1942) stammte aus dem ostfriesischen Wiegboldsbur. Sie hatte den Beruf der Köchin erlernt und arbeitete in der Kantine einer Kaserne. Hier lernte sie 1888 August Schaper (1862-1950) kennen. Der Sohn eines Müllers aus dem Kalenberger Land (Provinz Hannover) wollte Dorfschullehrer werden. Weil das Geld für eine Ausbildung jedoch nicht reichte, wurde er Berufssoldat. Seit 1896 Halbinvalide, arbeitete er aus gesundheitlichen Gründen in der Administration und erreichte die Position eines Lazarett-Verwaltungsinspektors.
___________ 1 Uwe Wolff, Der vierte König lebt! Edzard Schaper – Dichter des 20. Jahrhunderts, Basel 2012. Diese Arbeit ist das Ergebnis einer Grundlagenforschung in Estland, Finnland, Schweden, Dänemark, Polen, Deutschland sowie der Schweiz und gründet sich ausschließlich auf bisher unveröffentlichte und zum großen Teil noch im Privatbesitz befindliche Briefwechsel und Dokumente der finnischen und schwedischen Geheimdienste. 2 Max Wehrli, Ein Leben, ein Werk ‚hinter den Linien‘. Zum Tode von Edzard Schaper, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1984, Lambert Schneider Verlag, Heidelberg 1985, S. 151.
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Als August und Johanne Schaper mit ihrer Kinderschar nach Ostrowo (Provinz Posen) an die deutsch-russische Grenze versetzt wurden (1907), waren sie der vielen Umzüge müde. Der alte Soldat sehnte sich nach ruhigen letzten Dienstjahren in Hannover. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zerstörte diese Hoffnung. Er wurde für den knapp sechsjährigen Edzard Schaper zu einem Schlüsselerlebnis, dessen Erschütterungen noch in dem späten Roman „Am Abend der Zeit“ (1970) nachhallen. Das Kind hatte einen Jahrmarkt besucht. Inmitten des heiteren Treibens erscheint ein Melder auf seinem Rad und verkündigt den Ausbruch des Krieges. In Panik geraten, packen die Händler ihre Waren ein. Zu Hause angekommen, erlebt das Kind, wie auch seine Mutter Vorbereitungen zur Flucht trifft. Als Lazarett-Verwaltungsinspektor hat August Schaper jedoch am Ort zu bleiben. Im Krankenhaus und auf der Hinrichtungsstätte wird sein jüngster Sohn Augenzeuge einer Welt, die sein kindliches Bewusstsein überfordert. Ohnehin belastet mit einer Anlage zur Schwermut, flieht er mit seinen polnischen Freunden in Phantasiereisen. Er lernt die polnische Sprache und einige Brocken Jiddisch. Interreligiöse oder interkulturelle Berührungsängste sind der Familie fremd. Die Schwester Frieda wird 1919 den jüdischen Architekten Ernst Guggenheimer heiraten, Helene den jüdischen Arzt Paul Walter Wolff. August und Johanne Schapers Kinder werden früh in die Selbständigkeit entlassen. Erich gründet bereits im Alter von 22 Jahren die noch heute existierende pharmazeutische Firma Schaper & Brümmer in Ringelheim, Wilma arbeitet als Krankenschwester, Karl-Günther wandert nach Peru aus. Edzard Schaper ist ein melancholisches Kind mit der Neigung zu Einzelgängertum und Tagträumerei. Schon die ersten Jahre in Ostrowo deuten die katastrophale Schullaufbahn dieses einseitig im sprachlich-musischen Bereich begabten Kindes an. Schapers Schulbesuch ist auch die Geschichte des Missbrauchs einer jungen Seele. Jeden Freitag erhält er von einem alten Pauker Prügel wegen seiner schlechten Schrift. Er sucht Zuflucht bei seiner Lehrerin Irene Himm und verliebt sich in sie. Als ältere Schüler ihn zu einem Schabernack verführen, lässt die jugendliche Erzieherin ihn zur Strafe für mehrere Monate die Eselsbank drücken. Nach dem Krieg besucht Schaper das Königliche Evangelische Gymnasium in Glogau (1919-1922), zu dessen Schülern auch Jochen Klepper gehört. Während einer Aufführung von Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“ in der Glogauer Garnisonskirche vernimmt der junge Schaper in dem Oratorium seine eigene Lebensmelodie. Wie der Engel Peri fühlt er sich entwurzelt und heimatlos. Das Leben der Peri ist bestimmt von der Suche nach dem verlorenen Paradies. Mit dem Spiegelbild seiner eigenen Entwurzelung erlebt Schaper zugleich die heilende Kraft der Musik. Deshalb beschließt er, Musiker zu werden. Nach einem erneuten Ortswechsel besucht der Vierzehnjährige die Humboldtschule in Hannover (1922-1925) und
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erhält durch den preußischen Kultusminister die Zulassung zum Studium der Musik bei Th. W. Werner und Rudolf Steglich. Diese doppelte Belastung endet 1925 in einem Nervenzusammenbruch. Schaper verlässt die Schule ohne Abschluss, arbeitet für einige Monate als Hilfskraft im Theaterverbund HerfordMinden und beginnt am 13. Mai 1925 eine Ausbildung als Hilfs-Dramaturg in Stuttgart. Er wohnt bei seiner Schwester Frieda und ihrem Mann, dem Architekten Ernst Guggenheimer. Sein extravagantes Benehmen führt bald zu Konflikten mit dem Hausherrn. Guggenheimer hatte seinem genialischen Schwager die Stelle vermittelt und sah nun seinen eigenen Ruf beschädigt: Denn Schaper wurde im Theater immer wieder abgemahnt, weil er ohne Entschuldigung dem Dienst fernblieb, Regieanweisungen falsch oder gar nicht weitergab und als Bubenstück nach Güstrow fuhr, sich dort als Dramaturg ausgab und von Ernst Barlach in einer durchzechten Nacht die Erlaubnis der Uraufführung des „Blauen Boll“ einholte. Diese Eigenwilligkeit brachte Schaper in doppelten Konflikt mit seinen Vorgesetzten, denn einerseits konnten sie das Verhalten nicht dulden, andererseits das Ergebnis nicht ablehnen. Unter der Leitung von Friedrich Brandenburg und Curt Elwenspoek fand die Uraufführung des „Blauen Boll“ (13. Oktober 1926) im Kleinen Haus des Württembergischen Landestheaters Stuttgart statt. Auf dem Programmzettel tauchte Edzard Schapers Name an keiner Stelle auf. Deutlicher konnte dem jungen Genie seine dienende Rolle in Stuttgart nicht vor Augen geführt werden. Ernst Barlach aber verband auf den ersten Blick mit dem jungen Schaper eine Seelenverwandtschaft. Deshalb öffnete er sich dem Siebzehnjährigen. Edzard Schaper wurde Barlachs erster Biograph. Das Stuttgarter Zwischenspiel endete mit einem weiteren Nervenzusammenbruch, aus dem Schaper jedoch ein neues kreatives Potential gewann. In zwei Romanen erzählt er wenig verschlüsselt die Geschichte seiner Seele und veröffentlicht in der von Robert Schumann gegründeten „Neuen Musikzeitung“ den Aufsatz „Die Musik der Geisteskranken“. Er versucht den Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn für eine Dokumentation über psychisch kranke Musiker zu gewinnen. Finanziell abgesichert durch den Verleger Adolf Bonz, zieht sich der achtzehnjährige Autor auf die kleine Festungsinsel Christiansø nördlich von Bornholm zurück, um hier, angeregt durch Romain Rolland, einen Musikerroman zu schreiben. In Georg Friedrich Händel sieht er ein willensstarkes Vorbild für die Bewältigung von Lebenskrisen. Zwei Jahre arbeitet er an dem Händelroman und kommt doch über eine Projektion eigener Erfahrungen auf den Lebenslauf dieses Genies nicht hinaus. Der Händel-Roman ist, nicht frei von übertriebenem Geltungsdrang, Ausdruck eines überzogenen Anspruches und einer starken Neigung, sich selbst zu überfordern. Im Frühjahr 1929 verlässt Schaper die Insel. Während seines Aufenthaltes hat er nicht nur Dänisch gelernt, sondern auch die Grundlagen der norwegischen, schwedischen und
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finnischen Sprache, die er in den kommenden Jahren durch zahlreiche Übersetzungen dieser Literaturen konsequent erweitern wird. Auf der Suche nach der verlorenen Heimat Ostrowo arbeitet der Zwanzigjährige als Gärtner auf einem polnischen Gut bei Posen, verdingt sich als Matrose auf einem Fischkutter im Eismeer und kehrt ohne Perspektive nach Deutschland zurück. In Berlin trifft er 1931 Rudolf Pechel, den Herausgeber der „Deutschen Rundschau“. Durch seine Vermittlung knüpft er Kontakte zu neuen Verlagen. Schaper will Deutschland so schnell wie möglich wieder verlassen. Mit dem Verlag Langen/Müller schließt er einen Vertrag ab, der ihm zwei Jahre lang die finanzielle Unabhängigkeit sichert. Da Vorfahren seiner Mutter nach Estland auswanderten, denkt er über einen Umzug ins nördliche Baltikum nach. In dieser Situation kann er die Begegnung mit einer jungen Frau aus Estland nur als Wink des Schicksals deuten. Alice Pergelbaum wurde in St. Petersburg geboren. Ihre Eltern waren deutschbaltischer Herkunft und entfernt verwandt mit der Familie von Lou Andreas-Salomé. Zweimal flohen sie mit ihrer Tochter vor der Revolution nach Tallinn/Reval. Hier legte Alice Pergelbaum 1923 als Jahrgangsbeste das Abitur an der berühmten Elisenschule ab. Aus dieser herausragenden Bildungsanstalt gingen Frauen wie Margarete von Wrangell hervor, die erste in Deutschland habilitierte Wissenschaftlerin, nach der heute ein Förderprogramm benannt ist. Alice Pergelbaum arbeitete in der deutschen Schulverwaltung in Estland. Am Tag ihrer Begegnung in Berlin macht Schaper ihr sogleich einen Heiratsantrag und folgt ihr im Herbst 1931 nach Estland. Rückblickend nannte Schaper diese Liebe auf den ersten Blick ein „Verhängnis“. In dem von ihm oft zitierten „Verhängnis“ des barocken Dichters Paul Fleming, in dessen Revaler Haus er eine zeitlang wohnen wird, verdichtet sich Schapers religiöse Deutung der Geschichte. Das „Verhängnis“ ist der von Gott verhängte Lebenslauf. Er schließt neben den glücklichen Momenten der Sinn- und Selbsterfahrung alle Brüche und Katastrophen mit ein. Die Antwort auf das „Verhängnis“ ist der Glaube, dessen Geheimnis sich der Vernunft nicht erschließt, durch Vernunftgründe aber auch nicht widerlegt werden kann. Im Spiegel der Barocklyrik und ihrer paradoxen Grunderfahrungen Melancholia und Lebenfreude, Vergänglichkeit und Ewigkeit hat Schaper seine Lebenszeit als eine neue Epoche des Dreißigjährigen Krieges gedeutet. Ein „Verhängnis“ besonderer Art war die Beziehung zu Katharina Kippenberg. Die Verlegerin der Insel glaubte an die Sendung des jungen Schriftstellers. Regelmäßig empfing sie ihn in ihrem Leipziger Haus, unternahm Ausflüge und führte mit ihm einen intensiven Briefwechsel, dessen Veröffentlichung von Anfang an geplant war. Katharina Kippenberg war die Verlegerin und Biographin Rainer Maria Rilkes. Der Dichter der „Duineser Elegien“ ist das Leitbild ihrer Erziehung, dem sich Schaper noch bei seinem Umzug ins
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Wallis verpflichtet fühlen wird. So forderte und förderte Katharina Kippenberg ihn bis an die Grenze seiner seelischen und körperlichen Leistungsfähigkeit. In Estland kam er wieder mit der Welt Osteuropas in Berührung, die ihn in der Kindheit geprägt hatte. Nun beschrieb er seine geistige Heimat für die „große Dame“ aus Leipzig. Mit den Romanen „Die sterbende Kirche“ (1935) und „Der Henker“ (1940) gelangen ihm Epochenromane einer Welt im Umbruch. Schon vor dem Hitler-Stalin-Pakt erlebt der junge Vater von zwei Töchtern die schrittweise erfolgende Sowjetisierung Finnlands und Estlands. Im Herbst 1939 muss er mit seiner Familie die neue Wahlheimat verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Er befindet sich in einer aussichtslosen Lage. Sein jüdischer Schwager Paul Walter Wolff ist an den Folgen eines Gewaltaktes während der Reichspogromnacht gestorben, der Schwager Guggenheimer konnte dank der Hilfe seiner Frau untertauchen. Von Schaper wird ein Ariernachweis gefordert. Er kann ihn erbringen, nicht jedoch Alice Pergelbaum. Schaper beschließt die Flucht nach vorn. Er will ins Ausland und beantragt ein schwedisches Einreisevisum. Es wird abgelehnt. In Berlin wird er gemustert und soll an die Front verschickt werden. Unter allen Umständen will er eine Trennung von der Familie verhindern. Aufgrund seiner sprachlichen Kompetenzen deutet sich ein Ausweg an. Durch Kontakte zu Mitarbeitern von Wilhelm Canaris bekommt er wie Dietrich Bonhoeffer eine UK-Stellung und fährt als offizieller Mitarbeiter der amerikanischen Presseagentur UPA mit Alice Pergelbaum und den Kindern wieder zurück nach Estland. Hier versucht er seinen Roman „Der Henker“ zu vollenden und arbeitet an der Seite estnischer Freiheitskämpfer in der antisowjetischen Spionage. Im Sommer 1940 muss er sich durch Flucht dem sicheren Todesurteil entziehen. Nach Deutschland zurückgekehrt, gerät er wieder in eine Zwickmühle, da Schweden erneut die Einreise ablehnt. Schließlich findet er einen Weg, das Land legal zu verlassen. Er wird Mitarbeiter der Berliner Börsen-Zeitung und reist mit seiner Familie im Dezember 1940 nach Finnland. Im Gegensatz zu Bertolt Brecht, der zu dieser Zeit ebenfalls in Helsinki lebt, ist Schaper aufgrund seiner Sprachkenntnisse sogleich in die finnische Gesellschaft integriert. Er schließt Freundschaft mit dem Verleger Heikki A. Reenpää und dem weltberühmten Mathematiker Rolf Nevanlinna. Den führenden Politikern und Militärs ist er rasch persönlich bekannt. Marschall Gustav Mannerheim, noch heute in Finnland ein Symbol nationaler Identität, wird Edzard Schaper in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die finnische Staatsbürgerschaft (1944) verleihen. Nach dem verlorenen Winterkrieg schließt Finnland eine sogenannte „Waffenbrüderschaft“ mit Deutschland. Ihre Aufgabe ist die Befreiung der von der Sowjetunion okkupierten Landstriche Ostkareliens. Schaper verbindet mit diesem Kampf die trügerische Hoffnung einer Rückkehr nach Estland. Als Journalist reist er hinter die Linien an der finnisch-russischen Grenze, sieht die Folgen
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der Sowjetisierung auch in Estland und hört aus erster Quelle Nachrichten über den Bau der Murmanbahn und die am Eismeer errichteten Konzentrationslager. Der Besuch des von deutschen Soldaten besetzten Estland führt zu einer vollständigen Desillusionierung. Schaper beobachtet die Folgen der Rassepolitik. Sein Roman „Der vierte König“ (1961) und Erzählungen wie „Hinter den Linien“ (1952) werden später den Schrecken jener Jahre dokumentieren. 1942 und 1943 nimmt Schaper jeweils für einige Monate eine Vertretung des schwedischen Korrespondenten seiner Zeitung wahr. Die Familie wohnt wie zwei Jahre zuvor Bertolt Brecht und andere Exilanten aus Deutschland im Stockholmer Stadtteil Lidingö. Schaper nutzt den Aufenthalt, um Möglichkeiten einer Arbeit in Schweden zu erkunden. Er knüpft Kontakte zu deutschen Exilverlagen in Stockholm und zu einflussreichen Geistlichen. Dann erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Zurückgekehrt nach Helsinki spitzt sich die Lage für ihn dramatisch zu. Die finnisch-deutsche „Waffenbrüderschaft“ hat ihr Ziel verfehlt. Stalin diktiert die Bedingungen über einen Waffenstillstand. Wie im Estland des Jahres 1939/1940 mehren sich nun auch in Finnland die Zeichen einer schleichenden Sowjetisierung. Schaper fühlt sich durch Agenten der sowjetischen Geheimdienste in Todesgefahr. Gleichzeitig wird er zu einer Musterung nach Berlin geladen. Er befürchtet die Abschiebung in ein Todeskommando, flieht über Königsberg nach Helsinki und gibt die Arbeit für den Börsenkurier auf. Dass Schaper die Stadt verlassen konnte, hatte er Generalmajor Paul von Hase zu verdanken, der ebenfalls mit einer Baltin verheiratet war. Der Stadtkommandant von Berlin war ein Vetter Dietrich Bonhoeffers. Wilhelm Canaris hatte ihn seit 1938 in Verschwörungspläne des Offizierskorps eingeweiht. Bei dem Attentat des 20. Juli 1944 sollte Paul von Hase eine entscheidende Rolle spielen. Nach Stauffenbergs Rückflug von der Wolfsschanze wäre es seine Aufgabe gewesen, die Entmachtung der hitlertreuen Militärs in der Reichshauptstadt durchzuführen. III. Das zweifache Todesurteil Am 23. April 1944 meldete die NZZ: „Zwei deutsche Journalisten in Helsingsfors, der Korrespondent des ‚Hamburger Fremdenblattes‘, Graf Anton v. Knyphausen, und der frühere Korrespondent der ‚Berliner Börsen-Zeitung‘, Edward (sic!) Schaper, haben laut ‚Stockholms Tidningen‘ ihre Beziehungen mit dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland abgebrochen. Beiden wurden ihre deutschen Pässe abgenommen.“ Jetzt bangt Schaper auch um das Leben seiner Familie. Im Februar 1944 wird Helsinki von den Sowjets bombardiert. Freunden in Schweden gelingt es, ein Einreisevisum für die Kinder zu vermitteln. Edzard Schaper und Alice Pergelbaum fliehen am 4. Oktober 1944 auf einem Boot von Björneborg (Pori) nach Gnarp in Schweden. Während die
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Mutter zu ihren Kindern fahren darf, wird Schaper interniert und aufgrund einer Denunziation als gefährlicher deutscher Agent verdächtigt. Gleichzeitig verurteilt ihn der Volksgerichtshof am 31. Oktober 1944 in Abwesenheit zum Tode. Am 14. Dezember 1944 beschließt die Staatliche Ausländerbehörde, Schaper in ein Internierungslager bei Umeå einzuweisen, um ihn an die Sowjetunion auszuliefern. Damit wird nicht nur ein doppeltes Todesurteil vollstreckt, sondern Schaper erlebt diese absurde Situation als ein „moralisches Todesurteil“. Weihnachten 1944 erleidet er einen erneuten Nervenzusammenbruch und wird in ein Kreiskrankenhaus eingeliefert. Nun beginnt ein Leidensweg, der auch drei Jahre später mit der Übersiedlung in die Schweiz kein Ende finden wird. Schapers Theologie der Geschichte als eines Verhängnisses wurzelt in Schüsselerfahrungen, um deren spirituelle Deutung der Autor ein Leben lang ringen wird. Das „moralische Todesurteil“ hat sein Selbstbewusstsein erschüttert und seine Nerven zerrüttet. Zugleich aber erschloss der Zusammenbruch jeder Möglichkeit einer Selbstbehauptung eine spirituelle Tiefendimension, die Schaper in seinen Romanen „Die Freiheit des Gefangenen“ (1950) und „Die Macht der Ohnmächtigen“ (1952) als Paradox des Glaubens und Vertrauen auf die Gnade zu beschreiben versuchen wird. Obwohl er in Gösta von Uexküll und den Geistlichen Bo Giertz, Birger Forell, Manfred Björkquist angesehene Fürsprecher hat und erwiesener Maßen ein Opfer des Nationalsozialismus ist, muss er in den kommenden zwei Jahren die Abschiebung in ein sowjetisches Todeslager befürchten. Stalin fordert von der schwedischen Regierung die Auslieferung sämtlicher Bürger aus Estland, Karelien und anderen nun sowjetischen Regionen Osteuropas. Die finnische Staatsbürgerschaft wird von den sowjetischen Behörden nicht anerkannt. Selbst als Mitarbeiter in der Flüchtlingshilfe von Birger Forell ist Schaper seines Lebens in Schweden nicht sicher. Einem erneuten Auslieferungsbegehren entzieht er sich durch Flucht in die Wälder, um sich dort das Leben zu nehmen. Dass Schaper schließlich in die Schweiz übersiedeln kann, verdankt er vor allen Dingen seinem Freund Rolf Nevanlinna, der in Zürich Funktionentheorie lehrt, sowie den Zürcher Germanisten Max Wehrli und Carl Helbling. Unmittelbar nach seiner Ankunft auf dem Zürcher Flughafen (16. Juni 1947) erfährt er vom Tod seiner großen Gönnerin Katharina Kippenberg. Die Folgen begreift er rasch: Trotz der entschiedenen Unterstützung durch Friedrich Michael, den Lektor des Insel Verlages, besteht keine Aussicht auf eine Neuedition seiner alten Inselbücher. Denn Anton Kippenberg glaubt trotz der Teilung Deutschlands, dass er neben der neuen Filiale in Wiesbaden den alten Leipziger Firmensitz in der sowjetischen Zone wieder aufbauen kann. Ein Autor wie Edzard Schaper, der mit seinem Roman „Die sterbende Kirche“ die Leiden der verfolgten Kirche unter Stalin beschrieben hat, passt nicht in Kippenbergs Konzept. So ist Schaper gezwungen, einen neuen Verlag zu finden.
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IV. In der Schweiz Im Haus von Max Wehrli findet Schapers Familie ab September 1947 eine erste Unterkunft. Zu den berühmten Vormietern der Wohnung gehört Rudolf Kassner, dessen Walliser Grab Schaper pflegen wird. Nach Estland, Finnland und Schweden beginnt für seine dreizehn und elf Jahre alten Töchter ein vierter Versuch der Inkulturation. Die in der Familie gepflegte Umgangssprache ist das Schwedische. Schon im estnischen Haapsalu und in Helsinki lebte die Familie in einer weitgehend schwedischsprachigen Umwelt. Nun müssen die Kinder neben der deutschen Sprache auch die Dialekte der Kantone lernen. Nach verschiedenen Wohnungswechseln im Kanton Zürich und Berner Oberland, zieht die Familie ins katholische Wallis. Schaper sah in diesem Kanton ein Grenzland mit jenem Gemisch der Sprachen und Kulturen, dessen Aura er seit Kindheitstagen liebte. Wie in Estland versuchte er auch im Wallis, neben der Familie das Leben eines Einsiedlers zu führten. In Brig werden zwei getrennte Wohnungen in einem Haus gemietet und im oberen Wallis eine Klause, wo Schaper die Hälfte des Jahres in Abgeschiedenheit lebt. Neben einzelnen Terminen ist er jedes Jahr vier Monate auf Lesereise. In der Regel liest er jeden Tag in einer anderen Stadt und nimmt bis zu drei Termine wahr: Vormittags in Schulen, nachmittags in anderen Bildungseinrichtungen und abends in der größten Buchhandlung am Platze mit zweihundert oder mehr Gästen. Nach dem vergeblichen Versuch eines Neubeginns in der Insel erschienen seine Werke in Peter Schifferlis Verlag „Die Arche“, er wird Autor des aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Konvertiten Jakob Hegner, publiziert bei Artemis und im Fischer Verlag. Das Werk wird in den kommenden Jahrzehnten mit zahlreichen Preisen gewürdigt, der Autor wird Mitglied des PEN, des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Bücher gehören zur Pflichtlektüre in den Schulen und erreichen eine Gesamtauflage von über sechs Millionen. Schaper ist in zahlreichen Radiofeatures für Radio Bremen, Sender freies Berlin, das Schweizerische Radio und andere Sender, durch ausgedehnte Lesereisen und Vortragstätigkeit präsent. Albert Carlen, der als Schriftsteller, Erzieher und Priester eine lokale Größe im oberen Wallis war, führte Edzard Schaper und Alice Pergelbaum zur Konversion. Das Ehepaar wurde am 1. Oktober 1951 durch Abt Benno in Einsiedeln gefirmt. Die Walliser waren stolz auf den weitgereisten Autor, ernannten ihn zum Ehrenbürger zweier Gemeinden, vermittelten die Verleihung einer Ehrendoktorwürde von Fribourg und konnten schließlich in Schaper einen Schweizer Bürger begrüßen. Der Autor erduldete diese Ehrungen und widersprach auch nicht dem Vergleich mit Rainer Maria Rilke, dessen heimisches Gegenbild die Oberwalliser in ihm sehen wollten.
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In Estland und Karelien war Schaper tief beeindruckt vom Glauben der verfolgten Christen aus der russischen orthodoxen Tradition, und während der dunklen Jahre in Schweden fand er Trost in den seelsorgerlichen Gesprächen mit Bo Giertz, dem späteren Bischof von Göteborg. Die Gründe für seine Konversion sind gewiss nicht nur im Ortswechsel und einer Anpassung an Walliser Erwartungen zu suchen, wenngleich die konfessionelle Enge der Fünfziger Jahre nicht übersehen werden darf. Schapers religiöse Sozialisation war lutherisch, und in dieser Spiritualität mit ihren Liedern, ihrer Kreuzesmystik und dem Vertrauen allein auf die Gnade noch in der Erfahrung des verborgenen Gottes (deus absconditus) blieb er auch nach seiner Konversion verwurzelt. Katharina Kippenberg hatte gegenüber ihrem Jungautor von den Kreuzwegen der Geschichte gesprochen: Kreuzwege seien nicht nur Stationen des Leidens, sondern sie markierten jene geheimnisvollen Orte, wo die Schätze des Lebens vergraben liegen. Das Kreuz bildet das zentrale Symbol in Edzard Schapers Werk. Es markiert den Ort einer geheimnisvollen Wandlung, durch die Schaper in den Grenzerfahrungen seines Lebens immer wieder geschritten ist. Deshalb konnte er sein Leben als „Verhängnis“ sehen und annehmen. Jede Autorschaft hat eine Mitte. Um sie kreist das Werk. Schapers Sendung findet ihre Mitte in dem Imperativ: „Nimm dein Verhängnis an!“ Diese Aufforderung lädt nicht nur zur Aussöhnung mit dem eigenen Leben ein, sondern vertraut einem unsichtbaren großen Plan hinter allen verworrenen Wegen, Brüchen und Umbrüchen. Sie ist kein glorreicher Triumph des Glaubens über die Geschichte, sondern eine letzte stille Gewissheit der sterbenden Kirche, in der auch der vierte König sein Leben aushaucht. Edzard Schaper hat auf dem Hintergrund der Erfahrung des 20. Jahrhunderts und trotz aller Erschütterungen, die durch seine eigene Seele gingen, noch einmal von jenem dem Leben abgerungenen Gottvertrauen geschrieben, das seinen Ausdruck in den Liedern des Barock gefunden hat. Deshalb konnte er – die Grabinschrift Paul Flemings zitierend – durchaus selbstbewusst seinen einmaligen Ort in der Geschichte der deutschen Literatur seines Jahrhundert hervorheben: „Kein Landsmann sang mir gleich!“3 Dieser Selbsteinschätzung folgte der bekannte Schweizer Literaturwissenschaftler Robert Faesi in einem Grußwort zum 60. Geburtstag des Autors (1968): „Erst 60, und welche Ernte! Bewunderungswürdig, nach Quant- und gar Qualität und erst recht angesichts der Widerstände, die ein stürmisches, schwieriges Leben Ihnen auferlegte. Wie fanden Sie Mut und Kraft, ihm ge-
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Edzard Schaper, Paul Fleming. Kein Landsmann sang mir gleich, Jakob Hegner Verlag, Köln und Olten 1959, S. 68.
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wachsen zu sein und so Erstaunliches abzugewinnen. Ich kenne keinen, der gleiches Lob verdiente.“4 Schapers Glaube ist alles andere als eine billige Gnade, eine Illusion oder eine Vertröstung auf bessere Zeiten und eine andere Welt. Wo Schaper den Himmel beschwört, da bleibt er erdgebunden. Max Wehrli, der schon Anfang der Vierziger Jahre an der Universität Zürich Vorlesungen über den Roman „Der Henker“ hielt und den Schaper als einzigen Interpreten seines Werkes anerkannte, betont daher zu Recht: „Der dichterische Impetus, der dieses Werk hervorgetrieben hat, gilt ja zugleich einer Wirklichkeit, die spontan, wach und sicher ergriffen ist. Er zeugt von einer Liebe zur geschöpflichen Welt, gerade, wo sie verloren und verlassen scheint. Es kommt zu unvergesslichen Schilderungen von genau und liebevoll beobachteten Menschen und Lebensräumen gerade in ihrer Vergänglichkeit oder ihrem Elend: sei es nun das Leben auf einem baltischen Gutshof oder das eines Walliser Hirtenjungen im Binntal. Und wenn immer wieder einmal Soldaten und Priester als stille Helden erscheinen, so vertreten sie ein Leben als Dienst an objektiven Ordnungen, und sei es auch auf verlorenem Posten.“5 Schaper erprobt die Möglichkeit eines Lebens trotz Geschichte an gebrochenen Helden. Die herausragende Gestalt unter ihnen ist der geistig behinderte „vierte König“. Er hat in einem russischen orthodoxen Kloster an der estnischen Grenze Zuflucht gefunden, entgeht aber im letzten Moment dem Zugriff der SS-Soldaten, die ihn in ein Vernichtungslager deportieren wollen. Seine Hilflosigkeit, sein Verstummen, sein vollständiges Angewiesensein auf Hilfe wird zum paradoxen Symbol des Glaubens, das man als Beispiel für eine „Theorie der Unbegrifflichkeit“ (Hans Blumenberg) deuten könnte: Gott lebt, weil der vierte König lebt. Schapers Werk erzählt nicht nur von Grenzen und Grenzgängern, sondern ist selbst ein metaphysischer Grenzgang. Indem er Lebensbilder von den Kreuzwegen des Unbekannten und Unerforschten erzählt und in ihnen als eine Art transzendenter Hintergrundstrahlung das „Verhängnis“ andeutet, bricht er den Absolutismus der Geschichte. Das Leben selbst ist für Edzard Schaper der Ort der Epiphanie. Wie die Ikonen, so bergen Schapers Erzählungen ein geheimnisvolles Licht. Die Geschichte kann noch in ihrem größten Schrecken zum Ort der Erfahrung einer unzerstörbaren Freiheit werden. Davon wollte ein zunehmend saturiertes Bürgertum in den Sechziger und Siebziger Jahren nichts mehr hören. Schaper gehörte schon in seinen von schwerer Krankheit gezeichneten letzten Lebensjahren im deutschsprachigen Raum zu den vergessenen Autoren. Mit der ___________ 4 Robert Faesi, Brief vom 1. September 1968. Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Robert Faesi 248.26 5 Max Wehrli (wie Anm. 1), S. 152.
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Befreiung des Baltikums und der staatlichen Unabhängigkeit Estlands wurde sein Werk zuerst von Germanisten und Kulturwissenschaftlern in Nordosteuropa6 wiederentdeckt. Edzard Schapers Werk ist ein einmaliges authentisches Lebenszeugnis von den Rändern Europas, in denen zugleich die Mitte Europas aufleuchtet. Es wird wie die Ikone vom vierten König lebendig bleiben.
___________ 6 Vgl. dazu die Arbeiten von Liina Lukas, Grenzland – ein estnisches Leitmotiv im Werk Edzard Schapers, in: Interlitteraria 1/1996, S. 126-144; Grenzgänger. Edzard Schaper zum 90. Geburtstag, in: Liina Lukas (Hrsg.), Auch wir sind Europa! Edzard Schaper 1908-1984, Tartu 1998, S. 21-25; Zwischen Verzweiflung und der Verantwortung. Transcendance im Werk Edzard Schapers, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch 1998 für Estland, Lettland und Litauen. Sonderheft: Edzard Schaper, hrsg. von Karl Lepa und Claus Sommerhage. Fünfte Folge, Tartu 1998, S. 180-191; Zwischen Hammer und Amboß. Edzard Schaper auf der Grenze von Ost und West, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Deutsche Autoren des Ostens als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik, Verlag Dunker & Humblot, Berlin 1999, S. 437-450; „Vergeßt uns nicht! Auch wir sind Europa!“ Ein Mittler zwischen Estland und der Schweiz: Edzard Schaper zum 90. Geburtstag, in: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? Hrsg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus, Schwabe Verlag & Co. AG, Basel 2000, S. 1319.
„Kulturträgertum“ versus „Unterdrückungstrauma“ Das deutsch-estnische Verhältnis in Edzard Schapers Roman „Der Henker“ Von Kathrin Laine Lehtma „Die Geschichte Estlands ist – wie die des Baltikums überhaupt – die Geschichte neben- und miteinander, oft gegeneinander lebender Völker, von denen die Deutschen viele Jahrhunderte die Oberschicht, die Esten die breite Masse bildeten. Dadurch verschärften sich viele Probleme und ließen sich schwerer als anderswo lösen.“1 Dies merkte Oskar Angelus, ein ehemaliger estnischer Ministerialbeamter, 1968 in einem im Exil entstandenen Rückblick auf die Jahrhunderte der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Völkern – insbesondere zwischen Deutschbalten und Esten – einleitend an. Die Geschichte der deutschen Präsenz im baltischen Raum unterscheidet sich sehr von den deutschen Einflüssen in anderen ostmittel- und osteuropäischen Regionen, da die Deutschbalten bei fast gänzlich fehlender bäuerlicher Siedlung hier bis 1918 in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht als Minderheit eine dominierende Position innehatten. So ist das deutschbaltischestnische Zusammenleben – um zwei Beispiele aus den 1990er Jahren zu nennen – nicht nur aus estnischer Sicht als „schwierige Verwandtschaft“2 wahrgenommen worden, auch auf deutschbaltischer Seite sprach man von einer „kühlen Nachbarschaft“.3 I. Im „Henker“ stechen besonders Edzard Schapers umfangreiche Kenntnisse der estnischen Geschichte und Kultur hervor. Er arbeitete intensiv an Recher___________ 1 Oskar Angelus, Esten und Deutsche in ihren gegenseitigen Beziehungen, in: Baltische Hefte 14 (1968), S. 108-134, hier S. 108. 2 Helmut Piirimäe, Eine schwierige Verwandtschaft – Esten und Baltendeutsche in Vergangenheit und Gegenwart, in: Maess, Thomas/Engelhardt, Brigitte von (Hrsg.), Estland. Express Reisehandbuch, Leer 1992, S. 101-108. 3 Wilfried Schlau, Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen – Probleme einer „kühlen Nachbarschaft“, in: ders. (Hrsg.), Tausend Jahre Nachbarschaft. Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen, München 1995, S. 7-11, hier S. 7.
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chen, mit aktenkundigem Quellenmaterial sowie mit Zeitzeugengesprächen4 als „eine lebendige Quelle, aus der ich das speisen konnte, was mir zur Nahrung dieser Arbeit noch gefehlt hatte“.5 Auch wenn er die historische Handlung zunehmend privatisiert, so lassen sich im Roman doch die wichtigsten geschichtlichen Ereignisse jener Zeit finden. Um zu veranschaulichen, in welchen historischen Kontext Schaper die Handlung seines Romans einbettet bzw. welch unterschiedliche Interessen im „Henker“ aufeinanderstoßen, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Revolution von 1905 in den baltischen Ostseeprovinzen gegeben werden sowie über ihre Bedeutung für Deutschbalten einerseits und Esten andererseits. Die russische Revolution von 1905 war von sozialrevolutionärer Aktion und nationaler Dynamik geprägt. Sie entbrannte, neben den Schwerpunkten St. Petersburg und Moskau, besonders heftig vor allem in Südlivland und Kurland – hauptsächlich wegen der wachsenden Kluft zwischen der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung und der politischen Stagnation, verschärft durch die als nationale Gegensätze wahrgenommenen sozialen Spannungen zwischen einerseits Esten und Letten sowie andererseits Deutschbalten und Russen. In Estland entwickelte sich Reval zum Schwerpunkt der sozialistischen Agitation. Die estnische revolutionäre Bewegung richtete sich gegen die russische Autokratie und vor allem gegen die deutschbaltische Oberschicht. Diese stand in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zwischen der russischen Zentralmacht mit ihrer administrativen, konfessionellen sowie ethnischen Unifizierungs- und Russifizierungspolitik und den sich fortwährend radikalisierenden nationalen Bewegungen der indigenen Völker – beide Entwicklungen empfanden sie als massive Bedrohung ihrer Existenz. Der so genannte „Blutsonntag“ von Petersburg entfesselte Anfang 1905 auch in baltischen Städten revolutionäre Unruhen. Von den Städten gelangte die Revolution allmählich auf das Land zu den Landarbeitern und Landlosen. Insgesamt wurden in den drei Provinzen 184 Gutshöfe niedergebrannt und 82 Deutsche ermordet, darunter viele Geistliche, worin sich der besondere kirchenfeindliche Zug der Revolution zeigte. Die Zahl der abgebrannten Bauernhöfe übertraf jene der Herrenhäuser bei weitem. Die Niederschlagung der Revolution vollzog sich mit äußerster Härte: Unter Beteiligung deutschbaltischer Offiziere wurden durch Strafexpeditionen und Standgerichte in den baltischen Provinzen zusammen 908 Esten und Letten hingerichtet, Hunderte zu Gefängnisstrafen verurteilt und mehrere Tausend nach Sibirien deportiert. ___________ 4 Michael Garleff, Zum Geschichtsbild im Spätwerk von Edzard Schaper, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen, 5. Folge, Sonderheft: Edzard Schaper, S. 112-128, siehe unten S. 127. 5 Lutz Besch, Gespräche mit Edzard Schaper, Zürich 1968, S. 17.
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Zu den direkten Auswirkungen der revolutionären Ereignisse zählten vor allem Erleichterungen auf dem Gebiet des Schulwesens. Das gesamte Kulturwesen blühte durch die Gründung literarischer Gesellschaften, von Verlagen, Schriftstellervereinigungen, Museen und Theatern auf. Zudem wurde das Genossenschaftswesen weiter ausgebaut. Durch die Entstehung des nationalen Vereins- und Parteilebens bildete sich bei den baltischen Völkern zunehmend eine Zivilgesellschaft heraus.6 Durch die Umwandlung der zaristischen Autokratie in eine konstitutionelle Monarchie und die Bildung der Reichsduma als Volksvertretung hatten auch baltische Politiker vorerst die Chance, sich an der Legislative zu beteiligen. Als Ergebnis der Duma-Periode entstand in den Ostseeprovinzen ein Netz gesellschaftlicher Einrichtungen und Organe, das die Grundlage für eine breitere Aktivierung der Bevölkerung abgeben konnte.7 Bei den Deutschbalten rief die Revolution, besonders im Bürgertum und Landadel, ein gesteigertes Nationalbewusstsein hervor – am stärksten jedoch beim so genannten „Literatenstand“, d. h. den Vertretern akademischer Berufe. Ihre einst als selbstverständlich betrachtete Solidarität mit der Landbevölkerung lockerte sich. Das äußerte durch die Gründung der „Deutschen Vereine“ sowie durch die vermehrte Ansiedlung deutscher bäuerlicher Siedler aus Wolhynien in Kurland und Livland. Ausgleichs- und Vermittlungsversuche wurden von der russischen Regierung nicht bestätigt. Immerhin hob die Livländische Ritterschaft 1906 das Patronatsrecht auf, d. h. die Predigerwahl durch die Gutsbesitzer. Letztendlich war die ihrer Struktur nach noch immer aristokratische Landesverfassung mit den Forderungen nach Mitbeteiligung breiter estnischer und lettischer Bevölkerungsschichten nicht kompatibel. Eine politische Verständigung zwischen den Nationalitäten wurde nach der Revolution von 1905 nicht mehr erreicht – ihre weitere Auseinanderentwicklung konnte nicht gestoppt werden.8 II. Hauptfigur des vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 in Nordlivland spielenden Romans ist der Rittmeister Nikolai Graf von Ovelacker, ein „verrusster“ Deutschbalte im Dienste der zaristischen Armee, der im Verlauf der Handlung seine militärische Karriere einer Erbschaft im nördlichsten Livland opfert. Er steht fortan zwischen der Livländischen Ritterschaft, die ihm nahezu gänzlich entfremdet ist, und der bäuerlichen estnischen Bevölkerung Nordlivlands, die ihn als einen Repräsentanten der Ritterschaft ansieht. Dem Leser wird die Problematik der nationalen und sozialen Konfron___________ 6 Michael Garleff, Die baltischen Länder. Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Ost- und Südosteuropa. Geschichte der Länder und Völker), Regensburg 2001, S. 87 f. 7 Ebd., S. 90 f. 8 Ebd., S. 88 f.
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tation auf dem Lande zwischen deutschbaltisch-ritterschaftlichem und estnischlettisch-bäuerlichem Element vorgeführt. Ovelackers estnisches Gegenüber ist der Koiri-Bauer. Beide stehen stellvertretend für die eben genannten Komponenten, wobei der Bauer zugleich das schlechte Gewissen Ovelackers symbolisiert.9 Denn als er noch Präsident eines Militärgerichts war, hatte Ovelacker zwei Söhne des Bauern zum Tode verurteilt und den jüngsten nach Sibirien verschickt. Schon während der Gerichtsverhandlungen taucht die Frage nach Schuld oder Unschuld der drei Brüder erstmalig auf und bleibt den gesamten Roman über präsent. Eine weitere Frage, ob es überhaupt eine Alternative zu diesem Urteil gegeben hätte, wird zu einem der wichtigsten Aspekte des Romans – ebenso wie die Frage nach der Schuld und wie man mit ihr umgehen soll.10 III. Bevor näher auf die Frage eingegangen wird, wie Schaper im „Henker“ die Identifikationsmuster „Kulturträgertum“ und „Unterdrückungstrauma“ explizit aufgreift, soll zunächst festgehalten werden, dass im Roman eine Fülle von nationalen und sozialen Stereotypen verwendet wird, d. h. Schaper fügt seinem ohnehin schon sehr umfangreichen Panorama zudem auch noch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geläufigen stereotypen und vorurteilsbehafteten Vorstellungen und „Bilder“, negativ wie auch positiv, die Esten, Deutschbalten und auch Russen voneinander hatten, hinzu. Nach Hans Henning Hahn spielen Stereotype eine wichtige Rolle bei der Bildung von Identität und Alterität. Sie besitzen eine gruppen-bildende und/ oder gruppen-stabilisierende Funktion, d. h., dass innerhalb einer sozialen Gruppe die Menschen die gleichen Stereotypen teilen, was das „Wir-Gefühl“ der Gruppenmitglieder stärkt. In der Gruppe herrscht also ein Stereotypen-Konsens – man verbindet mit bestimmten Stereotypen die gleichen Emotionen und die gleichen Inhalte. So wird außerdem der Unterschied, die „Grenze“, zwischen dem „Wir“ und dem „Sie“ hervorgehoben und gefestigt. Sie entstehen, etwa als sprachliche oder bildliche Formeln, in Form und Inhalt im Laufe des geschichtlichen Prozesses (es existiert die These, wonach gerade Krisenzeiten – zu denen auch die Revolution von 1905 zählt – außerordentlich stereotypenproduzierend ___________ 9 Hubertus Neuschäffer, Der historische Roman „Der Henker“ von Edzard Schaper und der geschichtliche Hintergrund von 1905, in: Ezergailis, Andrew/Pistohlkors, Gert von (Hrsg.), Die baltischen Provinzen Russlands zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917, Köln/ Wien 1982 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 4), S. 245-256, hier S. 252 f. 10 Ivo Iliste, 1905 im historisch-literarischen Kontext. Vergleichende Betrachtungen zu Edzard Schaper und Anton Hansen Tammsaare, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen, 5. Folge, Sonderheft: Edzard Schaper, S. 129-147, hier S. 140 ff.
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bzw. stereotypogen seien) und sind hier häufig sehr langlebig, d. h., dass sie von Generation zu Generation tradiert werden.11 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, eine Art Übersicht der im Roman zu findenden Auto- und Heterostereotypen zu bringen, weshalb er sich auf einige Beispiele hinsichtlich der oben genannten beiden Paradigmen beschränkt. Das deutschbaltisch-estnische Verhältnis ist von der deutschen Eroberung im 13. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts von einem Zwiespalt gekennzeichnet: Auf der einen Seite stand die kontinuierliche Verzögerung der sozialen wie nationalen Emanzipation der Esten durch die deutschbaltische Führungsschicht und auf der anderen Seite die Vermittlung von deutscher und abendländischer Kultur – in der früheren deutschbaltischen Literatur häufig als „Kulturträgertum“ idealisiert.12 Schaper beschreibt in diesem Zusammenhang in einem Rückblick auf die estnische Geschichte die negativen Folgen der deutschen Eroberung: „Nur blieb hier aus, was in den näher zum Herzen des Deutschen Reiches gelegenen Ländern geschah: die wechselseitige Durchdringung oder Verschmelzung von Herrschern und Beherrschten, die das eingeborene Volk zu der höheren Herrenschicht aufartete. Nein, das Volk blieb, wiewohl stark und mannigfaltig vermischt, als Ganzes erhalten; nur sein geschichtliches Eigenleben erlosch. Es gewann bis zur Wende des 18. Jahrhunderts kein eigenes Bildungsleben oder gar eine von der Menge abgesonderte Schicht Gebildeter. Wo der Este sich etwas von den geistigen Gütern der deutschen Herren aneignete, verlor er bald den Zusammenhang mit dem eigenen Volk und ging im Deutschtum auf.“13 Die Deutschbalten pflegten ihr Kulturgut nicht nur selbstgenügsam, sondern gaben es auch in vielgestaltiger Form und in unterschiedliche Richtungen weiter: Der Vermittlungsprozess betraf daher nicht nur Esten und Letten – über die so genannte „baltische Brücke“ erfolgte auch die Vermittlung zwischen deutscher und russischer Kultur. Ein Transfer der deutschen Kultur in das Baltikum ist z. B. in der Übermittlung fortgeschrittener westeuropäischer Kulturtechniken, in Einflüssen auf die Entwicklung der einheimischen Schriftsprachen oder im gesamten religiös-kulturellen Bereich zu sehen. Das Hineingezogenwerden in die westeuropäische Kultursphäre bildet die Basis für Diskussionen über die ___________ 11 Hans Henning Hahn, 12 Thesen zur Stereotypenforschung, in: Ders./Eva Mannová (Hrsg.), Nationale Wahrnehmungen und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung, Frankfurt am Main u. a. 2007 (= Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Bd. 9), S. 15-24, hier S. 18, 21 f. 12 Indrek Jürjo, Das nationale Erwachen der Esten im 19. Jahrhundert – ein Verdienst der deutschbaltischen Aufklärung? In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte N.F. 4 (1995) 2, S. 409-430, hier S. 410. 13 Edzard Schaper, Der Henker, Leipzig 1940, S. 300.
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Bedeutung der Eroberung in der estnischen Geschichte.14 Angelus schreibt zum „Kulturträgertum“: „Gewiss sind die Deutschen die Hauptträger der westlichen Kultur in Estland gewesen, haben jedoch durch die ständige Betonung dieser Tatsache den Begriff ‚Kulturträger‘ dermaßen strapaziert, dass von ihm oft nur noch in Gänsefüßchen geschrieben wird.“15 Die Pflege, welche die „eigenständige Stammesgemeinschaft“16 der Deutschbalten ihrem kulturellen Erbe angedeihen ließ, führte allerdings gelegentlich auch zur Selbstisolierung in Form des so genannten „Livländischen Stilllebens“ – damit ist eine Art „livländischer Biedermeier“ gemeint –, das bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem deutschbaltischen Schriftsteller Julius Eckardt als aussichtsloser Zustand „zweifelhaften Glücks“ verurteilt worden war.17 Das Bewusstsein, als „Eingangstor europäischer Gesinnung“ eine „Kulturbrücke“ zu verkörpern, war nach Reinhard Wittram eng mit einem „streng gehüteten Bewusstsein davon“ verflochten, „dass man in einer permanenten Ausnahmesituation lebte und in vielen Beziehungen eine Ausnahmeerscheinung darstellte“ – dem „Bewusstsein, eine Kategorie für sich zu sein“.18 Hans Rothfels bezeichnet diese Haltung auch als eine „Form des baltischen Missionsgefühls“. Sie schließe das bereits angeschnittene „Problem der Doppelseitigkeit“ mit ein: Gleichermaßen Sperrblock wie Verbindungsstück, also Bollwerk und Brücke zur selben Zeit zu sein. Diese „Doppelheit der baltischen geschichtlichen Lebensform, das Nebeneinander kultureller Besonderheit und staatlicher Loyalität“ enthalte ein „Programm von stärkstem allgemeingeschichtlichen Interesse.“19 Ein prägendes Moment des deutschbaltischen Selbstverständnisses war die Vorstellung, einen „Vorposten der zivilisierten Welt“ darzustellen. Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: Während die einen die Vermittlerrolle zwischen Ost und West hervorhoben und dabei oft den missionarischen Aspekt des „Kulturbringers“ betonten – „Die christlich-germanische Sendung in den Osten, darin besteht, darin erschöpft sich der ganze Sinn des Baltentums“20 – ___________ 14 Rein Helme, Die Deutschen in der Geschichte Estlands, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte N.F. 1 (1992) 1, S. 41-58, hier S. 45. 15 Angelus, Esten und Deutsche (wie Anm. 1), hier S. 111. 16 Arved Freiherr von Taube/Erik Thomson, Die Deutschbalten. Schicksal und Erbe einer eigenständigen Stammesgemeinschaft, Lüneburg 1973. 17 Julius Eckardt: Livländisches Stillleben, in: Ders. (Hrsg.), Die baltischen Provinzen Rußlands. Politische und culturgeschichtliche Aufsätze, 2., vermehrte Aufl. Leipzig 1869, Nachdruck: Hannover-Döhren 1971, hier S. 421. 18 Zit. n. Michael Garleff, Balten und Deutsche – Traditionen und Verbindungen, in: Der Bürger im Staat 54 (2004) 2/3, S. 156-162, hier S. 159. 19 Hans Rothfels: Reich, Staat und Nation im deutschbaltischen Denken, in: Ders. (Hrsg.), Bismarck, der Osten und das Reich, 2. Aufl. Darmstadt 1962, S. 182-204, hier S. 183. 20 So Burchard von Schrenck im Jahre 1929, zit. n. David Feest, Abgrenzung oder Assimilation. Überlegungen zum Wandel der deutschbaltischen Ideologien 1918-1939 anhand der „Baltischen
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sahen sich die anderen in der Rolle eines „Hemmblocks“ gegen die „asiatische Barbarei“. Das ausgeprägte Sendungsbewusstsein, d. h. die innere Überzeugung, für eine bestimmte (geschichtlich) wichtige Aufgabe bzw. Mission bestimmt zu sein, war aber beiden Richtungen gemeinsam21: „[…] ein Schutzwall Europas gegen Osten und Träger der Europäisierung des Ostens zu sein, [war] alles […], was das baltische Deutschtum zu erfüllen wünschte.“22 Die feste Überzeugung, eine solche Mission zu erfüllen, entwickelte sich zu einem charakteristischen Zug der deutschbaltischen öffentlichen Meinung. Unter den neuen Bedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht diese Formulierung u. a. auch in den Beiträgen Hermann von Keyserlings auf, der feststellt23: „Von den uralten Zeiten an ist das Baltikum ein Vorposten des Westens auf dem Weg nach dem sarmatischen Osten gewesen. Während der sieben langen Jahrhunderte verteidigten die Balten heldenhaft den Geist des Abendlandes gegen die slawische Oberherrschaft.“24 Betrachtet man einen längeren Zeitraum vor den Umsiedlungen 1939/41, so offenbart sich ein Übergang zu großdeutschen und oftmals nationalsozialistischen Ideologien, d. h. ein Wechsel von einem kulturellen zu einem nationalen Vorpostenbewusstsein: Aus dem christlichen Dienst, den der Vorposten einst zu leisten hatten, wurde ein nationaler Dienst. Der „Vorposten der Zivilisation“ hatte sich in einen „Vorposten des Deutschtums“, das Deutschbaltentum in einen „Schutzwall der germanisch-deutschen Kultur“ verwandelt.25 Zu Beginn des Romans lässt Schaper Ovelacker über die „Kulturmission“ der Deutschbalten an den Esten nachdenken und sie zugleich infrage stellen: „Noch immer standen sie dort, wo die ersten ihren Fuß hingesetzt, noch immer hatte ihr Dasein die gleiche Einsamkeit, die gleiche Hoheit, die gleiche Fragwürdigkeit, die jeder Mission von Völkern an anderen Völkern innewohnt, und sie hatten immer noch das Bewusstsein einer Sendung. Mariens Glorie war inzwischen verblasst. Als sie ihren segnenden Arm von Livland abgezogen, hatte die Göttin der Kultur und des Fortschritts ihre Leuchte über die Arbeit der Eisenmänner aus Westen gehoben. War aber Kultur etwas, wofür Menschen geopfert werden durften? War Kultur eine Mission wert? Eigentlich, – ja eigentlich hätten die Deutschen umkehren müssen aus Livland in ihre Heimat, als der Traum des Gottesstaates seinen Morgen fand, als der Orden, der seinen Arm ___________ Monatsschrift“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 45 (1996) 4, S. 505-543, hier S. 527 [Hervorhebung im Original nach D. F.]. 21 Ebd. hier S. 522. 22 Heinrich Schaudinn, Das baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgründung. Leipzig 1932, S. 42. 23 Ea Jansen, Das „Baltentum“, die Deutschbalten und die Esten, in: Mati Laur/Karsten Brüggemann (Hrsg.), Forschungen zur baltischen Geschichte, Bd. 2, Tartu 2007, S. 71-111, hier S. 83. 24 Zit. n. ebd., S. 84. 25 Feest, Abgrenzung oder Assimilation (wie Anm. 20), hier S. 525 f.
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der Mutter mit dem göttlichen Kinde geweiht hatte, zerbrach und die Reformation die Welt in ihrer Nützlichkeit entdeckte.“26 In die gleiche Richtung gehen auch Ovelackers Überlegungen hinsichtlich der deutschbaltischen Vormachtstellung, wenn er sich fragt: „Wie aber, wenn diese Herrschaft der Wenigen über die Vielen, der politisch Mündigen über die Unmündigen gegen das Gesetz der Entwicklung und gegen das Gebot der Humanität verstieß? Wie, wenn es an der Zeit war, der Aufhebung der Leibeigenschaft vor beinahe hundert Jahren die der ebenso willkürlich verhängten Geisteigenschaft folgen zu lassen?“27 Beide Gedankengänge greift Schaper gegen Ende des Romans wieder auf, wenn er Ovelacker mit einem national gesinnten estnischen Studenten, dem „die Achtung vor dem deutschen Anteil an der Bildungsgeschichte des estnischen Volkes selbstverständlich und […] die Entfremdung in den letzten Jahren besonders schmerzlich“28 sei, über eben diese Thematik diskutieren lässt. Ovelacker verteidigt vehement die Rolle der Deutschbalten als „Kulturträger“, indem er konstatiert, dass es „hirnverbrannt“ sei zu glauben, dass alle Menschen und Völker die gleichen Rechte haben müssten. Es gebe Menschen und Völker, die sich „durch die Vorsehung in der Geschichte und durch ihre Leistungen eine Art Auserwähltheit“ erwirkten. So besitze jedes Volk auch nur so viele Rechte, wie es Pflichten an der Menschheit erfülle und Kraft habe.29 Schaper lässt den jungen Studenten „mit einer gewissen spöttischen Verzweiflung über die Unwegsamkeit, in die ihre Ansichten auseinandergingen“ daraufhin reagieren: „[…] das wäre, was sie als nationale Esten ‚das messianische Bewußtsein‘ der Deutschen nännten. Etwas, dessen Berechtigung sie nicht einzusehen vermöchten.“30 Ovelacker aber rechtfertigt weiterhin seinen Standpunkt: „Über das messianische Bewußtsein ließe sich nicht streiten. Wer es hätte, dem könnte man es nicht nehmen, wenn er sich auf die Sendung und auf sein Werk beriefe. In dieser Beziehung möchte er ihm raten, einmal die Verdienste der Deutschen um dieses Land und das eingeborene Volk genau zu studieren, wenn es auch unter seinen Volksgenossen Sitte geworden wäre, den baltischen Grundherrn der Gegenwart so zu schmähen, als wäre er der verantwortliche Urheber für die fehlerhafte Weltordnung in vergangenen Jahrhunderten. Diese Verdienste wären nicht durch Gewaltherrschaft erworben worden und wären mit nur so viel Eigennutz gepaart gewesen, wie ihn vergangene Zeiten auf der ganzen Welt dem Herrn und Edelmann zugesprochen hätten. Und außerdem wäre der baltische Grundherr einer der wenigen auf der Welt gewesen, der gegen seinen eigenen Vorteil Neuerungen und Verbesserungen eingeführt hätte unter der Macht eines Ideals, das anderswo nicht so hell ge___________ 26
Schaper, Henker (wie Anm. 13), S. 71. Ebd., S. 68. 28 Ebd., S. 702. 29 Ebd., S. 708. 30 Ebd., S. 708. 27
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leuchtet hätte wie hier […]. Es solle nur einmal daran denken, daß die Leibeigenschaft hierzulande ungefähr fünfzig Jahre früher aufgehoben worden wäre als im Russischen Reiche, ja noch früher als in machen Landschaften Deutschlands, – von eben jenen als Blutsaugern verschrieenen selbstsüchtigen baltischen Junkern!“31 Der junge Mann antwortet ihm daraufhin: „Aber die Esten […] möchten nicht, daß Eindringlinge darüber [über ihr Land, K. L. L.] herrschten und das Unrecht ihrer blutigen Eroberung verewigten. Die Zeit, da die Geschichte von religiösen Kräften gestaltet wurde, wäre längst vorbei, wollte er meinen. Nun ordneten sich die Geschicke der Völker nach dem Raum, den sie bewohnten; der Geist des Stammes zöge die Grenzen. Nicht eine himmlische Jungfrau steckte das geschichtliche Ziel, sondern das Bewußtsein der Nationalität. So wüßte er mit dem messianischen Bewußtsein der Deutschen in diesem Lande nichts mehr anzufangen. Vielleicht hätte das Geltung in einer Zeit haben dürfen, da eisenbewehrte Reiter, die in steinernen Burgen wohnten, auf Hirtenvölker gestoßen waren, die nur die Wolle und das Leder als Bekleidung gekannt und sich Hütten aus den Bäumen des Waldes geschlagen hatten. Jetzt aber, jetzt wäre dieses Volk selber mündig geworden, jetzt schaffte man sich mit einem messianischen Bewußtsein nur noch das Odium, von einem unbelehrbaren Eigennutz besessen zu sein.“32 In einfachen Worten ausgedrückt, so, wie es zu Beginn des Romans ein gewisser Kruusimägi gesagt haben soll: „[…] einmal müßte die Sklaverei ein Ende haben.“33 Drohender und noch drastischer formuliert es, zweifelsohne auch im Hinblick auf sein persönliches Schicksal, der Koiri-Bauer: „Aber denen sollte man es heimzahlen! Heimzahlen sollte man es denen, alles, alles…! […] Heimzahlen denen, heimzahlen, diesen Teufeln …!“34 Für Ovelacker, der „nicht ganz begreifen“ könne, dass die Esten „doch nicht zufrieden mit ihrem Leben wären“35, sind Vorstellungen wie die des Studenten gänzlich unverständlich und lösen zugleich eine gewisse Verbitterung aus: „[…] immer aber sind die Schlafenden, als sie erwachten, aufgestanden gegen die, die für sie gewacht und die sie geweckt haben. Immer sind denen, die die Geschichte gemacht haben, ihre Schulden vorgehalten worden von jenen, die nach langer Zeit der Anteillosigkeit an der Geschichte in ihre Aufgabe einrückten. Immer hat der geschichtslose Bauer die Hand erhoben wider den Ritter, der gezwungen war, Geschichte über seine Felder zu führen; immer haben die Neuen die Alten verdammt […] und am meisten dann, wenn der Wechsel zwischen alten und neuen Herren der Geschichte mit einem Wechsel zwischen zwei Zeitaltern der Menschheit zusammenfiel. Der Tätigste wird der am meisten mit Schuld Beladene, und wer das irdische Schicksal macht, ___________ 31
Ebd., S. 710 f. Ebd., S. 709 f. 33 Ebd., S. 152. 34 Ebd., S. 265. 35 Ebd., S. 338. 32
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fehlt am meisten wider die himmlische Gerechtigkeit, die nirgends hier auf Erden beheimatet ist.“36 Dem deutschbaltischen „Kulturträgertum“ wurde von estnischer Seite wiederum die starke Akzentuierung der jahrhundertelangen „Unterdrückung“ gegenübergestellt. Im Jahre 1870 hat der fortschrittliche estnische Publizist und Landwirt Carl Robert Jakobson, ein Vertreter der estnischen nationalen Bewegung, die Konzeption von den „700 Jahren Sklavenzeit“ in die estnische Ideologie und Geschichtswissenschaft eingeführt, von der nur Negatives überliefert sei.37 Diese Sichtweise zog sich bis in die Phase der sowjetischen Okkupation hin, als der marxistische Historiker Artur Vassar 1952 in diesem Sinne feststellte: „Die Unterwerfung des Baltikums durch die fremdländischen Eroberer ist das größte Unglück in der Geschichte der estnischen und lettischen Völker gewesen. Dadurch sind sie für mehrere Jahrhunderte unter das Joch der deutschen Feudalherren gefallen, was eine langzeitige Zurückgebliebenheit hervorgerufen hat.“38 Zur überdauernden Funktion dieses Traumas der „700-jährigen Knechtschaft“ bemerkte der estnische Historiker Jüri Kivimäe in einer estnischen Zeitschrift 1989 selbstkritisch: „Das deutschbaltische ‚Kulturträgertum‘ gehört bis zum heutigen Tag zum eisernen Bestand unseres nationalen Minderwertigkeitsgefühls, heute noch entfachen sich Wortgefechte auf dieser Grundlage, obwohl wir inzwischen um eine historische Erfahrung bezüglich eines anderen ‚Kulturträgertums‘ reicher geworden sind“39 – womit er das russisch-sowjetische „Kulturträgertum“ meint. In diesem Kontext sei erwähnt, dass Kristel Kaljund in ihrer 2006 erschienenen Dissertation u. a. feststellt, dass die nationale Identität der Esten heute nicht mehr auf der negativen Stereotypisierung der Deutschbalten und ihrer Rolle in der estnischen Geschichte basiert, sondern vielmehr auf die Russen und auf Russland übertragen worden ist.40 Schaper stellt das Verhältnis zwischen Bauern und Gutsherren einem immer währenden Gesetz gleich, wenn er über die alte Hüterin eines Geflügelhofes schreibt: „[…] Leben und Dienst hatten immer nur ‚den Herrn‘ gekannt. Alle Wechsel im Zeitlichen, so schrecklich sie sein mochten, wie im vergangenen Jahr, waren der Alten nur noch geringe Abweichungen von dem ewigen Gesetz, das den Herrn und die Dienenden an den Anfang der Schöpfung gesetzt.“41 In dieser Sichtweise liegen sicherlich auch die Beständigkeit und die Schwierigkeit der Überwindung des Traumas und des Hasses, der „seit unvordenklichen ___________ 36
Ebd., S. 711 f. Helme, Die Deutschen in der Geschichte Estlands (wie Anm. 14), S. 45 f. Zit. n. ebd., S. 47 f. 39 Zit. n. ebd., S. 57. 40 Kristel Kaljund, Zur Rolle des stereotypisierenden Deutschenbildes der Esten in Geschichte und Gegenwart, München 2006 (Dissertation), S. 190. 41 Schaper, Henker (wie Anm. 13), S. 323 f. 37 38
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Zeiten gegen die schwelte, die im Schlosse wohnten und über Felder und Wälder geboten“42 sowie all dessen, was der Este jahrhundertelang „ingrimmig hatte verbeißen und in stummen Leiden herunterschlucken müssen“43 begründet, was Schaper wiederum durch die Gedanken der Koiri-Bäuerin thematisiert: „[…] es schwärte nur ein dunkler Groll in ihr, ein dunkler, uralter, den jedes Geschlecht ihres Volkes weitergab, auf daß er nie verwunden, von keiner Guttat übermächtigt, von keinem Glücke ausgetilgt und in keiner Zufriedenheit vergessen würde: der Haß gegen die Herren, die ihre Geschichte von den Zeiten der Ritter an mit Schwertern und mit Hufen in ihre Äcker schrieben.“44 Die anfangs angesprochene Langlebigkeit von Stereotypen durch die Tradierung an nachfolgende Generationen bezieht Schaper in diesem Zitat auf das „Unterdrückungstrauma“. Aus der Perspektive Ovelackers – hier noch im Dienste des Zarenreiches – gestaltet sich das Verhältnis zwischen Bauern und Herren ganz anders: „Auf vier oder fünf Schritt Entfernung von ihm lag dichtgedrängt eine Welt, die er haßte und verachtete, gegen die er vor nicht ganz einer Stunde Attacke geritten hatte, eine dunkle, geschichtslose Welt voller Haß gegen alle Form und die Hoheit des Herrentums. Eine Welt, mit der die seine nie Frieden schließen würde: die Welt des Bauern, die sich gegen Geschichte sträubt, schon weil die mit nichts achtenden Hufen über seine Felder stampft.“45 Mit den Ereignissen der Jahre 1939/41 waren grundlegende Probleme der nationalen und kulturellen Existenz verbunden. So befürworteten nicht nur viele Esten die Umsiedlung der Deutschbalten, auch die estnische nationale Presse sah darin ein Ende der 700-jährigen Unterdrückung und übte scharfe Kritik an der „Kulturträger-Theorie“. Der ehemalige estnische Wirtschaftsminister Leo Sepp wies auf die Funktionalität solchen Denkens hin, indem er schrieb: „Die feudale Oberschicht des Baltikums hat wahrscheinlich nie richtig begreifen können, was für einen ungeheuren Gefallen sie mit ihrer dummen bornierten Unterdrückung, mit Verboten und Beschränkungen dem estnischen Volk angetan hat. Sie haben ein monolithisches, einheitliches Volk geschaffen, wo alle, vom General bis zum Hirtenknaben, vom Intellektuellen bis zum Pflüger, von einem und demselben Gefühl getragen wurden: wir sind eins, wir haben ein gemeinsames Interesse.“46 Die Umsiedlung hat die Bewertung des Kulturlebens und der nationalen Ideologie überhaupt verändert. Schon immer war die Kulturpolitik für die Betrachtung der 700 Jahre langen „Sklavenzeit“ ein sehr wichtiges Motiv gewesen. Dem war nun ein Ende gesetzt. Oskar Loorits schrieb in diesem Zusam___________ 42
Ebd., S. 271. Ebd., S. 269. 44 Ebd., S. 232 f. 45 Ebd., S. 44. 46 Zit. n. Helme, Die Deutschen in der Geschichte Estlands (wie Anm. 14), S. 56. 43
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menhang, dass „das endlose Reden von ‚siebenhundert Jahren‘ für uns bei weitem nicht nur ein Klagelied gewesen ist, sondern ganz bestimmt eine Basis, die große Massen mit Kampflust elektrisiert und uns sowohl mit Selbstschutzals auch mit Sturmwaffen versehen hat. Ich fürchte sehr, dass mit dem Verlorengehen dieser nationalstrategischen Basis eine Lücke in unserer Ideologie zurückbleibt, die nicht so leicht mit gleich mächtigen und hinreißenden Leitsprüchen zu erfüllen ist.“47 Es gab aber auch eine Vielzahl von Stimmen abseits des offiziellen politischen und publizistischen Bereichs, welche, auf persönlichen Beziehungen basierend, die jahrhundertelangen Gemeinsamkeiten hervorhoben.48 So berichtet der ehemalige Präsident der Deutschen Kulturselbstverwaltung Wilhelm Baron Wrangell im Kontext persönlicher Erlebnisse nach der Bekanntgabe des Umsiedlungsbeschlusses von estnischen Versuchen, ihn zum Bleiben zu bewegen: „Sie empfanden, dass irgend etwas wegging, was dazugehörte.“49 Auf Seite der Esten gab es demnach sowohl Genugtuung darüber, dass es nach 700 Jahren endlich gelungen war, die unliebsamen Konkurrenten auf vielen Ebenen loszuwerden – gerade estnische Nationalisten standen unverblümt hinter dieser Auffassung – als auch Trauer über die Umsiedlung der langjährigen Heimatgenossen – zum Teil mit einer Ahnung der drohenden Ereignisse verbunden. Im Hinblick auf die vielgestaltigen Missverständnisse und Gegensätze zwischen zusammenlebenden Völkern schreibt Angelus, dass es geradezu „unnormal gewesen [wäre], wenn Deutsche und Esten sich immer vertragen hätten!“50 Gerade vor dem Hintergrund persönlicher Beziehungen zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen Esten und Deutschbalten nicht nur von purem Hass gekennzeichnet war – im „Henker“ macht sich eine Bäuerin Gedanken über eine ermordete Baronin: „Die Frau – das ließ sich auch nicht verschweigen –, die Frau hatte ihr geholfen, als sie im ersten Wochenbett lag. Jawohl, die Baronin, ihr, der Uuetoa-Liine! Und später hatte sie ihre Kinder vom Tode errettet, als sie an den Masern daniederlagen und es beinahe schon zu spät war. Und als ihr Juhan damals mit der Leppiko-Witwe anbandeln wollte, hatte sie ihm den Kopf gewaschen, ihm gut zugeredet und ihn wieder zu seiner angetrauten Frau geschickt. Das alles ließ sich nicht vergessen. Allerdings, die Barone waren nun einmal Barone, und richtig war es nicht, daß sie die Herren hier waren. Was hatten ihre Mutter und ihre Großmutter ihr so alles erzählt aus der langen Zeit ___________ 47
Zit. n. ebd., S. 56 f. Jüngst bei Kalev Kukk, Die öffentliche Reflexion über die Umsiedlung und ihre Auswirkungen in Estland, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums, Bd. 55:2008 (2007), S. 130-148. 49 Wilhelm Baron von Wrangell, Zur Situation der Deutschbalten in Estland bis zur Umsiedlung, in: Henning von Wistinghausen, Zwischen Reval und St. Petersburg. Erinnerungen von Estländern aus zwei Jahrhunderten, Weißenhorn 1993, S. 396-420, hier S. 415. 50 Angelus, Esten und Deutsche (wie Anm. 1), S. 132. 48
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der Tränen! Wie die Teufel waren die Herren gewesen, hart und habgierig, die richtigen Schinder! Ein Wunder, daß es jetzt überhaupt noch andere Menschen als die Deutschen und die Halbdeutschen gab! Die Tidenküllsche Frau aber … Natürlich, sie würde ihren Kindern nicht erzählen können, was Großmutter und Mutter einmal ihr erzählt hatten.“51 Schaper greift hier die Überlieferung des Traumas innerhalb einer Familie auf und beschreibt gleichzeitig, welche Auswirkungen positive zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Erfahrungen darauf haben. Aufgrund der tiefen Verinnerlichung zögernd und auch ein wenig widerwillig muss die Bäuerin letztlich zugeben, dass diese Tradition bei ihr einen Endpunkt gefunden hat. Am Ende des Romans begibt sich Ovelacker zum Hof des im Sterben liegenden Koiri-Bauern, um sich mit diesem zu versöhnen. Durch die beiden Romanfiguren, die die schon erwähnten Elemente „deutschbaltisch-ritterschaftlich“ und „estnisch-lettisch-bäuerlich“ repräsentieren sowie durch die Privatisierung der historischen Handlung konstruiert Schaper eine soziale und nationale Aussöhnung, die auf der christlichen Grundlage von Nächstenliebe beruht und die mit einem „implizit ethischen Appell“ zukunftsweisend über eine reine historische Analyse hinausgeht.52 Die versöhnlichen Töne zeigen sich auch in Ovelackers kurzem Gespräch mit Olli, der Magd vom Koiri-Bauernhof. So spricht der Graf mit ihr estnisch, „ohne auch nur im mindesten zu zögern, ohne daß sein Stolz sich dawider empörte. Nein, freundlich geschah es, und mit einem Vertrauen in der Stimme, als besprächen sie hier ihre seit langer, langer Zeit gemeinsamen Sorgen.“53 Im Jahre 1993 veröffentlichte der „Eesti Ekspress“ einen Beitrag des Historikers und estnischen Botschafters in Deutschland, Tiit Matsulevits, den in deutscher Übersetzung auch die „Baltischen Briefe“ übernommen haben. Die positiven Aspekte des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den Deutschbalten betonend appelliert er: „Lassen wir doch diesen Mythos der ‚700jährigen dunklen Sklavennacht‘, diese Stereotype, die heute nur denen von nutzen ist, die das wiedergeborene Estland nicht als einen ernstzunehmenden europäischen Staat anerkennen wollen. Gerade dank der Deutschbalten, dank dieser 700 Jahre, können wir uns selbst als Europäer betrachten, wir, deren Ohren von Bach verwöhnt, deren Augen von der Bibel liebkost und deren Wuschelhaare von deutschen Kämmen gescheitelt wurden. Dank der Deutschbalten können wir auch in unserer eigenen Sprache sagen, daß wir Esten sind. Außer der estnischen Hartnäckigkeit kenn ich keine so wirksame Medizin gegen die Russi___________ 51
Schaper, Henker (wie Anm. 13), S. 144. Vgl. Neuschäffer, Der historische Roman „Der Henker“ (wie Anm. 9), S. 253 ff. 53 Schaper, Henker (wie Anm. 13), S. 749. 52
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fizierung wie es der von den Rothistorikern vielgescholtene, seinerzeitige baltische Sonderstatus gewesen ist. Laßt uns nicht vergessen, daß das Estland der Mägi, Saar, Tamm und Kivi auch das Estland der Üxküll, Stackelberg, Maydell, Ungern-Sternberg, Liphart, Glasenapp, Hasselblatt und Berg ist. Die Deutschbalten waren für uns Brücke und Bollwerk. Sie sind es auch heute noch, im Herzen Europas.“54 IV. Edzard Schaper gelangte nach seinen eigenen Worten im Gefolge „eines weißen Kleides“ – gemeint ist seine spätere Frau, die aus Reval/Tallinn stammende Deutschbaltin Alice Pergelbaum – im Jahre 1930 nach Estland, wo er für ein Jahrzehnt lebte und arbeitete.55 Nach Liina Lukas waren es stets die so genannten „Wahlesten“ – so auch eine der ersten Selbstbestimmungen Schapers –, die die Anreize für ihr Schaffen gerade aus Estland geschöpft hätten.56 So soll Schaper, selbst später, als er schon in der Schweiz lebte, noch im Banne der ihn inspirierenden estnischen Landschaften und Menschen gestanden haben.57 In einem Brief an Carl Helbling schrieb er: „Mein Heißhunger, in die baltische Geschichte zurückzugehen […] ist wohl als Alterssymptom zu werten. Aber ich wüßte wirklich keine erregendere, großartigere Welt für einen Dichter.“58 Laut Lukas hat Schaper in Estland jene Momente wahrgenommen, die der Este als „ewiger Wanderer nach Europa“ nicht registriert oder denen er keine Bedeutung zugeschrieben habe59: Estland sei für ihn in erster Linie ein Grenzland gewesen, sowohl im geographischen, im kulturellen als auch im religiösen Sinne, der Berührungspunkt zweier Kulturen, ewiges Spannungsfeld der lateinischen und griechischen Kirche, die Grenze zwischen West und Ost60 – und in diesem Sinne zugleich Ort einer Peripherie, der einen Blick in das Zentrum europäischer Kultur gestatte und dabei verdeutliche, dass keine Kultur sich nur aus sich selbst definieren könne, sondern allein im lebendigen Kontakt und in der Spannung mit anderen denkbar sei.61
___________ 54
Zit. n. Hubertus Neuschäffer, Schlösser und Herrenhäuser in Estland, Plön 1993, S. 12. Liina Lukas: Grenzgänger. Edzard Schaper zum 90. Geburtstag, in: Baltica. Die Vierteljahresschrift für baltische Kultur, Heft 3, Herbst 1998, S. 43-48, hier S. 46. 56 Dies., „Grenzland“ – ein estnisches Motiv im Werk Edzard Schapers, in: Baltica. Die Vierteljahresschrift für baltische Kultur, Heft 4, Winter 1998/99, S. 12-26, hier S. 12 f. 57 Ebd., S. 14. 58 Zit. n. Lukas, Grenzgänger (wie Anm. 55), S. 48. 59 Dies., „Grenzland“ (wie Anm. 56), S. 25 f. 60 Ebd., S. 12. 61 Dies., Grenzgänger (wie Anm. 55), S. 45. 55
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Entsprechend schreibt die estnische Historikerin Ea Jansen, dass die heutige Kultur der Esten aus dem Zusammenspiel ihrer alten ethnischen Kultur und den durch die Deutschbalten vermittelten Institutionen und Ideen entstanden sei, die charakteristisch für die europäische Schriftkultur waren. Wolle man von einer Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Völker im Baltikum, also von einer Art „baltischen Einheit“ sprechen, so bestünde diese hauptsächlich in den gegenseitigen kulturellen Einflüssen der Esten, Letten und Deutschbalten sowie auch kleinerer ethnischer Gruppen.62 Darum rufe auch die heutige Zeit die Esten auf, „sine ira et studio das Leben und die Kultur dieser [der deutschbaltischen, K. L. L.] Volksminderheit zu studieren, um die gegensätzliche Einheit ‚ihrer‘ und ‚unserer‘ Kultur zu verstehen […].“63 Sine ira et studio – so ist, und ich stimme hier Hubertus Neuschäffer zu, auch Edzard Schapers Roman „Der Henker“ verfasst worden, denn besonders auffallend ist sein Bemühen, durch eine sehr differenzierende Darstellungsweise allen Seiten gerecht zu werden.64 Schaper äußerte sich einst wie folgt: „Ich bin durch meine Geburt an der Grenze von Nationen, Konfessionen, Nationalitäten, Sprachen und was alles es sonst auf der Welt gibt, das die Menschen unterscheidet, dazu bestimmt, immer in der ‚Mittezwischen‘, im Nebeneinander und Durcheinander zu leben, und habe mir aus diesem Leben im Durcheinander unserer heutigen Welt meinen Standpunkt gewinnen müssen.“65 Diese Positionierung in der „Mittezwischen“, im „Nebeneinander“ gilt auch für die besondere Stellung des gebürtigen Poseners zwischen Esten und Deutschbalten. Beiden Gruppen hat er sich durch sein „Wahlestentum“ einerseits und als Ehemann einer Deutschbaltin andererseits wohl gleichermaßen verbunden gefühlt. Daher gestaltet sich die Rolle Edzard Schapers nicht nur im Hinblick auf den Roman „Der Henker“ mit seinem versöhnlichen Ende, sondern gerade auch angesichts der zahlreichen aufrüttelnden Reden, Essays oder Vorträge, in denen er in den 50er und 60er Jahren über das Schicksal der baltischen Völker berichtete und das Schweigen der westlichen Welt verurteilte66, vor allem als „Vermittlerrolle“.
___________ 62
Jansen, „Baltentum“ (wie Anm. 23), S. 109. Zit. n. Helme, Die Deutschen in der Geschichte Estlands (wie Anm. 14), S. 57 f. Neuschäffer, Der historische Roman „Der Henker“ (wie Anm. 9), S. 254 f. 65 Zit. n. Michael Garleff: Erlebte und gedeutete Geschichte im Werk Edzard Schapers, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit, Berlin 1996, S. 123-133, hier S. 127. 66 Gemeint sind u. a. „Das Land der sterbenden Kirche“ (1949), „Auch wir sind Europa“ (1952), „Baltische Lande und Baltisches Volkstum im Bewußtsein der Deutschen“ (1957), „Osteuropa als geistige Landschaft“ (1961), „Die baltischen Länder im geistigen Spektrum Europas“ (1964). Hierzu vgl. Liina Lukas, Biographisches/Selbstäußerungen, in: Baltica. Die Vierteljahresschrift für baltische Kultur, Heft 4, Winter 1998/99, S. 6-11, hier S. 11. 63 64
„Der Henker“ von Edzard Schaper aus postkolonialer Sicht Von Maris Saagpakk „Immer sind denen, die Geschichte gemacht haben, ihre Schulden vorgehalten worden von denen, die nach langer Zeit der Anteillosigkeit an der Geschichte in ihre Aufgabe einrückten.“ 1 Edzard Schaper, Der Henker
I. Einleitung Die Revolution von 1905 auf dem heutigen Territorium des Staates Estland, damals einer Provinz des russischen Zarenreiches, brachte eine Kluft zwischen der oberen und unteren Gesellschaftsschicht – den Deutschbalten auf der einen und den Esten und Letten auf der anderen Seite – zum Vorschein, deren Ausmaße der Mehrheit der Deutschen im Lande nicht vorher klar waren. Die Revolution war eine Demonstration der Kraft und Unzufriedenheit der unteren Bevölkerungsschicht. In sie mündeten gleichsam die sozialistischen Ideen von Gleichheit und die unterdrückte Wut der estnischen und lettischen Bauern auf die deutsche Oberschicht. Im kollektiven Bewusstsein der Deutschbalten brachte dieses Ereignis eine Wende mit sich – ein Gefühl, das eine Mischung von Schmerz, Enttäuschung, Trotz, Rechtfertigung und Verdrängung war. Es entstand die Frage, ob die bisher für unantastbar gehaltenen Vorsätze der historischen Aufgabe und Verpflichtungen in der veränderten Zeit noch ihre Gültigkeit bewahrt haben. Viele deutschbaltische Autoren versuchten eine literarische Be- und Aufarbeitung der Revolutionsereignisse2, so auch Edzard Schaper. Für den Autoren Schaper war ___________ 1 Edzard Schaper, Der Henker, Leipzig: Insel 1941, hier zitiert nach München: dtv 1979, S. 508. Vgl. Ders., Timukas, Tallinn: Eesti Päevaleht 2009. 2 Carl Worms, Aus roter Dämmerung, Leipzig 1906; Ella von Campen, Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, Riga: Jonck & Poliewsky 1908; Max Alexis von der Ropp, Elkesragge. Ein baltischer Zeitroman, Berlin 1908; Karl von Freymann, Der Tag des Volkes, Leipzig: Piper & Co. 1907; Lotte Girgensohn, Erleben. Livländischer Roman, Schwerin: Verlag von Fr. Bahn, 1908; Elisar Kupffer, Feuer im Osten, Leipzig: Reclam 1908; Frances Külpe, Rote Tage, Berlin 1910; Elsa Bernewitz, Die Entrückten, München 1927, Mia Munier-Wroblewska, Unter dem wechselnden Mond, Werden, Wachsen und Welken eines kurländischen Geschlechts, 4 Bde., 1927-1935;
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Estland seine Wahlheimat und er fühlte sich dem Deutschbaltentum verbunden, ohne selbst ein Balte zu sein. In seinem historischen Roman „Der Henker“ (1941) über die Revolution von 1905 hat sich der Schriftsteller in die deutschbaltische Welt eingearbeitet, eingefühlt und eingelebt, ähnlich wie bei seinen anderen Romanen zu baltischen Themen. Dieses Werk ist unter den literarischen Darstellungen der Revolutionsereignisse des Jahres 1905 das umfangreichste. Schaper sieht die Geschehnisse des Jahres 1905 mit dem Blick des späteren Betrachters als einen Wendepunkt an und macht aus den Revolutionsmonaten eine umfassendere geschichtliche Abrechnung zwischen der deutschen Oberschicht und der estnischen bzw. lettischen Unterschicht des Landes. Die Positionen der beteiligten Seiten wurden von 1905 bis 1941 mehrmals neu gewürfelt, und eine zeitliche Distanz zu den Ereignissen ermöglichte dem Autor eine differenziertere Sicht als bei den Werken, die unmittelbar nach oder sogar während der Revolution entstanden. Ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung des Werkes unterstreicht, ist die Figurenkonstellation im Roman. Der Held im Roman ist Graf Nikolai von Ovelacker, ein russischer Offizier deutschbaltischer Herkunft, der zu Beginn der Handlung eine Strafaktion gegen die Esten durchzuführen hat, die während der Unruhen der Revolution von 1905 bei zwei Herrenhäusern in West-Estland, in Drostenholm und Tidenküll3, ertappt wurden. Der Graf ist aber auch der Erbe des in Drostenholm getöteten Gutsbesitzers. Nach dem Ende der Strafaktionen verzichtet er auf seine militärische Laufbahn, tritt sein Erbe an und kehrt zurück in das „Land der Väter“. Die Dorfbewohner gestatten ihm aber keinen Neuanfang, ihm als der Entscheidungsinstanz bei den Strafaktionen wird die Schuld für die zu Unrecht bestraften und getöteten Bauern zugewiesen. Der Name „Henker“, den die Dorfbewohner Ovelacker geben, bleibt an ihm haften. Den Hingerichteten wird eine besondere Bedeutung auferlegt, sie sind die Opfer einer Diskrepanz zwischen dem krampfhaften und verbissenen Geschichtsverständnis der deutschbaltischen Gutsherren sowie des russischen Imperiums und den Ängsten, Sorgen und dem Aufstrebenswillen der unteren Schichten. Ovelackers Gegenspieler ist der estnische Bauer Koiri. Damit ist „Der Henker“ eines der wenigen Werke der deutschbaltischen Literatur, in welchen ei___________ Siegfried von Vegesack, Die baltische Tragödie, 3 Bde., Graz: Sammler 1933-1935; siehe hierzu Maris Saagpakk, Deutschbaltische Autobiographien als Dokumente des Zeit- und Selbstempfindens: vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Umsiedlung 1939, 2006. 3 Dabei ist Drostenholm ein fiktiver Ort und Tidenküll ein real existierendes Gut. Dem deutschen Leser mag es nicht auffallen, in der estnischen Übersetzung des Werkes ist es aber auf eine interessante Weise bemerkbar. In der Übersetzung ist für Tidenküll der estnische Name Rae eingesetzt worden, da es für Drostenholm aber keine estnische Entsprechung gibt, wird der deutsche Name verwendet. So wird durch die unterschiedlichen Namen ein anderer Bezugsrahmen für Drostenholm geschaffen.
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nem Esten als Figur eine gewichtige Position eingeräumt wird. Auch wenn es seiner Gestalt an Tiefe fehlt, nehmen sein Leben und das seiner Familie einen großen Teil der Handlung ein. Im vorliegenden Artikel wird der historische Roman von Schaper aus postkolonialer Sicht analysiert. II. Die (post)koloniale Annäherung an die deutschbaltische Literatur – Möglichkeiten und Grenzen Suchen wir nach literatur- und kulturwissenschaftlichen Methoden, die uns helfen können, die literarische Darstellung des kulturellen Kontaktes und des Aufeinanderfallens der Repräsentationen kollektiver Erfahrungswelten zu analysieren, scheint die Annäherungsweise der seit geraumer Zeit viel besprochenen colonial und postcolonial studies sinnvoll. Die Richtung entspringt dem Wunsch, die Stimme des Unterlegenen, des Subalternen vernehmbar zu machen und Lektürepraktiken für Texte zu entwickeln, die insbesondere die Zwischenfelder kultureller Gemeinschaften thematisieren. Man analysiert und dekonstruiert den textuellen Niederschlag der Kolonisations-, Anti-Kolonisations-, De-Kolonisations- und möglicherweise Re-Kolonisationsprozesse, die das kulturelle Miteinander in ihren zahllosen Schattierungen, die Identität der im kulturellen Konflikt/Kontakt beteiligten Seiten entscheidend geprägt haben und immer noch prägen. Das Präfix post bedeutet nicht, dass wir uns nur auf die Zeit nach der Aufhebung des Herr-Untertan-Verhältnisses beschränken müssten. Seit den 1980er Jahren versteht man unter Postkolonialismus die von Europa ausgehende Kolonisation in ihren verschiedenen Auswirkungen und Formen vom Moment der Eroberung bis hin zur Gegenwart.4 In Estland ist die postkoloniale Theorie bisher vor allem im Bezug auf die Sowjetzeit angewandt worden. Piret Peiker hat den Diskurs aber auch auf das 19. Jahrhundert und ihre Analyse einer Übersetzung Lydia Koidulas erweitert und Ulrike Plath hat die Kolonialphantasien der Deutschen im Baltikum im Zeitraum von 1770-1870 analysiert.5 Viele der wichtigsten Theoretiker der postkolonialen Kulturstudien sind Migranten aus den ehemaligen Kolonien und bilden eine „Gruppe elitärer Noma___________ 4 Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Post-Colonial Studies. The Key Concepts. New York: Routlegde 2007, S. 168. 5 Tiina Kirss, Viivi Luik’s The Beauty of History: Aestheticized Violence and the Postcolonial in the Contemporary Estonian Novel, in: Violeta Kelertas (Hrsg.), Baltic Postcolonialism. Amsterdam, New York: Rodopi 2006, S. 271-287; Dies., Interstitial Histories: Ene Mihkelson’s Labor of Naming, ebd., S. 387-404; Piret Peiker, Postcolonial Change: Power, Peru and Estonian Literature, in ebd., S. 105-129; Ulrike Plath, „Euroopa viimased metslased”: eestlased saksa koloniaaldiskursis 1770-1870, in: Rein Undusk (Hrsg.), Rahvuskultuur ja tema teised. Tallinn: Underi ja Tuglase Kirjanduskeskus 2008, S. 37-64.
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den“.6 Homi K. Bhabha, Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak sind als die namhaftesten unter ihnen zu nennen und werden in der einschlägigen Literatur als „Heilige Dreifaltigkeit“ der postkolonialen Theorie bezeichnet.7 Im vorliegenden Beitrag wird vor allem auf die Arbeit Homi K. Bhabhas verwiesen, insondere auf das Werk „The Location of Culture“ (1994, deutsche Übersetzung 2000).8 Die breite gesellschaftliche Resonanz der postcolonial studies zeigt, dass diese Ideen über den Kreis der Literatur- und Kulturwissenschaftler hinaus relevant sind. Dies kann einerseits mit den vom „Neokolonialismus“ bedingten Schuldgefühlen bei den Bürgern westlicher Staaten erklärt werden, andererseits ist sie auf die Entwicklungen der Postmoderne zurückzuführen, in deren Rahmen viele vorher marginalisierte Gruppen, angefangen mit den Frauen, aber auch verschiedene rassische, nationale, sexuelle Minderheiten eine Stimme erhalten und sich bemerkbar machen. Die bisher wichtigsten relevanten Einordnungskriterien, die „Klasse“ und – im 19. Jahrundert immer stärker – die „Nationalität“, weichen einer breiteren Palette von Wahrnehmungskriterien wie Geschlecht, Generation, institutionelle Verortung, geopolitischer Raum, sexuelle Orientierung. Der Interessenschwerpunkt verlagert sich auf die literarische Repräsentation kultureller Differenz zwischen miteinander konkurrierenden Gemeinschaften, deren Geschichts- und Selbstbilder häufig unvereinbar sind. Somit haben die postkolonialen Studien stets auch eine politische Note inne, die unterschiedlich akzentuiert sein kann und die – vor allem textuell festgehaltene – Verhaltens- und Denkmuster sowohl der herrschenden, wie auch der subalternen Schicht bloßstellen, erklären oder auch kritisieren kann. Nun scheint der koloniale bzw. postkoloniale Diskurs auf den ersten Blick den deutschen Kulturraum nicht sonderlich zu berühren, da die Deutschen sehr spät und nur wenige Kolonien besaßen. Doch dieser erste Blick täuscht. Betrachtet man die mittelalterlichen Kreuzzüge im Kontext der Kolonialgeschichte, erkennt man ähnliche Muster der Unterwerfung der Einheimischen und Aufdrückung der eigenen Ideologien. Wie Paul Michael Lützeler es in seiner Übersicht der deutschen postkolonialen Literatur treffend formuliert: „Von Karl dem Großen bis Karl IV. reicht die jahrhundertelange Geschichte der Eroberung und Kolonisation jener slavischen Gebiete, die man später den deutschen Osten nannte (man denke an Aktivitäten des Deutschen Ordens).“9 Die Kolonisierung des baltischen Raumes geschah in eben diesem Zeitraum. Also gibt es trotz der verspäteten Einmischung der Deutschen bei der „Aufteilung der Welt“ ___________ 6 Tiina Kirss, Rändavad piirid. Postkolonialismi võimalused. Keel ja Kirjandus 10, 2001, S. 673682, hier S. 673. 7 Robert Young, Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture, and Race, London: Routledge. 1995, S. 165. 8 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, 2. Aufl. 2007. 9 Paul M. Lützeler, Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 94.
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dennoch einen deutschen Kolonialdiskurs, und dies sowohl militärisch wie auch ideologisch, denn auch in der deutschen Kulturgeschichte sind Ideen von der Überlegenheit der Deutschen bzw. Europäer, die eine geistige Legitimation für die Kolonisation geliefert haben, bekanntlich vertreten. So ist für Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte10 Europa der „Schauplatz der Weltgeschichte“, eine Sicht, die für lange Zeit in Europa eine repräsentative und vorherrschende war.11 Fragen wir nach, ob die Eroberung und Verwaltung des baltischen Raumes unter folgender Definition wiedererkannt werden kann: „Kolonialismus [ist] die Kontrolle eines Volkes über ein fremdes unter wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Ausnutzung von Entwicklungsdifferenz zwischen beiden.“12 Die Antwort ist bejahend, obwohl wir im 13. Jahrhundert noch nicht vom estnischen Volk als einer Ganzheit sprechen können. Behandeln wir die einzelnen eroberten Stämme als das Volk der Esten oder eine Vorstufe dazu, bewegen wir uns aber im Rahmen der in Estland allgemein üblichen Vorgehensweise. Will man in der Behandlung dieser Periode die völkische Zugehörigkeit als ein Kriterium anwenden, muss die Bestimmung hauptsächlich auf sprachlicher Ebene geschehen. Des Weiteren ist es wichtig zu beachten, dass wir im Baltikum über eine Herrschaftskolonie sprechen, bei der „sich zahlreiche Einwanderer auf Dauer in der Kolonie nieder[lassen], ihre Existenz aber in erster Linie auf die Herrschaft über eine eingeborene Mehrheit [gründen], die zu diesem Zweck zumindest grundsätzlich in ihrer wirtschaftlichen Lebensform belassen wird.“13 Eine kulturelle Assimilation wurde nicht angestrebt. Es soll insbesondere darauf hingewiesen werden, dass in der oben angeführten Definition die Art der Verbindung der Einwanderer zu ihrem Herkunftsland nicht bestimmend ist. Ob nur der im Lande herrschende Kolonistenklasse die Nutznießung der eroberten und kolonisierten Länder obliegt oder ob etwas davon in das Herkunftsland der Einwanderer fließt, ist aus der Sicht des kulturellen Kontaktes von sekundärer Bedeutung. Bei der Analyse der literarischen Werke und verschiedener schriftlicher Zeugnisse konzentrieren wir uns auf die durch diese Texte sichtbar werdenden kulturellen Kontakte. Es muss also fest___________ 10
Georg W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, hier Anmerkungen der Redaktion S. 561. Gehalten in den Jahren von 1822/23 bis 1830/32, hrsg. erstmals 1837 von Eduard Gans. 11 Bei der Kolonisierung unterscheidet Hegel allerdings zwischen den Eroberungen (Spanier in Süd-Amerika) und der Kolonisierung (Engländer in Nord-Amerika), Die Eroberung habe man nur vorgenommen, um sich zu bereichern und zu herrschen, eine Kolonisierung hingegen bedeute, dass die Menschen nach einer Umgebung für ihr Leben und Wirken suchen, die durch Ruhe, bürgerliche Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit gekennzeichnet sei. Den Staat brauche man dabei nur als den „äußeren Schutz zum Schutz des Eigentums“. Ebd., S. 112 und 115. 12 Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart: Kröner 2008, S. 1 f. Die Entwicklungsdifferenz ist dabei als beschreibend und nicht als bewertend zu verstehen. 13 Ebd., S. 5.
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gehalten werden, dass die Deutschen im Baltikum eine Herrschaftsposition innehatten und die Oberschicht bildeten. Auch als die Verbindung zum Mutterland Deutschland nach dem Livländischen Krieg im 16. Jahrhundert verlorenging und damit eine Nutznießung der Kolonie für das ferne Zentrum nicht mehr gegeben war, behielten die Deutschen ihre Stellung. Ihre Dominanz als Elite war so stark, dass die schwedischen und russischen Familien, die in den jeweiligen Herrschaftsperioden ihrer Länder im Baltikum Fuß fassten, mit der Zeit deutsch wurden (dies trifft auch bei estnischen Aufsteigern zu). Nach dem Untergang des alten Ordensstaates handelte es sich im Fall Livlands um eine „Kolonie ohne Imperium“.14 Auffallend ist, dass der Autor Schaper sich im Roman ebenfalls zu der Frage äußert, ob die Eroberung der baltischen Länder zum Kolonialdiskurs gehört. Die Ähnlichkeiten müssen ihm aufgefallen sein, denn im Roman spricht sich die Figur des Grafen Ovelacker vehement gegen einen Vergleich der Ostseeprovinzen mit den deutschen Afrika-Kolonien aus. Im Gespräch mit einem jungen estnischen Juristen, der eine diesbezügliche Andeutung macht, sagt Ovelacker: „Wenn sein Gast behaupten wollte, daß alle die Geschlechter der Deutschen, die hier gelebt hätten, nur landfremde Ausbeuter gewesen wären, Fronvögte und Magnaten wie im innersten Afrika, dann ... – Ovelacker suchte nach Worten – dann müßten alle Toten gegen ihn aufstehen, vollendete er schließlich. Alle Toten, die für dieses Land in den Tod gegangen wären, und dazu alle Lebendigen, die ihm noch dienten.“15 (Schaper 1979: 508)
Der Erzähler zeigt hier, dass Ovelacker die wirklichen Argumente fehlen, um diesen Vergleich geradewegs vom Tisch zu fegen – er sucht nach Worten. Da ihm Argumente fehlen, ruft er die Toten zur Hilfe. Deren Wirken, deren Identität und Weltverständnis ist sein Argument. Durch die Empörung wird aber auch klar, dass die Kolonisierung hier als negative Erscheinung aufgefasst wird, mit der der Held sich keineswegs identifizieren möchte. Es soll daran erinnert werden, dass die Heranziehung der Lektürepraktiken der postkolonialen Studien im vorliegenden Artikel nicht eine Gleichsetzung der gesamten gesellschaftlichen Situation im Baltikum mit den Verhältnissen der Kolonien in Indien oder Afrika bedeutet. Es wird gezeigt werden, welche Selbst- und Fremdbilder der damaligen Gesellschaft sich im Roman widerspiegeln, wie die Ambivalenz des gesellschaftlichen Miteinanders auf der Textebene dargestellt ist und wie die hegemoniale/subalterne Stellung der im Konflikt beteiligten Seiten textuell herausgearbeitet wird. ___________ 14 15
Epp Annus, Postkolonialismist sotskolonialismini, in: Vikerkaar 3 (2007), S. 64-76, hier S. 70. Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 508.
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III. „Der Henker“ und seine Schuld Die Handlung des Romans „Der Henker“ dreht sich um die Schuld. Einerseits die (angebliche) Schuld des Grafen Nikolai von Ovelacker, Rittmeisters der kaiserlichen Armee, die er auf sich geladen hat, als er im Zuge der Strafexpeditionen nach der blutigen Revolution von 1905 zwei Männer unschuldig in den Tod schickte und einen nach Sibirien verbannte. Dieser Aspekt kann als eine Kritik an den Strafexpeditionen, die der Revolution von 1905 folgten, gelesen werden. Andererseits handelt der Roman generell von der Schuld der Deutschbalten als Kolonisten und Herren in einem Land, das ihre Vorfahren vor vielen Jahrhunderten mit Gewalt eroberten und dessen unterdrückte Mehrheit Esten und Letten sind. Indem der Autor im zweiten Teil des Romans Ovelacker im demselben Gut Drostenholm Gutsherr werden lässt, in welchem er im Dezember 1905 das Kriegsgericht über die Aufständischen leitete, wird die Schuld des Helden abstrahiert zu einer Gesamtschuld der Deutschbalten gegenüber den Esten und Letten.16 Über mehrere hundert Seiten Handlung wird der Held zu einem Bekenntnis geführt. Der Umfang des Romans entsteht durch den Anspruch des Erzählers, dem Leser alle historischen Hintergründe des Themas zu eröffnen. Es ist für den Autor eine Herzensangelegenheit, das komplexe Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht im Baltikum sichtbar zu machen. Der Protagonist setzt sich daher nicht nur mit dem Ergebnis der Strafaktion im Dezember 1905 auseinander, das auf der Oberfläche des Geschilderten schwebt. Vielmehr sind es die Pflichten und Aufgaben der Deutschbalten während der gesamten baltischen Geschichte, mit denen Ovelacker sich auseinandersetzt. Als er im ererbten Gut Drostenholm ankommt und von den Bauern als Timukas (der Henker) beschimpft wird, versteht Ovelacker: „[...] daß er sein Leben im Lande der Väter in eine Schuld hinein gegründet hatte – oder etwas, was dem Lande und den ihm Eingeborenen als eine Schuld erschien.“17 Seine Position als Gutsherr, der im Besitz der materiellen Werte – das Gutshaus – wie auch des symbolischen Kapitals – traditionsreiche Geschichte der Vorfahren – ist, wird zu einem wichtigen Aspekt seiner Identität. Eben diese Aspekte der Identität unterstreichen auch sein Anderssein und verdammen ihn zu einem Leben, dessen wesentlicher Inhalt die Aufrechterhaltung einer Situation ist, die auf Dauer nicht bestehen bleiben kann. ___________ 16 Bezeichnend ist auch, dass das Gut Drostenholm in Livland sich auf beiden Seiten der Sprachgrenze zwischen Estnisch und Lettisch befindet. Somit leben auf dem Territorium des Gutes Drostenholm Esten und Letten, was dem Autor ermöglicht, über beide Völker zu sprechen, obwohl die Figuren aus dem Volk in der Regel Esten sind. Im Roman wird auch betont, dass im Kirchspiel 23 Deutsche und 4000 Esten und Letten leben. 17 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 224.
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Der Roman ist somit dem deutschbaltischen Weltverständnis und der Auffassung von Recht und Gerechtigkeit aus deutschbaltischer Sicht gewidmet. Die Frage nach der persönlichen Schuld des Protagonisten kann jedoch erst gestellt werden, nachdem die Frage der Kollektivschuld der deutschbaltischen Volksgruppe abgehandelt worden ist. Wie aus dem Zitat hervorgeht, ist bei der Schuldfrage die Perspektive entscheidend – die Schuld in den Augen der hier Geborenen. Bei dem Satz fällt auf, dass der Erzähler entweder die Deutschbalten in diese Gruppe einschließt, die sein Leben im Land der Väter als auf Schuld begründet ansehen, oder aber die Deutschbalten nicht zu denen zählt, die zum Land gehören. Dies verweist auf ein wiedersprüchliches Selbstbild – einerseits ist Ovelacker im Land der Väter, andererseits sind diejenigen, die das Recht zu urteilen haben, die Anderen. Durch diese Ambivalenz wird das von den Deutschbalten durch Kraft und Macht erworbene Recht auf das Land in Frage gestellt. Diese Ambivalenz ist es aber auch, die den Helden nicht zur Ruhe kommen lässt, die ihn beschäftigt. Die in den inneren Monologen und in Dialogen mit anderen Figuren betonte absolute Sicherheit des Helden in seiner Unschuld wird untergraben durch das innere Bedürfnis des Helden, immer wieder zu diesem Thema zurückzukommen. Der abstrakten Größe Schuld werden vom Erzähler beinahe die Eigenschaften einer Figur zugesprochen. Ähnlich wie der vom Trauer und Leid verwirrte Vater Jaan Koiri, dessen gespensterhafte Figur Ovelacker verfolgt, weicht auch die Schuld nicht von der Seite des Helden, begleitet und beschäftigt ihn täglich und stündlich. Der Held kämpft sich durch eine Dickicht von Unverständnis, die ihm von allen Seiten entgegenschlägt – die estnischen Dorfbewohner hassen und fürchten ihn, die deutschbaltischen Gutsbesitzer halten sich fern und die Beamten behandeln ihn schlicht als einen Problemfall. Der Held empfindet aufgrund seines Richterbeschlusses gegen die drei Brüder nicht wirklich Schuldgefühle, er betont immer wieder, dass es seine Pflicht war. Es ist daher nicht das Schuldgefühl, sondern ein Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens, das ihn dazu bewegt, die eigene wie auch die gesamte baltische Geschichte immer wieder zu überdenken. Das Ausgeschlossen-Sein zwingt ihn dazu, über die verschiedenen Argumente seines Handelns und des Handelns der deutschbaltischen Volksgruppe während der langen baltischen Geschichte nachzudenken. Die Restauration der gewohnten Lebensumwelt, durch welche die anderen Deutschbalten nach der Revolutionszeit ihre Ruhe wiedergefunden hatten, fehlt Ovelacker, dessen Alltag sich nur insofern normalisiert, als dass er sich an den fortbestehenden Ausnahmezustand auf seinem Gut gewöhnt. Das Ausbleiben des Alltags zwingt den Helden dazu, sich immer wieder mit der eigenen und kollektiven Vergangenheit zu beschäftigen und die Plausibilität der Geschichte wird zur zentralen Frage seiner Identität.
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Im Laufe der Handlung wird es einen Moment geben, wo er das Kreisen aufgeben möchte, wo er eine Fortsetzung seines Lebensweges mit der engelsgleichen Angelika von Reuter wünscht. Doch dann wird die geliebte Frau getötet, noch bevor eine richtige Beziehung entstehen kann, als Zeichen dessen, dass er keine Zukunft haben kann, solange er keinen Frieden mit der Vergangenheit geschlossen hat. Die erste im Roman beschriebene Begegnung Ovelackers mit einem Gutsherrn ist eine Begegnung mit dem von den aufständischen Bauern getöteten Gutsherrn Arved Freiherr von Gilsen. Dies kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass die deutschbaltische Welt, wie Ovelacker sie antrifft, keine Zukunftsperspektive hat. Die ersten Toten im Roman sind der Gutsherr von Drostenholm mit seinem Diener, es folgen die vielen Verurteilten während der Strafaktion. Bevor der Sturm sich ganz legt, gehen aber noch weitere blutige Wellen übers Land, teils Racheaktionen der Aufständischen gegen diejenigen Esten, die bei den Strafaktionen als Zeugen aufgetreten waren (der Wirt), teils eine Fortsetzung der gegen die Deutschen gerichteten Anschläge (der Pastor, Angelika von Reuter). Symbolträchtig ist die Todesverkündigung Ovelackers, als sei dieser schon im Jenseits, während er noch lebt. Neben dem Tod spielt auch die Krankheit im Roman eine symbolträchtige Rolle. Die Figuren im Roman, die sich mit dem baltischen Recht befassen, sind krank – die eine Figur ist die des Notars, der ein kleiner alter Mann ist wie ein Zwerg, und dessen Äußeres für Ovelacker auf den ersten Blick unheimlich war. Die zweite Figur ist die des Erben von Tidenküll, Andreas von Reuter, der als „Kenner des baltischen Landesrechts“ die „zur Stimme gewordene Wahrheit des Rechts“ verkündet hatte, bis die Krankheit ihm „die Stimme verschlug“.18 Durch diese Figuren spürt der Leser, dass dem baltischen Recht der Atem ausgeht. Die Herren sind so sehr mit der eigenen Sicherheit beschäftigt, dass sie keine anderen Lösungen finden als laut zu bekunden: Der Herr hier bin ich.19 Deutsche Frauen, die das Leben weitertragen sollen, gibt es im Werk kaum. Angelika von Reuter ist mehr ein Wunschbild als ein Mensch, sie ist eine Madonna, Bild einer perfekten Frau, wunderschön, zurückhaltend, sich aufopfernd, milde und schreckhaft wie ein Reh. Deswegen ist sie auch nicht für das irdische Leben bestimmt und muss sterben. In den Gedankengängen des Helden Ovelacker zu seiner Lage kann man eine Tendenz zur Opferposition erkennen. Es werden die anderen Völker, die in verschiedenen Zeiten in Estland geherrscht hatten, der Hetze gegen die Deutschen beschuldigt. Die Polen hätten die „Undeutschen aufgehetzt, die Schwe___________ 18 19
Ebd., S. 386 f. Vgl. Fanon in Bhabha, Die Verortung der Kultur (wie Anm. 8), S. 172.
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den ermutigten die Wortfreiheit der Leibeigenen“20, und die Russifizierung habe die Völker gegeneinander ausgespielt.21 Die estnischen Bauern hätten aber stets nur „die Rechte der Herren gesehen und nicht ihre Pflichten“, womit ihnen die Fähigkeit, gerechte Urteile zu fällen, scheinbar abgesprochen wird.22 Diese Gedankengänge suchen die Ursache der entstandenen Spaltung in Prozessen, die außerhalb des Machtbereichs der Deutschen lagen und dokumentieren die Angst vor der Ambivalenz des Anderen. Die Bauern machen sich ungreifbar, sie scheinen einerseits mit den herrschenden Verhältnissen einen Frieden gemacht zu haben, doch im Hinter- und Untergrund brodelt es. Die Ambivalenz dieses Anderen rüttelt aber auch an der Identität von Ovelacker, da er sein Selbst durch das Andere definiert und nicht zur Ruhe finden kann, bevor er den Anderen versteht. Die Störung in der Identität des Helden kann nicht intellektuell gelöst werden. Obwohl er bis zum Ende Gründe findet, um sich und andere in seiner Unschuld zu überzeugen, ist es letztlich nicht sein Verstand, der entscheidend ist, sondern sein Herz. Die Ereignisse, die im Roman zur konfliktauflösenden Kulmination führen – eine Begegnung mit dem jungen estnischen Juristen Konstantin Sirg und der Brief Vladimir Karlovitsch Möllers, des einzigen Offiziers unter den Richtern der Strafexpedition, der von der Unschuld der KoiriBrüder überzeugt war – liefern keine neuen Argumente und geben daher inhaltlich keinen Grund zur Wende. Indem Ovelacker sich die Ereignisse aus der Sicht Koiris ansieht, gibt er eine gewisse Strenge und Prinizipientreue auf, die alle seine Monologe im Roman charakterisiert hatten. Durch diese Wende findet er einen Weg, die innere Spaltung seiner Identität zu überwinden. Aus dem Gutsgelände Drostenholm wird ein Schwellenraum zwischen zwei Kulturen, deren Stellungskampf im Mittelpunkt der Ereignisse steht. Das Herrenhaus wird mit der Arche verglichen, die „in der Finsternis zwischen Himmel und Erde lag.“23 Diese Schwellenerfahrung deutet sich in den inneren Monologen Ovelackers an, erlebt jedoch seine ausgesprochene Schärfe in den alltäglichen Erfahrungen des Anders-seins im Alltag des Gutslebens. Das Herrenhaus als der Sitz der Deutschen hatte aus vielfacher Sicht eine besondere Stellung. Einerseits fungierte der Gutskomplex als Mittelpunkt der (land-)wirtschaftlichen Aktivitäten des Gutes, andererseits stellte er auch den Knotenpunkt des kolonialen Kräfteverhältnisses dar. Das Herrenhaus verkör___________ 20 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), Ausgabe 1941, S. 229, fehlt in Ausgabe 1979. In der Romanausgabe vom Jahr 1979, die für die vorliegende Analyse als Grundlage stand, fehlen 16 Seiten vom Beginn des zweiten Buches. Es ist ein Überblick der baltischen Geschichte aus Ovelackers Sicht. 21 Vgl. ebd., Ausgabe 1979, S. 209. 22 Ebd., Ausgabe 1941, S. 229, fehlt in Ausgabe 1979. 23 Ebd., Ausgabe 1979, S. 235.
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perte die Autorität der Macht und die äußere Gestaltung der Gebäude betonte ihre Abgehobenheit von den Behausungen der unteren Schicht. Die Herrenhäuser waren nicht einfach Zentren der Lebenswelt des baltischen Adels in den ländlichen Regionen, ihr symbolischer Wert lag darüber hinaus in der Betonung der Differenz der eigenen Identität vor dem Hintergrund der Dorfbewohner. Dabei lagen die Herrenhäuser dermaßen verteilt über das ganze Land, dass jedes von ihnen wie ein uneinnehmbarer Fels der Stärke erscheinen musste. Die Durchsetzung eigener Positionen war eine Existenzfrage, wie ja die Revolution von 1905 gezeigt hatte. „Der Säulenportikus vor der Front schien wie ein Sinnbild, daß hier Kraft und Geist eine Heimstatt gefunden, in der allein wahres Herrentum sich entfalten konnte. Es glich einem Tempel, der in klassizistischer Gestalt die Botschaft des christlichen Idealismus aus dem Herzen Deutschlands hütete, so wie einst die Altäre in den Domen den Segen der jungfräulichen Mutter bewahrt.“24
In diesen zwei Sätzen findet Schaper einen Weg, für das Geschichtsbewusstsein der Deutschbalten eine derart hypersolide Grundlage zu schaffen, dass es (zumindest aus der heutigen Sicht) eher ironisch anmutet. Das Haus, in dem Kraft, Geist und wahres Herrentum wohnen, wird jedoch im Laufe der Geschichte zu einem Gefängnis für seinen Inhaber, ja sogar zur Hölle, wie Ovelacker nach dem Tod Angelikas sagt. Der nach außen hin immer noch solide Bau bröckelt hinter dem Putz, das Heim wird unheimlich. Die Umgebung hat durch die neuartigen Verhältnisse eine Verschiebung erhalten – scheinbar ist alles genauso wie früher, das Haus, die Gutsleute – doch die Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Menschen haben die Natürlichkeit, die Routine des Alltags verscheucht. Ovelacker sagt seinen Gästen, sie müssten „das Gut abermals als eine belagerte Festung betrachten und versuchen, so viel von ihrem Lebensinhalt wie nur möglich innerhalb der Tore zu finden. Draußen, wenn auch im Unsichtbaren, läge der Feind.“25 Schauen wir uns diesen Feind genauer an. IV. Die Darstellung der Esten im Roman Ein Aspekt, der im Kontext der postkolonialen Lektüre immer berücksichtigt werden muss, ist die Darstellung des subalternen Anderen, durch den erst die Position des Herrschenden an Statur gewinnt. Dem Anderen werden Züge zugesprochen, die dem kolonialen Selbstbild nicht eigen sind, er dient vielfach als Projektionsfläche. Im Bezug auf das Baltikum ist die Darstellung des Anderen und der Prozess von othering von Ulrike Plath analysiert worden. Sie behandelt ___________ 24 25
Ebd. Ebd., S. 396.
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in ihrem Artikel den Zeitraum von 1770-1870 und zeichnet Motive und Verfahren im Prozess der Bezeichnung des Anderen heraus.26 Bevor wir uns die im Roman dargestellten Figuren genauer ansehen, sei an Homi K. Bhabhas Warnung erinnert: „Die Repräsentation von Differenz darf nicht vorschnell als Widerspiegelung vor-gegebener ethnischer oder kultureller Merkmale gelesen werden.“27 Ovelackers Gegenpol im dargestellten Konflikt ist der Bauer Jaan Koiri. Er ist der Vater von drei Söhnen, Nikolai, Jaak und Mart, die vom Rittmeister verurteilt werden. So wie die Schuld Ovelackers sich zu einer Kollektivschuld der Deutschbalten an den Esten verdichtet, ist die Figur Koiris in die Handlung eingebunden durch das Leid, das er im Namen des ganzen Volkes trägt. Unheimlich, wie Geister, wie Gespenster sind beide Helden. Ovelacker manchmal, Koiri nach seinem Unglück meistens. Laut Freud ist „unheimlich [...] alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“28 Unheimlich ist bei Koiri eine totale Fixierung auf das Unglück in seinem Leben, das ihn bis zur Unkenntlichkeit ändert. Er weigert sich, weiterzuleben. Unheimlich ist auch Ovelacker samt seiner Lage. Das historische Ereignis, das er unter seine Kontrolle zu nehmen versucht, entzieht sich ihm tückisch und zeigt ein Nachleben, das die ursprünglichen Kategorien von richtig-falsch, gutböse in einem neuen Lichte zeigt. Ovelacker agiert, doch die Ergebnisse seiner Handlung entziehen sich seiner Kontrolle. Die unheimliche Unruhe und Rastlosigkeit, gepaart mit zeitweiliger Erstarrung sind die Momente, die die beiden Figuren miteinander verbinden. Während Ovelackers intellektuelles Grübeln Dutzende und Dutzende von Seiten füllt, gibt es eine Darstellung von Koiris Gedanken nur auf wenigen Seiten. Von einem wirklichen Gegenspieler kann also nicht die Rede sein. Die Argumente gegen die deutschbaltischen Gutsherren und gegen Ovelacker persönlich werden vielmehr von den anderen Figuren während der Handlung hervorgebracht, angefangen mit einer Bäuerin, die während des Prozesses denkt, dass die Deutschen wie Teufel sind – „hart und habgierig, die richtigen Schinder!“29 – bis zum estnischen Juristen Konstantin Sirg, der vom Selbstbestimmungrecht der Esten spricht und eine ironische Bemerkung über das „messianische Bewusstsein“30 der Deutschen fallen lässt. ___________ 26
Plath, „Euroopa viimased metslased” (wie Anm. 5). Bhabha, Die Verortung der Kultur (wie Anm. 8), S. 3. 28 Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Ders., Gesammelte Werke XII, Frankfurt am Main 1919, S. 236. 29 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 105. 30 Ebd., S. 505. 27
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Koiri ist also vielmehr eine Verkörperung des Vorwurfs, er muss ihn nicht aussprechen, er ist der Vorwurf. Koiris Leiden werden mit großer Emphatie beschrieben, doch es muss konstatiert werden, dass die Figur Koiris eindimensional und voller Klischees ist. Ivo Iliste hat in einem Artikel über „Den Henker“ die Erzählhaltung Schapers bei der Figur Koiri kommentiert: „Was gibt es zu „intellektualisieren“ bei dem Verlust der drei Söhne?“.31 Diese Erklärung befriedigt aber nicht ganz. Koiri, dessen Name sich dem estnischen Wort koer – Hund ähnelt32, ist zu Beginn der Handlung Bauer eines reichen Hofes, wo es an nichts mangelt. Nach dem niederschmetternden Verlust der Söhne wird er jedoch stets mit Tieren verglichen. Er ist wie ein „abgejagter Wolf“33, ein „Stier“34, immer wieder wie ein „Bär“35 und einmal wird er sogar mit einem „gewaltigen Affen“36 verglichen, das wie ein direktes Zitat aus der traditionellen Kolonialkultur anmutet. Ovelackers Figur wird selbst im Moment seines größten Schmerzes nicht mit einem Tier verglichen. Außer Koiri werden auch Gruppen von Esten mit Tiermetaphern umschrieben – wenn der Verwalter andeutet, er hätte Lust auf eine Jagd auf Großwild wie damals im Dezember, versteht der Leser, wer da eigentlich gejagt werden soll.37 Die Esten, die als Gewährsleute für die Beamten und Gutsherren dienen, werden „Regenwürmer“ genannt.38 Die Erzählweise trifft mit dieser Darstellung den herrschenden Kanon der deutschbaltischen Literatur, in der das Animalische, Dunkle bei den Esten und Letten gesehen wird. Dabei kann es sich im Roman entweder um ein Zeugnis des unbewussten geistigen Erbes der deutschbaltischen Literatur handeln oder um eine vom Autor bewusst eingeschaltete Metaebene in der Schilderung der nicht-deutschen Umwelt durch die Augen des typischen Deutschbalten. Die Verwendung der estnischen Namen im Roman ist etwas erstaunlich. Da ist zum Beispiel der Bauer Jaan Koiri, dabei treffen der Name des Hofes und der Nachname der Figur überein, was ein möglicher, aber ein seltener Fall in der estnischen Dorfgesellschaft gewesen wäre. Die Menschen wurden und werden teilweise noch heute gerufen mit Hofnamen und dem Vornamen. ___________ 31 Ivo Iliste, 1905 im historisch-literarischen Kontext. Vergleichende Betrachtungen zu Edzard Schaper und Anton Hansen Tammsaare, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Fünfte Folge. Sonderheft: Edzard Schaper, Tartu 1998, S. 129-147, hier S. 143. 32 Auf die Ähnlichkeit wird im Roman explizit hingewiesen. Als der Verwalter Ovelacker über die Vorgänge auf dem Gut berichtet und Koiri erwähnt, sagt er: „ [...] so etwas wie Koer oder Koeras oder Koiri hatte man draußen gesagt [...]“. Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 226. 33 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 179, 426. 34 Ebd., S. 490. 35 Ebd., S. 426. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 218. 38 Ebd., S. 447.
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Der Vorname der Figur Koiri wird im Roman nur einmal genannt, vor dem Gericht, wo er als Zeuge auftritt. Also ist er einfach Koiri. Neben den Identitäten des deutschbaltischen Grafen Nikolai von Ovelacker, des ehemaligen kaiserlichen Offiziers, Besitzers des Gutes Drostenholm steht die Identität des estnischen Bauern Koiri – als Nach- und Hofname, Rang und Status. Die Betonung der kulturellen Differenz zwischen den Esten und den Deutschbalten erreicht auch Sphären, bei denen man eher eine Verschmelzung erwarten würde – bei den gebildeten Esten und bei den deutschen Gutsleuten. Eine bedeutende Stelle ist in dieser Hinsicht die Begegnung Ovelackers mit einem estnischen Studenten. Der erste Wink auf die Geringschätzung des Esten wird bereits vor dem Treffen der beiden gegeben, als Ovelacker den Namen auf der Visitenkarte liest – „ein belangloser Name, Konstantin Sirg oder so ähnlich“.39 Der Name wird abgetan mit „oder so ähnlich“. Sirgs Äußeres wird beschrieben als auf den ersten Blick tadellos und Ovelacker schätzt, dass er in Jena oder Göttingen nicht auffallen würde.40 Doch sein Deutsch ist etwas „hart und scharf“ und seine Gesichtszüge sind „zu unfertig [...] allzu formlos“.41 Hier wird deutlich auf die unsichtbare Grenze zwischen den beiden Welten verwiesen, eine innere (Bildung) und äußere (Kleidung, Frisur) Angleichung bedeutet noch nicht eine Aufnahme in die Welt des Anderen. Dies ist ein Phänomen, das im Kolonialdiskurs häufig vorkommt – der Untergeordnete vom Kolonisten wird nach eigenem Vorbild geformt, doch das Ziel kann und soll nicht vollständig erreicht werden. Der subalterne Andere wird zu einem Hybrid, das heimatlos zwischen den beiden Welten wandert. Von dem Studenten wird gesagt, dass sein Äußeres ihn fügsam erscheinen ließ, „fügsamer, als er in Wirklichkeit war.“42 Dies kann als ein Verweis auf die Hinterlistigkeit der Esten interpretiert werden, das laut Liina Lukas ein häufig wiederkehrendes Motiv in der deutschbaltischen Literatur ist.43 Im Folgenden wird auf die Hinterlistigkeit noch eingegangen werden. Auffallend ist, dass einige Stellen aus der Beschreibung von Sirg in der späteren Ausgabe des Werkes, das ich bei der Analyse zur Hand hatte, gestrichen worden sind.44 In der Erstausgabe aus dem Jahr 1941 bemerkt Ovelacker bei Sirg beispielsweise Folgendes: „Nur bedachte er, dass dem jungen Mann ein Ziertüchlein aus der Brusttasche lugte, das mit seinen prangenden Farben so gar ___________ 39
Ebd., S. 498. Ebd., S. 500. 41 Ebd., S. 499 f. 42 Ebd., S. 500. 43 Vgl. Liina Lukas, Võõra motiiv baltisaksa kirjanduses. – Akadeemia 11, 1997, S. 2322–2343, hier S. 2328. 44 Siehe auch Anm. 20. Zu betonen ist, dass in der Ausgabe von 1979 steht, es sei eine „ungekürzte Ausgabe“! 40
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nicht recht zu dem Anzug passen wollte. Irgendwie verriet es einen schlechten Geschmack.“45 Und an der Stelle, als Sirg den Raum verlassen hat und Ovelacker sinnend zurückbleibt, spürt er in der späteren Ausgabe nur „Penetranz“ des Fremden, in der Erstausgabe steht jedoch, Ovelacker müsse aus dem Raum fliehen: „Vor irgendeinem billigen, aufdringlichen Duft, wie er auf Jahrmärkten feilgeboten wurde [...]“.46 Mir ist nicht bekannt, von wem diese Einschnitte stammen, dass gerade die geringschätzigen Äußerungen, die den Statusunterschied zwischen den Gesprächspartnern unterstreichen, getilgt sind, kann als ein Argument für die postkoloniale Interpretation dieses Werkes geltend gemacht werden. Betrachten wir nun die Darstellung der Esten als einer Gruppe im Roman. Ilo Iliste hat treffend bemerkt, dass die Esten im Roman als ein „anonymer pöbelhafter Haufen“ erscheinen.47 Es ist auffallend, dass die Landbevölkerung stets als „ausdruckslos“48 bezeichnet wird, als Masse von Menschen, die „sich nur geringfügig voneinander unterscheiden“.49 So reizlos wie ihr Äußeres, ist auch ihr Inneres. Die Esten werden als „ungemein berechnend und habgierig“ charakterisiert50, sie seien gegeneinander böswillig, rechthaberisch und prozesslustig.51 Die Dorfbewohner, Nachbarn und Verwandte, sprechen zwar über Koiri, helfen dem Bauern aber nicht, sondern versuchen ihn um sein Vermögen zu bringen und sein Leid für eigene Vorhaben auszunutzen. Sie erzählen Hässliches über ihn und die Magd Olli, sind bereit, das Schlimmste zu glauben und zu verbreiten. Die Magd Olli hat als einzige Figur unter den Esten einen wahrhaftig positiven Charakter, sie wird als emphatisch, tüchtig, pragmatisch und ehrlich dargestellt, ein „Prachtmensch“, wie der Doktor im Roman sagt. Die negative Stigmatisierung der Esten kann als ein Teil der Rechtfertigungsstrategie der Machthabenden verstanden werden. Es entsteht ein hermeneutischer Zirkel – die koloniale Bevölkerung ist gleichzeitig Ursache und Resultat des Systems. „Was sichtbar bleibt, ist die Notwendigkeit einer solchen Herrschaft, die durch jene moralisierenden und normativen Besserungsideologien gerechtfertigt wird, die unter dem Namen der zivilisatorischen Mission [...] anerkannt sind.52 So muss sich Ovelacker über die Ruhe der Gutsbediensteten wundern: „Er könne nicht ganz begreifen, [...] daß die Leute, die ihn heute so freundlich gegrüßt hatten, doch nicht zufrieden ___________ 45
Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), Ausgabe 1941, S. 703. Ebd., Ausgabe 1979, S. 512, Ausgabe 1941, S. 716. 47 Iliste, 1905 im historisch-literarischen Kontext (wie Anm. 31), S. 143. 48 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 746. 49 Ebd., S. 84. 50 Ebd., S. 239. 51 Vgl. ebd., S. 247. 52 Bhabha, Die Verortung der Kultur (wie Anm. 8), S. 123. 46
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mit ihrem Leben waren“.53 Dieses Phänomen wurde vom Erzdiakon Potts 1818 in der britischen Kolonie Indien als sly civility – schlaue Höflichkeit bezeichnet.54 Es stellt eine Überlebensstrategie der Untertanen dar, die den Herren nie ihr wahres Gesicht zeigen. Doch genauso ambivalent ist das Bild der Deutschen als einer Gemeinschaft. Einerseits betrifft es ihr Miteinander – auch sie sind berechnend und distanzieren sich von Ovelacker, als dieser ihre Hilfe brauchen würde und kehren erst zurück, als der Tod der Verlobten von Ovelacker, Angelika von Reuter, bei ihnen ein Gefühl der wiederentdeckten Zusammengehörigkeit hervorruft. Andererseits betrifft es den Umgang mit der estnischen Bauernschicht. Die Art der Deutschen als Oberschicht, Fortschrittlichkeit, Rationalität, Ordnung und Genügsamkeit mit Hilfe von Prügel und Todesstrafen zu propagieren, schafft ein Effekt der Befremdung. Die Stilisierung ihrer Funktion mit Wörtern wie „Bewusstsein der Sendung“55 und „Anständigkeit“56, steht im Gegensatz zu der im Roman genannten Tatsache, das es in der Landbevölkerung sehr viele halbdeutsche Kinder gab, die ihre Wut auf die Herkunft, die sie haben verleugnen müssen, ausleben wollen. Es sind wie zwei verschiedene Welten – die Deutschen im Umgang miteinander, wo die Ehre und Anständigkeit selbstverständlich sind und die Deutschen im Umgang mit der Bauernbevölkerung, wo diese Eigenschaften nicht mehr gelten mussten. Und dann, am Ende des Romans, nach einem langen Prozess der inneren Wende, nach der eher ärgerlichen als erleuchtenden Begegnung mit einem jungen estnischen Juristen und dem Brief von Vladimir Karlovitsch Möller, der nochmals die Zweifel an der Richtigkeit des Urteils hervorbringt, erfolgt die äußerliche Wende – Ovelacker versucht gutzumachen, was seine Handlung mit sich gebracht hat. Er geht zu Koiri, spricht mit ihm und der Magd Olli, die den Hof allein führt, und verspricht, einen Begnadigungsersuch zu schreiben. Er bemüht sich um eine Versöhnung, handelt und spürt eine Erleichterung. Bezeichnenderweise geschieht die erste durchweg positive Beurteilung einer Estin durch Ovelacker unmittelbar nach seiner Begegnung mit Koiri und der Magd Olli – „es war ein schönes, starkknochiges Gesicht voller Heimlichkeiten.“57 In dem Moment, wo die Versöhnung stattfindet, findet Ovelacker das Anderssein einer Estin erstmals schön. Das Andere, das bis dahin vor allem mit Hinterlistigkeit, Boshaftigkeit und Mattigkeit verbunden wird, ist nun geheimsvoll und interessant. Der Autor zeigt einen Weg zur Versöhnung, indem sein Held das ___________ 53
Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 238. Bhabha, Die Verortung der Kultur (wie Anm. 8), S. 179. 55 Schaper, Der Henker (wie Anm. 1), S. 200. 56 Ebd., S. 466. 57 Ebd., S. 537. 54
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Beharren auf dem mystifizierten historischen Recht aufgibt und die menschliche Annäherung wählt. Die Grenzverschiebung geschieht jedoch nicht nur zwischen den Esten und Deutschen im Werk. Wie Homi K. Bhabha treffend bemerkt hat, haben die politischen Veränderungen einen hybriden Charakter.58 Die stattfindenden Transformationen betreffen nicht nur den einen Bereich der Klassifikation, in unserem Fall die gesellschaftliche Klasse und die Nationalität, sondern beziehen sich auf weitere Ebenen der persönlichen, häuslichen und öffentlichen Existenz. Während der offene politische Kampf die Veränderungen der öffentlichen Sphäre mit sich zieht, sickert die Veränderung auch in private und häusliche Sphären, indem neue Identitätskonstruktionen und andere, neue Formen des häuslichen Miteinanders aufgebaut werden. Im Henker geschieht dies im Fall der Magd Olli, die ein dreijähriges Kind hatte, das sie bei Fremden erziehen ließ, weil es ihr nicht erlaubt war, das Kind im Bauernhof bei sich zu behalten. Nun aber bringt sie das Kind zu sich, sie fragt zwar vorher den Bauern, ihre Entscheidung zur Veränderung in ihrem Leben trifft sie aber selbst und führt sie auch aus. Mit der Erschütterung der bisher herrschenden Verhältnisse im Hause überprüft sie auch die verschiedenen Facetten ihres eigenen Ichs und findet einen Weg, um die bisherige Störung in ihrem persönlichen Leben zu beseitigen. V. Zusammenfassung Der Henker behandelt das Gleiten von einer Gesellschaft, in der das koloniale Weltbild dominiert, in eine neue Gesellschaft, die die alten Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Die Darstellung des Themas ist etwas schwerfällig und kompositorisch zu stark auf die Wiedergabe der Geschichte aufgebaut. Darunter leidet die Story, die Glaubhaftigkeit der Figuren, die Sympathie des Lesers. Man bekommt den Eindruck, dass der Leser mit Hilfe der emotionalen Annäherung nicht wirklich ergriffen werden kann und daher mit Argumenten aus der Geschichte überzeugt werden muss.
___________ 58
Vgl. Bhabha, Die Verortung der Kultur (wie Anm. 8), S. 42.
Finnische Zeitgeschichte in Texten und Übersetzungen Edzard Schapers Von Kai Hendrik Patri I. Zum Hintergrund: Finnlands Geschichte in den Jahren 1908-1949 Als Edzard Schaper im Herbst 1908 geboren wurde, war Finnland noch als autonomes Großfürstentum1 Teil des Zarenreichs. Die russische Revolution von 1905 hatte auch in Finnland erhebliche Folgen gehabt: Die seit 1899 verstärkt zutage getretenen Russifizierungsbestrebungen, in der finnischen Geschichtsschreibung traditionell als sortovuodet [Jahre der Unterdrückung] bekannt, waren mit der Revolution zunächst einmal wieder abgebogen worden. Das Nebeneinander konkurrierender bewaffneter Einheiten von Bürgerlichen und Sozialisten während des finnischen Generalstreiks im Herbst 1905 wies zwar bereits auf die Ereignisse von 1917/18 voraus, aber insgesamt erhielt das Erlebnis dieses Generalstreiks in der finnischen kollektiven Erinnerung – durchaus auch bei vielen Konservativen – die positive Konnotation der Befreiung. Der Historiker Vesa Vares spricht beispielsweise von der in dieser Phase politisch sozialisierten „Generalstreikgeneration“ als einer Altersgruppe, die es im Gegensatz zur sogenannten „Freiheitskriegsgeneration“ von 1918 gewohnt war, demokratische Errungenschaften besonders zu schätzen.2 Diese Tradition sollte in der Phase der Gefährdung der finnischen Demokratie von rechts, Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, noch eine erhebliche positive Rolle spielen. Die traumatischen Begleitumstände, die die Revolution von 1905 im Balti___________ 1
Zur Autonomiezeit und ihren unterschiedlichen Deutungen in der historischen Forschung erschien der anregende Sammelband von Timo Soikkanen (Hrsg.), Taistelu autonomiasta. Perustuslait vai itsevaltius? [Der Kampf um die Autonomie. Grundgesetze oder Autokratie?], Helsinki 2009. Ein Standardwerk in deutscher Sprache: Robert Schweitzer, Autonomie und Autokratie. Die Stellung des Großfürstentums Finnland im russischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1863-1899), Gießen 1978. 2 Vesa Vares, Itsenäisyys ja poliittisen mentaliteetin muutos. Konservatiivisesta elitismistä massa- ja luokkapohjaiseen demokratiaan (1919-1933) [Unabhängigkeit und Wandel der politischen Mentalität. Vom konservativen Elitismus zur Demokratie auf Massen- und Klassenbasis], Turku 1991, S. 89. Vgl. auch Marvin Rintala, der diese Generation als „the Finnish parliamentary generation par excellence“ bezeichnete: Marvin Rintala, Finland, in: Hans Rogger/Eugen Weber (Hrsg.), The European Right. A Historical Profile, Berkeley 1965, S. 408-442, hier S. 430.
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kum erhielt (wie sie sich beispielsweise in Schapers Roman „Der Henker“ spiegeln3), mit massiver Gewalt und Gegengewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen, hatte dieses Ereignis in Finnland jedenfalls nicht. Für Finnland folgte aus den Geschehnissen von 1905 nicht nur die zeitweilige Rücknahme der Russifizierungsmaßnahmen, die auf der Basis des sog. Februarmanifests Nikolaus’ II. erlassen worden waren, sondern auch die radikale Landtagsreform von 1906. Der alte Vierständelandtag wurde durch ein Einkammerparlament mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht ersetzt, die Eduskunta; als erstes europäisches Land führte Finnland dabei auch das Frauenwahlrecht ein. Plötzlich hatte Finnland also das im europäischen Vergleich fortschrittlichste Repräsentativsystem – freilich mit dem Wermutstropfen, dass die Prärogativen des Zaren dadurch nicht angetastet wurden, was mit dem Beginn der sog. Zweiten Unterdrückungsperiode schmerzlich deutlich wurde. Diese Periode setzte eben in Edzard Schapers Geburtsjahr 1908 ein. Der Zusammenbruch der Zarenherrschaft brachte Finnland im Dezember 1917 die Unabhängigkeit. Unstimmigkeiten über die Machtverteilung im Staat, Lebensmittelkrise, Arbeitskämpfe in der Landwirtschaft, vor allem aber das durch den abrupten Wegfall des zaristischen Polizei- und Militärapparats entstandene Vakuum im Bereich der bewaffneten Macht stürzten das Land Anfang 1918 in einen blutigen Bürgerkrieg. Nimmt man nur die politischen Positionen der beiden Seiten zum Maßstab, wird man den Krieg schwerlich als unvermeidbar ansehen können; die politischen Führer der finnischen Arbeiterbewegung, wenngleich von den russischen Bolschewiki zum Handeln angespornt, waren selbst weder mehrheitlich bolschewistisch noch Handlanger der Russen; die Weißen wiederum bestanden keineswegs überwiegend aus finsteren Reaktionären, sondern zu einem wesentlichen Teil aus Gruppen, die der politischen Mitte oder den gemäßigt Konservativen zuzurechnen waren. Die sich schon im Sommer und Herbst 1917 abzeichnende schrittweise Eskalation, mit einer Atmosphäre des wechselseitigen Misstrauens und der Bildung paramilitärischer Einheiten auf beiden Seiten, machte eine Kompromisslösung in den strittigen Fragen aber immer unwahrscheinlicher, bis es Ende Januar 1918 zum Ausbruch der Kampfhandlungen kam. Der Bürgerkrieg, der im Mai desselben Jahres mit dem Sieg der „weißen“ Senatstruppen unter dem Befehl Carl Gustaf Mannerheims endete, kostete insgesamt mehr als 30.000 Finnen das Leben, mehr als 1 % der Gesamtbevölkerung. Dem „roten Terror“ fielen nach Berechnungen Jaakko Paavo-
___________ 3 Ausführlich zur Revolution von 1905 im Baltikum und ihrer Darstellung bei Schaper: Ivo Iliste, 1905 im historisch-literarischen Kontext. Vergleichende Anmerkungen zu Edzard Schaper und Anton Hansen Tammsaare, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Fünfte Folge. Sonderheft: Edzard Schaper, Tartu 1998, S. 129-147.
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lainens4 rund 1.600 Personen zum Opfer, dem systematischeren „weißen Terror“ vor allem in der Schlussphase des Krieges rund 8.400. Die Dunkelziffer bei diesen Zahlen ist erheblich, denn sie enthalten im Allgemeinen nicht die anscheinend häufigen Fälle, in denen gegnerische Soldaten, die sich ergeben hatten, unmittelbar an Ort und Stelle erschossen wurden. Außerdem starben etwa 12.500 Rote nach Ende der Kriegshandlungen in Gefangenenlagern an Hunger und Seuchen.5 Es verwundert nicht, dass der Bürgerkrieg, der so viele finnische Familien direkt oder indirekt betroffen hatte, nach seinem Ende eine tiefe Kluft zwischen dem „weißen“, bürgerlichen Lager und der Arbeiterbewegung (auch nach deren folgender Spaltung in Sozialdemokraten und Kommunisten) hinterließ. Diese Front wurde in Gestalt der halboffiziellen bürgerlichen Schutzkorps, im Bereich der politischen Symbolik, aber zum Teil auch schon in der Namensgebung6 des Krieges perpetuiert: Für die weißen Sieger war er in erster Linie ein „Freiheitskrieg“ [vapaussota] zur Loslösung Finnlands von Russland; in dieser Perspektive erschienen die einheimischen Roten als Landesverräter, die durch ihr Fraternisieren mit den russischen Bolschewiki die finnische Unabhängigkeit bewusst oder unbewusst aufs Spiel gesetzt hätten. Wo die innenpolitische Dimension des Konflikts im Vordergrund stand, sprachen die Bürgerlichen vom „roten Aufstand“ [punakapina] gegen die gesetzliche Obrigkeit. Für diejenigen hingegen, die sich auch nach 1918 noch mit diesem Aufstand identifizierten, handelte es sich um einen „Klassenkrieg“ [luokkasota] des unterdrückten Proletariats gegen die Besitzenden. Die Stimmen schließlich, die – ob in der reorganisierten Sozialdemokratie oder in den Zentrumsparteien – eine möglichst ra___________ 4 Jaakko Paavolainen, Poliittiset väkivaltaisuudet Suomessa 1918 [Die politischen Gewalttaten in Finnland 1918]. Bd. 1: „Punainen terrori“ [Der „rote Terror“], Helsinki 1966, S. 93; Bd. 2: „Valkoinen terrori“ [Der „weiße Terror“], Helsinki 1967, S. 162. Ein 1998 vom finnischen Staatsrat initiiertes, inzwischen abgeschlossenes Forschungsprojekt über die finnischen Kriegstoten 1914-22 hat zwar für die Kategorie „Hingerichtete und Ermordete“ um einiges geringere Werte; Marko Tikka betont in seinem einschlägigen Beitrag zum Abschlussbericht jedoch ausdrücklich, dass hierbei lediglich die Angaben der Quellen berücksichtigt seien, „keine Schlussfolgerungen, wie sie ein einzelner Forscher ziehen kann“. Siehe: Marko Tikka, Teloitetut, ammutut ja murhatut [Die Hingerichteten, Erschossenen und Ermordeten], in: Lars Westerlund (Hrsg.), Sotaoloissa vuosina 1914-22 surmansa saaneet. Tilastoraportti [Die in den Jahren 1914-22 bei Kriegshandlungen ums Leben Gekommenen. Statistischer Bericht] (Valtioneuvoston kanslian julkaisusarja 10/2004), Helsinki 2004, S. 93-106, hier S. 96 und 102. Insofern scheinen mir die Zahlen von Paavolainen, auch wenn sie schon mehr als vier Jahrzehnte alt sind, immer noch die zitierfähigeren zu sein. 5 Jaakko Paavolainen, Vankileirit Suomessa 1918 [Die Gefangenenlager in Finnland 1918], Helsinki 1971, S. 242. Für diese Opfergruppe hat das in Anm. 4 erwähnte Forschungsprojekt wiederum eine um 1.000 Personen höhere Zahl (Sotaoloissa vuosina 1914-22 surmansa saaneet, S. 15). 6 Die führende geschichtswissenschaftliche Zeitschrift Finnlands, Historiallinen Aikakauskirja, widmete dieser Frage 1993 eine Themennummer (Heft 2/1993, S. 97-120). Darin erörterten sechs Forscher, teilweise auch unter Angabe ihrer persönlichen Präferenzen, die Geschichte und den Gebrauch der Termini kansalaissota, kapina, luokkasota, sisällissota, vallankumous [Revolution] und vapaussota.
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sche Versöhnung der verfeindeten Lager anmahnten, apostrophierten den Konflikt vorzugsweise als „Bürgerkrieg“ [kansalaissota]7 oder etwas pathetischer als „Bruderkrieg“ [veljessota]. Auf dieses Thema wird später im Kontext von Schapers Mannerheim-Rede noch zurückzukommen sein. Wenn man die Perspektive der zeitgenössischen Wahrnehmung außer Acht lassen will, die natürlich auch immer ihre Bedeutung hat, dann erscheint das Etikett „Freiheitskrieg“ insofern weniger geeignet, als man es höchstens kontrafaktisch legitimieren kann: Mit der Vermutung, dass es bei einem Sieg der Roten auch gegen den Willen der finnischen Arbeiterführer (die durchaus „national“ dachten und in Verhandlungen mit Lenins Repräsentanten zäh an finnischen nationalen Interessen festhielten) mittelfristig zu einem Anschluss an Sowjetrussland hätte kommen können. De facto war der Krieg von 1918 in erster Linie zweifellos ein Krieg von Finnen gegen Finnen: Die Roten wurden von den russischen Bolschewiki zwar mit umfangreichen Waffenlieferungen unterstützt, aber die im Land verbliebenen russischen Einheiten beteiligten sich nur zu einem geringen Teil an den Kämpfen. Auf der weißen Seite kämpften zwar rund 1.000 schwedische Freiwillige mit, und in der Schlussphase des Krieges intervenierte das kaiserliche Deutschland mit insgesamt 13.000 Mann zu ihren Gunsten, aber die mindestens vorentscheidende Offensive der Weißen gegen die Industriestadt Tampere begann schon vor dem Eintreffen der deutschen Truppen.8 Auf die wechselvolle finnische Innenpolitik der 1920er und 1930er Jahre, mit ihren oft kurzlebigen Regierungen, kann hier nur knapp eingegangen werden. Meines Erachtens lässt sich die Lage in den 1920ern am ehesten mit dem Bild eines fragilen Gleichgewichts beschreiben, bei der die verschiedenen konkret interessenpolitischen, aber vielleicht mehr noch politisch-kulturellen und mentalen Kooperationsanreize und Kooperationshemmnisse zwischen den Parteien in einem spezifischen Schwebezustand blieben, der das politische System 1919 bis 1929 nie allzu gut, aber doch stets gerade ausreichend funktionieren ließ. Warum das Pendel langfristig dann doch zugunsten der systemstabilisierenden, ___________ 7 Von der späteren Forschung wurde auch der annähernd synonyme Begriff sisällissota in Gebrauch genommen. In die meisten Sprachen würde man diese beiden Termini gleichlautend mit „Bürgerkrieg“, „civil war“ usw. übersetzen; wörtlich bedeutet kansalaissota ‚Bürgerkrieg‘ bzw. ‚Mitbürgerkrieg‘, sisällissota ‚innerer Krieg‘. Manche Wissenschaftler halten letzteren Begriff für exakter, weil die Fokussierung allein auf die „Mitbürger“ die russische, deutsche und schwedische Beteiligung an den Kriegshandlungen ausblende. Siehe z.B.: Heikki Ylikangas, Sisällissota, in: Historiallinen Aikakauskirja 91 (1993), Heft 2, S. 110-114, hier S. 111. 8 Die deutschen Interventionskräfte, deren Hauptteil am 3.4. in Hanko landete und die am 12./13.4. Helsinki besetzten, beschleunigten das Bürgerkriegsende zwar wesentlich (und der Militärhistoriker Agilolf Kesselring betonte kürzlich in seinem Vortrag auf dem Deutsch-Finnischen Historikerseminar 2009 in Loviisa, dass die „operative Entscheidung“ des Krieges sensu stricto mit der Einnahme Tamperes noch nicht gefallen gewesen sei), aber die Forschung ist sich überwiegend darin einig, dass die weiße Seite wohl auch ohne diese Truppen letztlich die Oberhand behalten hätte. Siehe z.B.: Jussi T. Lappalainen, Der Krieg der finnischen Roten Garde im Jahre 1918, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge Bd. 34 (1986), S. 539-556, hier S. 555.
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gegen die destabilisierenden Faktoren ausschlug, lässt sich partiell mit bewussten politischen Entscheidungen erklären (namentlich der sog. Zentrumspolitik, von der später noch die Rede sein wird), vielleicht aber noch stärker mit politischen Teilkulturen und Orientierungsmustern, die dem Lagergegensatz von 1918 allmählich etwas von seiner Schärfe nahmen. Als Beispiele seien das Konzept der Volksbildung – deren Bedeutung für die nordosteuropäischen Nationalbewegungen Schaper in seinem Vortrag „Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten“ ja sehr prägnant hervorhob9 –, die Prohibitionsfrage oder das Sich-Einüben in kommunalpolitische Entscheidungsfindung genannt. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre geriet die finnische Demokratie gleichwohl in Gefahr, als die 1929 entstandene Lapuabewegung10 (benannt nach ihrem Ursprungsort im nordwestfinnischen Pohjanmaa) sich von ihrer anfänglichen antikommunistischen Zielsetzung immer mehr in eine antiparlamentarische, antidemokratische Richtung entwickelte. Es gelang ihr aber letztlich nicht, wie vergleichbaren Bewegungen in anderen europäischen Ländern, das demokratische System nach dem Dominoprinzip zu Fall zu bringen; die politische Mitte und die gemäßigten Konservativen widerstanden letztlich der Versuchung von extrem rechts. Als sie 1932 in Mäntsälä einen Putschversuch unternahm, hatte die Lapuabewegung ihren Zenit bereits überschritten. Der Putsch wurde niedergeschlagen, die Bewegung verboten, und ihre Nachfolgeorganisation, die „Vaterländische Volksbewegung“ [Isänmaallinen Kansanliike, IKL], der auch Schapers späterer Freund Rolf Nevanlinna angehörte11, erreichte aus verschiedenen Gründen keine vergleichbare Popularität mehr. Obwohl Mitte der 30er Jahre auch der Sprachenstreit zwischen Finnisch- und Schwedischsprachigen noch einmal aufflammte, stand die zweite Hälfte des Jahrzehnts doch im Zeichen verstärkter nationaler Integration12, und als die ___________ 9 Edzard Schaper, Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten, in: ders., Untergang und Verwandlung. Betrachtungen und Reden, Zürich 1952, S. 7-42, hier v.a. S. 10, 12 und 16. 10 Zur Lapuabewegung siehe die umfangreiche Studie von Juha Siltala, Lapuan liike ja kyyditykset [Die Lapuabewegung und die ‚Transporte‘], Keuruu 1985. 11 Vgl. Arnulf Otto-Sprunck, Edzard Schaper in Finnland und Schweden, in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper (wie Anm. 3), S. 51-62, hier S. 55 f.; ders., Nordosteuropa im Werk Edzard Schapers, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwieriger Zeit, Berlin 1996, S. 135-149, hier S. 139; ders., Wagnis der Gegenwart. Nationalsozialismus, Bolschewismus und christliches Menschenbild im Werk Edzard Schapers, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003, S. 303-315, hier S. 304. Der Mathematiker Nevanlinna engagierte sich während des Fortsetzungskrieges auch für die Aufstellung eines finnischen SS-Freiwilligenbataillons; nach Kriegsende musste er vom Amt des Helsinkier Universitätsrektors zurücktreten. Otto-Sprunck spekuliert in einem der genannten Aufsätze (Wagnis der Gegenwart, S. 304) gar, Schaper sei in seiner Helsinkier Zeit vielleicht auch deswegen nicht gegen die in Finnland agierenden Vertreter des NS-Regimes aufgetreten, um seinem Freund Nevanlinna nicht in den Rücken zu fallen. 12 Siehe dazu v.a. Timo Soikkanen, Kansallinen eheytyminen – myytti vai todellisuus? Ulko- ja sisäpolitiikan linjat ja vuorovaikutus Suomessa vuosina 1933-1939 [Nationale Integration – Mythos
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UdSSR im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts Ende November 1939 Finnland angriff, stieß sie auf den nahezu einhelligen Widerstand des ganzen Landes, inklusive der Arbeiterschaft – den vielzitierten „Geist des Winterkrieges“. Im Friedensschluss 1940 musste das Land weite Teile Finnisch-Kareliens, u.a. die Region Viipuri (Viborg), an die Sowjetunion abtreten. Im sogenannten Fortsetzungskrieg 1941-44 versuchte Finnland – zwar nicht als formeller Bündnispartner, aber als „Mitkriegführender“ Deutschlands13 – die Rückeroberung dieser Gebiete zu erreichen; in diese Zeit fällt bekanntlich auch Schapers Anwesenheit in Finnland und an der finnisch-sowjetischen Front. Nach dem im Herbst 1944 geschlossenen Waffenstillstand, der Schapers Flucht nach Schweden zur Folge hatte, war in Finnland die Angst vor einer Sowjetisierung groß, umso mehr, als die UdSSR sich den Militärstützpunkt Porkkala in Südfinnland verschafft hatte und in Helsinki eine von Generaloberst Schdanow geleitete Alliierte Kontrollkommission saß. In Finnland wurde diese Zeit als die „Jahre der Gefahr“ [vaaran vuodet] empfunden, wenngleich Moskau aus strategischen und ökonomischen Gründen (zur Sicherung der von Finnland zu leistenden Reparationen) letztlich von Umsturzversuchen à la Ostmitteleuropa absah. Das galt auch für das Streikjahr 1949, die Zeit der von Schaper in seinem „Finnischen Tagebuch“ dokumentierten Finnlandreise. Die im Jahr zuvor gebildete sozialdemokratische Regierung unter Karl-August Fagerholm überstand den Streik im nordfinnischen Kemi, bei dem zwei Demonstranten in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben kamen, und die anschließenden Proteste der Volksdemokraten, die von Moskau nur lauwarm unterstützt wurden; sie blieb turnusmäßig bis zu den Präsidentenwahlen 1950 im Amt. II. Finnische Zeitgeschichte in Schapers nicht-fiktionalen Texten In seinem Vortrag „Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten“14 aus dem Jahre 1952 geht Edzard Schaper an mehreren Stellen auch auf Finnland ein, teilweise in einem Atemzug mit Estland, Lettland und Litauen, teilweise explizit vergleichend, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der historischen Entwicklung hervorhebend. Auffällig ist zunächst, dass das Bild der nationalen Bewegungen hier keineswegs ganz so „naturhaft“ gedacht ist, wie es andere ___________ oder Realität? Linien und Wechselwirkung von Außen- und Innenpolitik in Finnland 1933-1939] (Turun yliopiston julkaisuja C:37), Turku 1983. 13 Zum partiell illusorischen Charakter dieser Unterscheidung und der von der finnischen Seite sorgsam gepflegten These vom „Separatkrieg“ siehe die grundlegende Arbeit von Markku Jokisipilä, Aseveljiä vai liittolaisia? Suomi, Hitlerin Saksan liittosopimusvaatimukset ja Rytin-Ribbentropin sopimus [Waffenbrüder oder Verbündete? Finnland, die Bündnisvertragsforderungen Hitlerdeutschlands und der Ryti-Ribbentrop-Vertrag], Helsinki 2004, deutsche Zusammenfassung S. 450465. 14 Schaper, Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten (wie Anm. 9). Seitenangaben zu diesem Text im Folgenden unter der Sigle AuU.
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publizistische Äußerungen Schapers nahelegen könnten.15 Schaper spricht vielmehr von den frühen Nationalbewegungen als von „eine[r] der erstaunlichsten Verschwörungen der europäischen Geschichte“ (AuU 13), hebt also, modern formuliert, sozusagen den konstruktivistischen Charakter des Phänomens hervor, wiewohl er sich an anderer Stelle auch der konventionellen Metapher vom „nationalen Erwachen“ bedient (AuU 17).16 Schaper zeichnet auch recht treffend die Funktionsweise der nordosteuropäischen Nationalbewegungen nach, mit ihrem „Kulturglauben“, ihrer „merkwürdige[n] Apotheose der Bildung und Kultur“, wie er einen estnischen Kommentator zitiert (AuU 12). Für Finnland hebt Schaper, in Gegenüberstellung zu den baltischen Ländern, die seit 1809 bestehende autonome Verwaltung sowie die fehlende Leibeigenschaft hervor. Schaper konstatiert ausdrücklich: „Den Vergleich mit der Selbständigwerdung Finnlands halten diese Staatsgründungen [diejenigen Estlands, Lettlands und Litauens, KHP] nicht aus.“ (AuU 21). Bemerkenswert ist, dass Schaper sich nicht wie so manche deutschsprachige Kurzdarstellungen Finnlands auf Klischees beschränkt, sondern auch sein Interesse an der finnischen Innenpolitik der Zwischenkriegszeit verrät; er erwähnt die Ende 1922 verabschiedete Bodenreform der „Lex Kallio“ zu Recht als einen stabilisierenden Faktor. Erläuternd seien einige Details hinzugefügt, auf die Schaper in seiner knappen Darstellung begreiflicherweise nicht eingeht. Das besagte Gesetz regelte, in Ergänzung des Pächtergesetzes von 1918, die Beschaffung von Land für Neuansiedlungszwecke; es war ein Eckstein der von Bauernpartei und Fortschrittspartei getragenen sogenannten „Zentrumspolitik“, mit der in den Jahren nach 1918 die vom Bürgerkrieg hinterlassene Kluft abgemildert und die nationale Integration befördert werden sollte. Faktisch ging die Agrarreform in Finnland nicht, wie im Baltikum oder in manchen südosteuropäischen Ländern, mit umfangreichen Enteignungen einher, aber die Lex Kallio enthielt zumindest einen zwischen Zentrums- und Rechtsparteien heftig umstrittenen Passus, der in bestimmten Fällen auch die Zwangsenteignung von Großgrundbesitzern ermög___________ 15 So schrieb er etwa 1949 in einem Beitrag für „Atlantis“ über die sowjetisch annektierten baltischen Staaten vom Nationalstaatsgedanken als von der „Idee, welche die Idee eines jeden kleinen Volkes ist, das sich berufen fühlt, sich selbst zu verwirklichen“. Siehe: Edzard Schaper, Das Land der „sterbenden“ Kirche, in: Atlantis. Mitteilungen, 1949. Zitiert nach: Liina Lukas, „Vergeßt uns nicht! Auch wir sind Europa!“. Ein Mittler zwischen Estland und der Schweiz: Edzard Schaper zum 90. Geburtstag, in: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? Hrsg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus (Texte und Studien Bd. 3), Basel 2000, S. 13-19, hier S. 16. 16 Auch an der zuerst zitierten Stelle selbst (AuU 13) changiert Schaper in einer für ihn nicht untypischen Weise, wenn er den Satz mit der Bemerkung schließen lässt, die besagte „Verschwörung“ habe „mit der Sehnsucht nach dem nationalen Staat als dem einzig angemessenen Kleid der wiedergefundenen und dem Selbstbewußtsein zurückgegebenen Gestalt des Volkstums“ geendet – er mischt also, zugespitzt gesagt, in ein und demselben Satz konstruktivistische und substantialistische Sichtweise des Nationalismus.
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lichte.17 Benannt war das Gesetz nach Kyösti Kallio, einem führenden Politiker der Bauernpartei [fi. Maalaisliitto]; er hatte dieses Gesetz als Landwirtschaftsminister eingebracht, zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung war er Premierminister, und fünfzehn Jahre später, also 1937, ermöglichte seine Wahl zum Staatspräsidenten die Bildung der ersten Koalitionsregierung über die Frontstellung des Bürgerkriegs hinweg, nämlich die „Punamulta-Koalition“ [die Koalition der „Roten Erde“] aus Sozialdemokraten, Bauernpartei und Fortschrittspartei. Schapers Formulierung, dass in Finnland „für Zehntausende die Lex Kallio mit ihrer Bodenreform überhaupt erst das vitale Interesse an der Verteidigung des Bodens schuf“ (AuU 24), ist zweifellos zuzustimmen.18 Der Vortrag „Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten“ verdient übrigens auch in sprachlicher Hinsicht Interesse, kann man an ihm doch ersehen, dass Iso Camartins Diktum von den „Zumutungen des Schaperschen Satzbaus“19 nicht nur für die belletristischen, sondern auch für die essayistischen Texte Geltung hat – und zwar in diesem Falle bezeichnenderweise gerade dort, wo Schaper über die komplizierten Geburtswehen der baltischen Republiken 1917-19 schreibt.20 Die ___________ 17
Dies betraf Eigentümer mit einem Besitzstand von über 200 ha (in der nordfinnischen Provinz Oulu über 400 ha), die ihre Parzellen erwiesenermaßen vernachlässigt oder für Spekulationszwecke erworben hatten. Eine ausführliche Darstellung siehe bei Juhani Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen historia 2. Maalaisliitto 1918-1939 [Geschichte der Bauernpartei/Zentrumspartei Bd. 2. Die Bauernpartei 1918-1939], Hämeenlinna 1989, S. 130-142. Insgesamt wurden auf der Basis des Gesetzes in den Jahren 1924-38 rund 13.500 neue Kleinbauernhöfe geschaffen, die meisten jedoch auf ehemals staatlichem Grundbesitz oder durch freiwillige Landverkäufe; von der Zwangsenteignungsmöglichkeit machte man nur bei insgesamt etwa 2000 ha Gebrauch. Vgl.: Pekka V. Virtanen, Suomalainen asutustoiminta: menestystä vai erehdystä? [Die finnische Ansiedlungstätigkeit: Erfolg oder Irrtum?] (http://mts.fgi.fi/paivat/2005/04_virtanen_pekka_v.pdf, S. 2, zuletzt abgerufen am 20.12.2009). Die im Titel seines Aufsatzes gestellte Frage beantwortet Prof. Virtanen eindeutig mit „Erfolgsgeschichte“. 18 Die Reformpolitik des jungen selbständigen Finnland erwähnt Schaper auch in seiner Mannerheim-Rede in: Schaper, Untergang und Verwandlung (wie Anm. 9), S. 61 f., wobei man jedoch hinzufügen sollte, dass Mannerheims Anhänger in den frühen 20er Jahren eher gegen die zentristische Politik eingestellt waren. 19 Iso Camartin, Noch eine andere Treue. Zu einem neuen Edzard-Schaper-Lesebuch, in: Neue Zürcher Zeitung vom 23.9.1987. Zitiert nach: Armin von Ungern-Sternberg, Schaper lesen lernen? Überlegungen zu seinem Werk, in: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (wie Anm. 15), S. 77-107, hier S. 86. Siehe ganz ähnlich: Armin von Ungern-Sternberg, „Dieses primitiv Epische“? Zu Edzard Schapers Erzählverhalten, in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper (wie Anm. 3), S. 148-179, hier S. 149. 20 Man lasse sich den Satz auf der Zunge zergehen (wofern nicht die Zunge zuerst zergeht): „Sie führen ein Lamm in den Kreis von Löwen, wenn sie in der Geburtsstunde einer neuen Weltmacht, die den Kommunismus revolutionär als weltliche Heilslehre über den Erdball verbreiten will, zwischen den Mächten russischer Anarchie und russischer Reaktion vom Schlage eines Judenitsch oder Bermondt-Awalow, bedroht von den allerletzten Kraftproben einer deutschen Konzeption für die politische Gestaltung der ehemaligen Ordenslande, angefallen von den durch die Vergangenheit zum Nihilismus und zur bolschewistischen Internationale erzogenen Proletarierscharen aus den Reihen des eigenen Volkes und (wie Litauen) meuchlings überfallen von den Truppen eines maßlos ehrgeizigen Nachbarn, die Integrität eines sich in seinen Grenzen selbst genügenden Kleinstaates, das Recht auf Frieden, Freiheit und Selbständigkeit proklamieren!“ (AuU 20 f.).
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„geradezu berstende Syntax“, um eine Formulierung Armin von UngernSternbergs aufzugreifen21, dient also der Veranschaulichung des Inhalts; ein Argument mehr für die (nicht nur für die Romane und Erzählungen) wichtige Mahnung von Ungern-Sternbergs, Schapers Texte über ihre „Botschaften“ hinaus als genuin ästhetische Gebilde zu analysieren.22 Nur am Rande sei erwähnt, dass Schaper in seinem Vortrag für die Russifizierungspolitik der späten Zarenzeit zweimal eben die Metapher verwendet, die auch in der zeitgenössischen politischen Sprache Finnlands dafür im Schwange war: Wenn er vom „Frost kaiserlich-russischer Ukase“ spricht, der auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens den „Frühling der [nationalen, KHP] Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung verheerte“ (AuU 14), wenig später noch einmal vom „administrative[n] Winter der russischen Grenzmarkenpolitik“, der „über die junge Saat der geistigen Selbstentdeckung hereinzubrechen drohte“ (AuU 15), dann entspricht das dem Bild der routavuodet, wörtlich übersetzt der „Bodenfrostjahre“, als die man in Finnland die Zeit nach dem Februarmanifest 1899 auch zu bezeichnen pflegte. Die Metapher ist sicherlich ohnehin naheliegend, aber es erscheint auch nicht unplausibel, dass Schaper sie sich in den Jahren seines Finnlandaufenthalts oder bei seiner Beschäftigung mit finnischer Literatur angeeignet haben könnte. Edzard Schapers Gedenkrede zum Tod Marschall Carl Gustaf Mannerheims 1951 ist vielleicht der aussagekräftigste Einzeltext, was Schapers Einstellung zur jüngeren finnischen Geschichte anbetrifft.23 Wenn Schaper gleich auf der ersten Seite des Textes vom „Freiheitskampf 1918“ spricht (MM 45), dann scheint er sich – was beim Freund eines finnischen Rechtskonservativen oder Rechtsextremen vom Schlage Rolf Nevanlinnas nicht erstaunen würde – ganz die Sichtweise der weißen Sieger zu eigen zu machen. Liest man den Ausdruck jedoch im Gesamtkontext des Satzes, horcht man auf: Dieser lautet nämlich, „Und vor diesem Grab ist aller innere Hader eines Volkes, den Carl Gustaf Mannerheim auch einmal als General der Weißen Armee während des Freiheitskampfs 1918 im blutigen Ringen mit Tausenden und Abertausenden des eigenen Volkes mit den Waffen hat austragen müssen, zu Ende.“ (MM 45 f.). Und im unmittelbar folgenden Satz ist dann auch expressis verbis vom „Bürgerkrieg vom Jahre 1918“ die Rede (MM 46). Schaper war sich also dessen bewusst, dass für die finnischen Ereignisse dieses Jahres, anders als für die baltischen Republiken24, der Terminus Freiheitskrieg allenfalls die halbe ___________ 21
Ungern-Sternberg, „Dieses primitiv Epische“? (wie Anm. 19), S. 149. Ungern-Sternberg, Schaper lesen lernen? (wie Anm. 19), S. 86, 97 und 106; ders., „Dieses primitiv Epische“?, (wie Anm. 19), S. 150 und 168 f. 23 Edzard Schaper, Marschall Mannerheim, in: ders., Untergang und Verwandlung (wie Anm. 9), S. 43-71. Erstdruck mit dem Untertitel „Eine Rede zu seinem Gedächtnis“ Zürich 1951. Zitiert unter der Sigle: MM. 24 Hier benutzt Schaper unmissverständlich den Ausdruck „Freiheitskriege“ (AuU 23). 22
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Wahrheit darstellen würde, dass es sich um ein höchst ambivalentes Geflecht von Ereignissen handelte. Und sein begriffliches „Sowohl-als-Auch“, die bewusste Unentschiedenheit zwischen „Freiheitskampf“ und „Bürgerkrieg“25, hätte in den 1920er Jahren in der Parlamentsrede eines finnischen Zentrumsbürgerlichen, der sich auf seine Zugehörigkeit zur weißen Seite ebensoviel zugute hielt wie auf sein Leitbild der nationalen Versöhnung, ganz genauso auftreten können. An späterer Stelle kommt Schaper noch einmal auf die Deutung der Geschehnisse von 1918 zu sprechen, wobei er sich für seine, doch überwiegend „weiße“, Perspektive implizit gerade des vorhin genannten kontrafaktischen Arguments bedient. Schaper wörtlich: „Der Gang der Ereignisse und das Urteil, das der überzeitliche Sinn der Geschichte spricht, haben den Anteil der Seite, auf die Mannerheim sich stellte, in seiner Berechtigung und Gerechtigkeit vor dem Richterstuhl der zeitlosen Sendung eines Volkes, an die wir glauben müssen, bestätigt. Zugleich aber ist der Anteil der anderen, gegnerischen Seite nicht anders verworfen worden als in dem Sinn, daß ihr Sieg keine Selbstverwirklichung des finnischen Volkes in allem, was es seit mehr als hundert Jahren erhofft und erstrebt hatte, gebracht hätte. Aber damals wußte man das nicht.“ (MM 53 f.). In dieser Argumentation erscheinen die finnischen Roten von 1918 also nicht als Landesverräter, sondern als eine Partei, deren immanent ebenso „gerechte“ Sache bei ihrer Durchsetzung eher ungewollte, nicht „gewusste“ Folgewirkungen mit sich gebracht hätte.26 In mancher Hinsicht vereinfacht Schaper den Gang der Dinge gleichwohl; bei ihm liest es sich so, als sei das „Bürger- und Bauerntum“ (MM 54) von vornherein entschiedener für eine Loslösung Finnlands von Russland eingetreten als „die Mehrheit der finnischen Sozialdemokratie, der das Ideal einer proletarisch-marxistischen Lebensform in Gemeinschaft mit dem Land, das sich eben zum Vaterland des Proletariats aller Länder proklamiert hatte, wichtiger war als der Ruf, Finnlands Selbständigkeit unabhängig von Rußland zu verwirklichen“ (MM 55). Selbst wenn der Komparativ „wichtiger“ auch hier andeutet, dass Schaper die finnischen Sozialdemokraten des Jahres 1918 nicht generell für vaterlandslose Gesellen hielt, so blendet er doch den wichtigen Umstand aus, dass sich in Sachen Unabhängigkeitsbestreben die Fronten im Laufe des Jahres 1917 verkehrt hatten: Im Sommer 1917 waren es noch die bürgerlichen finnischen Senatoren gewesen, die der provisorischen Regierung Kerenski bei der Auflösung des finnischen Parlaments zur Hand gegangen waren und so das von Sozialdemo___________ 25 In der „Deutschen Finnlandbibliographie“ (Atlantis XXII, 1950, Heft 2) spricht Schaper für 1918 vom „Freiheitskrieg“ (S. III), ebenso in der Erzählung „Hinter den Linien“ (Edzard Schaper, Geschichten aus vielen Leben. Sämtliche Erzählungen, Zürich/München 1977, S. 146); im Vorwort „Frans Eemil Sillanpää“ zu seiner Übersetzung von „Sterben und Auferstehen“, Frankfurt am Main 1956, finden sich wiederum beide Termini: „Bürgerkrieg“ (S. 7) und „Freiheitskrieg“ (S. 9). Zu den zwei letzteren Textstellen siehe ausführlicher Kap. IV dieses Aufsatzes. 26 An späterer Stelle (MM 61) kondensiert Schaper dies noch einmal in der Doppelformel „der weiße General des Bürgerkrieges um die Freiheit“.
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kraten, Bauernpartei und Aktivisten durchgesetzte sog. „Gewaltengesetz“ zu Fall gebracht hatten – was die Bitterkeit der Arbeiterbewegung schürte und wiederum zur Vorgeschichte des Bürgerkriegs beitrug. Erst nach der Oktoberrevolution, das ignoriert oder verschweigt Schaper, stand die nationale „Selbstverwirklichung“ in Form eines eigenen Staates entschiedener auf der Agenda der finnischen Bürgerlichen als auf derjenigen der finnischen Arbeiterbewegung. Interessanterweise spielt eines der von Schaper übersetzten Bücher, das später noch näher anzusprechende „Fromme Elend“ Frans Eemil Sillanpääs, ironisch auf diesen Umstand an – und Schaper überträgt hier völlig getreu: „Die Loyalität [der meisten finnischen Bürgerlichen zur russischen Oberherrschaft, KHP] hielt so lange an, bis die Bolschewisten ans Ruder kamen [...] Um diese Zeit fing man in Finnland allgemein und offener an, von den ‚SelbständigkeitsMännern‘ zu sprechen …“.27 Man sollte hinzufügen, dass Schaper in anderen Details des MannerheimVortrags exakter ist; seine knappen Seitenhiebe gegen die Eigennützigkeit der deutschen Finnlandpolitik während des Ersten Weltkriegs (das Jägerbataillon als „Bauer auf dem Schachbrett der deutschen Politik“ und die bei der Intervention im Bürgerkrieg von Deutschland verfolgten „eigenen Ziele“, MM 55) decken sich beispielsweise völlig mit späteren Forschungsergebnissen unterschiedlicher Couleur, ebenso wie das, was er über Mannerheims Skepsis gegenüber einer zu engen Anbindung an Deutschland im Jahre 1918 schreibt (MM 58 f.). Schapers Aussage über Mannerheim, „Er selber war es ja, als Sieger, der die Versöhnung angebahnt und geschaffen hat“ (MM 46), bedarf freilich einer näheren Qualifizierung. Der Satz klingt so, als habe Mannerheim schon unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, „als Sieger“ also, eine Versöhnung mit der besiegten Partei in die Wege geleitet. Dies ist freilich nicht der Fall; bei den Präsidentschaftswahlen 1919 war Mannerheim Kandidat der beiden Rechtsparteien (der damals noch ganz rechts stehenden, erst später in die politische Mitte rückenden Schwedischen Volkspartei sowie der finnischsprachig-konservativen Nationalen Sammlungspartei), die etwa in der Amnestiefrage eine betont harte Haltung gegenüber den geschlagenen Roten forderten. Nicht Mannerheim, sondern gerade die aus einer parlamentarischen Mehrheit von bürgerlicher Mitte und Sozialdemokraten resultierende Niederlage Mannerheims bei den Präsidentenwahlen im Juli 1919, gegen den Liberalen K.J. Ståhlberg, leitete die
___________ 27 F.E. Sillanpää, Sterben und Auferstehen. Ein überstandenes Menschenschicksal in Finnland. Aus dem Finnischen übertragen von Edzard Schaper, Frankfurt am Main 1956, S. 175. Vgl. den Originaltext: F.E. Sillanpää, Kootut teokset 2. Hurskas kurjuus ja kansalaissodan kirjoitukset, Keuruu 1988, S. 39-215, hier S. 177.
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erste Etappe einer Versöhnungspolitik ein.28 Selbst wenn man die vom finnischen Historiker Martti Ahti vertretene Vermutung außer Acht lässt, Mannerheim habe während des Petrograd-Konflikts 1919, des sog. Schutzkorpskonflikts 1921 und des Aufruhrs von Mäntsälä 1932 mit Staatsstreichplänen der aktivistischen Rechten geliebäugelt oder sich gegen entsprechende Verbindungen zumindest nicht entschieden verwahrt29, wird man sagen müssen, dass sich Mannerheim erst im Laufe der 1930er Jahre, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Verteidigungsrates und später als Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte, zum entschiedenen Protagonisten der Aussöhnung entwickelte. Dies wurde er dann in der Tat – zuerst mit seinem berühmten Ausspruch zum 15. Jahrestag der weißen Siegesfeier im Mai 1933, man müsse nun nicht mehr fragen, wer vor fünfzehn Jahren jeweils wo gestanden habe, später mit einer bedeutsamen Geste während des Zweiten Weltkriegs30 und mit seiner Schirmherrschaft über den im August 1940 vor allem von jungen Sozialdemokraten und Konservativen gegründeten „Verband der Waffenbrüder Finnlands“ (Suomen Aseveljien Liitto). So konnte die Führung des Finnischen Gewerkschaftsverbandes 1942 zu Mannerheims 75. Geburtstag eine Glückwunschdele-
___________ 28 Schaper stellt diese Periode in seinem Text (MM 60) reichlich verzerrt dar. Dass Mannerheim schon 1919 Präsident geworden wäre, wenn ihm „die Konservativen Finnlands“ ihre Stimme gegeben „hätten“, ist irreführend oder zumindest deutungsbedürftig – die politisch Konservativen von RKP und Sammlungspartei gaben ihm ihre Stimme; es waren die zugegebenermaßen in vieler Hinsicht wert- und kulturkonservativen, aber politisch zentristischen Anhänger der Bauernpartei, die sich dem Werben der Rechten für den „weißen General“ verweigerten. Ebenso wenig stimmt es, dass Mannerheim Präsident der Landesverteidigungskommission „blieb“; Vorsitzender des Verteidigungsrates wurde er erst 1931. Und dass sich die „Wunden der inneren Zersplitterung“ ausgerechnet „[v]om Jahre 1930 an“ geschlossen hätten (MM 61) – als die Lapuabewegung ihre Angriffe zunehmend auch gegen Sozialdemokraten und bürgerliche Mitte richtete –, erstaunt ebenfalls. 29 Siehe: Martti Ahti, Salaliiton ääriviivat. Oikeistoradikalismi ja hyökkäävä idänpolitiikka 19181919 [Die Umrisse einer Verschwörung. Rechtsradikalismus und aggressive Ostpolitik 1918-1919], Espoo 1987; ders., Kaappaus? Suojeluskuntaselkkaus 1921. Fascismin aave 1927. Mäntsälän kapina 1932 [Staatsstreich? Der Schutzkorpskonflikt 1921. Das Gespenst des Faschismus 1927. Der Aufstand von Mäntsälä 1932], Keuruu 1990; in schwedischer Sprache: ders., Aktivisterna och „Andersson“. Konspirationer och krigsplaner 1919, skyddskårskonflikten 1921, mäntsäläupproret 1932, Helsingfors 1991. „Andersson“ war der von Aktivisten wie Kai Donner für Mannerheim benutzte Deckname. Ahtis Darlegungen (oder Insinuationen?) haben freilich auch Kritik herausgefordert, beispielsweise: Vesa Vares, „Anderssonilla“ ratsastaen – Martti Ahdin metodista, lähteistä ja oikeistokuvasta [Auf „Andersson“ herumreitend – zu Martti Ahtis Methode, seinen Quellen und seinem Bild von der politischen Rechten], in: Historiallinen Aikakauskirja 89 (1991), Heft 3, S. 257-267. 30 Mannerheim befahl 1940, die traditionellen „weißen“ Siegesparaden am 16. Mai taktvollerweise zu unterlassen, stattdessen am dritten Maisonntag eine gemeinsame Feier für die Opfer beider Bürgerkriegsparteien sowie des Winterkrieges zu veranstalten. Dies findet auch bei Schaper Erwähnung (MM 66).
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gation schicken, was wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre31, ein Detail, das auch Schaper in seiner Rede anführt (MM 66 f.). Mit der besagten zeitlichen Einschränkung wäre Schapers Diktum über Mannerheims Wirken als „Versöhner“ also doch zumindest nicht unzutreffend. Bemerkenswert ist ferner, dass Schaper auch Mannerheims Rolle als Offizier des Zaren, seine Lebensstellung „zwischen zwei geschichtlichen Zeitaltern: der feudalen russischen Standeswelt und dem finnischen Volksstaat“ (MM 47) adäquat hervorhob – was ihm zugleich die Möglichkeit gab, Mannerheim, wie viele seiner eigenen literarischen Protagonisten, als einen Mann des inneren Konflikts darzustellen, mit einer „Menschlichkeit, die aus sittlichem Bereich Entscheidungen als Wagnis auf sich nahm“ (MM 47). So zeichnet Schaper auch hier Zwiespälte nach: Mannerheims Loyalitätskonflikt zwischen dem Dienst für den Zaren und seinen Kontakten zum Widerstand gegen die Russifizierungspolitik (MM 49 f.); Finnlands ambivalente Situation im Fortsetzungskrieg, zwischen „Notwendigkeiten staatspolitischen Handelns“ einerseits und der von der Kooperation mit dem Naziregime in Frage gestellten „Ehre und Reinheit der Waffen“ andererseits (MM 68); schließlich die Bürde des Gewissens, nach dem Waffenstillstand von 1944 den sowjetischen Forderungen nach Aburteilung der angeblichen „Kriegsverantwortlichen“ wie Staatspräsident Ryti oder Außenminister Tanner nachzukommen (MM 69). Dass Schapers Mannerheim-Gedenkrede in ihrem letzten Drittel die Grenzen der Hagiographie streift32 – mit Formulierungen wie der folgenden: „Seine ritterliche Großherzigkeit umfaßt auch noch den letzten verbitterten Kätner in den Wäldern, der sich einst der weißen Armee mit dem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit entgegengestellt und die Erfüllung seiner Ansprüche auf der roten Seite erwartet hatte“ (MM 62) –, mag man mit den Spezifika des Genres entschuldigen oder gar als peinlich empfinden. Wenn Schaper im allerletzten Abschnitt der Rede sagt, „Er [Mannerheim] hat den Mantel seiner tiefen Menschlichkeit um die in unsrer Zeit so mannigfach entehrte Gestalt des Feldherrn geschlungen und ihr die sittliche Würde zurückgegeben“ (MM 71), dann hat die Idealisierung freilich ihren guten Grund. Wer würde dabei nicht an die ___________ 31 Hannu Soikkanen, Kohti kansanvaltaa [In Richtung Demokratie]. Bd. 2, 1937-1944, Joensuu 1987, S. 421. Mannerheims „großfinnisch“ anmutender Tagesbefehl beim Überschreiten der alten finnisch-sowjetischen Grenze (der sog. miekantuppipäivänkäsky vom 10.7.1941) hatte freilich deutliche Kritik von sozialdemokratischer Seite geweckt; danach unterließ es das Hauptquartier der finnischen Streitkräfte, Propaganda für eine eventuelle territoriale Expansion zu betreiben (ebd., S. 452). In Schapers Erzählung „Der gekreuzigte Diakon“ (1952) erscheint dieses Ereignis in dem leicht euphemistisch anmutenden Satz, „da der Krieg die Front ja auf ehemals russisches Gebiet vorgetragen hatte“ (Geschichten aus vielen Leben, wie Anm. 25, S. 267). 32 Auch die Formulierung über die Zeit des Fortsetzungskrieges, „Der Marschall war Finnland, und Finnland war der Marschall“ (MM 68), dürfte wohl eher die zeitgenössische Außenwahrnehmung (zumal die deutsche) widerspiegeln als die Perspektive „aller“ Finnen.
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berühmten Bilder Hitlers (oder auch Stalins) im Feldherrenmantel denken, also Mannerheim als die Kontrastfolie sehen, vor der sich für Schaper eben die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts besonders scharf abhoben? Der dritte nicht-fiktionale Text Schapers, auf den es sich für die Fragestellung dieses Beitrags besonders einzugehen lohnt, ist das „Finnische Tagebuch“, in einer kürzeren Fassung erstmals erschienen in der „Sondernummer Finnland“ der Zürcher Zeitschrift „Atlantis“ vom Februar 1950.33 Äußerst auffällig ist die Verteilung der Gewichte in diesem Text: Das „Finnische Tagebuch“ ist über weite Strecken eine Analyse der zeitgenössischen politisch-sozialen Verhältnisse in Finnland bzw. der jüngeren Vergangenheit des Landes, also weit mehr zeitgeschichtliche Detailschilderung als ein privates Reise- oder Kulturtagebuch. Die meisten der vielfältigen Aspekte, die Schaper darin anspricht, können hier nur summarisch aufgelistet werden; in der Reihenfolge des Textes sind dies: die politischen Streiks des Jahres 1949, von denen vorhin schon die Rede war, mit den Todesopfern von Kemi; die Reparationsleistungen; die Angst nach dem Waffenstillstand von 1944; das Ryti-Ribbentrop-Abkommen in der Schlussphase des Fortsetzungskrieges und die späteren Gerichtsurteile gegen die angeblichen „Kriegsverantwortlichen“; die Versorgung der Kriegsinvaliden mit Rentenzahlungen unabhängig vom Dienstgrad; die Bodenreform zur Ansiedlung der aus Finnisch-Karelien Vertriebenen (über die Schaper übrigens vom zuständigen Abteilungsleiter im finnischen Landwirtschaftsministerium namens Vennamo gebrieft wird; dabei handelte es sich um Veikko Vennamo, der sehr viel später, Ende der 60er Jahre, als Anführer einer bäuerlichen Protestpartei zu Berühmtheit gelangte); die Entwicklung der finnischen Sozialdemokratie nach 1944 und die Regierung Fagerholm; die gegenwärtige finnische Haltung gegenüber der UdSSR; schließlich die bevorstehenden Olympischen Spiele. Schaper trifft sich in den weniger als drei Wochen seines Aufenthalts nicht nur mit kulturellen Größen wie Sillanpää und Sibelius, sondern auch mit führenden Politikern wie dem inzwischen haftentlassenen ehemaligen Staatspräsidenten Ryti, dem amtierenden Ministerpräsidenten Fager-
___________ 33 Atlantis XXII (1950), Heft 2, Februar 1950. Das Heft enthält außerdem die schon erwähnte Deutsche Finnlandbibliographie, unterzeichnet „es.“, also wohl ebenfalls von Schaper; ferner seine Übersetzung von Runar Schildts Aapo, siehe Kap. IV dieses Beitrags, sowie zwei kürzere Texte aus seiner Feder: „Frans Eemil Sillanpää. Aufzeichnungen nach einer Begegnung mit dem Dichter sowie Helsinge, Helsingfors, Helsinki. Ein Glückwunsch an eine vierhundertjährige, junge Hauptstadt“. Ob die in der „Deutschen Finnlandbibliographie“ geäußerte Kritik an den „von politischen Konstellationen“ bestimmten Darstellungen des deutsch-finnischen Verhältnisses (S. II) auch eine versteckte Selbstkritik seiner eigenen Presseartikel während des Zweiten Weltkriegs enthält, sei dahingestellt (zu diesen Artikeln vgl. Otto-Sprunck, Edzard Schaper in Finnland und Schweden, S. 53). – Das Finnische Tagebuch ist auf S. 45-66 des Heftes enthalten; von mir zitiert mit der Sigle FT + Seitenzahl. Eine längere Fassung erschien 1951 in Zürich als separates Büchlein.
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holm34 und dem ebenfalls als „Kriegsverantwortlichen“ inhaftierten großen alten Mann der finnischen Sozialdemokratie Väinö Tanner. Am interessantesten und überraschendsten, offenbar auch für ihn selbst, sind Schapers Beobachtungen zum finnisch-sowjetischen Verhältnis. Aus seinem Gespräch mit Fagerholm zieht er das Fazit, abgesehen von einer Kampagne des sowjetischen Radios während der Streikwelle 1949 habe Finnland offenbar „in diesen hektischen Wochen auch nicht die leisesten Anzeichen einer sowjetrussischen Pression verspürt. Man hat in Moskau der Entwicklung untätig zugesehen und mit nichts Einfluß auf die Gestaltung der innenpolitischen Entwicklung zu nehmen versucht.“ (FT 59). Schaper lobt die nüchterne, ohne Hysterie nach den realen Aktionen urteilende Haltung Finnlands gegenüber dem „missionierenden [...] Sowjetkommunismus“ als vorbildlich; er zeigt in seinem langen Text vom 16.9.1949 viel Verständnis für die finnischen Bemühungen, die Sowjets tunlichst nicht vor den Kopf zu stoßen. „Ich bin mir klar, daß dies ketzerisch klingende Behauptungen sind, die falsch ausgelegt werden können, aber sie sind auch meinen Freunden nicht fremd. Und Frieden und Freundschaft mit der Sowjetunion sind nun einmal ein Axiom der finnischen Außenpolitik, genau so, wie Freiheit und absolute Souveränität in der Gestaltung der inneren Verhältnisse, der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des Landes, Axiome sind.“ (FT 59). Schaper verfällt also, trotz oder vielleicht gerade wegen seines unbestrittenen und illusionslosen Antikommunismus, keinen plumpen „Finnlandisierungstopoi“, wie manche späteren auswärtigen und gerade deutschen Beobachter der finnischen Verhältnisse. III. Finnische Zeitgeschichte in Erzähltexten Schapers Der Befund der estnischen Literaturwissenschaftlerin Liina Lukas, wonach Schapers literarische Texte überwiegend „transzendierend“ im Sinne Wilfried Barners seien, d.h. auf die zeitgeschichtliche Realität eher indirekt reagieren35, scheint mir auf Schapers Erzähltexte mit „finnischer“ Thematik in jedem Fall zuzutreffen. Ein Pendant zum Henker, das sich in gleicher Breite mit finnischen historischen Ereignissen beschäftigen würde, gibt es aus Schapers Feder nicht. Dennoch könnte man einleitend fragen, ob auch Finnland für Edzard Schaper, so wie Lukas das in einem anderen Aufsatz für Estland bzw. ganz Osteuropa ___________ 34 Über seinen „Umgang mit ihm [Fagerholm] während der Kriegsjahre“ macht Schaper eine der für ihn so typischen nebulösen Andeutungen. Explizit lobt er Fagerholms „große Wandlung“ vom „oppositionelle[n] Parteipolitiker“ – Fagerholm war während des Fortsetzungskrieges einer der Wortführer der sog. Friedensopposition innerhalb der SDP – zum „Staatsmann“ (FT 56). 35 Liina Lukas, Zwischen Verzweiflung und Verantwortung. „Transcendance“ im Werk Edzard Schapers, in: Annäherungen. Edzard Schaper (wie Anm. 15), S. 55-62, hier S. 55. Der Aufsatz ist eine leicht veränderte Fassung ihres gleichlautenden Beitrags in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper (wie Anm. 3), S. 180-191, hier S. 182 f. – Lukas verweist dabei auf Wilfried Barner, Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 31-75.
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konstatiert, Teil der „Grenzzone“ ist, in der die „Wunder“ geschehen?36 Nach Schapers eigener Aufzählung und Definition dieses Raums in Osteuropa als geistige Landschaft (1961) zunächst einmal nicht37 – dennoch könnte man annehmen, dass Schaper zumindest Ostkarelien, und zumal die karelische Front während des sog. Fortsetzungskrieges, als ein solches Gebiet verstanden hat, wie es etwa das Weihnachtswunder des Christkinds aus den großen Wäldern nahelegt.38 „Grenze“ spielt in diesem Sinne immer auch und in erster Linie auf menschliche Grenzsituationen an, zugleich auf die „Begegnung irdischer und himmlischer Gerichtsbarkeit“, wie Michael Garleff hervorhebt.39 Die 1952 erschienene Erzählung „Das Christkind aus den großen Wäldern“, heute neben der „Legende vom vierten König“ vermutlich Schapers bekanntester Text (beide sind ja, im Gegensatz zu den meisten anderen, auch noch im Buchhandel erhältlich40) handelt vom Vorstoß einer „Fernpatrouille der dritten finnischen Jägerbrigade“41 Ende 1941, also zu Beginn des Fortsetzungskrieges. Die Militärgeschichte ist freilich hier nur Hintergrund für eine Geschichte von allgemein-menschlicher Bedeutung; Realien wie die Bezeichnung „Winterkrieg“ oder die „Lottas“, also die im Krieg vor allem mit Sanitätsaufgaben betraute weibliche Hilfsorganisation der Schutzkorps, literarische Anspielungen wie auf Runebergs „Fänrik Stål“, kulturelle Stereotype wie das Bild der finnischen Soldaten von ihren russischen Kontrahenten werden eher als Kulissen denn als handlungsbestimmende Elemente eingesetzt. Die finnische Sprache dient Schaper immerhin als Quelle für sprechende Namen: Die Expedition der ___________ 36 Lukas, „Vergeßt uns nicht! Auch wir sind Europa!“ (wie Anm. 15), S. 14. Die Formulierung der „Wunder“ bezieht sich hier auf Schapers Novelle „Weltuntergang auf Dagö“. 37 Edzard Schaper, Osteuropa als geistige Landschaft. Umschnitt der Schallplatte des Christophorus-Verlages, Freiburg/Br. 1961, S. 3, zitiert nach Lukas, ebd. 38 Der Begriff „Wunder“ fällt auch in der Erzählung „Der große, offenbare Tag“; dort sagt der Ich-Erzähler über die Worte des orthodoxen Geistlichen Tichon: „Ich meinte, darin einen Vorwurf zu hören, daß wir [die finnischen Soldaten, KHP] gekommen seien und die Wunder und Zeichen gestört hätten [...]“ (Geschichten aus vielen Leben, wie Anm. 25, S. 81). 39 Michael Garleff, Erlebte und gedeutete Geschichte im Werk Edzard Schapers, in: FrankLothar Kroll (Hrsg.), Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit, Berlin 1996, S. 123133, hier S. 133. Ausführlich zur Bedeutung von „Grenze“ bei Schaper schon Max Wehrli, Edzard Schaper, in: Schaper, Untergang und Verwandlung (wie Anm. 9), S. 131-156, hier S. 137-140. „Die Grenze, als Einschränkung, Rand und Gefahr ist ihm, wie in anderer Form so vielen modernen Geistern, auch der Ort, von dem aus allein Mitte und wahres Wesen wieder zugänglich scheinen.“ (ebd., S. 137). Eine gewisse Relativierung des von anderen Schaper-Interpreten, wie bereits von Schaper selbst, so emphatisch betonten Grenztopos findet man bei von Ungern-Sternberg („Dieses primitiv Epische“?, wie Anm. 19, S. 172; Schaper lesen lernen?, wie Anm. 19, S. 89 f.). 40 Die neueste Auflage des „Christkinds“ ist bereits die 27. (Artemis & Winkler Verlag 2009). „Die Legende vom vierten König“ ist ebenso bei Artemis & Winkler bzw. beim zur selben Verlagsgruppe gehörenden Patmos-Verlag erhältlich (aktuelle Ausgaben 2008 bzw. 2006). Außerdem ist Schapers Übersetzung von Aleksis Kivis „Sieben Brüdern“, in der Ausgabe des Manesse Verlags (8. Aufl. 1997), lieferbar. 41 Edzard Schaper, Das Christkind aus den großen Wäldern. 26. Aufl., Düsseldorf 2005, S. 9. Im Folgenden unter der Sigle Chr.
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Patrouille, die ihren Wendepunkt in der Entdeckung eines neuen Lebens finden wird, beginnt „aus den Wäldern um Kuolemaajärvi“ (Chr 9) heraus – der Ortsname, im damaligen Ostfinnland so ähnlich tatsächlich existent42, bedeutet ‚Todessee‘. Der eloquentere Freund des schweigsamen Protagonisten Jänttinen trägt den sozusagen gleich im doppelten Sinne redseligen Nachnamen Sanavuori, ‚Wortberg‘. Auf Praktiken der finnischen Besatzungspolitik in Ostkarelien wird ex negativo Bezug genommen, indem das gerettete Kind gerade nicht der Logik einer Unterscheidung in karelische „Stammverwandte“ und russische „Feinde“ unterworfen sein soll: „Die Vermutungen der Kameraden, IwanJuhani brauche keineswegs russischer Herkunft zu sein, die Bevölkerung dieser Gebiete sei ja von finnischem Stamm, soweit nicht für die ausgesiedelten und verschickten Tausende finnischer Herkunft und Sprache eine neue Bevölkerung aus dem Innern Rußlands angesiedelt worden war, hörte er sich mit Gleichmut an. Sein Blick, mit dem er den Kopf des Kindes vor sich betrachtete, hatte nichts Forschendes, welcher Herkunft Juhani wohl sei [...]“ (Chr 37). Das inhaltlich „Moderne“ der „Christkind“-Erzählung, wenn man so will, liegt in der Relativierung soldatischer Maskulinität; wenn die Frontgemeinschaft der Patrouille zur „Gemeinschaft um das Kind“ (Chr 67 f.) wird, im religiösen wie im mitmenschlichen Sinne, dann ist sie dadurch auch ihrer rein maskulinen Essentialität (nach dem Motto „das gibt es nur unter Frontkämpfern“) entkleidet; Jänttinen macht eben nicht den Eindruck eines besorgten Vaters, sondern expressis verbis „einer ängstlich um ihr Kind besorgten Mutter“ (Chr 50). Die finnische Übersetzung des „Christkinds aus den großen Wäldern“, 1958 unter dem Titel „Kaukopartio“ [Die Fernpatrouille] erschienen, wurde übrigens, wie Gabriele Schrey-Vasara in einem Beitrag über die finnische SchaperRezeption ausführt, unter anderen von Arvo Salo rezensiert, der 1966 mit seiner „Lapualaisooppera“ über die rechtsradikale Lapuabewegung der Zwischenkriegszeit berühmt werden sollte.43 In der Erzählung „Der große, offenbare Tag“ (1949)44, entstanden aus Schapers eigener Erfahrung der Flucht über den Bottnischen Meerbusen, tauchen die finnische Armee mit ihren Fernpatrouillen und der geschlagene, zu ihrem
___________ 42 Vermutlich eine Variation oder unbeabsichtigte Verschreibung von Kuolemajärvi (einer Gemeinde auf der karelischen Landenge); vielleicht hatte Schaper aber zusätzlich auch Kuolajärvi im Osten Finnisch-Lapplands vor Augen. Beide Orte gehörten zu den Gebieten, die Finnland nach dem Fortsetzungskrieg an die Sowjetunion abtreten musste. Auch bei der Bezeichnung der Truppeneinheit lässt Schaper dichterische Freiheit walten; während des Fortsetzungskrieges gab es m.W. nur zwei finnische Jägerbrigaden. 43 Gabriele Schrey-Vasara, Einige Bemerkungen zur Schaper-Rezeption in Finnland, in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper (wie Anm. 3), S. 63-66, hier S. 64. 44 Schaper, Geschichten aus vielen Leben, S. 71-121.
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Schutz nicht mehr fähige finnische Staat45 lediglich in einer Nebenrolle, als Hintergrund für die Leiden der Ostkarelier, auf. Es gibt zwar die Nebenperspektive des Ich-Erzählers, der anscheinend einer finnischen Armeeeinheit in Ostkarelien angehört hat, aber die Stimme des orthodoxen Geistlichen Tichon, der von der sowjetrussischen Seite der Grenze als von „unserer Seite“46 spricht, dominiert die Erzählung. Eine der wohl packendsten Erzählungen Schapers, „Hinter den Linien“ (1952)47, beginnt Mitte 1937 in der Phase des „grauen“ – heute würde man sagen, eines kalten – Krieges, der Zeit der sowjetischen Vorarbeiten für einen späteren Angriff an der karelischen Front. Der finnische Generalstab will die Bauarbeiten ausspähen lassen, und als Freiwilliger für dieses „Himmelfahrtskommando“ meldet sich der aus einem livländischen Adelsgeschlecht stammende Rittmeister Mitterhusen, wie so manche Offiziere der finnischen Armee (die freilich in den 1920er Jahren deswegen stark angefeindet wurden) Absolvent der zaristischen Kadettenanstalt von Hamina. Der Grund für seine Entscheidung bleibt seinem Vorgesetzten ein Rätsel; der Leser erfährt allmählich, dass Mitterhusen ein Verzweifelter ist, der seine eigene Haut gegen die eines anderen eintauschen will. Dass er vergessen hat, seiner Tarngestalt des Bauleiters Woskanow einen „Glauben“, eine konfessionelle Zugehörigkeit zu geben, wird ihm bald als schmerzliches Versäumnis bewusst.48 Der innere Konflikt, das „Siegel des Lammes“49 ist das Entscheidende, nicht das Geschichtliche; die Landesgrenze ist, ganz im Sinne der Ausführungen von Lukas und Garleff, eher eine innere Grenze. Dennoch gehört „Hinter den Linien“ zum Thema der Zeitgeschichtsdarstellung dazu. Erstens, weil hier die totalitäre Erfahrung auf eine sehr unmittelbare Weise greifbar wird – Woskanow alias Mitterhusen wird in einem Gefangenenlager die Aufgabe zuteil, die Häftlinge, um einen Ausdruck aus dem Wörterbuch des Unmenschen zu benutzen, zu selektieren, in für die Arbeit in einem südlicheren Lager Benötigte einerseits, nach Norden zu Verfrachtende oder gar dem drohenden Hungertod Anheimzugebende andererseits.50 Zweitens, weil der Text viel über Schapers Geschichtsphilosophie verrät. Historisch schlägt die Erzählung einen Bogen vom „grauen“ Vorspiel des Winterkrieges Mitte der 30er Jahre bis zum Ende des Fortsetzungskrieges; „Im Oktober des Jahres 1944 wurde dann aus gebotenen Gründen die letzte Spur ___________ 45 „Aber nicht mehr dorthin! [ins finnische Nord-Savo, wohin sie während des Fortsetzungskrieges umgesiedelt worden waren, KHP] sagte Vater Tichon mit einem kranken Lächeln, das nur andeutete, wie er das von dem geschlagenen Finnland ausbedungene Versprechen, Menschen wie ihn und seine Gemeinde auszuliefern, empfand.“ (ebd., S. 78). 46 Ebd., S. 108; dies in seiner Binnenerzählung, die noch vor dem Eindringen der finnischen Truppen in Sowjetisch-Karelien spielt. 47 Schaper, Geschichten aus vielen Leben, wie Anm. 25), S. 141-224. 48 Ebd., S. 154. 49 Ebd., S. 186. 50 Ebd., S. 209, 216-222.
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von ihm: seine Personalakte, die bei der Abteilung geblieben war, vernichtet“.51 Aber auf der individuellen Ebene bleiben die Fäden vorne wie hinten offen, Mitterhusens Vorgeschichte ebenso wie Mitterhusens bzw. Woskanows Verbleib; die Geschichte ist also gerade keine „Hohlform“, um eine in der Erzählung selbst benutzte52 Zentralmetapher zu nehmen, in die sich ein individuelles Schicksal restlos einfassen ließe oder, umgekehrt gewendet, die sich von individuellen Schicksalen bis an den Rand ausfüllen ließe. Dass Mitterhusen eine der Schaper’schen Gestalten ist, die 1967 im „Schattengericht“ wieder aufgerufen werden53 (ebenso wie übrigens der „Henker“ Ovelacker), unterstreicht dies noch.54 Die Erzählung „Schattengericht“55 ist aus einem zweiten Grund für das Thema dieses Beitrags interessant, weil sie eine Schnittstelle zwischen Schapers essayistischem und belletristischem Schaffen liefert – über die Person Mannerheims nämlich. Der Ich-Erzähler und sein Gesprächspartner, ein finnischer bzw. finnlandschwedischer Neurochirurg namens Södergran, begegnen einander nach längerer Zeit in einem Stockholmer Hotel wieder. „Sie wissen, ‚er‘ hat hier auch immer gewohnt, wenn er nicht offiziell da sein mußte. Ich nickte, denn ich wußte sogleich, von wem er sprach: vom Marschall.“56 Wenig später deutet Södergran „in die Ecke [des Hotelsalons, KHP] hinüber, die ich einfach ‚die Ecke des Marschalls‘ nennen kann“, und liest, als Beleg für die „auf die Spitze getrieben[e]“ Lakonie der Kriegsgeschichte, den Abschnitt aus Mannerheims Memoiren über den Vormarsch der finnischen Truppen zum Swir im September 1941. Er kommentiert das mit den Worten: „Ein Krieg hat unzählige winzige Stationen, und jede ist ein Ereignis für den, der in ihr besteht oder der in ihr untergeht. Für den Feldherrn ist sie nur eine Episode.“57 Der Ich-Erzähler wehrt sich, sozusagen ganz im Geist der Schaper’schen Mannerheim-Gedenk___________ 51
Ebd., S. 224. Ebd., S. 151 und 154, dort beide Male bezogen auf das Verhältnis zwischen Mitterhusen und seinem alter ego Woskanow. 53 „Schattengericht“ enthält aber noch weit mehr als nur eine „Kumulation“ des „Zitieren[s] bzw. [der] Wiederaufnahme früherer Personen“, von der Michael Garleff (Zum Geschichtsbild im Spätwerk von Edzard Schaper, in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper, wie Anm. 3, S. 112-128, hier S. 125 und unten, S. 105-119) spricht. Der Text lässt sich als Meta-Erzählung Schapers über sein eigenes literarisches Schaffen, genauer gesagt sein Verhältnis zu den von ihm kreierten Figuren begreifen. Der Erzähler der innersten Binnenhandlung, der estnische Fähnrich Eero Saareste, teilt mit Schaper nicht nur die Initialen, sondern auch den Zivilberuf als Publizist und Romanautor, und die Schaper’schen Figuren werden am Schluss der Erzählung als Gestalten in Büchern Saarestes (!) identifiziert. 54 Mitterhusen kommt auch 1963 in „Der Aufruhr des Gerechten“ vor; siehe dazu: Iso Baumer, Die Ostkirche im Werk Edzard Schapers, in: Triangulum, Sonderheft: Edzard Schaper (wie Anm. 3), S. 76-90, hier S. 82. 55 Schaper, Geschichten aus vielen Leben (wie Anm. 25), S. 657-718. 56 Ebd., S. 660. 57 Ebd., S. 661. 52
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rede, gegen diese Aussage: „Ich wagte, das zu bezweifeln.“ Erzählstrukturell betrachtet, scheint hier überraschenderweise der Feldherrn-Skeptiker Södergran recht zu behalten, denn der Kontrast zwischen dem historischen Ereignis „Vorstoß zum Swir“ und dem individuellen Leiden des Protagonisten der Binnenhandlung58, eines estnischen Freiwilligen, wird gegen Ende der Erzählung implizit, aber nicht weniger plastisch wieder aufgegriffen.59 In dieser Geschichte operiert Schaper übrigens wieder mit einem sprechenden finnischen Namen – der estnische Fähnrich stirbt im Feldlazarett von Surmajärvi (auch dies auf Deutsch ‚Tod-See‘, wobei man hier noch das von surma abgeleitete Verb surmata ‚töten, totschlagen, umbringen‘ mit hinzudenken sollte). IV. Finnische Zeitgeschichte in Übersetzungen Schapers Abschließend soll noch ein Blick auf zwei Übersetzungen Schapers60 geworfen werden, beide von Texten zum finnischen Bürgerkrieg von 1918. Das, was Thomas Taterka auf der Hohenheimer Tagung zu vier Romanen Schapers – wohl zu Recht – konstatiert hat, nämlich die überwiegende Fokussierung auf Persönlichkeiten mit der „nötigen Fallhöhe“61, gilt für diese zwei übersetzten Texte nicht. Sie haben beide gemeinsam, dass sie die historische Tragik des Bürgerkriegs an Hauptfiguren verhandeln, die gerade keine oder nur geringe „Fallhöhe“ besitzen, und die sogar, wie der Koiri-Bauer in Schapers Henker, Züge einer eher vegetativen Existenz aufweisen. Hier stehen sie dessenungeachtet im Mittelpunkt. Das betrifft zum einen die von Schaper aus dem Schwedischen übersetzte, gemeinsam mit dem „Finnischen Tagebuch“ in der erwähnten Sondernummer der Zeitschrift „Atlantis“ publizierte Erzählung „Aapo“ des finnlandschwedischen Schriftstellers Runar Schildt.62 Sie handelt von einem Knecht in der Provinz Häme, der sich gedemütigt fühlt, als er statt der gewohnten Pferde mit einem eigentlich als Spieltier für den Sohn des Gutsherrn angeschafften Esel arbeiten soll. Aapo schwört Rache, von dem dämonisch ge___________ 58 Exakter müsste man sagen – in der Terminologie von Martinez/Scheffel –: des Protagonisten der intradiegetischen Erzählung (d.h. der ersten Binnenerzählung), der zugleich wiederum Erzähler einer metadiegetischen Erzählung (der zweiten Binnenerzählung) ist. Zu den Termini „intradiegetisch“ und „metadiegetisch“ siehe: Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl., München 2005, S. 76 und 190. 59 Schaper, Geschichten aus vielen Leben (wie Anm. 25), S. 709 f. 60 Schaper übersetzte noch zwei weitere Texte aus dem Finnischen, nämlich Sillanpääs „Elämä ja aurinko“ (dt. unter dem Titel „Sonne des Lebens“, Zürich 1952) und, wie in Anm. 40 bereits erwähnt, Kivis „Seitsemän veljekset“ (dt. Zürich 1950). Unter seinen weiteren Übersetzungen aus dem Schwedischen finden sich auch Nils-Eric Ringboms Sibelius-Biographie (1950) sowie der seinerzeit sehr erfolgreiche Roman „Katrina“ der åländischen Schriftstellerin Sally Salminen (dt. Leipzig 1937, nur ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals). 61 Der Beitrag konnte nicht in den vorliegenden Band aufgenommen werdem (Anm. der Herausgeber). 62 Atlantis XXII (1950), Heft 2, S. 77-86. Aapo erschien erstmals 1919 in Schildts Novellensammlung „Hemkomsten“ [Die Heimkehr].
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zeichneten Arbeiterführer Räsänen angestachelt. Beim Aufstand im Januar 1918 (in Schapers Vorbemerkung steht fälschlich die Jahreszahl 191763) wird Aapos Gutsherr gefangengesetzt und schließlich von seinem ehemaligen Knecht erschossen, den nach der Gefangennahme durch die Weißen wenig später dasselbe Schicksal ereilt. Die Novelle ist eine lakonisch erzählte psychologische, aber nicht psychologisierende Fallstudie. Um den roten Aufstand geht es auch im 1919 erschienenen Roman „Hurskas kurjuus“ des 1939 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Frans Eemil Sillanpää, dessen Übersetzung aus dem Finnischen Schaper 1948 unter dem wörtlichen Titel „Das fromme Elend“ publizierte; später erschien sie noch mehrfach, 1956 und 1966 mit dem veränderten Titel „Sterben und Auferstehen“, 1981 in der „Sammlung Trajekt“ dann wieder unter dem ursprünglichen Titel, in einer kritisch durchgesehenen Neuauflage. Für die folgende Analyse wurden die Fassungen von 1956 und 1981 berücksichtigt; ich kann vorwegnehmen, dass sie in allen Details, auf die hier eingegangen wird, übereinstimmen.64 Im Vorwort über Frans Eemil Sillanpää, das der Ausgabe von 1956 vorangestellt ist, benutzt Schaper wieder einmal die Begriffe „Bürgerkrieg“ und „Freiheitskrieg“ zugleich: Er spricht vom „mittsommernächtig gesteigerten Zustand zwischen den Lebensgezeiten, in dem – wie Sillanpää in den unvergleichlichen Novellen schildert – alle die jungen Raufbolde des Bürgerkrieges ihren blutigen Freiheitsrausch enden“ (SuA 7), dann aber auch davon, dass Sillanpää „den Siegern des Freiheitskrieges jenen Geist der Versöhnung zur Pflicht machte, ohne den aus dem Sieg kein Friede würde“ (SuA 9). Letzteres ist ganz konsequent, denn aus der Perspektive der Sieger war der Krieg von 1918 eben primär der „Freiheitskrieg“. An dieser Stelle ist Schaper außerdem etwas präziser als in der Mannerheim-Rede, wenn er über Sillanpääs Versöhnungsmahnung sagt, „Das geschah im Jahre 1919, noch bevor65 Marschall Mannerheim die Gräber der gefallenen Weißen und Roten als einer Mutter Kinder zu ehren befahl.“ (SuA 9). ___________ 63
Ebd., S. 77. F.E. Sillanpää, Sterben und Auferstehen. Ein überstandenes Menschenschicksal in Finnland. Aus dem Finnischen übertragen von Edzard Schaper, Frankfurt am Main 1956 (ab hier mit der Sigle SuA zitiert); ders., Das fromme Elend. Aus dem Finnischen von Edzard Schaper. Vom Übersetzer kritisch durchgesehene Neuauflage (Sammlung Trajekt 4), Helsinki 1981. Das finnische Original zitiere ich nach folgender Ausgabe unter „HK“: F. E. Sillanpää, Kootut teokset 2: Hurskas kurjuus ja kansalaissodan kirjoitukset, Keuruu 1988. 65 Man könnte hinzufügen: „lange bevor“. Zur in den 1920er Jahren herrschenden „Ungleichheit vor dem Tode“, was die Haltung der Behörden und der dominanten bürgerlichen Öffentlichkeit gegenüber dem Gedenken an die weißen respektive roten Kriegsopfer anbetraf, siehe die eindrückliche Studie von Ulla-Maija Peltonen, Punakapinan muistot. Tutkimus työväen muistelukerronnan muotoutumisesta vuoden 1918 jälkeen [Die Erinnerungen an den roten Aufstand. Eine Untersuchung zur Herausbildung der Erinnerungstradition der Arbeiterschaft nach 1918], Rauma 1996. 64
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Es kann hier nicht die Absicht sein, beckmesserisch Fehler oder Veränderungen in Schapers Sillanpää-Übersetzungen aufzuzählen; hingewiesen werden soll lediglich auf einige inhaltlich relevante Punkte. In den allermeisten Fällen übersetzt Schaper die zeithistorischen Termini ganz getreu. Die erste auffällige Ausnahme besteht darin, dass er für den finnischen Begriff sortovuodet – wie eingangs erwähnt, wörtlich „die Jahre der Unterdrückung“ –, also die Russifizierungszeit, die vagere, eher verdunkelnde Entsprechung „die Unglücksjahre“ verwendet, und zwar mehr als einmal. Beim ersten Auftreten ließe sich dafür noch ein stilistischer Grund mutmaßen, nämlich die Parallele zur in den folgenden Teilsätzen und Sätzen aufgebauten allgemeinen Semantik des Leidens. Bei der späteren Wiederholung fiele dieses mögliche Argument jedoch weg. Es muss zwar eine Hypothese bleiben – vielleicht hat die übersetzerische Detailentscheidung viel banalere Gründe –, aber ein naheliegender Verdacht wäre, dass Schaper mit dieser „Ent-Explizierung“ einer ihm vermutlich unsympathischen Tendenz des Sillanpää’schen Textes ein wenig die Spitze nehmen wollte: nämlich der Andeutung Sillanpääs, dass viele Angehörige der einfachen finnischen Bevölkerung die Russifizierungsjahre keineswegs als so große nationale Katastrophe ansahen, wie die einheimische Bildungsschicht dies tat. In Schapers Übersetzung lautet diese Passage wie folgt: „Welche Einstellung hatte der Toivola-Juha zu dem Abschnitt in den Leiden der Nation, dem man die Bezeichnung ‚die Unglücksjahre‘ [oder eben: die Jahre der Unterdrückung, KHP] gegeben hat? – Juhas Leiden waren um jene Zeit nicht schlimmer als vorher, und ebensowenig sah er in der Welt, in der er sich bewegte, irgendwelche besonderen Leiden. Der Bauer des Hofes litt auf jeden Fall nicht; sein Wohlstand vermehrte sich, was nur das Zeug hielt [...]“ (SuA 168).66 Der letzte Satz von Schapers erläuternder Fußnote zum zeitgenössischen Schimpfwort „lahtarikaarti“ (Schlächtergarde), wie die Roten die bürgerlichen Schutzkorps zu nennen pflegten, dürfte nicht ganz der Perspektive des Sillanpää’schen Romans entsprochen haben: „Die ‚Schlächtergarde‘ erkämpfte unter dem Oberbefehl Mannerheims die Unabhängigkeit und Freiheit Finnlands.“ (SuA 181). In dieselbe Richtung geht die Tatsache, dass die Rolle, die die Anerkennung der Schutzkorps als offizielle Senatstruppen für die Aufstandsentscheidung der Roten spielte, in Schapers Übersetzung in zwei aufeinander___________ 66 Vgl. HK 172: „mikä oli Toivolan Juhan suhde siihen kansallisten kärsimysten jaksoon, joka tunnetaan nimellä sortovuodet“, und HK 173: „Tämä oli Toivolan Juhan suhde sortovuosien isänmaallisuuteen; tuntuu todellakin keinotekoiselta siitä ollenkaan puhua.“ Die letztere Stelle übersetzt Schaper folgendermaßen (SuA 170): „Das war Toivola-Juhas Einstellung zu dem Patriotismus der Unglücksjahre. Wahrhaftig, es mutet einen gekünstelt an, überhaupt von einer ‚Einstellung‘ zu sprechen.“ Dass Schaper das Pronomen „siitä“ [davon] vereindeutigend auf „Juhas Einstellung“ bezieht oder beziehen will, stärkt die obige Hypothese – denn im finnischen Original könnte es grammatisch im Prinzip auch auf den „Patriotismus“ verweisen, und der Kontext spricht m.E. dafür, dass diese Ambiguität (also auch eine Infragestellung des Begriffs isänmaallisuus, freilich aus Juhas Figurenperspektive) von Sillanpää durchaus intendiert war.
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folgenden Sätzen unmerklich heruntergedämpft wird: Die Sätze „Aikovatko porvarit laillistuttaa lahtarikaartin? Silloin on meidän poikien kanssa aika nousta.“ (HK 182) übersetzt Schaper wie folgt: „Haben die Bürgerlichen vor, die Schlächtergarde zu einer ständigen Einrichtung zu machen? Dann ist es auch für unsere Jungen an der Zeit, sich zusammenzuschließen.“ (SuA 181). Wörtlich bedeutet die finnische Passage jedoch: „Haben die Bürgerlichen vor, die Schlächtergarde zu legalisieren /gesetzlich zu fixieren? Dann ist es auch für unsere Jungen an der Zeit, sich zu erheben.“ Die geschilderten Einwände im Detail ändern freilich nichts an der Tatsache, dass Schaper sich daran machte, „Hurskas kurjuus“ in einer Übersetzung dem deutschsprachigen Publikum nahezubringen67 – ein Werk, das bei seinem Erscheinen 1919 von vielen Weißen als zu verständnisvoll gegenüber den Aufständischen kritisiert wurde und von dem der prominente finnische Literaturhistoriker Kai Laitinen schreibt, man müsse sich wundern, dass die „mutige Stellungnahme“ damals überhaupt erscheinen konnte.68 Dies zeugt davon, dass Schaper sich bei seinem humanistischen Anliegen nicht von Scheuklappen der politischen Tendenz beschränken ließ.
___________ 67 Dass Schaper, wie Rea Imboden erwähnt (Edzard Schaper in der Schweiz, in: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt?, wie Anm. 15, S. 35-51, hier S. 40), in jenen Jahren wegen seiner eingeschränkten Arbeitserlaubnis stärker auf Übersetzungen angewiesen war, „entwertet“ diese Arbeit sicherlich nicht. 68 Kai Laitinen, Suomen kirjallisuuden historia, 3. uusittu painos [Geschichte der finnischen Literatur. 3., aktualisierte Auflage], Keuruu 1991, S. 332.
Edzard Schapers und Józef Mackiewiczs Blick auf die Geschichte der ‚konzessionierten Unfreiheit‘ in Mitteleuropa Von Monika Tokarzewska Das Land war nicht nur litauisch, weißrussisch und polnisch zugleich, vereint in der Vergangenheit und zerstritten gegenwärtig; es wurde auch von Juden bewohnt und von Russen […]1
– schrieb der polnische Schriftsteller und Journalist Józef Mackiewicz in seinem Roman „Der Weg nach nirgendwo“. Im Falle von Schaper muss man weiter nach Norden schauen und zu den aufgezählten Völkern noch Esten, Letten, Baltendeutsche und Finnen hinzufügen. Solche Zitate hören sich heutzutage schon nahezu banal an – wir werden so gleich an den modischen ‚multikulti-Diskurs‘ erinnert, der sich von der Utopie friedlichen Zusammenlebens der Kulturen nährt. Diese utopische idyllische Vielfalt der Kulturen wird gerne in den imaginären Raum ‚der Osten Europas‘, in dessen Vergangenheit verlegt.2 Denn vom Osten – im Fall von Mackiewicz und Schaper ist der Nordosten Europas gemeint – gibt es zwei Mythen. Für die einen ist der Osten mehr oder weniger barbarisch, für die anderen ist er schön, weil geräumig und voller vergangener oder potentieller Vielfalt, wenngleich er ein wenig wild ist. Die beiden Mythen werden nicht nur in Westeuropa und insbesondere in Deutschland von vielen gehegt, auch in Polen gibt es sie in Bezug auf die eigenen ehemaligen Ostgebiete. Das Barbarische wird dann nur etwas weiter in den Osten verschoben. Der Mythos von der (östlichen) Barbarei half nach 1945 einem Großteil des Westens, sich mit dem Eisernen Vorhang besser abzufinden, als viele gehofft hatten, der zweite half nach 1989 und hilft immer noch, die Unzulänglichkeiten der neoliberal und globalistisch geprägten Gesellschaft zu kompensieren.
___________ 1 Józef Mackiewicz, Droga donikad, London 1989, S. 15. Übersetzung der Autorin. Der 1955 erschienene Roman wurde 1957 als „Der Weg ins Nirgendwo“ ins Deutsche übersetzt. 2 Auch der neue, nach 1989 neu entflammte „Mittel-“ bzw. „Ostmitteleuropa“-Gedanke ist von solchen Idealisierungen nicht frei. Idealisierende Töne kann man bei solch unterschiedlichen Autoren wie dem polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk und dem Osteuropa-Historiker Karl Schlögel finden.
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Mit meinem Vergleich Edzard Schapers mit Józef Mackiewicz will ich aber über diese Mythen hinausgehen. Beide versuchen, wie mir scheint, durch ihre Beschäftigung mit dieser Region bestimmte Werte zu thematisieren, die sich aus der Geschichte ergeben. Das nordöstliche und östliche Europa zeichnet sich nämlich durch eine ungleich tiefere, längere und kompliziertere Erfahrung des Totalitarismus bzw. der Totalitarismen aus als der westliche Teil des Kontinents. Edzard Schaper und Józef Mackiewicz verbindet biographisch der Blick von Nordosteuropa aus. Schapers Interesse gilt Finnland und den baltischen Völkern, die zu seinen Lebzeiten nur kurz über eigene Staaten verfügten. Mackiewicz wurde 1902 in Sankt Petersburg geboren. 1907 übersiedelte die Familie nach Wilna, eine Stadt, die historisch einst Hauptstadt des Großherzogtums Litauen war, später – und heute – die Hauptstadt des litauischen Staates ist. Sie verfügte über eine große polnische Minderheit und in der Zwischenkriegszeit – wie Mackiewiczs Frau einst im Rückblick schrieb – am ehesten noch, prozentual, als eine jüdische Stadt bezeichnet werden konnte.3 Außerhalb der Städte waren die Bauern der Region Litauer, weiter südlich Weißrussen, und die als zivilisatorisch völlig zurückgeblieben geltenden Bewohner der Sumpfgegend ‚Polesie‘. Mackiewicz war mit dieser Region sehr verbunden und hat sie gut verstanden. Das dortige ‚unreine‘ Polnisch bzw. ortweise das etwas ‚verpolnischte‘ Weißrussisch, das im Zentrum, in Warschau nicht gerne gehört wurde, hat er selbst sprechen können, als er in den 30er Jahren als Zeitungsreporter in entfernteste Dörfer der 2. Republik gelangte. Er ließ seine Prosagestalten, die oft der Unterschicht der Gesellschaft entstammen, gerne so reden. Beide Autoren, Mackiewicz und Schaper, wurden in einer Zeit geboren und sozialisiert, als das durch Preußen geeinte, kaiserliche Deutschland und das zaristische Russland die Region geopolitisch bestimmten. Ihr Schaffen beginnt in der Zwischenkriegszeit und sein überwiegender Teil fällt in beiden Fällen in die Zeit nach 1945. Die großen geschichtlichen Zäsuren stellen der Erste und der Zweite Weltkrieg und die Revolution in Russland samt der Machtübernahme durch die Bolschewiki dar. All diese Zäsuren waren in diesem Teil Europas unmittelbarer als im Westen. Die Wieder- bzw. Neuentstehung einer Reihe von Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Landkarte völlig verändert. Die unmittelbare Nähe zur Sowjetunion ließ diese Staaten und Völker im Schatten von etwas Bedrohendem leben, was sie allerdings nicht störte, gegenseitige Animositäten zu hegen und zu pflegen. Im Vergleich dazu scheint sich der westliche Teil des Kontinents trotz Verdun und Ypern, trotz des spanischen ___________ 3 Vgl. Barbara Toporska-Mackiewicz, Polityka polska wobec Bialorusinow [Die polnische Politik gegenüber Weissrussen], in: Józef Mackiewicz/Barbara Toporska, Droga Pani, Warszawa 1988, S. 7-23, hier S. 9.
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Bürgerkrieges nahezu statisch zu verhalten. Das sowjetische Rusland wird sowohl von Mackiewicz als auch von Schaper als totalitäres System angesehen – beide urteilen hier aus eigener hautnaher Erfahrung. Ein wesentliches Problem, das sie danach haben, ist, von zwei Totalitarismen zu sprechen, von dem sowjetischen und dem nationalsozialistischen, denn ein solcher Diskurs bereitet im Westen, aber nicht nur dort, seine Schwierigkeiten. Es scheint, dass sowohl Schaper als auch Mackiewicz in ihren Werken die gleiche Überzeugung äußern, wenn auch nicht immer direkt. Jeder von ihnen schenkt natürlich anderen Aspekten Aufmerksamkeit, sie hegen jedoch die Überzeugung, dass mit dem Sowjetsystem eine neue Qualität in der Geschichte entstanden ist, die es zu identifizieren und zu benennen gilt. Ihr gesellt sich in den 30er Jahren, vor allem aber mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt, der Hitlersche Nationalsozialismus hinzu. Diese Phänomene sind mit der Sicht auf Geschichte als eine der nationalen Erhebungen und Konflikte, so wie wir es aus dem 19. Jahrhundert gewöhnt sind, nicht zufriedenstellend zu erhellen. Die Totalitarismen präsentieren sich, vor allem sie aus einer gewissen Entfernung, als neue Staaten, die im alten Sinne um territoriale Eroberungen und um Vernichtung ihrer Konkurrenten bemüht sind. Um einen qualitativen Unterschied zu sehen, muss man aber mit dem Fall des Zarenreiches beginnen. I. Die untergegangene Welt des 19. Jahrhunderts Mackiewicz ist fest davon überzeugt, dass das, was in Russland nach 1917 entstand, überhaupt kein Russland mehr ist. Man dürfe es gar nicht mit dem zaristischen Russland, auch nicht mit der russischen Kultur oder Unkultur identifizieren. Eine solche Denkweise verstelle nur den Blick. Im zaristischen Russland gab es zwar den Verbannungsort Sibirien, die Bemühungen, die nichtrussischen Völker zu russifizieren, und andere Repressalien, es war aber zugleich das Land, das wie kein anderes in Europa von allerlei Widerständlern, Revolutionären, Terroristen, religiösen Visionären, und Weltverbesserern strotzte. Umso größer war die Verwunderung von Mackiewicz, dass sich nach 1917 die Lage um 180 Grad wandelte. In dem bereits erwähnten Roman „Der Weg ins nirgendwo“, hören wir die Protagonisten sprechen: Ich sage ihnen, dass es heute in Europa keine zwei Völker gibt, die einander so unähnlich wären wie das russische Volk und das ... sowjetische. Das Volk – es ist nicht die Sprache; das Volk – es sind seine Seele, seine Sehnsüchte, seine Lieder, seine Literatur. Ein Volk bildet sich im Prozess der Erziehung heraus, Das russische Volk, das wir heute kennen, hat sich erst im 19. Jahrhundert endgültig herausgebildet. Sie kennen die russische Literatur, nicht wahr? Wissen Sie, wann Gogol seinen ‚Revisor‘ schrieb? Während wessen Regierungszeit? Während der Regierungszeit Nikolais des I. ‚Der Gendarm Europas‘ wurde dieser Zar genannt. Und dieser Gendarm ließ es zu, dass man ein Stück aufführte,
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Monika Tokarzewska in dem alle: die Beamten, das ganze System samt den Gendarmen nach Strich und Faden verspottet wird. Die klassische russische Literatur – das sind eben dieser Gogol, Tolstoi, Dostojewskij, Turgeniew, Tschechow, Schtschedrin ... Voller Geist des Widerstands, der Unzufriedenheit, der Wahrheitssuche, der Haarspalterei, Geist der menschlichen Skepsis. Wohl nur eins pro hundert der in Russland erscheinenden Bücher stand nicht auf der Seite der Unterdrückten und Verfolgten, kritisierte nicht die vorgefundenen Zustände. Und heute gibt es keine, die die Unterdrückten nicht treten und die Privilegierten nicht rühmen, die sich vor den Herrschenden nicht verbeugen würden [...].4
Dass das zaristische Reich ein im Grunde genommen liberaler Staat im Sinne seiner Epoche war, hört sich für polnische Ohren eher ungewöhnlich an. Begonnen mit der polnischen Romantik in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das Zarenreich, der aktivste Akteur bei den Teilungen Polens, als Unterdrücker der nationalen Rechte und Freiheit angesehen. Sibirien als Strafort für politisch Ungehorsame sowie die Niederschlagung der polnischen Aufstände von 1830-31 und 1863 sind fester Teil des historischen Bewusstseins. Aber vor dem Ersten Weltkrieg galt auch im übrigen Europa das Zarenreich als ein Regime, über dessen Strenge immer wieder geklagt wurde. Das war auch nicht einfach falsch. Das Zarenreich hielt ja all die kleinen Völker ‚gefangen‘ und praktizierte unterschiedliche Repressalien, wie etwa Pässe, in die die religiöse Zugehörigkeit eingestempelt wurde, oder Siedlungsgebiete für Juden, außerhalb derer sie sich nicht niederlassen durften. In seinem Roman „Der Oberst“, der zum Teil vor dem Ersten Weltkrieg spielt, schildert Mackiewicz, wie die ‚Ochrana‘, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von allerlei revolutionären Parolen abzulenken, Antisemitismus schürt. Ein gewisser Dawid empört sich in diesem Roman: „Können Sie sich vorstellen, dass in Berlin, Hamburg oder München Menschen mit Steinen und Stöcken herlaufen, dass sie Fenster einschlagen, Gegenstände kaputtmachen, die Waren beschädigen, Frauen und Kinder nur deshalb schlagen, weil es Juden sind!“! – David begann lebhaft zu gestikulieren: „Etwas Ähnliches kann man sich nicht einmal vor-stel-len! Und warum kann man es sich nicht vorstellen!? Nicht, weil es dort ein anderes Recht gäbe, dass es kein Siedlungsgebiet für Juden gibt, dass ein Jude dort gleichberechtigter Untertan ist. Sondern daher, weil es westeuropäische Kultur ist, und unter dem Einfluss dieser Kultur bildete sich dort die Psyche der menschlichen Gesellschaft heraus.“ 5
___________ 4
Droga donikąd, S. 84-85. Józef Mackiewicz, Sprawa pułkownika Miasojedowa, London 2007, S. 112-113. Zitat übersetzt von der Autorin. Der Roman, erstmals im Jahre 1962 erschienen, wurde 1967 in die deutsche Sprache als „Der Oberst“ übersetzt. 5
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Das Zarenreich wird von Mackiewicz also nicht einfach verharmlost. Am Rande sei gesagt, dass sich die Klage Dawids heute wie die Stimme aus einer anderen Welt anhört. In dem gleichen Roman, aus dem das Zitat stammt, gibt es zugleich Juden, Polen und Vertreter anderer Nationalitäten, die Karriere machen und Geld verdienen. In einem seiner Essays schrieb Mackiewicz, dass sich nicht wenige russische Bauern des Zarenreichs gewundert hätten, als Mitglieder der privilegierten Herrennation zu gelten, da sie z.B. als einfache Soldaten in der Armee dienten und als Vorgesetzte und Offiziere nicht selten polnische Adlige hatten, die sich für Angehörige der ‚unterdrückten Minderheit‘ hielten, da sie politische Repressalien, wie etwa das Verbot der polnischen Sprache im Unterrichtswesen, erleiden mussten. Mackiewicz sieht den qualitativen Unterschied zwischen dem Zarenreich und dem sowjetischen Reich vor allem in der Einstellung zur persönlichen und zur Gedanken- und Gewissensfreiheit. Im 19. Jahrhundert war Russland zwar eine der Großmächte, die andere Völker sich unterzuordnen und zu beherrschen suchte, aber erst mit den Sowjets kam ein System auf, das selbst das Denken zu beeinflussen und zu kontrollieren, systematisch ins Private und Persönliche einzudringen suchte. Mackiewicz, der im September 1939 und dann 1944 Zeuge des Einmarsches der Roten Armee nach Litauen und der Einführung des Kriegskommunismus in diesen Gebieten war, hat die soziotechnischen und soziopsychologischen Praktiken im Blick, so wie sie später George Orwell beschrieben hat, und die eine neue Qualität im Bereich des Politischen in der Geschichte darstellten. Mackiewiczs scharfe Kritik dieses Systems bis in die 80er Jahre ist zweifellos darauf zurückzuführen, dass er in den 40er Jahren Augenzeuge wohl der brutalsten Phase des Terrors war, bevor er sich nach 1945 ins westliche Exil begab. Allerdings scheint er auch der Meinung gewesen zu sein, dass sich das Wesentliche an dem System nicht verändern wird, trotz des sogenannten ‚Tauwetters‘. Das Zarenreich war für ihn noch eine Ständegesellschaft, in der es zwar keine Gleichberechtigung gab, aber immerhin einen gewissen Liberalismus. Im 19. Jahrhundert – würde Mackiewicz wohl gesagt haben – hielten sich die politischen Spieler an gewisse ‚fair play‘Regeln. Wenn Mackiewicz im Nachruf auf seinen Freund Michal Pawlikowski feststellt, dass ‚das süße Märchen des 19. Jahrhunderts‘ zu Ende gegangen sei, bedeutet es nicht, dass er den polnischen, litauischen, lettischen Drang nach Unabhängigkeit nicht versteht. Aber die Welt war anders, selbst die Form der Repressalien war anders. In einem seiner Nachkriegsessays lesen wir: Vergleiche ... Man könnte mit ihnen eine Chaussee von Bordeaux bis Wladiwostok pflastern. Gestern noch sah ich im Fernsehen einen historischen Krimi über die bekannte österreichische Spionageaffäre des Oberst Redl aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Stimmt, dass es Kitsch ist. Aber aus dem Inhalt ergab
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Monika Tokarzewska sich, dass die Wiener Regierung die Affäre leicht aufzudecken vermocht hätte, hätte sie sich dazu entschlossen, die Unantastbarkeit des Geheimnisses privater Korrespondenz zu brechen. Der Offizier des Geheimdienstes, der gegen dieses Recht verstoßen hat, wurde beinahe vor das Kriegsgericht gestellt, obwohl er die Affäre demaskierte. Heute schaut man darauf wie auf ein Märchen vom eisernen Wolf. Aber bitte, der bekannte Sozialist, D. Szub, ein Wilnaer Jude, erzählt (Nowyj Žurnal in New York), wie er vor dem Ersten Weltkrieg von österreichischen Gendarmen an der russischen Grenze festgehalten wurde. Den Österreichern schien Szub verdächtig zu sein, er wurde durchsucht und verhört. Niemand aber wagte es, die bei ihm gefundenen Privatbriefe zu entsiegeln. Heute liest sich das wie Märchen vom eisernen Wolf. Gerade heute, wo es so viele Deklamationen zu den Menschenrechten gibt, heisst es, sich auf Zeiten zu berufen, als man durch ganz Europa ohne Visa und Pässe (schon die bloße Tatsache, dass es innerhalb Russlands Pässe gab, war eine dauernde Gelegenheit für Empörung, Abscheu und für Witze) reisen konnte über die Grenzen, über die man wollte […]. Es ist taktlos im Angesicht des gegenwärtigen ‚Fortschritts‘ zu sein.6
Es wird hier auf die Fragwürdigkeit des Fortschrittsbegriffs hingewiesen, darauf, dass wir mittlerweile an Dinge gewohnt sind, die in vergangenen Jahrhunderten Verwunderung hervorgerufen hätten, und wir sind bereit, diese Dinge zu akzeptieren, weil wir es zum Beispiel für unsere Sicherheit und Wohlbefinden für nötig halten. Man könnte sagen, die Totalitarismen in Europa sind zu Ende, der eine ist mit Waffen besiegt, der andere, der lebensfähiger zu sein schien, musste sich auf friedlichem Wege an die Standards der freien Welt anpassen. Eine breitere, weiter ausgeholte Perspektive könnte aber zu denken geben, ob wir uns nicht mit allzu ruhigem Gewissen auf eine unscheinbar vor sich gehende Entwicklung einlassen, auf Kompromisse, über die ein Mensch des 19. Jahrhunderts staunen würde. Um die unterschwelligen Trends der Geschichte und sich anbahnende neue Phänomene zu erkennen, muss man sich aber von den alten Schemen und vor allem nationalen Animositäten lösen. Auch bei Schaper gibt es ein Bewusstsein von diesem Qualitätswandel in Mittel- und Osteuropa. In Schapers Roman „Der Henker“ sehen wir den jungen baltischen Grafen Ovelocker, der als „Fremder“, als Baltendeutscher, eine glänzende Karriere in der russischen Armee machte und der der privilegierten Oberschicht angehört, obwohl er durchaus, wie seine Erlebnisse aus der Kadet___________ 6 Jozef Mackiewicz, O nadziejach i beznadziejnosciach [Über Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten] in: Jozef Mackiewicz/Barbara Toporska, Droga Pani, Warszawa 1988, S. 228-240, hier S. 234.
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tenschule bezeugen, als Fremder – weil Deutscher – angesehen wurde und aus diesem Grunde bei so manchem Russen seiner Schicht ein gewisses Misstrauen weckt. Man sollte also auch Schapers entsprechende Schilderungen nicht als ein bedingungsloses Lob auf das Zarenreich oder als billige Idealisierung der ‚herrlichen alten Zeiten‘ lesen. Ähnlich wie Mackiewicz war Schaper Liebhaber russischer Literatur und des Werkes von Nikolai Gogol: Nach dem großen Erfolg des „Revisor“ war es Gogol als einem der ganz wenigen Russen vergönnt, ins Ausland zu fahren, obschon es das Zeitalter Kaiser Nikolais I. war, als die Auslandpässe eingezogen wurden, damit die Kinder des heiligen Russlands im gottlosen Westen nicht dem Antichristen und der Aufklärung begegneten […],7
– schreibt Schaper in dem Essay „Nikolai Gogol“. Er bemerkt an dem gleichen Vorfall gerade die umgekehrte Seite: die Repressalie, die dem kritischen Schriftsteller auferlegt wurde. Es scheint jedoch, dass bei Schaper eine in dem Maße wie von Mackiewicz artikulierte qualitative Zäsur in der jüngsten Geschichte Europas schwieriger zu finden ist. Er weist recht oft auf Kontinuitäten hin, insbesondere was die Geschichte der Region betrifft. So lesen wir in „Aufstieg und Untergang der Baltischen Staaten“: Völker wie das litauische, dessen einstige Großmachtstellung im frühen Mittelalter zwischen Ostsee und Schwarzem Meer durch eine Personal- und Realunion mit der polnischen Nation degeneriert und seit 1795 zu einer dumpfen, provinziellen Existenz unter der geistigen Aushungerung zaristischer Politik herabgesunken war, oder das lettische und estnische, die seit dem 12. Jahrhundert von geistlichen Ordensrittern, weltlicher Königs- und Kaufmannsmacht wider Willen kolonisiert, in leibliche Hörigkeit und geistige Unmündigkeit gesunken und nach dem Zerfall des alten Ordensstaates im Jahre 1562 trotz der Reformation und ihrer lockenden Botschaft von der Freiheit aller Christenmenschen nicht nur weiterhin ihres Selbstbestimmungsrechtes, sondern ihres völkischen Selbstbewußtseins verlustig gegangen waren – sie alle wachen auf, geweckt von den Thesen der Französischen Revolution, mehr aber noch von den Ideen der deutschen Romantik und ihren Postulaten zur Geschichtsbetrachtung.8
Schaper verfasste diesen Text bereits nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Essay will er an das Schicksal der baltischen Völker, die hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden sind, und an ihre Zugehörigkeit zu Europa erinnern: deshalb rückt er die langen Prozesse in den Vordergrund. Er beruft sich auf die ___________ 7
Edzard Schaper, Nikolai Gogol, in: Schaper, Untergang und Verwandlung. Betrachtungen und Reden, West-Berlin 1956, S. 111. 8 Edzard Schaper, Aufstieg und Untergang der baltischen Staaten, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch 1998 für Estland, Lettland und Litauen. Sonderheft: Edzard Schaper, Tartu 1998, S. 5.
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Begriffe Herders und der deutschen Romantik, die besondere Sympathie für ‚junge‘ Völker erwecken ließen; vielleicht ist dies auch der Grund, warum er Polen in diesem Kontext nicht erwähnt. Schaper denkt an Polen erstaunlicherweise immer noch als an den gewichtigen Spieler, der es bis zum 18. Jahrhundert in Europa war. Die Balten verfügen über eine solche Geschichte als Staatswesen nicht. Sie sind in der Sicht Schapers mit ihrem Land verbunden und erwachen erst als Bauernvölker aus einer mythisch-kindlichen Stufe der Geschichte, noch nicht entstellt durch das Mechanische des eigenen Staates, weswegen sie auch schwach und bedroht sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass er die Bedeutung eines eigenen Staates für das politische Leben eines Volkes bzw. einer Gesellschaft nicht sieht – im Gegenteil, er begrüßt diese als notwendig für die Herausbildung einer politischen Reife. Andererseits sieht er die Deutschen, die Russen und früher die Polen als Kolonisatoren, wobei er die Rolle der Deutschen als ambivalent darstellt: einerseits haben sie die Balten dominiert, andererseits trugen die Ideen von Herder und der Romantik zum Erwachen ihrer nationalen Gesinnung bei.9 In dem bereits zitierten Essay lesen wir etwas weiter: Was für kühne Thesen das dies- und jenseits des Finnischen Meerbusens waren, wie freudig sie aufgenommen wurden und wie streng der Frost kaiserlichrussischer Ukase diesen Frühling der Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung verheerte, können wir heute nur noch schwer ermessen. Aber vergessen wir nicht, daß um eben diese Zeit die Sprachen der Ostseevölker erst ihre Schriftgestalt erhielten, daß ein Snellmann erst den Kampf um die Gleichberechtigung der finnischen Sprache aufnahm, daß Jahrhunderte der geistigen Überfremdung bei den baltischen Völkern das Aufkommen seiner eigenen Literatur völlig unmöglich gemacht hatten und daß jetzt, da dieser Vorgang sich vollzog, der administrative Winter der russischen Grenzmarkenpolitik über die junge Saat der geistigen Selbstentdeckung hereinzubrechen drohte, die baltische Ritterschaft in Estland noch die Gründung eines Gymnasiums mit estnischer Unterrichtssprache mit dem Postulat vereitelte: Bildung sei nur durch das Medium der deutschen Sprache zu erwerben, und daß Litauen nicht nur seines Namens beraubt wurde, die Begriffe Litauen und die Litauer der Vergessenheit anheimfallen sollten, sondern daß die besten Köpfe und freiesten Herzen dieses Volkes entweder zum Schweigen, zur Deportation oder zur Landflucht verurteilt waren.10
Schaper bewegt sich hier stark im Spektrum der deutsch-baltischen Geschichte; was ihn vor allem interessiert, ist der deutsche Beitrag und die deut___________ 9 Schaper hat hier nicht Unrecht; selbst im geteilten Polen des Anfangs des 19. Jahrhunderts trug die Beschäftigung mit der zeitgenössischen deutschen Literatur dazu bei, national-freiheitliches Denken wieder zu beleben, eine Inspiration stellte sie für die polnische Romantiker-Generation dar. 10 Schaper, Aufstieg und Untergang …, ebd., S. 12-13.
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sche Schuld. Mackiewicz denkt dagegen in größeren Strukturen. Im Nachruf auf seinen Freund Michal Pawlikowski schreibt er über dessen Heimat, dass diese zu dem großen Landstreifen gehörte, wo die höhere Schicht eine andere Sprache sprach als die Bauern. Das Nationale überschnitt sich hier immer wieder mit dem ständischen Prinzip. Dieses Merkmal erlaubt den osteuropäischen Ort, dem das besondere Interesse beider Autoren gilt, strukturell näher zu bestimmen. In Zentralpolen sprachen die Bauern und die Adligen Polnisch, im ethnischen Russland beide Schichten Russisch. Es gab aber auch ein Dazwischen, wo die Adligen, Intellektuellen und die besser Situierten russisch, deutsch oder polnisch oder schwedisch sprachen, während die Bauern sich des Litauischen, Lettischen, Estländischen, Weißrussischen, Ukrainischen oder Finnischen bedienten. Es blieb natürlich nicht ohne Einfluss auf Anfälligkeit für unterschiedlichen Weltanschauungen und Ideen, wobei es bei weitem nicht nur darum ging, dass die Bauern sich gegen die Herren und Großbesitzer auflehnten. Über solche komplizierten Fälle erzählt Schaper in seinem Roman „Der Henker“, in dem lettische Bauern die Höfe der Deutschbalten niederbrennen. Mackiewicz beobachtet in den 30er Jahren entlang der polnischen Grenze zur Sowjetunion eine wachsende Popularität charismatischer christlicher Gruppierungen, wie etwa der Pfingstbewegung, und eine damit verbundene unorthodoxe religiöse Erweckung ganzer Dörfer. Sie suchten hierbei nach einer Identität und antworteten auf ihre Weise auf die Spannungen der Zeit, die sie verspüren. Die polnischen Bewohner der Gegend, meistens Hofbesitzer oder Beamte, verstanden davon nichts. Es gibt bei Schaper jedoch Indizien, dass er eine Zäsur in der Geschichte verspürte, die sich ungefähr zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und 1917 vollzog. In dem Roman „Attentat auf den Mächtigen“, der am Anfang des 20. Jahrhunderts spielt, erleben wir die Welt der belle époque in Miniatur. Es handelt sich um einen deutschen Kurort, in den wichtige und angesehene Persönlichkeiten und die Herrscher dieser Welt samt dem Kaiser kommen. Bunte Uniformen, pompöse Auftritte machen einen großen Eindruck auf den Chef der Polizei vor Ort, der für die Sicherheit der hoch gestellten Gäste sorgt und sich als in seiner Begeisterung für den Glanz und den hohen Stil, den die Hochgestellten und Herrscher dieser Welt demonstrieren, irritierend naiv, aber zugleich auch auf gewisse Weise anachronistisch gutmütig zeigt. Sein junger Mitarbeiter bekommt als erste wichtige Aufgabe den Befehl, den russischen Oberprokureur des Heiligen Synods der orthodoxen Kirche während seines Kuraufenthalts zu beschützen. Dieser ist ein alter und ergrauter Mann, der die meiste Zeit in Begleitung eines orthodoxen Priesters, des Vaters Jakim, verbringt. Der Leser spürt, dass eine Epoche voller politischer Spannungen heranzieht. Es mehren sich im Zarenreich revolutionäre und freiheitliche Untergrundorganisationen,
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von denen so manches Mitglied gern den verhassten zaristischen Oberprokureur aus dieser Welt schaffen möchte. Attentäter tauchen tatsächlich bald auf, es ist ein blutjunger polnischer Graf mit einer noch jüngeren Adelstochter. Beide sind Mitglieder einer der revolutionären Verschwörungen; sie geben sich als Ehepaar auf Hochzeitsreise aus, um in demselben Hotel wie der Oberprokureur wohnen zu können. Der hochgestellte Beamte, von den Polizisten ‚die wichtige russische Eiche‘ genannt, sowie die Polizei selber nehmen den misslungenen Versuch, den Prokureur während eines Spaziergangs im Kurpark zu erschießen, sehr ernst, und die Atmosphäre eines schwerwiegenden Konflikts wird auch dem Leser vermittelt. Zwischen den Zeilen kann man eine scharfe Kritik am Zarenregime lesen: sie wird vor allem der jungen russischen Dame, der misslungenen ‚Terroristin‘ in den Mund gelegt, die für die Völker spricht: für die Letten, Esten, Polen und andere, welche ein Recht darauf haben, den Weg eigener nationaler Bestimmung zu gehen. Der junge polnische Graf weckt etwas weniger Sympathie, denn obwohl adeliger Herkunft, für das andere Geschlecht durchaus sehr attraktiv und mit guten Manieren ausgestattet, sich aus der Sicht der Leserschaft durchaus für einen positiven Protagonisten eignend, erweist sich als verbissener, allzu haptischer Charakter, der zu einem Dialog nicht recht fähig ist. Er ist von der besonderen Mission des polnischen Volkes überzeugt, des Volkes der heiligen Gottesmutter Maria. Das schafft besondere Probleme in der Diskussion mit dem Oberprokureur, der seinerseits von der ebenso göttlichen Mission des russischen Volkes überzeugt ist. Wir erfahren, dass der hohe Beamte des Zaren im Namen der heiligen Macht des Monarchen viel Grausames den Angehörigen der unterdrückten Völker angetan hat, wir erfahren aber nichts Konkretes über diese Untaten. Wir sehen dafür einen ruhigen und bescheidenen Greis, der die Tage mit Gesprächen mit Vater Jakim verbringt. Vor solchen Hintergründen und Auseinandersetzungen wird im Roman – verteilt auf mehrere Stimmen – das wichtige Problem diskutiert, das für Schaper von fast entscheidender Bedeutung ist: der christliche Glaube und die Geschichte, der Sinn und die transzendente Bedeutung der Geschichte, Macht, Glaube und Menschlichkeit. Man kann viele Stellen aus Schapers Texten anführen, wo der christliche Glaube eindeutig positiv besetzt ist. Im „Attentat auf den Mächtigen“ äußert sich der Oberprokureur Vater Jakim gegenüber wie folgt: „Denn sehen Sie, Vater Jakim“ – sagte der Greis […] „ich habe das immer gesagt und einmal auch geschrieben: die Geschichte ist die Lehrmeisterin. Mit allen diesen Neuerungen, nach denen man schreit, wird die politische Freiheit doch nur zu einer Fiktion, die auf dem Papier durch die Phrasen und Paragraphen der Konstitution aufrechterhalten wird. Das Prinzip der monarchistischen Gewalt verschwindet völlig, und was triumphiert, das ist die liberale Demokratie. Die aber bringt nur Unordnung und Gewalttätigkeit und legt den Grund für
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Unglauben und Materialismus, während sie Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet. […] Und solch ein Zustand führt unfehlbar zur Anarchie, aus der keine andere Rettung mehr ist als – zur Diktatur.“11
Wir hören hier einen Despoten sprechen, den wir aber zugleich als äußerst gläubig, bescheiden und großmütig erleben. Er lockt das junge Attentäterpaar zu einem Gespräch zu sich, anstatt es verhaften zu lassen. Das Gespräch wird zu einem des Vaters mit seinen verlorenen Kindern. Die Autorität seiner eigenen Macht wie auch der Macht des Zaren untermauert er mit seinem christlichen Glauben: „Ich will ein Gottesreich, das der Pantokrator dem Zaren zu regieren übertragen hat. Aber alle hassen mich. Sie wollen ein demokratisches Reich des Fortschritts, weil sie im Grunde doch nur an den Menschen und nicht an Gott glauben.“12
Bewaffnet mit der traditionellen Parole von der göttlichen Legitimierung der Macht und davon, dass es größere Dinge gäbe als nationale Partikularitäten, verurteilt er die nach Unabhängigkeit strebenden Völker des Imperiums: „Und die Polen, die Litauer, die Letten, Esten und Finnen und wen Sie sonst nehmen wollen – alle diese, wie man so sagt, von uns, von mir unterdrückten Völker –, was wollen sie? Die Anarchie durch ihren Nationalismus, die Anbetung dieses Götzen des neuzehnten Jahrhunderts: den Nationalstaat. Ein Kontinent ist größer und wichtiger als ein Land. Russland als Träger der Offenbarung des rechtgläubigen Christentums ist wichtiger als der Götzendienst an der Schimäre des nationalen Staates für ein paar Millionen.“13
– Das mutet ganz anders an als Schapers Thesen von dem Erwachen der kleinen und unterdrückten Völker Nordosteuropas, die er verstärkt in der Nachkriegszeit verteidigte. Und anders als seine Hingabe an das Christentum. Was hier und dort eventuell gemeinsam sein könnte, wäre die Überzeugung – oder Hoffnung –, dass der christliche Glaube Konflikte, insbesondere nationale Konflikte, mildert und deshalb für die Gesellschaft unentbehrlich ist. Man kann den Roman als eine Anhäufung von Stereotypen interpretieren, nur müsste man sich dann entscheiden, zugunsten welcher Partei sie mobilisiert werden sollen. Der Oberprokureur ist ehrwürdig, alt und ehrlich gottergeben, zugleich kann sich ein Leser, der über ein Minimum an kritischem Denken verfügt, kaum mit Parolen von der heiligen Legitimität der monarchistischen Macht identifizieren. Der Verschwörer, der polnische Graf, klingt demgegen___________ 11
Edzard Schaper, Attentat auf den Mächtigen, Berlin 1963, S. 67. Ebd., S. 96. 13 Ebd., S. 147. 12
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über äußerst überzeugend, wenn er dem Oberprokureur vorwirft, hier, außerhalb Russlands spreche er mit ihm frei über die Freiheit und die nationalen Fragen, auf solche ehrlichen Gespräche mit den Herrschern könne er aber innerhalb der russichen Grenzen kaum hoffen. Ehrlich und glaubwürdig klingt auch die junge Mitverschwörerin. Zugleich ist aber der Graf, wie schon gesagt, vom Charakter her eine nicht unbedingt sympathische Gestalt, und die Frau erscheint als ein blutjunges, von hohen Idealen besessenes naives Mädchen. Die Polizisten sind nur daran interessiert, für Ordnung zu sorgen, was man so präzisieren könnte: sie suchen nach einem möglichst komfortablen Ausweg aus der ganzen Affäre, ohne das Ansehen aller Betroffenen zu beschädigen. Das Ende scheint dem Oberprokureur zu gehören, als er in der Schlussszene die Augen gen Himmel richtet und von den Irrwegen der Menschheit auf dieser Welt, ihn selbst miteingerechnet, spricht, sowie von der ewigen Freude im Jenseits. Erst dort würden wir von Angesicht zu Angesicht die Wahrheit erblicken. Der stärkste Eindruck jedoch, der mich bei der Lektüre begleitete, war, dass es eine solche Welt nicht mehr gibt. Es ist ein Märchen vom eisernen Wolf, könnte man mit Mackiewicz sagen. Die Attentäter als verliebtes Paar während eines Schäferstündchens getarnt, das Attentat wird nicht vollbracht, da der Graf seine Mitverschwörerin allzu sehr liebt und Vorbehalte gegenüber dem Schiessen hat, schließlich werde da ein Mensch ermordet. Der Despot betet und möchte eine Art guter Vater sein. Schaper schreibt seinen Roman zweifellos aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit heraus. Aber er ist von einer Idealisierung des 19. Jahrhunderts nicht frei, und bei seiner Hoffnung auf die friedensstiftende Wirkung der Religion scheint er auch Praktiken zu idealisieren, die aktuelle Machtverhältnisse im Namen der allgemeinen Gottesliebe legitimierten. Die gewollt-ungewollt idealisierende Erzählweise vergewissert den Leser allerdings auch davon, dass es keine Rückkehr in diese Welt gibt. II. Die Frage der ‚konzessionierten Unfreiheit‘ Die russische Revolution scheint trotz all der bekannten Konflikte eine ganz neue Qualität für Schaper darzustellen. Sichtbar wird es nicht zuletzt an seiner Sprache. Er beginnt, über Manipulationen von Worten zu reflektieren, und findet einige glückliche Formulierungen, d.h. solche, durch die mit einem Griff bildhaft ein Problem erfasst wird. So wurde der Begriff des Opfers in sein Gegenteil verkehrt. Opfer sollen unsichtbar und unhörbar sein, was der bisherigen Geschichte widerspricht, in der Benachteiligte und Unterdrückte sich zumindest in das Schema des Märtyriums flüchten konnten und so aus der Öffentlichkeit zumindest symbolisch nicht gänzlich ausgegrenzt wurden:
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Seit im Jahre 1917 die bolschewistische Revolution ausbrach, hat die christliche Welt des Abendlandes der Wirkung des Märtyrerbeispiels weitgehend entraten. Millionen sind stumm und unsichtbar gestorben. Der Bolschewismus hat es, von Jahr zu Jahr vollkommener, verstanden, die Lautlosigkeit und Unsichtbarkeit der Opfer, die er fraß, zu hüten, damit nicht ihr Beispiel Macht gewinne. Doch nicht genug damit. Er hat die Wahrhaftikeit des Opfers und die Wahrheit, um derentwillen das Opfer gebracht wurde, in die Lüge verkehren müssen, um auch sie noch in seinen Dienst zu stellen.14
Schaper spricht in seinem Essay auch von einem neuen Typus von Freiheit, nämlich von einer staatlich konzessionierten Freiheit. Da er es im Kontext des Schicksals der baltischen Staaten tut, soll man annehmen, dass es sich hier um eine von Nordosteuropa heraus gedachte Diagnose der Moderne handelt. Bemerkenswert ist, dass Schaper mehr oder weniger zufällig einen Begriff verwendet, den Georg Simmel für seine Diagnose der Moderne – nur von Berlin aus geschrieben – geprägt hat: den der Differenzierung.15 Schaper wendet ihn aber nicht auf das Paar privat-öffentlich an, wie Simmel es tut, sondern auf Freiheit-Unfreiheit: Je geballter die offensichtliche Unfreiheit geworden ist, umso differenzierter ist der Begriff der Freiheit geworden. Und je anarchistischer auf der einen Seite die Unabhängigheit als Typ einer erstrebenswerten Überfreiheit geworden ist, umso terroristischer wurde auch die autoritäre Gebundenheit in der Sklaverei für den Einzelnen, für ganze Völker und Erdteile als ein neuer, staatlich konzessionierter Typ scheinbarer Freiheit.16
Auch das Wort „modern“, bzw. „Moderne“ bleibt nicht aus. Deren Wesen wäre nämlich „die Gefangenschaft als moderne Existenzform und Existenznorm […]. Und der Gefangene stelle die Präfiguration unserer Zeit“ dar.17 Bei Jozef Mackiewicz haben wir es, wie ich zuvor skizzierte, mit Reflexionen zur Konzessionierung von Unfreiheit zu tun, die sich in ähnlicher Richtung wie bei Schaper bewegen. Die religiöse Komponente des Geschichtsprozesses scheint demgegenüber in seinen Werken nicht so ausgeprägt zu sein, obwohl er der katholischen Kirche viel Aufmerksamkeit schenkt, und aus weltanschaulichen Gründen lehnte er sogar das 2. Vatikanische Konzil scharf ab. Es sei ein allzu großer Kompromiss und Verzicht auf die Tradition. Provoziert durch ___________ 14
Edzard Schaper, Das Märtyrium der Lüge, in: Untergang und Verwandlung …, S. 126. Den Begriff verwendete Simmel ziemlich oft. Siehe etwa seine Abhandlung „Über soziale Differenzierung“ aus dem Jahre 1890 oder die Passagen von der Differenzierung zwischen öffentlich und nicht-öffentlich in dem Kapitel „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ aus der „Soziologie“ (1908). 16 Schaper, Das Märtyrium der Lüge, in: Untergang und Verwandlung …, S. 91. 17 Ebd., S. 80. Hervorhebung von Schaper. 15
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Parolen allerdings, die von nahezu allen polnischen Patrioten geteilt werden, dass das Sowjetsystem vor allem eine gottlose Welt schaffen wolle, war Mackiewicz durchaus imstande zu antworten: Entgegen der allgemeinen Meinung bemüht sich der Bolschewismus nicht darum, aus der menschlichen Seele vor allem das auszurotten ‚was den Menschen über die Erde erhebt‘, sondern das, was ihn an diese Erde fesselt. Er will dem Menschen nicht die Freude des ewigen Lebens nehmen, sondern die des irdischen Lebens. Der Bolschewismus ‚bestialisiert‘ den Menschen nicht, im Gegenteil, es gibt nichts, wovor er sich mehr fürchten würde als vor der menschlichen Bestie, ihren Reaktionen und Ausbrüchen, denn er will nicht die Bestien im Menschen züchten, sondern – eine Maschine.18
Noch ein Wort fällt in diesem Kontext: die Langeweile. Die Angst vor der mechanisierten, unendlichen Langeweile teilt Mackiewicz mit einem anderen bekannten Schriftsteller der Zeit, mit Stanislaw Ignacy Witkiewicz.19 Und seine Protagonisten meinen – z. B. im Roman „Der Weg nach nirgendwo“ – dass dieses osteuropäische moderne Experiment mit neuen Formen der Kontrolle keineswegs in der Parole vom ‚barbarischen Osten‘ eine Erklärung habe. Die Moskauer Schauprozesse von 1937 kommentierte er auf folgende Weise: „Die russische Seele“ – sagte man – „asiatische Knechtschaft“. Alles Quatsch! Auf gleiche Weise werden sich die Engländer in London, die Franzosen in Paris, die Deutschen in Berlin, die Polen in Warschau in Selbstanklage und im Schlamm wälzen! ...20
Seinen Roman schrieb Mackiewicz in den 40er Jahren. Bald sollten tatsächlich die Polen in Warschau und die Deutschen in halb Berlin mit dieser Erfahrung konfrontiert werden. III. Die Auflösung von Osteuropa Beide Schriftsteller widmeten die größte Aufmerksamkeit dem sogenannten Bolschewismus. Es hat mehrere Gründe, wobei die persönliche Erfahrung sicher zu den wichtigsten zählt. Aufgrund ihrer Lebensorte konnten sie den „Stalinstaat“ aus der Nähe beobachten. Darüber hinaus ist der „Hitlerstaat“ verhältnismäßig rasch verschwunden, und seine Anführer samt ihrer Ideologie wurden öffentlich verurteilt, während der Eiserne Vorhang Europa für Jahr___________ 18 Jozef Mackiewicz, Bolszewizm i Watykan, in: Jozef Mackiewicz/Barbara Toporska, Droga Pani, Warszawa 1988, 267-274, hier S. 268. 19 Witkiewicz war eines der bekanntesten polnischen Schriftsteller und Dramatiker der 20er und 30er Jahre. Dominantes Thema seiner Werke ist der Untergang der europäischen liberalen Lebensform zugunsten einer oberflächlichen Massenkultur, die im Zuge von sozialen Umwälzungen Oberhand nehmen werde. 20 Mackiewicz, Droga donikad, S. 118.
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zehnte prägen sollte. Dass es zwei Totalitarismen gab, darf man aber nicht aus dem Auge verlieren. Dass die beiden Autoren aus der Perspektive Nordostbzw. Osteuropas auf die Geschichte blicken, bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, da sie zeigen müssen, wie sich die beiden Totalitarismen gegenseitig hochschaukelten, was leicht den Vorwurf von Relativierung des einen oder des anderen einbringen konnte. Solche Vorwürfe trafen insbesondere Mackiewicz.21 Interessant und einer gesonderten Studie wert wäre die Präsenz bzw. Nicht-Präsenz des Holocaust im Werk der beiden. Während sich Mackiewicz in der Zwischenkriegszeit der Antisemitismusfrage gegenüber gleichgültig zeigte, wandelte sich seine Einstellung zu Beginn des Krieges. Er nannte die Vernichtung der Juden das schlimmste Schicksal, das in diesem Krieg einem Volk bestimmt sei und fürchtete, die polnische Gesellschaft während des Krieges beobachtend, dass sie, die hoffnungslose Lage der Juden ausnutzend, innerlich zugrunde gehen werde.22 Bei Schaper kommt das Thema nicht vor. Zum Teil ist das dadurch zu erklären, dass er die Kriegsjahre im sowjetischen Estland und dann in Finnland und Schweden verbrachte, trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Juden in sein Bild von Osteuropa nicht hineinpassen. Die schwerwiegendste Konsequenz der Totalitarismen war, dass sie zur faktischen Auflösung Osteuropas geführt haben. Bei Mackiewicz finden wir in den Romanen eine von innen her gesehene Beschreibung dieser Auflösung. Man könnte es am besten als eine totale Umwälzung bezeichnen. Zuerst arbeitet das Hitlerregime bestens mit Stalin zusammen, was den Protagonisten alle Auswege aus dieser Lage sperrt, dann, ab dem 22. Juni 1941, schaukeln sich die beiden Systeme noch weiter hoch. Durch die Grausamkeiten der Deutschen lief die Bevölkerung zu den Sowjets über. Am schwersten waren die Juden betroffen, die sich auch vor der Ortsbevölkerung nicht sicher fühlen konnten. Die Sowjets verboten dagegen in ihren Propagandakursen für künftige Aktivisten auf den zu erobernden Gebieten, von dem besonderen Schicksal der Juden zu sprechen. Für Schaper stellte der Ribbentrop-Molotow-Pakt den Gipfel der deutschen Politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, da sie sich zugunsten des imperialen Machtanspruchs von Gott abkehrte. Was an seinem Essay „Auch wir sind Europa“ auffällt, ist die eher selten anzutreffende Ansicht, dass der ___________ 21 Siehe dazu die Studien von Wlodzimierz Bolecki, Ptasznik z Wilna: o Jozefie Mackiewiczu, Krakow 2007 und Grzegorz Eberhardt, Pisarz dla doroslych. Opowiesc o Jozefie Mackiewiczu [Ein Schriftsteller für Erwachsene. Erzählung über Jozef Mackiewicz], Wroclaw 2010. In den beiden Studien werden Mackiewiczs Auseinandersetzungen mit Kritiken ausführlich behandelt. 22 Mackiewicz warnte davor in seinem Roman „Nie trzeba glośno mówić“ [Man darf es nicht laut sagen] sowie in seinem Augenzeugenbericht „Ponary-Baza“, den er nach dem Krieg 1945 in Rom veröffentlichte und in dem er einen der deutschen Massenmorde an Juden in dem nahe Wilna gelegenen Ponary beschrieb, dessen Zeuge er war. In Ponary wurden die Insassen aus dem Wilaer Ghetto ums Leben gebracht.
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Nationalsozialismus zwar ein Ende gefunden hat, die Konsequenzen des von ihm abgeschlossenen Paktes jedoch auf Dauer gefestigt worden sind: An ihrer Auflösung selber mitgewirkt zu haben, ist und bleibt eine Todsünde der jüngsten totalitären Vergangenheit Deutschlands, als der berüchtigte RibbentropMolotow-Pakt ganz Osteuropa der Sowjetunion als Einflußsphäre überließ. [Und wehe jenen, die nicht mitschuldig geworden sein wollen und heute schon unter falschen Vorzeichen von einer Restauration deutscher Geltung zu sprechen anfangen, die sich jede andere Rechtfertigung als die der Not schuldig bleibt.]23
Interessanterweise sieht hier Schaper einen engen Zusammenhang zwischen dem Machtanspruch des Dritten Reiches im Osten und dessen Aktion der (Zwangs-)Umsiedlung der Baltendeutschen in die Posener Gegend, den Warthegau, aus dem zuvor Polen und Juden in das Generalgouvernement vertrieben worden waren. Diese Aktion, die traditionelle Strukturen vernichtete, rechnet er auch der Auflösung Osteuropas zu: Ganz anders der Kommentar des nationalsozialistsichen Deutschlands. Es gab seine Auffassung von der Vertragstreue seines Verbündeten damit zu erkennen, daß es das ganze Deutschtum im europäischen Nordosten ins Reich heimbefahl: eine Umsiedlung, die einer Austreibung gleichkam, überreich an tragischen Aspekten aller erdenklichen Art.24
Inmitten dieser Reflexionen entwirft Schaper als eine kurze Zukunftsvision für Osteuropa den Föderalismus. Das bedeutet, dass er – ähnlich wie Mackiewicz – den ostmitteleuropäischen Raum als eine eigenständige, sich sowohl vom Westen, wie auch vom Osten unterscheidende Region ansieht. Zu den tiefen Erfahrungen, die den sowohl östlich wie auch westlich gelegenen Staaten so nicht bekannt sind, gehören alle die, die im Werk der beiden Schriftsteller genannt werden: die einst komplizierte soziale Struktur, die zugleich auch zu nationalen Spaltungen führte, die Kolonisierungsversuche, die sich mehrmals und rasch verändernde politische Landkarte, die fehlende bzw. gewonnene Staatlichkeit, die vielen Sprachen (die oft kaum jemand im Westen wie im Osten lernte), der Judenmord, der hier stattfand, und – last but not least – das lange Experiment mit der konzessionierten Unfreiheit.
___________ 23 24
Edzard Schaper, Auch wir sind Europa, in: Untergang und Verwandlung …, S. 56. Ebd., S. 25.
Zum Geschichtsbild im Spätwerk von Edzard Schaper1 Von Michael Garleff „Auch der Dichter ist ein Sohn seiner Zeit, an deren Leben er teilnimmt und der gegenüber er sich doch die Freiheit auch des Widerspruchs bewahren muß“, äußerte der deutschbaltische Schriftsteller Werner Bergengruen einmal in einer Ansprache zum 80. Geburtstag seines Freundes Otto von Taube.2 Diese Freiheit des Widerspruchs nahm in besonderer Weise auch Edzard Schaper für sich in Anspruch. Engagiert hat er sich, wie er selbst betonte, stets „jeder Aufgabe in der Zeit, in der Politik, in allem, was die geschichtliche Existenz eines Menschen ausmacht“, gestellt und war dadurch auch jedem Verdacht ausgeliefert. Denn „die Nationalsozialisten hielten mich eine Zeitlang für einen sowjetischen Spion in der Maske eines Rußlandfreundes und eines Enthusiasten für die Orthodoxie. Die Sowjets haben mich natürlich für einen deutschen Spion gehalten. Die Engländer feierten mich [...] an ein und demselben Tage als einen deutschen Märtyrer des Widerstands und beschmähten mich als Gestapoagenten ...“.3 Auf die Frage, ob das Baltikum ihm Heimat gewesen sei – diese Region, die er selbst einmal charakterisiert hat als „Durchdringungszone zwischen Ost und West, die zu einem ‚Kontinent des Leidens‘ geworden ist“4 –, auf diese Frage antwortete Schaper: „Das könnte ich akzeptieren, wenn niemand daraus den Schluß zöge, ich sei ein baltischer Autor.“ Ebensowenig wie er ein christlicher Autor genannt werden wollte, mochte er als baltischer Autor registriert werden. Denn damit sah er bei dem Ausmaß seines Werkes dem eigentlichen Gehalt seiner Arbeit nicht Genüge getan. „Ich bin durch meine Geburt an der Grenze von Nationen, Konfessionen, Nationalitäten, Sprachen und was alles es sonst auf der Welt gibt, das die Menschen unterscheidet, dazu bestimmt, immer in der ‚Mittezwischen‘, im Nebeneinander und Durcheinander zu leben, und habe mir aus diesem Leben im Durcheinander unserer heutigen Welt meinen Standpunkt gewinnen müssen“. Er habe wohl die großen Krisenerscheinungen über___________ 1 Erstveröffentlichung in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Sonderheft: Edzard Schaper, 5. Folge, Tartu 1998, S. 112-128. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. 2 Werner Bergengruen, Mündlich gesprochen, Zürich, München 1963, S. 106. 3 Lutz Besch, Gespräche mit Edzard Schaper, Zürich 1968, S. 72. 4 Zitiert von Besch: Gespräche (wie Anm. 2), S. 57.
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wiegend aus einer historischen Landschaft heraus entwickelt, sei aber immer von der Gestalt des Menschen schlechthin ausgegangen, des Menschen in der Krise der Zeit und ihrer Geschichtsmächte. „Man wird immer finden, daß ich nicht von historischen Gegebenheiten ausgehe, sondern vom Menschen, wie er sich in dem Katarakt der Ereignisse unseres Jahrhunderts und in der Tragik der Gegebenheiten, wie die Geschichte sie uns auferlegt, bewährt – oder untergeht.“5 Bei dieser notwendig zu beachtenden, von ihm selbst reklamierten Distanz zu pauschalisierenden Einordnungen wie z.B. als baltischer oder auch als christlicher Autor wie auch bei seiner Betonung des Ausgangspunkts seiner Darstellungen vom Menschen her bleibt doch als wirkende Grundbedingung seines Schaffens die Tragik der durch die Geschichte auferlegten Gegebenheiten festzuhalten. Dieser „Katarakt der Ereignisse unseres Jahrhunderts“ bildet eben nicht etwa nur einen blassen Hintergrund für seine Romane und Erzählungen, sondern bestimmt das Handeln und die Bewährung der von ihm dargestellten Menschen. Daher erscheint die Beschäftigung mit den „Krisenerscheinungen“ der „historischen Landschaften“ berechtigt, wie sie komprimiert besonders in Schapers Spätwerk in Erscheinung treten. Dabei werden der folgenden Untersuchung im Sinne einer Fallstudie die Romane „Am Abend der Zeit“6 und „Sperlingsschlacht“7 zugrunde gelegt – nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Bezüge auf den baltisch-polnischen Bereich des nördlichen Ostmitteleuropa. Drei Jahrzehnte nach dem baltischen Roman „Der Henker“8 veröffentlichte Schaper das bereits in der Schweiz geschriebene Werk „Am Abend der Zeit“ mit dem vorangestellten Motto: „Die Uhr der Weltgeschichte zeigte auf Sonnenuntergang, und das Licht der alten Welt versank in einem Todesglanz ohnegleichen“.9 Mit Blick auf die gesamte nordosteuropäische Region unter Einschluss auch Polens äußert die Hauptperson, eine polnische Gräfin: „Furchtbar ..., daß unser Leben unter dem Rad der Geschichte geboren ist und fortwährend davon überfahren wird“10. Die Väter der beiden Hauptpersonen – des estländischen Deutschbalten und der nationalen Polin – verkörpern jeweils in ihrer geschichts- und nationalgebundenen Eigenart den ritterlichen Edelmann einer verklingenden Zeit. Schaper nimmt in diesem Roman eine ebenso kenntnisreiche wie anregende Kontrastierung der baltischen Geschichte mit der Geschichte Finnlands und Polens unmittelbar am Vorabend des Ersten Weltkriegs ___________ 5
Ebd., S. 57 f. Edzard Schaper, Am Abend der Zeit. Roman, Köln 1970 [seitenidentische Neuausgabe: Freiburg/Heidelberg 1983]. 7 Edzard Schaper, Sperlingsschlacht. Ein Roman, Köln 1972. 8 Edzard Schaper, Der Henker. Roman, Leipzig 1940. 9 Schaper, Am Abend der Zeit (wie Anm. 5), S. 5. 10 Ebd., S. 232. 6
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vor. Dabei erreicht er nicht allein von den Schauplätzen der Handlung her, sondern vor allem auch thematisch eine „europäische Dimension“. Die Hauptpersonen sind die polnische Komtesse Zofja sowie zwei Offiziere der zaristischen Armee, der deutschbaltische Estländer Nikolai Rausch von Traubenberg und dessen Kamerad und Freund Alfthan, von dem es heißt, er sei „Finnländer, aber er will kein Finne oder nur in gewissem Sinne ein Finne, im allgemeineren ein in Finnland ansässiger Schwede sein“.11 In mehreren Gesprächen erörtern sie Unterschiede und Parallelen zwischen Finnland, den baltischen Provinzen und Polen als Randzonen des Zarenreiches. Das erfolgt in einer Gründlichkeit und Methodik, mit der der Autor geradezu eine fachwissenschaftliche Diskussion vorwegnimmt, wie sie innerhalb der Geschichtswissenschaft unter dem Stichwort der „Baltischen Parallele“ erst über ein Jahrzehnt später Mitte der 1980er Jahre geführt wurde.12 Nicht ohne Grund hatte Erika Werckmeister in ihrer Würdigung zu Schapers 65. Geburtstag in diesem Zusammenhang an das Wort Friedrich Meineckes erinnert, „die Dichter seien die besseren Historiker“.13 Dabei ging es Schaper allerdings keineswegs etwa um das Verfassen wissenschaftlicher historischer Abhandlungen, sondern stets um die Darstellung der Gewissenskonflikte der in den Geschichtsablauf gestellten Menschen. Auch hier steht im Mittelpunkt der von Deutschbalten immer wieder in Anspruch genommene und gelegentlich von ihnen auch überstrapazierte Begriff der Bewährung – Schaper stellt ihn in seinen Romanen gleichsam gereinigt dar als eine Befragung und freie Entscheidung des Gewissens. Zentraler Schauplatz der Romanhandlung ist das polnische Gut Wysocko – im übrigen nicht weit gelegen von Schapers Geburtsort Ostrowo –, dessen grenznahe Lage zwangsläufig dazu führt, dass es mit Beginn der Kampfhandlungen sogleich zum unmittelbaren Kriegsschauplatz werden muss. Die verzweifelte und nahezu ausweglose Lage Polens wird am Vorabend des Kriegsausbruchs zwischen Nikolai und Zofja erörtert, deren Vetter Adam einen Krieg geradezu herbeiwünscht, ohne aber konkrete Vorstellungen davon zu haben, wie der „Nutzen [...] auf Seite der Polen“ dabei zu erreichen sei. Fanatisiert will er bei Kriegsbeginn „auf jeden Erstbesten schießen, der ins Schloß [...] einzudringen versuche“14 – eine Vorausdeutung innerhalb der Romanhandlung, denn genau das tut er später, womit er das tragische Ende herbeiführt. Traubenberg ___________ 11
Ebd., S. 82. Vgl. Edward C. Thaden/Marianna Forster-Thaden, Russia’s Western Borderlands, 1710-1870, Princeton 1984, sowie Robert Schweizer, Die ,Baltische Parallele‘: gemeinsame Konzeption oder zufällige Koinzidenz in der russischen Finnland- und Baltikumpolitik im 19. Jahrhundert? In: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984), S. 551-577. 13 In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 21/1974 (1973), S. 181. 14 Schaper, Am Abend der Zeit (wie Anm. 5), S. 84 f. 12
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hält diese Einstellung in dem frühen Gespräch für ein „altes Insurgentenrezept“, mit dem man weit komme – „bestenfalls ins Exil, schlimmstenfalls an den Insurgentengalgen“. Für Zofja handelt es sich bei einer solchen Einstellung nicht mehr um Patriotismus, sondern schlicht um Hysterie. Traubenberg bedrückt es darüber hinaus, dass diese Haltung verkenne, dass mit einem Kriegsausbruch wahrscheinlich in den meisten Ländern alle alten Ordnungen zusammenbrechen würden. Die „Ordnungen, die unser Leben eben noch tragen“ würden von Sozialisten, Anarchisten und Nationalisten jedweder Nationalität vernichtet, und „in ihrer Welt haben wir nichts mehr zu suchen“.15 Vielleicht erfordere die Entwicklung „einen Strich unter die Rechnung. Ein Nichts als Summe neuer Möglichkeiten“.16 Die kritische Frage, ob er damit nicht im Grunde auch Anarchist sei, bejaht er mit der Einschränkung, „sofern die Anarchie die Ordnung anerkennt, die von Mensch zu Mensch besteht. Ich glaube, die ganze Welt wird am Ende gewissermaßen nur zu Zweien sein!“ Den Vorwurf der Schwärmerei lehnt er ab, es lasse sich „über manches nur in Metaphern reden [...] Vertrauen statt Hysterie, statt politischer Neurose, statt Gleichmacherei! Wo wäre das noch zu finden, wenn nicht unter zweien, die eins sind ...“. Als Zofja später die verschwörerischen Umtriebe ihres Vetters decken will, kommt es zu einer deutlichen Aussprache zwischen ihr und Nikolai, dem der junge Pole als „Inkarnation des blindwütigen Nationalismus erscheint, der auf Kosten anderer Menschen zu jeder Untat fähig ist.“17 Es entspinnt sich folgender Dialog: „Ein Pole haftet für den anderen.“ „Bis ins Verbrechen?“ „Was man so Verbrechen nennt. Es kann Liebe sein, Vaterlandsliebe – ohne Vaterland.“ „Ist Heimat nicht genug?“ „Zu wenig für die, die einmal ein Königreich besessen haben!“ „Zofja! Finde doch zurück in die Wirklichkeit. Ich sitze hier, nicht Johann Sobieski! – Du hast nicht gewußt, daß Adasch hier ist – oder hier in der Nähe?“ „Johann Sobieski! Ohne den ganz Österreich eine türkische Provinz geworden wäre!“ „Ich bitte dich: mach nicht Politik von heute mit der Geschichte von vorvorgestern!“18
___________ 15
Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 259. 18 Ebd., S. 259 f. 16 17
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Alle drei werden schließlich „vom Rad der Geschichte überrollt“ – Nikolai und Zofja sterben unter den Kugeln Adams, der anschließend aus Verzweiflung darüber Selbstmord begeht, dass er versehentlich auch Zofja getroffen hat. Als Alfthan die beiden findet, bilden ihre übereinander gesunkenen Körper ein Kreuz. Auch am Ende dieses Romans steht die Kreuzessymbolik mit dem Martyrium des polnischen Paters Thaddeus, „gekreuzigt zwischen den Holmen“ eines Gefangenenkarrens.19 In seiner Todesvision sieht dieser sich als Cherub, und der „segnete die Lebendigen und die Toten und diese ganze heillose Welt, um ihr auch in ihre tiefste Verlorenheit noch die Hoffnung auf ein letztes Erbarmen ihres Schöpfers zu verkündigen.“20 Den Mittelpunkt des zwei Jahre nach diesem Werk erschienenen Romans „Sperlingsschlacht“ bildet das Schicksal Polens und seiner Bewohner. Er ist als das „reifste Alterswerk des Dichters“ bezeichnet worden, zumal er Bausteine aus „Der Henker“ und „Am Abend der Zeit“ in sich trage.21 Während die Handlung seiner vorangegangenen Werke überwiegend in Nord- und Osteuropa spielte, verlegt Schaper in der „Sperlingsschlacht“ den Schauplatz erstmals außerhalb des europäischen Kontinents, nämlich nach Australien. Ferner fällt auf, dass hier nicht mehr wie in vielen seiner vorangegangenen Romane und Erzählungen Offiziere oder Priester die handlungstragenden Personen sind.22 Aus der Sicht eines britischen Expeditionsleiters werden durch dessen Berichte Erlebnisse eines Unternehmens geschildert, das der Durchquerung des australischen Kontinents galt. Auf diesem „letzten seiner drei Versuche, den australischen Kontinent von Osten nach Westen zu durchqueren“, fand Sir Oliver Simpson im Jahre 1872 den Tod. Dieses „von Osten nach Westen“ signalisiert zugleich die Blickrichtung in einem weiteren, auch auf Europa zu beziehenden Sinne: Denn als Mittler, Richter und Chronist registriert Sir Oliver Simpson die Begegnung mit zwei anderen, bezeichnenderweise polnischen Expeditionen, deren Zusammentreffen von der Last der Vergangenheit bestimmt ist und zu einem gnadenlosen Kampf untereinander mit dem Ergebnis der Vernichtung fast aller Teilnehmer führt. Der Leiter der ersten, international zusammengesetzten, aber polnisch geführten Mannschaft, Ostrowski, sagt zu Sir Oliver:
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Ebd., S. 430. Ebd., S. 453. Werckmeister (wie Anm. 12), S. 183. 22 Diesen wurde auch das „Berufsbild“ des Statthalters hinzugefügt, was aber nur bedingt zutrifft, da dieser eng mit jenem des Offiziers verbunden sein dürfte. Vgl. Gisela Rüdiger, Edzard Schaper – Begegnung mit Grenzräumen, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 46/1999 (1998), S. 80-96; hier: S. 87. 20 21
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Michael Garleff „[...] wir sind wohl hier, um das alles zu vergessen. [...] Zu vergessen. Die Größe, die Helden, die Sprachen, die ganze alte Welt, in der Nation Unterscheidung, Auszeichnung und Ruch zugleich bedeutet.“23
Der australische Busch mit seinem für Europäer so erbarmungslosen Klima und seinen Gefahren erscheint hier als Auffangschale für die Enttäuschten und Entwurzelten. In diesem Roman wird als „welttheatralische Parabel“ in einer weit entfernten Weltgegend die „ganze Tragik der polnischen Geschichte – verwoben in die Machtkämpfe Europas“24 – gedeutet. Die andere Expedition nun besteht ausschließlich aus fanatischen, nationalistischen Polen, geführt von Pan Sapieha, der aus einem völlig konträren Verständnis von der Mission eines polnischen Patrioten in Ostrowski nur den Landesverräter sieht. Denn dieser hatte sich einst während des Aufstandes von 1863 in auswegloser Lage auf preußisches Gebiet in die Internierung begeben, während Sapieha bis zum letzten weitergekämpft und Haft und Verbannung auf sich genommen hatte. Diese in ihrer Heimat entstandene Feindschaft wird auf dem neuen Kontinent ausgetragen, Sapieha erschießt Ostrowski und löst damit jene Kette von Rivalitäten, Unfällen und Morden aus, in der beide Expeditionen ihren Untergang finden. Am Ende der berichteten Handlung überleben von diesen beiden Expeditionsgruppen nur zwei Personen – ein Elsässer und die Polin Jadwiga Potocka, die aber offenbar beide später ebenfalls ums Leben kommen. Letztere ist übrigens eine reifere, beherrscht-diszipliniertere Frau als die jüngere Komtesse Wysocka aus dem Roman „Am Abend der Zeit“. Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Tötens am Rande der „Zone des toten Herzens“. Lag den Differenzen zwischen Ostrowski und Sapieha neben der privaten Gegnerschaft noch das Motiv eines polnischen Nationalismus mit zugrunde, so wurde dieses von den anderen Beteiligten übersteigert und erweitert, am Ende ging es um „ein blindwütiges Morden schlechthin, um eine Lust am Töten und Verderben.“25 Was von Sapieha als Gründung eines freien, friedlichen, neuen Polen geplant war, ging an der eigenen Maßlosigkeit und Gewalttätigkeit seiner Bewohner zugrunde: „Abermals eine für Polen verlorene Sache, weil sie, statt Frieden und Toleranz einziehen zu lassen, sich selber in Krieg und Haß verzehrten.“26 Die im Roman „Am Abend der Zeit“ bereits angedeutete Gefahr, dass besonders die Polen „Politik von heute auf der Geschichte von gestern“ begründen, wird in der „Sperlingsschlacht“ von britischen Expeditionsteilnehmern reflektiert. Sie sehen als ein besonderes Merkmal des polnischen Volkes, dass es „auf ___________ 23
Schaper, Sperlingsschlacht (wie Anm. 6), S. 36 f. Werckmeister (wie Anm. 12), S. 183 f. Schaper, Sperlingsschlacht (wie Anm. 6), S. 211. 26 Ebd., S. 231. 24 25
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ganz außerordentliche Weise auch in einer anderen Dimension beheimatet sei, daß seine Träume in die Wirklichkeit eingingen und umgekehrt, so wie es unentwegt seine Vergangenheit in die Zukunft projiziere und keiner Gegenwart Meister werde.“27 Die sich im Verlauf der Handlung zwischen dem britischen Expeditionsleiter und der Polin Jadwiga Potocka entwickelnde verhaltene Beziehung führt schließlich zu einer „Verständigung metaphysischer Art“28, wenn gegen Ende des Romans die einzige polnische Überlebende den Engländer Sir Oliver zum Abschied bittet: „Tragen Sie uns Polen nichts nach! Aber vergessen Sie auch Polen nicht! Polen lebt wohl nur in der Unantastbarkeit der Herzen – überall, wo man unseres Vaterlandes gedenkt und es liebt“. Und auf die zweifelnde Frage, ob es überhaupt ein Land gebe, das „uns wirklich frei und glücklich leben läßt“, antwortet sie: „Wo wir auch enden [...] jeder Ort wird das richtige Ziel sein, das uns vorausbestimmt ist. Möge es uns nur immer in Übereinstimmung mit unserem Willen, mit unserem Gewissen und mit unserer Liebe finden.“29 Bevor die Expeditionen in die „Zone des toten Herzens“ eindrangen, erwies sich die Macht des menschlichen Herzens als größer als die der geographischen Weiten Australiens. Die Reise durch die unendlichen Weiten dieses Kontinents enthüllt sich als eine Reise nach Innen – „Denn das lebendige menschliche Herz wird hier einmal mehr in das Martyrium der Bewährung gestoßen“.30 – „Wo sind die für uns gültigen Karten? Wo sind unsere Wege? Und wer steckt sie ab? ...“. Trotz des spannungsgeladenen äußeren Geschehens ist die eigentliche Handlung ins Innere verlegt: Schaper schildert Menschen auf der Suche nach dem Sinn und der Erfüllung ihres Lebens. Die Expeditionen durch ein unwirtliches Land werden zum Gleichnis für die Situation des modernen Menschen überhaupt. Dabei wird deutlich, wie stark vor allem die Mitglieder der beiden polnischen Expeditionen in ihren Grenzsituationen von der Vergangenheit ihres Landes bestimmt sind, wie sehr ihre menschlichen Bindungen und Leiden Schäften in den Verwicklungen der jüngsten Vergangenheit verwurzelt sind, d.h. in den Kämpfen um Polens Freiheit im 19. Jahrhundert und den dabei jeweils wahrgenommenen Optionen. Die Frage nach dem Sinn dieses Tötens bleibt offen. Wie bei den metaphorischen Bezeichnungen für den Titel „Sperlingsschlacht“ und des Schauplatzes am „Rande des toten Herzens“ verhält es sich auch mit einem Erlebnis, das die ___________ 27
Ebd., S. 215. Ebd. 29 Ebd., S. 265. 30 Werner Helwig, Zone des toten Herzens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 276 vom 28.11.1972, S. 211. 28
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britische Expedition gleich zu Anfang hat, als der Leser von den polnischen Gruppen noch nichts weiß: Die Teilnehmer beobachten nämlich zwei Vogelschwärme, die aufeinander zufliegen und – statt seitlich oder in die Höhe auszuweichen – in der Luft zusammenprallen, sich ineinander verknäulen, totbeißen und unweit des Lagerfeuers zu Tausenden mit zerfetzten Leibern herabstürzen. Erschüttert und entsetzt beobachten die Briten dieses Ereignis, ohne eine Erklärung dafür zu finden, warum die Vögel – es handelt sich um Wellensittiche, also australische „Sperlinge“ – die Katastrophe nicht durch eine Kursänderung vermieden haben. Das Motiv einer solchen „Schlacht der Vögel“ findet sich in der Literatur des öfteren, am ausgeprägtesten in Wilhelm Raabes historischer Erzählung „Das Odfeld“ von 1888. Diese in deutlicher Distanz zur damaligen nationalen deutschen Geschichtsdarstellung verfasste Erzählung spielt vor dem Hintergrund einer Schlacht während des Siebenjährigen Krieges im niedersächsischen Raum, und Raabe lässt die Hauptperson im dritten Kapitel zwei riesige Krähenschwärme beobachten, die „in einem seltenen, einem einzigen Schauspiele“31 über dem Campus Odini aufeinandertreffen und sich gegenseitig in einem mörderischen Kampf weitgehend vernichten. Diese gerade in der neueren Raabe-Forschung, noch nicht dagegen in der zurzeit erst wieder erwachenden Schaper-Forschung ausführlich interpretierte Schlacht der Vögel weist bemerkenswerte Parallelen und Abweichungen bei beiden Autoren auf. Wie bereits vor einigen Jahrzehnten Walther Killy festgestellt hat, bilden trotz zum Teil wörtlicher Übernahme von Wendungen aus den historischen Quellen diese bei Raabe keinen Realismus, sondern Zeichen. Denn „ohne jede Bezüglichkeit auf historische Quellen“32 berichtet Raabe, wie der Klosteramtmann von Amelungsborn und der emeritierte Lehrer ein ebenso seltenes wie gewaltiges Zeichen am Himmel beobachten, nämlich die „Schlacht der Raben, der Vögel Wodans über Wodans Felde“.33 Die Anwendung dieses Zeichens auf die folgenden Ereignisse liegt nahe. Am Ende der geschilderten 24 Stunden findet der Magister den von der Rabenschlacht mitgebrachten, verwundeten Vogel in seiner Zelle vor und entlässt ihn mit den Worten ins Freie: „Oh Kreatur, ach Rab, wohl ist dein Zeichen Wahrheit geworden! Sie liegen bei deinen Kameraden in Campo Odini und
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Wilhelm Raabe, Das Odfeld. Eine Erzählung (Reclam ÜB Nr. 9845), Stuttgart 1995, S. 26. Walther Killy, Raabe. Das Odfeld, in: Benno von Wiese (Hrsg.), Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte, Düssendorf 1965, S. 128-145; hier: S. 130. 33 Raabe, Das Odfeld (wie Anm. 30), S. 28. 32
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weit rundum verstreuet, meine Brüder und unter ihnen meiner Seele Sohn im jammerhaften Saeculo.“34 Nach Killy bezieht Raabe ununterbrochen die gegenwärtige Stunde auf vergangene Zeiten – „die Einmaligkeit des Augenblicks wird relativiert, indem sie sich als bloße Wiederholung vergangener Augenblicke enthüllt.“35 Er behandle die Realität „nicht um ihrer selbst willen [...] Die Handlung eröffnet Einsichten, welche über sie hinausweisen, die Erscheinungen der Wirklichkeit haben einen uneigentlichen, den vom Dichter ermöglichten Kunstcharakter.“36 Bei Raabe trete in seinen späteren Werken an die Stelle des Natursymbols – außer der Metapher – das Kunstsymbol. „Die topographischen Orte im ‚Odfeld‘ sind in dem Maße symbolische Orte, wie sie geschichtliche Orte sind. Das ewig Gültige wird als in der Geschichte Dauerhaftes sichtbar und relativiert eben dadurch die einmalige Besonderheit, ohne sie aufzuheben.“ „Nicht die Wahrheit der Realien wird von Raabe vorgeführt, sondern die Wahrheit der Zeichen, als welche die Realien sich erweisen. Deshalb ist das ‚Odfeld‘ ganz anderer Natur als die historische Fiktion des späteren 19. Jahrhunderts. Das Studium der Geschichte legt die Zeichen bloß. Nur insofern das Gegenwärtige und das Vergangene den Charakter des Zeichens zu haben vermögen, werden sie von Raabe aufgenommen.“37 Über die Quellen der Rabenschlacht in Wilhelm Raabes Erzählung haben Erich Weniger38 und zuletzt detailliert Helmuth Mojem39 herausgearbeitet, dass ihre Darstellung zurückgehe auf Vorbilder bei Plutarch (Schilderung des Marsches Alexanders nach Babylon), bei Rabelais und Poggio sowie in der SagenLiteratur des 19. Jahrhunderts; unmittelbar und nachweislich angeregt sei sie aber durch das Versepos von Annette von Droste-Hülshoff „Die Schlacht im Loener Bruch“. Eine bemerkenswerte Analogie bilde „ihr Charakter als Omen für das Gefecht der Menschen am folgenden Tag“; bei beiden würden dem „dort stattfindenden, realen Kampf diverse Erscheinungen in der Luft assoziiert, die teils metaphorisch aufgefaßt werden müssen, teils als Visionen, teils auch – im Rahmen der Fiktion – als wirklich zu verstehen sind.“40 Den Expeditionsteilnehmern in Schapers Roman kommt das Verhalten der „mordlustigen“ Vögel „erstaunlich menschenähnlich“ vor, und sie haben das ___________ 34
Ebd., S. 227 f. Killy, Raabe. Das Odfeld (wie Anm, 31), S. 133. 36 Ebd., S. 134. 37 Ebd., S. 144. 38 Erich Weniger, Die Quellen zu Wilhelm Raabes „Odfeld“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1966, S. 96-124. 39 Helmuth Mojem, Über die Quellen der Rabenschlacht im „Odfeld“ Wilhelm Raabes, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1990, S. 50-73. 40 Ebd., S. 53. 35
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Gefühl, einem Ereignis beigewohnt zu haben, bei dem „unwägbare Kräfte mitgewirkt hatten, geheimnisvolle Zusammenhänge, die mit unseren Maßen für die Materie nicht zu messen sind“.41 Wissenschaftliche Erklärungsversuche werden nur ansatzweise unternommen. Auch in Wilhelm Raabes Erzählung könne der Kampf der Vögel wohl, wie der Autor schreibt, für den nüchternen, jeden empirischen Wissenschaften zuneigenden Menschen seiner Zeit interessant sein und ornithologisch erklärt werden – „wir aber halten uns [..,] einzig an das Prodigium, das Wunderzeichen, und danken für alle fachwissenschaftliche Belehrung: wir lassen uns heute noch gern da an den Zeichen in der Welt genügen, wo Besserunterrichtete ganz genau das Genauere wissen.“42 Für Raabe bildete nach eigener Aussage die Rabenschlacht „als großes Portentum die symbolische Ouvertüre der Erzählung“43, und er übernahm von den literarisch gestalteten Vogelschlachten als wesentliche Elemente das Prodigium, die Schlachtordnung in den Lüften sowie die darauf folgende Schlacht der Menschen. Bei Schaper nun finden sich dieselben Elemente mit der Abwandlung, dass es sich bei ihm um Wellensittiche/Sperlinge statt um Raben und Krähen handelt, dass sich die australischen Vögel bis zum „letzten Kämpferpaar“ gegenseitig vernichten, dass die „Schlacht der Menschen“ unter einer kleineren Anzahl, wenn auch mit entsprechender Intensität geführt wird und dass vor allem die bei Raabe bereits bei der Beoachtung erfolgende Gleichsetzung mit menschlichen Heeren fehlt. Auch ohne nähere Kenntnis entsprechender archivalischer Materialien – etwa aus dem Schaper-Nachlass – sei hier auf einige weitere vergleichende Aspekte hingewiesen, wie sie Mojem abschließend anführt: „Die Entstehung eines poetischen Bildes, gar eines so komplexen und vielschichtigen Zentralsymbols, in der Vorstellungswelt eines [...] Autors nachzuvollziehen [...], ein solches Unterfangen muß notwendig an Grenzen stoßen, die von so unwägbaren Größen wie dichterischer Inspiration oder poetischer Empfindungsfähigkeit gezogen sind. – Es ist aber vielleicht nützlich, sich zu vergegenwärtigen, daß Literatur in manchen Fällen – wie dem vorliegenden – ausschließlich aus Bildung hervorgeht, freilich genial daraus gestaltet ist, daß Bücher – gerade bei gelehrten Autoren – eben wieder aus Büchern gemacht sind, daß gute Schriftsteller vor allem gute Leser sind.“44
In seiner schriftstellerischen Arbeit lasse er sich nicht von einer „Absicht“ oder „Aufgabe“ leiten – diese Arbeit gehe vielmehr unter dem Zwang von Umständen vor sich, die er selbst nicht begreifen könne, äußerte Schaper ein___________ 41
Schaper, Sperlingsschlacht (wie Anm. 6), S. 28. Raabe, Das Odfeld (wie Anm. 30), S. 28. Nach Weniger, Quellen (wie Anm. 37), S. 112. 44 Mojem, Über die Quellen (wie Anm. 38), S. 72 f. 42 43
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mal. Er hat in seiner Jugend und in seinem Leben mehrmals Unsicherheit, Ungeborgenheit der Existenz, materielle Not in Kauf genommen, um sich „für eine andre Bindung freizuhalten“ – den „Drang zum Darstellen“.45 Dabei stand er in einem „responsablen Familienverhältnis“ zu allen Figuren, die in seinen Werken auftraten. Er arbeitete intensiv an Recherchen, mit aktenkundigem Quellenmaterial ebenso wie mit Gesprächen mit letzten Überlebenden als „eine lebendige Quelle, aus der ich das speisen konnte, was mir zur Nahrung dieser Arbeit noch gefehlt hatte.“ Dieses „responsable Familienverhältnis“ zu seinen Figuren zeigt sich in der häufigen Wiederaufnahme von Motivsträngen und in der Verfolgung des weiteren Schicksals seiner Personen in späteren Werken – gelegentlich bis zu Fortsetzungen bzw. Abwandlungen früher aufgenommener Themen und Handlungen reichend.46 Für das Spätwerk soll das an zwei Beispielen nachgewiesen werden. So nimmt Schaper das Hexenmotiv, das den Mittelpunkt seiner Erzählung „Dragonergeschichte“47 von 1962/63 bildete, im Roman „Am Abend der Zeit“ als Bericht des Nachfahren Traubenberg in einem längeren Gespräch mit Zofja (S. 53-69) wieder auf: Der erste Traubenberg, „von dem man so etwas wie eine innere Geschichte, wenigstens andeutungsweise“, wisse, focht im Dreißigjährigen Krieg und wurde als Inspekteur ins Elsass gesandt, da bitterste Klagen der Bevölkerung „über die Aufführung der Dragoner“ laut geworden waren. Während seiner Erzählung beschäftigt Traubenberg, der ebenfalls Dragoner ist, „etwas, was ihm für sein Leben unversehens wie eine Fabel vorkam.“ (S. 54) Denn ihm ging noch ein anderes Unrecht auf, „ein schreiendes Unrecht, und dies wiedergutzumachen oder noch Schlimmeres zu verhüten, machte er sich ebenfalls zur Pflicht, nachdem er sich vom Recht vergewissert hatte, das wiederhergestellt werden musste, soweit dies nun für ihn möglich war“ – neben seinem „Quartier in einer alten Ordenskomturei“ wird eine Frau als Zauberin und Hexe gefangengehalten. „Er muß in dergleichen Belangen schon damals so nüchtern gewesen sein, wie man es uns Balten heute nachsagt (obwohl unsere Vorfahren daheim in jenen Zeiten des Hexenwahns auch nicht ganz wenig auf ihr Gewissen genommen haben), denn er verwandte sich unverzüglich für die Gefangene“. Die Bedauernswerte ist bereits zum Feuertod verurteilt, und Schaper äußert sich bei ___________ 45
Besch, Gespräche (wie Anm. 2), S. 17 f. In diesem Zusammenhang wurde explizit von „Fortsetzungsroman“ („Die sterbende Kirche“ – „Der letzte Advent“) und „Doppelroman“ („Die Freiheit des Gefangenen“ – „Die Macht der Ohnmächtigen“) sowie von „Abwandlungen der eigenen Werke“ („Der Mantel der Barmherzigkeit“ – „Der Gouverneur“) gesprochen. Vgl. Gisela Rüdiger, Edzard Schaper (wie Anm. 21), S. 89 f. 47 In: Edzard Schaper, Geschichten aus vielen Leben. Sämtliche Erzählungen, Zürich und München 1977, S. 575-619. 46
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dieser Gelegenheit ironisch, ja sarkastisch über die theologische Praxis, wenn er sagt: „Die Herren Theologen waren sich nämlich nicht einig, ob sie mit dem Kinde unter dem Herzen oder mit dem Kinde im Arm auf den Scheiterhaufen steigen – oder ob gar das Kind, wenn seine Mutter es erst einmal zur Welt gebracht hatte, von der Strafe ausgeschlossen bleiben sollte, weil es nach theologischen Kalkülen vielleicht keinen Anteil an der Schuld seiner Mutter habe.“ (S. 55)
Nach dem endgültigen Urteil erbittet Traubenberg Urlaub und antwortet auf die Frage seines Marschalls, ob es sich „um eine Sache der Ehre oder der Liebe handle“, – „Der Wahrheit“. Traubenberg befreit die Frau und ihr Kind und bringt sie in ihre lothringische Heimat. Dabei erfährt er ihr Schicksal: die als Adlige im Kloster Lebende wurde wegen ihrer Liebe zu einem Offizier, der vor der Hochzeit fiel, verstoßen, wurde Landstörzerin und schließlich „von Neid und übler Nachrede verfolgt“ als Hexe angeklagt. – Nach seiner Rückkehr wird Traubenberg vom Marschall zur Rede gestellt wegen der Überschreitung des Urlaubs, er habe „zu ungelegenster Zeit der Wahrheit im Elsaß dienen wollen.“ Nach Anhören des Berichts aber sagt er: „Es lohnt die Wahrheit – und die Wahrheit wird lohnen!“, was als Devise „Praemium dat veritas, veritas est praemium“ seit 1643 fortan ins Wappenschild der Traubenbergs aufgenommen wurde. Deutliche Bezüge finden sich auch zwischen den Romanen „Am Abend der Zeit“ und „Der Henker“: Traubenberg wird „dem ihm ungemein sympathischen Rittmeister Charusin zugeteilt [...], einem sehr nachdenklichen, etwas melancholischen, durch und durch kultivierten Mann“ (S. 102). Dieser Charusin hatte im Dezember 1905 als junger Oberleutnant einen Zug der Schwadron des Rittmeisters Graf Ovelacker auf der Strafexpedition in Nordlivland geführt.48 Auf die Äußerung im Zusammenhang mit Traubenbergs Beziehung zu Zofja – „Man nimmt etwas auf sich, wenn man sich mit diesem Lande verbindet. Aber wo tut man das nicht? Ich kenne Ihre Heimat“ S. 136) – berichtet er von jener Abkommandierung zur Strafexpedition. „Ich kenne die Probleme von dorther in ihrer ganzen fürchterlichen, ich möchte beinahe sagen mörderischen Härte, wenn sie jemanden bedrängen, der im Waffenrock noch ein Mensch geblieben ist.“ Charusins Bericht enthält zugleich eine umfassende Zeitanalyse, die Traubenberg teilt: Der ehemalige Schwadronschef Graf Ovelacker habe damals sein Erbe angetreten,
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Schaper, Der Henker (wie Anm. 7), S. 17.
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„ausgerechnet dort, wo wir als Kriegsrichter am härtesten hatten strafen müssen. Aber er hat das Erbe angetreten und lebt seitdem verfemt auf seinem Besitz, von Attentätern umzingelt, von seinem eigenen Stand und dessen Vertretern der politischen Opportunität, wie von der modernisierten kaiserlich-russischen Regierungsgewalt, um der liberalen Reformen willen, verleugnet. Eine Art Märtyrer der Pflicht. Und hier? Hier wird es fürs erste nicht so schlimm werden, denn die Sache der Revolution ist hier auch und alter Tradition gemäß eine Sache des Adels. Dagegen, daß Sie Karriere als Offizier machen könnten oder machen sollten, spricht nach meinem Dafürhalten, daß unser Stand verloren ist, jedenfalls unter dieser Fahne und in diesen Formen. So wie das ganze Zeitalter. Das alte Rußland, das wir uns eben noch ein wenig vorspielen, wird kleiner, viel kleiner werden und vielleicht am Ende nur in so vielen Herzen leben, die sich in einem Krieg oder, wahrscheinlicher, in einer Revolution werden retten können. Dann wird ein anderes Rußland kommen, ich habe keine Ahnung, was für eins, aber ein anderes. Vielleicht wieder groß, weil es die Ideen verwirklicht, die in der ganzen Welt gären. Und die Entscheidung wird der Krieg bringen [...]“ (S. 136 f.)
Später ergänzt Charusin in einem Brief an Traubenberg: „Mein ehemaliger Schwadronschef in den Zeiten der Revolution 1905 in den Ostseeprovinzen, Graf von Ovelacker, von dem ich Ihnen manches erzählt habe, soll, wie mir zu Ohren gekommen ist, seine beiden Güter verkauft haben, weil er der Vorsehung für seinen Leib und sein Leben nichts Unzumutbares hat zumuten wollen und weil er mit den Jahren auch keine Leute zur Arbeit mehr bekam. Er versucht seitdem, so anonym wie möglich zu werden, damit man den Führer des Strafdetachements, den Vorsitzenden des Feldgerichts und den ‚Henker‘ (alle drei für das Volk in seiner Person vereinigt!) vergesse. Noch hat er das Land seiner Väter nicht verlassen müssen, aber wer kennt die Zukunft! [...] Wie lange mag es bis zum großen ‚Austrieb‘ noch dauern? Wo immer Schlösser stehen, werden sie als die Bastionen eines untergehenden Zeitalters geschleift werden, fürchte ich. Um so unabhängiger von irdischem Besitz muß der Geist beizeiten werden, um frei bleiben oder frei werden zu können.“ (S. 355)
Geradezu eine Kumulation erfährt das Zitieren bzw. die Wiederaufnahme früherer Personen in der Erzählung „Schattengericht“49 von 1967. Unter dem Motto der Grabschrift „Solange ich da bin, atmest du noch“ begegnet einem jungen estnischen Freiwilligen im finnischen Winterkrieg kurz vor seiner schweren Verwundung in einer Hütte „zwischen den Linien“ eine Reihe von Personen aus Schapers früheren Werken. Mit ihnen führt er ein Gespräch, u.a. auch mit einem ,,vornehme[n], blasse[n] Herrn“, der niemand anderes ist als ___________ 49
In: Edzard Schaper, Geschichten aus vielen Leben (wie Anm. 46), S. 657-718.
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der gealterte Graf Ovelacker aus dem „Henker“ und der über sein weiteres Schicksal bis zu diesem Zeitpunkt berichtet.50 Edzard Schaper wurde an einer Grenze zwischen Völkern und Kulturen geboren und überschritt im Laufe seines bewegten Lebens zahlreiche Grenzen. So zieht sich dieses Phänomen „wie ein roter Faden“ durch sein Leben und Werk.51 Die Grenze wird ihm aber neben „Einschränkung, Rand und Gefahr“ ebenso zum „Ort, von dem aus allein Mitte und wahres Wesen wieder zugänglich scheinen“. Dabei geht es ihm nicht um eine Parteinahme für ein Diesseits oder Jenseits der Grenze, sondern diese wird ihrerseits selbst zum Problem und die „ausweglose geschichtliche Begrenztheit zum Sinnbild“. Damit wird das Leben an der Grenze zum Leben in der Tiefe, die Grenze ist ihm nicht nur Symbol des Aufeinanderstoßens zweier irdischer Machtbereiche, sondern auch „Begegnung irdischer und himmlischer Gerichtsbarkeit“. Der Mensch in Grenzsituationen wird zu Schapers dominierendem Thema.52 Die Schärfe des Einschnitts geschichtlicher Zäsuren hat Reinhold Schneider einmal dadurch relativiert, dass er den Sinn jedes Unterganges darin erblickte, dass „ein Dichter die Grabschrift schreibt“. Dieses Wort aufnehmend, äußerte Werner Bergengruen die Überzeugung: „Der Geschichtskundige weiß, daß Geschichte nicht nur das Vergangene ist, sondern alles das, was um uns her geschieht und nach uns geschehen wird, ein ewiges Absterben und ein ewiges Aufkommen neuer Gestaltungen. Und der Dichter schreibt die Grabschrift“.53 Eben das hat auch Edzard Schaper in seinem schriftstellerischen Werk getan. Er tat es für Regionen und Völker Ostmitteleuropas in jenem Sinne, wie er für das Beispiel der baltischen Länder formuliert hat. Aus der wechselvollen und an Spannungen überreichen Geschichte lasse sich „die eine überzeitliche Lehre als sittliche Erkenntnis mitnehmen: „Wie nahe auch zwischen Völkern Leben und Tod [...], daß am Ende doch immer als einziges die Schicksalserfahrung als Gotteserlebnis steht.“54 Am Ende des Romans „Sperlingsschlacht“ äußert der Autor: „Die Ergebung in ein unbegreifliches Geschick setzt keine geringere Kraft als die Auflehnung dagegen voraus. Es ist eine Frage des Lebensalters und der Erfahrung, wie wir uns vor dem Unbegreiflichen verhalten.“55 Schapers großes Thema ist das Rätsel des immer nur geschichtlich lebenden Menschen – in dessen Denken, Han___________ 50
Ebd., S. 699 f., 704. Zum Motiv der Grenze vgl. besonders Max Wehrli, Edzard Schaper, in: Edzard Schaper, Untergang und Verwandlung. Betrachtungen und Reden. Geleitwort von Max Wehrli (Sammlung Gestalten und Wege), Zürich/München 1952, S. 131-156; hier: S. 136-140. 52 Vgl. hierzu Rüdiger, Edzard Schaper (wie Anm. 21). 53 Bergengruen, Mündlich gesprochen (wie Anm. 1), S. 107. 54 Edzard Schaper, Die baltischen Länder im geistigen Spektrum Europas, o. O. (1964), S. 2. 55 Schaper, Sperlingsschlacht (wie Anm. 6), S. 259. 51
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deln und Glauben erkennt er „ein übermenschliches, nur bruchstückhaft zu ahnendes Drama vor den Augen Gottes“56. Dieses versucht er in seinem Werk von der Grundlage eines christlichen Humanismus her zu deuten.
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Wehrli, Edzard Schaper (wie Anm. 50), S. 155.
Die Ostkirche im Werk Edzard Schapers1 Von Iso Baumer I. Einleitung Ich kann hier nicht das Gesamtthema „Edzard Schaper und die Ostkirche“ abhandeln; dazu müsste ich viel mehr von seiner Biographie wissen und auch Essays und Radiovorträge und sofort miteinbeziehen. Ich beschränke mich daher vor allem auf sein erzählerisches und dramatisches Werk und frage: Welches Bild der Ostkirche zeigt sich darin? Ist sie nach ihrem Eigenverständnis richtig dargestellt? Welche dichterischen Absichten, und das sind bei ihm zugleich auch weltanschauliche, verfolgt Schaper mit seinen Schilderungen? Diese Fragen stehen im Hintergrund der folgenden Überlegungen, ohne dass sie als solche artikuliert würden. II. Ein Beispiel für die Gesamtproblematik: „Der Aufruhr des Gerechten“ Das Buch, mit dem Untertitel „Eine Chronik“ – also mit dem Anspruch, wirkliche Ereignisse zu schildern –, erschien 1963 bei Hegner in Köln, ein schmaler Band von 188 Seiten. Die Geschehnisse spielen sich zwischen 1930 und 1940 in Estland ab. Die politische und kirchliche Situation wird darin mit einer hohen Authentizität geschildert, verschiedene Formen, das Christentum zu leben, werden fesselnd vorgestellt, und die Hauptthemen des gesamten Werks Schapers zeigen sich darin. 1. Die politische Situation Estlands Estland ist seit 1918 freie Republik, muss sich aber noch zwei Jahre gegen das bolschewistische Russland wehren, das dauernd gefahrdrohend präsent bleibt. 1934 werden nach einem Staatsstreich die demokratischen Freiheiten eingeschränkt. 1939 werden die Baltendeutschen aufgrund des Hitler-StalinPaktes mit seinen geheimen Zusatzprotokollen umgesiedelt. Am 17. Juni 1940 ___________ 1 Erstveröffentlichung in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Sonderheft: Edzard Schaper, 5. Folge, Tartu 1998, S. 76-90. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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marschiert die Rote Armee in Estland ein, und sofort beginnen die Massendeportationen nach Sibirien. Im Juli 1941 besetzen deutsche Truppen Estland, im Juli 1944 kehren die Sowjetrussen wieder zurück. 2. Die kirchliche Situation Estlands2 Sie ist die Folge der Geschichte des Landes, das seit Ende des 12. Jahrhunderts von Norddeutschland aus missioniert wurde. Diese römisch-katholische Christianisierung ging nur mit Rückschlägen vor sich. Die lutherische Reform erfasste das ganze Land schon früh (ab 1522), wenn auch erneut mit Widerständen, Dorpat blieb noch bis 1540 altgläubig. Die Gegenreformation hatte in Estland keine Aussicht, hingegen fanden Pietismus und Herrnhuter vor allem im 18. Jahrhundert Verbreitung. Die russische Oberhoheit ab 1710 führte nicht sofort zu einer generellen Einführung des orthodoxen Glaubens; dies geschah erst im 19. Jahrhundert, und zwar gleich massenweise durch – man würde es heute so nennen – Proselytismus, d. h. Abwerbung der Gläubigen einer andern Konfession, hier auch noch unter Ausnützung einer Notsituation, denn für die hungernde Bevölkerung erschien die russische Kirche als die Kirche der Armen gegenüber der lutherischen Herrenkirche der deutschen Gutsbesitzer. Parallel zur Vermehrung der Gläubigenzahl ging der Aufbau der Hierarchie. Diese Kirche war ganz selbstverständlich ein Glied der russischen orthodoxen Kirche; 1701 hatte Peter der Große das Patriarchat abgeschafft und einen Heiligen und dirigierenden Synod unter der Aufsicht eines kaiserlichen Oberprokurors nach dem Vorbild protestantischer Kirchenverfassungen eingesetzt; dieser Zustand dauerte bis 1917, als wieder das Patriarchat eingesetzt wurde. In Estland löste sich nach der Befreiung auch die Kirche wieder von Russland und unterstellte sich 1923 dem Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel, das ihr das Autonomie-Statut verlieh; sie nahm den Namen „Estnische apostolisch-orthodoxe Kirche“ an und führte das Estnische als Liturgie-Sprache ein, was aber zu Spannungen mit russischstämmigen Orthodoxen führte, die das Alt-Kirchenslavische beibehalten und überhaupt Moskau unterstellt bleiben wollten. Parallel zu den politischen Konstellationen war die orthodoxe Kirche 1939-42 effektiv wieder Moskau zugehörig, 1942-44 unter deutscher Besatzung erneut Konstantinopel, von da an wieder Moskau, wobei die systematische Russifizierung des Landes auch die Kirche betraf. 1990 wurde ihr von Moskau aus eine Teil-Autonomie zugestanden, was der inzwischen im Ausland etablierten und wieder zurückgekehrten „Estnischen apostolisch-orthodoxen Kirche“ nicht genügte, die sich wieder Konstantinopel als Mutterkirche wählte. Auf die seitherigen Streitereien kann hier nicht mehr eingegangen werden. ___________ 2
Nach Theologische Realenzyklopädie (TRE) 5 (1979) S. 145-159.
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Über die statistischen Verhältnisse der Kirchen macht Schaper in seinem Buch präzise Angaben: von 1 200 000 Einwohnern waren 800 000 Lutheraner (oder Sektierer), mehr als 250 000 Orthodoxe, von denen sich eine Anzahl Altgläubige abhoben; der Rest, also 150 000, verteilte sich auf Juden, Mohammedaner und andere Konfessionen (19 – Seitenangaben aus Schapers Buch werden ohne weitere Angaben in Klammern gesetzt). Schaper spricht auch „die Empfindlichkeiten zwischen estnischen und russischen Orthodoxen“ an. Überdies gibt es noch eine Gruppe Altgläubiger, die in geschlossenen Siedlungsräumen wohnen (19). Die Mehrzahl der orthodoxen Gläubigen – etwa 3/5 – wie der Pfarreien war estnisch, die Minderzahl russisch.3 An einem Beispiel konkretisiert Schaper diese Spaltung innerhalb der orthodoxen Kirche: der junge und etwas exzentrische Abt des Klosters Petschur russischer Obödienz überwarf sich mit der Kirchenleitung des estnischen orthodoxen Metropoliten (50), dem auch ein eigener Synod für die Leitung der Kirche zur Seite stand. Ergänzend zu Schapers Statistik wäre darauf hinzuweisen, dass die Katholiken noch 1940 kaum 3000 an der Zahl waren, also weniger als 1/2 % ausmachten; es waren weitgehend Polen oder Deutsche. 14 Priester betreuten in sieben Pfarreien diese alle zum lateinischen Ritus gehörigen Katholiken. Zu diesen lateinischen Katholiken kommt eine Handvoll Katholiken des byzantinischen Ritus, den sie also mit der orthodoxen Kirche teilen. Das hat damit zu tun, dass die katholische Kirchenleitung in Rom nach der bolschewistischen Revolution Morgenluft witterte und eine Möglichkeit sah, die zerfallende russisch-orthodoxe Kirche in die eigene „zurückzuführen“, wie es etwas euphemistisch hieß.4 Zu diesem Zweck wurde 1929 das Päpstliche Russische Kolleg gegründet, das Priester ausbildete, die bei passender Gelegenheit nach Russland eingeschleust werden sollten, um dort die Orthodoxen zum Übertritt zur katholischen Kirche zu bewegen. Der Sitz des Russicums ist gerade neben dem Päpstlichen Orientalischen Kolleg, das weitere Aufgaben im Bereich der sämtlichen orientalischen Kirchen – und zwar rein wissenschaftlicher Ausrichtung – wahrnimmt (gegründet 1917, dahin verlegt 1926).5 Das ganze Unternehmen war, wie man heute auch katholischerseits zugibt, theologisch-ekklesiologisch fragwürdig und politisch gänzlich utopisch. ___________ 3 Reginald Sorokin, Die Orthodoxie in Estland. Ihre geschichtliche Entwicklung und heutige Unionsbemühungen, in: Der christliche Orient, 2 (1937), Heft 4, S. 102-105; Länderbericht: Estland, in: ebd. 4 (1939) H. 3, S. 88-90; G2W 21 (1993) Nr. 11, S. 23; TRE 5, S. 155. 4 Walter Kolarz, Die Religionen in der Sowjetunion. Überleben in Anpassung und Widerstand, Freiburg, Basel, Wien 1963 (v.a. 176-243); Eduard Winter, Russland und das Papsttum, 3 Bände, Ostberlin 1960-72; ders., Rom, Moskau, Wien 1972; Antoine Wenger, Rome et Moscou 19001972, Paris 1987; Hansjakob Stehle, Geheimdiplomatie im Vatikan. Die Päpste und die Kommunisten, Zürich 1993. 5 Oriente Cattolico. Cenni storici e statistiche, Città del Vaticano. 4a ed. 1974 (ed. Sacra Congregazione per le Chiese orientali); La Sacra Congregazione per le Chiese orientali nel cinquantesimo della fondazione 1917-1967, Roma 1969.
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3. Die Kirchen und ihre Vertreter Zuerst eine Übersicht: Katholiken: Hauptpersonen sind zwei katholische Priester des slavischbyzantinischen Ritus, aus Wallonien gebürtig, aber in Flandern aufgewachsen6, Vettern, sehr verschieden im Charakter, aber sich wunderbar ergänzend. Kirchlich ist für sie der römisch-katholische Erzbischof von Tallinn (genauer müsste man sagen: der Apostolische Administrator) zuständig, ein deutscher Rheinländer von Geburt. Die Verbindung zur Zentrale in Rom stellt ein Nuntius her, der bei der estnischen Regierung akkreditiert ist. Die Aufgabe der beiden Belgier kompliziert sich mit der Ankunft von vier holländischen Priestern, diesmal des lateinischen Ritus, im Herbst 1938, denen nach einigen Monaten weitere vier folgen. Orthodoxe: Die orthodoxe Kirche tritt im Erzpriester Venjamin in Erscheinung, der anfänglich zu den beiden Katholiken ein freundliches Verhältnis pflegt – er stellt ihnen ein verlassenes Kirchlein zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit zur Verfügung –, bis es ihm vom Bischof unter Androhung des Interdikts verwiesen wird (34); dieser Priester hat übrigens die Seelsorge stark vernachlässigt. Eine orthodoxe Frau estnischer Nationalität ist derart gegen die Russen eingenommen, dass sie lieber den Glauben der beiden belgischen Priester annimmt als weiterhin im russisch dominierten Glauben ihrer Kirche zu verweilen; sie ist die Estnisch-Lehrerin der beiden Priester (51). Aber auch ein anderer Aspekt wird kurz erwähnt: in Narwa gab es „eine Reihe sehr tatkräftiger, junger orthodoxer Priester, die – eine Seltenheit! – Sinn für die sozialen Aspekte ihrer Gemeindearbeit besaßen“ (25). Lutheraner: Die lutherische Kirche ist in Herrn von B. gegenwärtig, einem Laien, aus gutem altem Beamten-Adel deutscher Abkunft, der in größter Armut rastlos für das Evangelium wirkt, eine Art Laienmissionar also, übrigens der russisch-orthodoxen Kirche eng verbunden (32) und dann schließlich vor allem einem der beiden Vettern zu innerst tief verwandt, indem dieser, Pierre-Marie, von ihm den vom Gewissen diktierten Entscheid zum Verbleiben bei den Gläubigen übernimmt. Und nun, ganz kurz zusammenfassend, die „Chronik“: Die beiden Belgier werden nach ihren Studien in Rom (es wird nicht gesagt, aber es kommt nur das Russicum bzw. das Collegium Orientale in Frage) von der Kongregation für die Ostkirchen (eines der kirchlichen Dikasterien) nach ___________ 6 Die Nationalität der beiden wird nicht ganz klar: einmal heißt es, sie seien „Holländer von wallonischem Geblüt“ (113), ein anderes Mal ist die Rede von ihren „flandrischen Ebenen“, auf denen sie sogar in Soutane Rad zu fahren pflegten (17).
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Estland geschickt, um dort unter den Orthodoxen zu wirken, und zwar unter Beibehaltung des byzantinischen Ritus in der Zelebration der Liturgie. Sowohl die beiden Priester wie der weise Erzbischof wollen die Sache nicht übereilen und ganz vorsichtig vorgehen, um niemanden zu brüskieren. Die Situation verschärft sich sofort mit der Ankunft der Holländer, die von Charakter und geistiger Ausrichtung her richtige Kreuzritter sind und die Bekehrung mehr als Eroberung denn als geistige Überzeugung auffassen. Es trifft übrigens zu, dass holländische Kapuziner zu jener Zeit in Estland wirkten (Schaper hat wohl zur Schonung dieses Ordens die Fiktion aufgestellt, seine Holländer gehörten einer eben erst gegründeten neuen Kongregation an), und es trifft auch zu, dass ihre Bekehrungsversuche lächerlich gering waren.7 Die beiden Belgier machen nun ganz unvorhergesehene Erfahrungen: einmal die mit ihrer orthodoxen estnischen Sprachlehrerin, die ganz von glühendem Glauben erfüllt ist, und dann mit dem lutherischen Herrn von B. Die Eifersucht der holländischen Glaubensbrüder, die für sich ein eigenes Bekehrungsterritorium beanspruchen und darum die Belgier zurückdrängen wollen, bringt den Erzbischof auf den Ausweg, den beiden Vettern die Studentenseelsorge in Dorpat anzuvertrauen, wo v.a. Pierre Marie kulturell-weltanschauliche Vorträge mit großem Erfolg hält. Im Zusammenhang mit einem Thema über den französischen Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) vertieft er die These, dass das Heil manchmal auch im Widerspruch bestehen kann, wenn es die Umstände und das Gewissen diktieren. Hier handelt Schaper wieder eines seiner zentralen Themen ab, wie er es ein Jahr vor der Publikation von „Der Aufruhr des Gerechten“ in seiner Radio-Vortragsreihe „Wagnis der Gegenwart“ mehrfach antönt mit Titeln wie „Entscheidung und Geschehen“, „Vom Widerstehen ins Angesicht“, „Die Revolution gegen die Reformation“, „Das Heil im Widerspruch“ (und hier ausdrücklich auf Jan Hus und Blaise Pascal bezogen). Diese grundsätzliche Haltung muss auf Widerstand prallen: einmal in der gegebenen politischen Situation, die alles kopfüber stellt, und dann gegenüber der Kirchenleitung, die bei Kompetenzstreitigkeiten eher auf Vermittlung denn auf Konfrontation bedacht ist. Allerdings unterstreicht Schaper sehr deutlich, dass der römische Zentralismus der katholischen Kirche mit wachsender Entfernung von Rom auch eine wachsende Realitätsferne bedeutet – am grünen Tisch wird dort analysiert und entschieden, was man besser den Ortskirchen überließe. Anderseits steht Pierre-Marie nicht mit der Lehre seiner Kirche im Widerspruch, sondern nur mit einzelnen ihrer disziplinarischen Entscheide.
___________ 7
Vgl. die in den Anmerkungen 1-5 genannten Quellen.
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4. Die Themen Schapers Die in allen Vor- und Nachworten zu Schapers Büchern und in allen Studien über sein Werk erwähnten Hauptmotive scheinen auch hier auf: – die Grenze zwischen Ländern und Kirchen und Menschen und ihren Schicksalen, – die Zelle als Symbol des einsamen Gewissensentscheids (in unserem Buch die Waldhütte, in der Gaston und Pierre-Marie hausen), – das Martyrium als Überstieg der Grenzen. Sowohl Pierre-Marie wie der Erzbischof werden nach dem Einmarsch der Sowjets mit einer Unzahl anderer Leute, v.a. auch bedeutender Esten, in ein Lager eingeliefert, das man ruhig als Vernichtungslager bezeichnen könnte, und dort sei, wie man erfährt, „von diesem Bischof und dem Pater und lutherischen Pastoren wie orthodoxen Priestern ein geistliches Leben in diesem riesigen Lager, unter ständiger Gefahr, entdeckt und bestraft zu werden, wachgehalten worden.“ (186) Schaper schmuggelt hier übrigens wieder eine seiner Personen aus einer früheren Geschichte ein, den Rittmeister Mitterhusen aus der Erzählung „Hinter den Linien“, an deren Ende sein Schicksal offen geblieben war. Von ihm heißt es in unserer Chronik: „Der finnische Offizier sei dabei – bei diesen interkonfessionellen Gottesdiensten im Lager – so etwas wie ein Sakristan aller Konfessionen gewesen, und auf die Art des Gesangbuchs habe man dort nicht mehr so eifrig geachtet wie zu Haus“ (186). Hier klingt wieder das Hauptthema Schapers an: die Einheit der Kirchen. Ihre Unterschiede, in der heilen Welt übermäßig aufgebauscht, reduzieren sich – etwas abschätzig gesagt – auf die Verschiedenheit des Gesangbuchs! Tatsache ist, dass wir aus den Gefängnissen und Lagern der totalitären Staaten, sei es Nazi-Deutschlands oder der kommunistischen Länder, viele Beispiele antizipierter Ökumene kennen, die die Amtskirchen jeder Couleur bei der Rückkehr sogenannt normaler Verhältnisse die größte Mühe haben anzuerkennen und weiterzuführen; üblicherweise werden sie rückgängig gemacht, und die Ökumene wird aus der gelebten Praxis in die unverbindlichere Theorie der Dialoge übergeführt. III. Welche Aspekte der orthodoxen Kirche zeigt Schaper? Wenn Schaper von einer bestimmten Kirche spricht, etwa von der orthodoxen, meint er eigentlich alle, weil es für ihn nur eine Kirche gibt. Und wenn er von den Kirchen spricht, den vielen oder der Einen, dann meint er darin den Einzelnen, der für sich und alle anderen die Verantwortung übernimmt, die ihm zufällt. Das ist schon eine Vorwegnahme meiner Konklusion, aber sie ist wichtig für die Überlegungen dieses Abschnittes.
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Ich muss noch eine zweite Vorbemerkung machen: Ich werde zeigen, wie Schaper das Wesentliche an der orthodoxen Kirche richtig erfasst und darstellt; aber es unterlaufen ihm gelegentlich Fehler in Einzelheiten, die ich nicht unterschlagen möchte. So sagt er in „Die sterbende Kirche“ (SK) vom Diakon Sabbas, er sei noch nicht lange Priester (20). Die orthodoxe wie auch die katholische Kirche unterscheiden genau zwischen Diakon und Priester, das sind zwei verschiedene Weihegrade mit verschiedenen Kompetenzen. In „Der letzte Advent“ (LA) fährt er dann fort, Sabbas Diakon zu nennen, obwohl der in der Zwischenzeit Priester geworden ist! Er gibt zwar eine oder zwei Begründungen dazu, doch ist die Sache sehr verwirrlich. Im ersten der beiden Romane erwähnt er, im Gefängnis habe der Priester Vater Seraphim dem mitgefangenen Diakon durch Handauflegung „die priesterliche Gewalt übertragen“ (SK 244). Nun ist aber die Priesterweihe ausschließlich dem Bischof übertragen, und mir ist nicht bekannt, ob in Notzeiten ein Priester sie vornehmen könnte. Aus „Der letzte Advent“ aber ergibt sich, dass Sabbas die Priesterweihe wie auch die Mönchsweihe im Kloster an der Grenze zwischen Estland und Russland empfangen hat (LA 339), bevor er zu seinem Dienst an den versprengten Gläubigen in Sowjetrussland aufbricht. Wenn Schaper – und zwar im Hinblick auf die orthodoxe Kirche – sagt, „allsonntäglich wiederholt das Messopfer unblutig das Erlösungswunder“ (SK 305), so ist jedes Wort daran rein römisch-katholisch, und zwar in der vorkonziliären Denkweise8, und gar nicht orthodox. Ganz ungewohnt ist auch der häufige Ausdruck „Kelch und Tisch“, der v.a. in „Die sterbende Kirche“ und in „Der letzte Advent“ häufig vorkommt; aus dem Zusammenhang kann nur der Kelch und die Patene gemeint sein; letztere heißt orthodox bei den Griechen und Russen aber „Diskos“ (eigentlich „die Scheibe“). Da bei Evangelischen insgesamt der Kelch unabdingbar ist und das Brot auf einem Tisch abgestellt wird, wobei dem Teller oder dem Tablett nicht die Bedeutung wie der Patene bei Katholiken und Orthodoxen beigemessen wird9, mag es sich beim Ausdruck Schapers um eine Eigenprägung handeln, die aber, jedenfalls auf Orthodoxe angewendet, fremd klingt. – Solche Versehen oder Ungenauigkeiten würde man noch manche finden, doch sie fallen nicht ins Gewicht, wenn man sieht, in welch tiefer Weise er Sinn und Geist der orthodoxen Kirche erfasst hat – allerdings auf seine Weise. Im übrigen ist Schaper äußerst gut dokumentiert, was bis in kleine Einzelheiten nachzuweisen wäre. Die Kirche ist bei Schaper vorwiegend eine sterbende Kirche, nicht nur im Roman, der diesen Titel trägt. Als Illustration könnte man auf eine ganz kurze Geschichte verweisen: „Epitaph für einen Patrioten“, die sehr schön den Ver___________ 8 „Vorkonziliär“ meint die Mentalität und Ausdrucksweise, wie sie in der katholischen Kirche vor dem II. Vatikanischen Konzil (1962-65) verbreitet war. 9 Freundliche Mitteilung von PD Pfr. Bruno Bürki, Neuenburg/Schweiz.
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weischarakter enthüllt, der das ganze Werk Schapers prägt: alles verweist auf alles. Eine sterbende Kirche – was ja nicht mit einer toten Kirche gleichzusetzen ist – ist auch eine leidende Kirche, an Haupt und Gliedern. Kirche meint ja nicht nur das Gebäude, sondern die ganze Gemeinschaft, und die verschiedenen Glieder an diesem Körper erleben auf verschiedene Weise die trübselige Realität. Ich kann hier darauf nicht näher eingehen – dieser Aspekt ist durch alle Werke Schapers leicht zu verfolgen – und möchte zu einem übergehen, der zu wenig beachtet wird. Diese Kirche ist nämlich auch eine feiernde Kirche – wenn auch auf armselige Weise. Sowohl in „Die sterbende Kirche“ wie in „Der letzte Advent“ wie in „Der große offenbare Tag“ usw. wird die Liturgie gefeiert, mit dem ganzen Aufwand an äußerem Prunk und liturgischen Gesängen, zu denen die verarmten Gemeinden noch imstande sind. Der liturgische Aspekt ist für die orthodoxe Kirche wesentlich, und die katholische Kirche weiß es auch wieder seit dem II. Vatikanischen Konzil; genau besehen spiegelt sich im Werk Schapers – vielleicht ohne dass er sich dessen genau bewusst war – das Zentralgeheimnis des Glaubens, das von Tod und Höllenfahrt und Auferstehung, also von Karfreitag, Karsamstag und Ostern. Karfreitag ist der Tag der hellen Verzweiflung, Karsamstag ist der Tag der Erwartung und zugleich des verborgenen Niederstiegs Christi in die Unterwelt, wie sie auf so vielen Osterikonen dargestellt ist, und erst Ostern bringt wieder die Hoffnung der Verheißung und die leuchtende Wirklichkeit des Sieges über Tod und Not. In dieser Kirchengemeinschaft aber spielen jeweils Einzelne in ihrem Gewissensentscheid eine große Rolle. Viele werden ohne ihr Zutun in die Vereinzelung gestoßen und müssen eine Verantwortung übernehmen, die sie oft überfordert, wie den Bischof Athanasius in „Die letzte Welt“, der dann allerdings für seinen Verrat sühnt. Er ist es, der die Situation sehr genau in bildhafte Worte fasst: „Man liebt es, uns alle, wie im Himmel, auf Goldgrund zu sehen. Aber jetzt wird, nach dem Leben, in Staubgrau und in Blut gemalt.“ (LW 191) Man wird es Schaper verzeihen, wenn er das Innere der orthodoxen Kirche nicht allzu genau beschreibt und vor allem die Ikonen höchstens pauschal in der Ikonostase, der Bilderwand zwischen Altar- und Versammlungsraum erwähnt: In diesem Satz hat er einen wichtigen Aspekt der Ikonentheologie aufgezeigt, nämlich den Abbild-Charakter der Ikone: sie ist Abbild eines Urbilds, und so muss sich der Mensch bemühen, auch eine Ikone – ein Abbild des Urbildes Christus, der selbst das Bild des Vaters ist – zu sein; üblicherweise wird das Abbild auf Goldgrund gemalt und damit ins Transzendente erhoben, die Alltags-Wirklichkeit kann allerdings dann den staubgrauen und blutigen Untergrund bringen.
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Die Kirche ist in Schapers Werk – oder sollte es sein – eine dienende Kirche. Sie hat alles Schaugepränge der Welt verloren, sie kann nur mehr im Kleinen und von Fall zu Fall das gerade Fällige tun, wie der zum Priester geweihte Diakon Sabbas in „Der letzte Advent“. Aber diesen Dienstcharakter seiner Kirche hat auch der Apostolische Administrator von Reval in „Der Aufruhr des Gerechten“ begriffen, der in der Rahmenerzählung ja immer ehrfurchtsvoll „unser Märtyrer-Erzbischof' genannt wird, und ebenso der Baron von B., der in der Armut um Christi willen lebte, was die russischen Okkupanten als beweiskräftiges Indiz für eine Spionagetätigkeit hielten, bis er unter ihren Foltern starb (187). IV. Das Kirchenbild Schapers Aus den vielen Erzählungen und Essays lässt sich einigermaßen schließen, welches Bild Schaper von der Kirche (oder von den Kirchen) hat. Ich meinte früher, es in einem ersten Überblick vorwiegend lutherisch kennzeichnen zu können, doch würde ich es heute eher ökumenisch in einem sehr tiefen Sinne nennen. 1. Die sichtbare und die unsichtbare Kirche Wer wie Schaper alle Grenzen überschreitet, von einer zur andern Kirche, und bei jeder vom Äußern zum Innern, von den Symbolen zur Wirklichkeit, die sie darstellen, von den Strukturen zu den Personen – der sieht bald einmal hinter der sichtbaren die unsichtbare Kirche. Das ist aber eine weder katholisch noch orthodox gedeckte Unterscheidung. Für die katholische Kirche ist die unsichtbare Kirche voll realisiert in der sichtbaren; man hat im Konzil die (im positiven Sinn) vieldeutige Formulierung gefunden, die von Christus gestiftete Kirche „substistit in ecclesia catholica“10 – eine der möglichen Übersetzungen wäre: „ist gegenwärtig, findet sich vor, ist eingewurzelt, ist verwirklicht in der katholischen Kirche“. Man hat übrigens im Gefolge dieser trotz allem offenen Formulierung noch eine viel schönere Formel gefunden für die zu suchende Einheit der Kirchen: es geht nicht mehr darum, die andern Kirchen zur Einheit in der katholischen Kirche zu fuhren, sondern die katholische (also allumfassende) Einheit aller Kirchen zu befördern! – Aber natürlich muss man hinzufügen, dass auch die orthodoxe Kirche und die evangelische Gründe finden würden, um sich je als die richtige Nachfolgerin der ursprünglichen Gemeinde Christi, der Apostel- und Ur-Kirche, zu verstehen; gerade die Orthodoxen werden nicht müde, das zu unterstreichen und sich so gegenüber der katholischen Kirche oft auch polemisch abzugrenzen. ___________ 10
II. Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, art. 8.
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2. Jede Kirche ist vollgültige Kirche Dazu nur ein Zitat aus „Der Gefangene der Botschaft“: In Anlehnung an das Schicksal von Kardinal Mindszenty, der im Ungarn-Aufstand 1956 für ein paar Tage befreit, nachher von den einrückenden Russen im Leben bedroht, auf der amerikanischen Botschaft Zuflucht sucht, wo er Jahre ohne Kontakt mit der Außenwelt verbringt, gestaltet Schaper ein ähnliches Schicksal ohne genaue zeitliche und örtliche Koordinaten. Der Bischof ist im doppelten Sinn Gefangener der Botschaft: einmal in der amerikanischen Botschaft, und dann als Künder der Botschaft, die ihm auferlegt ist; wie er sie – je nach Zeitumständen – zu künden hat, ist ein Problem. Einmal wird er von orthodoxen Flüchtlingen, die in der gleichen Botschaft gelandet sind, angesprochen: „Aber ... aber dann sind Sie ein Päpstlicher?“ Er antwortet: „Diene ich dem Papst? Ich habe immer nur Gott dienen wollen.“ Erneut insistieren die Fragesteller: „Aber Sie sind katholisch oder uniert?“ Und die energische Antwort: „Sind wir nicht alle katholisch und evangelisch und uniert in dem Einen? Was bedeuten diese Worte noch? Da, da, da!“ [Er packt erregt sein Brustkreuz und streckt es ihnen entgegen.] „Da, da ist’s! Seht ihr eins von unseren Menschenworten darauf? Evangelisch, katholisch, orthodox oder sonst etwas?? Hängt der da auf unseren armseligen, böswilligen Worten? Oder auf seinem Wort, das leidendes Fleisch geworden ist?“ (GB 110f.) 3. Eschatologische Einheit, antizipiert im Martyrium Es wurde schon einmal erwähnt: diese Ökumene kommt nur zustande in Extremsituationen, wie es Gefängnis und Verfolgung sind. Dort ist der Mensch mit dem Außersten, dem Letzten konfrontiert, und der Tod ist alltägliche Möglichkeit. Die Letzt-Zeit für den Einzelnen wie für die Welt heißt in der Kirchenterminologie „ta eschata“, und die Lehre davon „Eschatologie“. So wie die Dinge heute stehen, ist man geneigt anzunehmen, dass die wahre (und auch äußere) Einheit der Kirchen eine eschatologische Angelegenheit ist, also innerhalb dieser Weltzeit nicht mehr verwirklicht werden kann. Ökumene aber könnte immer geübt werden, nämlich als Respekt der Menschenwürde innerhalb und zwischen den Kirchen (und allen Religionen), Recht auf die je eigene Art der Religionsausübung, geduldiges Gespräch über die Vergangenheit, über die Gründe des Auseinanderlebens und der immer verschärfteren Unterschiede (oder dessen, was man dafür hielt), Schritte der Annäherung, ohne jemanden vereinnahmen zu wollen. V. Schlussfolgerung Die wenigen, knappen Selbstaussagen Schapers lassen darauf schließen, dass er von einem Traditions-Luthertum in eine immer vertieftere Annahme des überkommenen Glaubens geführt wurde, nicht zuletzt durch die Begegnung mit
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der Orthodoxie in Estland 1930-40. Ob er zur orthodoxen Kirche übergetreten ist, ist unwahrscheinlich; doch muss er ihr sehr nahegestanden haben, nannte er sich doch einmal (zur Zeit, da er in Estland lebte) „Adoptiv-Kind der Heiligen Rechtgläubigen Kirche“.11 Sowohl in Finnland 1940-44 wie in Schweden 194447 lebte er wieder in lutherisch-evangelischer Umgebung; wieweit er überzeugten Christen begegnete und wie sehr er am kirchlichen Leben teilnahm, ist mir nicht bekannt. 1947 in die Schweiz übergesiedelt, näherte er sich der katholischen Kirche und konvertierte 1951 zu ihr, noch vor der definitiven Wohnsitznahme im katholischen Kanton Wallis. Über die letzten Gründe schweigt sich Schaper in den bisher bekannten Texten aus. Im schon erwähnten Nachwort zur Neuausgabe von „Das Leben Jesu“ bekennt er sich aber eindeutig zu einem katholischen (oder orthodoxen) Kirchenbegriff, den vielleicht auch ein Lutheraner nach vollziehen könnte; er sagt da, was er gefunden habe, sei ein „demütiges, uneingeschränktes, einzig und allein auf die Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus gegründetes Vertrauen in die Offenbarung der Heiligen Schrift: ohne alles Fragen und Deuteln, ohne jedwedes andere sichtbare Unterpfand dafür, dass dies alles ‚gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort‘ sei, als das Sakrament, das von Ihm eingesetzt worden ist beim Heiligen Abendmahle.“ (LJ, 2. Aufl., 260). Wort und Sakrament, zwei wesentliche Kennzeichen der Kirche! Aber Max Wehrli schreibt im Jahr nach der Konversion mit Recht: „Dieser Weg scheint nicht die rationale Prüfung eines dogmatischen Anspruchs zu sein, sondern der Weg der Nachfolge und der Anbetung, des praktischen Vollzugs.“ („Untergang und Verwandlung“, 148) Warum er sich dann wieder von der katholischen Kirche – der sichtbaren Kirche – entfernt hat12, ist für mich ebenso ungeklärt. Die Durchführung und die Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils, von vielen als Befreiung empfunden, wurden von andern als Verrat der Tradition gedeutet, und auf dieser Seite stehen viele Konvertiten, die in der katholischen Kirche eine feste Burg und nicht einen wandelbaren lebendigen Organismus gesucht hatten. Schaper hat viele zentrale Begriffe seines dichterischen Werkes, die auch anderswo aufscheinen, am Beispiel der orthodoxen Kirche dargestellt: die Bereitschaft zum Martyrium – auch zum Martyrium der Lüge. Der Ausdruck fällt schon in „Die sterbende Kirche“ (242), das Schuldbewusstsein, aber auch die unbesiegliche Hoffnung, dass der Mensch letztlich doch nur in die Arme des barmherzigen Gottes fallen kann.13 Schaper war ein ganz katholischer (das heißt allumfassender) und orthodoxer (das heißt rechtgläubiger) Lutheraner, ein ___________ 11
Im Nachwort zur Neuausgabe von „Das Leben Jesu“, Frankfurt a.M., Hamburg 1955, S. 256. „Ich bin heute dort, wo ich am Anfang war, in einem christlichen Humanismus, der um viele Hoffnungen, um vielen Glauben ärmer geworden ist, aber um Gewissheiten reicher, die für mich eben nicht mehr in das Dogma zu kleiden sind.“ Zitiert in: Claus Sommerhage/Liina Lukas, Auch wir sind Europa! Edzard Schaper 1908-1984, Tartu 1998, S. 34. 13 Am schönsten wohl dargestellt in der kurzen Erzählung „Unschuld der Sünde“. 12
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lutherischer (das heißt aus dem Glaubensentscheid heraus lebender) Katholik und Orthodoxer, ein katholischer (das Wort meint auch „ökumenisch“, den Erdball umfassend) Orthodoxer und Lutheraner14 – ein Christ aller Kirchen und darum in fast tragischer Weise in keiner von ihnen recht beheimatet; er konnte nie stehenbleiben, er musste immer Grenzen überschreiten.15
___________ 14 „Ich meine, je mehr Zeit vergeht, desto fester: dass man katholisch werden muss, um evangelisch sein zu können. Als Katholik will ich nichts anderes sein als der letzte orthodoxe Lutheraner. Konfessionen – die sind ja nur Arbeitshypothesen.“ Vgl. Anm. 11, S. 33. 15 Nachbemerkung des Verfassers: Der vorliegende Text bringt im Wesentlichen die Fassung des Vortrags, wie er in Tartu gehalten wurde; nur ganz wenige Korrekturen und Ergänzungen wurden nachträglich angebracht. Es handelt sich um den Entwurf zu einer größeren Studie, die der Verfasser seit längerem vorbereitet, die zur Ausarbeitung aber noch etlicher Vertiefung und weiteren Studiums bedarf. Hierzu ergänzend: Uwe Wolff, Der vierte König lebt! Edzard Schaper – Dichter des 20. Jahrhunderts, Basel 2012. Darin sind die Fragen beantwortet, die ich am Schluss meines Aufsatzes offen gelassen habe.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Iso Baumer, Herisau ([email protected]) Prof. Dr. Michael Garleff, Oldenburg ([email protected]) Kathrin Laine Lehtma, Oldenburg ([email protected]) Kai Hendrik Patri, Göttingen ([email protected]) Dr. Maris Saagpakk, Reval/Tallinn ([email protected]) Prof. Dr. Karol Sauerland, Warschau ([email protected] ) Dr. Monika Tokarzewska, Thorn/Torun ([email protected]) PD Dr. Uwe Wolff, Bad Salzdetfurth ([email protected])