Dynamiken historischer Schreibszenen: Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne 9783110792447, 9783110780338

The conditions of writing as a cultural technique are subject to technical, material, institutional, socio-cultural, and

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German Pages 323 [324] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Schreibszenen historisieren – Methodologische Überlegungen zu einer Erforschung des Flüchtigen
Über Schreiben als Kulturtechnik hinaus – Literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung
I Umgang mit problematischen Überlieferungssituationen im Rahmen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Schreibszenen
Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)
Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒1640er Jahre)
Die Schreibszene sozialisieren! Kollaboratives Schreiben, Schreiben
Georg Wickram neu betrachtet? Historische Schreibpraktiken und das literarische Schaffen Wickrams (um 1505‒1562) aus wissenschaftshistorischer Perspektive
II Geschlecht und Schreibszenen im 17. und 18. Jahrhundert
VerDichtung in der verbotenen Liebeskorrespondenz des 17. Jahrhunderts – Produktive Aneignung, Bearbeitung und Plagiat im Schreibprozess
Auktoriale Inszenierungen bei Sophie von La Roche und Bettina von Arnim – Ein Beitrag zur historischen Schreibprozessforschung
III Praktiken, raumzeitliche, materiale und soziale Infrastrukturen von Schreibszenen im 18. Jahrhundert
Schreibszene extended – Die Schreibumgebung in raum- und praxissoziologischer Perspektive
Über das Exzerpieren schreiben – Exzerptsammlungen und ihre Autoren im 18. Jahrhundert
IV Transkulturelle und intermediale Perspektiven auf Schreibszenen im 19. Jahrhundert
Die neueste Versmode – Stéphane Mallarmés serielles Schreiben und die Künste der Zeitschrift
Paul Valéry: Ego scriptor – Schreiben im Spannungsfeld von Schreibvergnügen und ennui
Schreiben über das Schreiben – Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Robert Musil
Interferenz von administrativer und literarischer Schreibszene – Robert Walsers Korrespondenz bei der Berliner Secession mit Walther Rathenau (1907)
Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Dynamiken historischer Schreibszenen: Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne
 9783110792447, 9783110780338

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Dynamiken historischer Schreibszenen

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 168

Dynamiken historischer Schreibszenen Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne Herausgegeben von Katja Barthel

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-078033-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079244-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079248-5 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2022943612 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Katja Barthel Schreibszenen historisieren – Methodologische Überlegungen zu einer Erforschung des Flüchtigen 1 Sandro Zanetti Über Schreiben als Kulturtechnik hinaus – Literaturwissenschaftliche 29 Schreibprozessforschung

I Umgang mit problematischen Überlieferungssituationen im Rahmen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Schreibszenen Stefan Abel Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336) Michael R. Ott und Jan Habermehl Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒1640er Jahre)

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Stephan Kammer Die Schreibszene sozialisieren! Kollaboratives Schreiben, Schreiben

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Elisabeth Wåghäll Nivre Georg Wickram neu betrachtet? Historische Schreibpraktiken und das literarische Schaffen Wickrams (um 1505‒1562) aus wissenschaftshistorischer Perspektive 115

II Geschlecht und Schreibszenen im 17. und 18. Jahrhundert Martin Klöker VerDichtung in der verbotenen Liebeskorrespondenz des 17. Jahrhunderts – Produktive Aneignung, Bearbeitung und Plagiat im Schreibprozess 129

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Inhalt

Barbara Becker-Cantarino Auktoriale Inszenierungen bei Sophie von La Roche und Bettina von Arnim – 151 Ein Beitrag zur historischen Schreibprozessforschung

III Praktiken, raumzeitliche, materiale und soziale Infrastrukturen von Schreibszenen im 18. Jahrhundert Jennifer Clare Schreibszene extended – Die Schreibumgebung in raum- und praxissoziologischer Perspektive 177 Elisabeth Décultot Über das Exzerpieren schreiben – Exzerptsammlungen und ihre Autoren im 18. Jahrhundert 197

IV Transkulturelle und intermediale Perspektiven auf Schreibszenen im 19. Jahrhundert Cornelia Ortlieb Die neueste Versmode – Stéphane Mallarmés serielles Schreiben und die 219 Künste der Zeitschrift Rita Rieger Paul Valéry: Ego scriptor – Schreiben im Spannungsfeld von 237 Schreibvergnügen und ennui Anke Bosse Schreiben über das Schreiben – Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Robert Musil 261 Katja Barthel Interferenz von administrativer und literarischer Schreibszene – Robert Walsers Korrespondenz bei der Berliner Secession mit Walther Rathenau (1907) 279 Autorinnen und Autoren Personenregister

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Schreibszenen historisieren – Methodologische Überlegungen zu einer Erforschung des Flüchtigen Die Kulturtechnik Schreiben ist alt.¹ Wie das komplexe Wissen über das Schreiben indes aktualisiert wird, wie die heterogenen Praktiken und Verfahren erworben, wie sie kulturell bewertet, sozialisiert und institutionalisiert werden, all dies fällt kollektiv wie individuell sehr verschieden aus. Einerseits ist der Umgang mit ‚Schrift‘ als semiotisches Zeichensystem eine Kulturtechnik, die als Konstante menschlicher Kulturalität gilt, andererseits unterliegt die Konkretisierung all jener Faktoren, die es erlauben, spezifische Textuierungsverfahren umzusetzen und somit Schrift im ‚Schreiben‘ praktisch anzuwenden, einem permanenten historischen Wandel. Der vorliegende Band widmet sich epochenübergreifend vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne dieser Dynamik historischer Konstellationen von Schreibszenen, um die Potenziale und Herausforderungen einer diachronen Schreibforschung zu reflektieren. Mit dem Konzept der „Schreibszene/Schreib-Szene“ haben Rüdiger Campe und daran anschließend Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti eine theoretische Perspektive entworfen, die sich in der Literaturwissenschaft der letzten dreißig Jahre als sehr fruchtbar erwiesen hat, um Schreibprozesse und schriftsprachliche Phänomene verschiedener Epochen und Kulturen zu untersuchen.² Schreibprozessuale Aspekte, die auch in der empirischen Schreibfor-

 Sandro Zanetti hat das Schreiben als eine Kulturtechnik bestimmt, die sowohl kulturell bedingt als auch kulturkonstituierend ist. Schreibakte artikulieren, organisieren und archivieren nicht nur Inhalte, sondern wirken produktiv auf die Konstitution dieser Kultur- und Wissensbestände ein. Dadurch sind sie immer schon eingebunden in Konstellationen von Macht, Teilhabe und Ausschluss („Kenner und Nichtkenner“ von Schrift und Schreiben) und stellen selbst eine Form der Disziplinierung dar, insofern Schreiben eine spezifische Art der Konzentration, Körperhaltung, des Umgangs mit Schreibgeräten, Materialien usw. erfordert; Sandro Zanetti: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von dems., Berlin 2012, S. 7‒34, hier S. 7 f., 31.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759‒772, bes. S. 760; auch in: Zanetti: Schreiben als Kulturtechnik, S. 269– 282. Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems., in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7‒21, bes. S. 15; zuletzt Sandro Zanetti: Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten, Ditzingen 2022, S. 17‒19. https://doi.org/10.1515/9783110792447-001

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schung und Schreibdidaktik, der Psychologie und Linguistik, der Medien- und Kulturwissenschaft, Ethnologie und Wissenschaftsgeschichtsschreibung untersucht werden, lassen sich in das heuristisch offene Konzept integrieren.³ Ausgehend von der Annahme, dass Schreiben nicht nur eine kognitive, sondern in sehr grundsätzlicher Weise eine körperliche Aktivität in Zeit und Raum ist, die auf spezifische (Schreib‐)Werkzeuge, Materialien und Technologien zurückgreift, in Interaktion mit menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren und Aktanten stattfindet, sprachlich-semantische Formen nutzt und „Spuren“⁴ der eigenen Aktivität hinterlässt, wird das operative Setting, in dem sich der Akt des Schreibens vollzieht, als ein „nicht-stabiles Ensemble“ begriffen, das je nach spezifischer Gewichtung sprachlicher, instrumenteller und gestischer Faktoren („Sprache, Instrumentalität, Geste“) hochgradig idiosynkratische Schreibszenen konstituiert.⁵ Ergänzend zu Campes Begriff der Schreibszene haben Stingelin und mit ihm Giuriato und Zanetti die Schreib-Szene (mit Bindestrich) eingeführt, um auf die wichtige analytische Trennung zwischen dem Akt des Schreibens und der reflexiven Rekonstruktion des Schreibaktes aufmerksam zu machen. Das operative Setting für den Akt des Schreibens (die Schreibszene) wäre nicht zu rekonstruieren und zu untersuchen, wenn es keine reflexive Thematisierung, Proble Schreibforschung findet in der Breite interdisziplinären Austauschs statt und umfasst nicht nur die ästhetische Kommunikation. So gehen die empirische Schreibforschung und Schreibdidaktik auf die Beschäftigung mit Schreibprozessen im schulischen, journalistischen, akademischen Bereich zurück und arbeiten interdisziplinär; vgl. u. a. Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger (Hg.): Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, Bielefeld 2020; Michael Becker-Mrotzek, Joachim Grabowski und Torsten Steinhoff (Hg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik, Münster/New York 2017; Stephanie Dreyfürst und Nadja Sennewald (Hg.): Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung, Opladen 2014; zu wissenschaftlichen Schreibszenen vgl. Anm. 39 dieses Beitrags. Auch die bildenden und darstellenden Künste treten in den Blick einer interdisziplinären Schreibforschung; Cathrin Klingsöhr-Leroy: Buch und Bild – Schrift und Zeichnung. Schreiben und Lesen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2022; Rita Rieger: Das Schreiben von und über Tanz. Schrift-Bewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten, in: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, hg. von Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger, Bielefeld 2020, S. 223‒240; Gabriele Brandstetter: Choreo-Graphien. Schreibszenen im Tanz, in: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, hg. von Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger, Freiburg i. Br. 2015, S. 389‒401; Werner Sollors: Schrift in bildender Kunst. Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen, Bielefeld 2020; Jutta Müller-Tamm, Caroline Schubert und Klaus Ulrich Schubert (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift, Paderborn 2018.  Sandro Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur, in: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2008, S. 75‒88, hier S. 76.  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in Zanetti: Schreiben als Kulturtechnik, S. 271.

Schreibszenen historisieren

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matisierung oder sonstige Objektivation gäbe, die auf Schreibakte hinweist (die Schreib-Szene). Erst die rekursive Selbstbezüglichkeit eines schreibenden Reflektierens über das Schreiben stiftet einen „Rahmen“,⁶ der es erlaubt, Rückschlüsse auf die Komplexität eines Geschehens zu ziehen, das sich in weiten Teilen der empirischen Beobachtung entzieht. Schreibforschung stellt sich demnach als die Annäherung an einen Gegenstand dar, der nur spurenhaft auf eine Existenz verweist, die in diesen „Spuren“, wie Sandro Zanetti sagt, immer schon Vergangenheit ist.⁷ Der Akt des Schreibens lässt sich nicht konservieren. Er ist flüchtig, vorübergehend. Die Spur jedoch, der Hinweis auf das Invisible und Flüchtige, die uns zeigt, dass geschrieben, gekritzelt, notiert, getilgt, geändert, gestrichen worden sein muss, ist ein Faszinosum und die entscheidende Schwierigkeit der Schreibforschung. Die Präsenz des Absenten bestimmt den Forschungsgegenstand und seine Untersuchung.

1 Forschungsinteresse: Dynamiken von Schreibszenen in diachroner Perspektive Hier setzen die Überlegungen des vorliegenden Sammelbandes an. Nicht nur Schreibakte sind flüchtig. Auch die ‚Spuren‘, die sie hinterlassen, sind alles andere als stabil und eindeutig und haben ihre eigene Dynamik. Mit Zanetti ließe sich von der Asche sprechen, die vom brennenden Holz zurückbleibt: Erleichtert wird eine nachträgliche Beschäftigung mit den Voraussetzungen, aber auch den Folgen von Schreibakten dadurch, daß diese prinzipiell Spuren hinterlassen: Es gibt beim Schreiben stets so etwas wie eine implizite Selbstarchivierung, nicht unbedingt des Prozesses in seiner Ereignishaftigkeit, aber des Geschriebenen. In der Schrift dokumentiert sich der Prozeß, auf der Ebene der Materialität allerdings nur so, wie sich die Flamme eines brennenden Stückes Holz in der Asche dokumentiert: Der Akt selbst hebt sich auf, bewahrt bleiben allenfalls noch die Spuren davon.⁸

Die Metapher vom brennenden Holz und der Asche zeigt eindrücklich, wie deutungsoffen und interpretationsbedürftig jede Spur ist, oder anders gesagt: Die Deutung dessen, was man als ‚Spuren‘ erkennt und anzuerkennen gewillt ist, was

 Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 7.  Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur, S. 76; in Anlehnung an Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders.: Kritische Essays 4: Das Rauschen der Sprache, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2012, S. 57‒63, hier S. 60.  Zanetti: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik, S. 31.

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überhaupt als beschreibungswürdig und -relevant veranschlagt wird, ist selbst Ergebnis vielfältiger kulturell und historisch bedingter Interpretationsleistungen von Wissenschaftler:innen verschiedener disziplinärer Herkunft und Präferenz. Die Diversität der an der Schreibforschung beteiligten Disziplinen mit ihren jeweiligen Traditionen, Methoden und Theorien hat zu einer Vielzahl an Zugriffsmöglichkeiten auf den Phänomenbereich Schreiben und Schrift geführt. Dadurch pluralisiert sich nicht nur der Gegenstandsbereich, sondern es vervielfältigen sich auch die konzeptionellen und methodischen Möglichkeiten des Umgangs mit verschiedenen Arten von Spuren. Es sind längst nicht mehr nur die textuellen, schriftlichen Hinterlassenschaften (Avant-Text,⁹ Entwürfe, Notizen, Überarbeitungsvarianten und dergleichen), die zur Rekonstruktion von Schreibszenen herangezogen werden, sondern das Spektrum möglicher Materialien hat sich enorm erweitert. Neben Bildern, Kleidung, Alltagsgegenständen oder Luxusartikeln¹⁰ arbeitet eine materialitätssensible Schreibforschung auch mit Schriftträgern wie Holz, Glas, Metall ‒ bis hin zu Naturmaterialien, z. B. beschrifteten Schalen von Straußeneiern.¹¹ Solche Objekte sind freilich nicht per se Quellen für die Analyse von Schreiben und Schrift. Das Straußenei ist gleichsam religiöses Objekt, Rarität, es repräsentiert Herrschaftsansprüche, religiöse, soziokulturelle und politische Macht; es ist Zeugnis handwerklicher Fähigkeit und Prestige und wird, wenn es die Zeiten überdauert, zum musealen Objekt, das auch zum Problemfall werden kann, weil neben Deutungsfeinheiten womöglich Fragen der Konservierung oder Eigentumsverhältnisse problematisch sind. Konzentrisch erweitern sich die Spuren dieser ‚Spur‘ und greifen über den Schreibprozess, der sich anhand des Objektes unter anderem zumindest ansatz- oder teilweise rekonstruieren lässt, in weitere Bereiche hinein. Mit Gadamer könnte man vermuten, dass es sich um ein typisches Phänomen des hermeneutischen Zirkels handeln müsse.¹² Die Problematik ist aber mit Blick auf Schreibszenen noch anders gelagert: Insofern die ‚Spuren‘, die auf Schreib-

 Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ‚critique génétique‘. Aus dem Frz. von Frauke Rother und Wolfgang Günther, Bern u. a. 1999, S. 293.  Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs (Hg.): Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, Hannover 2017.  Sarah Kiyanrad, Michael R. Ott, Antonia Sarri und Enno Giele: Naturmaterialien, in: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, Berlin/München/Boston 2015, S. 397‒409, hier S. 405‒407.  Hans-Georg Gadamer: Die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes [1960], in: ders.: Wahrheit und Methode. Bd. 1: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 296–305.

Schreibszenen historisieren

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prozesse verweisen, keine ausschließlich sprachlichen Zeichen oder Zeichenketten mit eindeutiger Semantik innerhalb eines einzelnen Klassifikations- und Deutungsschemas sind, sondern singulär und vielgestaltig auftreten und immer im Verbund mit anderen Spuren auf weitere Kontexte, Diskurse, Ordnungs- und Auslegungssysteme hinweisen, von denen ihre Deutung im Weiteren nicht frei bleibt, lassen sie sich nur relational erfassen. Sie entfalten ‒ je nachdem, wie sie perspektiviert werden ‒ polyvalente Deutungspotenziale. Während die Interpretation von Texten ihre Lesbarkeit voraussetzt, müssen Spuren erst lesbar gemacht werden. Aus der Forschung zu materialen Textkulturen wissen wir, dass die Rekonstruktion und Re-Kontextualisierung vergangener Zeichensysteme an Trägermedien bzw. schrifttragende Artefakte¹³ gebunden ist, sodass eine besondere Herausforderung darin besteht, die „Text-Textträger-Relationen“ zu erfassen: In welchem Verhältnis stehen Zeichen und Zeichenträger, wie lassen sich semantisches und semiotisches Potenzial im Verhältnis zum Träger- und Speichermedium bestimmen?¹⁴ Schreiben, so lässt sich in Analogie zu dieser Doppelstruktur feststellen, hinterlässt Spuren nur dann, wenn es einen Träger gibt, der Hinweise auf Praktiken, Abläufe, Räume, Zeiten oder Techniken des prozessualen Umgangs mit Schrift aufnimmt und als Artefakt gegenständlich überdauert. Die Deutung des Spur-Träger-Verhältnisses ist jedoch ‒ wie bei jedem arbiträren Zeichencode ‒ weder vorgängig festgelegt noch dauerhaft stabil. Die analytische Differenzierung von Zeichen und Zeichenträger macht darüber hinaus auf eine weitere Inkongruenz und Dynamik aufmerksam. Texte – mithin auch Schrift und Schreiben ‒ „operieren auf der Grundlage von Zeichensystemen, die in bestimmtem Maße (aber nicht konsequenzlos) zwischen verschiedenen Materialitäten und kommunikativen Situationen übertragen werden können“.¹⁵ Aufgrund des „transitorische[n] Moment[s] des Dinglichen“¹⁶ zirkulieren schrifttragende Artefakte oder Teile von ihnen im Rahmen unterschiedlicher kultureller Systeme und Diskurse. Als „mobile Textträger“¹⁷ können sie zu

 Begriffsbestimmung Markus Hilgert: Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen des Geschriebenen. Zum heuristischen Potential der materialen Textkulturforschung, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, Berlin/Boston 2014, S. 149‒164, hier S. 150.  Annette Kehnelt und Diamantis Panagiotopoulos: Textträger – Schriftträger. Ein Kurzportrait (statt Einleitung), in: Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften, hg. von dens., Berlin/München/Boston 2015, S. 1‒13, hier S. 7.  Christina Lechtermann: Material Philology, in: Handbuch Literatur & Materielle Kultur, hg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder, Berlin/Boston 2018, S. 117‒125, hier S. 117.  Ebd.  Kehnelt/Panagiotopoulos: Textträger – Schriftträger, S. 7.

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bestimmten Zeiten in einem Bereich Relevanz erhalten, während sie in einem anderen Bereich oder zu anderen Zeiten womöglich völlig ‚stumm‘ bleiben. In der Mediengeschichte spricht man von „dead media“, wenn Technologien zur Zeit ihrer Entstehung keine Aufmerksamkeit erhalten und in Vergessenheit geraten.¹⁸ Überträgt man diese Feststellung auf die Rekonstruktion von Schreibszenen, so wird deutlich, dass auch die Spuren, die auf Schreibakte verweisen, keinem vorgängigen, konstanten und singulären Ordnungs- und Deutungsmuster unterzuordnen sind und dass das Wissen um ihre Deutung auch ‚verloren‘ gehen kann. Spuren zirkulieren zwischen verschiedenen, häufig sogar konträren Deutungscodes für Praktiken, Dinge oder Zeichen. Symbolische Ordnungen, welcher Art sie auch sein mögen, sind keine ahistorischen, stabilen Größen. Sie treten kulturhistorisch spezifisch auf und können sich im Laufe der Zeit wandeln. Historizität, Kulturspezifik und historische Variabilität prägen aus diesem Grund auch die Deutung von Spuren, die auf Schreibakte verweisen. Erschwerend tritt außerdem hinzu, dass man es bei der Untersuchung von Schreibszenen oft mit Befunden zu tun hat, für deren Beschreibung bisher gar kein terminologisches und methodisch adäquates Handwerkszeug existiert. Die Form der sprachlichen Konkretisierung muss in der Forschungspraxis erst entworfen werden. Beständig steht die Schreibforschung vor der Herausforderung, nichttextuelle und außersprachliche Phänomene (wie die von Campe und Stingelin prominent gesetzte Gestik und Instrumentalität, aber auch Aspekte wie Lokalität, Sozialität, Materialität und Kulturalität) wahrzunehmen, zu beschreiben und zu deuten. In interdisziplinären Forschungszusammenhängen werden aktuell wieder intensiver methodologische Diskussionen über Modelle und Ansätze der Schreibforschung geführt. Schreibforschungsorientierte Netzwerke wie der Tübinger Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen ¹⁹ oder die Grazer Plattform Schreiben ²⁰ sind hier besonders zu nennen. Dabei treten aber auch disziplinäre Fluchtlinien zutage zwischen Fächern und Teildisziplinen, denen die  Christian Kiening: Einleitung, in: Medialität. Historische Konstellationen, hg. von dems. und Martina Stercken, Zürich 2019, S. 9‒16, hier S. 12.  DFG-Sonderforschungsbereich 933 an der Universität Heidelberg 2011‒2023.  Interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Plattform Schreiben“ an der Karl-Franzens-Universität Graz unter Beteiligung des Zentrums für Kulturwissenschaften, des Zentrums für Informationsmodellierung / Austrian Centre for Digital Humanities, des Fachdidaktikzentrums der geisteswissenschaftlichen Fakultät, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie des Schreibzentrums der Universität Graz. Ferner das Projekt „Bild Schrift Zahl“ des HelmholtzZentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin (2001‒2007); DFG-Graduiertenkolleg „Schriftbildlichkeit. Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen“ an der FU Berlin (2008‒2013).

Schreibszenen historisieren

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interdisziplinäre Zusammenarbeit besser oder weniger gut gelingt, wie Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa und Martina Scholger feststellen: [E]s fällt auf, dass Interdisziplinarität [in der Schreibforschung] zwar vielfach und äußerst ergebnisreich stattfindet, jedoch meist entlang spezifischer Linien verläuft: So arbeitet die Fachdidaktik bevorzugt mit Psychologie und Sprachwissenschaft zusammen, während wiederum Schreibdidaktik und Literaturwissenschaft (etwa im Kontext des kreativen Schreibens) (vgl. Abraham 2014; Wörner/Rauch/Noir 2012) und besonders Schreibforschung und Psychologie (vgl. Hayes/ Flower 1980; Gallego Castaño/Castelló Badia/ Badia Garganté 2016) ertragreich kooperieren. Eine gemeinsame Interessenslage gibt es zudem zwischen den Literaturwissenschaften, Kunstwissenschaften, Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften und Digitalen Geisteswissenschaften. […] Die Forschungsgruppe um Martin Stingelin […] wiederum analysiert historisch und systematisch wichtige prozessuale Momente, die konstituierende Schreibbedingungen (biografisch, institutionell, technisch-materiell, politologisch) wie daraus entstandene Texte umfassen (Stingelin/Giuriato/Zanetti 2004; Zanetti 2012).²¹

Obwohl jede Rekonstruktion von Schreibakten ein Moment von Vergangenem in sich trägt, scheint die historisch-systematische Perspektive seltsam isoliert neben den empirischen, didaktischen, kognitionswissenschaftlichen Richtungen der Schreibforschung zu stehen. Ein intensiverer Austausch wäre hier zweifellos wünschenswert. Frappierender ist allerdings, dass selbst innerhalb der Literaturwissenschaft, zwischen der Mediävistik und der Neueren Literaturwissenschaft, immer noch zu wenig Austausch stattfindet. Die Schreibforschung ist zwar mittlerweile in nahezu alle literaturhistorischen Bereiche und Gattungszusammenhänge vorgedrungen – es liegen Studien vom Mittelalter bis zur Gegenwart vor; einbezogen werden Lyrik, Dramatik, Erzählliteratur und ihre Mischformen. Schreibszenen einzelner Autor:innen werden ebenso untersucht wie kollektive und kollaborative Schreibprojekte; analoge, digitale und hybride Formate finden gleichermaßen Beachtung.²² Allerdings zeigt sich deutlich eine Konzentration auf Schreibszenen von Autor:innen, Gruppen oder Kollektiven, die zur selben Zeit, d. h. synchron innerhalb eines spezifischen Zeitabschnitts, tätig waren. Besonders auffällig ist eine Zäsur im 18. Jahrhundert.²³ An den literaturhistorischen Epochengrenzen und mediengeschichtlichen Umbruchphasen zerfällt die historische Schreibforschung in eine Forschung mediävistischer und frühneuzeitlicher

 Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger: Schreibforschung interdisziplinär, in: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, hg. von dens., Bielefeld 2020, S. 9‒ 16, hier S. 9 f.  Hierzu Forschungsstand in Abschnitt 3 dieses Beitrags.  So auch jüngst im Themenschwerpunkt der MLN; Bryan Klausmeyer, Andrea Krauß und Johannes Wankhammer (Hg.): Scenes of Writing, Special Issue Modern Language Notes 5 (2021).

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Schreibkonstellationen einerseits und eine ‚moderne‘, gegenwartsbezogene Schreibforschung andererseits, wobei Schreibpraktiken der aktuellen Gegenwartsliteratur oftmals als ganz eigener Bereich erscheinen, weil sich Schreiben in digitalen Formaten von allen anderen historischen Schreibszenen unterscheidet. Es gibt gute Gründe, Schreibszenen epochen- und medienhistorisch zu selektieren, um ihre Vergleichbarkeit zu gewährleisten (weil dann z. B. ein prinzipiell ähnlich gelagertes medial-technologisches Setting vorausgesetzt werden kann). Es gibt aber auch Gründe, Schreibforschung nicht an Epochengrenzen, kultur- und medienhistorischen Umbruchphasen zu orientieren. Mit Blick auf eine Geschichtsschreibung des Medialen betont Christian Kiening, dass der Vorteil von Epochen und epochalen Medieninnovationen zwar darin liegt, klare Ordnungsmuster und Orientierung zu schaffen, doch eine Geschichtsschreibung, die sich allein an epochalen Selektionskriterien ausrichtet, reduziert „die Vielfalt von Jahrtausenden menschlicher Geschichte auf einige wenige Parameter“.²⁴ Aus dem Blick geraten weniger beachtete Konstellationen, Personen und Zusammenhänge, die abseits der epochalen Schlaglichter liegen. Die Konzentration auf prominente Autoren und deren Schreibszenen ist eine Gefahr, die sich auch in der Schreibforschung schon abzuzeichnen beginnt. Gut erforschte ‚Gestirne‘, wie Hölderlin, Lichtenberg, Kafka, die nicht zuletzt ausreichend Material für die Schreibforschung hinterlassen haben, werden immer wieder herangezogen und zitiert. Ihr Schreiben erhält geradezu Modellcharakter. Was einerseits das Verständnis von Schreibszenen vertieft (und die Desiderata zeigt, die weiterhin bestehen), verengt andererseits den Fokus auf bestimmte Aspekte von Schreiben, die jene Autoren besonders prägnant bedienten. Eine historische Schreibforschung sollte für Selektions- und Verengungsmomente dieser Art sensibel sein. Das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes richtet sich aus diesem Grund darauf, Schreibszenen vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne, die aufgrund literaturwissenschaftlicher Epochengrenzen oftmals isoliert voneinander untersucht werden, in eine longue durée zu stellen und die Ansätze und Methoden ihrer Erschließung daraufhin zu befragen, wie sie für eine historische Schreibforschung gebündelt werden können. Damit verbinden sich drei Absichten: (1) Als heuristisches Konstrukt ist es Schreibszenen inhärent, dass sie einen Großteil der sie konstituierenden Einzelelemente nicht offenlegen (sei es, weil deren Problematisierung von den schreibenden Subjekten nicht als relevant erachtet wurde, weil Dokumente verloren gingen, bestimmte Technologien und Konstellationen überhaupt noch nicht existierten oder methodische Instrumentarien bisher fehlen, um eine etwaige Problematisierung identifizieren zu kön-

 Kiening: Einleitung, S. 12.

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nen). Der Vergleich von Schreibszenen in epochaler Differenz kann zum besseren Verständnis beitragen, welche Elemente sich für die Praxis und das operative Setting literarischen Schreibens im historischen Längsschnitt als tatsächlich konstitutive Voraussetzung erweisen, weil sie trotz veränderter Konstellationen immer wieder auftauchen, und welche Elemente als variable Bedingungen einzuschätzen sind, die idiosynkratisch, gewissermaßen fakultativ, hinzukommen. (2) Der Vergleich epochal verschiedener Schreibszenen und ihrer Elemente weitet die Perspektive auf den historischen Wandel der einzelnen Elemente. Eine diachrone Schreibforschung kann und soll die Historizität und Wandelbarkeit der heterogenen, emergenten Elemente von Schreibszenen transparent machen. Somit geht es (3) darum, Schreibszenen und die sie konstituierenden Elemente nicht nur in ihrer synchronen Relation zueinander abzubilden, sondern sie epochenübergreifend in ihrer je spezifischen Dynamik und kulturhistorischen Wandelbarkeit zu perspektivieren. Das bedeutet nicht, ein feststehendes Modell mit einer definierten Anzahl an Elementen vorauszusetzen, das eine Ordnung und Organisation des Schreibens ahistorisch erfassen würde. Sondern die Herausforderung besteht darin, im je spezifischen Fall und historischen Kontext zu überprüfen, welche Elemente im heterogenen Bedingungsgefüge des Schreibens realisiert werden, welche nicht, und vor allem welche Relationen und Dynamiken sich zwischen ihnen abzeichnen. Verändern einzelne Elemente ihre Qualität und Funktionsweise? Transformiert dies die gesamte Schreibszene? Wenn ja, in welcher Weise? Fallen Elemente weg, werden sie kompensiert? Emergieren aus dem sich verändernden Gefüge neue Operationsketten des Schreibens, und wie stabilisiert sich die Schreibszene? Erst in einer epochenübergreifenden longue durée von Schreibszenen lässt sich dann vielleicht auch genauer klären, was ‚literarische‘ Schreibpraktiken von Schreibprozessen in anderen kulturellen Domänen unterscheidet und worin die Spezifik der Textproduktion liegt, die man als ‚literarisches Schreiben‘ klassifiziert.²⁵

2 Vier Perspektiven Eine historische Schreibforschung hat es mit Dynamiken auf verschiedenen Ebenen zu tun. Im Folgenden möchte ich ein Modell vorschlagen, das – orientiert am Konzept der Schreibszene/Schreib-Szene von Campe und Stingelin – diese Dynamiken aus vier Perspektiven beschreibbar zu machen versucht. Meine

 Jüngst regt dies Sandro Zanetti mit Beispielanalysen aus dem Zeitraum 1850‒2000 an; Zanetti: Literarisches Schreiben, S. 31, 35, 166‒235.

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Überlegungen setzen an einer Bemerkung Martin Stingelins an, die er 2004 angesichts der Heterogenität der die Schreibszene konstituierenden Faktoren äußerte (es handelte sich um eine Bemerkung zur phänomenologischen Vorgehensweise Vilém Flussers): Abhängig davon, welches Element aus diesem heterogenen Ensemble man als ‚eigentliches‘ Moment des Schreibens privilegiert, dem alle anderen als bloße Hilfsfunktionen untergeordnet werden, ergeben sich verschiedene Begriffe des Schreibens […] [Hervorh. K.B.].²⁶

Zum damaligen Zeitpunkt zog Stingelin die Schlussfolgerung, dass es nicht darum gehen könne, „ein Modell für den Schreibprozess zu entwerfen, der alle Faktoren des Schreibens in ihrer Heterogenität integriert“.²⁷ Dennoch ist im Grunde genau dieser Prozess in Gang gesetzt worden: In der Schreib(szenen)forschung haben die auf Campe zurückgehenden favorisierten sprachlichen, instrumentellen und gestischen Elemente eine produktive Erweiterung gefunden durch raumzeitliche,²⁸ materiale,²⁹ politische,³⁰ emotionale,³¹ rezeptionsästhetische³² oder ökologische³³ Bezugsgrößen, die spezifischen Eigenlogiken folgen und das nichtstabile Ensemble ‚Schreibszene‘ in seiner Komplexität weiter steigern. Einerseits gewinnt die Schreibszene so an Prägnanz hinsichtlich der sie rahmenden Kontexte, Praktiken, Medien, Sozialformen. Andererseits droht der Gegenstandsbereich in seiner entgrenzten Komplexität fast verloren zu gehen. Fraglich wird  Martin Stingelin: ‚Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.‘ Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Frankfurt a. M. 2012, S. 283‒304, hier S. 287.  Ebd., S. 289.  Rüdiger Campe: Die Zeit der Evidenz und ihr Ende. Lichtenbergs Schreibszenen, München 2023 (zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags noch nicht erschienen); Mirna Zeman: Temporäre Verklumpungen. Formen und Praxen der Literaturmoden, in: Literaturbetriebspraktiken, Themenheft der Zeitschrift ‚literatur für leser‘ 38/2 (2015), S. 113‒130.  Hierzu Forschungsstand in Abschnitt 3 dieses Beitrags.  Ines Soldwisch, Rüdiger Haude und Klaus Freitag (Hg.): Schrift und Herrschaft. Facetten einer komplizierten Beziehung, Bielefeld 2022; Claas Morgenroth, Martin Stingelin und Matthias Thiele (Hg.): Die Schreibszene als politische Szene, München 2011.  Hierzu Forschungsstand in Abschnitt 3 dieses Beitrags.  Sandro Zanetti, Martin Stingelin und Davide Giuriato (Hg.): ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘. Schreibszenen als Selbstlektüren, München 2008; Julika Griem (Hg.): Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung, Bielefeld 2021; Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, Heidelberg 2020.  Hanjo Berressem: Ökologien des Lesens. Für eine erweiterte Philologie, Bielefeld 2022 (zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags noch nicht erschienen).

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angesichts einer Kultur, in der Schriftlichkeit omnipräsent ist, was denn eigentlich das Schreiben nicht rahmt und seine Prozesse beeinflusst. Aus diesem Grund sollten wir über die Relationen, Verhältnisse, Grenzen, Zonen und Übergangszonen der Elemente innerhalb der Schreibszene erneut nachdenken – nicht, um künstliche Abgrenzungen zu schaffen, sondern um Funktionsweisen und Qualitäten genauer in den Blick zu bekommen und die kulturhistorische Spezifik des Untersuchungsgegenstandes zu schärfen. Ich schlage daher vor, analytisch zwischen vier Beschreibungsebenen bzw. Perspektiven zu unterscheiden, die man gegenüber einem bestimmten Element der Schreibszene (z. B. das Werkzeug ‚Bleistift‘ oder die Konzeption ‚Autorschaft‘) einnehmen kann. Kurz gesagt perspektivieren die vier Gesichtspunkte Schreiben jeweils als einen Akt (der von Schreibenden in einer bestimmten Weise vollzogen wird), als Thema (zu dem der Akt und seine Bedingungen in einer bestimmten Weise gemacht werden), als Technik (in deren Gebrauch der Akt ermöglicht und ausgeführt wird) und als Teil einer Kultur (in welcher der Akt des Schreibens eine bestimmte Rolle spielt und bestimmte Funktionen erfüllt). Das Ziel besteht darin, verschiedene Arten von Dynamiken auszumachen, die hervortreten, wenn der Fokus zwischen den Perspektiven wechselt. Das nicht-stabile Ensemble heterogener Elemente, das als heuristisches Modell selektiv auf einen Zusammenhang verweist, der in seiner Komplexität dem unmittelbaren Zugriff entzogen und nicht vollständig repräsentierbar ist – die Vorgänge im Rahmen einer Schreibszene – ist eine per se dynamische Größe, deren Objektbereich – selbst wenn er anhand derselben Dokumente und Materialien untersucht wird ‒ keine identische Form hat. Je nachdem, aus welcher der vier Perspektiven man sich einem einzelnen Element oder mehreren Elementen zuwendet, werden sich die Verhältnisse und Relationen zu den anderen Elementen der Schreibszene verschieben. Die Schreibszene/Schreib-Szene erscheint dann immer als eine jeweils andere. Eine entscheidende Dimension ist dabei die zeitlich-diachrone. Dass „Schreibpraktiken […] ihren Ort nicht in einem überzeitlich unveränderten Raum geistiger Produktivität haben“,³⁴ wie Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs treffend feststellen, kann von allen Elementen, die Schreibszenen konstituieren, gesagt werden. Epochenübergreifend, vom Mittelalter bis zur Moderne, ließe sich dies zur These zuspitzen: Abhängig vom Zeitpunkt der rekursiven Rückbezüglichkeit auf einen Entstehungs- und Reflexionskontext, der ein Wissen über ein spezifi-

 Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs: Schreiben, Büchermachen, Publizieren. Zur Einführung, in: Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, hg. von dens., Hannover 2017, S. 9‒20, hier S. 12.

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sches Schreiben hervorbringt (sei es in Form sprachlicher Reflexion, materialer Nutzungsspuren oder anderer Hinweise), eröffnet sich ein begrenztes Wissen über den Gegenstand ‚Schreibszene‘. Davon beeinflusst ist sowohl die Identifikation und Interpretation der einzelnen Elemente, die je nach Quellenlage mit der untersuchten Schreibszene assoziiert werden, als auch die Deutung der Verhältnisse, die man den einzelnen Elementen untereinander zuweist. Aus vier Perspektiven lassen sich die heterogenen Elemente von Schreibszenen beschreiben:

(1) Schreiben als Akt (Vollzug) Der Akt des Schreibens, der durch eine inhärente Dynamik geprägt ist, ist die Voraussetzung für jede Art der Beschäftigung mit dem operativen Setting von Schreibhandlungen und Schrift. Als unhintergehbare Voraussetzung für ein Nachdenken über den Phänomenbereich Schreiben gilt, dass es ein Subjekt oder eine Instanz geben muss, die den Akt des Schreibens vollzieht.³⁵ Mit Campe könnte man an dieser Stelle den Akt auch als Geste bezeichnen, mit der Einschränkung, dass das hier vorgestellte Modell nicht nur körperliche Aspekte menschlicher Schreibhandlungen, sondern jegliche Arten von Vollzug adressiert, d. h. auch nichtmenschliche, technisch-digitale Akte (das Schreiben mittels Algorithmen), animalische oder hybride Schreibhandlungen (Schriftzeichen pro-

 Ausgehend von Roland Barthes intransitivem Konzept der Écriture, Vilém Flussers Thematisierung der Geste, und der prominenten Rolle, welche die Gestik und Körperlichkeit im Konzept der Schreibszene/Schreib-Szene spielen, widmen sich immer mehr Forschungsarbeiten der körperlich-haptischen Dimension des Schreibens bzw. der Grafomotorik; Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb? [1970], in: ders.: Kritische Essays 4: Das Rauschen der Sprache. Aus dem Frz. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 18‒28; Vilém Flusser: Die Geste des Schreibens [1991], in: Zanetti: Schreiben als Kulturtechnik, S. 261‒268; Regina Bendix: Mit der Hand. Sinnlichkörperliche Dimensionen der Literalität, in: Alltag, Kultur,Wissenschaft 6 (2019), S. 21‒43; Davide Giuriato und Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt a. M./Basel 2006; Christian Driesen: Die Kritzelei als Ereignis des Formlosen, in: Über Kritzeln. Graphismen zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, hg. von Christian Driesen, Rea Köppel, Benjamin Meyer-Krahmer und Eike Wittrock, Zürich 2012. Besonders in der Schreibdidaktik ist die Körperlichkeit ein relevantes Kriterium und wird mitunter auch historisch eingeordnet, z. B. in Bezug auf den Schreibunterricht im 19./20. Jahrhundert; Thomas Lindauer und Afra Sturm: Schreiben. Kognition und Körperlichkeit in einem, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 38/1 (2016), S. 143‒157, hier S. 146‒149; zum Schreibenlernen vgl. Ursula Renner und Heinrich Bosse: Schreiben Lernen Sehen, in: Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, hg. von Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs, Hannover 2017, S. 23‒46.

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duzierende Tierfiguren, Roboter).³⁶ Die Möglichkeit der Reflexion über konkrete Akte des Schreibens bleibt allerdings in gewisser Weise durch die „Unmittelbarkeit des [Handlungs‐]vollzuges“ limitiert,³⁷ auf den sich nur rekursiv, reflexiv und rekonstruierend rückbezogen werden kann. Die Ebene des Aktes ist daher auch in der empirischen Forschung nicht vollumfänglich abbildbar, da jede Beschreibung immer eine nachträgliche ist, die unvermeidlich selektiert und reduziert. In der historischen Forschung ist die Ebene des Aktes per se unverfügbar, aber als heuristische Bezugsgröße methodisch unverzichtbar, weil die Perspektive auf den Vollzug von Schreibakten jede Beschäftigung mit Spuren des Schreibens leitet.

(2) Schreiben als Thema Der reflexive Rückbezug auf den Akt des Schreibens und dessen Objektivation ist die Voraussetzung für eine erneute Beschäftigung mit dem ephemeren Phänomen. Martin Stingelin, Sandro Zanetti und Davide Giuriato haben diese Dimension des Schreibens unter dem Begriff der Schreib-Szene (mit Bindestrich) problematisiert. Während sie allerdings sprachliche Reflexionen und Problematisierungen betonen (bei Campe: Sprache), kommen im hier vorgeschlagenen Modell verschiedene Formen der Thematisierung in Betracht: neben der sprachlichen Thematisierung sind Dinge, Objekte und Materialität, grafische, numerologische, ikonografische, farbsymbolische und beweglich-motorische Formen des Ausdrucks zu berücksichtigen. Dabei ist zu beachten, dass auch die Sprache, d. h. die Form, in der das Schreiben in mündlicher und schriftlicher Form thematisiert werden kann, keine stabile Größe ist. Wenn die Reflexion über Verfahrensweisen, Materialien, Bewegungen, räumliche und zeitliche Ordnungen Bedingung dafür ist, dass das Operationsgefüge der Schreibszene überhaupt erfasst werden kann, dann findet diese Rede nicht außerhalb der historisch verfügbaren Rhetoriken, Metaphern

 Weiterführende Einsichten verspricht eine bei Verfassung des vorliegenden Beitrags noch nicht erschienene Publikation von Martin Bartelmus und Alexander Nebrig (Hg.): Schriftlichkeit. Aktivität, Agentialität und Aktanten der Schrift, Bielefeld 2022; ferner Till A. Heilmann: Handschrift und Algorithmus, in: Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Urs Büttner u. a., München 2015, S. 47–61; Elke Höfler: Digitale Bild-Text-Konstrukte. Schreiben multicodal und symmedial, in: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, hg. von Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger, Bielefeld 2020, S. 65‒80.  Caroline Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin 2021, S. 482.

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und sprachlichen Normierungen statt.³⁸ Dasselbe gilt für grafische Codes, die ebenfalls Normierungen folgen oder von ihnen abweichen. Nicht zuletzt kann die Thematisierung auch performativ erfolgen, indem der Akt des Schreibens in unterschiedlichen Kontexten von Schreibenden in Szene gesetzt und damit einer Thematisierung durch Zeugen (Publikum, Öffentlichkeit o. a.) zugeführt, vielleicht sogar aufgedrängt wird. Eine historische Schreibforschung sollte darüber hinaus auch den eigenen wissenschaftlichen Diskurs über das Schreiben als eine Art der ‚Inszenierung‘ bzw. eine spezifische Perspektivierung des Gegenstandsbereichs kritisch reflektieren.³⁹ Beide Pole der Thematisierung (Was/wie/warum wurde ‚damals‘ über das Schreiben geschrieben? In welchen Formen?) sowie die gegenwärtige Art und Weise der Thematisierung solcher Thematisierungen (z. B. in Form ausgewählter Beschreibungssprachen oder Theorien) wären zu berücksichtigen.

(3) Technik Eine der grundlegenden Einsichten der Schreibforschung besteht darin, dass die materiellen, medialen und infrastrukturellen Bedingungen von Schreibakten die Kulturtechnik ‚Schreiben‘ konstituieren und prägen.⁴⁰ Technik und Sozialität sind dabei in einem interdependenten Verhältnis zu verstehen und nicht etwa in einer Dichotomie. Entfalteten Schreibwerkzeuge keinerlei Affordanz in Bezug auf

 Gisbert Keseling: Zum Gebrauch von Metaphern beim Sprechen über Schreibprozesse, in: Textwissen und Schreibbewusstsein. Beiträge aus Forschung und Praxis, hg. von Johannes Berning, Berlin 2011, S. 47‒68.  Eva Geulen und Claude Haas regen jüngst eine (historische) Reflexion der Sprachstile von Literaturwissenschaftler:innen von Karl Vossler bis Friedrich Kittler an, die grundsätzlich auch die Stilpraxis der schreibenden Wissenschaftler:innen einschließt; Eva Geulen und Claude Haas (Hg.): Der Stil der Literaturwissenschaft, Berlin 2021; ferner Fridrun Freise, Mirjam Schubert, Lukas Musumeci und Mascha Jacoby (Hg.): Writing spaces. Wissenschaftliches Schreiben zwischen und in den Disziplinen, Bielefeld 2021. Zu Annotationspraktiken im wissenschaftlichen Bereich vgl. Julia Nantke und Frederik Schlupkothen (Hg.): Annotations in Scholarly Editions and Research. Functions, Differentiation, Systematization, Berlin/Boston 2020; in historischer Perspektive dazu ein Beitrag von Joseph S. Freedman: Footnotes (as Annotations) in Historical Context and Their Relavance for Digital Humanities in Our Time, in: ebd., S. 109‒129 (Entwicklung der Fußnote seit 1650). Zur wissenschaftlichen Schreibszene Christoph Hoffmann: Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte, Tübingen 2018, bes. S. 57‒70; Friedolin Krentel, Katja Barthel, Sebastian Brand, Alexander Friedrich, Anna Rebecca Hoffmann, Laura Meneghello, Jennifer Ch. Müller und Christian Wilke: Library Life. Werkstätten kulturwissenschaftlichen Forschens, Lüneburg 2015.  Hierzu Forschungsstand in Abschnitt 3 dieses Beitrags.

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menschliche Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten,⁴¹ würden sie längerfristig nicht existieren bzw. wären vermutlich gar nicht erst entwickelt worden. Doch nicht nur Technologien und Werkzeuge ‒ im Sinne von Campe/Stingelin instrumentelle Aspekte (Instrumentalität) ‒, sondern auch Kulturtechniken und Praktiken unterliegen historischen Dynamiken. Auch einzelne Praktiken, wie das Exzerpieren, Korrigieren oder Übertragen, haben ihre ‚Geschichte‘. Das Historische Wörterbuch des Mediengebrauchs (2018) versammelt semantische Facetten, Kontexte des Gebrauchs sowie Konjunkturen und Phasen des relativen Rückgangs von Tätigkeiten, wie das Ausdrucken, Kommentieren, Mailen oder Hören, und zeigt, dass auch scheinbar selbstverständliche Aktivitäten kulturellen Codierungen und Wertungen unterliegen, die in diachroner Perspektive wandel- und veränderbar sind.⁴² Auch sie sollten in ihrer Historizität von Interesse für die Schreibforschung sein.

(4) Kulturalität Dasselbe gilt auch für die soziokulturellen Konzepte, Rollen und Funktionen, die den Vollzug, die Thematisierung und die Techniken des Schreibens strukturieren. In den Blick treten auf dieser Ebene vor allem Konzepte und Kategorien, die im literarischen Kontext relevant sind, aber hinsichtlich ihrer Funktionalität und Definition historisch stark variieren, z. B. Autorschaft/Verfasserschaft, Text-, Werk-, Gattungsbegriffe, Poetologien, Konzepte von Wissen, Arbeit, Geheimnis, Subjektivität, Privatheit, Öffentlichkeit, Geschlecht. Konzeptionelle Verschiebungen lassen sich z. B. anhand von Institutionen diskutieren, etwa den wandelbaren Formen, Praktiken und Erwartungen in Bezug auf Dichterlesungen, wie Sandra Rühr zeigt,⁴³ oder anhand der Sozialrolle des Verlegers, wie Ines Barner deutlich macht.⁴⁴ Perspektiviert man die Ebene der Kulturalität, so lassen sich

 Richard Fox, Daimantis Panagiotopoulos und Christina Tsouparopoulou: Affordanz, in: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, Berlin/München/Boston 2015, S. 63‒70.  Heiko Christians, Matthias Bickenbach, Nicolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, unter Mitarbeit von Judith Pietreck und Josef Ulbig, Köln/Weimar/Wien 2018, hier S. 133, 178, 186.  Sandra Rühr: Inszenierungen des Lesens. Öffentliche literarische Lesungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Ursula Rautenberg und Ute Schneider, Berlin/Boston 2015, S. 853‒882.  Ines Barner: Von anderer Hand. Praktiken des Schreibens zwischen Autor und Lektor, Göttingen 2021; Ute Schneider: Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Göttingen 2005, bes. S. 36‒81.

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soziale, mediale, politische, rechtliche, ökonomische und ökologische Kontexte mit der Schreibszene korrelieren. Interessant ist dann, wie diese Kontexte mit den Elementen der Schreibszene interagieren, welche Dynamiken entstehen und wie sie sich über längere Zeiträume stabilisieren bzw. verändern. Aus dieser Perspektive lässt sich zudem Aufschluss über die kulturelle Signifikanz und Rolle gewinnen, die dem Schreiben in verschiedenen kommunikativen Domänen wie Journalismus, Wissenschaft, Recht, Religion, Dichtung/Literatur u. a. jeweils zuoder abgesprochen wird. Das Moment der Historizität betrifft alle vier Perspektiven und ist ‒ das soll noch einmal betont werden ‒ von entscheidender Wichtigkeit. Denn je nachdem, welchen historischen Ausschnitt man anvisiert, um Elemente der Schreibszene zu identifizieren, zu beschreiben und zu beurteilen, wird sich in Abhängigkeit zum Wissenshorizont der eigenen, gegenwärtigen Position ein sehr unterschiedliches Bild von dem ergeben, was man als Schreiben erfasst. Die vier Perspektiven, das sei ebenfalls noch einmal betont, sind nicht als disjunkte Beschreibungsebenen zu verstehen. Vielmehr beleuchten sie diejenigen Elemente und Aspekte, die eine Schreibszene ‚ausmachen‘ können. Sie bieten Blickwinkel an, unter denen Schreibszenen gedeutet und verständlich gemacht werden können. In vielerlei Hinsicht greifen sie ineinander, verweisen aufeinander oder bedingen einander. So sind beispielsweise Parameter wie Lokalität (Räumlichkeit) und Temporalität (Zeitlichkeit) in allen vier Perspektiven relevant. Das Modell hat außerdem den Vorteil, dass es für ästhetische und nichtästhetische Formen des Schreibens sowie fiktionale und nichtfiktionale Gattungen offen ist. Der Akt des Schreibens (Perspektive 1) kann sowohl in Bezug auf fiktive Schreiberfiguren als auch historische Autor:innen und deren Schreibprozesse erkenntnisleitend sein. Ebenso können sprachliche und performative Inszenierungsformen des Schreibens (Perspektive 2) in Bezug auf den Autor im soziokulturellen Kontext oder innerhalb der Diegese untersucht werden. Welche Arten von Technik (Perspektive 3) und welche kulturhistorischen Kontexte (Perspektive 4) in der Diegese eine Rolle spielen oder ob die materiale Beschaffenheit der überlieferten Textträger Hinweise auf instrumentelle Aspekte einer spezifischen Arbeitsweise von Autor:innen liefert, lässt sich in vielfacher Hinsicht mit den Perspektiven 1 und 2 in Beziehung setzen. Von getrennten Ebenen kann hier also keine Rede sein, es handelt sich um verschiedene Aspekte bzw. Perspektiven auf einen komplexen Gegenstand. In ihrer Verbindung eröffnen sie einen mehrdimensionalen Zugang zu der Komplexität von Spuren, die auf Schreibakte verweisen.

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3 Forschungsstand und methodologische Überlegungen Die Forschungslage, an welche die bisherigen Überlegungen anschließen können, ist breit. Dies hat zwei Vorteile: 1. Gerade weil eine Fülle an Elementen, die für das Zustandekommen von Schreibszenen wichtig sind, bereits untersucht worden ist, kann das einzelne Element in diachroner Perspektive als historisch wandelbare und keineswegs ahistorisch stabile Größe in den Blick genommen werden. 2. Aufgrund der Dichte der Forschungsergebnisse ist es nun auch möglich, expliziter auf die Art von Verhältnissen und Beziehungen zwischen den (bekannten) Elementen der Schreibszene zu fokussieren, auf die Relata der Einzelelemente. Die Schreibszene wird so zu einem individuell wie kulturhistorisch höchst dynamischen, verschiedenen Eigenlogiken folgenden idiosynkratischen Zusammenhang, der mit Blick auf Zeiträume, die breiter als bisher angelegt sind, Vergleichsmöglichkeiten bietet. Dies hat den Vorteil, dass die Schreibszene nicht immer nur mehr und mehr Begleitumstände des Schreibens aufnimmt (und sich gewissermaßen endlos ausweitet), sondern es ließe sich dezidierter klären, welcher Art die Relata, die Verhältnisse zwischen den Elementen, sind. Damit ist zugleich angezeigt, dass unter dem Schlagwort ‚diachrone Schreibforschung‘ kein neues Programm entworfen oder gar ein systematischer Begründungszusammenhang für die Kulturtechnik des Schreibens entwickelt werden soll. Vielmehr geht es darum, die Fülle an Einzeluntersuchungen verschiedener Provenienz zu nutzen, um sie in Bezug auf eine übergreifende historisch-diachrone Betrachtungsweise von Schreibszenen zu bündeln. Nicht die einzelne Schreibszene steht im Fokus, sondern die Historisierung der heterogenen Elemente, die Schreibszenen in unterschiedlicher Weise prägen, und die Art ihres Verhältnisses zueinander ‒ und zwar über mehrere Epochen- und Medienumbrüche hinweg, vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne. Da an dieser Stelle der Platz fehlt, um die gesamte Forschung in Gänze auszuführen, möchte ich im Folgenden exemplarisch relevante Auswahlpublikationen und Forschungsschwerpunkte nennen, die sich auf die vier Perspektiven (Akt, Thema, Technik, Kulturalität) beziehen lassen. Für alle vier Bereiche ergeben sich zuallererst Anschlussmöglichkeiten an die historisch-systematische Schweizer Schreibforschung um Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti. Das Projekt Zur Genealogie des Schreibens hat seit 2004 eine dreißigbändige, stetig im Wachsen begriffene Publikationsreihe hervorgebracht, die das Konzept der Schreibszene/Schreib-Szene facettenreich

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beleuchtet.⁴⁵ Allerdings klammert das Genealogie-Projekt die Mediävistik aus und konzentriert sich hauptsächlich auf Einzelstudien. Obwohl eine historisch-systematische Perspektive erklärtes Ziel ist, wird vorrangig fallbezogen (anhand einzelner Autor:innen) gearbeitet, nicht jedoch epochenübergreifend mittelalterliche Schreibszenen einbeziehend. Der Schwerpunkt des Genealogie-Projekts liegt im Zeitraum vom 17./18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und orientiert sich an signifikanten medientechnischen Umbrüchen bis zum „digitalen Zeitalter“, einschließlich von Schreibszenen im Kontext neuer Medien.⁴⁶ Sowohl im Rahmen des Genealogie-Projekts als auch in der Literatursoziologie, Kultur-, Literatur- und Mediengeschichte, der Editorik und Schreibdidaktik wurden zahlreiche Aspekte erschlossen, die das Schreiben prägen. Nachhaltig aufgearbeitet sind 1. (literarische) Repräsentationen und Reflexionen des Schreibens über das Schreiben in Form von intradiegetischen Schreib(er)figuren, paratextuellen und metadiegetischen Reflexionen sowie fiktionalen wie nichtfiktionalen Epitexten.⁴⁷ Dadurch werden 2. produktionsästhetische, ökonomische und soziokulturelle Kontexte der Textproduktion relevant: Poetologien, ästhetische Programme sowie damit zusammenhängende Autorschaftskonzepte, Autorinszenierungen, deren Praktiken und Medien;⁴⁸ Bedingungen des Buchhandels/  Die ersten beiden Bände der im Brill/Fink-Verlag erscheinenden Reihe sind für das Forschungsprogramm des Projekts wegweisend; Martin Stingelin (Hg.): ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004; Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti (Hg.): ‚Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen‘. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2005.  Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti (Hg.): ‚System ohne General‘. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006.  Diese textuellen Ebenen sind in jeder Studie zu Schreibszenen relevant, sodass sie in der gesamten Schreibforschung bestens dokumentiert sind. Auch die Forschung zum Schreiben in wissenschaftlichen Kontexten arbeitet im Grunde mit textuellen Differenzierungen dieser Art, mit dem Unterschied, dass wissenschaftliche Textuierungsprozesse anhand nichtfiktionaler, pragmatischer Textsorten untersucht werden (Protokolle, Zeichnungen, Tabellen, Notizen); vgl. Anm. 39 dieses Beitrags.  Carsten Gansel, Katrin Lehnen und Vadim Oswalt (Hg.): Schreiben, Text, Autorschaft I. Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten, Göttingen 2021; Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti (Hg.): ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘. Schreibszenen als Selbstlektüren, München 2008; Sandra Oster: Das Autorenfoto in Buch und Werbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern, Berlin/Boston 2014; Matthias Schaffrick und Marcus Willand (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin/Boston 2014; Lucas Marco Gisi, Urs Meyer und Reto Sorg (Hg.): Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst‐)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, München 2013; Alexander Nebrig: Von Lessings Stil zu Nietzsches Ich. Literarisches Selbstlob in Polemik und Autobiografik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), S. 240‒263; Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische

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Literaturmarktes und dessen poetische Repräsentation;⁴⁹ Netzwerke der Produktion, Rezeption und/oder Distribution;⁵⁰ die Literaturkritik und (mediale) Öffentlichkeit(en),⁵¹ politische Kontexte,⁵² kurzum: das Schreiben als Lebensform,⁵³ wurden untersucht. Unter dem Einfluss der Material Studies und Cultural Studies hat sich die Instrumentalität des Schreibens 3. als eine eigene, die materiale und dingliche Dimension von Schreiben berücksichtigende Forschung

Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011; Gunter E. Grimm und Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008; Christine Künzel und Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981.  Caroline Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin 2021; David Christopher Assmann (Hg.): Literaturbetriebspraktiken, Themenheft der Zeitschrift ‚literatur für leser‘ 38/2 (2015); Patrick Müller: Literaturmarkt, Schreiben und Publizieren im Prosawerk Karl Herloßsohns (1802‒1849), Bielefeld 2015; Philipp Theison und Christine Weder (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft, München 2013; Renate Grau: Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb, Bielefeld 2006.  Daniel Ehrmann und Thomas Traupmann (Hg.): Kollektives Schreiben, Paderborn 2022; Fabien Dubosson, Lucas Marco Gisi und Irmgard M. Wirtz (Hg.): Briefe im Netzwerk / Lettres dans la toile. Korrespondenzen in Literaturarchiven, Göttingen/Zürich 2022; Carlos Spoerhase und Erika Thomalla: Werke in Netzwerken. Kollaborative Autorschaft und literarische Kooperation im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 139/2 (2020), S. 145‒163; Katja Lißmann: Schreiben im Netzwerk. Briefe von Frauen als Praktiken frommer Selbst-Bildung im frühen Quedlinburger Pietismus, Halle/S. 2019; Eva Kormann: Schreiben als Netzwerk-, nicht als Werkpolitik. Zu Susanna Katharina von Klettenbergs religiösen Schriften, in: Pietismus und Adel. Genderhistorische Analysen, hg. von Ruth Albrecht, Ulrike Gleixner, Corinna Kirschstein, Eva Kormann und Pia Schmid, Wiesbaden 2018, S. 227‒243.  Wolfgang Hottner: Kant und das prosaische ‚Geschäft der Kritik‘, in: Prosa. Geschichte, Poetik, Theorie, hg. von Svetlana Efimova und Michael Gamper, Berlin/Boston 2021, S. 175‒186; Nacim Ghanbari: Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert. Praktiken der Verbesserung und Kritik bei Gottfried August Bürger, in: Kollaboration. Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit, hg. von Nacim Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm und Tristan Thielmann, Paderborn 2018, S. 21‒37 (Kritik als Moment eines privaten kollaborativen Schreibens); Norman Kasper: Das Drama (in) der Wertung. Facetten von Tiecks Schiller-Kritik, in: Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung, hg. von Heinrich Kaulen und Christina Gansel, Göttingen 2015, S. 213‒229; Thomas Anz und Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis, 4. Aufl., München 2007.  Claas Morgenroth, Martin Stingelin und Matthias Thiele (Hg.): Die Schreibszene als politische Szene, München 2011.  Carsten Gansel, Katrin Lehnen und Vadim Oswalt (Hg.): Schreiben, Text, Autorschaft II: Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen, Göttingen 2021; Kurt Hahn: Ethopoetik des Elementaren. Zum Schreiben als Lebensform in der Lyrik von René Char, Paul Celan und Octavio Paz, München 2019; Rudolf Probst: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels, Boston 2008.

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etabliert,⁵⁴ im Zuge derer sich auch das Verständnis von Praktiken differenziert hat. Schreiben erschöpft sich nicht darin, lediglich Worte oder Sätze zu verschriftlichen, sondern es handelt sich um ein Konglomerat rekursiv und simultan verlaufender, sich ergänzender und revidierender Praktiken, zu denen das Exzerpieren,⁵⁵ Übersetzen,⁵⁶ Korrigieren,⁵⁷ Kritzeln,⁵⁸ Streichen,⁵⁹ Zählen,⁶⁰ Kleben

 Einen Überblick über materialorientierte Ansätze bieten Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014; literaturbezogene Arbeiten vgl. Bernhard Metz: Die Lesbarkeit der Bücher. Typographische Studien zur Literatur, Paderborn 2020; Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018; Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs (Hg.): Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, Hannover 2017; Klaus Müller-Wille: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik, München 2017. Verschiedene Formate und Gattungsformen wurden untersucht, z. B. Notizbücher, Karteikarten, Ablagesysteme u.v.m.; Svetlana Efimova: Das Schriftsteller-Notizbuch als Denkmedium in der russischen und deutschen Literatur, Paderborn 2018; Richard Yeo: Notebooks, English Virtuosi, and Early Modern Science, Chicago 2014; Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin 2002.  Hierzu Beitrag von Elisabeth Décultot in diesem Band; ferner Elisabeth Décutot (Hg.): Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2014. Cornelia Ortlieb konzipiert das Exzerpieren als zwischen Lesen und Schreiben vermittelnde Praktik; Cornelia Ortlieb: ‚Materielle Wahrheit‘. Zur Kritik des Exzerpierens und seiner Wiederentdeckung im späten 18. Jahrhundert, in: Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde, hg. von Christoph Hoffmann und Caroline Welsh, Berlin 2006, S. 49‒60.  Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato (Hg.): Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800. Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien, Berlin/Boston 2019.  Kirsten Wallenwein: Prüfzeichen in karolingischen Handschriften. Korrekturlesen im frühen Mittelalter (Ende des 8. Jh. n.Chr.), in: 5300 Jahre Schrift, hg. von Michaela Böttner, Ludger Lieb, Christian Vater, Christian Witschel, Heidelberg 2017, S. 78‒81; weitere Einsichten verspricht der bei Verfassung dieses Beitrags noch nicht erschienene Sammelband von Iuditha Balint, Janneke Eggert und Thomas Ernst (Hg.): Korrigieren – eine Kulturtechnik, Berlin/Boston 2022.  Fanny Opdenhoff: Kritzeln, Zeichnen, Schreiben. Antike Graffiti als Kommunikationsform (zwischen 55 und 68 n.Chr.), in: 5300 Jahre Schrift, hg. von Michaela Böttner, Ludger Lieb, Christian Vater, Christian Witschel, Heidelberg 2017, S. 38‒41; Christian Driesen: Theorie der Kritzelei, Wien/Berlin 2016; Christian Driesen, Rea Köppel, Benjamin Meyer-Krahmer und Eike Wittrock (Hg.): Über Kritzeln. Graphismen zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, Zürich 2012.  Lucas Marco Gisi, Hubertus Thüring und Irmgard M. Wirtz (Hg.): Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität, Göttingen/Zürich 2011; Cornelia Ortlieb: Anstreichen, Durchstreichen. Das Schreiben in Büchern und die Philosophie der Revision bei Friedrich Heinrich Jacobi, in: Verbergen, Überschreiben, Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion, hg. von Mona Körte und Cornelia Ortlieb, Berlin 2007, S. 247‒270.  Lutz Danneberg: Diagrammata und Tabulae als Darstellungsweisen. Analysen, Beobachtungen und Beispiele, in: Textologie. Theorie und Praxis interdisziplinärer Textforschung, hg. von Martin Endres, Axel Pichler und Claus Zittel, Berlin/Boston 2017, S. 199‒255.

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und dergleichen mehr zählen,⁶¹ die nicht nur Handlungs- und Wissensformen, sondern eigene Werkzeuge des Denkens darstellen.⁶² Da Werkzeuge des Schreibens oftmals (wenn nicht gar grundsätzlich) affektiv konnotierte Objekte sind, erhalten emotionsorientierte Forschungsansätze immer mehr Aufmerksamkeit.⁶³ Während Konzepte, Praktiken, Materialien und Objekte, Technologien, Akteure und Institutionen vielfach Beachtung gefunden haben, gilt dies 4. für historische Gattungs- und Texttraditionen nicht in derselben Weise. Folgt man der Gattungstheorie, so sind auch (literarische und nichtliterarische) Textformen keine stabilen, sondern historisch wandelbare Größen.⁶⁴ Schreibprozesse werden zwar ‚in‘ verschiedenen Gattungen und Textsorten untersucht, doch dass dieser ‚Rahmen‘ und die Funktionen der textuellen Formate je nach Kommunikationsund Handlungszusammenhang variieren, ja, dass Verständnis und Gebrauch von Textsorten selbst historisch wandelbar sind, findet bei der Untersuchung von Schreibszenen insgesamt noch zu wenig Beachtung. Im diachronen Längsschnitt kann ein historisches Gattungsverständnis wichtig sein, weil Gattungen unterschiedliche Adressatenbezüge und Lektüreerwartungen (vor‐)strukturieren, von denen das schreibende Subjekt ‒ unabhängig davon, in welcher Weise es sich zu

 Irmgard M. Wirtz und Magnus Wieland (Hg.): Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier, Göttingen/Zürich 2017; Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin/München/Boston 2015, bes. S. 551‒746 (Stempeln, Blättern, Ordnen, Wiederverwenden, Zerstören); Eckart Conrad Lutz (Hg.): Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010, Berlin 2012.  Tasos Zembylas und Claudia Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben. Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien 2009.  Hierzu der Beitrag von Rita Rieger in diesem Band; ferner Susanne Knaller: Mit Texten umgehen. Ein theoretisch-methodologisches Modell, Bielefeld 2022; Susanne Knaller: Schreiben und Emotion. Vorschläge für ein literaturwissenschaftliches Modell, in: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, hg. von ders., Doris Pany-Habsa und Martina Scholger, Bielefeld 2020, S. 97‒113; Sergej Rickenbacher: Von der Gefü hlspsychologie zur Poetologie der ‚Stimmung‘. Musils Weiterschreiben von Carl Stumpf, in: Musil’s Intellectual Affinities, hg. von Todd Cesaratto und Martz Brett, Bern u. a. 2018, S. 37‒65; Susanne Knaller, Ingeborg Jandl, Sabine Schönfellner und Gudrun Trockner (Hg.): Writing Emotions. Theoretical Concepts and Selected Case Studies in Literature, Bielefeld 2017.  Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Tübingen 2009; Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten, Tübingen 2008; Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007; Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003; Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie, in: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, hg. von Walter Hinck, Heidelberg 1977, S. 27‒44.

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diesen ‚Regeln‘ verhält ‒ im Schreibakt nicht restlos frei ist. In der Schreibdidaktik werden solche Effekte unter dem Stichpunkt „Schreibauftrag“ (Wahl von Thema und Textsorte) reflektiert,⁶⁵ in der Editorik als Frage der Klassifikation von Textformen und Entstehungskontexten von Schriftspuren.⁶⁶ Würden solche Überlegungen stärker in die historische Analyse einbezogen, ließe sich Stingelins Aufforderung, „Rahmen“, „Rollenzuschreibungen/Rollenverteilungen“ und „Regie“ der Schreibszene zu untersuchen,⁶⁷ auch in Bezug auf historisch variable Gattungs- bzw. Formkonventionen und deren Kontexte spezifischer vertiefen. Desiderata bestehen vor allem 5. in Hinblick auf die theoretisch-methodische Reflexion und Einordnung der Phänomene, die eine historische Schreibforschung erschließt. Wenn, so Friedrich Kittler, die „Reflexion der Eigentümlichkeit von Schriftlichkeit nicht beim Konstatieren von Unterschieden enden“ kann, in deren Folge sich Schriftlichkeit lediglich in Abgrenzung zur Mündlichkeit definiert,⁶⁸ dann muss darüber nachgedacht werden, wie eine Vergleichbarkeit von (schriftsprachlichen) Zeichensystemen, ihren jeweiligen Konstitutionsbedingungen und spezifischen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen im historischen Längsschnitt hergestellt werden kann. Interessant dürfte es beispielsweise sein, die Nutzung von topografischen Flächen auf Schriftträgern und den Umgang mit Layoutkonventionen weiterzuverfolgen. Wenn Thorsten Gabler in Fontanes Briefkommunikation und deren Skriptural-Aisthetik eine „Doppel-Figur […] zwischen Notation […] und Performanz“, zwischen „Fixierung“ und transitorischer

 Thomas Bachmann und Michael Becker-Mrotzek: Schreibkompetenz und Textproduktion modellieren, in: Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik, hg. von Michael BeckerMrotzek, Joachim Grabowski und Thorsten Steinhoff, Münster/New York 2017, S. 25‒54, hier S. 29.  Thorsten Ries: Das digitale ‚dossier génétique‘. Digitale Materialität, Textgenese und historisch-kritische Edition, in: Textgenesen in der digitalen Edition, hg. von Anke Bosse und Walter Fanta, Berlin/Boston 2019, S. 90‒116. Zur Editionsphilologie vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, Hendricus Theodorus Maria van Vlies und Hermann Zwerschina: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, Berlin 2000; Anne Bohnenkamp: Textkritik und Textedition, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, München 2005, S. 179‒203. Zur critique génétique Almuth Grésillon: Erfahrungen mit Textgenese, critique génétique und Interpretation, in: Text, Material, Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation, hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski, Berlin/Boston 2014, S. 65‒79; Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ‚critique génétique‘. Aus dem Frz. von Frauke Rother und Wolfgang Günther, Bern u. a. 1999.  Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 8.  Friedrich Kittler: Baggersee. Texte aus dem Nachlass, hg. von Tania Hron und Sandrina Khaled, Paderborn 2015, S. 167.

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„Bewegung des Körpers“ erkennt,⁶⁹ weil Fontane seine Briefkarten so kompliziert faltet und beschreibt, dass die Rezipienten beim Aufschlagen und Lesen nicht nur zu intellektuellen, sondern auch zu haptisch-körperlichen Aktivitäten gedrängt werden (denn andernfalls könnten sie die Karte nicht vollständig entfalten und müssten in der Lektüre scheitern), dann erinnert dieser Befund an Notationsweisen in mittelalterlichen Klosterhandschriften von Frauen, die ebenfalls raumnutzende, den Schriftträger ausfüllende und Aufmerksamkeit generierende Schreibpraktiken entwickelten, die gleichfalls ein hohes, auch körperliches Engagement vom Rezipienten bei der Lektüre verlangen.⁷⁰ Wie lassen sich strukturell ähnliche Elemente und funktional vergleichbare Effekte, Umgangsweisen und Herstellungsverfahren im Hinblick auf Schriftträger ganz unterschiedlicher Provenienz einordnen? Was unterscheidet sie voneinander, wie lassen sich ihre Spuren und dadurch die „Eigentümlichkeit“ der jeweiligen Schreibszenen erfassen? Darüber nachzudenken, lädt der vorliegende Sammelband ein.

4 Beiträge Die Beiträge in diesem Band gehen auf eine Tagung zum Thema Formen, Praktiken, Dynamiken literarischen Schreibens. Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne zurück, die im Oktober 2021 an der Universität Osnabrück stattfand. Sie nehmen unterschiedliche Aspekte der hier besprochenen Problematik auf, ohne sie ‒ das sei im Vorfeld betont ‒ umfassend und systematisch ausarbeiten zu können. Zukünftig können und sollen die behandelten Einzelaspekte in diachroner Perspektive weiterentwickelt werden – aufgrund des historischen Umfangs des Gegenstandsbereiches ist dies allerdings ein längerfristiges Ziel. Die Beiträge des Bandes ordnen sich nach der Chronologie der behandelten Gegenstände. S a n d r o Z a n e t t i eröffnet die Diskussion über die Historizität der heterogenen Elemente von Schreibszenen, indem er sich dem kardinalen Moment zuwendet, durch das die ‚Schreibszene‘ in eine ‚Schreib-Szene‘ kippt ‒ die reflexive Selbstbezüglichkeit. Mittels linguistischer, kulturwissenschaftlicher und postmoderner Theoreme fragt er nach Bedeutungsebenen von Selbst, Selbstbezug und

 Thorsten Gabler: Epistolo/Graphie. Studien zur Skripural-Aisthetik brieflicher Kommunikation im 19. Jahrhundert (Bettine und Achim von Arnim, Theodor Fontane), München 2022, S. 224.  Simone Schultz-Balluff: Die Nonnen aus dem Kloster Lüne. Kompetent, kreativ und ressourcenbewusst. Schreib- und schriftsprachliche Auswertung des ältesten Lüner Briefbuchs (um 1460‒1535), in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, Bd. 142 (2019), S. 87‒ 123.

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Rekursion und regt an, mögliche Arten von Selbstbezug hinsichtlich der Schreibszene historisch-systematisch zu differenzieren. Die Untersuchung literarischer Produktionsprozesse könnte dann sogar einen neuen Zugang zur Historiografie eröffnen, weil das Moment des Vergangenen, das jedem Schreibakt sogleich innewohnt, besonders eindrücklich „auf die potenzielle Unverfügbarkeit und den Konstruktionscharakter des nachträglich anvisierten Vergangenen“ verweist. Es folgen vier thematische Abschnitte zum Mittelalter, der Frühen Neuzeit, dem 18. und dem 19. Jahrhundert. Der erste Abschnitt zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schreibszenen fokussiert auf den Umgang mit problematischen Überlieferungssituationen und wie sich in diesem Rahmen das Schreiben untersuchen lässt. Narratologische, kultur-, medien- und wissenschaftshistorische Ansätze kommen zum Einsatz. S t e f a n A b e l untersucht Schreib-Szenen im Epilog des mittelalterlichen Textkonvoluts Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336). Die Entstehungsgeschichte umfasst einen längeren Zeitraum, rekurriert auf unterschiedliche Schreiberinstanzen, Kompilatoren und Auftraggeber, aber auch allegorische Instanzen (‚Minne‘ und ‚Milte‘) oder das ‚Erbe‘ der altfranzösischen Gralstradition werden als am Text ‚mitschreibende‘ Instanzen stilisiert. Die Schreibszene zerfällt in unterschiedliche Zeitlichkeiten, plurale Schreiberinstanzen, fiktive, realhistorisch referenzialisierbare und virtuelle Räume. Um Komplexität und Dynamik der textuellen Ebenen zu beschreiben, schlägt Abel ein narratologisches Instrumentarium vor. Jan Habermehl und M i c h a e l R . O t t widmen sich der Frage, welche Art von Aussagen man über die material-pragmatischen Produktionsbedingungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Drucke treffen darf. Da Betriebsabläufe und Herstellungsweisen der ersten Wiegendrucke in textuellen Dokumenten kaum beschrieben werden, werten Ott und Habermehl nichttextuelle Quellen aus. Anhand von Grafiken, Kupferstichen und weiteren Bildmaterialien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts rekonstruieren sie Produktionsverfahren und Abläufe in Druckerwerkstätten. Diese verdichten sie zur „Druckszene“ und ihren „Prozessen“ und stellen Reflexionen dieser prozessualen Abläufe in späteren Publikationen vor. So eröffnen sie eine Perspektive auf die „Druck-Szene(n) von Druckszene(n)“. Ausgehend vom Bildtopos des in der Einsamkeit schreibenden Gelehrten, wie er im Gemälde Der heilige Hieronymus in seiner Studierstube, Florenz (1480/1532), geprägt wird, fokussiert S t e p h a n K a m m e r auf die Sozialität der die Schreibszene konstituierenden Elemente. Als „Ästhetik des Kollaborativen“ nähert er sich den Konstitutionsbedingungen des Schreibens nicht vom schreibenden Subjekt aus, sondern stellt die Beziehungsgeflechte und Relationen, die zwischen Räu-

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men, Werkzeugen, Praktiken und Akteuren entstehen, in den Fokus. Indem die Schreibszene zur Bühne bzw. zum theatrum geweitet wird, lässt sich erkennen, dass das kultur-, kunst- und sozialhistorisch höchst einflussreiche Narrativ des ‚einsamen Schreibenden‘ in eine Vielzahl historischer Formen der Sozialität von Dingen und Interaktionen eingelassen ist. Abschließend beleuchtet E l i s a b e t h W å g h ä l l N i v r e aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive den Umgang der Mediävistik mit Schreibspuren am Beispiel von Georg (Jörg) Wickram (um 1505). Als nicht gelehrter Schreiber setzte sich Wickram in seinen Texten vielfältig mit dem eigenen Schreiben auseinander, weshalb er für die mediävistische Schreibforschung besonders relevant ist. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die Schreibforschung innerhalb der Wickramforschung rasant weiterentwickelt – Grund genug, um Forschungsansätze und Möglichkeiten des wissenschaftlichen Schreibens über Formen und Prozesse des spätmittelalterlichen Schreibens zu rekapitulieren. Die Abschnitte zwei und drei führen in das 17. und 18. Jahrhundert. Zunächst rückt das Verhältnis von Schreiben und Geschlecht in den Fokus. Die Kulturtechnik Schreiben wird als eine Praxis perspektiviert, durch die sich sowohl Männer als auch Frauen ermächtigen, individuelle Subjektpositionen und Autorschaftsmodelle zu entwerfen und umzusetzen. M a r t i n K l ö k e r untersucht anhand einer geheimen Liebeskorrespondenz zwischen dem verheirateten Sekretär Caspar Meyer (um 1605‒1654) und der Kaufmannstochter Catharina von der Hoyen (*um 1621) die lyrische Produktion Meyers, die durch den Briefwechsel angeregt wird. Verschiedene Schreibdynamiken überlagern sich: Müssen die Briefe schnell und direkt niedergeschrieben werden, damit sie nicht entdeckt werden, wendet Meyer für die Gedichte große Sorgfalt auf. Verschiedene Verfahren des dichterischen (Ab‐)Schreibens lassen sich identifizieren. Meyer passt die Lyrik barocker Vorbilder (Opitz, Fleming) „in produktiver Aneignung“ dem eigenen Kommunikationskontext und Schreibbedürfnis an, zitiert sie oder gibt sie direkt als seine eigenen Gedichte aus. B a r b a r a B e c k e r - C a n t a r i n o untersucht am Beispiel von Sophie von La Roche (1730‒1807) und ihrer Enkelin Bettina von Arnim (1785‒1859) Formen und Funktionen der auktorialen (Selbst‐)Inszenierung schreibender Frauen im 18. Jahrhundert. Der Vergleich von Schreib- und Publikationsstrategien der beiden Autorinnen macht deutlich, wie sich die Bedingungen und Möglichkeiten einer öffentlichen Rolle als Auctora allein im Abstand von zwei Generationen rasant verändern. Autorschaftsmodelle, Schreib- und Publikationsstrategien sind für Frauen im 18. Jahrhundert variabel und ausbaufähig, wie die generationenübergreifende Perspektive zeigt. Der dritte Abschnitt führt Dynamiken von Schreibszenen im 18. Jahrhundert weiter aus, stellt nun aber raumzeitliche, materiale und soziale Infrastrukturen

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stärker in den Fokus sowie damit verbundene Praktiken und Verfahren des Schreibens. J e n n i f e r C l a r e befragt soziologische Raum- und Praxistheorien nach ihrem Mehrwert für die Analyse von kollaborativen Schreibpraktiken im Rahmen von Paarbeziehungen. Beispielhaft illustriert sie diese Fragestellung an der Schreibumgebung und der kollaborativen Schreibpraxis von Rahel Levin (1771‒ 1833) und Karl August Varnhagen (1785‒1858). Es zeigt sich, dass beide Schreibende nicht nur die gemeinsame Schreibpraxis, sondern auch den gemeinsamen Schreibraum aktiv herstellen, wobei Praxis- und Raumstrukturen beständig ineinandergreifen und sich modifizieren. E l i s a b e t h D é c u l t o t untersucht anhand der Exzerptsammlungen von Johann Joachim Winckelmann (1717‒1768), Jean Paul (1763‒1825) und anderen Autoren Ordnungs- und Verfahrensweisen des Exzerpierens. Mit dem Aufkommen eines individualisierten Autorschaftsbegriffs und dem Paradigma der Originalität werden Diskurse über das Exzerpieren im 18. Jahrhundert aus den Universitäten und der Öffentlichkeit verdrängt. Die Exzerpierpraxis bleibt jedoch weiterhin eine wichtige „Keimzelle für neue Schreibarbeit“. Die ineinandergreifenden Praktiken des Lesens, Übersetzens und Exzerpierens setzen lexikalische und semantische Aneignungsprozesse in Gang, die mitunter konzeptionelle Weichen stellen. Die Rezeption des englischen und französischen Konzepts der „Simplicity“/„Simplicité“, das Winckelmann als „Einfalt“ im Sinne von ‚Ursprünglichkeit‘ positiv umkonnotiert, avanciert zu einer zentralen Kategorie der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Der vierte Abschnitt gilt dem 19. Jahrhundert und richtet sich auf Dynamiken und Austauschprozesse, die sich in transkultureller und intermedialer Hinsicht zwischen verschiedenen Medien, Gattungen und kommunikativen Bereichen beschreiben lassen. Emotionen und subjektive Impressionen werden in ihrer historisch spezifischen Codierung in die Schreibszene integriert. C o r n e l i a O r t l i e b widmet sich dem Verhältnis von Schreibweisen und Gattungszusammenhängen. Sie untersucht, wie sich die serielle Schreibweise von Stéphane Mallarmé (1842‒1898), bekannt aus den Vers de circonstance (1871‒ 1898), in der von Mallarmé verfassten Zeitschrift La Dernière Mode (Paris 1874‒ 1875) fortschreibt. Die auf Tonkrügen, Papierfächern und anderen Alltagsgegenständen verfasste Gelegenheitsdichtung, die verschenkt und zum Teil von den Beschenkten weitergeschrieben wurde, findet in der Zeitschrift eine „Verlängerung und Vermehrung“. Zirkuliert schon die objektgebundene Versdichtung zwischen sozialen, materialen und poetischen Kontexten, treten in der Zeitschrift weitere Bezugsgrößen hinzu, die Schreib- und Textuierungsprozesse in unterschiedlichste Richtungen evozieren. Konsumgüter und Luxusartikel aus aller Welt, die in La Dernière Mode beschrieben, beworben und zum Kauf angeboten

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werden, öffnen imaginäre Türen zu fremden Ländern, vergangenen Zeiten und Kulturen. Unter weiblichen Pseudonymen wendet sich Mallarmé an eine weibliche Leserschaft, die in diese eklektizistische Ästhetik involviert wird. R i t a R i e g e r konzeptualisiert das Verhältnis von Emotion und Schreiben am Beispiel von Paul Valérys (1871‒1945) allmorgendlicher Schreibroutine, die er in den Cahiers thematisiert. Valéry differenziert zwischen einem spontanen Schreiben am Morgen, das er als ein „rauschendes“, „wegsprudelndes Schreiben aus der Hand“ beschreibt, und einem planmäßigen, disziplinierten Schreiben am Tag, das in erster Linie erkenntnisorientiert sei. Die Freude („joie“) und Erregung („excitation“), die das Schreiben hervorruft, ist Beginn eines Schreibakts, dessen Idealzustand erst realisiert sei, wenn ein erkenntnisgenerierendes Moment stimuliert wird. Mit Blick auf das in der Forschung betonte „analytische, kombinierende und grafisch-manuelle Schreibverständnis“ Valérys erweisen sich die emotionalen Facetten als komplementäre, ja konstitutive Momente der Schreibszene. A n k e B o s s e diskutiert am Beispiel von Robert Musil (1880‒1942) die graduellen Unterschiede von Selbst- und Fremdwahrnehmung, die sich in Bezug auf das eigene Schreiben feststellen lassen. Vor dem Hintergrund von Schreibszene (Campe) und Schreib-Szene (Stingelin/Giuriato/Zanetti) fragt sie nach den Sphären des Schreibens, die ohne das Wissen um Publikum und Publikation auskommen, wenn sich das schreibende Subjekt selbstadressierend zur Referenzinstanz für das eigene Schreiben macht. Diesen „autozentrierten Echoraum“ des Schreibens nennt Bosse die „Überlappungszone“. Bei Robert Musil äußert sich dieser Bereich in einem sich immer weiter verzweigenden „Verweissystem“, das für Musil notwendig war, um sich in der Masse seiner begonnenen und abgebrochenen Textentwürfe zu orientieren, und das sich der Dichter parallel zum erhofften Werkkomplex erschrieb. K a t j a B a r t h e l untersucht zuletzt Dynamiken, die durch die Partizipation des schreibenden Subjekts an verschiedenen schriftsprachlichen Funktionssystemen mit divergierenden sprachlichen und soziokulturellen Konventionen entstehen. Am Beispiel von Robert Walsers (1878‒1956) Zusammenarbeit mit Paul Cassirer (1871‒1926) im Sekretariat der Künstlervereinigung Berliner Secession untersucht sie die Interferenz von „administrativer und literarischer Schreibszene“ und zeigt, wie im kollaborativen Schreib- und Arbeitszusammenhang von Büro und Literatur eine neue Textsorte – der „Werbebrief“ – entsteht. An den Schnittstellen von (inter‐)aktionalen, thematischen, technisch-technologischen und kulturellen Aspekten der Schreibszene werden Dynamiken erkennbar, die das zentrale Interesse einer diachronen Schreibforschung umreißen – nämlich die Frage, wie sich Dynamik und historische Wandelbarkeit der heterogenen Elemente eines ‚nicht-stabilen Ensembles Schreibszene‘ zur internen

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Funktionalität dieses Ensembles ‒ Schreibakte zu realisieren, Schreibprozesse zu organisieren und Schreibszenen zu stabilisieren bzw. zu modifizieren ‒ verhält. Diese Zusammenhänge in diachroner Perspektive weiter zu vertiefen, ist das Anliegen der vorliegenden Publikation. Ich danke allen Personen und Institutionen, die mich bei der Durchführung der Tagung und der Drucklegung des vorliegenden Bandes unterstützt haben. Mein Dank richtet sich besonders an die Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung für die finanzielle Unterstützung sowie an das Forschungszentrum Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) und das Institut für Germanistik (IfG) an der Universität Osnabrück für all ihre Hilfe. Er gilt den Wissenschaftler: innen, die sich engagiert mit ihrer Expertise eingebracht haben, allen Mitarbeiter: innen, Doktorand:innen, wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräften im Umfeld der Tagung, die tatkräftig an der Realisation beteiligt waren. Besonders danken möchte ich Kai Bremer, Nina Oppermann, mit der gemeinsam die Idee zu diesem Projekt zuerst entstanden ist, Stefanie Freyer, Irene Brink, Vanessa Bross, Stefan Schrader, Marcus Böhm und vor allem Alexander Friedrich.

Sandro Zanetti

Über Schreiben als Kulturtechnik hinaus – Literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung Schreiben ist eine Kulturtechnik. Seit der Renaissance des Begriffs der Kulturtechnik in den Kultur- und Medienwissenschaften der vergangenen Jahre gehört das Schreiben sogar – nicht immer differenziert von der Schrift – zu den wenigen Verfahren, deren Zugehörigkeit zum entsprechenden Begriffsinhalt meines Wissens nie in Zweifel gezogen worden ist.¹ Doch was sind Kulturtechniken? Thomas Macho stellt das Schreiben, neben dem Lesen, in eine Reihe mit „Sprechen, Übersetzen und Verstehen, Bilden und Darstellen, Rechnen und Messen“ sowie „Singen und Musizieren“.² Diese Tätigkeiten wiederum setzt Macho als „Kulturtechniken“ von bloßen „Techniken“ ab, zu denen er etwa das Feuermachen, das Pflügen, Kochen und Jagen zählt, und zwar mit der Begründung, dass letztere Techniken im Unterschied zu den von ihm enger gefassten Kulturtechniken durch eine „Pragmatik der Rekursion“ gekennzeichnet seien, die sich in „symbolischer Arbeit“ vollziehe und artikuliere. Machos Definitionsvorschlag lautet wie folgt: Kulturtechniken unterscheiden sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion. Von Anfang an kann man vom Sprechen sprechen, das Kommunizieren kommunizieren. Man kann Bilder malen, in denen Bilder – oder Maler – erscheinen; noch im Film werden häufig Filme gezeigt. Man kann nur rechnen oder messen, indem man auf Rechnen und Messen Bezug nimmt. Und natürlich kann man vom Schreiben schreiben, vom Singen singen und vom Lesen lesen. Dagegen ist es unmöglich, das Feuermachen im Feuermachen, das Pflügen im Pflügen, das Kochen im Kochen, das Jagen im Jagen zu thematisieren. Wir können uns zwar über Kochrezepte oder Jagdmethoden unterhalten, ein Feuer malerisch oder theatralisch darstellen, ein neues

 Einschlägig waren und sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Publikationen aus dem Kontext des Gründungsprojektes „Bild Schrift Zahl“ (2001–2007) des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin; Näheres unter www.kulturtechnik.hu-ber lin.de/bild-schrift-zahl/ (letzter Zugriff: 28.02.2022). Die neuere – im Übrigen fast nur im deutschsprachigen Raum prominent gewordene – Begriffsprägung hebt sich vom älteren Begriff aus der Bodenkunde und Agrarwirtschaft deutlich ab und erstreckt sich insgesamt auf Tätigkeiten, in denen Technik- und Medienbezogenheit, symbolische Artikulation und kulturelle Prägung zusammenwirken.  Thomas Macho: Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität und Identifikation, in: Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion, hg. von Dirk Baecker, Matthias Kettner und Dirk Rustemeyer, Bielefeld 2008, S. 99–117, hier S. 100. https://doi.org/10.1515/9783110792447-002

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Bauwerk entwerfen; aber genau dann bedienen wir uns ja der Techniken symbolischer Arbeit – und machen gerade kein Feuer, jagen, kochen oder bauen nicht.³

Rekursion und Selbstbezug sind allerdings Kriterien,⁴ die – zumal in ihrer Koppelung mit „symbolischer Arbeit“ – wenig geeignet sind, zwischen Techniken und Kulturtechniken eine scharfe Grenze zu ziehen.⁵ Denn auch das Feuermachen und das Pflügen, das mit dem Ackerbau sogar die historisch frühere Bedeutung von ‚Kulturtechnik‘ in Erinnerung ruft, sind selbstbezüglich in dem Sinne, dass sie auf wiederholten und in der Wiederholung tradierbaren Praktiken beruhen (die wiederum nicht frei von Symbolik sind). Ist es tatsächlich nicht möglich, „das Feuermachen im Feuermachen, das Pflügen im Pflügen, das Kochen im Kochen, das Jagen im Jagen zu thematisieren“? Alles hängt hier davon ab, wie weit man die Tätigkeit des ‚Thematisierens‘ fassen möchte. Immerhin ist beim „Rechnen und Messen“ auch nur von einem „Bezug“ die Rede. Die Grenzen zum Symbolischen (oder im Symbolischen) sind letztlich bei Techniken unterschiedlichster Art, Kulturtechniken inbegriffen, fließend. Spricht man von ‚Rekursion‘ und ‚Selbstbezug‘, eröffnet sich allerdings auch die Möglichkeit, die weiterführende Frage ernst zu nehmen, wie man die Bedeutung des „Selbst“ im „Selbstbezug“ sowie der Vorsilbe „Re-“ in der „Rekursion“ bestimmen könnte oder sollte. Worauf genau bezieht sich da etwas ‚auf sich selbst‘ zurück? Und wie?

 Ebd.  Eine weitere Definition geben Sybille Krämer und Horst Bredekamp in ihrem einleitenden Aufsatz zum Band Bild, Schrift, Zahl: „Kulturtechniken sind 1. operative Verfahren zum Umgang mit Dingen und Symbolen, welche 2. auf einer Dissoziierung des impliziten ‚Wissens wie‘ vom expliziten ‚Wissens dass‘ beruhen, somit 3. als ein körperlich habitualisiertes und routinisiertes Können aufzufassen sind, das in alltäglichen, fluiden Praktiken wirksam wird, zugleich 4. aber auch die aisthetische, material-technische Basis wissenschaftlicher Innovationen und neuartiger theoretischer Gegenstände abgeben kann. Die 5. mit dem Wandel von Kulturtechniken verbundenen Medieninnovationen sind situiert in einem Wechselverhältnis von Schrift, Bild, Ton und Zahl, das 6. neue Spielräume für Wahrnehmung, Kommunikation und Kognition eröffnet“; Sybille Krämer und Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur, in: Bild, Schrift, Zahl, hg. von Sybille Krämer und Horst Bredekamp, München 2003, S. 11– 22, hier S. 18.  So vermerkt hierzu Erhard Schüttpelz kritisch: „Der Begriff der ‚Kulturtechniken‘ ist daher eigentlich redundant. Alle Techniken sind Kulturtechniken. Techniken sind kulturell kontingent, sie werden kulturell (nicht-genetisch) übermittelt, sie sind ein Produkt von Erziehung und Erfindung. Dies geschieht durch Lernen und Lehren, also durch Symbolverarbeitung und unbegriffene und begriffene Praxis“; Erhard Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), hg. von Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, Weimar 2006, S. 87–110, hier S. 90.

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Selbstbezüglichkeit kann sehr Unterschiedliches bedeuten. Wenn Roman Jakobson in seinem grundlegenden Aufsatz Linguistics and Poetics ⁶ etwa die „poetische Funktion der Sprache“ als diejenige „Einstellung“ definiert, die „auf die Botschaft als solche“ („the message itself“) – das heißt „auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ („as such“, „for its own sake“) – „zentriert ist“,⁷ dann stellt sich sofort die Frage, worin genau das Selbst der Botschaft bestehen soll. Jakobson orientiert sich in der Folge vor allem am Beispiel des Reims: dem ‚Selbst‘ des sprachlichen Klangs, wenn man so will. Aber denkbar sind auch ganz andere Formen der Selbstbezüglichkeit: der Bezug etwa einer sprachlichen Äußerung auf ihre ‚eigene‘ Semantik, ihre Pragmatik oder ihre Materialität, und dies wiederum jeweils in unterschiedlichsten Dimensionen. Jakobson hat dies seinerseits im Übrigen bemerkt. So finden sich im weiteren Verlauf des Aufsatzes bereits Hinweise darauf, dass der „Vorrang der poetischen Funktion“ nicht nur die „Botschaft selbst“ (etwa auf der Ebene des Klangs), sondern auch ihr „Adressant und Adressat“ sowie die „Referenz“ jeweils „ambig“ werden lasse.⁸ Die Frage stellt sich jedoch, ob nicht die möglichen Arten eines Selbstbezugs noch weiter differenziert werden können.

 Der Text wurde ursprünglich 1958 als „Closing Statement“ an der Konferenz Style in Language an der Indiana University vorgetragen, 1960 erstmals gedruckt (Jakobson 1960) und 1981 in einer erweiterten Form publiziert.  Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (erweiterte Fassung, übers. von Stephan Packard), in: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Bd. 1: Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von Hendrik Birus gemeinsam mit Sebastian Donat, Berlin/New York 2007, S. 155– 216, hier S. 168; Roman Jakobson: Closing Statement. Linguistics and Poetics, in: Style in Language, hg. von Thomas A. Sebeok, Cambridge, Mass./New York/ London 1960, S. 350–377, hier S. 356.  Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 192. Ralf Simon ist dieser Spur in einer Reihe von Texten Jakobsons gefolgt und hat sie systematisch weiterentwickelt; vgl. etwa Ralf Simon: Was genau heißt: ‚Projektion des Äquivalenzprinzips‘? Roman Jakobsons Lehre vom Ähnlichen, in: Strukturalismus, heute. Brüche. Spuren, Kontinuitäten, hg. von Martin Endres und Leonhard Herrmann, Stuttgart 2018, S. 121–138. Zu Recht betont Simon, dass die berühmte Definition Jakobsons der poetischen Funktion – „Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab“ (Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 170) – von einem „Prinzip“ spricht, das abgebildet bzw. projiziert bzw. transformiert werde. Es gehe also nicht einfach (oder überhaupt) darum, dass „Paradigmainhalte auf das Syntagma aus[ge]schüttet“ werden: „Die Projektion eines Prinzips auf das Syntagma ist nicht die Projektion der prinzipiierten Inhalte auf das Syntagma“; Simon: Was genau heißt ‚Projektion des Äquivalenzprinzips‘?, S. 122. Ich teile diese Einschätzung – im Prinzip.Wie man allerdings das Verhältnis oder die Verhältnisse der vorliegenden und beschreibbaren Elemente eines Syntagmas wiederum zum Prinzip oder zu den Prinzipien ‚ihres‘ Paradigmas oder ‚ihrer‘ Paradigmen bestimmen sollte (sowohl allgemein als auch konkret), bleibt meines Erachtens weiterhin klärungsbedürftig.

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Steigt man an dieser Stelle wieder in die Diskussion rund um eine mögliche Konzeptualisierung des Schreibens – grundsätzlich – als Kulturtechnik ein, wird man jedenfalls ebenso von unterschiedlichen Aspekten oder Dimensionen der Selbstbezüglichkeit auszugehen haben (und zwar noch vor der Erörterung der Frage nach einer möglichen Poetisierung einer bestimmten Art von Selbstbezüglichkeit). Dabei dürfte man allerdings auf einen eigenartigen Umstand aufmerksam werden, der fürs Schreiben spezifisch ist (und der wiederum für eine schärfere Konzeptualisierung von Kulturtechniken insgesamt aufschlussreich ist): Schreibprozesse sind Aufzeichnungsprozesse. Mehr noch: Schreibprozesse hinterlassen notwendig eine Spur ihrer selbst und sind in diesem Sinne Selbstaufzeichnungsprozesse.⁹ Ohne die Komponente einer provisorischen Selbstarchivierung wären sie schlicht keine Schreibprozesse. Denn Schreiben setzt neben der Dimension der Sprachlichkeit (inklusive Semantik) sowie der Körperlichkeit (Gestik) notwendig auch eine Technik und eine damit verbundene Instrumentalität voraus, die ihrerseits wiederum ein durch bestimmte Gerätschaften bewerkstelligtes Hinterlassen von Schrift impliziert – und zwar notwendig. Durch diese Komponente einer provisorischen Selbstarchivierung unterscheidet sich das Schreiben als Kulturtechnik grundlegend von anderen Kulturtechniken wie etwa dem von Macho genannten „Singen“, in dem eine derartige Protoarchivierung nicht (oder nicht notwendig) stattfindet (es sei denn, man geht von einem sehr weiten Archivbegriff aus). Man mag an dieser Stelle einwenden, dass auch Schreibprozesse von sich aus tatsächlich nur eine provisorische Selbstarchivierung implizieren.¹⁰ Und ja: Der  Die Materialität und die durch sie eröffnete Möglichkeit eines wiederholten Bezugs auf sie wird in dieser Perspektive wichtig. Unabhängig von der historisch ohnehin erst später einsetzenden Diskussion um Kulturtechniken spricht Jakobson im Hinblick auf den für die poetische Funktion elementaren Selbstbezug von einer „Verdinglichung der poetischen Botschaft“: einer „Umwandlung der Botschaft in ein dauerhaftes Ding“; Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 192 f. Allerdings versäumt es Jakobson, die für ihn (und später für Derrida) wichtige „Wiederholbarkeit“ (ebd., S. 192) und die daran festgemachte Verdinglichung ihrerseits auf ihre materialen und medialen Grundlagen zu beziehen; weiterführende Perspektiven hierzu bei Stefanie Heine und Sandro Zanetti (Hg.): Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, München 2017; Sandro Zanetti (Hg.): Words as Things / Wortdinge / Mots-choses. Köln/Weimar/Wien 2013.  Stephan Kammer und Martin Stingelin haben mich im Anschluss an den Vortrag, der diesem Aufsatz zugrunde liegt, zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Selbstarchivierung problematisch ist: Wohl zeichnen sich Schreibprozesse ‚selbst‘ auf (d. h. sie implizieren eine Aufzeichnung ihrer Spur), aber sie archivieren sich nicht (von) selbst. Folgt man Derridas Unterscheidung zwischen einem archivierten Ereignis (événement archivé) und dem – davon grundsätzlich zu unterscheidenden – Ereignis der Archivierung (événement archivant), dann sind diese beiden Ereignisse tatsächlich prinzipiell voneinander zu unterscheiden; Jacques Derrida: Le ruban de machine à écrire. Limited Ink II, in: ders.: Papier Machine. Le ruban de machine à écrire

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Einwand ist ebenso triftig, wie es stimmt, dass eine längerfristige Archivierung praktisch vollständig von Faktoren abhängt, die nicht im Prozess selbst schon festgelegt sein können. Am initialen Hinterlassen von Spuren ändert diese Einschränkung allerdings nichts.¹¹ Schwerwiegender dürfte der Einwand sein, dass der Begriff der Selbstarchivierung erneut ein Selbst voraussetzt. Dies hingegen kann gerade als Argument dafür genommen werden, wie sehr es darauf ankommt, was man im Rahmen einer Kulturtechnik als Selbst des entsprechenden Verfahrens definieren möchte. Auch bei einer provisorischen Selbstarchivierung wird nicht einfach das Schreiben ‚als solches‘ – das heißt (sinnvollerweise): das Schreiben in all seinen heterogenen Dimensionen – aufgezeichnet, sondern nur ein konkretes Element: die hinterlassene Spur der Schrift eben. Und wie man nicht erst seit Derridas Erörterungen zur „écriture“ und Barthes’ „Tod des Autors“ wissen kann,¹² macht die Spur der Schrift es sogar unmöglich, einen direkten Zugang zum vergangenen Prozess zu erhalten. Von der Prozessualität des Schreibens, zu der die arretierende Funktion der Schrift notwendig gehört, zeugen die hinterlassenen Spuren hingegen schon,¹³ wenn auch oftmals auf verschlungenen Wegen. Die provisorische Selbstarchivierung des Schreibens kennzeichnet demnach also nur ein bestimmtes, wenn auch wichtiges selbstbezügliches Element im Ensemble einer „Schreibszene“, um den von Rüdiger Campe präzisierten Begriff hier ins Spiel zu bringen,¹⁴ wobei es in der Schreibprozessforschung nicht an

et autres réponses, Paris 2001, S. 33–147. Mit dem Begriff einer provisorischen Selbstarchivierung möchte ich jedoch gerade unterstreichen, dass Schreibprozesse Ereignisse sind, die ihre eigene Archivierbarkeit grundsätzlich mit sich führen. Auch eine Archivierung im herkömmlichen Sinne – wenn etwa eine Fotografie von einem Ereignis in ein Archiv aufgenommen, dort aufbewahrt und zugänglich gehalten wird – ist schließlich darauf angewiesen, dass das zu archivierende Ereignis überhaupt eine Spur hinterlassen hat und also in diesem Sinne eine provisorische Fremd- oder Selbstarchivierung – eine Protoarchivierung – durchlaufen hat. Bei Schreibprozessen ist diese Protoarchivierung integraler Bestandteil ihrer Performanz.  Leitet man den Archivbegriff vom griechischen Verb árchein (ἄρχειν) – in der Bedeutung von ‚der Erste sein, vorangehen, anfangen‘, ferner ‚herrschen‘ – ab, wird deutlich, dass das ‚initiale Hinterlassen von Spuren‘ tatsächlich in einem engeren Bezug zur Archivfrage steht, als man zunächst meinen könnte. Ohne materialisierte Archaik, so könnte man sagen, gibt es auch keine Archive, wobei das Verhältnis von Herrschaft und Überlieferung ‚von Anfang an‘ intrikat gewesen sein dürfte.  Jacques Derrida: L’écriture et la différence, Paris 1967; Roland Barthes: La mort de l’Auteur, in: Manteia 5 (1968), S. 12–17.  Sandro Zanetti: Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten, Ditzingen 2022, S. 64.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer,

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Vorschlägen gefehlt hat, die möglichen Gewichtungen der unterschiedlichen Faktoren und Elemente im Schreiben, die allesamt als Komponenten eines ‚Selbst‘ des Schreibens infrage kommen, zu erörtern. So stellte Martin Stingelin bereits 2004 in seiner Einleitung zum ersten Band des damaligen Basler Forschungsprojektes Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart die Frage 1) nach dem „Rahmen“ einer Schreibszene, 2) nach den „Rollenzuschreibungen und Rollenverteilungen“ sowie 3) nach der „Regie“ eines entsprechenden Inszenierungsvorgangs des Schreibens ins Zentrum seiner Überlegungen.¹⁵ Das Selbst des Schreibens, so könnte man sagen, ist ebenso heterogen wie die prägenden Faktoren eines jeweiligen historisch und situativ spezifisch bestimmten und zu bestimmenden Schreibprozesses, um nicht zu sagen: des Schreibens selbst. Geraten diese Faktoren, wie im Falle thematisierter Schreibprozesse in Form expliziter Schreib-Szenen, ihrerseits in den Fokus sprachlicher Artikulation, wird wiederum das jeweilige Ensemble an Faktoren ‚selbst‘ reflexiv. Der Vorteil einer Charakterisierung des Schreibens als Kulturtechnik ¹⁶ besteht letztlich darin, dass Schreibprozesse nicht bloß auf der Ebene des Diskurses, sondern auch auf jener der Praktiken, nicht nur auf der Ebene der Semantik, sondern auch auf jener der Gestik und Technik, der medialen Prägung sowie der materialen Überlieferung begreifbar werden. Das war und ist gerade für Literaturwissenschaftler:innen eine wichtige Perspektive, die nach wie vor dabei helfen kann, das ‚Selbst‘ der Literatur von ihrer Produktion her einer konsistenten Reflexion zugänglich zu machen. Schreiben als Kulturtechnik verstanden lenkt die Aufmerksamkeit sowohl auf die kulturell vorgeprägten Faktoren eines jeden Schreibprozesses (Erlernen der Schrift, Übung, Tradierung) als auch auf die Tatsache, dass sich eine Kultur ohne Aufzeichnungspraktiken, wie diejenige des Schreibens, ihrerseits gar nicht herausbilden könnte, ja dass das, was zumindest in weitgehend alphabetisierten Gesellschaften als ‚Kultur‘ verstanden wird, auch – ja, ganz massiv sogar – als ein Effekt von Schreibprozessen und ihren Folgen im unterschiedlichen Gebrauch und Einsatz von Schrift bestimmt werden kann.

Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772 oder in Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 269–282.  Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems., in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7–21, hier S. 8.  Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012.

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1 Von der Kulturtechnikforschung zur literaturwissenschaftlichen Schreibforschung Worin bestehen nun aber die Perspektiven einer spezifisch literaturwissenschaftlichen Schreibprozessforschung? Was heißt es, mit literaturwissenschaftlichen Methoden über eine Konzeption des Schreibens als Kulturtechnik hinauszugehen? Es heißt zunächst, dass man mit der Literatur und der ihr inhärenten Reflexivität über die mögliche Vielfalt ebenso wie über die mögliche Spezifik von Schreibprozessen ins Nachdenken kommt. Von einem solchen, mittlerweile sehr breit angelegten Nachdenken zeugen etwa die inzwischen über dreißig Bände, die seit 2004 in der Buchreihe Zur Genealogie des Schreibens im Wilhelm Fink Verlag erschienen sind. Ein möglicher Literaturbegriff, der sich aus dem Modell der Schreibszene erschließen lässt, könnte auf folgende Charakterisierung hinauslaufen: Literarische Texte sind nicht bloß – in der Regel zumindest – Produkte von Schreibprozessen, sie sind auch – und dies wiederum öfter, als man meinen könnte – sprachlich verfestigte und daher durch nachfolgende Lektüren erschließbare Momentaufnahmen einer reflexiv betriebenen Auseinandersetzung mit Schreibprozessen: mit konkreten Schreibprozessen ebenso wie mit imaginären, mit ‚eigenen‘ Prozesselementen ebenso wie mit solchen, die anderswo wirksam sind oder die bloß imaginiert werden, die aber auf diese Weise mindestens als denkbare infrage kommen. Die Gerätschaften, ‚Korporealitäten‘ und Semantiken, in die ein Schreibprozess – genauer: jeder Schreibprozess – involviert ist, können zum Anlass einer Reflexion des Schreibens im Schreiben werden, einer „Schreib-Szene“ im emphatischen Sinne (mit einem widerständigen Bindestrich geschrieben),¹⁷ wobei der Anteil an Fiktion nie auf null zu reduzieren ist: Wie ging oder wie geht das

 Dazu Stingelin: „Im Anschluß an die – bei diesem nur implizit getroffene – Unterscheidung von Campe verstehen wir […] unter ‚Schreibszene‘ die historisch und individuell von Autorin und Autor zu Autorin und Autor veränderliche Konstellation des Schreibens, die sich innerhalb des von der Sprache (Semantik des Schreibens), der Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und der Geste (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam gebildeten Rahmens abspielt, ohne daß sich diese Faktoren selbst als Gegen‐ oder Widerstand problematisch würden; wo sich dieses Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert, sprechen wir von ‚Schreib-Szene‘. Die Singularität jeder einzelnen ‚Schreibszene‘ entspringt der Prozessualität des Schreibens; die Singularität jeder einzelnen ‚Schreib-Szene‘ der Problematisierung des Schreibens, die (es) zur (Auto‐)Reflexion anhält (ohne daß es sich gerade in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität gänzlich transparent werden könnte)“; Stingelin: Schreiben, S. 15.

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Schreiben wirklich vor sich? Und welche Spielräume der Reflexion, der Fiktion, der Imagination werden dabei aufgegangen sein? Aus guten Gründen hat man in der literaturwissenschaftlichen Schreibprozessforschung die Frage nach der Fiktionalität literarischer Schreibszenen nicht ins Zentrum der entsprechenden Auseinandersetzungen gestellt. Denn die Fixierung auf Fiktion als literaturwissenschaftlichen Grundbegriff (um nicht zu sagen: Begriffsfetisch) neigt dazu, die Frage nach den realen technischen, gestischen und diskursiven Prägungen im Vorgang der schriftbasierten Selbstaufzeichnung des Prozesses vorschnell beiseite zu wischen (‚ist ja eh alles Erfindung‘), anstatt sich ernsthaft die Frage zu stellen, wie jeweils die historischen und situativen Umstände des Schreibens notwendig am Prozess und schließlich am Geschriebenen – dem resultierenden Text oder einem Ensemble von Texten – beteiligt sind. Trotzdem wird es nicht schaden, die Frage nach den fiktionalen Ausprägungen¹⁸ wieder stärker in den Fokus literaturwissenschaftlicher Schreibprozessforschung zu rücken, und zwar nicht, um die medienhistorischen Prägungen von Schreibprozessen zu negieren, sondern um vor einem weiteren Hintergrund zu fragen, welche – ihrerseits historisch zu bestimmenden – Imaginations-, Darstellungs- und Reflexionsräume durch den Prozess des Schreibens und schließlich im Geschriebenen, den Texten, zur Darstellung gelangen – und wie und mit welchen Effekten dies geschieht. Gerade der Spielraum zwischen der Faktizität der Produktionsumstände – die in den materialen Überlieferungen ohnehin nur vermittelt, falls überhaupt, zugänglich sind – und den Denk-, Entwurfs- und entsprechenden Erfahrungsräumen, die sich im Darstellungsprozess des Schreibens eröffnen, ist ein Bereich, der forschend erschlossen werden kann. Und soll: Denn auch das reflexive und imaginäre Möglichkeitsfeld, das schreibend entworfen wird, gehört zur Schreibszene. Manchmal sind sogar die Abweichungen oder die latenten Spannungen zwischen der Faktizität der Überlieferung (als Folge der provisorischen Selbstarchivierung beim Schreiben) und den programmatisch-fiktionalen Elementen eines Textes, schließlich, besonders interessant und untersuchungswürdig.¹⁹

 Verfochten wird hier ein Fiktionsbegriff, der in erster Linie das ‚Gemachtsein‘ einer jeweiligen Vor- bzw. Darstellung im Rahmen einer Narration oder einer poetischen bzw. dramatischen Evokation betont (also das Fiktionale in diesem Sinne) und nicht den Unwirklichkeitscharakter (das Fiktive), der innerhalb des Fiktionalen unterschiedlich gewichtet sein kann.  Eine solche Spannung lässt sich oft dort gut diagnostizieren, wo – wie im Falle der surrealistischen écriture automatique – die Programmatik in Form etwa von Manifesten besonders ausgeprägt ist und dagegen die überlieferten Spuren der Schreibprozesse ein differenzierteres Bild vermitteln; Zanetti: Literarisches Schreiben, S. 173–178.

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Wie weit man die ‚Literarizität‘ oder, allgemeiner, ‚Poetizität‘ einer Schreibszene gerade an den Grad koppeln möchte, wie oder wie sehr ein Text Bezug nimmt auf das schreibend betriebene Zustandekommen seiner selbst (damit aber auch auf die entsprechenden Kontexte, Effekte, Fiktionen), müsste eigens diskutiert werden. Was aber bereits an dieser Frage deutlich werden sollte, ist das für das Thema des vorliegenden Bandes nicht unwichtige methodologische Erkenntnismoment: dass die historische Dimension von Schreibszenen in jedem Fall als Dimension der jeweiligen Szene selbst zu bestimmen ist, und zwar sowohl auf der Ebene der materialen und gestischen Implikationen als auch auf der Ebene der Semantik im weitesten Sinne. Insofern könnte man sagen, dass Schreibszenen gar nicht historisiert werden müssen, denn sie sind immer schon historisiert, und zwar in dem Sinne, dass sie notwendig geprägt sind durch ihre jeweiligen historischen Umstände, selbst im Falle extremer Fiktionalisierungen. Nimmt man den Begriff der Historiografie ernst, könnte man sogar sagen, dass Schreibszenen einen besonders interessanten Fall von Historiografie darstellen: In ihnen wird greifbar, wie ein Moment in der Geschichte durch Schrift eine Dauerhaftigkeit gewinnt, in der das Spannungsfeld zwischen situativer Bestimmtheit und poetischer Reichweite (durch Auseinandersetzung, Konzeptualisierung, Fiktionalisierung) auf je unterschiedliche Weise durchlaufen und qua Lektüre auch längerfristig nachvollziehbar werden kann. Dabei verweisen Schreibszenen zugleich auf die potenzielle Unverfügbarkeit und auf den Konstruktionscharakter des nachträglich anvisierten Vergangenen: von Geschichte also. Da der Akt des Schreibens – wie jedes historische Ereignis ‒ in seiner Singularität nicht wiederholbar ist, bleibt die Rekonstruktion notwendig defizitär; sie bringt nur die Momente zur Geltung, die sie zu fassen bekam. Eine Historisierung in dem gewohnteren forschungsbezogenen Sinne, dass Schreibszenen ihrerseits mit Zeugnissen aus ihrem historischen Kontext konfrontiert und auf diese Weise situiert und schließlich in ihrem Wechselverhältnis interpretiert werden, kann hier ansetzen und wird im Einzelfall zweifellos weitere Aufschlüsse bringen (und gegebenenfalls auch den Grad bzw. die Art der jeweiligen Fiktionalisierung bestimmbar machen). Die von Peter Szondi formulierte starke Behauptung, dass „einzig“ diejenige „Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht werde, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt“,²⁰ dürfte in literarischen Schreibszenen auf analytisch ertragreiche Reflexionsmomente stoßen. Das ganze Feld der Poetik und ihrer Geschichte könnte vor

 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis, in: ders.: Schriften I, Frankfurt a. M. 1978, S. 263– 286, hier S. 275.

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diesem Hintergrund neu geschrieben werden. Eine Historisierung unterschiedlicher Poetiken in dem angedeuteten komplexen Sinne wäre ein sehr lohnenswertes, wenn auch extrem aufwendiges Unternehmen.

2 Mögliche Fragerichtungen am Beispiel Lichtenberg Zum Schluss nur ein Beispiel für mögliche Fragerichtungen, die sich in der Auseinandersetzung mit einer Schreibszene – bzw. einer ‚Schreib-Szene‘ im emphatischen Sinne – auftun können, und die hier auf ein konkretes Schreibsubjekt zurückweist. Bereits oft diskutiert und interpretiert wurde die folgende Notiz Georg Christoph Lichtenbergs in einem seiner Sudelbücher vom Dezember 1776: „Diesen mit Caffee geschriebenen Brief wird Ihnen der Johann übergeben. Ich hätte Blut genommen, wenn ich keinen Caffee gehabt hätte“.²¹ Auf der Abbildung sind die beiden Sätze in leicht bräunlicher Schrift zu erkennen (vierte bis sechste Zeile von oben). Der Kommentar des damaligen Herausgebers Albert Leitzmann zu dieser Stelle lautet: „Diese Bemerkung ist im Original wirklich mit dünnem Kaffee geschrieben.“²² Hier öffnet sich nun allerdings eine interessante Differenz zwischen der „Bemerkung“ Lichtenbergs, von der Leitzmann als Herausgeber (und mit identischem Vokabular auch der spätere Herausgeber Wolfgang Promies) sagt, sie sei „wirklich mit dünnem Kaffee geschrieben“,²³ und dem „mit Caffee geschriebenen Brief“, von dem die Bemerkung Lichtenbergs handelt. Noch zugespitzter stellt sich das Problem dadurch dar, dass Lichtenberg das Demonstrativpronomen verwendet: „Diesen mit Caffee geschriebenen Brief […].“ Denn das deiktische Signal ist auf einen Text-Textträger-Verbund gerichtet, der in seinem Schriftanteil zwar – anscheinend wirklich – aus Kaffee besteht, der aber kein Brief ist, sondern eine Bemerkung eben, die in Lichtenbergs Sudelbuch F zwischen anderen Einträgen steht, die allerdings nicht mit Kaffee geschrieben sind. Der spätere Herausgeber

 Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismen. Drittes Heft: 1775–1779, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1906, S. 183. Zitiert und besprochen wird Lichtenbergs Schreibszene/Schreib-Szene u. a. bei Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber, Göttingen 1993, S. 71 f.; Andreas Mauz: Machtworte. Studien zur Poetik des ‚heiligen Textes‘, Tübingen 2016, S. 105; Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 8 f.; ders.: ‚Ich reite heute eine infame Feder, sie will immer hinaus wo ich nicht hinwill‘ – Lichtenbergs Schreiben, in: Lichtenberg-Jahrbuch (2018), S. 7–11.  Lichtenberg: Aphorismen, Drittes Heft, hg. von Albrecht Leitzmann, Kommentar, S. 457.  Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Kommentar zu Band I und II, hg. von Wolfgang Promies, München/Wien 1974, S. 420.

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Promies fährt in seinem Kommentar der Stelle entsprechend wie folgt fort: „Ein derartiger Brief L.s, falls er nicht ohnehin fingiert war, ist nicht überliefert“.²⁴

Abb. 1: Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbuchnotiz vom Dezember 1776, Signatur Cod. Ms. Lichtenberg IV, S. 30, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.²⁵

 Ebd.  Reproduktion der Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen (Signatur Cod. Ms. Lichtenberg IV, 30). In der Zählung von Leitzmann handelt es sich um den Eintrag F 280, in der Promies-Zählung ist es F 282.

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Was liegt hier vor? Handelt es sich um eine Übung im Schreiben mit Kaffee, die dann in einem realen (aber heute verschwundenen) Brief fortgesetzt wurde? Ist es eine Fiktion? Aber was für eine Art von Fiktion wäre das dann, falls deren materiale Konkretisierung nicht fiktiv, sondern real aus Kaffee ist? In der Forschung wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Stelle womöglich im Zusammenhang eines Romanprojektes zu sehen ist, das allerdings unvollendet geblieben ist.²⁶ Zudem wurde der Name „Johann“ (der im Kreis der Aufwärter Lichtenbergs keine reale Entsprechung zu haben scheint, wohl aber als allgemeiner Dienstbotenname bekannt war) als Indiz für den fiktiven Charakter der Sache genommen, um die es hier geht, unterstrichen durch den Irrealis im zweiten Satz der Notiz: „Ich hätte Blut genommen, wenn ich keinen Caffee gehabt hätte.“²⁷ Allerdings kann man diesen zweiten Satz mindestens so gut als Beleg für die Triftigkeit des Indikativs im ersten Satz lesen, der ja durch die faktische Materialität der Überlieferung der Notiz selbst als Option keineswegs irreal ist.Was also sollte einen davon abhalten, auch die andere Option mit dem Blut als real und nicht als bloße Erfindung zu qualifizieren? Zu Recht weist Martin Stingelin darauf hin, dass das „Maß an Fiktion“ in derartigen Momenten „unbestimmbar“ werden kann, „und zwar bis zur Unentscheidbarkeit“.²⁸ Die Unentscheidbarkeit ist allerdings als solche signifikant, denn sie macht deutlich, dass Schreibszenen sich in der Regel gerade nicht eindeutig dem Bereich der Fiktion im Sinne einer bloßen Erfindung zuweisen lassen, sondern ihre (vielfach nicht mehr rekonstruierbaren, aber deswegen nicht schon irrealen) Korrespondenzen notwendig im Bereich realer Schreibumstände haben: Ohne Materialien, Körper (also auch „Blut“),²⁹ Schreibgeräte und daran gekoppelte Semantiken lassen sich jedenfalls auch keine Schreibszenen schreiben. Eine ganz bestimmte Unentscheidbarkeit lässt sich im Blick auf den KaffeeSatz (sit venia verbo) jedoch noch genauer bestimmen, da sie sich präzis an der Deixis des Personalpronomens verdeutlichen lässt, mit dem die Notiz beginnt: „Diesen mit Caffee geschriebenen Brief wird Ihnen der Johann übergeben.“ ‒ „Diesen“ Brief also, noch einmal: Wo oder was ist dieser Brief? Wie bereits er-

 Georg Christoph Lichtenberg: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Hogarth-Erklärungen, hg. von Wolfgang Promies, München/Wien 1992, S. 617 f.  Zum fiktionalen Charakter vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefeschreiber, S. 71.  Stingelin: ‚Ich reite heute eine infame Feder‘, S. 10.  Ich gehe davon aus, dass das zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Aufsatzes noch nicht erschienene Buch von Rüdiger Campe: Die Zeit der Evidenz und ihr Ende. Lichtenbergs Schreibszene über die physiologischen, physikalischen und evidenzorientierten Aspekte von Lichtenbergs Schreiben und dessen ‚Szenerie‘ weiteren Aufschluss geben wird; im Erscheinen Rüdiger Campe: Die Zeit der Evidenz und ihr Ende. Lichtenbergs Schreibszene, Paderborn 2022.

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wähnt, ist die Bemerkung selbst, die den „Brief“ nennt, zwar anscheinend in Kaffee geschrieben, aber kein Brief (es sei denn, man erklärt die Bemerkung selbst demonstrativ zum gemeinten Brief). Der Selbstverweis auf die Materialität der Schrift (der Kaffee-Schrift) ist aber gleichwohl vorhanden (als bloßer Verweis, etwa als direktes Beiblatt zu einem realen Brief, taugt die Stelle kaum, ist sie doch in ein Heft, in das Sudelbuch, eingetragen). Zugleich aber ist die Referenz offenkundig gespalten, was auch dadurch deutlich wird, dass dem semantisch wohl primär gemeinten Brief, weg von der Stelle seiner Nennung im Sudelbuch, eine Zukunft bescheinigt wird, die mit dem offenbar als bekannt vorausgesetzten Empfänger mitadressiert ist („wird Ihnen der Johann übergeben“).³⁰ Insgesamt haben wir es an dieser Stelle genau mit dem von Roman Jakobson beschriebenen Phänomen zu tun, dass die poetische Funktion eines Textes auch (neben etwa der Ambiguierung von „Adressant und Adressat“, die hier ebenfalls im Spiel ist) darin bestehen kann, dass sie die Referenz ambig macht: „Der Vorrang der poetischen vor der referentiellen Funktion räumt die Referenz nicht aus, er macht sie ambig“.³¹ Beim Demonstrativpronomen ist eine solche Ambiguierung allerdings – zumal, wenn sie so offenkundig die Materialität der Schrift betrifft – besonders intrikat: Sie spaltet mit der Referenz, zugespitzt im „Brief“, der als Signalwort wiederum die Dimensionen der Materialität und der Adressierung gleichermaßen aufruft, auch den Imaginationsraum der Lektüre. Letztere Spaltung, die positiv formuliert eine Öffnung und Erweiterung ist, wird allerdings nur nachvollziehbar, wenn es eine Kenntnis von der Materialität der Überlieferung gibt. Schreibszenen sind Inszenierungs- und Reflexionsorte, an denen sich derartige Spaltungen im Sinne eines erweiterten Verständnisses der poetischen Funktion untersuchen und beschreiben lassen.³²

 Der anvisierte Empfänger (oder die Empfängerin) wiederum wäre beim Lesen eines solchen Briefes mit einem merkwürdigen Zeitspiel konfrontiert, in dem Vergangenheit (den Brief gäbe es im Moment des Lesens schon als empfangenen) und Zukunft (der Brief wäre weiterhin als eine Gabe der Zukunft mit einem weiterhin künftigen Überbringer charakterisiert) ineinander verwoben wären.  Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 192.  Ralf Simon fasst die in Schreibszenen sich abzeichnende Poetisierung deutlich enger, indem er Schreibszenen insgesamt als Poetisierung der phatischen Sprachfunktion interpretiert; Simon: Was genau heißt ‚Projektion des Äquivalenzprinzips‘?, S. 128. Nach Simon können grundsätzlich alle fünf von Jakobson genannten Funktionen ihrerseits poetisiert werden. Er räumt allerdings ein, dass zumindest bei der Poetisierung der im engeren Sinne bereits selbstreflexiven Funktionen – d. h. bei der phatischen, der poetischen und der metasprachlichen Funktion – „die poetisierten Selbstreferenzen faktisch sehr schwer zu unterscheiden sind.“ Und er fährt fort: „Die poetische Schreibszene ist z. B. in vielen Fällen kaum von der poetischen Metasprache abzugrenzen, dar-

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Literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung besteht letztlich darin, das in den Spuren und Folgen von Schreibprozessen sich jeweils abzeichnende Spannungsfeld zwischen situativer Bestimmtheit und poetischer Reichweite auszumessen – versuchsweise: wissend, dass dem Wissenkönnen im Hinblick auf die Entstehungsumstände eines Textes und seiner Überlieferung jeweils Grenzen gesetzt sind, wissend aber auch, dass die Literatur der Ort ist, an dem diese Grenzen, im Sinne ihrer jeweiligen Poetik, in verschiedenste Richtungen verschoben, umspielt, konterkariert werden können. Wer diesen Bewegungen forschend nachgeht, lernt nicht nur etwas über die Literatur, sondern auch darüber, wie sich in ihr Geschichte artikuliert, wie Literatur sich auf ihre Weise auf Geschichte bezieht – sich dabei aber von ihren historischen Kontexten immer auch absetzt, absetzen muss, um in einer Zukunft lesbar werden zu können

gestelltes Schreiben (poetische Phatik) ist fast immer poetologisch relevant (poetische Metasprache)“; ebd., S. 129.

I Umgang mit problematischen Überlieferungssituationen im Rahmen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Schreibszenen

Stefan Abel

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336) 1 Conte du Graal – Parzival – Rappoltsteiner Parzifal Um das Jahr 1190 herum verstarb der vermutlich aus der Grafschaft Champagne stammende Dichter Chrétien de Troyes und hinterließ (s)einen noch unvollendeten Conte du Graal. ¹ Der Beliebtheit dieses Gralromans um die Artusritter Perceval und Gauvain ist es zu verdanken, dass er bis 1230 um ganze vier aufeinander aufbauende Fortsetzungen (continuations) aus Nordfrankreich und Flandern erweitert und letztlich zum Abschluss gebracht worden ist (und zwar bis zur Erlösung des Fischerkönigs von seinem körperlichen Leiden und bis zu Percevals Nachfolge in der Herrschaft über das Reich des Grals).² Um das Jahr 1200 herum verfasste Wolfram von Eschenbach mit seinem Parzival ³ eine mittelhochdeutsche Version des Conte du Graal, jedoch notgedrungen nur so weit (bis inmitten von Buch XIII von insgesamt 16 ‚Büchern‘), wie die altfranzösische,  Chrétien de Troyes: Le roman de Perceval ou le Conte du Graal. Édition critique d’après tous les manuscrits, hg. von Keith Busby, Tübingen 1993 (im Folgenden zit. als Conte du Graal).  Texte: 1. Première Continuation in drei Redaktionen (Misch- [TVD], Lang- [EMQU] und Kurzredaktion [ALPRS]): The First Continuation: Redaction of Mss TVD, hg. von William Roach, Philadelphia 1949 (= The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 1); The First Continuation: Redaction of Mss EMQU, hg. von William Roach und Robert Ivy, Philadelphia 1950 (= The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 2); The First Continuation: Redaction of Mss ALPRS, hg. von William Roach, Philadelphia 1952 (= The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 3,1); 2. Deuxième Continuation: The Second Continuation, hg. von William Roach, Philadelphia 1971 (= The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 4); 3. Troisième Continuation: The Third Continuation, hg. von William Roach, Philadelphia 1983 (= The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 5); 4. Quatrième Continuation: Gerbert de Montreuil, La continuation de Perceval. Quatrième Continuation, hg. von Frédérique le Nan, Genf 2014 (= Textes littéraires français 627).  Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdt. Text nach der sechsten Ausg. von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin/New York 2003 (im Folgenden zit. als Parzival); vgl. auch die an der Universität Bern entstehende, hybride Neuedition des Parzival in vier Fassungen, http://www.parzival.unibe.ch (letzter Zugriff 28.02. 2022). https://doi.org/10.1515/9783110792447-003

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fragmentarische Vorlage eben reichte. Für den Abschluss von Buch XIII und für das gesamte Buch XIV seines Parzival stützte sich Wolfram auf die ersten fünf Episoden der ersten der vier Fortsetzungen. Diese anonym verfasste und in drei Redaktionen überlieferte Première Continuation (sechs Branchen, I–VI, mit insgesamt 56 bis maximal 66 Episoden) entstand ebenfalls um 1200. Zudem erweiterte Wolfram seine altfranzösischen Vorlagen eigenständig, so etwa um eine Vorgeschichte über Parzivals Vater Gahmuret (Buch I–II), und fand für seinen Parzival einen eigenen Schluss (Buch XVI, ab V. 823,11). Mit dem Rappoltsteiner Parzifal ⁴ aus der Zeit um 1336 entstand schließlich im Elsass eine groß angelegte Kompilation, die beide Traditionen (allerdings nicht ganz widerspruchsfrei) zusammenbringen sollte: Wolframs Parzival auf der einen Seite und wortgetreue, mittelhochdeutsche (niederalemannische) Übertragungen von drei jener vier altfranzösischen Fortsetzungen auf der anderen Seite: der Première Continuation (ab Episode I,7),⁵ der Deuxième Continuation (Ende 12. Jahrhundert/kurz nach 1210) des Wauchier de Denain mit 35 Episoden und Manessiers Troisième Continuation (1214–1227, für Gräfin Johanna von Flandern, † 1244) mit 30 Episoden. Diese Übertragungen sind unter dem Titel Nuwer Parzifal (‚Neuer Parzival‘) überliefert. Einzig die Quatrième Continuation (um 1226–1230, im Umfang von 17086 Versen) des Gerbert de Montreuil ist nicht in den Nuwen Parzifal eingegangen (vgl. die folgende Übersicht). Im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal findet zudem allein Manessier (Manschier) Erwähnung, Verfasser der Troisième Continuation. An früherer Stelle, nicht jedoch im Epilog, wird als Verfasser Wauchier de Denain (Walther von Dunsin, Sch 582,20–21) genannt. So scheint es, als sei in den Augen der Kompilatoren des Rappoltsteiner Parzifal allein Manessier für die Fortsetzung(en) des von Chrétien fragmentarisch hinterlassenen Conte du Graal verantwortlich zu machen.

 Karl Schorbach (Hg.): Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin (1331–1336). Eine Ergänzung der Dichtung Wolframs von Eschenbach, Straßburg 1888 (im Folgenden zit. als Rappoltsteiner Parzifal, Sch mit Angabe von Vers und Zeile). Die Schorbach-Zählung ist zu unterscheiden von der Lachmannʼschen Versnummerierung des Parzival (vgl. Anm. 3) nach Versgruppen zu je 30 Versen (sog. Dreißiger).  Der Nuwe Parzifal basiert wohl auf der Mischredaktion der Première Continuation (vgl. Anm. 2). Anders als die Kurzredaktion mit nur fünf Episoden (Ep. I,1–5) und die Langredaktion mit zehn Episoden in der ersten Branche (Ep. I,1–10) enthält die Mischredaktion, nach Ep. I,1–5, nur Ep. I,7 sowie Ep. I,9 und Ep. I,10, ganz so wie der Rappoltsteiner Parzifal in mittelhochdeutscher Übertragung.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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Tab. 1: Aufbau des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336) . Parzival, Buch I–II (V. ,–,)

→ darin: Übertragung der Élucidation (V. ,–)

. Parzival, Buch III– XIV (V. ,–,)⁶

→ Chrétien de Troyes, Conte du Graal (fragm.) → Première Continuation, Ep. I,–

. Nuwer Parzifal

→ Première Continuation, ab Ep. I, → Wauchier de Denain, Deuxième Continuation → Manessier, Troisième Continuation, Ep. – (bis V. )

. Rappoltsteiner Florilegium . Parzival, Buch XV– XVI (V. ,–,)

→ darin: Einschübe aus Manessier, Troisième Continuation, Ep.  (ab V. ) und Ep. 

. Parzival, Buch XVI (V. ,–,) . Epilog (Prosarubrik und  Reimpaarverse)

Einige Minnesangstrophen, die zusammen das sogenannte Rappoltsteiner Florilegium ausmachen,⁷ sowie eine Prosaüberleitung verbinden ‚Alten‘ (d. h. Wolf-

 Nur im Rappoltsteiner Parzifal, Hs.V (vgl. Anm. 9), befinden sich weitere Einschübe, im Umfang von 26 und 18 Versen, inmitten des ‚alten‘ Parzival Wolframs von Eschenbach, und zwar auf der Grundlage von Chrétiens Conte du Graal, V. 1511–1534 in Parzival, V. 175,41–26 sowie auf der Grundlage von Conte du Graal, V. 4688–4700 und 4721 f. sowie der Élucidation (vgl. Anm. 8), V. 419–425 in Parzival, V. 319,181–18.  Das Rappoltsteiner Florilegium (Hs.V, Bl. 115va–vb) enthält sieben Minnesangstrophen: Walther von der Vogelweide (L 93,7), Walther von Mezze (KLD 62, III,1), Gottfried von Neifen (KLD 15, II,1– 3), Reinmar der Alte (MF XII, XII,3) und Reinmar von Brennenberg (KLD 44, IV,4); zit. nach Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprü che, 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns, aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Thomas Bein, Berlin/Boston 2013 (oben zit. als L); Carl von Kraus (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, 2 Bde., Tübingen 1952–1978 (oben zit. als KLD). Hierzu auch Arne Holtorf: Eine Strophe Reinmars von Brennenberg im Rappoltsteiner ‚Parzival‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 96 (1967), S. 321–328; Franz-Josef Holznagel: Minnesang-Florilegien. Zur Lyriküberlieferung im ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, im Berner Hausbuch und in der Berliner Tristan-Handschrift N, in: ‚Dâ hœret ouch geloube zuo‘. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstags, hg. von Rüdiger Krohn und Wulf-Otto

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rams) Parzival und ‚Neuen Parzifal‘ miteinander. Die altfranzösische Élucidation ⁸ (1. Viertel 13. Jahrhundert), eine Art Vorgeschichte eines Anonymus um das rätselhafte Verschwinden des Grals und um die Notwendigkeit der Suche nach dem Gral, ist als Übertragung im Umfang von 496 Reimpaarversen am Ende von Buch II des Wolframschen Parzival, zwischen V. 112,12 und 13, eingeschoben. Die in zwei niederalemannischen Handschriften überlieferte Kompilation, üblicherweise mit den beiden Handschriftensiglen V und V’ bezeichnet,⁹ ist das heterogene Gemeinschaftswerk zweier Dichter, namentlich des Claus Wisse und des sich dichtermetaphorisch als Goldschmied (im Sinne von Verseschmied?) bezeichnenden Philipp Colin aus Straßburg, der auch als Verfasser des Epilogs gilt.¹⁰ Dem Epilog zufolge arbeitete Claus Wisse, der vermutlich auch für ein Bittgesuch im Umfang von 18 Reimpaarversen an den Mäzen Ulrich von Rap-

Dreeßen, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 65–88; Thomas Bein: Walther und andere Lyriker im Rappoltsteiner Florilegium. Zum Spannungsfeld von Poetik, Textkritik und Edition, in: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik, hg. von Thomas Cramer und Ingrid Kasten, Berlin 1999, S. 169– 196.  Hélène Bouget (Hg.): Les prologues au Conte du Graal. Élucidation, Bliocadran, L’Élucidation de l’hystoire du Graal (1530), Paris 2018, S. 99–151 (V. 1–484).  Parzival-Hs. V = Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 97 (niederalemannisch / elsässisch, 1331–1336, Originalhandschrift des Rappoltsteiner Parzifal, 320 von einst 322 Bll.); Parzival-Hs. V’ = Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 (niederalemannisch, 2. Viertel 14. Jahrhundert, III + 185 + I Bll., Kurzfassung von Hs.V). Zum Verhältnis dieser beiden Textzeugen vgl. Michael Stolz: Die Abschrift als Schreibszene. Der ‚Nuwe Parzifal‘ in der Handschrift Rom, Biblioteca Casanatense, Mss. 1409, in: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010, hg. von Eckart Conrad Lutz, Berlin 2012, S. 331–356; Richard F. Fasching: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘. Handschriftliche Überlieferung und Textgenese im 14. Jahrhundert, in: Parzival im Manuskript. Profile der Parzival-Überlieferung am Beispiel von fünf Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts, hg. von Michael Stolz, Basel 2020, S. 145–271. Faschings Beitrag geht aus einem gleichnamigen SNF-Projekt (2016–2019) an der Universität Bern hervor: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘. Handschriftliche Überlieferung und Textgenese im 14. Jahrhundert, http:// www.rappoltsteinerparzifal.unibe.ch (letzter Zugriff 28.02. 2022), mit Digitalisaten der beiden Handschriften und ausführlichen Beschreibungen. Weitere Sekundärliteratur bei Stolz: Die Abschrift als Schreibszene, S. 335, Anm. 17.  „Bei […] Philipp Colin handelt es sich möglicherweise um den urkundlich 1307 und 1309 bezeugten Sohn des in Straßburg wohnhaften Burkhard Kolin und Bruder des Klaus Kolin sowie der Begine Anna. Dieser Philipp Colin hat zusammen mit seiner Gattin Katherine am 5.9.1309 für 21 Mark Straßburger Silber seinen Anteil an der Rheinsfahre (Rheinübergangsstelle) St. Johann in undis (Viertel Krutenau in Straßburg) und Hundsfeld (Gemarkung Eckartsweier bei Kehl) an den Straßburger Bürger Diether Kölbelin veräußert, dem Philipps Schwester, die Begine Anna, bereits am 29.4.1309 ihren Anteil für 20 Mark Silber verkauft hatte“; Fasching: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 174 f.

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poltstein verantwortlich ist (Einschub in Parzival-Hs.V, Bl. 37rb, d. i.V. 233,301–18),¹¹ bereits ein Jahr vor Colin am Rappoltsteiner Parzifal: vier vernent [d. i. im vorigen Jahr] und vier hüre [d. i. in diesem Jahr] / het dirre herre [d. i. Ulrich von Rappoltstein] enthalten mich [d. i. Philipp Colin] / obe diseme buoche kostlich / unde darzuo einen schribere / und ein anderen tihtere, / der tihtete disen anevang. / men sol ez imme gerne sagen dang, / wan er ist ein tihter cluog / und kan darzuo guoten gefuog. / er ist genant Clawez Wisze, / ich wünsche imme daz er slisze / sine tage sunder swere / als ein cluoger minnere. / der tihtete ein jor vor mir e: / alsus sint fünf jor oder me [d. i. 1331–1336] / obe disem buoche verzert. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 853,43–854,13)

Beide Dichter, Wisse und Colin, hätten sodann mit Hilfe eines jüdischen Übersetzers namens Sampson Pine die altfranzösischen Fortsetzungen ins Deutsche übertragen, so erneut der Epilog: [E]in jude ist Sampson Pine genant, / der het sine zit ouch wol bewant / an dirre oventure. / er tet unz die stüre, / waz wir zuo rimen hant bereit, / do het er unz daz tüchsch geseit / von den oventuren allen gar. / ich wünsche daz er wol gevar / als ein jude noch sinre e: / er enbegerte anders nüt me. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 854,27–36)

Sampson Pine gehörte wohl zu denjenigen, ursprünglich französischen Juden und deren Nachkommen, die, 1306 aus Frankreich unter König Philipp IV. (1268– 1314) verbannt, als abgabepflichtige Leibeigene des deutschen Kaisers im Exil lebten. Im Jahr 1331 waren sie von Kaiser Ludwig dem Bayern († 1347) an Johann von Rappoltstein († 1362),Vater Ulrichs IV., verpfändet worden und standen fortan in Diensten der Rappoltsteiner.¹² Außerdem waren insgesamt fünf Schreiber an der Kompilation beteiligt, darunter ein gewisser Henslin und ein Schreiber von Onhein.¹³  „Got und üwer frümikeit / hat in höhe werdikeit / üch enbort in manige wiz. / durch üweren ritterlichen pris / lant mich üch bevolhen sin / unde ruochent niht vergessen min / durch dienst, als ich han getan / an disem buoche sunder wan, / so ich beste kunde. / ich horte von manges munde, / daz ouch ich nüt dran verlür, / ob ich ez lieze an üwer kür, / mit willen daz han ich getan. / nu ruochent gnode an mir began: / dez habent ir selde unde ere. / ich mane üch nu niht mere, / wand ir hant tugende wol so vil. / daz ich es hin züch verlazen wil“; Rappoltsteiner Parzifal, Sch XLIX.  Fasching: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 176 f.  „Henselin schriber het ouch vil geschriben heran / und wil noch nüt ein ende han. / er gewan noch nie bart / und ist ouch den vinen vröwelin zart. / der von Onheim ist ein rehter tore, / er trüget die vrowen mit sime growen hore“; Rappoltsteiner Parzifal, Sch XVI, im Anschluss an die Blattrechnung von Hs. V, Bl. 320va. „Mit dieser Ortsangabe gemeint sein könnten Ohnenheim bei Marckolsheim (seit 1301 Rappoltsteinischer Pfandbesitz […]) oder (Ober‐)Ehnheim (Obernai, heute wie Ohnenheim im Département Bas-Rhin gelegen)“; Fasching: Original und Kopie des

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Ein vorlagenunabhängiger Epilog, bestehend aus einer Prosarubrik und 512 Reimpaarversen, beschließt den Rappoltsteiner Parzifal. In diesem Epilog wendet sich Philipp Colin an einen gewissen Ulrich von Rappoltstein (französisch Ribeaupierre), nördlich von Colmar, den Auftraggeber der Kompilation, der sich nicht mehr eindeutig identifizieren lässt.¹⁴ Vermutlich handelt es sich um den 1377 verstorbenen Ulrich IV., Sohn Johanns († 1362), des Ritters und Herren zu Hohen-Rappoltstein und ab 1321 auch zu Hohenack. Im Jahr 1337 noch als Domherr in Basel bezeugt, trat Ulrich wohl später von diesem Amt zurück und lebte fortan, ab 1341, auf der Burg Hohen-Rappoltstein. 1353 heiratete er Herzelaude († um 1362), Tochter des Grafen Gottfried von Fürstenberg-Haslach und der Gräfin Anna von Montfort (beide † 1341). Dass Wolframs Parzival in diesen adeligen Kreisen hoch geschätzt wurde, lässt sich sowohl am Rufnamen von Ulrichs Ehefrau als auch an der Namensgebung für die gemeinsame Tochter Herzelaude (* 1359; d. i. Herzeloyde, Parzivals Mutter) deutlich erkennen.¹⁵ Der an Ulrich gerichtete, panegyrische Epilog in der Tradition einer Minne- und Ehrenrede¹⁶ formuliert nicht nur die Bitte um Lohn an die Adresse des Auftraggebers, sondern thematisiert auch literarischen Transfer und literarische ‚Erbschaft‘ bei der Vermittlung des altfranzösischen Gralstoffs, der über die elsässische (niederalemannische) Kontaktzone aus der Romania in die Germania gelangen sollte. Der Epilog, so soll im Folgenden gezeigt werden, tut dies in einer rhetorisch gekonnten Verkettung realer (historischer bzw. extradiegetischer), virtueller und fiktiver Schreibszenen (beide intradiegetisch), die unterschiedliche Arten von Schreibakten in Szene setzen. Als ‚Szenen‘ stellen sie Dramatisierungen spezifischer Konstellationen dar, die ihren Platz im theatralischen Rahmen adeliger Repräsentation finden.

‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 180, Anm. 68. Aus dem Eintrag gehe, so ebd., S. 182, nicht eindeutig hervor, dass der von Onheim tatsächlich einen zweiten Schreiber von Hs. V darstelle, als Mann, der die Damen mit seinem ergrauten Haar täusche, könne er kontrastiv zum jungen Henselin genannt worden sein.  Zur Identität des Ulrich von Rappoltstein vgl. Fasching: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 169–171: 1. Ulrich, Sohn Anselms († 1311) des Ritters und Herren zu Hohen-Rappoltstein, noch 1335 als Domherr in Straßburg tätig, 2. Ulrich, Sohn Heinrichs III., 1328 als Komptur der Dorlisheimer Johanniter bezeugt, 3. Ulrich IV. († 1377).  Zur Vergabe artusepischer Eigennamen als Symptom der außerliterarischen Rezeption von Wolframs Parzival vgl. Bernd Schirok: Parzivalrezeption im Mittelalter, Darmstadt 1982, S. 158–171. Ulrichs Gemahlin Herzelaude sowie die gemeinsame Tochter gleichen Namens sind ebd., S. 164 (Nr. 77 f.) verzeichnet; hierzu auch Schorbach: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin, S. XXIII f.  Hierzu Dorothe Wittmann-Klemm: Studien zum ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, Göppingen 1977, S. 111–120.

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2 Reale und virtuelle Schreibszenen Laut Epilog, im Folgenden nach der Parzival-Hs. V, der Originalhandschrift der Kompilation, zitiert, kam Ulrich von Rappoltstein einst in den Besitz einer altfranzösischen Handschrift des Conte du Graal und seiner Fortsetzungen. Ihr Weg von Nordfrankreich (und dem kulturell eng verbundenen Flandern) nach Rappoltstein sowie die Entstehungsgeschichte der Kompilation und ihrer Vorlagen insgesamt erweist sich eingangs als Verkettung interlingual, „welsch“ (französisch) und „tütsch“ (deutsch), und intertextuell miteinander verwobener, realer Schreibszenen, die sich auf literaturhistorische Begebenheiten referenzieren lassen: Diz [d. i. Parzival] het gerimet her Wolfram / von Eschebach, als er ez vernam / von eins welschen meisters munt, / der tet imme den ursprung kunt / von Parzefales kintheit.¹⁷ / so verre ez her Wolfram in tüschen seit, / daz het imme meister Cristian [d. i. Chrétien de Troyes] / in welschen rimen künt getan. / nu got ez erst in den berg / von Parzefale, waz er heildez werg / und sine geselleschaft worhten, / die helde unrevorhten. / der aventüre ist michels me, / denne ez in tützsche geschriben ste. / daz het Maneschier [d. i. Manessier] gar bedoht / unde allez zuo eime ende broht / in welsch, wan er waz ouch ein franczeis, / wise und darzuo kurteiz. / […] / Nu ist ez kommen in tüzsche lant / an eins werden herren hant [d. i. Ulrich von Rappoltstein], / der grosze kost het dran geleit, / als unz ein cluoger goltsmit seit, / von Strasburg Philippez Colin. / der het diz buoch dem herren sin / von welsch in tüczsch gerimet. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 845,18–37 und 846,17–23)

Der Epilog schildert im Folgenden rückblickend, wie es dazu gekommen sei, dass Ulrich von Rappoltstein die Kompilation in Auftrag gegeben habe. Dies geschieht,

 Der „welsche meister“ habe Wolfram von Eschenbach von den Umständen („ursprung“) in Kenntnis gesetzt, die dazu geführt hätten, dass Parzival seine Kindheit, fernab jeder höfischen Erziehung, bei seiner Mutter im Wald verbracht habe. Ob mit diesem „meister“ tatsächlich Chrétien („Cristian“) gemeint ist, bleibt ungewiss. Von der Vorgeschichte um Percevals Vater (bei Wolfram Gahmuret) erzählt Chrétien nämlich sehr wenig; Conte du Graal, V. 408–488. Womöglich bezieht sich die Erwähnung des „welschen meisters“ auf den unbekannten Verfasser des altfranzösischen Bliocadran (1. Viertel 13. Jahrhundert; zit. nach Bouget: Les prologues au Conte du Graal, S. 99–151, V. 485–1284), den die Macher des Rappoltsteiner Parzifal wohl über die altfranzösische(n) Vorlagenhandschrift(en) für ihre Kompilation kennenlernten und als vermeintliche Quelle für die Gahmuret-Bücher I und II von Wolframs Parzival identifizierten. Abweichend von der kurzen Verspassage in Chrétiens Conte du Graal (Tod von Percevals namenlosem Vater, im Turnier zum Krüppel verletzt, verarmt und bereits im Waldexil lebend, ob der Trauer über die Tötung zweier älterer, erst kürzlich zu Rittern geschlagener Söhne auf ihrem Rückweg in den Wald) erzählt der in zwei Handschriften überlieferte Bliocadran vom Turniertod Bliocadrans, Percevals Vater, und vom anschließenden Gang der trauernden Mutter ins Waldexil, in Begleitung des kurz zuvor geborenen Sohnes.

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wie ich es im Anschluss an Silvan Wagner nennen möchte, im Rahmen einer virtuellen Schreibszene, die Inspiration als Inskription zur Darstellung bringt. Das heißt, Ulrichs Einfall oder besser seine Eingebung, Dichter und Schreiber mit dem Rappoltsteiner Parzifal zu beauftragen und damit den literarischen Transfer in Gang zu setzen, wird, so der Epilog, seinem Herzen eingeschrieben. ‚Virtualität‘ (von mlat. „virtualis“, ‚nach Anlage oder Vermögen der Möglichkeit nach vorhanden‘¹⁸) bezeichnet im vorliegenden Fall einen autopoietischen Kommunikationsraum, der sich vom ‚normalen‘ Raum im Alltag markant unterscheidet,¹⁹ und bezieht sich zugleich auf eine „[innen]raumgenerierende Kommunikation“, die nur einigen wenigen Kommunikanten innerhalb einer „Bezugsgesellschaft“ zugänglich ist oder, wie im Epilog, nur einem in Gedanken mit einem virtuellen Gegenüber dialogisierenden Individuum. Deshalb ist „für die restlichen, von dieser Kommunikation exkludierten Personen die Existenz des virtuellen Raumes fragwürdig […]. Die Existenz des virtuellen Raumes ist damit auf die Kommunikanten und auf die Dauer seiner raumgenerierenden Kommunikation beschränkt“.²⁰ Im Virtuellen löst sich die Rede in weiten Teilen vom intersubjektiv geteilten Referenzsystem, ohne die Verbindung zum Realen explizit aufzuheben. Die Tendenz zur Abstraktion eröffnet einen Raum für selbstreferenzielle, subjektive Setzungen, die dennoch nicht völlig referenzlos sind. Dies hängt damit zusammen, dass es im virtuellen Raum zu einer ‚Verdopplung‘, hier des realen Mäzens Ulrich von Rappoltstein, kommt. Dieser Raum ist „geprägt durch eine virtuelle Verdoppelung und Präsenz, durch eine realkörperliche Distanz de[s] Kommunizierenden bei gleichzeitiger realzeitlicher Kommunikation durch Körpereinsatz.“²¹ Gleichzeitig ist dieser im Epilog konstruierte Raum nach Wagner auch als ‚imaginär‘ zu bezeichnen, weil die fingierte sowie topische Kommunikation (zwischen Mensch und einer abstrakten Wesenheit, der personifizierten Minne) monologisch nur im Inneren, d. h. in der Vorstellung einer einzelnen

 Zur Rezeption vgl. Christina Lechtermann und Daniel Morsch: Einführung, in: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, hg. von dens., Bern u. a. 2004, S. I‒XIV, hier S. VIf.  Als ‚normal‘ (d. i. inhaltlich unscharf und unmarkiert) bezeichnet Silvan Wagner „Räume, die über Kommunikationen erzeugt werden, deren Zugänglichkeit für die gesamte Bezugsgesellschaft grundsätzlich offen ist. Dies heißt nicht, dass die gesamte Bezugsgesellschaft in diesen Räumen inkludiert ist, sondern lediglich, dass die gesamte Bezugsgesellschaft an der raumgenerierenden Kommunikation über In- und Exklusion teilnehmen kann; Silvan Wagner: Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik, Berlin 2015, S. 39.  Ebd., S. 341 f.; vgl. Ralf Schlechtweg-Jahn: Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des ‚Tristan‘, in: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, hg. von Elisabeth Vavra, Berlin 2005, S. 69–86, hier S. 73 f.  Ebd., S. 71.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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Person (gemeint ist hier Ulrich von Rappoltstein) stattfindet bzw. vom Verfasser des Epilogs im imaginären Inneren des Auftraggebers platziert wird. „Gibt es nur einen einzigen Kommunikationsteilnehmer, erfolgt also die raumgenerierende Kommunikation ausschließlich mit sich selbst, so ist der Raum imaginär.“²² Wir haben es also mit fiktiver Rede und fiktionalen Darstellungsformen zu tun. Die Personifikationen von Minne und Milte²³ – höfische Liebe und Freigebigkeit ‒ hätten, so der Epilog, als ‚Werkmeisterinnen‘ „manige schöne mere“ entstehen lassen, „waz aller tovelrundere [d. i. alle Ritter der Tafelrunde] / guotez ie begiengent, / waz sü lobez dovon enphiengent“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 847,45– 848,2), so auch Parzifal selbst. Sie, Minne und Milte, würden nun nach einem freigebigen „diener“ suchen, einem „minnenden man“, der die Kosten nicht scheue, die in den altfranzösischen Vorlagen auserzählten Aventüren („oventüre“) der Artusritter ins Deutsche zu übertragen („tihten“)²⁴ und diese Übertragungen auf- bzw. abschreiben („scriben“) zu lassen, und zwar zur Unterweisung

 Wagner: Erzählen im Raum, S. 39.  Zur engen Verbindung dieser beiden höfischen Tugenden siehe die Ausführungen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal: „ob er [d. i. ein Liebender] gerne unmilte were, / minne gestattet ez im niht. / minne und miltikeit men siht / zuo aller zit enander bi. / daz ein minner karg [d. i. knauserig] si, / die mögent bi enander nüt geston: / antweders muos daz andere lon, / wan ez wider den orden were. / milte ziert den minnere, / alse daz golt ein edeln stein tuot. / Minne und Milte hant einen muot, / wie wol einz bi dem anderen stat“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 847,30– 41).  „Wenn die Römer von scribere (schreiben) sprachen, dann meinten sie den gesamten Prozeß der Abfassung eines Textes, von der Idee des Textes bis zu seiner Reinschrift, mit Ausnahme des Diktates, das zumeist der Autor selbst vornahm. Für diesen Vorgang stand der Ausdruck dictare zur Verfügung. Im 3. Jahrhundert n.Chr. expandierte die Bedeutung von dictare auf Kosten von scribere derart, daß beide Ausdrücke denselben Sachverhalt bezeichnen konnten, scribere jedoch nach wie vor die gebräuchlichere Bezeichnung blieb. Das änderte sich im Mittelalter drastisch. Nun werden die Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt, und der Ausdruck dictare bezeichnet von jetzt an alle wesentlichen Tätigkeiten eines Autors, während sich die Bedeutung von scribere lediglich auf den Akt der schriftlichen Aufzeichnung (mitsamt der Reinschrift) beschränkt“; Otto Ludwig: Integriertes und nicht-integriertes Schreiben. Zu einer Theorie des Schreibens. Eine Skizze, in: Schreiben. Prozesse, Prozeduren, Produkte, hg. von Jürgen Baurmann und Rüdiger Weingarten, Opladen 1995, S. 273–287, hier S. 274; vgl. Paul Saenger: Silent Reading. Its Impact on Late Medieval Script and Society, in: Viator 13 (1982), S. 367–414, hier S. 380 f. Zum Wandel in der Semantik von „tihten“ (aus lat. „dictare“) – von „diktieren“ zu „verfassen“ – siehe auch Alfred Ernout: dictare ‚dicter‘, allem. dichten, in: Revue des études latines 29 (1952), S. 155–161. An die Stelle von „tihten“ (im Gegensatz zu „scriben“ [‚(ab-, auf‐)schreiben‘]) tritt im Neuhochdeutschen auch das Verb „schreiben“ in intransitiver Verwendung; Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb?, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 240–250.

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und sittlichen Veredelung der deutschen Ritterschaft vermittels Lektüre der Kompilation aus Rappoltstein. Sie lehre nämlich Liebe und Treue, wahren Dienst für Frauen, Zucht und Freigebigkeit: […] alle minnencliche sitte / liset men an diseme buoche hie / und manige oventüre, die nie / hie zuo lande wart geseit / noch von so grosser manheit, / alse die bejagen kunden / von der tovelrunden. / die werden oventurere / hant unz manige edele mere / hie zuo letzte [i. e. Lektion bzw. Lehre] geloszen. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 852,35–44)

In Ulrich, dessen Gemüt sowohl von „minne“ als auch von „milte“ erfüllt sei, sei ein solcher „minnender man“ alsbald gefunden. „[I]ch bin“, so die Minne, „sin eigin [d. i. Leibeigene] und er min, / wir sint beide ein lip, / anders denne man und wib, / die zwo seln und ein lip hant. / ez ist umbe unz früntlicher [d. i. freundschaftlich(er)] gewant: / wir hant selen nuwen eine, / lib und sele ist gemeine. / er ist ich und bin ich er, / wez er gert dez selben ich ger“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 848,46 und 849,1–8)! Diese geradezu mystische Verschmelzung von „minne“ und „man“ übertrifft die enge Verbindung, die, nach christlicher Auffassung, Frau und Mann in der Ehe eingehen, im Sinne der Verschmelzung zweier Seelen zu einem ehelichen Leib (Mt 19,3–6 und I Cor 7,3 f.). Die im Epilog beschriebene Wesensgleichheit von „minne“ und „man“ ruft den antiken und mittelalterlichen Diskurs um das Ideal der Tugendfreundschaft auf. So definiert Marcus Tullius Cicero († 43 v. Chr.) Freundschaft („amicitia“) als „nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio“ (Laelius de amicitia, VI,20) – „nichts anderes als die Übereinstimmung in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe.“²⁵ Eine solche „consensio“ besteht laut Epilog zwischen Minne und Ulrich von Rappoltstein. Ganz ähnlich umschreibt auch der englische Zisterzienser Aelred von Rievaulx († 1166) jene Tugendfreundschaft: Amicitia itaque spiritalis inter bonos, uitae, morum, studiorumque similitudine parturitur, quae est in rebus humanis atque diuinis cum benevolentia et caritate consensio (De spiritali amicitia, I,46) [Geistige Freundschaft kommt zustande unter guten Menschen, von gleicher Lebensart, von guten Sitten und geistigem Eifer; dann ist sie wahrhaft die mit Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in menschlichen und göttlichen Dingen.]²⁶

 Marcus Tullius Cicero: M. Tulli Ciceronis Laelius de amicitia. Ad T. Pomponium Atticum / Marcus Tullius Cicero, Laelius über die Freundschaft. T. Pomponius Atticus gewidmet, Lateinischdeutsch, 3. verb. Aufl., hg. von Max Faltner, München 1980, S. 28 f.  Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch-deutsch. Ins Deutsche übertragen von Rhaban Haacke, eingeleitet von Wilhelm Nyssen, Trier 1978, S. 18 f.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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Mit „wez er gert dez selben ich ger“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 849,8) greift der Epilog der Kompilation die Vorstellung von der Willensgleichheit unter Freunden in Aelreds Traktat für mittelalterliche Verhältnisse recht wörtlich auf: [E]go aliud nihil amicitiam esse credidi quam inter duos uoluntatem identitatem, ut nihil uelit unus quod alter nolit (De spiritali amicitia, II,48) [Ich nahm bisher an, Freundschaft erfordere nur die Übereinstimmung zweier Menschen im gemeinsamen Wollen, so daß der eine nie will, was der andere nicht will.]²⁷

In einem an das Herz gerichteten „minnebriefelin“ (mit dem üblichen Briefmuster von „salutatio“, „exordium“, „narratio“, „petitio“ und „conclusio“), das von der Minne „wart geschriben sunder hant / dem herren an sins herzen want / unde wart gelesen sunder munt“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 849,13–15), wird Ulrich als Träger für den Transfer des literarischen Erbes auserkoren. In diesem inneren Herzskriptorium des Auftraggebers – „an inscriptorial space, an internalized scene of writing“ ‒²⁸ kommt es zu einer markanten Überlappung von innerem Autor, innerem Schreiber und innerem Leser;²⁹ eine Überlappung wie sie sich, auch in der außerliterarischen Wirklichkeit, in der engen Zusammenarbeit von Dichtern, einem Übersetzer und von Schreibern im Auftrag eines die vollendete Kompilation rezipierenden Auftraggebers ergibt. Der Grund für Ulrichs Wahl liege darin, dass er ein von der Minne erfülltes, „edelz herze“ in sich trage und damit einer tugendadeligen Gesinnungselite angehöre, die „minne“ und „milte“ gleichermaßen zugetan sei. in dez herren herze kimet / die minne uf von grunde. / do die wahssen begunde / uszer imme als ein blueyendez ris / unde umbevieng in in alle wis / mit ir bernder bluete, / do wuohz us sime gemuete / die fruht siner edelkeit. / dez die Minne wart gemeit, / wanne Minne waz ie

 Ebd., S. 38 f. [Hervorh. S.A.].  Eric Jager: The Book of the Heart. Reading and Writing the Medieval Subject, in: Speculum 71 (1996), S. 1–26, hier S. 2.  Fester Bestandteil der mittelalterlichen (geistlichen) Allegorie vom (inneren) Buch des Herzens sind Vorstellungen von inneren Schreib- und Leseprozessen. „To create this book of the heart, every aspect of the manuscript codex was thoroughly and ingeniously allegorized: its materials, production, structure, contents, and use. The inner book as a whole was variously identified with reason, conscience, memory, will, or emotion, and its content varied accordingly from a record of divine law or a moral account of an individual’s deeds, to a transcript of personal feelings and experience. […] The activities of the inner scribe and inner reader were allegorized as well, from scraping the parchment of the heart (penitence) and checking the text for error against an exemplar (accuracy of memory), to daily reading in the book (obedience to God’s law) and consulting it as a commentary or gloss on Scripture (heartfelt devotion)“; Eric Jager: The Book of the Heart, Chicago 2000, S. 44 f.

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der urhab, / die edeln herzen den rot gab. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 846,24–34; vgl. auch Sch 847,3–9)

Die höfisch-adelige Minderheit einer „nobilitas cordis“³⁰ erduldet und verinnerlicht den dialektischen Dauerzustand einer inneren Spannung zwischen Freude und Schmerz und zwischen Leben und Tod. Edle Herzen seien zudem „minnend[e] herzen, / die do wol künnent smerzen / durch die minne liden“ (Sch 847,11–13), zudem seien sie für „minnencliche mer“ besonders empfänglich, die sie „gerne lesen unde hören, / wan ez i[n] kan zerstören / unminnencliche gedenke“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 846,36–39).³¹ Dieses ethische, gegen Ovid³²

 Frederic C. Tubach: On the Recent Evaluations of the ‚Tristan‘ of Gottfried von Straszburg, in: Modern Language Note 74 (1959), S. 532–536, hier S. 534, führt das Narrativ von der Minderheit edler Liebender und der großen Mehrheit der anderen auf Ovid und dessen Ars amatoria zurück: „Nec tamen hae mentes nostra poscuntur ab arte: / conveniunt cumbae vela minora meae. / nil nisi lascivi per me discunter amores“ (Ars amatoria, III,26–28). – „Freilich, unsere Kunst verlangt keine solche Gesinnung [bezogen auf die Leidenschaft in der Liebe und die Treue von Ehefrauen in der griechischen Mythologie: Helena, Eriphyle, Penelope, Laodameia, Alkestis und Euadne, S. A.]; zu meinem Schifflein gehörn kleinere Segel ja bloß. Liebe, die man bei mir lernt, bietet nur lockere Spiele“; Publius Ovidius Naso: Liebeskunst (Ars amatoria) – Heilmittel gegen die Liebe (Remedia amoris). Lateinisch-deutsch, 4. überarb. Aufl. hg. von Niklas Holzberg, Düsseldorf/ Zürich 1999, S. 114 f.  Dazu Gottfrieds Tristan: „swer inneclîche liebe hât, / doch ez im wê von herzen tuo, / daz herze stât doch ie dar zuo. / der inneclîche minnenmuot, / sô der in sîner senegluot / ie mêre und mêre brinnet, / sô er ie sêrer minnet. / diz leit ist liebes alse vol, / daz übel daz tuot sô herzewol, / daz es kein edel herze enbirt, / sît ez hie von geherzet wirt. / ich weiz ez wârez als den tôt / und erkenne ez bî der selben nôt: / der edele senedære / der minnet senediu mære“; zit. nach Gottfried von Straßburg: ‚Tristan‘. Unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verb. krit. Apparat besorgt und mit Nachwort versehen von Werner Schröder, hg. von Karl Marold, Berlin 2004, V. 108‒122. – „Wer wirklich liebt, selbst wenn es ihn sehr schmerzt, der gibt doch auch immer sein Herz mit dran. Wenn echte Liebe in Sehnsuchtsschmerzen mehr und mehr entbrennt, dann liebt sie dadurch nur noch glühender. Dieser Schmerz enthält so viel Freude, dieser Kummer tut so innig wohl, daß kein edles Herz darauf verzichten mag, weil es dadurch erst seine Gesinnung erhält. Ich weiß es todsicher und aus eigener leidvoller Erfahrung: Der vornehme Liebende schätzt Liebesgeschichten“; Gottfried von Straßburg: ‚Tristan‘. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdt. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 18. Aufl., 3 Bde., Stuttgart 2021, hier Bd. 1, S. 17. Zur sittlichen Veredelung durch Lektüre von „senemæren“ (Liebesgeschichten) siehe auch Gottfrieds Tristan, V. 172–240.  Dazu auch Ovids Remedia amoris, in denen er den von Liebeskummer Geplagten davon abrät, Liebesgeschichten, selbst die eigenen, zu lesen: „Eloquar invitus: teneros ne tange poetas; / Summoveo dotes ipsius ipse meas“ (V. 757 f.). – „Ungern nur sag’ ich’s: Du sollst die zarten Poeten nicht anrührn; dadurch entziehe ich dir selber mein eignes Talent“; Publius Ovidius Naso: Liebeskunst, S. 228 f.; vgl. entsprechend Tristan, V. 101–107.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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gerichtete Konzept zur Heilung von Liebesleid, im Epilog auch auf die Förderung von profaner Literatur in der Volkssprache ausgedehnt, stimmt mit dem Ideal der Gesinnungs- und Rezeptionselite überein, das Gottfried von Straßburg etwa 120 Jahre zuvor im Prolog seines Tristan umreißt und seinem gesamten Projekt eines Tristanromans, „eine unmüezikeit“ in seinen Worten, voranstellt:³³ Ich hân mir eine unmüezekeit / der werlt ze liebe vür geleit / und edelen herzen zeiner hage: / den herzen den ich herze trage, / der werlde in die mîn herze siht. / ine meine ir aller werlde niht. […]. / ein ander werlt die meine ich, / diu samet in eime herzen treit / ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben. / deme lebene sî mîn leben ergeben, / der werlt wil ich gewerldet wesen, / mit ir verderben oder genesen. / […] / der hân ich mîne unmüezekeit / ze kurzewîle vür geleit, / daz sî mit mînem mære / ir nâhe gênde swære / ze halber senfte bringe, / ir nôt dâ mite geringe. / wan swer des iht vor ougen hât, / dâ mite der muot zunmuoze gât, / daz entsorget sorgehaften muot, / daz ist ze herzesorgen guot. (Gottfried von Straßburg, Tristan,V. 45–50, 58–66 und 71–79)³⁴

Dieses Konzept wird in der Forschung – daneben auch als Ableitung vom mystischen Konzept der edlen Seele (lat. „anima nobilis“) gedeutet – mit Petrus Abaelardus’ († 1142) revolutionärer, im Jahr 1141 verurteilter Lehre von der In-

 Zu Nachahmung von Stileigenheiten Gottfrieds von Straßburg im Epilog vgl. WittmannKlemm: Studien zum ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 117–119. Isolde (Ysot) wird ebenfalls im Epilog genannt; die Minne spricht zu Ulrichs Herzen: „so ist aber min sitte, / daz ich die herzen twinge. / mit den ich so ringe, / die werdent überwunden durch not. / lebete noch die schöne Ysot, / ez wurde ir dangbere [d. i. angenehm], / daz sü unserz herzen frowe were“; Rappoltsteiner Parzifal, Sch 852,3–9. Zum Begriff des „erbe“, der im Tristan als solcher und zudem in zahlreichen Komposita („erbeminne“, „erbesmerze“, „erbepfluoc“, „erbevogetin“) ganz zentral ist, vgl. Susanne Köbele: Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds ‚Tristan‘, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast, Berlin 2004, S. 218–246, hier S. 229–237.  „Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen – zum Nutzen der Welt und zur Freude edler Herzen, jener Herzen, für die mein Herz schlägt, und jener Welt, in die mein Herz blickt. Ich spreche nicht von den gewöhnlichen Menschen[.] […] Von ganz anderen Menschen spreche ich, die gleichzeitig in ihrem Herzen tragen: Ihre süße Bitterkeit, ihr liebes Leid, ihre Herzensfreude und ihre Sehnsuchtsqual, ihr glückliches Leben, ihren traurigen Tod, ihren glücklichen Tod, ihr trauriges Leben. Dieses Leben will auch ich leben, unter solchen Menschen will auch ich Mensch sein, mit ihnen zugrunde gehen oder aber selig werden. […] All ihnen habe ich mein Werk zur Unterhaltung vorgelegt, damit sie mit meiner Erzählung ihren Kummer, der ihnen nahegeht, wenigstens halbwegs lindern und so ihre Qual mindern mögen. Denn wer etwas vor Augen hat, womit seine Phantasie sich beschäftigt, der erleichtert so sein sorgenschweres Gemüt. Das hilft gut gegen Kummer, der aus dem Herzen kommt“; Gottfried von Straßburg, Tristan, Stuttgart 2021, Bd. 1, 13 und 15. Siehe auch den Kommentar zu V. 47 („und edelen herzen zeiner hage“) in ebd., Bd. 3, S. 25–28.

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tention in Bezug gesetzt:³⁵ Nicht der objektive Tatbestand („factum“) – und ebenso wenig Affekt („passio“) oder bloßer Wille / Willensschwäche („voluntas“) – entscheide darüber, ob eine Tat („opus“) gut oder schlecht sei, sondern die bewusste Absicht („intentio“) des vernunftbegabten Handelnden – Zustimmung („consensus“) zum Guten bzw. Bösen, Unterlassung oder Ablehnung des Guten – und die entsprechend vorsätzlich gewollte Tat („propositum“). Es gehe nicht darum, rein objektiv Gutes zu tun („bonum facere“), gleichgültig, ob die Absicht dahinter gut oder schlecht sei, ob man es gerne tue oder nicht, sondern darum, gut zu handeln („bene facere“).³⁶ Selbst sündhafte Handlung („peccatum“), die von der natürlichen Disposition des Menschen zu Laster und Begierde zu trennen sei, sei an sich moralisch indifferent, tatsächlich sündhaft werde sie erst durch böse Absicht. Übertragen auf moralische Bewertung der unverrückbaren (Ehebruchs‐) Liebe zwischen Isolde und Tristan bedeutet dies: Die Diskrepanz zwischen den Handlungen der Liebenden, die zwischen List und Trug schwanken, und der Minneidealität ist nur ertragbar, wenn die Reinheit der Gesinnung mit dem festen Willen, den höchsten amor zu verwirklichen, das entscheidende Bewertungskriterium darstellen darf, wenn die intentio zählt anstatt des factum. ³⁷

Dem Epilog des Rappoltsteiner Parzifal zufolge zählt zu jenen „minnencliche[n] mer“, die unliebsame Gedanken in den ‚edlen Herzen‘ vertreiben können, auch die Aventüren der liebesgefesselten Artusritter. Sie hätten „erbeit [d. i. Mühen] […]

 Hans Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard, in: Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, hg. von Dietrich Schmidtke und Helga Schüppert, Tübingen 1973, S. 196–216; Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ‚Tristan und Isold‘ als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992, S. 166–195.  Petrus Abaelardus: Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum, hg. von Rudolf Thomas, Stuttgart/Bad Cannstatt 1970, S. 163: „Non enim bonus homo a malo in eo dissidere videtur, quod id, quod bonum sit, facit, sed potius, quod bene facit. […] Sic enim ‚bonum‘ sepe dicitur, nec tamen ‚bene‘, id est bona intentione, ita et ‚bonum‘ fieri posse videtur, cum tamen bene non fiat. Sepe quippe contingit idem a diversis fieri ita, ut pro eorum intentione alius bene, alius male illud faciat“ (V. 3229 f. und 3233–3236). – „Denn der gute Mensch scheint sich vom schlechten nicht darin zu unterscheiden, daß er das tut, was gut ist, sondern eher darin, daß er gut handelt. […] So wie nämlich oft ‚gut‘ gesagt wird, und dennoch nicht ‚gütig‘, d. i. in guter Absicht, so scheint auch ‚das Gute‘ geschehen zu können, obwohl es nicht ‚gütig‘ geschieht. Es kommt gewiß oft vor, daß dasselbe von verschiedenen Menschen so getan wird, daß je nach ihrer Absicht der eine es gütig, der andere böswillig tut“; Peter Abaelard: Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, hg. von Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt a. M. 1995, S. 273 und 275.Vgl. auch Peter Abaelard: ‚Scito te ipsum‘ (Ethica) / ‚Erkenne dich selbst‘, hg. von Philipp Steger, Hamburg 2006, S. XII–XXX und 34–37 (§ 17).  Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard, S. 208.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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erlitten, / und gevohten und gestritten / durch irs herzen frowen, / die sü hettent verhowen / mit ir zarten blike / und in der minnen stricke / wurdent do gevangen“ (Sch 852,20–26). Die in der vorliegenden Kompilation gesammelten, aus Liebe („minne“) zu den Damen unternommenen Aventüren gelten daher als „minnenbuoch“ (Sch 849,44).³⁸ Sie sind lehrreich und beispielhaft wie die Erzählung von der tragischen Lieben zwischen Isolde und Tristan.

3 Fiktive Schreibszenen und Blattrechnungen Nach Maßgabe von Manessiers Troisième Continuation (V. 42335–42437) berichtet auch der Rappoltsteiner Parzifal davon, dass König Artus anlässlich von Parzivals letzter Einkehr an den Artushof alle seine Ritter darum gebeten habe, von ihren Aventüreerlebnissen in Gänze zu berichten, damit diese „von worte ze worte“ zentral in einem ‚Artusbuch‘ gesammelt würden. Dieser Bericht liegt in der Rappoltsteiner Kompilation als Einschub mitten in Wolframs Parzival (V. 769,281–22 und 772,301–74) vor, der um die Triumphlisten der von Feirefiz und Parzival besiegten Gegner herum (V. 769,29–772,30) platziert ist: darnach ruofte kü nig Artus do / den helden allen dar ieso. / hartte betteliche er sü bat, / daz ieglicher seite uf der stat / bi dem eide, den er imme hette getan, / waz imme widervarn were sunder wan, / die wile iederman usser lande waz. / sü gelobetent alle zetuonde daz, / sü seitent die worheit alle glich, / es were in schande öder erlich. / […] / der [d. i. König Artus] hies es alles schriben dar / an ein buoch von worte ze wort. / die aventü re wolt er han fü r ein ort / und waz ieder ritter aventü re seite / hies er ouch schriben algereite, / der guote kü nig eren vol, / und hies es gehalten wol. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch LI [Auszug aus dem Einschub nach V. 769,28 von Wolframs Parzival: V. 769,283–12] und Sch LIII [Auszug aus dem Einschub nach V. 772,30 des Parzival: V. 772,3068–74])

In dieser fiktiven Schreibszene am Artushof entsteht ein ‚totales‘ Buch der Aventüre, das die ritterlichen Erlebnisse, sowohl positive als auch negative, in ihrer Gesamtheit, und zwar im Maßstab eins zu eins im Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Niederschrift, festhalten soll. Eine Abschrift ebendieses altfranzösischen (sogenannten) ‚Artusbuchs‘ sei, so die Minne im Minnebrief des Epilogs, in den Besitz Ulrichs von Rappoltstein gelangt. Da Ulrich, ganz so wie König Artus, sehr gerne in diesem Buch lese, sei es wahrlich „an rechten erben

 Dazu Stefan Abel: Freude und Erinnerung als Impulse literarischen Sammelns im fiktionalen Raum der matière de Bretagne, in: Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. XXVI. Anglo-German Colloquium, Ascona 2019, hg. von Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young, Tübingen 2022, S. 311–331.

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kommen: [Artus] mueste din mog [d. i. Verwandter] sin, / wan er ouch sine stunde / domitte kürzen begunde, / daz er lesendez sich gewag. / so er hofierendez nüt enpflag, / so waz ez sine kurzewile groz. / daran bist du sin genoz [d. i. ebenbürtig], / du hest von imme geerbet daz“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 850,24–31). Ulrich als Artus’ ‚Gesinnungsverwandter‘ stehe es daher an, das ‚Artusbuch‘ ins Deutsche übertragen und aufschreiben zu lassen: „nu erbe ouch von im fürbas, / und tuo die edeln sachen / von welsch zuo tützsche machen, / daz ez nüt blibe erbelos“ (Sch 850,32–35). Damit habe Ulrich ein gleich doppeltes, kostspieliges ‚Erbe‘ auf sich zu nehmen: „tihten“ und „scriben“. Die Minne stellt Ulrich für den Fall, dass er dieses Erbe annehme, Erfolge in der (topischen) Liebe zu seiner namentlich nicht genannten Herzensdame in Aussicht. Und Ulrichs Mund lässt über sein Herz und seinen Verstand an die frohlockende Minne ausrichten, dass er ihrer Bitte bei einem solchen Angebot gerne genügen möchte (vgl. Rappoltsteiner Parzifal, Sch 851,15–38). Der Minneabschnitt des Epilogs endet mit einem Schreibbefehl seitens der Minne an Ulrich unter Androhung des Minnebanns, gegen den sich der Rappoltsteiner verwehrt: […] ‚ich gebüte dir, Uolrich, / bi demme gewalte den ich han / oder ich tuon dich in minnenban, / heiz diz buoch bereiten. / wir mögent nüt me beiten [d. i. abwarten], / wan ez sol unser bilder [d. i. Lehrmeister] sin. / minner unde minnerin / mögent hienoch bilden sich / und lernen leben edellich: / wir selber bessernt unz dobi.‘ / ‚nein, Minne‘ sprach der herre fri, / ‚tuo mich in dinen ban niht, / ich leiste din gebot die riht. / heiz die Milte bi unz sin‘. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 853,16–29)

Nachdem Ulrich der Bitte von Minne und Milte stattgegeben hat, wechselt der Epilog zurück zur realen Schreibszenerie: Genannt werden die am Dichten und Schreiben („tihten“ und „scriben“) Beteiligten: Philipp Colin, Claus Wisse und Sampson Pine. Auch die Dauer der Arbeiten an der Kompilation und die Kosten dafür, auch in Relation zu den üblichen Kosten für den Unterhalt eines turnierenden Ritters („minner“) im Minnedienst einer Dame, werden ausdrücklich genannt: alsus sint fünf jor oder me / obe disem buoche verzert. / […] / Nu han ich rechendez gedoht: / wenne diz buoch wurt vollebroht, / daz mag kosten zwei hundert pfunt, / die ein minner in kurzer stunt / an eime orsze verstichet / und dannoch nüt zerbrichet / durch sinez herzen frowe ein sper. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 854,12–13 und 37–43)³⁹

 Bei diesem Betrag handelt es sich wohl um 200 (Straßburger) Pfund Pfennige (87,5 Mark Silber); dazu ausführlich Heinz Thomas: Wie teuer war Dichten im 14. Jahrhundert?, in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. von Burkhardt Krause, Wien 1997, S. 375– 391, hier S. 378–390, darin resümierend: „Wer anstatt einen Minneroman schreiben zu lassen, zu

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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Abb. 1: Blattrechnungen im Rappoltsteiner Parzifal, Hs. V, Bl. 115va (Auszug).⁴⁰

Ehren seiner Herzensdame ein Lanzenstechen bestritt, konnte durchaus ebensoviel verlieren, wie der Herr von Rappoltstein fünf Jahre lang in den von Philipp Colin und Claus Wisse geschaffenen ‚Neuen Parzifal‘ investiert hatte: Ein gutes Streitroß war sehr teuer und konnte binnen Sekunden an den Gegner verloren oder aber zuschanden geritten werden. Die von Colin genannten 200 Pfund waren gewiß ein beachtlicher Betrag, aber selbst wenn dieser gleich zu Beginn der Arbeit in einer Summe an nur einen der Dichter ausgezahlt worden wäre, hätte er bestenfalls, als Kapital für eine Leibrente, 20 Pfund Rendite erbracht, was im Straßburg der Zeit um 1336 vielleicht für den Unterhalt eines kinderlosen Ehepaares knapp ausgereicht hätte, für mehr aber auch nicht. Indes legt Colins Text nicht einmal die Deutung nahe, der Rappoltsteiner habe im Verlaufe der fünf Jahre nach und nach 200 Pfund in barer Münze ausgezahlt. Unter Berücksichtigung der zeitü blichen Verhältnisse und von Colins eigenen Worten kann vermutet, wenn nicht als sicher unterstellt werden, daß in der Rechnung des Dichters auch der Marktpreis von ihm und seinen Mitarbeitern zur Verfügung gestellten Naturalien enthalten war, wie sie ein Adeliger aus den Gütern seiner Herrschaft bezog“; ebd., S. 389 f.  Die eine W-Initiale am Beginn des ‚Florilegiums‘ stützenden Figuren (siehe Abb. 1), links mit einem Dorn, rechts mit einem Balken im Auge, umgibt links ein Spruchband mit einem Freidank-

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Doch nicht nur im Epilog, sondern schon an früheren Stellen sind in der Originalhandschrift des Rappoltsteiner Parzifal, Hs. V, Blattrechnungen eingetragen, welche die Kosten der Schrift ermessen lassen und als Spuren des tatsächlichen Schreibvorgangs zu werten sind. So ist am Übergang von Wolframs ‚altem‘ Parzival zum ‚neuen‘ Parzifal der übertragenen Fortsetzungen zu lesen, dass Wolframs Text „15 und 100 Blätter“ („XV bletter und hundert dirre bletter“, demnach 150 Blatt) umfasse (Rappoltsteiner Parzifal, Sch XIII). Im oberen Feld in Abb. 1 sind die beschriebenen Blätter bis zum Ende von Wolframs Parzival (auf der Grundlage von Chrétiens Conte du Graal und den Episoden 1‒5 von Branche I der Première Continuation) berechnet, der in der Handschrift tatsächlich auf Blatt 115r endet: „Der alte Parzefal, der untze har geschriben stot, dez sint XV bletter und hundert dirre bletter“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch XIII). Das untere Feld in Abb. 1 verzeichnet die benötigten Blätter für den Nuwen Parzifal (die mittelhochdeutsche Übertragung der Première, Deuxième und Troisième Continuations und der Epilog), der nach 207 Blättern in der Tat auf Blatt 320v endet: „So sint dez nuwen Parzefales, der hie noch geschriben stot vij bletter und zwei hundert dirre bletter“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch XIV). Die Schlussrechnung auf jenem letzten Blatt (Abb. 2) bestätigt dies, auch wenn die Zählung nicht ganz der aktuellen Paginierung der Handschrift entspricht: „Hie het der tützsche und der welsche Parzefal ein ende. / Vnde ist beider vor und noch xxij bletter und drühundert dirre bletter. / Daz sint zweier bletter minre denne sibene und zwenzig sexsternen“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch XV), d. h. zwei Blätter weniger, als 27 Sexternionen umfassen. Das sind 27 Lagen oder Bündel zu je 12 Blättern, die, jeweils 24 beschreibbare Seiten umfassend, später zu einem Codex zusammengebunden wurden, insgesamt (27 × 12 =) 324 Pergamentblätter (in der Größe von jeweils 38,5–39 × 27 cm) minus 2 gleich 322.⁴¹

Vers: „Swer wider in sîn herze siht, / der spricht nieman arges niht“; FR 110,21 f., zit. nach Wilhelm Grimm (Hg.): Vridankes Bescheidenheit, Göttingen 1834, S. 110. Das rechte Band trägt den Spruch „du hest ein dorn im ogen“, eine biblische Anspielung auf Mt 7,3–5 oder Lc 6,41–44. Für mögliche Bezüge des Jesuslogions vom Splitter und vom Balken zum Epilog der Kompilation vgl. Fabian Sietz: Erzählstrategien im ‚Rappoltsteiner Parzifal‘. Zyklizität als Kohärenzprinzip, Heidelberg 2017, S. 96–104.  Die moderne Lagenformel der Parzival-Hs. V ist entgegen den Blattrechnungen aus dem 14. Jahrhundert weitaus komplexer, als es die bloße Zusammensetzung aus 27 Sexternionen erahnen lässt, mit einer unregelmäßigen Abfolge von Unionen (I) mit jeweils zwei, Binionen (II) mit jeweils vier, Ternionen (III) mit jeweils sechs, Quaternionen (IV) mit jeweils acht, Quinionen (V) mit jeweils zehn und schließlich auch Sexternionen (VI) mit jeweils zwölf Blättern, von denen teilweise einige fehlen, z. B. (IV-1)115: 2 V20 + II24 + 5 VI84 + III90 + I92 + II96 + VI108 + (IV-1)115 [Ende von Wolframs Parzival, Buch I–XIV] + (VI-2)125 [darin: Beginn des Nuwen Parzifal, ab Bl. 116ra] + (VI +I133/134)139 + V149 + VI161+ V171 + (V+I176/177)183 + VI195 + V205 + III211 + II215 + V225 + VI237 + III243 + II247 + I249 +

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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Abb. 2: Abschließende Blattrechnung im Rappoltsteiner Parzifal, Hs. V, Bl. 320va (Auszug).

4 Fazit: Schreibszenen und Schreib-Szenen Der Epilog präsentiert insgesamt ein rhetorisch ausgefeiltes Narrativ für die Entstehung des Rappoltsteiner Parzifal, das neben dem Auftrag zum „tihten“ (verfassen oder übertragen) auch die materielle Seite des „scriben“ (aufschreiben) in den Blick nimmt. Die Gemeinsamkeit aller drei Typen von Schreibszenen – real, virtuell und fiktiv – besteht darin, dass sie mittels der Schrift Unmittelbarkeiten inszenieren, obwohl sich Sprache mittels Schrift im Grunde ja vom Körper des jeweils Sprechenden und Schreibenden ablöst, externalisiert und somit dauerhaft mitte(i)lbar wird,

IV257 + II261 + (V+I270/271)273 + 2 VI297 + V307 [darin: Beginn von Wolframs Parzival, Buch XV–XVI, ab Bl. 302ra] + VI319 [darin: Beginn des Epilogs, ab Bl. 317va] + I320/Spiegelblatt; vgl. Fasching: Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, S. 152.

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because writing first enabled the idea of a person to be separated from language. In oral culture, language always takes the form of speech, a living voice, and hence it is inextricable from audible words. A spoken exchange leaves no tangible product, such as a written transcript. But as writing technology turned speech into a visual and semi-permanent object and as language became separated visually from the person who uttered it, so also the person, the source of the language, came into sharper focus and the concept of selfhood was born.⁴²

Die reale Schreibszene versucht, die zeitliche und räumliche Distanz zwischen literarisch Gebenden (Chrétien de Troyes und Manessier) und Nehmenden (Wolfram von Eschenbach und Philipp Colin) innerhalb des auf Schriftlichkeit basierenden Transfers altfranzösischer Artusepik nach Deutschland durch inszenierte Mündlichkeit zu überwinden. Wolfram habe seinen Parzival so „gerimet“, d. h. in Verse gebracht, wie er es „von eins welschen meisters munt“ vernommen habe; „so verre ez her Wolfram in tüschen seit, / dez het imme meister Cristian / in welschen rimen künt getan“ (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 845,24–26). Im Mittelpunkt der virtuellen Schreibszene steht ein ohne Hand an die Wand bzw. in das ‚Buch des Herzens‘ geschriebener, lautlos vorgelesener Brief der Minne, der, in panegyrischer ‚Selbstlektüre‘, die ethische Vorbildlichkeit des der höfischen Liebe und der Freigebigkeit zugetanen Mäzens herausstellt. Die der Briefmetaphorik inhärente, räumliche Distanz zwischen Absender und Empfänger wird im virtuellen Raum aufgehoben. In der fiktiven Schreibszene schließlich entsteht ein ‚totales Buch‘, das auf den mündlichen Aventüreberichten der Artusritter basiert und die ritterlichen Erfahrungen und Erlebnisse schriftlich, im Maßstab eins zu eins zwischen Aventüre und Bericht festhalten möchte. Es zielt somit auf Identität von Erlebnis und Erzählung in der Schriftlichkeit ab. Sind diese drei Arten von Schreibszenen – real (historisch), virtuell und fiktiv – denn auch Schreib-Szenen, in Anlehnung an Rüdiger Campe und Martin Stingelin mit Bindestrich geschrieben?⁴³ Thematisieren sie über das Zusammenspiel von Sprache, Instrumentalität und Geste im Schreibakt hinaus im- oder explizit Reibungen, Widersprüche oder Brüche im Prozess des Schreibens? Dies lässt sich

 Jager: The Book of the Heart (2000), S. 1, unter Bezug auf Eric Havelock: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, New Haven / London 1986, S. 113.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 759 f.; Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems., Davide Giuritato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7–21, hier S. 15.

Schreib(‐)szenen im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal (1331–1336)

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durchaus mit Ja beantworten, und zwar in allen drei Fällen bzw. Schreib(‐)szenen, in denen sich Ideal und Wirklichkeit ironisch brechen: 1. Wer sich bis zum Beginn des Epilogs durch die sehr umfangreiche Kompilation gekämpft hat, wird sich an dieser Stelle sicherlich an einen anderen Epilog erinnert fühlen, und zwar an den des ‚alten‘ Parzival Wolframs von Eschenbach. Von einer so unproblematischen Tradierungskette des Gralstoffs zwischen Chrétien und Wolfram ist beim Eschenbacher nämlich nichts zu vernehmen: Ob von Troys meister Christjan / disem mære hât unreht getân, / daz mac wol zürnen Kyot, / der uns diu rehten mære enbôt. / endehaft giht der Provenzal, / wie Herzeloyden kint den Grâl / erwarp [geêrbet *G, erbete *T], als im daz geordent was, / dô in verworhte Anfortas. (Wolfram von Eschenbach, Parzival, V. 827,1–8, nach Fassung *D mit den Lesarten der Fassungen *G und *T)⁴⁴

Demnach habe Chrétien der Erzählung ‚Unrecht‘ getan, was auch immer das heißen mag. Erst der Provenzale Kyot, ein bis heute nicht identifizierter Dichter, habe „endehaft“, d. h. vollständig oder wahrhaft, erzählt. Schwierigkeiten bei der Vermittlung des literarischen Erbes (Fehler, Lücken, Redundanzen und Widersprüche) von Chrétien und Manessier an Wolfram werden im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal, somit am Ende einer langen Kompilation, merklich nivelliert. Dabei zeugt doch gerade die jüngste Beschäftigung mit dem Rappoltsteiner Parzifal vom Ringen um Erklärungsmodelle (etwa Komplementarität und Zyklizität) für die teils nicht (mehr) erkennbare Kohärenz in der Textallianz von ‚altem‘ und ‚neuem‘ Parzival, aber auch innerhalb des Nuwen Parzifal selbst.⁴⁵ Primäres An „Wenn der Meister Christian von Troys diese Geschichte mit Willkür behandelt, dann hat Kyôt ganz recht, sich zu empören: Er hat uns die wahre Geschichte treu überliefert. Die Sache kommt, in der Fassung des Provenzalen, dann an ihr rechtes Ende, wenn er berichtet, wie das Kind der Herzeloyde den Grâl gewann [erbte *G*T], der ihm bestimmt war, nachdem ihn Anfortas verwirkt hatte“; Wolfram von Eschenbach, Parzival, S. 831. Die an der Universität Bern entstehende Neuedition des Parzival (vgl. Anm. 3) erfolgt nach vier Fassungen (*D, *m, *G und *T). Der oben zitierte Text basiert auf Fassung *D auf der Grundlage der Parzival-Hs. D (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857) aus dem zweiten Drittel des 13. Jahrhundert. Die beiden Fassungen *G – auf der Grundlage der Parzival-Hs. G (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 19) aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und Hs. I (Cgm 61) aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts – sowie *T – weitgehend auf der Grundlage der Parzival-Hs. T (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2708) aus dem vierten Viertel des 13. Jahrhunderts – greifen mit den Lesarten „geêrbet“ (*G) und „erbete“ (*T) im Gegensatz zu „erwarp“ (*D*m) wiederum das Motiv der Erbschaft auf, hier der Übergabe der Gralsherrschaft vom Fischerkönig Anfortas an Parzival.  Dazu etwa Yen-Chun Chen: Ritter, Minne und der Gral. Komplementarität und Kohärenzproblem im ‚Rappoltsteiner Parzifal‘, Heidelberg 2015; Sietz: Erzählstrategien im ‚Rappoltsteiner Parzifal‘.

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liegen der Kompilatoren war ohnehin wohl nicht die Erschaffung eines kohärenten Ganzen, sondern vielmehr die Anreicherung von Wolframs Parzival um Fort- und Weiterzählungen, die als (altfranzösische) Fortsetzungen des fragmentarischen Conte du Graal bekannt geworden waren. 2. Die Totalität des ‚Artusbuchs‘ in der fiktiven Schreib-Szene ist ein utopisches, in der Realität nicht umsetzbares Unterfangen. Zum einen mag man nicht so recht daran glauben, dass der Rappoltsteiner Parzifal, als Übertragung des einstigen ‚Artusbuchs‘ ein ‚totales Buch‘ auf zweiter Stufe, beim sprachlichen Transfer nichts von dieser Totalität eingebüßt hat. Und wer sagt denn, dass die Artusritter tatsächlich vollständige Berichte über ihre Erlebnisse, darunter gerade auch weniger rühmliche, ablegen?⁴⁶ Zum anderen ist nicht ausgemacht, wie sich das rein fiktive ‚Artusbuch‘ zu den am Beginn des Epilogs genannten altfranzösischen Vorlagen verhält. Sind sie identisch? Wurde das einstige ‚totale Buch‘ durch Chrétien de Troyes, bis zu seinem Tod, nur bruchstückhaft vermittelt, erst später durch die Fortsetzer, allen voran durch Manessier, zum Abschluss gebracht? 3. Panegyrik, das rhetorisch ausgestaltete Herrscherlob auf den konkreten, fürstlichen Mäzen oder Gönner, dem Dank ausgesprochen und persönliche Loyalität versichert werden soll, erfüllt, so auch im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal, eine Spiegelfunktion, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen steht die Schrift hier tatsächlich ideell als Spiegelbild bzw. ‚Abbild‘ des gerühmten Adressaten, Ulrichs von Rappoltstein. Der Epilog stellt die Vorzüge des Beschriebenen als „edelz herze“ heraus, Neigung zur edlen „minne“ und zur Freigebigkeit („milte“). Zum anderen soll das gezeigte Spiegelbild implizit auch ‚Vorbild‘ und Ansporn für den Adressaten und weitere Rezipienten sein. In diesem Fall würde Ulrich die hohen ethischen Voraussetzungen, die an die „nobilitas cordis“ und die Artuserbschaft geknüpft sind, vorgängig noch nicht (ganz) erfüllen. Arturische Idealität, vor allem arturische Großzügigkeit wird innerhalb der europäischen Artusepik gattungstypisch als grenzen-, sogar als hemmungslos geschildert; sie lässt sich keinesfalls in Zahlen fassen. Und so mag es ganz und gar nicht zum arturischen „milte“-Ideal passen, das angeblich in Ulrich von Rappoltstein fortlebt, dass ihm die Schreiber in Gestalt der drei genannten Blattrechnungen nicht nur Rechenschaft über die geleistete Arbeit ablegen – sie müssen ihm offenbar auch eine Abrechnung vorlegen!

 Zur Problematisierung der Aventüreberichterstattung (Unvollständigkeit, Unzuverlässigkeit und absichtliches Verschweigen von Erlebnissen) im Prosa-Lanzelot (vor 1250 / um 1300) und seiner altfranzösischen Vorlage vgl. Abel: Freude und Erinnerung.

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Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒ 1640er Jahre) 1 Szene(n) und Spuren

Mehr Bilder wären gut. Man würde doch – wir würden doch – zu gern sehen können, was in einer frühen Druckerwerkstatt passiert, wer (und was) sich dort versammelt und wie eine solche Versammlung abläuft. Allzu viele bildliche Darstellungen aus der Frühzeit des Drucks mit beweglichen Lettern scheint es jedoch nicht zu geben.¹ Das ist durchaus verständlich: Dem frühen Druck mit beweglichen Lettern fehlte es vermutlich an der notwendigen Dignität, um zum Gegenstand einer Zeichnung oder gar zum Gegenstand eines Gemäldes zu werden. In bekannten frühen Abbildungen gerät die Druckerwerkstatt dementsprechend geradezu zufällig ins Bild, etwa im Fall des französischen Danse Macabre aus dem Jahr 1499 (Abb. 1). Der Holzschnitt, der den Tod beim Tanz in einer Druckerei zeigt, gilt gemeinhin als älteste erhaltene Abbildung einer Druckerwerkstatt. Allzu viel allerdings lässt sich aus dieser Darstellung wohl eher nicht über das Funktionieren einer solchen Werkstatt lernen, denn die Druckerei ist hier nicht der eigentliche Gegenstand der Darstellung, sondern lediglich ihr Schauplatz. Auch auf etwas später erschienenen Abbildungen ist die Druckerwerkstatt eher peripher. Bei dem Titelblatt eines Luther-Drucks aus dem Jahr 1521 etwa sieht man eine Druckerpresse, an der (wie es wohl üblich war) zwei Personen arbeiten (Abb. 2). Neben der Presse finden sich auf dem Titelblatt vor allem Tierdarstellungen, die an Fabeln erinnern. Auch hier bleibt die Szene isoliert. Frühe bildliche Zeugnisse sind also nur spärlich vorhanden und es wird dauern, bis sich dies ändert. Die mangelnde Dignität dürfte ein Grund hierfür gewesen sein, es gab aber wohl noch weitere Gründe. Der Druck mit beweglichen Lettern bot zunächst keinen vertrauten Anblick und das Wissen über die neue Drucktechnik war keine kulturelle Selbstverständlichkeit – es wurde anfänglich sogar bewusst geheim gehalten und geschützt.² Wer eine Druckerwerkstatt mit

 Aus der Zeit vor 1600 gebe es etwa 40 Abbildungen von Druckerpressen (wobei sich diese Abbildungen zum Teil aufeinander bezögen), heißt es bei James Moran: Printing Presses. History and Development from the Fifteenth Century to Modern Times, London 1973, S. 25.  Michael R. Ott: Black Box Buchdruck, in: Black Boxes – Versiegelungskontexte und Öffnungsversuche. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Eckhard Geitz, Christian Vater, Silke Zimmer-Merkle, Berlin/Boston 2020, S. 253–265. https://doi.org/10.1515/9783110792447-004

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eigenen Augen sehen wollte, hatte hierzu dann ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in zahlreichen Städten die Möglichkeit und Gelegenheit. Erst ab dem Moment, als das neuartige Druckverfahren kein ‚Geheimunternehmen‘ mehr war, wurde das Druckereigewerbe zu einem städtischen, handwerklichen Manufakturbetrieb – so wie andere Handwerke eben auch. Einerseits hatte man nun leichter die Möglichkeit, eine Abbildung eines solchen Betriebs anzufertigen, andererseits gab es vielleicht gar keine Veranlassung, Zeichnungen von Handwerken anzufertigen, die viele Menschen nun jederzeit mit eigenen Augen sehen konnten.

Abb. 1: Seite aus Grant danse macabre des hommes et des femmes, gedruckt bei Matthias Huß in Lyon im Jahr 1499.³

Bis ins späte 16. Jahrhundert sind Abbildungen von Druckwerkstätten jedenfalls selten und entstehen meist aus den Werkstätten selbst heraus. So fertigt etwa der Kupferstecher und Formschneider Jost Amman ein sogenanntes Stän-

 Digitalisat: Princeton University Library, Lizenz: NKC 1.0, ark: 88435/ms35td33q.

Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒1640er Jahre)

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debuch an, das einen Überblick über die Stände und Handwerke (1568) gibt.⁴ Später erscheinen weitere, ähnliche Bände, die über Kleidung (1586),⁵ Kartenspiele (1588)⁶ und Wappen (1589) informieren.⁷ Zu den Handwerken, die im Ständebuch vor- und dargestellt werden, gehört dann auch bereits der Schriftgießer, der allerdings in der zugehörigen Darstellung gerade nicht als Akteur und Teil eines Werkstattbetriebs gezeigt wird, sondern als separater Handwerker, der der „Druckrey“ zuarbeitet ‒ so heißt es in den beistehenden Versen des Hans Sachs (Abb. 3).⁸ Einen Überblick über eine Druckerei als eine komplexe, arbeitsteilige Werkstatt bekommt man auf diese Weise also auch weiterhin nicht. Immerhin aber kann man anhand von Jost Ammans Ständebuch einen Eindruck davon bekommen, dass zahlreiche Gewerke notwendig waren, um schließlich und endlich ein Buch in Händen zu halten – in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist ein solches Buch dann häufig (aber bei Weitem nicht immer) ein gedrucktes Buch, mithin ein Buch, das in der Regel auch Holzschnitte und/ oder Kupferstiche enthält. Ammans Ständebuch zählt zahlreiche Gewerke auf, die an der Buchproduktion beteiligt waren: Neben dem Schriftgießer gibt es den Reißer, den Formschneider, den Papierer, den Buchdrücker, den Briefmaler, den Buchbinder sowie den „Permennter“, also denjenigen, der das Pergament herstellt. Es fällt indes auf, dass der „Permennter“ hier an weit späterer Stelle genannt wird als die anderen Gewerke rund um das Buch. Allen voran steht das noch junge Handwerk des Schriftgießers. Das Gießen von Lettern für den Druck auf Papier, so ließe sich diese Aufzählungslogik interpretieren, hat die handschriftliche Textproduktion auf Pergament offenbar bereits verdrängt. Dass das Letterngießen zuerst genannt wird und die ältere Verfahrenstechnik der Pergamentherstellung erst viel später, könnte auf den Wandel der bevorzugten Trägermaterialien und Schreibweisen hindeuten (von der Handschrift auf Pergament hin zum Druck auf Papier) sowie eine Priorisierung der neuen Verfahrenstechnik implizieren. Trotz der Konzentration auf separate Tätigkeiten ergibt sich dann in der Gesamtschau der verschiedenen Gewerke, Tätigkeiten und Materialien doch  Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden / Hoher und Nidriger / Geistlicher und Weltlicher / Aller Künsten / Handwercken und Händel / etc. vom größten biß zum kleinesten […]. Frankfurt a. M. 1568 [VD16 S 244].  Im Frauwenzimmer / Wirt vermeldt von al/lerley schönen Kleidungen unnd Trachten der Weiber […]. Frankfurt a. M. 1586 [VD16 L 727].  Charta Lusoria […] Künstliche und wolge/rissene Figuren / in ein neu Karten/spiel […]. Nürnberg 1588 [VD16 S 4258].  Wapen / Und Stamm/buch […]. Frankfurt a. M. 1589 [VD16 ZV 5824].  Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden / Hoher und Nidriger / Geistlicher und Weltlicher / Aller Künsten / Handwercken und Händel / etc. vom größten biß zum kleinesten […]. Frankfurt a. M. 1568 [VD16 S 244], E3r.

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so etwas wie ein Panoptikum der Schriftproduktion, das zugleich ein Produktionsnetzwerk zur kollaborativen Herstellung schrift- und gegebenenfalls bildtragender Artefakte abbildet.

Abb. 2: Martin Luther: Auff des bocks zu Leypczick Antwort. Wittenberg 1521 [VD16 L 3900], Exemplar der UB Frankfurt am Main (Ms. germ. oct. 191).⁹

Dass diese Produktion immer häufiger in einer Manufaktur stattfindet, d. h. an einem Ort, der es ermöglicht, arbeitsteilig differenzierte Produktionsschritte in räumlicher Nähe zueinander zu zentrieren, zeigt die Abbildung zum Handwerk des „Buchdrückers“ (Abb. 4). Ammans Holzschnitt erlaubt tatsächlich einen Blick in eine Druckerwerkstatt, auch wenn es sich nur um einen kleinen Ausschnitt handelt.

 Lizenz: Public Domain Mark 1.0, urn:nbn:de:hebis:30:2-337939.

Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒1640er Jahre)

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Abb. 3: Jost Amman und Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden / Hoher und Nidriger / Geistlicher und Weltlicher / Aller Künsten / Handwercken und Händel / etc. vom größten biß zum kleinesten […]. Frankfurt am Main 1568 [VD16 S 244], Exemplar der SLUB Dresden (Lit.Germ.rec.B.2039).¹⁰

 Lizenz: Public Domain Mark 1.0, urn:nbn:de:bsz:14-db-id2788119736.

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Abb. 4: Jost Amman und Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden / Hoher und Nidriger / Geistlicher und Weltlicher / Aller Künsten / Handwercken und Händel / etc. vom größten biß zum kleinesten […]. Frankfurt am Main 1568 [VD16 S 244], Exemplar der SLUB Dresden (Lit.Germ.rec.B.2039).¹¹

Wir sehen ganz vorne im Bild einen Tisch, auf dem zwei Stapel Bogen liegen, rechts die noch unbedruckten, links die bereits bedruckten Bogen. In der Bildmitte sehen wir zwei Buchdrücker an der Presse; und im Bildhintergrund, bei einem Fenster, zwei Setzer bei der Arbeit, jeweils vor einem riesigen Setzkasten platziert. Beide haben wohl das zu setzende Manuskript gut sichtbar vor sich postiert – und der rechte Setzer könnte einen Winkelhaken in der Hand halten, in den er die Lettern stellt, um die Zeilen zusammenzusetzen. Für einen ersten Eindruck ist das nicht schlecht, aber wenn man Prozesse, Netzwerke, Versammlungen verstehen möchte, hilft die Abbildung kaum weiter. Alles zerfällt in Hälften, der Setzkasten, die beiden Setzer, die beiden Buchdrü Lizenz: Public Domain Mark 1.0, urn:nbn:de:bsz:14-db-id2788119736.

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cker, die beiden Stapel mit Bogen. Wie die Lettern in den Setzkästen zur Druckerpresse in der Mitte und wie die bedruckten Bogen von der Presse nach vorn auf den Tisch kommen, all das sieht man nicht. Ein wenig Dynamik gibt es nur an der Presse selbst, wo der rechte Buchdrücker mit den Ballen den Satz einfärbt, während der linke einen frisch bedruckten Bogen begutachtet. Letztlich aber arbeitet auch hier jeder für sich selbst, guckt jeder auf seine Arbeit – und niemand sieht sich an. Außerdem fehlt vieles, das sich nicht so einfach in eine Darstellung bringen lässt: die Gerüche und Geräusche, die Haptik der Werkzeuge und Maschinen, die Bewegungen und Praktiken und all das körperliche Wissen, das in den Menschen steckt, die gezeigt werden. Der erwähnte Winkelhaken ist ein gutes Beispiel für schwer zu zeigendes Detailwissen, das dann technikgeschichtlich zu rekonstruieren ist: Im Winkelhaken stellte der Setzer die aus den einzelnen Fächern des Setzkastens geholten Buchstaben in der vorgesehenen Reihenfolge der Wörter und Sätze aufrecht nebeneinander und hinderte sie dabei mit dem Daumen am Umfallen. Gleichzeitig fühlte er die eingekerbte oder eingeschnittene Signatur, an der er erkannte, ob eine Letter nicht vielleicht auf dem Kopf stand. War der Winkelhaken voll, so wurden die gesetzten Zeilen auf das Satzschiff geschoben, eine auf drei Seiten von einem rechtwinkligen Rahmen umgebene und auf der vorderen Seite offene Metallplatte. Dieser Rahmen war etwas niedriger als die Höhe der Lettern und verhinderte ihr Auseinanderfallen. Das gefüllte Satzschiff entsprach einer Druckseite.¹²

Man kann durchaus sagen, dass die frühen Setzer bei dieser Tätigkeit geradezu in einem handschriftlichen Sinne Schrift setzten, weil sich die frühen Drucke an den Handschriften orientierten und deshalb eine große Menge an Letterntypen notwendig war. Gutenbergs zweiundvierzigzeilige Bibel ist hierfür ein gutes Beispiel, denn die Bibel wurde in den Jahren „1452 bis 1455 in nur einer Schriftgröße, jedoch mit insgesamt 290 verschiedenen Schriftzeichen gesetzt.“¹³ Auch das lässt sich technikgeschichtlich rekonstruieren, indem man vom Produkt auf den Prozess rückschließt. Die Darstellung der „Buchdrücker“ (Abb. 4) kann für eine solche Rekonstruktion zumindest den Anlass bieten, angesichts des riesigen Setzkastens im Bildhintergrund.

 Karl-Heinz Ludwig und Volker Schmidtchen: Metalle und Macht. 1000 bis 1600, Berlin 1997, S. 578 f.  Ebd., S. 580.

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2 Druckszene und Prozesse Sucht man nach der Darstellung einer Druckerwerkstatt als kollaboratives Ensemble, stößt man mit dem Buch über die Stände und Handwerke von Amman und Sachs, so hilfreich es ist, an Grenzen, liegt doch der Fokus im Ständebuch auf den einzelnen Gewerken, die getrennt voneinander behandelt werden. Will man eine vollständigere Einsicht in die Arbeitsabläufe einer Druckerwerkstatt gewinnen, eine vollständigere Szene, ist man auf eine andere Perspektive angewiesen, eine Perspektive, für die die Werkstatt ein Ereignis ist, mithin eine Bühne, auf der sich Bemerkenswertes abspielt, zum Beispiel, indem der Buchdruck als grundlegende Erfindung in Szene gesetzt wird. Ende des 16. Jahrhunderts erschienen unter dem Titel Nova Reperta („Neue Entdeckungen/Erfindungen“) 19 Kupferstiche nach der Vorlage von Johannes Stradanus, die Erfindungen vorstellten, die zeitlich nach der Antike gemacht wurden, vom Steigbügel, der Wassermühle und der Gewinnung von Zucker aus Zuckerrohr, über die ‚Entdeckung‘ Amerikas bis hin zum Kompass und zur Längengradbestimmung auf See.¹⁴ Mit dem Bilderzyklus werden wohl erstmals bedeutende nachantike Neuerungen als Ausdruck einer Leistung vorgestellt, die sich mit den Entdeckungen und Erfindungen der Antike messen kann, sodass die Kupferstiche zum Zeichen eines „selbstbewußten Fortschrittsdenkens“ werden.¹⁵ Auch der Fortschritt muss ja erst erfunden und popularisiert werden. Unter den zahlreichen Neuerungen, die in den Nova Reperta dokumentiert werden, findet sich auch der Kupferstich einer Druckerei (Abb. 5). Er gehört wohl zu den bekanntesten frühen Abbildungen einer solchen Werkstatt. Zu sehen ist eine Vielzahl von Menschen, Möbeln, Geräten und Tätigkeiten. Diese Druckszene erzählt unterschiedliche Produktionsschritte, die im Bild chronologisch-räumlich von links nach rechts angeordnet sind ‒ ein Darstellungsverfahren, das man auch aus der christlichen Ikonografie oder der visuellen Darstellung von Jahreszeiten und Naturzyklen kennt: von der ersten Satzlegung (links) geht es zur Korrektur (Mitte) und dann weiter in Richtung Druck (rechts).

 Zu den Nova Reperta (mit Faksimile des Erstdrucks sowie einer vorbereitenden Skizze und der Vorlagenzeichnung zum Buchdruck-Kupferstich) vgl. Renaissance Invention. Stradanus’s ‚Nova Reperta‘, hg. von Lia Markey, Evanston 2020. Zu Jan van der Straet/Stradanus vgl. den Band Stradanus 1523–1605. Court Artist of the Medici, hg. von Alessandra Baroni und Manfred Sellink, Turnhout 2012. Hinweise zu den Nova Reperta dort auf S. 300–306 et passim.  Uta Bernsmeier: Die Nova Reperta des Jan von der Straet. Ein Beitrag zur Problemgeschichte der Entdeckungen und Erfindungen im 16. Jahrhundert, Hamburg 1986, S. 17.

Druckszenen und Druck-Szenen (1580er‒1640er Jahre)

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Abb. 5: Jan van der Straet (Vorlage) und Johannes Galle (Stich): Der Buchdruck. In: Nova Reperta, Antwerpen, späte 1580er Jahre.¹⁶ Hier handelt es sich um die Abbildung der zweiten Auflage des Jahres 1638 (erkennbar am geänderten Hinweis auf „Ioan. Galle“ rechts unten).

Beginnen wir auf der linken Seite: Unter einem Fenster ‒ man war auf natürliches Licht angewiesen ‒ sitzen zwei Setzer an ihren Kästen, während eine Seite des zu setzenden Manuskripts oberhalb des Setzkastens an der Wand angebracht ist.¹⁷ Eine dritte Figur zeigt mit der linken Hand auf diese Manuskripte, ohne dass unmittelbar klar würde, worin ihre Aufgabe und Tätigkeit besteht. Es könnte sich bei dieser unscheinbaren Figur um einen Autor handeln, der sein Manuskript setzen lässt, bevor sich weitere Arbeitsschritte im Produktionsprozess anschließen. Sollte dem so sein, stünde der Autor hier ganz am Rand – und ganz am Beginn der Produktionskette.

 Digitalisat: Sammlung der Stadt Antwerpen, Museum Plantin-Moretus, PK.OPB.0186.005, Lizenz: CC0 1.0.  Dirk Imhof geht in seiner Analyse des Kupferstichs davon aus, dass es sich oberhalb des Setzkastens um ein Gestell handelt, das den Satz hält (also um ein „Satzschiff“); Dirk Imhof: Stradanus’s Print Shop and the Practice of Printing in Sixteenth-Century Antwerp, in: Renaissance Invention. Stradanus’s Nova Reperta, hg. von Lia Markey, Evanston 2020, S. 55‒60, hier S. 55b.

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Im Vordergrund des Bildes, etwas weiter rechts neben einer Säule mit Kruzifix, befindet sich ein weiterer Setzer, der auf einem Kissen sitzt und einen Dolch am Gürtel führt. Rechts von ihm, etwas weiter im Bildhintergrund, steht eine Figur und liest, worauf die Brille hinweisen könnte. Auch hier ist es ohne näheres Wissen nicht ganz leicht, die Prozessschritte und die Aufgaben der einzelnen Akteure zu entschlüsseln. Es wird sich wohl um einen Lektor handeln, darauf deuten zumindest die Beschreibungen hin, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts in der Orthotypographia des Hieronymus Hornschuch finden, auf die wir noch zu sprechen kommen. Der Lektor arbeitet dem Setzer zu, indem er ihm die Druckvorlage vorliest. Korrigiert wird nämlich nach Gehör.¹⁸ Damit ändert sich das Verständnis der Szene, denn die Figur mit Dolch im Vordergrund ist nicht nur Setzer, sondern auch Korrektor. Mittig im Bildhintergrund wird mit zwei Druckerballen gerade der Satz eingefärbt. Rechts daneben sehen wir einen Buchdrücker an der Presse. Zwischen den beiden Druckerpressen auf der rechten Bildseite hängen frische Papierbogen zum Trocknen über einer Leine, während ganz vorne in der Bildmitte die getrockneten Bogen (offenbar von einem Kind) gestapelt werden. Von hinten, von der Stadt her, kommt Nachschub. Eine Figur trägt Papierballen auf dem Kopf in die Werkstatt. Im Rahmen dieser Szene mag eine hinten im Stadtbild erkennbare Turmuhr unauffällig sein, im Zusammenhang mit den anderen Kupferstichen ist sie durchaus bemerkenswert. Die Erfindungen, die die Nova Reperta zeigen, werden zwar separat präsentiert, können aber gemeinsam mit anderen technischen Neuerungen auftreten. Die Zeigeruhr in der Druckszene etwa gehört zu den anderen nachantiken Erfindungen, die vorgestellt werden, ebenso wie die Brille des Lektors. Auch die in einem anderen Stich präsentierte Olivenpresse kehrt in der Druckszene durchaus wieder, denn Olivenpresse und Druckerpresse unterscheiden sich technisch nicht allzu sehr. Innerhalb der Nova Reperta-Welt ist der Fortschritt längst popularisiert: Man nutzt die Erfindungen wie selbstverständlich. Ganz rechts im Vordergrund schließlich, mit Blick auf die Szene, steht ein kostbar gekleideter Mann mit Bart, der in der linken Hand zusammengerollte

 „Ferner ist dem Correctori zuständig/ sich also zu gewehnen/ daß er im lesen zum wenigsten mit einem Worte den Lectorem zuvor komme. Denn auff diese Weise wird er etwas eher sehen/ was zu corrigiren, und es auff den Rand zeichnen/ ehe ihn noch der Lector mit dem Lesen uberholet. Doch will dem Lectori dißfalls gebüren/ so er mercken wird/ daß der Corrector, wegen Vielheit der Erraten, auffgehalten wird/ daß er desto langsamer lese/ oder ein wenig inne halte“; Hieronymus Hornschuch: Ὀρθοτυπογραφία, Hoc Est: Instructio, operas typographicas correcturis […]. Leipzig 1608 [VD17 35:717336N] und ders.: Ὀρθοτυπογραφία. Das ist: Ein Kurtzer Unterricht/ für diejenigen/ die gedruckte Werck corrigiren wollen […]. Leipzig 1634 [VD17 23:279061V], S. 19.

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Blätter hält. Dieser Mann ist nun nicht notwendig ein Autor, sondern vielleicht der Eigentümer der Druckerei oder ein Druckerverleger, der die Arbeiten überwacht, die er in Auftrag genommen hat. Im Zentrum aber steht diese Figur nicht, so wie überhaupt keine der Figuren im Zentrum steht: „Schon das gewählte breite Bildformat ist darauf angelegt, einer umfassenden Darstellung der verschiedenen Tätigkeiten Raum zu geben […].“¹⁹ Im Zentrum stehen Prozesse. „Potest ut una vox capi aure plurima: Linunt ita una scripta mille paginas“, heißt es in der Bildunterschrift: „So wie eine Stimme durch viele Ohren vernommen werden kann, so breitet sich ein nur einmal Geschriebenes über tausend Seiten aus“. Wo aber wird geschrieben? Ganz links, wo der Autor sein Manuskript in den Prozess hineingibt? Etwas weiter rechts, wo Lektor und Korrektor den Satz kontrollieren? Noch weiter rechts, an der Presse, wo die „mille paginas“ entstehen, von denen in der Unterschrift die Rede ist? Überall wird geschrieben und auch nirgends, wird man wohl sagen müssen, und so bleibt nur die an Bruno Latour und die AkteurNetzwerk-Theorie erinnernde Feststellung, dass es die Verbindung ist, die zum Geschriebenen führt, die Versammlung von Dingen, Maschinen, menschlichen Akteuren und Praktiken.²⁰ Oder wird vielleicht doch geschrieben? In der rechten oberen Ecke des Bildes, als unscheinbare Miniatur, sitzt auf dem Kapitell der Säule, vor welcher der Eigentümer oder Druckerverleger steht, ein Mann auf einem Stuhl, an einem Tisch, vor sich wohl ein Blatt Papier oder ein Stück Pergament. Ist das ein Mönch, der dort abgewandt, mit dem Rücken zum Betrachter, am Schreibpult sitzt? Ist das ein Verweis auf das Schreiben vor dem Druck mit beweglichen Lettern und jenseits des Drucks? So reizvoll ein solches Verständnis auch sein mag, wird man doch stutzig angesichts der rechten Hand des Mannes, die etwas in eine Flamme zu halten scheint. Das ist vermutlich kein Schreibgerät, sondern ein Siegelring – und der Mann ist dann vermutlich Johannes Gutenberg, von dem ein Gedicht, das die schon erwähnte Orthotypographia schmückt, berichtet, er habe beim Drücken seines Siegelrings in heißes Wachs die Idee zum Druck mit beweglichen Lettern gehabt.²¹

 Uta Bernsmeier: Die Nova Reperta des Jan von der Straet. Ein Beitrag zur Problemgeschichte der Entdeckungen und Erfindungen im 16. Jahrhundert, Hamburg 1986, S. 74 f.  Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007.  Hieronymus Hornschuch: Ὀρθοτυπογραφία. Das ist: Ein Kurtzer Unterricht/ für diejenigen/ die gedruckte Werck corrigiren wollen […]. Leipzig 1634 [VD17 23:279061V], S. 116 f. Die Idee, dass Gutenbergs Innovationen durch einen Siegelring ausgelöst wurden, entwickelt sich schon im 16. Jahrhundert. Die früheste Erwähnung im Druck, die wir kennen, stammt von Johann Arnoldus

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Wir haben es also auch am Rand des Kupferstichs nicht mit einer Schreibszene zu tun, sondern wohl mit einer Drück- und Druckszene, sogar mit der angeblich ursprünglichen Druckszene, die den Anlass geboten habe für die komplexen Prozesse der Druckerwerkstatt, die die Nova Reperta präsentieren. Ohne Weiteres erkennen lässt sich dies freilich nur, wenn man die zugehörige und heute kaum mehr bekannte Erfindungsgeschichte kennt. Um die Druckszene rund um den Mann rechts oben lesen zu können, braucht es eine Druck-Szene – so wie überhaupt die Druckszene des Kupferstichs immer wieder in eine Druck-Szene kippt.

3 Druck-Szene und Texte Wer Stradanus’ Kupferstich betrachtet, betrachtet eine Druck-Szene im Sinne einer kompositorisch reflektierten Gestaltung, einer grafischen Abbildung des „sprachlichen, raumzeitlichen, technischen und sozialen Kontext[es]“ von Textproduktionsprozessen, hier: des Buchdrucks.²² Detailreich und durchaus narrativ wird gezeigt, wie es in einer Druckerei aussieht, was dort gemacht wird und wer etwas macht. Die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten eines Kupferstichs sind freilich begrenzt. Das Medium kann z. B. nicht zeigen, wie der Druckvorgang im Einzelnen abzulaufen hat und welche Handgriffe die unterschiedlichen Arbeitsschritte von den Beteiligten erfordern, wie intensiv zum Beispiel der Druck von Oberkörper und Hand auf den Ballen ausgeübt werden muss oder wie leicht die Hand schwingen sollte, damit die Druckertinte gleichmäßig verteilt würde. Nur weil man einen Blick in die Werkstatt werfen kann, heißt das noch nicht, dass man auch weiß, wie man druckt. Um mehr darüber zu erfahren, ist – das hat sich bereits gezeigt – eine Druck-Szene hilfreich. Hierzu eignen sich in besonderem Maße Texte, die den Buchdruck als Handwerk sowie die sprachlich-begrifflichen, raumzeitlichen, technischen und sozialen Kontexte beschreiben, reflektieren und problematisieren. In gewisser Hinsicht stellen die Formatbücher des späten 17. Jahrhunderts Frühformen dieses textförmigen Nachdenkens über Druckpraktiken dar. Diese Bücher sind dabei in erster Linie das Resultat eines anlassbezogenen Nachdenkens über bestimmte Layoutfragen und bieten hauptsächlich konkrete Anwei-

Bergellanus, aus seinem 1541 gedruckten De chalcographiae inventione [VD16 A 3689], worin Gutenberg als Erfinder und Mainz als Erfindungsort gelobt werden.  So formuliert es Jennifer Clare: Textspuren und Schreibumgebungen. Schreiben, SchreibSzene und Schrift aus kulturpoetologischer Perspektive, in: Textpraxis 13 (2017), S. 1–19, hier S. 3.

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sungen für Setzer, die bereits recht viel von ihrem Handwerk verstehen.²³ Lehrbücher im engeren Sinn sind sie nicht; und erstaunlicherweise wird es noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauern, ehe im deutschsprachigen Raum tatsächlich die ersten ‚richtigen‘ Lehrbücher für angehende Buchdrucker und Setzer erscheinen, die das zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr neuartige Handwerk in gedruckter Form normieren und institutionalisieren, wie etwa Christian Gottlob Täubels Praktisches Handbuch der Buchdruckerkunst für Anfänger (1791). So gesehen hat es über drei Jahrhunderte gedauert, ehe das Produkt der Druckerwerkstatt selbst zum Medium der Reflexion über seinen eigenen Produktionsvorgang wird. Was es zuvor gibt, immerhin rund einhundertfünfzig Jahre nach der Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern, sind einzelne textuelle Szenen. Etwa zur gleichen Zeit wie Stradanus’ Stich finden sich nämlich erstmals ‚Druck-Szenen‘. Gemeint sind mit diesem Begriff die im Rahmen eines gedruckten Textes wahrnehmbaren und analysierbaren Thematisierungen, Reflexionen und Problematisierungen desjenigen Kontextes, der ihn als gedruckten Text bedingt, oder kurz: eine Reflexion des Mediums ‚Druck‘ im Medium des Drucks selbst. Dieses Nachdenken über die Interaktion zwischen Druckinfrastruktur, Druckprozess und Druckerzeugnis findet jedoch noch nicht auf Deutsch (und damit in der Sprache der Druckhandwerkspraktiker), sondern zunächst in lateinischer Sprache statt. Und über die komplexen Rahmenbedingungen des Druckens denken auch noch nicht die Drucker selbst nach, sondern erstmals ein Leipziger Medizinstudent namens Hieronymus Hornschuch. Seine Orthotypographia erschien 1608 auf Latein und 1634 in deutscher Übersetzung. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die deutschsprachige Fassung, da sie in ein Sammeldruckwerk über das Büchermachen aufgenommen wurde, das – so die These – als DruckSzene in Buchform verstanden werden kann. Hieronymus Hornschuch, das weiß man wie so oft in der Frühen Neuzeit aus einer Leichenpredigt, wird 1573 in der fränkischen Grafschaft Henneberg geboren und geht in Schleusingen zur Schule, ehe „er von dannen mit gutem Zeugnis auff die Universitet Jena ist verschicket worden/ allda er sich zwey Jahr lang auffgehalten/ und von dannen hieher gen Leiptzig sich begeben“.²⁴ Von „Armut und

 Vgl. exemplarisch Johann Ludwig Vietor: Neu-auffgesetztes Format-Büchlein […]. Frankfurt a. M. 1679 [VD17 23:725616L] oder Daniel Michael Schmatz: Neu-vorgestelltes Auf der Löblichen Kunst Buchdruckerey Gebräuchliches Format-Buch […]. Sulzbach 1684 [VD17 4620:748024P]. Eine Auflistung findet sich bei Martin Boghardt: ‚Der in der Buchdruckerei wohl unterrichtete LehrJunge‘. Bibliographische Beschreibung der im deutschsprachigen Raum zwischen 1608 und 1847 erschienenen typographischen Lehrbücher, in: Philobiblon 27 (1983), S. 5–57.  Vincentius Schmuck: Leichpredigt […] Beym Begräbnis des […] Herrn Hieronymi Hornschuchs/ Der Artzney Doctorn und Practici zu Leipzig […]. Leipzig 1616 [VD17 39:112418L], D1v.

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Unvermögen“ geplagt, hatte Hornschuch „durch famuliren, Kinder instituiren, unnd corrigiren, in den Druckereyen/ sich wie er gekont beholffen/ und hiebey das studium Medicum zugleich angegrieffen“.²⁵ Insbesondere die Korrekturarbeit, der er über zehn Jahre lang und bis „zum heutigen Tage“ habe nachgehen müssen, wie Hornschuch in der Widmungsvorrede seiner Orthotypographia bemerkt, war offenbar nicht nur mühselig, freudlos und uneinträglich, sondern habe den von ihm erhofften raschen Studienabschluss zudem um einige Jahre herausgezögert.²⁶ 1608 wird er schließlich nach einem erneuten Studienortswechsel in Basel zum Doktor der Medizin promoviert und kehrt daraufhin nach Leipzig zurück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1616 ist er als Arzt in Leipzig tätig. Noch kurz vor seinem Umzug nach Basel erscheint in der Leipziger Offizin von Michael Lantzenberger der einzige überlieferte Text Hornschuchs, die Orthotypographia (Abb. 6). Dieser rund fünfzig Seiten umfassende Oktavdruck, der neben einem Holzschnitt von Moses Thym (der uns übrigens ein weiteres Mal in das Innere einer Druckerwerkstatt blicken lässt) noch eine Handvoll Schriftproben hebräischer, griechischer, lateinischer und deutscher Typen aus Lantzenbergers Offizin enthält, gilt der buchwissenschaftlichen Forschung als der „erste Lehr- und Leitfaden des neuen Handwerks“, wie es Martin Boghardt begleitend zu einer Faksimileausgabe des Drucks formuliert.²⁷ Dieser Einschätzung ist jedoch nur bedingt zuzustimmen, denn Hornschuchs Text ist, so bemerkenswert er als frühes Dokument des Nachdenkens über Druckprozesse zweifelsohne ist, (nur) ein Lehr- und Leitfaden des Korrekturwesens,²⁸ nicht aber des Druckhandwerks im Ganzen. Sein eigenes Vorhaben beschreibt Hornschuch dementsprechend wie folgt:

 Ebd. Frühneuzeitlicher Antiqua-Satz wird im Folgenden kursiviert wiedergegeben.  Vgl. im lateinischen Text von Hornschuchs Orthotypographia auf A5r (fehlt in der deutschen Übersetzung).  Martin Boghardt: Vorwort, in: Hieronymus Hornschuch: Orthotypographia lateinisch/ deutsch. Leipzig 1608/1634, Nachdruck, hg. von Martin Boghardt, Frans A. Janssen und Walter Wilkes, Darmstadt 1983, S. 5–50, hier S. 5.  Für die Plantinʼsche Offizin in Antwerpen wurde die Orthotypographia übrigens „noch im gleichen Jahr zu einer Instruktion für die Hauskorrektoren umgeformt“; Boghardt, Vorwort, S. 36. Dabei wurde Hornschuchs Text radikal gekürzt: „Alle wertenden Bezüge auf Verleger, Druckerherren, Setzer und Autoren, ohne die Hornschuchs Büchlein gar nicht denkbar wäre, sind nun getilgt, und aus der bitteren Anklage, dem leidenschaftlichen Appell des mittellosen Leipziger Studenten ist eine routiniert-sachliche Arbeitsanweisung geworden, nüchtern-solide und trockengeschäftlich“ (ebd., S. 38).

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Abb. 6: Holzschnitt von Moses Thym in: Hieronymus Hornschuch: Ὀρθοτυπογραφία. Das ist: Ein Kurtzer Unterricht/ für diejenigen/ die gedruckte Werck corrigiren wollen […]. Leipzig 1634 [VD17 23:279061V], Exemplar der SLUB Dresden (Technol.B.658).²⁹ Weil mir dann/ als der ich nun etliche Jahr hierin mich gebrauchen lassen/ wol bekandt/ was des jenigen Ampt sey/ der in Druckereyen eines guten Correctoris Stelle will verwalten/ und was hingegen den jenigen mangele/ die ihre Scripta und verfertigte Werck wollen drucken lassen/ So hab ich gedacht ein angenehm Werck zu stifften/ wenn ich beyden ihr Ampt und Gebühr/ und das jenige/ so ich erfahren/ daß ihnen von nöthen/ und daran beydes den Correctoren, und den andern so entweder in Druckereyen arbeiten/ oder sonsten darinnen zu thun haben/ gelegen/ kürztlich in diesen wenigen Blättern anzeigete/ und zu wissen machte.³⁰

 Lizenz: Public Domain Mark 1.0, urn:nbn:de:bsz:14-db-id2736798482.  Hornschuch: Orthotypographia, S. 8.

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Zu Beginn seiner Ausführungen kommt Hornschuch allerdings noch kurz auf die Geschichte des Büchermachens bzw. die Geschichte buchbezogener Erfindungen zu sprechen, die er wie so oft bei beschriebenen Rinden und altägyptischen Papyri beginnen und bei Gutenberg enden lässt. Auf dieses knappe historiografische Referat folgen eine Klage über den gegenwärtig miserablen Zustand der Buchproduktion sowie eine spitzzüngige Abrechnung mit gewinnsüchtigen Druckern, nachlässigen Korrektoren und unfähigen Setzern: Jedoch soltu heutiges Tages wol wenig finden/ die diese von Gott verliehene Wolthat recht erkennen/ sonderlich unter den jenigen/ welche damit täglich umbzugehen pflegen/ nemlich die Buchdrucker selbsten/ deren etlichen besser anstünde/ wenn sie Schuster und Schneider worden weren/ als daß sie einer solchen edlich Kunst sollten vorgesetzt sein: Die nur Gewinsts halben alles thun/ und das jenige/ so ihnen zu drucken gegeben wird/ offt ärger ausgehen lassen/ mit so stumpffen und abgenützten Schrifften/ daß derselben geringe rudimenta, und Abbildung auff dem halb faulen/ und der schwartzen Erde gleich gestalten Papir/ auch der allerschaffsichtigste kaum erkennen möchte. Und dieses könnte noch bißweilen verschluckt/ oder doch zurück geworffen und vergessen werden/ wenn sie nur nicht uber diß mit so vielfältigen schändlichen mendis, und Erraten die Materien und Werck befleckten/ daß man auch nur nicht ein einiges Blat von solchen kann frey und ledig finden. […] Aber wie kann es anders seyn/ weil sie aus Geitz und Filtzigkeit dahin gerathen/ daß ihnen auch die Unkosten/ so auff die Correctores zu wenden/ gerewen/ und zu viel düncken. So bekümmern sie sich auch umb nichts/ sehen selten/ oder gar nicht nach der Arbeit/ forschen und fragen nicht nach der Arbeiter Fleiß […].³¹

Nach diesem Rundumschlag gegen das geizig-filzige Druckgewerbe zählt der Verfasser nun die Fähigkeiten, Aufgaben und Pflichten des gewissenhaften (angehenden) Korrektors auf. Dieser müsse, so betont er, „beyder Sprachen/ der Lateinischen nemlichen/ und der Griechischen Wissenschaft haben“, dazu „mit einem scharffen Gesicht begabt seyn“ und „sich mit allem Fleiß für der Trunckenheit hüten“,³² was möglicherweise der Anlass war, um in der Bildmitte des Holzschnitts – dort, wo bei Stradanus der Papiernachschub kommt – eine Frau mit Bierkrug durch die Tür kommen zu lassen. Hierauf folgt der ‚Tafelteil‘ der Orthotypographia (Abb. 7), eine Druckbogen- und Korrekturzeichenbeispielreihe, ehe Hornschuch auf einige typo- und orthografische Fallstricke aufmerksam macht. Eine Leerzeile markiert den finalen Abschnitt, der sich an angehende Autoren richtet. Diejenigen, die beabsichtigen „etwas von ihren Schrifften in öffentlichen Druck zu geben“, will Hornschuch „fleissig erinnert und gebeten haben“, in der Druckerei erstens ein vorab gründlich geprüftes und zweitens ein leserliches, gleich  Ebd., S. 5 f.  Ebd., S. 8 f.

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ob von eigener oder von fremder Hand geschriebenes, Manuskript auf gutem, nicht durchschlagendem Papier einzureichen.³³ Abkürzungen seien zwingend aufzulösen, Tintenkleckse zu vermeiden – und seinen Namen habe man gefälligst deutlich zu schreiben. Mit der topischen Schlusswendung an den günstigen Leser, das geringe Werk doch wohlwollend aufzunehmen, endet der Text.

Abb. 7: Beispielseite aus dem Tafelteil mit Schriftproben in: Hieronymus Hornschuch: Ὀρθοτυπογραφία. Das ist: Ein Kurtzer Unterricht/ für diejenigen/ die gedruckte Werck corrigiren wollen […]. Leipzig 1634 [VD17 23:279061V], Exemplar der SLUB Dresden (Technol.B.658). ³⁴

 Hornschuch: Orthotypographia, S. 29, 33.  Lizenz: Public Domain Mark 1.0, urn:nbn:de:bsz:14-db-id2736798482.

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Es schließen sich in beiden Fassungen eine Reihe von Schriftproben an, die in der jeweiligen Offizin zum Druck eigener Texte benutzt werden können.³⁵ In der lateinischen Fassung ist es die Offizin Michael Lantzenbergers und in der deutschen Fassung ist es die Offizin seines Neffen, Gregor Ritzsch, der den Betrieb seines Onkels erfolgreich weiterführte. Ritzsch ist der vielleicht umtriebigste Leipziger Drucker im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. Beinahe achthundert verschiedene Titel hatte er seit dem Jahr 1610 produziert, ehe der Krieg im Herbst des Jahres 1632 weitere Druckvorhaben vorerst verhinderte. Im November 1632 wird die nähere Umgebung Leipzigs nämlich zum zweiten Mal Schauplatz einer der größten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges. In der Schlacht bei Lützen lässt nicht nur der Schwedenkönig Gustav Adolf sein Leben, auch „zerstörte eine Granate die außerhalb der Stadtmauern, unmittelbar vor dem Grimmaischen Tor gelegene Ritzschsche Druckerei“.³⁶ Doch bereits wenige Monate später, im März des Jahres 1633, wird die Druckerei von Gregor Ritzsch feierlich wiedereröffnet und im Zuge der Wiedereröffnung erscheint eine maßgeblich von ihm initiierte Festschrift, eine Festschrift auf das Druckerhandwerk im Allgemeinen und auf ihn selbst sowie seine Offizin im Besonderen. In diesem bislang nicht eingehend untersuchten Sammeldruckwerk über das Büchermachen findet sich, wie bereits erwähnt, die deutsche Übersetzung von Hornschuchs Orthotypographia. Angefertigt wurde sie vermutlich von Ritzschs Schwiegersohn Tobias Heidenreich. Anderes, ein Reimgebet und ein Kirchenlied etwa, stammt aus der Hand des Druckers höchstpersönlich. Die Festschrift ist also durchaus eine Familienangelegenheit. Darüber hinaus enthält der Druck teilweise bereits an anderer Stelle Publiziertes, etwa ein Kapitel aus Tommaso Garzonis Piazza Universale „Zur Commendation der Buchdruckerey gehörig“ und eine leicht bearbeitete Leichenpredigt des Theologen Daniel Cramer, die – dem Anlass ihres Wiederabdrucks entsprechend – vor allem ein Text

 In der deutschsprachigen Version wird auf Seite 50 zudem darauf hingewiesen, dass „in obgedachter Druckerey auch nothdürfftig allerley verhanden/ an Leistigen/ Rößlein/ Zügen un[d] Figuren. Die PostillFiguren in Folio/ EvangelionStück auf Zeug und in Holtz in Octavo größ/ Wie auch in duodecimo und 18. Evangelion/ Catechismus- und PassionStöck. Item/ in Alberto Magno/ Auch in KräuterBüchern zu gebrauchen allerhand Blumen. So wol auch leiten umb die Titul/ etc.“ Dieser ‚Anzeigentext‘ belegt sehr anschaulich eine spezifisch frühneuzeitliche Druckpraxis, die auf der freien Rekombinatorik von bereits in der jeweiligen Offizin vorhandenem sowie modular und je nach Kontext verwendbarem Text- und Bildmaterial basiert.  Gerhard Dünnhaupt: Gregor Ritzsch (1584–1643), in: ders.: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Bd. 5, Stuttgart 1991, S. 3433‒3459, hier S. 3433.

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„Zu Lob Der edlen Drucker-Kunst“ ist.³⁷ Ebenfalls erneut abgedruckt werden lateinisch- und deutschsprachige Lobgedichte auf und an Gregor Ritzsch, die vom Leipziger Rhetorikprofessor Christoph Bulaeus und von Paul Fleming stammen. Ihre Druckerlob-Lyrik, datiert auf den März 1633, wurde zur Wiedereröffnung der Offizin verfasst und veröffentlicht, nun erscheinen die Verse erneut, diesmal im größeren Zusammenhang des Sammeldrucks.³⁸ Einige Texte der Ritzschʼschen Festschrift werden, wie gesagt, dezidiert für dieses Druckwerk verfasst, darunter eine anonyme Reimpaarrede, die betitelt ist mit Der Edle Greiff/ Poetisch/ und in kurtzen Reimen verfasset und fürgestellet. Zu sonderlichen Ehren Der Lobwürdigen Hochberühmten Kunst Buchdruckerey. ³⁹ Zu Beginn der rund siebenhundert Verse referiert die Erzählstimme, ein Greif, zunächst allgemeine naturkundliche, biblische und historische Wissensbestände über Greifen. Anschließend erörtert das Fabeltier, warum die Buchdrucker es zu ihrem Wappentier genommen hätten. Denn wie es in seinem Nest zahlreiche Schätze sammele und bewache, „[a]lso wird durch die Druckerey/ All Künst zusam[m] getragen frey / Und wol verhütet Tag und Nacht/ In den Büchern mit aller Macht“; und gleich wie es in schnellem Flug durch die Welt ziehe, „[s]o

 Hornschuch: Orthotypographia, S. 93 (Garzoni) und 51 (Cramer). Übernommen ist Cramers Text aus: Des heiligen Jobs Bleyerne Schreib Täfflein/ […] Zum Lob der Edlen Drücker Kunst. Stettin 1611 [VD17 7:704885Y]. Cramer übersetzt insgesamt sieben Passagen aus Schriften der „glaubwürdigsten alten Scribenten, so von dem Ursprung der Druckerkunst schreiben“ (S. 73), um etwaige Zweifel daran zu zerstreuen, „daß die Teutschen/ und zwar in Oberland/ solche hochberühmbte und hochnütze Kunst erfunden haben“ (S. 93). Er wendet sich mit seinen Übersetzungen damit gezielt gegen die – in den Niederlanden übrigens jahrhundertelang weitverbreitete – Ansicht, nicht Gutenberg, sondern ein Haarlemer namens Laurens Janszoon Coster sei der wahre Erfinder des Drucks mit beweglichen Lettern gewesen.  An Herrn Gregor Ritzschen/ Als derselbe seine Druckerey mit viel Unkosten auffs newe angerichtet […]. Leipzig 1633 [VD17 125:006515E]. Bemerkenswert ist ein Sonett von Bulaeus An den Gunst- und Kunstreichen Herrn Gregor Ritzschen (im Sammeldruck auf S. 134 f.), das die Wörter ‚Gunst‘ und ‚Kunst‘ in jeder Zeile zweimal gebraucht, zum Beispiel so: „Ohn Kunst ist Gunst umbsonst/ ohn Gunst muß Kunst erliegen“ (ebd., S. 135). Bemerkenswert sind die Verse deshalb, weil es für einen Korrektor, der, wie Hornschuch es beschreibt, in Kooperation mit einem Lektor arbeiten soll, hier geradezu verunmöglicht wird, Fehler im Satz auditiv wahrzunehmen, wenn ein lokaler (Obersächsisch sprechender) Lektor ihm das Gedicht vorliest. Denn ‚Gunst‘ und ‚Kunst‘ klingen im Leipziger Dialektraum gleich. Das Sonett spielt also nicht nur mit der Heterografie der beiden Substantive, die ohnehin leicht Setzfehler provozieren könnten, sondern auch mit ihrer lokalen Homophonie. Man könnte sagen, dass das Sonett Hornschuchs Korrekturempfehlungen unterläuft.  Hornschuch: Orthotypographia, S. 107–133, hier S. 107. Der Text kehrt 1682 in stark bearbeiteter Form bei Michael Meder, einem Stralsunder Buchdrucker, unter dem Titel Labyrinthus Gryphologicus [VD17 1:644416Z] wieder.

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geschwind fleugt auch die Druckerey“.⁴⁰ Analog zu Hornschuch beginnt der Greif seinen folgenden Abriss verschiedener schreib- und buchbezogener Erfindungen bei den alten Ägyptern und endet zunächst bei Gutenberg. Seine Erzählung, wie Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern erfunden hatte, bedient sich des schon erwähnten Siegelring-Motivs.⁴¹ Neben den Siegelring tritt mit der Weinpresse das zweite zeitgenössische Symbol der frühneuzeitlichen Erzählung von der Erfindung des Buchdrucks. Im Unterschied zum Ring hat die Weinpresse bis heute nicht an Popularität eingebüßt. Detailreich schildern nun die nächsten Verse, wie der Druck mit beweglichen Lettern technisch funktioniert, angefangen beim Gießen der Lettern über das Setzen einer Seite unter Zuhilfenahme verschiedener Werkzeuge und Geräte sowie das Zubereiten der Tinte und das Färben der Druckform bis zum Pressen selbst und dem anschließenden Abwaschen und Aufräumen der Lettern. Man erfährt hier einiges, was man bei Stradanus nicht sehen kann. Zwar wird im mittleren 17. Jahrhundert im Großen und Ganzen noch auf gleiche Art und Weise gedruckt, wie es Gutenberg getan hatte, dennoch gibt es einen gewissen technischen Fortschritt in der Produktion, zumindest aus Sicht des Wappentiers: Gar schlecht ging es anfänglich zu// Und ward gebessert mit Unruh:// Wie das die ersten Drück beweisn// Wo man dieselben thut auffweisn// Und helts gegen den Büchern schön// Die an all Orten jetzt außgehn.// Wie schöne Schrifft und Ordnung gut// Man jetzt darinnen finden thut.// Wil schweigen/ daß/ als in der Kunst// Mit Setzen/ Schneidn/ und Drucken sonst// Auffs allerhöchst gestiegen ist// Nach und nach/ biß zu dieser Frist.⁴²

 Ebd., S. 113.  „Dieser/ als nach Christi Geburt// Gleich viertzig noch gezehlet wird// Zu tausendt und vierhundert Jahrn// Hat dergestalt die Kunst erfahrn// Sah an sein Wapenring zur Zeit// Den er trug nicht zur Zierligkeit// Sondern weils ihm von recht gebührt// Dardurch sein Stamme würd gespürt// Als er nun druckte solchen Ring// Auffs Wachs/ un[d] das die Schrifft empfing // So umb das Wapen war gegrabn// Im Ring/ der er thet bey sich habn// Thet solches er gar tieff betrachten// Und auff subtilen Process achtn.// Bey sich selbsten er also redt// In seinem Sinn/ an seiner stett:// Wie deutlich gibt die Wort der Ring// Und zeigt ausdrücklich alle Ding.// wann ich ihn auff das Wachs hindruck// So gibt er mein gantz Wapen flugk.// Wie/ wann diß könt zu Nutz gelingn// New Weiß zu schreiben auffzubringn// Die nicht so viel Kost und Arbeit// erfordert/ und so lange Zeit// Biß nur ein Buch vollendet wird:// Sondern gar bald würd ausgeführt// Und könten viel Bücher ohn Müh// Schnell druckt werden/ so spat und früh// Wie/ wann ich mir liesse ausgraben// Hindersich/ wie im Ring/ Buchstaben// Deßgleichen auch ein klein Druckwerck// Wie ein Kälter mit aller Stärck.// Vielleicht wird mirs so wol gelückn// daß ich könt auffs Papir dardrückn// Ein gantzes Buch/ und also frey// Auffrichten eine Druckerey?“ (ebd., S. 116 f.).  Ebd., S. 122.

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Auch dass der Druck mit beweglichen Lettern anfangs als Geheimunternehmen konzipiert war, kommt in den Versen des Greifs zur Sprache. Das Ansehen der Drucker und die gesellschaftliche Achtung gegenüber dem Druckhandwerk werden sogar geradezu an das Nichtwissen über sein Funktionieren gekoppelt: „Dann als die ersten Drück rauß kamn// Groß Wunder alle Leut diß nahmn.// Zuvor war solchs gesehen nie// Was sie den Leuten zeigten hie// Niemand wust wie diß Ding zugieng// Drumb wurds geachtet nicht gering“.⁴³

4 Druck-Szene(n) von Druckszene(n) In eine frühe Druckerwerkstatt hätten wir gern geblickt, um zu verstehen, was dort passiert und wie es dort zum gedruckten Buch kommt. Allerdings vergeht gut ein halbes Jahrhundert zwischen den ersten praktischen Buchdruckexperimenten um 1450 und den ersten bildlichen Darstellungen dieser Praxis. Erschwerend tritt hinzu, dass der Druckereibetrieb und seine praktischen Abläufe in den frühen Darstellungen nur beiläufig ins Bild geraten. Auch im 16. Jahrhundert gibt es immer wieder einzelne Szenen, etwa zur Papierherstellung, zu den Buchdrückern oder auch zu Buchbindern, und ausgehend von unserem Wissen über den späteren Buchdruck und mit Hilfe von technikgeschichtlichen Rekonstruktionen viel späterer Jahrzehnte lassen sich die Ausschnitte und Einzelszenen durchaus in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Bis zum ersten expliziten Blick auf den Werkstattbetrieb dauert es nach der Etablierung des Letterndrucks aber rund 150 Jahre. Erst in den späten 1580er Jahren zeigt ein Kupferstich der Nova Reperta zahlreiche Menschen, Maschinen, Dinge und Praktiken, die notwendig sind, um aus einem handschriftlichen Ausgangsprodukt ein druckschriftliches Erzeugnis zu machen. Dieser Blick in die Werkstatt ist allerdings ein stilisierter. Er lässt ‒ indem er mit den Mitteln der Grafik Einblick in die praxeologischen Abläufe des Druckens gibt ‒ eine ‚Druckszene‘ entstehen, die aufgrund der grafischen Fixierung ihrerseits zum Gegenstand einer reflexiven (Selbst‐)Thematisierung werden kann und somit in

 Ebd., S. 126. Ein paar Jahre später bietet sich Gregor Ritzsch wieder die Gelegenheit für eine kleine Festivität. Es ist das Jahr 1640 und man feiert in seiner Offizin den zweihundertjährigen Jahrestag der Erfindung des Buchdrucks und damit ein Fest, dem man später den Namen ‚Gutenbergfest‘ geben wird. Auch zu diesem Anlass produziert die Werkstatt von Ritzsch eine Festschrift. Sie trägt den Titel Iubilaeum Typographorum Lipsiensium: Oder Zweyhundert-Jähriges Buchdrucker JubelFest [VD17 39:157527Z] und stellt, das sei abschließend angemerkt, als inhaltliche Fortführung des 1634er-Sammeldrucks über das Büchermachen eine weitere Leipziger Druck-Szene in Buchform dar.

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eine ‚Druck-Szene‘ kippt. Wir haben es also mit einer grafisch objektivierten ‚Druck-Szene‘ einer ‚Druckszene‘ zu tun. Diese kann wiederum – sowohl für historische Arbeiten im 21. Jahrhundert wie für die Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts ‒ die Perspektiven verändern auf das „Wunder“ Druck,⁴⁴ d. h. auf die praxeologischen Abläufe und betrieblichen Produktionsketten der gedruckten Textproduktion, ebenso wie auf die reflexive Beschäftigung mit dem Phänomen Druck.

 Hornschuch: Orthotypographia, S. 126.

Stephan Kammer

Die Schreibszene sozialisieren! Kollaboratives Schreiben, Schreiben [Schreiben] kann man nicht alleine Und ich sag’ dir auch den Grund: (nach Max Raabe)

1 Die Dringlichkeit, die der Titelappell dieses Beitrags formuliert, scheint auf den ersten Blick verspätet und somit überflüssig: Hat nicht in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Beiträgen auf das im weitesten Sinne ‚Soziale‘ literarischer Produktion (wieder) nachdrücklich aufmerksam gemacht? Die genauer besehen durchaus unterschiedlich argumentierenden Herangehensweisen an diese Sozialität rücken Kooperativität, Kollaborativität, Kollektivität literarischen Schreibens in den Fokus und weisen darauf hin, dass auch dessen individuelle Ausgestaltungen weit über die Selbstverständlichkeiten kommunikativer Netzwerke hinaus, d. h. systematisch seit der Epoche des Typographeums konstitutiv in ausgewiesen arbeitsteilig organisierte, technisch differenzierte Produktionsprozesse eingelassen sind.¹ Dass die Schreibstuben mittelalterlicher Klöster, aber

 Hierzu Michael Gamper: Kollektive Autorschaft/kollektive Intelligenz, 1800–2000, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 380–403; Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit, Tübingen 2001; Michel Lafon und Benoît Peeters: Nous est un autre. Enquête sur les duos d’écrivains, Paris 2006; Seth Widden (Hg.): Models of Collaboration in Nineteenth Century French Literature. Several Authors, One Pen, Farnham 2009; Claas Morgenroth: Kollaboratives Arbeiten und kollektives Schreiben, in: Undercurrents. Forum für linke Literaturwissenschaft 7 (2016), S. 1‒6, http://undercurrentsforum.com/index.php/undercurrents/ article/ view/50/43 (letzter Zugriff 30.01. 2022); Nacim Ghanbari u. a. (Hg.): Kollaboration. Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit, Paderborn 2018; Daniel Ehrmann: Dichter Bund – loses Netz. Multiple Bündnisse als Unruhestifter im Literatursystem, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92 (2018), S. 463‒492; ders.: Kollektivität. Geteilte Autorschaften und kollaborative Praxisformen 1770‒1840, Salzburg 2019; Lore Knapp (Hg.): Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Shapiro, Bielefeld 2019; Carlos Spoerhase und Erika Thomalla: Werke in Netzwerken. Kollektive Autorschaft und literarische Kooperation im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 139 (2020), S. 145‒163 (sowie die weiteren Beiträge dieses Themenhefts ‚Werke in Relationen. Netzwerktheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft‘); Ines https://doi.org/10.1515/9783110792447-005

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auch die Arbeitszimmer frühneuzeitlicher Gelehrter nur als hochgradig sozial organisierte Orte angemessen verstanden werden können, dürfte seit Langem niemand mehr in Frage stellen. Die neueren Ansätze, die kooperative und kollaborative Schreib- oder wenigstens Produktionsprozesse von Literatur fokussieren, können sich dabei darauf berufen, dass selbst Goethe, die ikonische Individualgestalt der neueren deutschsprachigen Literatur, sein Werk ja wohl explizit als „être collectif“ ausgewiesen zu haben scheint.² Lässt sich dies nicht auch für den lange Zeit in jeder erdenklichen Hinsicht (das heißt konkret beispielsweise: juristisch, ökonomisch, datenverarbeitungstechnisch, epistemisch, poetologisch) strikt auf ästhetische Subjektivität zugeschnittenen Systembereich neuzeitlicher Literatur generalisieren? Es wäre dies nach den methodologischen Vorgaben einer im weitesten Sinne marxistischen Literaturästhetik und den sozialgeschichtlichen Ansätzen der 1960er und 1970er Jahre der dritte Anlauf, das System Literatur zu sozialisieren. Wenigstens was diese Vorläufer betrifft, könnten deren Misserfolge dabei nicht eben optimistisch über die Aussicht dieses neueren Unterfangens stimmen: Wie in vielen anderen Bereichen des Ästhetischen wird die „Legende vom Künstler“, wie es Ernst Kris und Otto Kurz genannt haben,³ auch in der Literatur hartnäckig weitererzählt – eine Legende, die maßgeblich von den Künstlerviten der italienischen Renaissance geprägt und von der Genieästhetik der Neuzeit universalisiert und gleichsam naturalisiert worden ist. Daran haben Widerspiegelungstheoreme und die Sozialgeschichte der Literatur so wenig geändert wie die methodisch ganz anders gelagerten Versuche, die sehr spezielle, aber weithin verbindliche Reduktion des Systems Literatur auf die Autor-Werk-Dyade ins Strukturgefüge eines texte général zu überführen. Die Vorstellung vom Autor als kreativer Allein- oder doch zumindest Letztinstanz des Werks scheint sich widerständig zu erweisen gegenüber allen methodischen Infragestellungen der letzten Jahrzehnte.

Barner: Von anderer Hand. Praktiken des Schreibens zwischen Autor und Lektor, Göttingen 2021; Daniel Ehrmann und Thomas Traupmann (Hg.): Kollektives Schreiben, Paderborn 2021.  Die von Frédéric Soret rapportierte, auf das Werk („œuvre“) bezogene Äußerung Goethes datiert auf den 17.02.1832, also weniger als einen Monat vor Goethes Tod, der das von diesem längst instituierte Archiv definitiv an die Stelle der Person treten lässt; Wolfgang Herwig (Hg.): Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Aufgrund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann, München 1998, Nr. 6954, Bd. 3/2, S. 839.  Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch [1934], Frankfurt a. M. 1995.

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Vermutlich ist es zurzeit allerdings noch zu früh, um über die Erfolgsaussichten des besagten dritten Anlaufs zur epistemischen Sozialisierung literarischer Produktion anderes als halbwegs begründete Spekulationen zu formulieren.Wenn ein erster Überblick über die vorliegenden Ansätze mich in dieser Hinsicht nicht eben besonders optimistisch stimmt, läge die vorläufige Begründung dieser Annahme wohl im Befund, dass die fundamentale ästhetische Instanz der Autorschaft vielenorts nach wie vor zu dominieren scheint. „Autoren machen, so die Leithypothese dieses Schwerpunkts, alleine auch keine Texte“,⁴ haben beispielsweise Thomalla und Spoerhase hervorgehoben, die sich bemühen, eine Perspektivenverschiebung oder doch wenigstens ‐erweiterung für ‚Autorschaft‘ anzuregen. Dies ist einigermaßen repräsentativ für den recht ambivalenten Effekt, diejenige Kategorie, die man doch eigentlich relationieren will, an einer überdies systemlogisch höchst fraglichen Stelle⁵ wieder zu implementieren. Selbst wo sich Kritik und Historisierung dieses Konzepts nicht auf eine „soziologische Derivatsperspektive“ beschränken, wie das Andreas Reckwitz genannt hat,⁶ scheint damit der literaturästhetische Heroismus der Autorschaft, wie ich es ein wenig polemisch nennen will, mehr oder minder unangefochten – oder schlimmstenfalls einfach besser maskiert – überlebt zu haben. Man hätte das angesichts der Diskussionen über den Autor-Begriff seit Längerem ahnen können.⁷ Aber es scheint mir selbst

 Spoerhase/Thomalla: Werke in Netzwerken, S. 146 [Hervorh. S.K.].  Dass die Funktionsstelle ‚Autorschaft‘ im neuzeitlichen System Literatur nicht unbedingt vorrangig eine ‚praxeologische‘ ist, liegt nach ihrer diskurshistorischen Anatomie auf der Hand; vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? [1969], in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2001, S. 1003‒1041; Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u. a. 1981.  Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 56.  Ein Leitsatz des offen revisionistischen Unternehmens, den Autor als theoretische Bezugsgröße zu rehabilitieren, zeugte bereits vom recht eigentümlichen epistemologischen Verständnis, das vielen dieser Diskussionen zugrunde lag: „Der Verdacht drängt sich auf, daß die theoretische Reflexion über den Autor zentralen Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Texten nicht gerecht wird“ (Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von dens., Tübingen 1999, S. 3‒35, hier S. 5) ‒ was in der Praxis getrieben wird, und sei’s aus Reflexionsmangel oder liebgewonnener Gewohnheit, soll als Beurteilungsgrundlage für theoretische Einsicht gelten müssen? Das wäre wohl, wie bei Kant nachzulesen ist, selbst dann eine höchst zweifelhafte Prämisse, wenn erstens die fraglichen Einsichten zur Funktionsinstanz Autorschaft tatsächlich primär literaturtheoretische und nicht vor allem historische gewesen wären und zweitens die Annahme einer kategorialen und hierarchischen Unterscheidung zwischen

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wieder bzw. immer noch auch in den für den Diskussionszusammenhang dieses Bandes an sich einschlägigeren Provinzen der Literaturwissenschaften eher der Normalfall zu sein, einen solchen ästhetischen Heroismus stillschweigend vorauszusetzen, in Kauf zu nehmen oder gar zu postulieren. Klaus Hurlebuschs einschlägiger Aufsatztitel Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise mag da nach wie vor so symptomatisch sein wie sein Untertitel programmatisch gewesen ist: Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. ⁸ ‚Den Autor besser verstehen: als soziales Wesen‘ also, oder um es ein wenig abstrakter zu formulieren: Man schickt sich zwar an, auf das Tun menschlicher Akteure zu schauen, die erstens in speziellen und oft voraussetzungsreichen Einrichtungen mit einer Vielzahl von menschlichen und nicht-menschlichen, also apparativen, medialen, diätetischen, infrastrukturellen Akteuren interagieren, die zweitens aus diesen Interaktionen erst ihr Profil und ihren Status gewinnen und deren Interaktionen drittens selbst wiederum mit weiteren, strukturell ähnlich beschaffenen, aber in der konkreten Ausgestaltung durchaus verschiedenen Einrichtungen interagieren können – am Ende aber ist es dann doch noch bzw. wieder der, wie man nun zu sagen pflegt, ‚praxeologisch‘ aufgerüstete anstatt tatsächlich sozialisierte Autor, den man zu erkennen und besser zu verstehen glaubt. Und so kann, ja muss vielleicht auch in der jüngsten der oben genannten Publikationen der Sozialisierungsappell nach wie vor prominent platziert bleiben: Wenn Texte […] nicht mehr den Durchschlag autorschaftlicher Individualität aufs Papier darstellen, wenn sie vielmehr als Resultate sowohl von Vertextungsprozessen als auch von Vertextungshandlungen zu erachten sind, und wenn man sie als Hervorbringungen je unterschiedlich ausgeprägter Netzkulturen begreifen muss, dann werden sie dem dominanten Paradigma der Einsamkeit entrissen und in den Schnittpunkt diverser Kollektive versetzt.⁹

Nun heißt ‚die Schreibszene sozialisieren!‘ aber meiner Überzeugung nach durchaus noch einmal etwas anderes als ‚den Autor sozialisieren‘. Damit bleibt die Dringlichkeit dieses Appells ohnehin. Denn diese Forderung kann sich keineswegs darauf beschränken, den Lektoren, Korrektoren, Setzern, Verlegern,

‚Literaturtheorie‘ und ‚literaturwissenschaftlicher Praxis‘ tatsächlich Geltung beanspruchen dürfte; vgl. Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders.: Gesammelte Schriften, Akademieausgabe. Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1923, bes. S. 276.  Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens, in: Textgenetische Edition, hg. von Hans Zeller und Gunter Martens, Tübingen 1998, S. 7‒51.  Ehrmann/Traupmann: Kollektive schreiben, kollektives Schreiben. Zur Einführung, in: Kollektives Schreiben, S. 1‒19, hier S. 3.

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Korrespondenzpartnern und allen weiteren systemischen, öffentlichen, semiöffentlichen und privaten Bundesgenossen des schreibenden Individualgenies endlich die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen – all den Satelliten und Trabanten also gewissermaßen, die um das literaturästhetische Zentralgestirn des Autors kreisen und in dessen Abglanz nun allererst sichtbar werden. Mein Sozialisierungsappell setzt an einer anderen Stelle an: bei der meistens übersehenen oder vergessenen Einsicht nämlich, dass Schreiben grundsätzlich und immer sozial gewesen sein wird.

2 Vielleicht steht der Absicht, die Schreibszene zu sozialisieren, ohnehin weniger der konzeptuelle Heroismus des Autors im Wege als vielmehr die damit zweifellos verbundene, aber nicht deckungsgleiche Suggestion, dass Schreiben eine privilegiert einsame Tätigkeit sei. Als „Entfernung von der Gesellschaft der Menschen“ hat Johann Georg Zimmermann Einsamkeit ambiguitätsträchtig definiert,¹⁰ und in der ausufernden Diversifizierung dieser Grundfigur hat auch das Schreiben seinen Platz gefunden. Er „schreibe aus keiner Ursache ein Buch, als eben wegen der leidigen Begierde, auch einmal ein Wort alleine zu reden“, fasst Zimmermann seine Position zusammen: „Schreiben muß man in der Einsamkeit.“¹¹ Schnell wird dabei klar, dass in diesem Entsozialisierungsentwurf ‚Schreiben‘ nicht einfach ‚Schreiben‘ bedeutet; damit beginnen sich umgehend auch die darüber vermittelten Konvergenzen von Autorschaft und Einsamkeit klarer abzuzeichnen. „Schreiben kann jeder in seiner Kammer. Aber wer philosophieren oder dichten will, der muß seine volle Freyheit haben […]. Man muß ihn alleine lassen.“¹² Der Entwurf eines emphatischen Schreibens, das als dichterisches Schreiben allein gelten darf und solcherart zur diskursbestimmenden Norm werden soll, bedarf der sozialen und stiftet im Gegenzug die genieästhetische Form von Einsamkeit, die poetologisch am Ausgang des 18. Jahrhunderts Geltung beansprucht. „Sich selbst alles seyn, ohne alle äussere und fremde Hülfe von Menschen […]: dieß ist der größte Vortheil den Schrifstellerey hat und giebt“,¹³ lautet Zimmermanns Reformulierung der autonomieästhetischen Ermächtigungsgeste. Sie übersetzt die poetologische Abkehr von einem topischen Dichtungsverständnis und der imitatio

   

Johann Georg Zimmermann: Von der Einsamkeit, Leipzig 1773, S. 7. Johann Georg Zimmermann: Ueber die Einsamkeit, 3. Theil, Karlsruhe 1785, S. 337, 305. Ebd., S. 306. Ebd., S. 331.

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veterum, wie sie exemplarisch in Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759) formuliert worden ist, in ein soziales Distanzverhältnis. Wenn Zimmermann in die Waagschalen von Einsamkeit und Geselligkeit einerseits „Freyheit, Festigkeit, Ausdruck, Selbständigkeit, Würde, Adel“ wirft, andererseits bloß „Geschmeidigkeit“ bilanzieren kann,¹⁴ dann wird diese Transferleistung greifbar; und man braucht wohl kaum lange darüber nachzudenken, welche der beiden Allianzen den Produktions- und Produktkriterien des neuzeitlichen Dichtungsverständnisses besser entspricht. Es mag sein, dass der phänomenal so plastische Begriff der ‚Schreibszene‘ beziehungsweise vor allem dessen Karriere das Seine dazu beigesteuert hat, diese Geste schreibender Einsamkeit gleichsam hinterrücks und ganz gegen die eigenen analytischen Absichten in der Modellanordnung ihres Verständnisses vom Schreiben überdauern zu lassen. Wenn man mit Rüdiger Campes vielzitierter Definition Schreiben als Praktik versteht, die sich aus einem „Repertoire von Gesten und Vorkehrungen“ sowie deren variablen Relationierung zusammensetzt, dann ist diese Praktik bedingt und gerahmt zugleich als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“.¹⁵ Das rückt einen konzeptuellen Raum in den Fokus, der gewissermaßen zwischen Lampe und Schreibtisch liegt, bei dem allerdings bereits diese Grenzmarken der ‚Szene‘ selber in der Regel eher im Dunkel bleiben.¹⁶ Dass das Licht, das das Konzept der ‚Schreibszene‘ auf das glückende oder gestörte Zusammenspiel von Hand, Stift und Blatt wirft, eines ist, das anstatt des Vorgangs selber dessen Spuren oder gar Beobachtungen erhellt, hat man dabei stets bedacht. Auch dass man anhand solcher Szenen tunlichst zwischen Rolle (‚Autor‘) und Schauspieler:in (historische Person) unterscheiden sollte, wird üblicherweise berücksichtigt. Dafür aber, dass beim Blick auf die ‚Szene‘ die ‚Bühne‘ oder gar das ‚Theater‘ im Dunkeln bleibt, gibt es weniger Aufmerksamkeit: Die material über die Aufzeichnungen vermittelte Szene pflegt nicht nur den Monolog gegenüber dem Ensemblespiel zu privilegieren, was die

 Ebd., S. 345.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759‒772, hier S. 760.  Als Ausnahme von der Regel vgl. neben einigen weiteren ihrer Arbeiten Annegret Pelz: Der Schreibtisch. Ausgrabungsort und Depot der Erinnerungen, in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. von Magdalene Heuser, Tübingen 1996, S. 233‒246. Die reichhaltige Forschung zur Beleuchtungsgeschichte der Neuzeit fokussiert hauptsächlich auf den städtischen/öffentlichen bzw. repräsentativen Raum; vgl.Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983.

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eingangs genannten Forschungsansätze teilweise ändern, sondern sie kommt auch und selbst in diesem Erweiterungsfall ohne weitere Requisite und Bühnenbild, ohne Vorhang und Auftrittsgeschehen aus – kurzum: sie verzichtet auf das, was die Szene allererst zur Szene macht. Es fällt außerdem all das außer Betracht, was sich in die epistemische Annahme einer ‚Szene‘ nicht fügt, weil es nicht in das besagte Ensemble eingeht, obwohl es diesem vielleicht Möglichkeit und Gestalt erst gibt. Das ist selbstverständlich kein Einwand gegen die Entscheidung, „die Schreibszene, Schreiben“ als „sprachlich-gestische Beziehung“ zu verstehen und zu beschreiben; umso weniger, als bereits Campes maßgeblicher Aufsatz diese Grenzziehung zur Szene reflektiert vornimmt und dies an einem geradezu maximalistischen Beispiel diskutiert.¹⁷ Aber es scheint mir den Versuch wert, heuristisch zunächst einmal einen weiteren Fokus auf das Schreiben anzusetzen.Was ich im Untertitel in einer recht abstrakten Form als ‚kollaboratives Schreiben, Schreiben‘ umrissen habe, zielt auf Folgendes: Es geht um das Tun, genauer gesagt um eine praktizierte Kulturtechnik, die menschliche und nicht-menschliche Akteure verbindet (hier finden wir zuvörderst die im „nicht-stabilen Ensemble“ versammelten Komponenten der Sprache, Instrumentalität und Gestik); diese Akteure sind aber in einem bestimmten Setting tätig (das wäre die ‚Bühne‘ für diese Szene), das eine Vielzahl von Interaktionen erlaubt und/oder verhindert; die Spielformen der (Inter‐)Aktion – auf der Bühne, in der Szene – verleihen der spezifischen Aktivierung der Kulturtechnik erst das Profil. Auch bei diesem Setting – dessen räumliche Voraussetzung man mit Roland Barthes vielleicht als Proxemie bezeichnen müsste, als „der Kubikmeter Raum, der dem sonst unbewegten Körper in Reichweite liegt“¹⁸ – endet ‚kollaboratives Schreiben‘ keineswegs. Es ist über dessen Grenzen hinaus mit anderen Einrichtungen und Akteuren verkettet, in denen je eigene Interaktionsvoraussetzungen und ‐prozesse ablaufen (das theatrum, in dem sich die ‚Bühne‘ eingelassen sieht oder an das es sich – womit die Konsistenz der Allegorie allerdings fraglich wird – koppelt). Wenn ich für diese Interaktionen den Begriff der ‚Kollaboration‘ wähle, dann nicht um die intentionale Ausrichtung auf ein gemeinschaftlich vereinbartes und durchgeführtes Ar-

 Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 759 (das Zitat), S. 764‒766 (zur Begründung der ‚Szene‘ als heuristisch-epistemischer Fokus) und S. 767 f. (der ‚Maximalfall‘ des Erasmus: „diese Schreibszene ist so umfassend, daß sie sich kaum abhebt“).  Roland Barthes: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman, Vorlesung am Collège de France 1976‒1977, hg. von Éric Marty, Frankfurt a. M. 2007, S. 184 f. (Zitat S. 185).

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beitsprojekt zu betonen,¹⁹ sondern eingedenk der Semantik der (geteilten) Anstrengung, die dem lateinischen ‚labor‘ zugrunde liegt. Gewissermaßen kehrt allerdings auch diese Heuristik die herkömmlichen Ordnungen des Individuellen beziehungsweise Subjektiven und des Sozialen um: Letzteres ist Ausgangspunkt und Voraussetzung, von denen her die einzelnen Ausgestaltungen eines kollaborativen Schreibens überhaupt erst Profil gewinnen können. Kollaboratives Schreiben meint also nicht bzw. ist nicht gleichzusetzen mit ‚kollektive(r) Autorschaft‘, worunter ja oft genug genau das verstanden wird, was die Bezeichnung bereits andeutet: die Addition einzelner Autorschaften und Autorfokussierungen nämlich, die im glücklichsten Fall, das heißt da, wo Quantität tatsächlich in eine neue Qualität umschlägt, ein Ensemblespiel auf der Schreib‚bühne‘ oder dem Schreibtheatrum in den Blick bekommt. Nichts läge mir außerdem ferner, als Autor und Werk „in Netzwerken“ verstricken zu wollen.²⁰ Meine Perspektive auf die ‚Kollaborativität‘ von Schreibvorgängen ist anders angesetzt. Sie übernimmt vom eben umrissenen Interaktionsmodell der literarischen Schreibforschung die Leitvorstellung des ‚nicht-stabilen Ensembles‘ als Ermöglichungsgefüge, in dem solche Interaktionen erst stattfinden können; sie teilt mit ihm damit auch die produktionsbezogene Grundeinsicht einer ‚Mitarbeit des Schreibzeugs am Gedanken‘.²¹ Nur gibt es, wie ich glaube, keinen zwingenden Grund, diese Leitvorstellung auf die besagte Interaktion von Sprache, Instrumentalität und Gestik, also auf das Schreibgerät und seinen zwischen Routine und Singularität gespannten Gebrauch, zu beschränken. Auf das Individuum oder, enger noch, die im konzeptuellen Scheinwerferlicht tätige, schreibende Hand hin (beziehungsweise konkret von deren Spuren her) gedacht, mag eine solche Triangulation plausibel und sinnvoll sein. Aber diese schreibende Hand steht eben nicht für sich auf der Szene, und sie tut es da am wenigsten, wo sie explizit in dieser Isolation ausgestellt

 Diesbezüglich die Definition bei Ghanbari/Otto/Schramm/Thielmann: Einleitung, in: Kollaboration. Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit, S. 1: „Der Begriff bezeichnet in erster Linie Formen gemeinsamen Agierens, die ein möglichst eng aufeinander bezogenes Handeln der Einzelnen ermöglichen. In Abgrenzung von gängigen Formen der Arbeitsteilung, die mit Vorstellungen von Zusammenarbeit verbunden sind, sind kollaborative Beziehungen als hierarchiefreie oder doch zumindest ‐kritische angelegt. Ihre revolutionäre Kraft gewinnt Kollaboration aus der produktiven Beteiligung und der im laufenden Arbeitsprozess erfolgenden Optimierung soziotechnischer Medien.“  Spoerhase/Thomalla: Werke in Netzwerken, S. 146: „Was aber wäre, wenn nicht erst das verlegte Buch, sondern bereits der autorschaftliche Text das Ergebnis von komplexen sozialen Beziehungsgefügen wäre, die sich als kollaboratives Agieren in Netzwerken beschreiben ließen?“  Exemplarisch zur Differenzierung und Erweiterung von Campes Konzept Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 7‒21.

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wird;²² ebenso wenig arbeiten nur Schreibwerkzeuge am Gedanken mit oder ist der formulierte, schreibend ermöglichte Gedanke stets und noch in seinem Scheitern oder seiner Veränderung selbstverständlicher Fluchtpunkt dieses ganzen Vorgangs. Die ‚Schreibszene‘ ist Teil eines reichen, vielfältigen Milieus aus Voraussetzungen, Interieurs, Betriebsabläufen, Infrastrukturen: Dieses potenziell offene, vielgestaltige Gefüge von Akteuren und Interaktionen, die eine je eigene Sozialität entfalten, sei als ‚kollaboratives Schreiben‘ bezeichnet. Die Einbettungen von Ereignis oder Geste bilden zwar keineswegs das stählerne Institutionengehäuse für den flüchtigen, nicht-stabil gefassten und für sich genommen ohnehin unbeobachtbaren Akt des Schreibens, sie bringen aber dennoch ganz unterschiedliche Formen beziehungsweise Potenziale systemischen (Un‐)Gleichgewichts mit sich. Für die literaturgeschichtliche Schreibforschung resultierte daraus eine methodische Wahlverwandtschaft zur „Soziologie der Assoziationen“²³ – wie das übrigens in der wissenschaftsgeschichtlichen Schreibforschung, mit der sie das Interesse an Aufzeichnungspraktiken und ihrem Leistungsvermögen teilt, längst der Fall ist.²⁴

3 Es gibt eine topische Bildtradition, an der sich – man wollte auf den ersten Blick wohl sagen: paradoxerweise – eine solche Sozialität der Schreibszene kenntlich machen lässt. Ich meine eine hauptsächlich durch den Bildtypus des Hieronymus im Gehäuse bekannt gewordene Konstellation, deren Herleitung allerdings wenigstens in Teilen ‚literaturnäher‘ ist, als es der in sie eingelassene spätantike Kirchenvater und Bibelübersetzer ohnehin schon vermuten lässt. Wenn ich meine Relektüre unter Paradoxieverdacht stellen muss, dann deshalb, weil die Her-

 Exemplarisch dafür wären die ‚spiritistischen‘ und ‚automatischen‘ Schreibszenen um 1900; vgl. Stephan Kammer: Ereignis/Beobachtung. Die Schreibszenen des Spiritismus und die Medialität des Schreibens, in: ‚Schreiben heisst: sich selber lesen‘. Schreibszenen unter dem Vorzeichen der Selbstbeobachtung, hg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 39‒66.  Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 276.  Hans-Jörg Rheinberger: Spalt und Fuge. Eine Phänomenologie des Experiments, Berlin 2021, S. 114‒135. Einen ersten systematischen Versuch, die divergenten Interessen an Aufzeichnungspraktiken ins Gespräch zu bringen und zu strukturieren, haben die Publikationen des 2005‒2011 am Max Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin) und am Kunsthistorischen Institut (Florenz) angesiedelten Forschungsprojekts Wissen im Entwurf vorgelegt; vgl. die archivierten Webseiten des Projekts: https://web.archive.org/web/20220121053729/http://knowledge-in-themaking.mpiwg-berlin.mpg.de/ (letzter Zugriff 15.02. 2022).

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ausbildung dieser Tradition eng mit einer der Sozialisierung des Schreibens entschieden zuwiderlaufenden Konzeptualisierung verbunden ist. Der Bildtopos tritt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in seinen entscheidenden Konturen hervor, und schon eine seiner frühen Realisierungen zeigt statt Hieronymus einen anderen Insassen des Schreibgehäuses: Francesco Petrarca. Eine um 1400 entstandene oberitalienische Handschrift, deren erster Teil eine italienische Übersetzung von Petrarcas De viris illustribus bildet, zeigt auf einem nachträglich eingebundenen Einzelblatt ein „mit Architekturelementen gerahmtes Autorenbild zum Textanfang: Petrarca an einem Pult in seinem Arbeitszimmer sitzend“ (Abb. 1).²⁵ Es dürfte sich um die Kopie eines Porträtfreskos aus dem Palazzo Carrara (Padua) handeln, das als das „früheste Bild eines Gelehrten in seinem Studio mit genauer Wiedergabe des Raumes und seines Inhalts“ gilt.²⁶ Der gleichsam ausgestellte, gerahmte Dichter im Gehäuse? Das mag schon allgemein nicht die nächstliegende Wahl zu sein, wenn es darum gehen soll, kollaboratives Schreiben zu illustrieren; Petrarca im Speziellen scheint dazu ohnehin erst recht nicht zu taugen. Auf den italienischen Renaissancegelehrten pflegt sich nämlich die für gewöhnlich mit diesem Bildtopos verbundene, nicht weniger topische Vorstellung eines ‚a-sozialen‘ Gelehrtentypus so gut zu berufen wie auf den Teilzeiteremiten Hieronymus. Ja, Petrarcas Abhandlung De vita solitaria hat sie womöglich noch stärker geprägt als die Bildtradition selber, die umgekehrt ihrerseits daraus einige Anregungen bezogen haben mag; Petrarcas hauptsächlich 1346 verfasster Traktat feiert bei Weitem nicht nur mit Blick auf eine förderliche Schreibatmosphäre den Rückzug aus dem Getriebe der Stadt in die (vorzugsweise ländliche, aber notfalls auch nächtliche) Abgeschiedenheit. „Wer sich ans Schreiben macht, soll sich […] einen dunklen und ruhigen Ort aussuchen“ (102), lautet die im siebten Kapitel des ersten Buchs formulierte bündige Empfehlung für all diejenigen, die sich nicht wie ihr Verfasser in die Abgeschiedenheit einer gleich ganz aufs Schreiben und Denken eingerichteten Villa in der Vaucluse zurückziehen können.²⁷ „Endlich“ habe dann „dieser Petr Die Manuskriptbeschreibung zit. nach Manuscripta Mediaevalia: http://www.manuscriptamediaevalia.de/dokumente/html/obj31909574 (letzter Zugriff 21.02. 2022).  Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977, S. 54.  Die maßgebliche Ausgabe des ersten Buches (das zweite trägt hauptsächlich die Exempla nach, auf die sich das Lob des Rückzugs gründen kann) ist Francesco Petrarca: De vita solitaria, Bd. 1: Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, hg. von Karl A. E. Enenkel, Leiden 1990. Im Folgenden wird zit. nach der deutschen Übersetzung Francesco Petrarca: Das einsame Leben. Über das Leben in Abgeschiedenheit/ Mein Geheimnis. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, hg. und mit einem Vorwort von Franz Josef Wetz, München 2004, S. 51‒237 (mit Angabe der Seitenzahl im laufenden Text). Zum thematischen Überblick vgl. Brigitte Bur-

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archa ein sytz / vnfern von Arquata bey Padua gekauft / sich dahin gesetzt / vnd nichts anders gethon dann studiert / gelernet / vnd bücher gemacht“, weiß die Kurzbiografie in einer deutschen Übersetzung aus dem frühen 16. Jahrhundert zu berichten, die den bekannten Innensichten dieser Schreibszene eine nicht minder topische Außensicht gegenüberstellt (Abb. 2).

Abb. 1: Petrarca im Gehäuse, Innensicht (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Ms 101).²⁸

richter: ‚Solitudo mea iucundissima‘. Zur Einsamkeit bei Petrarca, in: Kulturen der Einsamkeit, hg. von Ina Bergmann und Dorothea Klein, Würzburg 2020, S. 79‒95.  Zit. nach Reiner Speck und Florian Neumann (Hg.): ‚Klug und von hehrer Gestalt‘. PetrarcaBildnisse aus sieben Jahrhunderten, Köln 2018, S. 56 (Katalog).

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Abb. 2: Petrarca im Gehäuse, Außensicht (zit. nach Francesco Petrarca: Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen. Vnnd weß sich ain yeder inn Gelück vnd vnglück halten sol, Augsburg 1532, o. S., Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München, Rar 2266).

Die Dringlichkeit einer räumlichen Einfassung der aufs Schreiben konzentrierten Abgeschiedenheit kommt nicht von ungefähr. Die Bildgeschichte dieser scheinbaren A-Sozialisierung des Schreibens, die mit dem Typus des sogenannten Autorenbilds beginnt,²⁹ wird tatsächlich von einer Architekturgeschichte begleitet. Wolfgang Liebenwein hat in seiner maßgeblichen Monografie zur Herausbildung des studiolo die Grundlagen herausgearbeitet, auf denen die durchaus wechselvolle und in ihrem Verlauf längst nicht auf den Schreibplatz beschränkte Karriere dieses Raumtypus aufbaut. Bei dessen Begründung gebührt dem Schreibtischsolisten Petrarca und seiner programmatischen Modellierung des Rückzugs ein wichtiger Platz. Diese habe, so Liebenwein, „die theoretischen Voraussetzungen für eine Änderung der allgemeinen Studiengewohnheiten geschaffen“:³⁰ Finden sich seit dem frühen 14. Jahrhundert erste eigene Räume fürs gelehrte Schreiben und Lesen hauptsächlich in den päpstlichen Residenzen von Avignon oder am Pariser Hof, so sorgt die neue Topik des Rückzugs nicht nur quantitativ, sondern auch strukturell für steigenden Bedarf an solchen Schreibgehäusen. „Einsam-

 Wolf-Dieter Löhr: Lesezeichen. Francisco Petrarca und das Bild des Dichters bis zum Beginn der Frühen Neuzeit, Berlin 2010.  Liebenwein: Studiolo, S. 44‒55, hier S. 44; vgl. außerdem Ulrich Eigler: ‚solitudo sine literis (!) exilium est‘. Die Studierstube zwischen Mußeraum und Musenzimmer, in: Antike und Abendland 65/66 (2019), S. 190–207.

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keitstechniken sind heterotopische Praktiken“, hat Thomas Macho unterstrichen;³¹ der studiolo gibt ihnen einen Ort, der sich bald schon nicht mehr auf die spektakuläreren Inszenierungen in den Raumfluchten norditalienischer Fürstenpaläste beschränken will³² und in den zeitgenössischen Regelungen zur steuerlichen Absetzbarkeit von heimischen Arbeitszimmern ein sehr profanes Nachleben gefunden hat.³³ Schon diese Andeutungen lassen vermuten, dass die (konzeptuelle, architektonische) Absonderung des Schreiborts dessen Assoziationsdichte eher erhöht als reduziert. Petrarcas Ausführungen, die eine solitudo sine litteris perhorreszieren – was mit „Abgeschiedenheit ohne geistige Tätigkeit“ (80) recht unglücklich übersetzt ist – und „wie alles übrige auch die Abgeschiedenheit mit Freunden teil[en]“ (109) wollen, geben erste belastbare Hinweise darauf. Das ist Grund genug, auch dem Bildtopos noch einmal ein wenig Aufmerksamkeit zuzuwenden. Was also gibt es wirklich zu sehen auf diesen scheinbar einsamen Bühnen der a-sozialisierten Schreibtätigkeit? Zunächst fällt auf, dass die im vorangehenden Abschnitt angedeutete konzeptuelle Skalierung von der ‚Szene‘ über die ‚Bühne‘ zum theatrum ziemlich genau den Kompositionsprinzipien der bildlichen Darstellungen entspricht. Nehmen wir nur die beiden bereits diskutierten Figura Thomas Macho: Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 2000, S. 38.  Zur „Teilung des domestischen Raums“ in frühneuzeitlichen Gelehrtenhaushalten vgl. Gadi Algazi: Eine gelernte Lebensweise. Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 107‒118, hier S. 112. Ferner, S. 115: „Lebensweisen werden oft mühsam elaboriert, erprobt und modifiziert, bevor sie feste Form annehmen. Wenn sie Form annehmen, können sie ein langes und zähes Leben führen, und sei es nur deshalb, weil sie da sind, als vorgefertigte Optionen zur Lebensführung.Verbunden mit Vorstellungen von Ehrbarkeit und Richtigkeit, werden sie zuweilen auch dann eingehalten, wenn sie aus rein ökonomischen oder scheinbar praktischen Gesichtspunkten fast unerreichbar erscheinen. Die kleinen Landpfarrer in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die ihre Familie kaum ernähren konnten und dennoch darauf bestanden, ein Studierstüblein zu haben, sind dafür ein gutes Beispiel. Als Gelehrte brauchten sie ein Studierzimmer. Sie beklagten sich wiederholt bei den Intendanten, und ihre Gemeinden versprachen feierlich, für sie ein Studierstüblein einzurichten – und sei es in der Scheune.“  So wird in einer Weisung des Bundesministeriums der Finanzen (2017) festgehalten, dass der „Begriff des häuslichen Arbeitszimmers“ auf Räumlichkeiten zutrifft, die in ihrer „Lage, Funktion und Ausstattung nach in die häusliche Sphäre des Steuerpflichtigen eingebunden“ sind und überwiegend zur „Erledigung gedanklicher, schriftlicher, verwaltungstechnischer oder -organisatorischer Arbeiten“ genutzt werden. Dabei ist „die Abtrennung der Räumlichkeiten vom übrigen Wohnbereich […] erforderlich“; Bundesministerium der Finanzen an die Obersten Finanzbehörden der Länder, 06.10. 2017, III.3. und 4, S. 2 f.; zit. nach https://www.ihk-muenchen.de/ihk/docu ments/Recht-Steuern/Steuerrecht/Neuer-Ordner/20171006-BMF-EStliche-Behandlung-Aufwen dungen-haeusliches-Arbeitszimmer.pdf (letzter Zugriff 22.02. 2022).

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tionen Petrarcas: In der Bildmitte (Abb. 2) beziehungsweise dem linken unteren Bildviertel (Abb. 1) finden wir das Manipulationsgeschehen der ‚Schreibszene‘ im engeren Sinne ins Bild gesetzt, das allerdings vom Schreiben auf das Lesen/ Blättern hin erweitert werden kann: Petrarca scheint im Begriff zu sein, aus einem Manuskript zu exzerpieren, das seine Linke dazu verfügbar macht (Abb. 1) bzw. vor ihm auf einem Pult eingerichtet ist (Abb. 2). Mit letzterem ist die Szene bereits zur Bühne erweitert ‒ beide Darstellungen legen denn auch großen Wert auf die Proxemik der Szene: Schreib-, Sitz- und Lesemöbel sowie das besagte Schrägoder gar ein zusätzliches Drehpult (Abb. 1), die dort installiert sind; mit dieser Bühne wird die Schreibszene als Effekt einer Lese-Schreib-Maschine sichtbar, einer räumlichen Assoziation von Person, Gerät, Manuskript(en) und Mobiliar. Die erweitere Bühne gewissermaßen bevölkern zusätzliche Bücher und Portefeuilles, Lampen, Uhren, im Porträtblatt (Abb. 1) überdies ein Spiegel sowie das für Gelehrtendarstellungen nicht untypische Hündchen am unteren Bildrand. Das theatrum schließlich rücken die auffälligen Architektur- (Abb. 2) beziehungsweise Raumdarstellungen in den Blick. Liebenwein hat die Signifikanz der auf dem Paduaner Fresko basierenden Darstellung unterstrichen, die über die konkrete Realisierung hinausweist, und daraus eine in unserem Zusammenhang interessante Schlussfolgerung gezogen: Dieses Bild von Petrarca in seinem Studio geht in der Innenraumdarstellung über alles bis dahin Gekannte hinaus. Wir haben es mit einem wirklichen, ‚betretbaren‘ Raum zu tun, dessen Proportionen mit der darin wohnenden Person nahezu übereinstimmen. Nur noch der Bogen im Vordergrund läßt entfernt an trecenteske Bildarchitektur denken, dahinter passen Mensch und Raum bruchlos zueinander. Es ist vielleicht kein Zufall, daß dort, wo erstmals in einem Bild der Raum als das völlig natürliche Ambiente des Menschen erscheint, ein Studio dargestellt ist – jener Raumtypus, der ganz speziell auf das Individuum zugeschnitten ist.³⁴

Wie das zur Hälfte geöffnete Fenster deutlich macht, das im inszenierten Bildhintergrund zwischen Person und Mobiliar rückt, verbinden sich im theatrum die Einfassung der Bühne/Szene und deren Abgrenzung gegen Umwelten nicht in Form einer hermetischen Schließung, sondern als Herstellung eines Milieus oder Ökosystems. Im Holzschnitt der Augsburger Übersetzung, die der sogenannte Petrarcameister angefertigt hat, findet man dementsprechend eine weitere, fein ironische Andeutung darauf, dass die Programmatik der vita solitaria mit einer

 Liebenwein: Studiolo, S. 54. ‚Auf die Möglichkeit des lesenden/schreibenden Individuum hin zugeschnitten‘, wäre diese Schlussfolgerung im Rahmen meiner Relektüre zu reformulieren. Eine recht weitgehende, exemplarische Raum- und Milieuanalyse ausgehend vom Typus des Studiolo entwirft Ombretta Iardino: L’architettura di un interno: lo studiolo, Neapel 2019.

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A-Sozialität der Schreibszene nur gewaltsam zur Deckung gebracht werden kann. Der Wasserträger im Garten, der schwer beladen vom linken oberen Bildrand in Richtung der Villa eilt, zeigt ebenso wie die ausgestellte architektonische Einfassung der Szene oder der rauchende Kamin an, dass die petrarkistische Abgeschiedenheit eminent sozial verfertigt und ermöglicht ist. Nicht nur Bücher oder Freunde, auch Personal und Infrastruktur gehören zu ihren Voraussetzungen, und noch die ‚Natur‘ einer einsamen Schreibumgebung provoziert und produziert die vita solitaria eher, als dass sie sich einfach dorthin zurückzöge. Unübersehbar als locus amoenus ausgeformt, stehen diese Rückzugsräume von Grund auf im Differenzverhältnis zu einer dem Zugriff menschlicher Betriebsamkeit konstitutiv entzogenen Wildnis. Sie figurieren ein Drittes gegenüber den rhetorischen Dichotomien von ‚Einsamkeit vs. Gesellschaft‘ bzw. ‚Natur vs. Zivilisation‘, in denen die Notwendigkeit ihrer Schaffung formuliert wird.

4 Mit Blick auf den eben beispielhaft skizzierten Bildtypus hat Otto Pächt einen Effekt beschrieben, der für die darin artikulierten Topologie des Schreibens aufschlussreich ist. Im Modus dieser Darstellungen werde „auch der menschliche Bewohner mitsamt seinen vierbeinigen Gefährten allmählich in den unbelebten Hausrat eingegliedert und, gleichsam auf einer Stufe mit den anderen ‚Einrichtungsgegenständen‘ des Gemachs, zum integralen Bestandteil des Raum-Stillebens“ gemacht.³⁵ Diese Grenzverwischung dürfte in der Tat zu den bemerkenswerten Konsequenzen der Darstellungen gehören. In wohl kaum einer der einschlägigen Abbildungen kommt dies besser zum Ausdruck als in Domenico Ghirlandaios Florentiner Fresko des Hieronymus (Abb. 3). Das auf 1480 datierte Fresko in San Salvatore di Ognissanti war in der ursprünglichen Raumgestaltung Teil einer kompetitiven Doppelinszenierung, die prominent platziert an Chorschranke bzw. Lettner zu sehen war.³⁶ Komplettiert wurde diese durch Sandro Botticellis Darstellung des ebenfalls in ein kleines Gelehrten-theatrum eingelassenen Augustinus. Bei einer Neugestaltung des Kirchenraums in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mussten die beiden Fresken dislozieren; sie fanden einen neuen Platz an einander gegenüberliegenden  Otto Pächt: Zur Entstehung des ‚Hieronymus im Gehäus‘, in: Pantheon 21 (1963), S. 131‒142, hier S. 131.  Für das Folgende vgl. die konzise Darstellung bei Hubert Locher: Domenico Ghirlandaio, Hieronymus im Gehäuse. Malerkonkurrenz und Gelehrtenstreit, Frankfurt a. M. 1999 (im Folgenden zit. mit der Sigle HG und Seitenangabe im Fließtext).

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Abb. 3: Kollaboratives Schreiben: eine Versammlung mit Gehäuse (Domenico Ghirlandaio: Der heilige Hieronymus in seiner Studierstube, San Salvatore di Ognissanti, Florenz, 1480).

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Wänden zwischen zwei Kapellen des Langhauses, wo sie noch heute zu sehen sind. Folgt man Hubert Lochers begründeter Spekulation, dann haben schon die Florentiner Zeitgenossen Botticellis Augustinus-Darstellung mehr abgewinnen können als Ghirlandaios Hieronymus. ³⁷ Die disziplinäre Kunstgeschichte jedenfalls hat seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert so geurteilt; die beiden Fresken sind gewissermaßen in die Mühlen der antagonistischen Nationalstil-Konstruktionen zwischen ‚nordisch/flandrisch‘ und ‚klassisch/italienisch‘ geraten. Ich beschränke mich auf eine Bemerkung Aby Warburgs, weil sie in den thematischen Kern meiner Topos-Lektüre zielt: Für die italienische Renaissance habe gerade der Darstellungstypus des Hieronymus im Gehäuse als charakteristisch flandrischer Gegenstand gelten müssen. Im „still vertiefte[n] Gelehrte[n] inmitten all der subtilen Werkzeuge des Schriftstellers“ realisiere sich exemplarisch eine „seelische Interieurstimmung“, die dem eben der Auseinandersetzung mit der Antike abgewonnenen lokalen Prinzip einer bildnerischen „Verkörperung des bewegten Lebens“ entgegenstehe. Während nun Botticellis Augustinus von einer Aneignung dieser Darstellungsart „im Sinn der italienischen Kunst“ zeuge, biete Ghirlandaios Hieronymus letztlich „nur eine Kleinmalerei in großem Format“.³⁸ Der Widerspruch, der aus den doch so ähnlich argumentierenden Betrachtungen Warburgs und Pächts heraussticht, ist bemerkenswert: Wo dem einen das seelische Interieur auffällt, das noch die dargestellte Bildwelt stillstellt, wittert der andere ein Mobiliarwerden des menschlichen Gehäusebewohners – ganz Seele sei dieser Hieronymus samt seinem Bildraum und zugleich ganz Ding. Man braucht indes nur den perspektivischen Fokus zu verschieben und die Übertragungsrichtung umzukehren: Anstatt einer ‚entlebendigenden‘ Einordnung des menschlichen Akteurs ins Interieur oder der ‚Entrealisierung‘ der Darstellung im Abglanz vertiefter Innerlichkeit wäre dann von einer gleichzeitigen Beförderung der dargestellten Gegenstände zu Akteuren in einer Szenerie kollaborativen Schreibens zu sprechen: Ghirlandaios Fresko schafft es auf wahrhaft meisterliche Art, das große, komplexe, hybride Format des Schreibens in der Darstellung eines Nahraums zu konzentrieren und in einem, mit der berühmten Formel Lessings gesprochen, ‚prägnanten Augenblick‘ festzuhalten. Die Darstellung zeigt den Hieronymus eingelassen in eine Proxemie mit allerlei Gerätschaften – scheinbar nur eine „gedrängte Menge an detailliert geschilderten Requisiten“ (HG 8) ‒, die sich aber genauer besehen in durchaus  Ebd., S. 78‒81.  Aby Warburg: Flandrische und florentinische Kunst im Kreise des Lorenzo Medici um 1480 [1901], in: ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Gertrud Bing, Leipzig/Berlin 1932, S. 212.

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differenzierbaren Kopplungen untereinander und mit dem menschlichen Akteur verbinden, der die linke Bildhälfte fast vollständig dominiert. Im Zentrum der oberen Bildhälfte steht tatsächlich eine triangulierte Gelehrtenschreibszene, als deren Eckpunkte man Kopf, rechten Ellbogen und die auf dem Schrägpult aufruhende rechte Hand mit Federkiel ausmachen kann. Die Seitenlinien dieses Dreiecks werden durch den linken Unterarm und die Hand komplettiert, auf die Hieronymus seinen Kopf stützt. In dieser letzteren Anordnung wiederholt sich noch einmal eine trianguläre Kopplung von Kopf, Hand und Papier: die linke Hand, auf der des Hieronymus Kopf ruht, hält nämlich ein gefaltetes Schriftstück, „offensichtlich einen Brief“ (HG 57). Folgt man Lochers Interpretation, dann stünde damit im Zentrum des Bildes die wohl exemplarische, seit den Anfängen der Briefpoetik explizit als solche thematisierte soziale Schreibszene: die Darstellung einer brieflichen Respondenz.³⁹ Aufgrund dieser funktionalen Bildanordnung wäre damit die fast reflexhafte Deutung des Heiligen als Melancholiker mindestens zu komplettieren: Der „sorgenvoll gerunzelte[n] Stirn und de[m] schwermütige[n] Blick“, die Liebenwein dem Gesicht ablesen will,⁴⁰ erst recht eine „melancholische Passivität“ (HG 56) des beim Schreiben Innehaltenden wird man mit jenem Außenbezug ergänzen und vielleicht korrigieren müssen, die der von der Schreibszene ab- und dem Betrachter zugewandte Blick doch immerhin auch anzeigt. Das (stillgestellte, stillstellbare) Moment des Briefschreibens ist ebenso wie dasjenige der Brieflektüre definitionsgemäß eingelassen in einen Prozess des Gabentauschs und der Zirkulation. Es gäbe dieses Schreiben, den „anderen Teil“ (τὸ ἕτερον μέρος)⁴¹ einer Korrespondenz, nicht ohne die Gabe des gelesenen Briefs, den Hieronymus in der Linken hält. Feder und Brief, die Hieronymus in den Händen hält, erweitern diese Schreibszene aber gleichzeitig auch auf den Nahraum im rechten oberen Bildviertel und verbinden sie mit diesem. Während zur Rechten des Heiligen die In-

 Hierzu Stephan Kammer: Skizzen zu einer Philologie der Netzwerke, in: Briefe im Netzwerk / Lettres dans la toile. Korrespondenzen in Literaturarchiven / Les réseaux épistolaires dans les archives littéraires, hg. von Fabien Dubosson, Lucas Marco Gisi und Irmgard M. Wirtz, Göttingen/ Zürich 2022, 127–141, hier S. 135 f.; Hubert Locher führt aus: „Wir können davon ausgehen, daß es nicht die Bibelübersetzung ist, an der er arbeitet, denn in der geballten Faust hält er ein zusammengefaltetes Stück Papier oder Pergament, offensichtlich einen Brief, den er soeben zu beantworten scheint. Neben dem Pult [und direkt unter der Schreibhand, S.K.] ist ein weiterer versiegelter und gefalteter Brief mit einem Klerikersiegel zu sehen“ (HG 57).  Liebenwein: Studiolo, S. 132. Vgl. dagegen Stefan Kummer, für den die Mimik des Hieronymus „weniger von Melancholie als von einer gewissen Streitlust erfüllt zu sein“ scheint; Stefan Kummer: Der einsame Gelehrte – Der hl. Hieronymus im Gehäuse, in: Bergmann/Klein (Hg.): Kulturen der Einsamkeit, S. 124.  Demetrios: Peri hermeneias 223.

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strumente der Schreib- und Lesearbeit aufgereiht sind, lagern zu seiner Linken Codices, Manuskripte und Zettel, die an und auf den beiden erkennbaren Bücherbrettern ausgestellt sind. In Pult und Aufsatz wiederholt sich diese Verteilung im proxemischen Raum in Form einer apparativen Schreib- und Lesebühne. Während die seitliche Darstellung in diese letztere ebenso wie in die Schreibszene selber keinen Einblick gestattet, sind Werkzeuge und Erzeugnisse bzw. die textuellen Relata des Schreibens geradezu ostentativ exponiert: Brille, die beiden Tintenfässchen, Schere, Lineal und Lampe einerseits, die Manuskripte andererseits figurieren die potenziellen Assoziationen, die in der Schreibszene emergieren können. Und schließlich erweitern die Bildelemente, die diese Bühne rahmen, die Darstellung zu einem theatrum des Schreibens. Hinzuweisen wäre hier wenigstens auf drei solcher Akteure, die das kollaborative Gefüge dieses Gehäuses mitgestalten: auf den orientalischen Teppich zunächst, der den Tisch in Hieronymus’ Gelehrtenklause bedeckt. Locher weist darauf hin, dass ein derartiger Bildeinsatz des Orientteppichs im ausgehenden 15. Jahrhundert höchst ungewöhnlich ist und überträgt den üblicherweise sakralen Einsatz des Bildmotivs, insbesondere in niederländischen Mariendarstellungen der Zeit, auf Ghirlandaios Bildinszenierung.⁴² Doch wenn auch und gerade die Bildelemente des umgebenden Schreibtheatrums zweifellos auch als „Objektgruppierung[en] in wahrscheinlich symbolischer Absicht“ (HG 63) gedeutet werden können, scheint es mir nicht ratsam, deswegen ihren ‚Literalsinn‘ kategorisch zu kassieren. Der türkisch-orientalische Teppich zieht somit durchaus so etwas wie eine Trajektorie frühneuzeitlicher Globalisierung in die Gelehrtenstube; am Vorabend gewissermaßen jener sogenannten großen Entdeckungen, die deren Reichweite bald deutlich weiter ziehen sollten. Der Galero dann, der Kardinalshut also, der auf dem Wandbrett über dem Gelehrten liegt und den Kardinalsornat vervollständigt, verkörpert die buchstäblich abgelegte, aber deswegen keineswegs ausgesetzte institutionelle Einbindung des Figurierten. Im Übrigen entspricht die Ablage des Huts „der korrekten Verwendung dieses Zeremonialgegenstandes“ (HG 51); sie als „Zeichen seiner Weltentsagung“ zu lesen,⁴³ verkürzt deswegen das Deutungsspektrum der Darstellung ungebührlich und übersieht ebenfalls ein wesentliches

 „Wenn Ghirlandaio einen Orientteppich als Tischdecke abbildet, so ist dies daher keineswegs als Verweltlichung der Szene zu deuten. Es ist im Gegenteil damit der Schreibtisch des Hieronymus als ein Ort des Gottesdienstes ausgezeichnet“ (HG 63).  Cornelia Schneider: Besuch bei Hieronymus. Der humanistische Gelehrte und sein Wissensraum, in: Gewusst wo! Wissen schafft Räume. Die Verortung des Denkens im Spiegel der Druckgraphik, hg. von Katharina Bahlmann, Elisabeth Oy-Marra und Cornelia Schneider, Berlin 2008, S. 51–74, hier S. 53.

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Indiz für den Anschluss dieses Schreibtheatrums an seine Umwelten. Und schließlich ist da noch der Vorhang, der den Hintergrund der linken Bildhälfte bildet. Vorhänge verantworten temporäre, mobile und reversible Praktiken der Abgrenzung und des Ausschlusses; deutlicher als Tür oder Fenster, die in vielen anderen Versionen des Hieronymus im Gehäuse zu sehen sind, schaffen sie Uneindeutigkeitszonen von Innen und Außen und weisen auf die performative Rahmung als Stifterin von geschlossenen oder geöffneten Raumverhältnissen hin. Ohne dass man die argumentative Beweislast beim personalen Akteur, konkret: im Blickkontakt des Hieronymus zum Betrachter suchen muss, weisen alle Bestandteile dieser Szene auf eine mannigfaltig sozialisierte, in der Assoziation ihrer Elemente erst virulente Gelehrteneinsamkeit hin; (temporäre) Praktiken der Seklusion sind kaum anders denn als soziale Praktiken zu denken und zu beschreiben, das Schreiben umgekehrt kaum anders als Kollaboration assoziierter Akteure. Dass man, wie das eine von Dieter Roelstraete kuratierte Ausstellung in der Fondazione Prada (Venedig 2018) getan hat, generell im frühneuzeitlichen studiolo und damit dem historischen Raumtypus, auf den sich die Darstellungen des Gehäuses zu beziehen pflegen, wohl so etwas wie eine historisch erste machine à penser sehen kann, ist somit nur konsequent.⁴⁴ Vielleicht wäre aber selbst die Figuration der Maschine dafür noch zu organ(izist)isch gedacht. Schreibszenen – und das wäre nun meine hypothetische Schlussfolgerung – im herkömmlichen Verständnis sind generell eingelassen in ein Kräftefeld vielfacher und vielgestaltiger sozialer Beziehungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, wozu selbstverständlich auch temporäre Ausschlüsse und Abschließungen zu zählen sind. Sie sind, eingebettet in die Bühnen und Theater des Schreibens, Teil eines solchen Kräftefelds, und dieses selbst wäre der Gegenstand, den eine sozialisierte literaturwissenschaftliche Schreibforschung zu betrachten hätte, wenn sie das kollaborative Schreiben fokussiert. Dessen Aktionszusammenhänge finden selbstverständlich im Schreibzimmer des Schriftstellers, wo und wie immer es eingerichtet ist, keineswegs ihr Ende. Sobald sich etwa für ein Manuskript, für einen Brief der Vorhang lüftet, verändern sich die perspektivischen Fluchtlinien des theatrum und rücken Orte und Institutionen der Korrespondenz, historisch später des Verlags, der Redaktion, der Buchherstellung, des Vertriebs und der Zirkulation in den Blick. Diese bringen neue Faktoren und Akteure ins Spiel, die ihrerseits mit dem bisherigen Aggregatszustand der Schreibszene und dessen proxemischer Bühne interagieren,

 Vgl. den Katalog Dieter Roelstraete (Hg.): Machines à penser, Mailand 2018. Die von Shumon Basar in diesem Kontext für den studiolo formulierte Devise „Alone with Knowledge“ (ebd., S. 214‒216) verkennt allerdings dann doch wieder die ihm zugrundeliegende Funktionslogik.

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diese möglicherweise auch erweitern und verändern. Auch in diesem Sinne also wäre das Gefüge des Schreibens immer als nicht-stabiles zu verstehen. Gerade unter diesen Bedingungen allerdings wäre eine Ästhetik, eine Literaturästhetik des Kollaborativen umso dringender. Man bräuchte dafür vielleicht so etwas wie eine ‚Philologie der Netzwerke‘⁴⁵ – womit weder eine Spielart von ‚Computerphilologie‘ gemeint ist noch die eingangs mit Reckwitz angedeutete ‚Derivatsperspektive‘ auf personale Verbindungen, Konstellationen und Einflüsse.Wenn ich von ‚Philologie der Netzwerke‘ spreche, dann gehört dazu erst einmal die Annahme, dass sowohl die Gegenstände als auch die Verfahren der Philologie eben als soziale gedacht werden sollten: Autor und Werk als Netzwerkeffekte, nicht Autor und Werk in Netzwerken also. Man hätte sich dann zu beschäftigen, wie eben gezeigt und jetzt mit dem Begriffsdesign von Bruno Latour formuliert, mit Assemblagen, ‚Versammlungen‘ von Akteuren menschlicher und nichtmenschlicher Art.⁴⁶

5 Was wäre aus den vorangehenden Bildlektüren für die literaturwissenschaftliche Forschung bzw. das Postulat einer Sozialisierung der Schreibszene fruchtbar zu machen? Eine einfache Übertragung verbietet sich ja schon angesichts der durchaus heteronomen Materialbestände, auf die sich die Analyse dieser Topik und die Genealogien literarischen Schreibens zu berufen haben. Selbst wenn sich die Strukturelemente des Topos reibungslos auf die Schreibszenen der Renaissance und der Frühen Neuzeit übertragen ließen, wäre damit überdies noch längst nicht gewährleistet, dass dieses historisch distante Modell für das literarische Schreiben der Neuzeit bedeutsam ist. Mag Petrarca auch insgemein als erster Theoretiker und Propagandist neuzeitlicher Individualität gelten – sein Schreiben selbst ist ebenso wie die Schreibtheater des topischen Hieronymus zweifelsohne in die vormodernen Ordnungen der Dinge und des Wissens eingebunden; schon die erwähnte Akzentsetzung aufs Exzerpieren weist in den diskutierten bildlichen Darstellungen darauf hin, und selbst die von Petrarca propagierte Modellierung der vita solitaria hat ja im Lauf der Jahrhunderte einige tiefgreifende Umarbeitungen erfahren.⁴⁷  Kammer: Skizzen zu einer Philologie der Netzwerke.  Hierzu Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.  Hierzu z. B. die Ausführungen zur Rekonfiguration von ‚Einsamkeit‘ im 18. Jahrhundert bei Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 2003, S. 169‒185 (deren historischer Horizont allerdings sehr eng gehalten ist und die

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Ich will abschließend auf eine in der literaturhistorischen Schreibforschung einschlägige Episode blicken – einschlägig schon deshalb, weil in ihr der Leitsatz jener Mitarbeit der Geräte am Gedanken formuliert worden ist, der diese Art der Forschung entscheidend mit angeregt hat: Friedrich Nietzsches kurze Liaison mit der ‚Schreibkugel‘ des dänischen Pastors und Taubstummenlehrers Rasmus Malling-Hansen. Die Episode ist breit erforscht und dokumentarisch so gut aufbereitet wie vermutlich kaum ein anderer apparateinduzierter Schreibzusammenhang.⁴⁸ So kann ich mich an dieser Stelle darauf beschränken, sie in ihren gröbsten Zügen und ohne weitere Nachweise zusammenzufassen. Im Februar 1882 brachte Paul Rée Nietzsche ein Exemplar aus der 1878 erstmals produzierten Modellserie der dänischen skrivekugle ins Winterquartier nach Genua mit. Nietzsche hatte bereits früher die Absicht geäußert, eine Schreibmaschine zu erwerben. Malling-Hansens Modell schien ihm ‒ nach den Basler Jahren in hohem Maße nichtsesshaft ‒ vor allem aus Gewichtsgründen das am besten geeignete zu sein, um die aufgrund seiner extremen Sehbehinderung anfallenden Beeinträchtigungen des Schreibens auszuräumen. Er hoffte, wie aus einem Brief an Franz Overbeck deutlich wird, auf ein „Instrument, bei dem die Augen nach einer Woche Übung gar nicht mehr thätig zu sein brauchen“.⁴⁹ Leider erwies sich die Schreibkugel aber gerade mit Blick auf Nietzsches mobile Existenz als höchst fragiles Instrument. Bereits bei ihrer Ankunft in Genua wurde eine längere Reparatur nötig, die Transportschäden beheben sollte, und nach einigen hauptsächlich für Briefe und Verse genutzten Wochen des Gebrauchs kapitulierte nach Nietzsches Einschätzung das Farbband vor dem Mittel-

nicht bzw. nur sehr pauschal auf die vor- und frühneuzeitlichen Versionen und Wertungen des Konzepts Bezug nehmen) sowie den Überblick zu Johann Georg Zimmermanns ausufernder Modellierung der Einsamkeit bei Martina Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie und heillose Vernunft. Johann Georg Zimmermann ‚Über die Einsamkeit‘ (1784/85), in: Assmann/Assmann (Hg.): Einsamkeit, S. 265‒279.  Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, 2. Aufl., München 1987, S. 197‒202; ders.: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 293‒310; Martin Stingelin: Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine, in: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 326‒341; Friedrich Nietzsche: Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition, Faksimiles und kritischer Kommentar, hg. von Stephan Günzel und Rüdiger Schmidt-Grépaly, Weimar 2002; Dieter Eberwein: Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel, Schauenburg 2005.  Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck vom 20./21.08.1881, in: ders., Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1986, Bd. 6, Nr. 139, S. 117. Aus diesem Band wird im Folgenden unter Angabe der Briefnummer und Zeitenzahl direkt im laufenden Text zitiert.

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meerklima.⁵⁰ Schon Ende März, unmittelbar vor dem zwischenzeitigen Aufbruch nach Messina, muss er der Schwester Elisabeth mitteilen: „die Schreibmaschine ist seit meiner letzten Karte unbrauchbar“ (Nr. 218, 188); die erhoffte Erleichterung des Schreibens hatte sie ohnehin auch in den wenigen Wochen der Nutzung kaum erbracht.⁵¹ Die konzeptuellen und poetischen Effekte dieser kurzzeitigen und prekären Schreibszene sind bekannt: „Nietzsches Wortspiel“, wie es Martin Stingelin genannt hat, verbindet die rhetorikbasierte frühere Sprachtheorie mit einer maschinenschriftlich fundierten „Buchstäblichkeit“.⁵² Nur beiläufige Aufmerksamkeit hat man allerdings den vielfachen Hinweisen geschenkt, die Nietzsches Korrespondenz dieser Zeit geben, wenn es um die Einbettung dieser apparativ-gestisch-sprachlichen Kernszene in die erweiterten Schauplätze, in Bühne und Theater des Schreibens geht. Seit seiner gesundheitlich erzwungenen Aufgabe der Basler Professur ist Nietzsche unablässig damit beschäftigt, ein funktionierendes Ökosystem des Denkens und also vor allem Schreibens herzustellen; er entwirft und erprobt eine ganze Reihe emergenter, temporärer und mobiler Schreib-Architekturen in der meist schnell enttäuschten Hoffnung auf stabilisierende Strukturbildungseffekte – die Herrichtung einer Schreib-Hütte gewissermaßen.⁵³ Dazu zählen für das außerordentlich störungsanfällige Personalsystem Nietzsche „Diät und Vertheilung des Tages“ (Nr. 76, 57); die unablässigen Bemühungen um Küche und Apotheke zeugen davon, die hauptsächlich in der Korrespondenz mit Mutter und Schwester in Naumburg ihren Platz finden. Es gehört dazu die Eruierung eines geeigneten Schreibortes, wobei Nietzsche das komplette Spektrum von top(olog)ischen Gesichtspunkten mit in Betracht zieht: mit „Dachstuben-Einsamkeit“ (Nr. 66, 49) und „Waldeinsamkeit“ (Nr. 40, 30) probiert er es ebenso wie in den mediterranen Hafenstädten Venedig und Genua, sogar an „ein todtenstill gelegenes, sehr einfaches Zimmer“ (Nr. 323, 272) in Paris denkt er zwischenzeitlich. Immer aber versucht er die Überlegungen und Experimente zu Geografie und Klima seines Aufenthaltsorts auf

 Eberwein zufolge ist das eine sachlich unhaltbare Erklärung. Der Defekt der Maschine war das Ergebnis unsachgemäßer Reparaturen und einer falschen Behandlung des Farbbandmechanismus; vgl. Eberwein: Nietzsches Schreibkugel, S. 210 f. Bedeutsam hingegen ist Nietzsches Interpretation des Versagens dennoch; ich komme gleich darauf zurück.  Das wenigstens ist der Schluss, den Dieter Eberwein aus seiner akribischen Analyse von Gerät und Hinterlassenschaften zieht; vgl. ebd., S. 71 f. [Hervorh. i. O.]. Auf welchem Weg die defekte Schreibmaschine in Nietzsches Nachlass gekommen ist, geht übrigens auch aus Eberweins Ausführungen nicht hervor.  Stingelin: Kugeläußerungen, S. 336 f.  Zu diesem Konzept Karin Krauthausen: Hütte werden, Zürich/Berlin 2022. Zu den langwierigen, umwegigen Versuchen Nietzsches vgl. neben den Briefen vor allem der Jahre 1880 bis 1883 Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie [1978], Bd. 2, Frankfurt a. M. 1999, S. 9‒296.

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die eigenen körperlichen Erfordernisse abzustimmen. Lichtverhältnisse, Witterungsstabilität und atmosphärische Elektrizität rücken ihm immer wieder die Komplexität, ja bis in die Aporie führende Widersprüchlichkeit der betreffenden Erfordernisse vor Augen: „Mehrere böse Tage! Ach die verfluchte Wolken-Elektrizität! Soll ich wirklich so verrückt sein, mich wieder den Bergen zu nähern? Am Meere geht es mir doch am erträglichsten. Wo aber ist der Meer-Ort, der Schatten genug für mich hat! è una miseria!“ (Nr. 216, 187) – und all diese Faktoren befinden sich überdies in einer variablen Wechselbeziehung, bei der heute hier durchaus fatal sein kann, was gestern dort noch geglückt ist: „So veränderlich ist es mit der Diät nach Ort und Klima!“ (Nr. 99, 81). Neben Ortswahl und Organisation der erforderlichen Anschlüsse ans gelehrte Kommunikationssystem – Bibliotheksanschluss und die Versorgung mit Büchern überantwortet er hauptsächlich Overbeck und seinem Verleger Schmeitzner – fallen dabei überdies immer wieder auch Überlegungen zur im herkömmlicheren Sinn sozialen Organisation seiner Existenz an. Die notorische Episode mit Lou Salomé und Paul Rée sollte nicht die einzige „Konstruktion eines Dreiecksverhältnisses“ sein, an die Nietzsche denkt.⁵⁴ Die mit Blick auf das SchreibÖkosystem Nietzsches stabilste interpersonale Verbindung ist sicher die meist auf postalische Distanz gehaltene, aber immer wieder temporär von örtlicher Nähe abgelöste Beziehung zu seinem „liebe[n] einzige[n] Leser und Schreiber“ (Nr. 83, 64) Heinrich Köselitz. Gerade für diese Einbettung in ein deutlich weiter als in die Schreibszene gefasstes Verständnis des Schreibens, für das unabdingbar Kollaborative seiner schreibenden Tätigkeit also, ist die Situation mit der skrivekugle exemplarisch. Für Nietzsche stellt die Schreibkugel durchaus ein Äquivalent, einen eigenständigen und eigenwilligen Akteur dar, der denselben ökologischen Bedingungen untersteht wie er selbst auch: „DING GLEICH MIR“⁵⁵ und somit nicht minder witterungsabhängig ist als sein wetterfühliger menschlicher Partner. In der erwähnten, zwangsläufig wieder von Hand geschriebenen Postkarte an die Schwester vom 27. März 1882 heißt es: „Das verfluchte Schreiben! Aber die Schreibmaschine ist seit meiner letzten Karte unbrauchbar; das Wetter ist nämlich trüb und wolkig, also feucht: da ist jedesmal der Farbenstreifen auch feucht und klebrig so daß jeder Buchstabe hängen bleibt, und die Schrift gar nicht zu sehn ist. Überhaupt!! – – –“ (Nr. 281, 188). Nietzsches Schreibkugel-Episode ist deshalb ein gutes Beispiel dafür, wie kontingent – und zwar im strengen Sinn des Begriffs: weder notwendig noch willkürlich – die Beschränkung des Schreibens auf die Schreibszene letztlich ist. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass eine solche

 Janz: Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 281.  Nietzsche: Schreibmaschinentexte, S. 61.

Die Schreibszene sozialisieren! Kollaboratives Schreiben, Schreiben

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Beschränkung unstatthaft oder nutzlos wäre, ganz im Gegenteil. Im Vergleich zu einem texthermeneutischen oder autorbezogenen Werkverständnis bedeutet sie per se schon eine erhebliche Aufwertung der Sozialität literarischer Gegenstände. Aber darüber hinaus bleiben die Implikationen eines kollaborativen Schreibens, seine gelegentlich weitausgreifenden Relationen und komplexen Bedingungsverhältnisse noch zu entdecken.

Elisabeth Wåghäll Nivre

Georg Wickram neu betrachtet? Historische Schreibpraktiken und das literarische Schaffen Wickrams (um 1505‒1562) aus wissenschaftshistorischer Perspektive 1 Einführung Das Studium älterer Literatur bedeutet das Lesen überlieferter Texte, das Erfassen dessen, was noch vorliegt oder wieder gefunden wird, auch wenn dies manchmal aus Fragmenten besteht. Mündlich Tradiertes ist nur erhalten, wenn jemand es niederschrieb. Alles Notierte blieb singulär, solange es nicht kopiert und weiterverbreitet wurde. Historische Druckschriften sind verfügbar, wenn sie für die Nachwelt aufbewahrt worden sind, wenn niemand sie wegwarf oder sie im Krieg, durch Maßnahmen der Zensur oder auf andere Weise verloren gingen. Die Wissenschaft versucht aus dem, was übriggeblieben ist, Erkenntnisse zu gewinnen, Verbindungen herzustellen, Autorschaften zu rekonstruieren und vieles mehr. Sie analysiert, interpretiert und vermittelt wiederum das Gefundene schriftlich – und manchmal auch mündlich. So werden Prozesse und Praktiken des Schreibens über Jahrhunderte hinweg zusammengebracht. Die literaturwissenschaftliche Forschung handelt einerseits von dem Objekt, dem literarischen Text, und von dem Subjekt, der Autorin oder dem Autor, die bekannt oder anonym sein können, die im Akt des Schreibens das Gesagte oder Erzählte formen und ihm so subjektiv Materialität verleihen. Die „Forschung“ als Abstraktum entwickelt sich durch alle, die sie mit ihren Beiträgen vorantreiben. Auch sie, die Wissenschaftler:innen, schreiben ausgehend von einem literarischen Werk, sind aber zugleich in ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaft kontextuell verortet. „Wer schreibt, bedient sich einer Technik, die kulturell vorgeprägt ist“, schreibt Sandro Zanetti in der Einleitung der Anthologie Schreiben als Kulturtechnik. ¹ Literarische Schreibprozesse stehen wissenschaftlichen Schreibprozessen somit nicht gegenüber, sondern werden im Nachhinein, Anmerkung: Mein besonderer Dank gilt Britta-Juliane Kruse für ihre sprachliche Korrektur und Überarbeitung dieses Beitrages.  Sandro Zanetti: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von dems., Berlin 2012, S. 7‒34, hier S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110792447-006

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wenn der Text gelesen wird und nicht mehr einzig dem Autor oder der Autorin gehört, immer wieder neu verhandelt. Ein Dialog zwischen damals und heute entsteht, zwischen Autor:in, Werk und Forschung. Dies kann trivial anmuten und für selbstverständlich gehalten werden, wird in der Literaturwissenschaft jedoch selten reflektiert, obwohl gerade ein Fokus auf Schreibprozesse metareflexive Kommentare und Ebenen akzentuiert. Für die Schreibprozessforschung bedeutet zweifelsohne das Studium der älteren Literatur das Zusammensetzen eines aus Klein- und Kleinstteilen bestehenden Puzzles, in dem alle Teile analysiert und interpretiert und deshalb immer wieder neu erläutert werden müssen. Es scheint deshalb sinnvoll zu sein, nicht nur die von dem Autor oder der Autorin erwähnten Schreibprozesse und -praktiken genauer zu betrachten, sondern auch in den Blick zu nehmen, wie diese von der Forschung im Laufe der Zeit beschrieben und gedeutet worden sind. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, ausgehend von der rekonstruierten Autorpersönlichkeit Jörg bzw. Georg Wickram (um 1505–1562), die Interaktion der Forschung mit dem Autor und seinem Werk und den (manchmal konfrontativen) Dialog innerhalb der Forschungsgemeinschaft zu beleuchten. Anhand einiger Beispiele wird auf Schreib- und Deutungsprozesse hingewiesen, die ein Netzwerk von Schwerpunkten und Leerstellen sowie Verschiebungen der Forschungsfragen in der Wickramforschung deutlich machen und auf diese Weise zu dem von Wickram selbst Geschriebenen und Ausgesagten zurückführen. Zu fragen ist, was der Forschung überhaupt zur Verfügung steht, was überliefert ist und was sie damit erreichen kann und will.

2 Zum Autor: Georg Wickram Das Interesse an Georg Wickram dokumentiert eine Vielfalt von Kommentaren zu seiner Person und seiner Literarizität aus dem 19., vor allem aber seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine oft betonte Besonderheit als Autor einer Reihe beliebter volkssprachiger Texte verschiedener Gattungen und Genres führte zu vielen Um- und Neudeutungen seines Schaffens. Offenbar sahen die Forschenden Möglichkeiten, sich mit dem umfangreichen Werk eines zwar namentlich bekannten, aber nicht im akademischen Sinne gebildeten Autors der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinanderzusetzen, der nicht selten sein Schreiben und seine Texte, der damaligen Zeit entsprechend, selbst kommentierte. Daraus scheint eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Bewertung seiner Schriften zu resultieren. Vor allem in der älteren Wickramforschung gibt es eine unverkennbare Kritik, die wohl am ehesten von dem Wunsch nach oder sogar von der idealisierten Vorstellung von einer ästhetisch und formal höheren Qualität seines

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Schrifttums ausgeht. Diese bis heute festzustellende Kritik an Georg Wickrams literarischen Ausdrucksformen scheint die durch seine Lebensumstände gegebenen Bedingungen seines Schreibens nicht hinreichend zu berücksichtigen. Obwohl ihm ein (selbst‐)bewusstes Schreiben innerhalb seines soziokulturellen und literarischen Umfeldes zugeschrieben wird, wurde sein breit angelegtes Werk oft heruntergespielt und sein literarisches Können im Schreibprozess allzu geringgeschätzt. Man kann somit Jan-Dirk Müller nur zustimmen, wenn er feststellt: „Der halbgebildete Wickram ist sicher kein Humanist, aber er steht für eine besondere Amalgamierung frühneuzeitlicher Traditionen, die mit Opitz verschüttet werden. Es sind dies Traditionen, die dringend erneut aufgearbeitet werden müssen“.² Jan-Dirk Müller geht noch weiter, indem er schreibt: „Wickram scheint begierig alles aufgesogen zu haben, was er auf dem Buchmarkt erreichen konnte und was ihm sprachlich zugänglich war. Darin gleicht er seinen Figuren“.³ Schließlich betont er: „Wickrams Position ist unter den gängigen literaturgeschichtlichen Etiketten offenbar nicht zu fassen“.⁴ Diese Ambiguität der Autorpersönlichkeit Georg Wickrams und seiner Werke scheint die Forschung bis heute sowohl zu stören als auch anzuregen und hat vor allem seit dem Ende des 20. Jahrhunderts neue Perspektiven auf sein Schreiben eröffnet.

3 Zur Forschungslage In den letzten dreißig Jahren hat sich die Forschungslage deutlich verändert. 1995 habe ich selbst zum Stand der Wickramforschung geschlussfolgert: Die älteren Untersuchungen beschäftigen sich […] hauptsächlich mit biographischen und literaturgeschichtlichen Angaben zu der Person Wickram und seinem Werk. Es gibt auch mehrere Arbeiten, die aus einer historisch-materialistischen oder sozio-historischen Perspektive geschrieben sind. Einige wenige Texte haben einen linguistischen Schwerpunkt und analysieren Sprache und Stil bei Wickram. Dem überwiegenden Teil der bisherigen Analysen ist die Konzentration auf die Prosawerke gemein. So haben sich z. B. die wenigsten bisher mit Wickrams Dramen und Verserzählungen beschäftigt.Wahrscheinlich wird Hans-Gert Roloffs Arbeit über die Dramen und die Kleinepik die zukünftige Wickramforschung erleichtern.Von größerem Interesse wären Analysen mit einem literaturtheoretischen Ansatz. Meines Wissens haben nur Lugowski und Brock Wickrams Werk unter diesem Aspekt konsequent un-

 Jan-Dirk Müller: Wickram – Ein Humanist?, in: Vergessene Texte – Verstellte Blicke: Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, hg. von Maria E. Müller und Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 21‒39, hier S. 39.  Ebd., S. 26.  Ebd., S. 37.

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tersucht […]. Mit wenigen Ausnahmen fehlt auch ein feministischer Blickwinkel. […] Mit den Frauenfiguren eng verbunden sind Themen wie Liebe, Eheschließung, Familienleben und Kindererziehung. […] Das Gebiet der Sozialrituale ist ergiebig […].⁵

Die damalige Konklusion, hier gekürzt wiedergegeben, kann heute zweifelsohne als überholt betrachtet werden. Es war Anfang der 1990er Jahre (noch) nicht vorauszusehen, dass die Forschungslage 25 Jahre später von einer breiten Palette von Veröffentlichungen geprägt sein würde, die den wissenschaftlichen Kenntnisstand vertieften und erweiterten. Dass die Forschung ständig Neuland betritt, ist ihr Sinn und Ziel. Beachtenswert ist gleichwohl das wachsende Interesse der Literaturwissenschaft an einem Autor, dessen Schaffen, ästhetisch betrachtet, nicht zu den literarischen Höhepunkten des 16. Jahrhunderts zählt und von dessen Hand oder aus seiner Feder kein Autograf überliefert ist. Es gibt keine bekannten Manuskripte von Wickrams Werken, keine Notizen oder Entwürfe, nur Drucke, also auf den Verkauf abgestimmte literarische Produkte mit mehreren an der Herstellung Beteiligten. Wie weit die persönliche Teilnahme Wickrams am Publikationsprozess ging, kann höchstens indirekt, durch Erkenntnisse zu den Arbeitsabläufen in den Druckereien und den dabei mitwirkenden Akteur:innen, erschlossen werden. Alles, was die Forschung bisher über Wickrams Schreiben herausfinden konnte, hat sie fast ausschließlich seinen Publikationen entnommen oder von deren Inhalt abgeleitet. Wenn Georg Wickram beispielsweise in der Widmung zu seiner Bearbeitung von Albrecht von Halberstadts Übersetzung der Metamorphosen Ovids seiner Leserschaft mitteilt, dass er des Lateins nicht kundig sei, jedoch „als eyn selbgewachsner Moler“ den Text „mit Figuren gekleidet“ habe,⁶ gibt es kaum andere Möglichkeiten, als diese Angabe zu seinem Ausbildungsstand mit Hilfe anderer Textstellen in seinen Werken zu verifizieren. Interessant ist, wie seine Aussagen über sich selbst und sein Schreiben gedeutet, vermittelt und immer wieder neu interpretiert werden. Denn inzwischen ist es möglich, dies vor dem Hintergrund eines großen, aber nicht unüberschaubaren Korpus von Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu tun, das sowohl im engeren Bereich zu Georg Wickram und seinem Werk als auch in einem weiteren Kontext des literaturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Schreibens verortet werden kann. Geht man z. B. von seinen vielen Selbstaussagen aus, bei denen es sich häufig um para- oder metatextuelle Kommentare in der „Ich-Form“ handelt, die unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht worden sind, las-

 Elisabeth Wåghäll Nivre: Georg Wickram – Stand der Forschung, in: Daphnis 24 (1995), H. 2‒3, S. 491–540, hier S. 531 f.  Georg Wickram: Sämtliche Werke, Bd. 13/1, hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1990, S. 6.

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sen sich vielfältige Schichten von Analysen und Interpretationen des Schreibens identifizieren, die im Positivismus des 19. Jahrhunderts ansetzen und bis ins 21. Jahrhundert weitergeführt werden. Heutige Forscher:innen haben somit eine Fülle von Kommentaren und Kommentaren der Kommentare zu Wickrams Werk zu berücksichtigen, wenn sie sich mit seinen Texten beschäftigen. Auf diese Weise treten auch Leerstellen zutage, etwa Themen und unkommentierte Textpassagen, in denen der sonst oft redselige und das eigene Schreiben reflektierende Autor Wickram seine Leserschaft und somit die Forschung durch bewusstes oder unbewusstes Schweigen herausfordert, weil er gerade nicht kommentiert, sondern die Leser im Unklaren lässt. Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – u. a. sind nur ausnahmsweise Einträge in Nachschlagewerken und Literaturgeschichten registriert –, sind im Forschungsüberblick von 1995 123 Titel verzeichnet, die im Zeitraum 1904–1994 erschienen sind; darunter gibt es 14 Dissertationen. Nicht alle Texte sind ausschließlich Georg Wickrams Werk gewidmet, bei Weitem nicht alle haben seinen Schreibprozess im Fokus, aber alle setzen sich sowohl mit dem Autor als auch mit seinen Schriften auseinander. Trotz seiner Anonymität in historischen Quellen tritt eine Autorperson hervor, die sehr eng mit ihrem literarischen Werk verbunden ist. Für die Zeit 1994/1995 bis 2021 konnten bisher etwa 125 Artikel und Monografien, darunter knapp zehn Dissertationen, ausfindig gemacht werden. Allerdings sind die Beiträge der einzigen Anthologie, die Wickram gewidmet ist, einzeln gezählt, denn sie bieten einen Überblick über die wissenschaftliche Forschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts.⁷ Das Schreiben über das Schreiben Wickrams hat sich in dieser Zeit rapide vermehrt und verdichtet. Auch wenn Forschungsbeiträge zunehmendes Interesse an der volksprachigen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts dokumentieren, muss festgehalten werden, dass diese Entwicklung durch den digitalen Wandel gefördert und beschleunigt wurde. Sowohl die Recherche als auch die Produktion und Reproduktion von Texten ist seit Anfang der 1990er Jahre auf eine Weise vereinfacht worden, die mit den Anfängen des Buchdrucks mit beweglichen Lettern vergleichbar ist; die Digitalisierung hat die Forschungslandschaft grundlegend verändert.

 Maria E. Müller und Michael Mecklenburg (Hg.): Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, Frankfurt a. M. 2007.

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4 Die Quellenlage Von größter Wichtigkeit für die neuzeitliche bzw. gegenwärtige Wickramforschung ist zweifelsohne Hans-Gert Roloffs 1967 mit dem Prosaroman Galmy begonnene wissenschaftliche Edition von Wickrams Schriften, die 2003 mit der Ausgabe des Losbuchs abgeschlossen werden konnte.⁸ Die Werkausgabe hat die literaturwissenschaftliche Forschung zu neuen Analysen der Spiele und kleineren Schriften Georg Wickrams angeregt und seiner Bearbeitung der Ovidʼschen Metamorphosen mehr Aufmerksamkeit geschenkt.⁹ Leider ist der geplante Realienband zu Hans-Gert Roloffs Wickramausgabe nicht erschienen, sodass nur für den Knaben Spiegel und den Dialog von dem ungeratenen Sohn in Jan-Dirk Müllers 1990 erschienener Ausgabe ein ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar vorliegt.¹⁰ Johannes Boltes und Willy Scheels in der Bibliothek des literarischen Vereins veröffentlichte kommentierte Ausgabe der Wickramʼschen Schriften aus den Jahren 1901 bis 1906 gilt heute als veraltet, war jedoch für die Forschung des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung, nicht zuletzt, weil Originaldrucke begrenzt zugänglich waren.¹¹

4.1 Fragestellungen der Forschung Obgleich sich die Forschung für neue Perspektiven geöffnet hat, kann man zusammen mit Andreas Solbach fragen: „How good is Wickram?“¹² Wäre es nicht angebracht, zu überlegen, was die Forschung leisten kann und soll? Gemeint ist, ob man wie Ursula Kocher die Frage stellen sollte, „ob wir heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, geeignetere Analysemöglichkeiten haben, um uns mit der Be Georg Wickram: Sämtliche Werke, 14 Bde., hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1967–2003.  Hierzu Müller/Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke.  Jan-Dirk Müller (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1990.  Georg Wickram: Werke, hg. von Johannes Bolte und Willy Scheel, Tübingen 1901–1906 (= BLVSt 222, 223, 229, 230, 232, 236, 237, 241). Im Nachwort zum ersten Band (Galmy) in Roloffs Edition werden kurz die Unterschiede zu Boltes Ausgabe erläutert. Vor allem wurde auf die Wiedergabe der originalen Interpunktion und Orthografie Wert gelegt. Hans-Gert Roloffs Ausgabe umfasst auch alle Illustrationen; Wickram: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 307 f. Roloff erwähnt, nach umfangreichen Recherchen weitere Exemplare einzelner Wickram-Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts identifiziert zu haben.  Andreas Solbach: Wiederholungen als literarische Technik bei Jörg Wickram, in: Simpliciana 18 (1996), S. 181‒194, hier S. 181; Martin Baisch: Jörg Wickram begegnet sich selbst. Autorschaft, Wissen und Wiederholung im ‚Irr Reitend Pilger‘, in: Müller/Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke, S. 247‒260, hier S. 247f.

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schaffenheit und Erzählweise von Wickrams Romanen sowie der Funktion der Briefe zu beschäftigen“?¹³ An Forschungsfragen scheint es nicht zu mangeln, aber wie werden sie neu formuliert und wie beantwortet? Haben wir es ungeachtet der vielen Publikationen mit einer gewissen Homogenität in der Forschung zu tun, wie Caroline Emmelius 2011 meint? Mit Blick auf Literaturgeschichten der Nachkriegszeit aus der BRD und der DDR bis zur Wende kommt sie zu dem Schluss, dass jene Untersuchungen „trotz der Differenzen in den Metaerzählungen zum 16. Jahrhundert hinsichtlich der Einschätzung des Wickramʼschen Werks vor allem analoge Narrative zeigen“, und sie spitzt diese Beobachtung ihrerseits zu den Thesen zu: „1) Wickram hat Teil am Prozess der Verbürgerlichung der Literatur (oder steht sogar an ihrem Beginn), 2) er steht für eine Form realistischer Wirklichkeitsaneignung, und 3) er begründet die Gattung des bürgerlichen Romans“.¹⁴ Wenn sich der Fokus von der Literaturgeschichtsschreibung wegbewegt und auf literaturwissenschaftliche Einzelstudien richtet, wird allerdings schnell deutlich, dass die Wickramforschung der letzten zwanzig Jahre sowohl alte Forschungsfragen neu beleuchtet als auch ganz neue Fragen entworfen hat. Hierzu trugen sicherlich die theoretischen Diskussionen in der Literaturwissenschaft der 1980er und 1990er Jahre bei, die für die Wickramforschung zuerst vielleicht am deutlichsten in der Dissertation von Manuel Braun 2001 zu erkennen waren.¹⁵

4.2 Zur Autorschaft des Galmy Noch ungelöst, obwohl schon ausgesprochen, scheint die Frage zu sein, ob Georg Wickram der Autor des anonym erschienenen Prosaromans Galmy aus dem Jahr 1539 ist. Seine Selbstaussagen dazu sind nicht verlässlich. Die Fragestellung kann überhaupt nur indirekt, mit Hilfe anderer von ihm verfasster Texte, untersucht werden. Dieter Kartschoke hat 2002 in einem seitdem häufig zitierten Beitrag vorwiegend aus einer sprachlich-syntaktischen Perspektive gegen Georg Wickrams Autorschaft argumentiert, allerdings ohne dies mit letzter Sicherheit an-

 Ursula Kocher: ,des halben er im entlich für nam, der junckfrawen zu schreiben’. Zur narratologischen Funktion der Briefe in Wickrams Romanen, in: Müller/Mecklenburg:Vergessene Texte – Verstellte Blicke, S. 347‒360, hier S. 348.  Caroline Emmelius: Wickram zwischen Ost und West. Zur Darstellung des 16. Jahrhunderts in Literaturgeschichten der Nachkriegszeit am Beispiel der Romane Jörg Wickrams, in: Entdeckung der Frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750, hg. von Marcel Lepper und Dirk Werle, Stuttgart 2011, S. 159–178, hier S. 163.  Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Tübingen 2001.

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hand der Quellenlage dokumentieren zu können.¹⁶ Das ist an sich nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Galmy immer wieder Georg Wickram zugeschrieben hat, während er selbst die Thematik nicht erwähnt, sie vielleicht selbstgewiss für irrelevant oder sogar uninteressant hielt. Im digitalen Zeitalter existieren indes viele Werkzeuge zur Überprüfung von Autorschaft(en); man denke zum Beispiel an Authorship identification und Attribution, sodass hier eine Forschungslücke entstanden ist, die mit Hilfe digitaler Tools überprüft und vielleicht gefüllt werden könnte, um die von Ursula Kocher angesprochenen Analysemöglichkeiten weiterzuentwickeln und die Forschungslage weiterzuschreiben. Anstatt zu fragen, ob Georg Wickram der Autor des Galmy war oder nicht, wäre es dann vielleicht interessanter zu erfahren, wer den Text sonst noch geschrieben haben könnte, in welchen literarischen und soziokulturellen Milieus er entstand, welche Rezeptionen er erfuhr usw. Der Verlag De Gruyter hat 2017/2018 Hans-Gert Roloffs kritische Ausgabe als Faksimilie digital zugänglich gemacht (allerdings noch lizenziert und kostenpflichtig). Wenn die Texte in Zukunft maschinenlesbar (im Sinne ihrer digitalen Durchsuchbarkeit und Bearbeitung) gemacht werden könnten, würden sich neue Wege zur Texterschließung ergeben, die im Rahmen dieses Beitrags aber nicht weiter diskutiert werden sollen.

4.3 Konfessionelle Zugehörigkeit Lässt sich die Autorschaft des Galmy nicht mit Selbstaussagen Georg Wickrams klären, so ist seine Schweigsamkeit in Fragen seiner konfessionellen Überzeugung oder Zugehörigkeit nahezu total. Auch die Forschungsbeiträge zu diesem Thema sind überschaubar. Meine eigenen Überlegungen dazu stammen aus den frühen 1990er Jahren, als ich dafür argumentiert habe, Georg Wickrams Einstellung sei vor allem von der Straßburger Reformation geprägt gewesen und als ein zurückhaltender pro-refomatorischer Glauben zu beschreiben, ohne dass bewiesen werden konnte, dass er jemals die katholische Kirche verlassen hätte.¹⁷ Zuvor hatte Ingeborg Spriewald 1971 ihn mit den Wiedertäufern in Verbindung gebracht,¹⁸ während Hannes Kästner in den 1980er Jahren die These vertrat,

 Dieter Kartschoke: Ritter Galmy vß Schottenland und Jörg Wickram aus Colmar, in: Daphnis 31 (2002), H. 3–4, S. 469–489.  Elisabeth Wåghäll: Die Reformation der Frühen Neuzeit. Glaubensspaltung im Werk von Georg Wickram, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 23 (1993), H. 89, S. 121–137.  Ingeborg Spriewald: Jörg Wickram und die Anfänge der realistischen Prosaerzählung in Deutschland, Diss., Potsdam 1971.

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Wickram sei sein Leben lang dem Katholizismus treu geblieben.¹⁹ Kästner hat sich Mitte der 1990er Jahre in einem Artikel zur Anti-Alkoholismusdebatte des 16. Jahrhunderts erneut zu Wickrams konfessioneller Ausrichtung geäußert. Die Diskussion wurde jedoch hauptsächlich in zwei ausführlichen Fußnoten geführt, und Kästner blieb letztlich bei seinen früheren Aussagen.²⁰ Man könnte sich fragen, ob das Thema damit erschöpfend behandelt sei, denn auch Wolfgang Neuber bemerkt nebenbei in einem Beitrag zu Georg Wickrams Metamorphosen, dass dieser seinen katholischen Glauben wohl nicht aufgegeben habe. Seine Argumente lauten, Colmar sei katholisch geblieben, die Metamorphosen wären in der katholischen Stadt Mainz gedruckt worden und die Vorrede hätte der katholische Kleriker Gerhard Lorichius verfasst.²¹ Im selben Band hob Maria E. Müller hervor, dass gerade fehlende biografische Belege und die Abwesenheit deutlicher innertextlicher Aussagen von Georg Wickram eine Festlegung seiner konfessionellen Zugehörigkeit kaum möglich erscheinen ließen.²² Marianne Schultz griff das Thema in einer Dissertation aus dem Jahr 2008 kurz auf und kam zu dem Schluss, Georg Wickram bekenne sich zum reformatorischen Gedankengut, und seine Glaubensausrichtung sei mehr von Pragmatik als Dogmatik geprägt.²³ Wegen der unzureichenden Quellensituation blieb aber auch sie eine abschließende Antwort schuldig. Ihre Argumentation führte zusammen mit den oben genannten Stellungnahmen und Kommentaren zur Frage, ob es überhaupt sinnvoll sei, Antworten zu suchen, wenn definitive Aussagen so offenbar fehlten, besonders, wenn man sich Maria Müllers Einschätzung anschlösse, dass „Festlegungen […] offenbar peinlich vermieden werden“.²⁴ Nicht selten ist in diesem Zusammenhang vom „Publikationszwang“ der Forscher:innen im aktuellen Wissenschaftsbetrieb

 Hannes Kästner: ‚Der irr reitend Pilger‘. Jörg Wickrams Reisephantasien und das Ende der Pilgerfahrt, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 36 (1986), S. 380–398.  Hannes Kästner: ‚Der Irrgänger im Schwarzwald‘. Jörg Wickrams Dialog von der Trunkenheit und die literarische Anti-Alkoholismus-Kampagne im 16. Jahrhundert, in: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Neue Studien, Walter E. Schäfer zum 65. Geburtstag gewidmet, in: Chloé 22 (1995), S. 75–102, bes. S. 79, Anm. 8 und S. 95, Anm. 55.  Wolfgang Neuber: Prekäre Theologie. Textsemantik und Bildsemantierung am Beispiel von Wickrams erstem Bild seiner Metamorphosen, in: Müller/Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke, S. 185–197, hier S. 185, Anm. 2.  Maria E. Müller: Einleitung, in: dies./Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke, S. 9– 19.  Marianne Schultz: Ökonomie, Geld und Besitz in den Werken Wickrams / Economy, Money, and Property in Wickram’s Works, Dissertation, Saarbrücken 2008, unter: https://publikationen. sulb.uni-saarland.de/bitstream/20.500.11880/23577/1/Wickram20081031.pdf (letzter Zugriff 31.03. 2022).  Müller: Einleitung, S. 11.

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die Rede ‒ was zurückverweist auf eine grundsätzliche ‚Gefahr‘ von historischer Forschung, nämlich dass Wissenschafler:innen ein Forschungsproblem konstruieren, das für Wickram (bzw. die historischen Subjekte) womöglich gar kein ‚Problem‘ war oder das sich im spezifischen Kontext Colmars ganz anders dargestellt haben kann, als wir heute vermuten.Vielleicht werden sogar Festlegungen ‚peinlich vermieden‘, damit der wissenschaftliche Diskurs am Laufen bleibt oder sie lassen sich deswegen nicht treffen, weil man der Schnelligkeit des Diskurses kaum noch hinterherkommt? In jedem Falle wissen wir nicht zweifelsfrei, ob wir uns nicht durch das Schreiben über die Frage nach der konfessionellen Zugehörigkeit Wickrams in eine Sackgasse manövriert haben, aus der am Ende keine Schreibprozesse wieder herausführen werden.

4.4 Die Metamorphosen Ganz anders hat sich die Forschung zu einem Text verhalten, der im oben genannten Forschungsüberblick aus dem Jahr 1995 noch als Forschungsdesiderat identifiziert wurde: Georg Wickrams Ausgabe von Ovids Metamorphosen. Wie schon erwähnt, handelt es sich um eine Bearbeitung der mittelalterlichen Fassung der Metamorphosen Albrechts von Halberstadt, die von dem katholischen Geistlichen Gerhard Lorichius kommentiert und 1545 bei Ivo Schöffer in Mainz gedruckt wurde. Erst Hans-Gert Roloffs Edition von 1990 hat den Text und die dazu gehörenden Holzschnitte von Georg Wickram in ihrer Vollständigkeit zugänglich gemacht und damit neue Fragestellungen angeregt, denn seitdem gehört die Metamorphosen-Ausgabe zu seinen besonders häufig interpretierten Schriften. 1997 erschien eine Dissertation von Brigitte Rücker, die durch eine eingehende Erläuterung der fragmentarischen Überlieferungen sowohl der Übersetzung Albrechts von Halberstadt als auch der Kommentare Georg Wickrams in Widmung und Vorreden „das Verhältnis von Wickrams Metamorphosen zu Ovids Text“ untersucht.²⁵ Sie kommentiert auch kurz das Bildprogramm der Holzschnitte, ihre Thematik, Funktion und Darstellungsweise. In neueren Forschungsbeiträgen wird unter anderem die Komplexität der Text-Bild-Verhältnisse untersucht und ausführlich erläutert.²⁶ In der oben genannten, 2007 erschienenen Anthologie, wer-

 Brigitte Rücker: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997, S. 27.  Zur Ikonografie Peter Schmidt: Literat und ‚selbgewachsner Moler‘. Jörg Wickram, der deutsche Prosaroman der Frühen Neuzeit und prosaische Bilder, in: Künstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der Europäischen Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller, Berndt Hamm und Andreas Tönnesmann, Wiesbaden 2006, S. 143‒194.

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den Georg Wirkrams Illustrationen zu den Metamorphosen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und in weiteren Beiträgen die Bearbeitung der Metamorphosen thematisiert.²⁷ Auch Christiane Hansens 2012 veröffentlichte Dissertation Transformationen des Phaeton-Mythos in der deutschen Literatur erörtert die Bedeutung der Abbildungen für das Textverständnis am Beispiel des Holzschnittes zur Phaeton-Erzählung, der sowohl „den Handlungsablauf als auch das Verhältnis der einzelnen Handlungsteile zueinander“ darstellt.²⁸ Die neuere Forschung hat in der Bearbeitung eines bekannten Werkes der Antike, die für Georg Wickram, den niederen elsässischen Beamten, wohl eine größere Herausforderung gewesen sein wird, seine Leistung wahrgenommen und anerkannt. Es geht nicht mehr um vereinfachtes Epigonentum oder sprachlich-stilistische Bemängelung eines ungelehrten Autors, sondern um dessen Errungenschaften – und dies betrifft sowohl Text als auch Bild. Bezogen auf Georg Wickram stellt unter anderem Regina Toepfer fest: Diese Überschneidung von Antikenrezeption und eigener Dichtkunst erscheint mir fü r die Frage nach einer frü hneuzeitlichen Poetik sehr aufschlussreich. Weil sich die drei Autoren nicht primär Ovids Diktion verpflichtet fü hlten, konnten sie verstärkt Akzente setzen und ein eigenes literarisches Konzept entwickeln. Man kann von einer Antikenrezeption auf zweiter Stufe sprechen, die sich graduell von humanistischen Übersetzungen im engeren Sinne unterscheidet und durch die gesteigerte Distanz zum Ausgangstext eine größere Freiheit zur poetischen Gestaltung gewinnt.²⁹

Sowohl Regina Toepfer als auch Manfred Kern, Daniel Pachurka und Arne Schumacher haben die Wickramforschung in dieser Hinsicht essenziell bewegt.³⁰  Hierzu die Beiträge von Anna Schreurs, Wolfgang Neuber und Hubertus Fischer, wie auch Lena Behmenburg und Andrea Sieber in: Müller/Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke.  Christiane Hansen: Transformationen des Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur, Berlin/Boston 2012, S. 51.  Regina Toepfer: Veranschaulichungspoetik in der frühneuhochdeutschen Ovid-Rezeption. Philomelas Metamorphosen bei Wickram, Spreng und Posthius, in: Humanistische Antikenübersetzung und Frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450‒1620), hg. von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kü hlmann, Jan-Dirk Mü ller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt, Berlin/ Boston 2017, S. 383‒407, hier S. 385.  Ebd.; Regina Toepfer: Vom Liebesverbot zum Leseverbot. Die deutsche Rezeption von Pyramus und Thisbe in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit. Beiträge zur dritten Arbeitstagung in Wissembourg/ Weißenburg, Jahrbuch für Internationale Germanistik 139 (2015), S. 211–234; dies.: Ovid und Homer in ‚Teutschen Reymen‘. Zur Bedeutung humanistischer Antikenübersetzungen für die Versepik der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 46 (2018), H. 1‒2, S. 85‒111; Manfred Kern: Metáphrasis und Metaphorá. Über emblematische Verfahren in den deutschen Übersetzungen antiker Groß-

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Elisabeth Wåghäll Nivre

Wenn Pachurka und Schumacher sich dem Konzept des Buches ausgehend von Wickrams Metamorphosen-Bearbeitung nähern und über die Paratexte Deutungsangebote definieren, findet man sowohl eine Akzeptanz von Wickrams Schreiben als Position ‚dazwischen‘ ‒ d. h. zwischen gelehrter (lateinischer) und unterhaltender Literatur in der Volkssprache des 16. Jahrhunderts ‒ als auch für neue theoretische Ansätze bei der Erforschung frühneuzeitlicher Literatur, die diese Arten von Fragestellungen erst ermöglichen.

5 Abschluss Wenngleich Caroline Emmelius in der Literaturgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit häufig noch „analoge Narrative“ des Wickramʼschen Werkes ausfindig machte, ist die literaturwissenschaftliche Forschung zu Wickrams Schaffen heute wesentlich differenzierter geworden. Fruchtbar ist die Wickramforschung vor allem, weil sie sich so deutlich in eine Richtung theoretisch fundierter Interpretationen bewegt, bei der das Interesse an der historischen Person Georg Wickram in den Hintergrund tritt, seine Position und Funktion als Autor jedoch perspektivenreich beleuchtet wird. Harald Haferland hat 2007 dafür wichtige Impulse gesetzt.³¹ Allerdings sollte man Andreas Solbachs zugespitzt formulierte Frage von 1996 nicht aus dem Blick verlieren („How good is Wickram?“), denn sie weist auf die Gefahren der Überinterpretation hin. Die anfangs gestellte Frage, was die Forschung kann und will, sollte ernst genommen werden. Vielleicht ist es die Aufgabe der zukünftigen Wickramforschung, „Sackgassen“ zu identifizieren, kritisch und selbstkritisch zu hinterfragen, denn es sollte doch darum gehen, zu bestimmen, wo die Grenzen der Forschung gezogen werden können und sollen. Was wir über Wickram wissen, was uns an ihm bewegt und aufrütteln kann, d. h., wie ‚gut‘ er und seine Texte ‚sind‘, hängt schließlich nicht nur von seinem Schreiben ab, sondern auch von dem seiner Interpret:innen – und ihren Forschungsbeiträgen und Schreibprozessen.

epik (Minervius Odyssea und Wickrams Metamorphosen), in: Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450‒1620), hg. von Johannes Kipf, Jörg Robert und Regina Toepfer, Berlin 2017, S. 287–311; Daniel Pachurka und Arne Schumacher: Verenderung der Gestalten. Das Buchkonzept von Jörg Wickrams Ausgabe der ‚Metamorphosen‘ Ovids (1545) im Spiegel der Götterdarstellung, in: Frühmittelalterliche Studien 53 (2019), H. 1, S. 383–401.  Harald Haferland: Gibt es einen Erzähler bei Wickram? Zu den Anfängen modernen Fiktionsbewusstseins. Mit einem Exkurs: Epistemische Zäsur, Paratexte und die Autor/Erzähler-Unterscheidung, in: Müller/Mecklenburg: Vergessene Texte – Verstellte Blicke, S. 361–394.

II Geschlecht und Schreibszenen im 17. und 18. Jahrhundert

Martin Klöker

VerDichtung in der verbotenen Liebeskorrespondenz des 17. Jahrhunderts – Produktive Aneignung, Bearbeitung und Plagiat im Schreibprozess 1 Einleitung Liebesbriefe des 17. Jahrhunderts sind bekanntlich in der Regel nicht privat und ‚intim‘, sondern gehörten innerhalb der frühneuzeitlichen Eheanbahnung durchaus in den familiären Kontext, wurden also im Kreis der Familie vorgelesen und an Freunde oder Bekannte weitergereicht.¹ Für den Briefwechsel, der im Folgenden genauer betrachtet werden soll, gilt dies jedoch nicht, denn es handelt sich um eine verbotene Liebesbeziehung zwischen einem verheirateten Mann, dem Sekretär der Estländischen Ritterschaft Caspar Meyer, und einer ledigen Kaufmannstochter Catharina von der Hoyen. Der Briefwechsel liegt vollständig ediert und kommentiert vor,² sodass hier lediglich die grundlegenden Informationen für den Hintergrund ausreichen mögen: Caspar Meyer, geboren um 1605 in Rostock, war seit 1634 Sekretär der Estländischen Ritterschaft und des Oberlandgerichts in Reval (estn. Tallinn). Er hatte ab Februar 1622 in Rostock und anschließend ab Oktober 1623 in Kopenhagen studiert und war dann zu unbe-

 Die Kenntnisse über den deutschen Liebesbrief des 17. Jahrhunderts sind bisher (auch mangels aussagekräftiger Quellen) noch mehr als fragmentarisch. In der üblichen Gattungsdifferenzierung besitzen die Briefe von Caspar und Catharina Merkmale eines Brautbriefs (zwischen Verlobung und Hochzeit) und eines Buhlbriefs (werbend, anbahnend). Sie sind zwar (definitiv) keine Ehebriefe, besitzen aber zum Teil auch einen solchen Charakter. Grundlegend und mit der weiterführenden Literatur zum Brief Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel (Hg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin/ Boston 2020. Speziell zum Liebesbrief darin Andrea Hübener, Jörg Paulus, Renate Stauf: Liebesbrief/Erotischer Brief, ebd., S. 505–514 und Roman Lach: Der Brautbrief, ebd., S. 515–523; ferner Regina Dauser: Brieftheorie der Frühen Neuzeit, ebd., S. 665–674. Bezeichnenderweise fehlt im Abschnitt zum 16./17. Jahrhundert (wie auch beim 18. Jahrhundert) eine Darstellung zum (handels‐)bürgerlichen Brief. Der Abschnitt zum Bürgerbrief von Michaela Fenske (ebd., S. 497‒ 504) betrifft hingegen nicht den bürgerlichen Privatbrief, sondern die „Praxis des Schreibens der Bevölkerung an politische Machthabende“ (ebd., S. 499).  Martin Klöker: Caspar und Catharina. Eine Revaler Liebe in Briefen des 17. Jahrhunderts, Münster 2020. Auf die dortigen Nummern der Briefe wird hier im Text verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783110792447-007

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kannter Zeit nach Rostock zurückgekehrt. Seit etwa 1629 war er verheiratet mit Sophia Dobbin, einer ungefähr 10 Jahre älteren Witwe eines Rostocker Juristen und Universitätsprofessors, die fünf Kinder mit in die Ehe gebracht hatte. Die neue Ehe mit Caspar blieb kinderlos und war offensichtlich schon bald zerrüttet. Lange Zeit war Caspars Frau dann gar nicht in Reval anwesend, sondern lebte in Rostock bei einer Tochter.³ Die Familie war 1632 von Rostock nach Reval gekommen, und gleich zu Beginn muss Caspar im Haus des Iwan von der Hoyen dessen Tochter Catharina kennengelernt haben. Etwa 1621 geboren, war sie rund 15 Jahre jünger als er. Der erste erhaltene Brief von Catharina an Caspar vom 31. Juli 1637 ist zugleich ein Beleg für eine mehr als nur freundschaftliche Beziehung. Mit Caspars Tod Anfang 1654 endet auch die unglückliche Liebesbeziehung. Der Briefwechsel führt jedoch nur bis in das Jahr 1652: Überliefert sind insgesamt 102 Briefe, davon 84 von Caspar und 13 von Catharina sowie zwei Briefe von Caspar an Catharinas Vater, ein Brief von Catharinas Mutter an Caspar (Nr. 090) und ein Gedicht auf Catharina von einem Freund Caspars (Nr. 062) sowie ein altes Protokollfragment von Caspar (Nr. 084). Mit Ausnahme des niederdeutschen Briefes von Catharinas Mutter handelt es sich sämtlich um Briefe in hochdeutscher Sprache. Die Besonderheit dieses vertraulichen Briefwechsels ist die kommunikative Situation, denn die Briefpartner lebten meistens ganz nah beieinander und begegneten sich täglich. Aber die Liebesbeziehung durfte nicht öffentlich werden. Zeitweise gab es in der Stadt sehr konkretes Gerede und sogar Vorwürfe von Seiten der Prediger, sodass besondere Vorsicht im persönlichen Umgang miteinander notwendig war. Beim Zusammentreffen in der Öffentlichkeit standen sie unter Beobachtung und konnten nicht offen reden. Zweisamkeit war ebenfalls sofort verdächtig, sodass ‚öffentliche‘ Begegnungen von Verstellung geprägt waren; nur im Verborgenen war ein Treffen möglich, bei dem die Rede vertraulich sein konnte. Doch das gelang häufig nicht. Deshalb mussten die Briefe die Funktion des vertrauten Gesprächs übernehmen – aber eben nur, wenn das persönliche Gespräch nicht möglich war. So liegt im Hinblick auf die Kommunikation unter den Liebenden kein ‚vollständiger‘ Briefwechsel vor, da es zwischenzeitlich Gespräche gegeben haben konnte, auf die ein Brief reagiert oder über die im Brief hin und wieder Hinweise zu finden sind. Nicht selten fungieren die Briefe dabei als Erklärung und Entschuldigung für Verwirrungen, die durch vermeintlich feind-

 Ebd., S. 324 f.

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seliges Auftreten in der Öffentlichkeit hervorgerufen wurden. Darüber hinaus sind nachweislich nicht alle Briefe erhalten.⁴ Bietet der Briefwechsel an sich bereits ein fruchtbares Feld, um die Schreibprozesse zu analysieren, die unter diesen besonderen Umständen immer wieder selbst thematisiert wurden,⁵ so soll hier jedoch der Fokus auf die in der Korrespondenz enthaltenen Gedichte und Verse gelegt werden. Sie sind eine weitere Besonderheit dieses Briefwechsels und führen uns näher an das literarische Schreiben und seine Funktionen im 17. Jahrhundert. Wenn „das Gedicht verdichtet“, wie Robert Gernhardt eine grundlegende Funktion von Poesie in seinem Gedicht Lustiger Dichter auf den Punkt gebracht hat,⁶ dann ist die Frage, ob hier in der Dichtung zugleich eine „Verdichtung“, also eine Komprimierung von Semantik und Syntax zum Zweck der sprachlichen Konzentration auf das Wesentliche, zu finden ist. Besitzen die Gedichte und Verse im Liebesbrief (oder als Liebesbrief) eine andere, höhere emotionale und sprachliche Qualität und Intensität? Es ist zu prüfen, wie Verse oder Gedichte hier einmontiert werden und welche Funktion ihnen in der Korrespondenz zukommt.

2 Die Gedichte In insgesamt 16 Dokumenten spielt Dichtung eine Rolle. Allerdings sind nur von Caspar Verse oder Gedichte im Brief geschrieben worden. Von Catharina, die am Beginn des Briefwechsels von sich selbst sagt, sie sei ganz ungeübt im Briefeschreiben, und deshalb für ihren Brief (Nr. 002) um Nachsicht bittet, gibt es nichts dergleichen. Leider ist in den Briefen von Catharina auch nicht die geringste Äußerung über die Gedichte von Caspar zu finden, sodass die Frage der Wirkung dieser Schreibweise bei ihr weitgehend unbeantwortet bleiben muss. Allerdings darf grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Catharina daran Gefallen

 Beispielsweise ist in Caspars Brief Nr. 065 der Empfang eines – nicht erhaltenen – Briefes von Catharina erwähnt, auf den Caspar nun antwortet.  So z. B. Störungen beim Schreiben durch die Anwesenheit von bestimmten Personen (Nr. 003, 041, 073) oder Probleme beim Schreiben durch eine Verletzung am Finger (Nr. 088), Kürze des Briefs wegen Eile (Nr. 003, 029).  Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte 1954–2006, Frankfurt a. M. 2008, S. 382; hierzu auch Tobias Glodek: Robert Gernhardt als Theoretiker und Lyriker. Erfolgreiche komische Literatur in ihrem gesellschaftlichen und medialen Kontext, Münster 2009, S. 466 f.

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fand. Sonst hätte Caspar zweifellos nicht jahrelang weiter Gedichte an sie geschrieben. Caspar war ein juristisch geschulter und erfahrener Sekretär, ein Gelehrter, der in Schule und Universität auf lateinischer Basis die Rhetorik erlernt hatte. Dazu gehörte natürlich auch das Verfassen von Briefen und Gedichten, wobei Briefe, wie überhaupt das Schreiben, gewissermaßen das Alltagsgeschäft von Caspar waren.⁷ Aus seiner Rostocker Zeit ist ein einziges Gelegenheitsgedicht von ihm bekannt. Es wurde 1630 in lateinischer Sprache in einer Sammelschrift auf den Tod eines Studenten gedruckt und kann eher als eine Pflichtübung angesehen werden.⁸ In Reval erschien von ihm nichts in gedruckter Form. An der genau zu seiner Zeit – mit maßgeblicher Unterstützung durch Paul Fleming – in Reval aufblühenden Gelegenheitsdichtung auch in deutscher Sprache war er in keiner Weise beteiligt, obwohl er in der Stadt mit gelehrten Dichtern befreundet war.⁹ Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst umso erstaunlicher, dass er in seinen Briefen an Catharina relativ häufig Verse und Reime in deutscher Sprache verwendete. Catharina war jedoch gewiss nicht des Lateinischen mächtig, sodass Caspar sich nur in deutscher Sprache in Prosa und Vers an sie richten konnte.¹⁰ Darüber hinaus ist festzuhalten, dass in diesem Fall ein literarischer Anspruch nicht im öffentlichen Sinne vorauszusetzen ist. Caspar war kein Dichter, und seine Briefgedichte an Catharina waren angesichts der Umstände keinesfalls zur Veröffentlichung bestimmt. Gleichwohl können sie „auch als Unterhaltungs- und Verführungsmittel“ dienen oder auf eine „moralische Wirkung“ zielen, sowie die bereits in den antiken Vorbildern bei Horaz und Ovid angelegte „Affinität zur

 Instruktiv vor allem für die Brieftheorie der Zeit und die generelle Bedeutung des Briefs für einen Sekretär Kirsten Erwentraut: Briefkultur und Briefsteller – Briefsteller und Briefkultur, in: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, hg. von Albert Meier, München 1999, S. 266–285, 627–632.  Abdruck des Gedichts mit Übersetzung bei Klöker: Caspar und Catharina, S. 25 f.  Zum gesamten Hintergrund vgl. Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Teil 1: Darstellung, Teil 2: Bibliographie der Revaler Literatur. Drucke von den Anfängen bis 1657, Tübingen 2005. Zu Caspars Freunden gehörten z. B. der Gymnasialprofessor, später Rektor Heinrich Arninck (1610–1662) und der Stadtsekretär, später Syndikus und schließlich Bürgermeister Bernhard zur Bech, nobilitiert als von Rosenbach (1600–1661); hierzu auch die Angaben in den Briefen bei Klöker: Caspar und Catharina.  Erst am Beginn des 18. Jahrhunderts wurde Anna Sidonia Morian (*1689 † nach 1715), die Tochter des Revaler Poesieprofessors und Rektors am Gymnasium Christian Eberhard Morian als lateinkundige Jungfer berühmt; Annika Ström: En katt bland hermeliner. Anna Sidonia Morians tal i de lärde männens republik, in: Lärda samtal: en festskrift till Erland Sellberg, hg. von Emma Hagström Molin und Andreas Hellerstedt, Lund 2014, S. 119–134.

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Gelegenheitsdichtung […] und die Möglichkeit zur Selbstdarstellung“ aufweisen, die Julie Prandi für das literarische Genre konstatiert.¹¹ Unterteilt man die 16 Dokumente im Hinblick auf den relativen Anteil der Dichtung, so sind zunächst neun Briefe (Nr. 001, 006, 007, 047, 050, 062, 091, 094– 095, 096) hervorzuheben, die aus einem selbstständigen Gedicht bestehen, also als „Briefgedicht“ bezeichnet werden können, wobei in zwei Fällen (Nr. 007, 091) eine kleine Prosa-Nachschrift vorhanden ist. Von diesen neun Briefgedichten fallen zwei jedoch heraus: Bei dem einen (Nr. 062) handelt es sich um das eigenhändige Gedicht von Caspars Freund Johannes Crusemarck auf Catharinas Namenstag. Hier ist Caspar selbst gar nicht direkt beteiligt. Ein zweites (Nr. 096) ist zwar von Caspar eigenhändig geschrieben, benennt aber eine Anna Ovena Meyer – vorgeblich Caspars Mutter – als Autorin. Bei diesem handelt es sich jedoch um eine geringfügig bearbeitete Fassung eines Gedichts von Anna Ovena Hoyer, das 1650 in Stockholm im Druck erschien. Fünf Briefe enthalten ein Gedicht oder Verse eingebettet in den Prosabrief (Nr. 008, 024, 027, 030, 037). In einem weiteren Fall sind Verse bzw. eine Gedichtstrophe ohne Kontext auf einem anderen Schreiben notiert (Nr. 082). Darüber hinaus ist einmal (Nr. 003) die Arbeit an einem Gedicht erwähnt, das nicht rechtzeitig fertig wurde. Die Gedichte verteilen sich ohne besondere Schwerpunkte, aber natürlich mit Schwankungen auf den gesamten Briefwechsel, jedenfalls soweit er erhalten ist. Da nachweislich mehrere Briefe verloren sind, kann nur vermutet werden, dass Gedichte und Verse auch darin enthalten waren. Allerdings dürften genau diese Briefe mit Versen und besonders Briefgedichte doch eher für bewahrenswert angesehen worden sein. Insofern kann wahrscheinlicher davon ausgegangen werden, dass der heute überlieferte Bestand im Hinblick auf die Dichtung eine Konzentration aufweist.¹² Die Umfänge der Gedichte und Verse reichen von sechs Versen bis zu 132 Versen. Wenig überraschend sind die in den Briefen enthaltenen, also unselbst Julie Prandi: Brief-Gedichte und Heroiden, in: Strobel u. a.: Handbuch Brief, S. 452–462, hier S. 452, 455.  Eine Art der ‚Vernichtung‘ von Briefen wird in der Korrespondenz thematisiert. Dazu ist wichtig zu wissen, dass die beiden eine gemeinsame „Lade“ (eine abschließbare Truhe) hatten, die eigentlich Caspar gehörte und während seiner Abwesenheiten bei Catharina verwahrt wurde. In dieser wurden offenbar alle Briefe und weitere gemeinsame Gegenstände von persönlichem Wert (Zeugnisse ihrer Liebe) aufbewahrt. So fordert Catharina etwa in Brief Nr. 025 (nach Anfang August 1642) ihre Briefe aus der Lade zurück. In Brief Nr. 028 (bald darauf) möchte Caspar seine Briefe von ihr zurück; von ihren Briefen hat er nur noch wenige, weil sie die meisten bereits aus der Lade an sich genommen habe. Da der heutige Bestand vermutlich allein auf dem Inhalt der Lade beruht, führte das Herausnehmen schließlich zum Verlust.

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ständigen Verse und Gedichte mit sechs bis 40 Versen deutlich kürzer, während die selbstständigen Gedichte zwischen 18 und 132 Verse aufweisen und auch strophisch verfasst sein können. Überhaupt ist die optische Gestaltung der selbstständigen Gedichte meistens anspruchsvoller. Das hängt freilich mit dem Geschenkcharakter dieser Briefe zusammen, der immer wieder auch von Caspar erwähnt wird. Am deutlichsten und am besten greifbar ist dies beim sogenannten ‚Bindebrief‘, wie Caspar ihn selbst nennt. Gedichte zum Geburts- und Namenstag wurden so bezeichnet, weil sie den Brauch des ‚Anbindens‘ sprachlich gestalten: Zusammen mit dem Gedicht wurde ein schönes Band geschenkt, das um den rechten Arm gebunden werden musste.¹³ Auch bei dem lediglich erwähnten, nicht rechtzeitig fertig gewordenen Gedicht handelt es sich um einen solchen Bindebrief, den Caspar Catharina zum Namenstag schenken wollte. Ob das Gedicht irgendwann nachgeliefert wurde, ist dem Briefwechsel nicht zu entnehmen. Insgesamt fünf solche „Bindebriefe“ hat er ihr geschenkt (Nr. 001, 006, 047, 050, 091); auch das Gedicht von Caspars Freund Johannes Crusemarck an Catharina ist ein solcher Bindebrief. In diesen Fällen liefert also der Namenstag den konkreten Anlass für das Gedicht. Ähnlich verhält es sich bei einem Neujahrsgedicht. Beide Anlässe gehören zu den üblichen Gelegenheiten, die von vielen Dichtern mit Gelegenheitsgedichten handschriftlich oder gedruckt bedacht wurden. Deshalb wurden die Verse auf diese Anlässe von Caspar auch nicht in einen Brief integriert, sondern im Sinne eines Geschenks selbstständig übergeben und höchstens mit einem kleinen Kommentar und Gruß versehen.¹⁴ Anders als diese entsprangen die übrigen, also die unselbstständigen Gedichte und Verse in Caspars Briefen, keinem gängigen Anlass für Casualcarmina, sondern waren in der unglücklichen Liebesgeschichte begründet. Es handelt sich dabei ausschließlich um Trost- und Trauerverse, die funktional eingesetzt werden, um die im jeweiligen Brief geschilderte Gefühlslage zu veranschaulichen. Lediglich in einem Fall (Nr. 007) hat Caspar die selbstständige Form für einen solchen persönlichen Bezug auf sein Leid gewählt. Aber in diesem Fall wird das Gedicht durch den Titel Eines getreuen Liebhabers, der leider von seiner Liebsten

 Zum Namenstags-Brauch und zum Bindegedicht vgl. Klöker: Literarisches Leben, S. 552–554 mit weiteren Nachweisen. Die ‚Bindebriefe‘ von Caspar weisen in der Regel neben einem gezeichneten Arm oder einer Hand einen Einschnitt im Papier auf, durch den das (nicht mehr vorhandene) Band gezogen war.  Strobel: Brief als Gabe, in: Strobel u. a.: Handbuch Brief, S. 254–268 legt dar, dass freilich jeder Brief an sich als ‚Geschenk‘ anzusehen ist. Insofern geht es hier um den deutlich erhöhten Wert durch Versifizierung und (ggf.) optische bzw. materiale Gestaltung. Dabei spielt selbstverständlich die Materialität des Briefes eine Rolle; Katrin Henzel: Materialität des Briefs, in: ebd., S. 222–231.

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fast verstoßen, höchliche Betrübnis sogleich über die individuelle und subjektive Dimension hinaus ins situativ allgemein Menschliche gerückt. Der Text selbst ist – in der Ich-Form und mit der Anrede an die Liebste – eine eindringliche Klage über die vermeintliche Verstoßung und eine Schilderung seiner Leiden. So entsteht eine bemerkenswerte Kombination, ein Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz. Die subjektive Anklage wird im kunstvollen Elaborat verdichtet und verstärkt sowie durch die Präsentation als Gedicht zugleich entpersonalisiert und objektiviert. In einer Nachschrift entschuldigt Caspar sich dafür, ihr diese Worte zugeschrieben zu haben. Er könne nicht anders, weil sein Herz betrübt und wehmütig über ihre Unfreundlichkeit gewesen sei. Aber diese Anklage wird sogleich wieder relativiert, indem er sich nun dafür entschuldigt: Wenn es falsch war, ihr dies alles zu schreiben, dann bitte er um Vergebung und wolle auf jede Weise büßen, um nur wieder ihre Gunst zu erlangen. – Ein Hin und Her, ein Sowohl-als-auch, das sich bewusst der Besonderheit dichterischer Sprache und Form bedient. Hätte Caspar diese Anklage stattdessen in Prosa als Brief in persönlicher Anrede an Catharina verfasst, wäre es kaum möglich gewesen, die subjektive Klage sogleich zu relativieren und zu entschuldigen. Die artifizielle Ausgestaltung und Verallgemeinerung durch den Titel sowie der ‚Geschenkcharakter‘ des Gedichts (als Artefakt) bewirken jedoch eine zwar besser nachfühlbare, aber weniger aufdringliche Vermittlung von Leid und Verärgerung. Wie zu sehen ist, können die von Caspar selbst geschriebenen Kommentare zu seinen Gedichten eine Erklärung oder zumindest nähere Aufschlüsse für das dichterische Schreiben in der brieflichen Kommunikation liefern. Bei dem zweiten selbstständigen Gedicht mit einer Nachschrift (Nr. 091) wird allerdings nicht auf den Text eingegangen, sondern die Beilage erklärt, denn anstatt des beim Bindebrief obligatorischen Bandes schenkt er hier Geld, mit dem Catharina etwas „ihr Dienliches“ kaufen könne. Ergiebiger sind hingegen die erklärenden Worte bei den unselbstständigen Gedichten, die Klage, Trost und Traurigkeit zeigen.Von seinem ‚Klaggedicht‘ (Nr. 008) sagt Caspar, er habe es heute in Traurigkeit abgefasst, und es werde zeigen und belegen, wie traurig und melancholisch er sei. Ein Trauergedicht (Nr. 027), das er immerzu für sich wiederholt, dichtet und überreicht er ihr zum Abschied, als die Beziehung zu Ende zu sein scheint. Ein weiteres Trauergedicht (Nr. 030) habe er „dieser Tage […] in Trübnis gesetzt und erdichtet“, denn er hoffe nun auf himmlische Freuden, weil ihm ohne ihre Freundschaft und Gunst nichts helfen und guttun werde. Das Gedicht gipfelt in den Versen „Der hatt den geist dahin gegeben/ Den seine liebste bracht vmbß leben.“ Und Caspar erläutert: „Dieseß mein trauwrgedicht, wollen Ewr: tugend: Nur für keinen schimpf halten, sondren euch Nur gewiß versicheren, daß waß

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darinnen geschrieben, erfolgen wirt, daferne ich ewer gunst vnd freundschafft gäntzlich solt beraubet werden, […].“¹⁵ In einem anderen Brief (Nr. 024) präsentiert Caspar ein Gedicht, mit dem er sich „zu ergetzen und zu trösten“ pflege, als die Gegner in der Stadt immer bedrohlicher werden. Er wünscht, dass auch Catharina sich mit diesem Gedicht trösten und ergetzen wolle und ihre melancholischen Gedanken vertreibe.¹⁶ Im selben Brief sind übrigens noch sechs Schlussverse als Liebesversicherung an Catharina gesetzt, allerdings ohne einen Kommentar: Adieu mein getreuwß hertz, gehabt euch woll, ich bleibe der begehret wirt vnd auch sein soll. Der euch mehr Noch liebt alß sich Der Nur euch liebt vnd sonst keine Der bin ich trawt sicherlich Ewer bin ich vnd ihr Meine.¹⁷

Diese Bekräftigung der gegenseitigen Liebe dürfte hier in eins mit der in fröhlichem Ton vorgetragenen Hervorhebung und Betonung der gegenseitigen Treue ebenfalls dem Vertreiben der Traurigkeit dienen. Ob es sich bei der Bezeichnung Catharinas als „mein getreues Herz“ um eine Anspielung auf Paul Flemings Ein getreues Hertze wissen handelt, das hier thematisch genau passen würde, möge dahingestellt bleiben.¹⁸

 Klöker: Caspar und Catharina, S. 126  Hier sind natürlich delectare und movere als rhetorische Prinzipien gemeint, wobei in zeitgenössischen Poetiken delectare „als ‚erfreuen‘, ‚ergetzen‘, ‚belustigen‘ und vor allem als Mittel verstanden [wird], die pragmatische Absicht hinter etwas Angenehmem zu verbergen, was mit Vorliebe mit dem aus der Antike überlieferten Vergleich mit der bitteren, unangenehmen Arznei in einer süßen Umhüllung veranschaulicht wird.“ Das movere wird hingegen übersetzt als ‚das Herz oder das Gemüt des Lesers gewinnen‘; Rolf Baur: Didaktik der Barockpoetik. Die deutschsprachigen Poetiken von Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der ‚Poeterey‘, Heidelberg 1982, S. 141.  Klöker: Caspar und Catharina, S. 104.  Dieses Flemingʼsche Gedicht passt hier absolut treffend zur Situation und Stimmung von Caspar, indem es die Treue des Liebespaares gegen alle bösen Anfechtungen setzt: „Läufft das Glücke gleich zu Zeiten anders als man will und meynt/ ein getreues Hertz‘ hilfft streiten/ wieder alles/ was ist feind.“ Die sechs Strophen der Flemingʼschen Ode enden jeweils mit den beiden Versen „Mir ist wol bey höchstem Schmertze/ denn ich weiß ein treues Hertze.“ Caspars Brief (Nr. 024) kann auf etwa Mitte Juli 1642 datiert werden. Flemings Gedicht erschien zwar erst 1646 in seinen Teutschen Poemata (Lübeck, Jn Verlegung Laurentz Jauchen Buchhl.) als Oden V, 34 (S. 532–533). Die Ausgabe wurde jedoch von dem Revaler Kaufmann Heinrich Niehusen (Flemings Schwiegervater in spe) veranstaltet und war bereits 1642 so weit fertiggestellt, dass die Vorrede aufgesetzt wurde. Insofern war das Gedicht Caspar Meyer aus den Revaler Kreisen sicher schon bekannt. Auch eine frühere Kenntnis aus der Zeit von Flemings Aufenthalt in Reval (Januar 1635

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Schließlich sind sechs Verse in einem Brief (Nr. 037) zu erwähnen, die Caspar als Ausdruck seiner tiefen Traurigkeit, „aus traurigem Gemüt und Herzseufzen“ für sich immer wieder aufsagen müsse, weil er über ihr abweisendes Verhalten bekümmert sei, ihn viele Gedanken plagten und er seiner nicht mächtig sei. Zusammenfassend kann die in Caspars eigenen Äußerungen sichtbare Funktion der Gedichte und Verse als vertieft erklärende Veranschaulichung, als komprimierte sprachliche Repräsentation der Empfindung beschrieben werden. Einerseits sollen die Gedichte – besser als die Prosa – die Intensität von Caspars Leid, Verzweiflung oder Hoffnung zeigen und belegen. Das Gedicht ist im Gegensatz zur Prosa das geeignetere Medium, um die Emotionen zu versprachlichen und damit der Möglichkeit eines empathischen Nachvollzugs zugänglich zu machen. Andererseits wird dem Gedicht als Artefakt sowohl für Caspar selbst als auch für Catharina eine tröstende und erfreuende Funktion zugeschrieben. Hier kommt neben einer ästhetischen materiellen Form die zeitgenössische höhere Wertigkeit von Poesie als ‚gebundener Rede‘ zur Geltung.¹⁹

3 Die Autorschaft Die von Caspar geschriebenen Verse und Gedichte werden in den meisten Fällen – sofern ein Kommentar gegeben ist – als von ihm selbst stammend („abgefasst“, „gesetzt“ oder „erdichtet“)²⁰ eingeführt oder es wird zumindest keine andere

bis März 1636, April bis Juli 1639) ist nicht auszuschließen. Die vier letzten Verse hier sind jedoch bei Martin Opitz entliehen, und zwar aus Salomons […] Hohes Liedt (Breslau 1627), am Ende von Lied 2, S. 10 [Vers 91–94]: „Der mich mehr noch liebt als sich/ Der nur mich liebt vnd sonst keine/ Der ist mein’ vnd sein’ auch ich / Seine bin ich vnd er meine.“ Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 4, T. 1., hg. von George Schulz-Behrend, Stuttgart 1989, S. 25.  Die besondere Wertschätzung der Poesie führt Martin Opitz, der die Dichtkunst als eine ursprünglich „verborgene Theologie“ bezeichnet, in seinem Buch von der Teutschen Poeterey (Breslau 1624) auf die antiken griechischen Autoren zurück, die „so viel herrliche Sprüche erzehleten/ vnd die worte in gewisse reimen vnd maß verbunden/ so das sie weder zue weit außschritten/ noch zue wenig in sich hatten/ sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten/ […].“ (fol. B1v und B2r).  Zum Verständnis von „erdichtet“ vgl. den Artikel „Erdichtung“ in: Zedler 8 (1734), Sp. 1565, wo selbige erklärt wird als Erfindung einer Sache oder der Möglichkeit, wie eine Sache sein könnte. Dabei wird kein expliziter Bezug zur literarischen Dichtung hergestellt. Im Artikel „Dichten“ in Zedler 7 (1734), Sp. 788 wird lediglich die biblische Verwendung erläutert: „heist in Heiliger Schrifft so viel als bey sich betrachten, etwas ausfinnen, ausdencken, oder aus dem innersten Grunde des Hertzens hervorbringen.“ „Setzen“ wird unter den vielen Bedeutungen in Zedler 37 (1743), Sp. 616 f. auch im biblischen Zusammenhang erläutert: „Bisweilen heisset setzen so viel als machen, schaffen oder erwecken.“ „Abfassen“ gibt es bei Zedler nicht. – Alle diese Begriffe sind

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Autorschaft erwähnt. Einzig bei dem Gedicht von Anna Ovena Hoyer hat Caspar (wie bereits erwähnt) die Urheberschaft verschleiert, indem er seine Mutter als Verfasserin vorgab. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch sowohl bei diesem Gedicht als auch bei den meisten anderen, dass Caspar sehr weitgehend von anderen Dichtern abschreibt. Denn es können absolut eindeutige Quellen bei namhaften Dichtern der Zeit benannt werden. Ausgehend von diesem überraschenden Befund können für Caspars Briefe drei grundlegende Modelle des dichterischen Schreibens im Brief im Sinne einer Typologie aufgestellt werden:

3.1 Zitat Das Zitat von Gedichten anderer Verfasser (gegebenenfalls mit Hinweisen auf eine konkrete „Anwendung“) steht hier als theoretische Möglichkeit voran, ist in der reinen Form jedoch nicht bei Caspar Meyer zu finden. Insofern soll hier eine qualitative Unterscheidung zum zweiten Typus in der fehlenden Selbstzuschreibung als Verfasser, indem keine eigene Autorschaft behauptet oder nahegelegt wird, und im minimalen Grad der Veränderung gesehen werden, die jedoch streng genommen alle drei hier anführbaren Beispiele dem Typ zwei zuführt, da es sich – offensichtlich – um eine, wenn auch geringe, Aneignung handelt. Dies ist bei den sechs Versen der Fall, die als Christian Brehmes Beschreibung der Liebe von 1637 identifiziert werden können (Nr. 037). Caspar nennt weder Autor noch Titel, macht aber auch keine eigene Autorschaft erkennbar. Er kommentiert hingegen, dass er diese Verse aus Traurigkeit beständig für sich wiederholen müsse. Zwar ist das Gedicht nicht ganz korrekt wiedergegeben, doch die wenigen Abweichungen könnten als lediglich fehlerhaftes Zitat – vielleicht aus dem Gedächtnis – erklärt werden; immerhin wurden die ersten vier Verse umgestellt, sodass ohne wesentliche Bedeutungsverschiebung aus dem Kreuzreim jetzt Paarreim wurde. Die bedeutsamen Eingriffe wurden jedoch vorgenommen durch den Austausch einzelner Wörter im ersten Vers („der Schmertz“ wird zu „groß Schmertz“) und in Vers fünf, in dem „Gantz verwirrte tolle Sinnen“ verändert wurde zu „gantz verwirrete trauwrige sinnen“. Caspar bezieht das Gedicht auf sich und betont seinen großen Schmerz; aber er ist nicht ‚toll‘ (verrückt), sondern „traurig“.

im Rahmen der normalen Autorschaft gängig, indem sie das Schöpferische sowohl im Hinblick auf den Inhalt als auch im Hinblick auf die sprachliche Form umfassen, und erwecken keinen Zweifel an Caspars Status als Verfasser.

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Ganz ähnlich wird im Brief Nr. 024 ein Gedicht von Martin Opitz platziert, mit dem Caspar sich „zu ergetzen und zu trösten pflege“ und das er auch Catharina empfiehlt, um sich zu erfreuen und melancholische Gedanken zu vertreiben. Weder der Verfasser noch der Titel des vollständig wiedergegebenen Gedichts – es handelt sich um Wer Gott das Herze giebet (Oden XI) ‒²¹ sind genannt, doch wird von Caspar hier auch nicht der Eindruck eigener Autorschaft erweckt.Wieder sind die Veränderungen gegenüber dem Original fast nur orthografisch. Lediglich einen, nämlich den vorletzten Vers hat er verändert von „Weil seine rechte sachen“ zu „weiln alle meine sachen“, um das Gedicht auf sich selbst zu beziehen. Nicht die rechte Sache Gottes sieht jetzt auf ein gutes Ziel, sondern im Vertrauen auf Gott alle seine, Caspars, Sachen: all sein Trachten, das natürlich die Liebe zu Catharina und das Eheversprechen meint. Dies entspricht allerdings im Kleinen der Handlungsweise, die sich dann in dem zweiten Typus voll ausgeprägt zeigt. Nicht anders kann die kommentarlose Zitierung von acht Versen, zwei französischen und sechs deutschen, klassifiziert werden, die erkannt wurden als das Lob der Brünetten von Johann Michael Moscherosch (Nr. 082). Dabei handelt es sich um eine Strophe eines längeren Liedes aus Les Visiones de Don Francesco de Quevedo Villegas oder wunderbahre satyrische gesichte, verteutscht. ²² Erneut kann von einem äußerst weitgehenden Zitat gesprochen werden. Caspar hat lediglich ein Wort ausgetauscht und aus den ‚braunen‘ Haaren der bedichteten Schönheit „schwarze“ Haare gemacht, was in diesem Fall sogar durch die Streichung im Text sichtbar ist. Das kann nur schwerlich ein Zufall sein, sodass davon ausgegangen werden muss, dass Caspars Liebe einer schwarzhaarigen Schönen galt, folglich Catharina schwarze Haare gehabt haben müsste – was nicht bekannt oder nachprüfbar ist. Aber wieder ist es ein ganz kleiner Eingriff, in der Absicht, den Text in der Kommunikation mit Catharina nicht völlig als ‚fremden‘ Text stehen zu lassen, sondern ihn für die Geliebte und sich genau passend zu machen.

3.2 Produktive Aneignung Der zweite Typus, eine Umdichtung oder Anpassung von Gedichten anderer Verfasser, entfaltet eine ganze Spannbreite von Möglichkeiten, auf welche Weise

 Martin Opitz: Deutscher Poematum Anderer Theil, Breslau 1629, S. 420; in der Ausgabe 1644 als Oden XXIv. Bezeichnet; vgl. Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 4, T. 2, hg. von George Schulz-Behrend, Stuttgart 1990, S. 505.  Philanders von Sittewalt [d. i. Johann Michael Moscherosch]: Les Visiones de Don Francesco de Quevedo Villegas oder wunderbahre satyrische gesichte, verteutscht, Band 2: Anderer Theil der Gesichte Philanders von Sittewalt, Straßburg 1644, S. 283–288 (oder Folgeauflagen).

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und wie stark der Briefschreiber sich fremde Gedichte aneignen kann. So können ein Gedicht oder mehrere Gedichte von einem oder mehreren Autoren als Quelle dienen. Das geht über eine bloße Intertextualität deutlich hinaus, die letztlich ja immer eine Rolle spielt bei der Abfassung von Gedichten und beim Schreiben schlechthin.²³ Denn hier geht es vielmehr um eine produktive Aneignung, um wirkliche Textarbeit, die aber mit weitgehender Abschrift so nahe am Original bleibt, dass es eindeutig erkennbar ist. Dabei handelt es sich hier jedoch nicht um eine rhetorisch legitimierte kreative Imitatio oder Aemulatio oder ein bewusstes Spiel mit der Quelle, etwa im Sinne von Parodie oder Travestie. Die Autoren der Quellentexte verschwinden, sodass wir aus heutiger Sicht wohl von einem Plagiat im Sinne der „bewussten Aneignung fremden Geistesguts“ sprechen würden.²⁴ Nach Stand meiner bisherigen Funde hat Caspar in diesem Sinne Gedichte von Martin Opitz, Paul Fleming, Anna Ovena Hoyer, Georg Weber und (wie oben angeführt) Johann Michael Moscherosch benutzt. Damit liegt nicht zuletzt auch ein Zeugnis für eine ausgesprochen pragmatische Rezeption der zeitgenössischen Gedichte vor. Der Revaler Ritterschaftssekretär kannte diese Dichter und ihre Texte nachweislich und gewiss viele weitere mehr. Vielleicht besaß er das eine oder andere Buch oder sammelte gar Gedichte.²⁵ Ob er sie gelesen oder gehört hatte und sie ihm im Gedächtnis geblieben waren oder ob er mit einer direkten Textvorlage arbeitete, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist jedoch die Aktualität und die relative zeitliche Nähe zu den Erstdrucken. In Reval konnte man zu dieser Zeit mit der unmittelbar zeitgenössischen deutschen Literatur vertraut sein, wenn man es wollte.

 Zur problematischen Anwendung des Intertextualitätsbegriffs auf die Literatur der Frühen Neuzeit vgl. Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a. M. 1994, insbesondere Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts ‚Ehzuchtbüchlein‘ und ‚Geschichtklitterung‘, in: ebd., S. 63– 109, der auf S. 69 darauf hinweist, dass eine Textvorlage (die Quelle oder der „Prätext“) „präsent gehalten werden [muss], damit über das Gelingen von imitatio und aemulatio überhaupt geurteilt werden kann.“  So die Definition bei Klaus Kanzog: Plagiat, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York 2003, S. 88–91; ferner Stephan Fadinger: Literaturplagiat und Intertextualität, Magisterarbeit, Universität Wien 2008.  Es gibt keinerlei Informationen über den Buchbesitz des Sekretärs. Ein Nachlassinventar ist nicht erhalten, und im Bestand der alten städtischen Bibliothek (der Olaibibliothek, heute in der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn) sind keine Bücher aus seinem Besitz nachweisbar.

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Meyers Klaggedichte aus Brief Nr. 8 und die Vorlage bei Opitz.²⁶

 Klöker: Caspar und Catharina, S. 64 f.

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Caspar Meyer ‚benutzt‘ diese Gedichte, indem er sie unterschiedlich stark bearbeitet, um sie in die eigene Situation einzupassen. Als ein Beispiel für diesen Typus sei hier das Klaggedichte von Caspar (Nr. 008) in 40 nicht immer korrekten Alexandrinern angeführt, das vollständig auf Martin Opitzens Frülings Klagegetichte beruht. Ausgabenvergleiche zeigen die größte Textübereinstimmung mit dem Abdruck in den Acht Büchern Deutscher Poematum von 1625.²⁷ Eine Gegenüberstellung der Verse, in der die Abweichungen – wie oben zu sehen – markiert sind, verdeutlicht die Bearbeitung durch Caspar Meyer. Caspar Meyer nimmt sich von Martin Opitz paarweise und in der originalen Reihenfolge Verse heraus und montiert sie gewissermaßen als eine gekürzte Fassung zu einem neuen Text. Dabei bleibt die Grundaussage des Gedichts, die Klage eines Mannes über seine unerwiderte Liebe, identisch. Manche der Änderungen sind durch die Kürzung bedingt, wie etwa der Einstieg „Jch sitze hier“ gegenüber dem originalen „So sitz ich hier“ oder in Vers 7 die Veränderung von „Vnd hört mein weinen nicht“ zu „Sie hört mein weinen nicht“, weil durch das Auslassen von Versen der Anschluss nicht mehr passte. Andere Verse sind bewusste Anpassung an die eigene Situation, so etwa in Vers 31 die Anrufung Catharinas statt des Echos oder in den Versen 37 und 38 die Zuschreibung an den christlichen Gott und nicht an Cupido als Machthaber über die Liebe und das Schicksal. Der auf diese Weise neu entstehende Text ist überraschend stimmig. Caspar weiß durchaus mit Sprache und Texten umzugehen. Aber metrisch sind immer wieder auffällige Verschlechterungen gegenüber dem Ursprungstext zu entdecken, die zugleich ganz unnötig sein können, wie etwa in Vers 6 und in Vers 16. Sie zeigen, dass Caspar weder im Hinblick auf die Silbenanzahl noch auf den Wortakzent sattelfest war. Dass er in einem seiner Briefe von sich sagt, er sei beim Singen keine Hilfe,²⁸ deutet wohl auch auf eine fehlende musikalische Begabung hin. In der hier vorgeführten Weise sind sämtliche der nachweislich von anderen Autoren stammenden Texte mehr oder weniger stark bearbeitet; dazu gehört auch das Einfügen von einzelnen eigenen Versen oder Strophen.²⁹ Während es sich im hier gezeigten Beispiel jedoch im Wesentlichen um eine Kürzung handelt, ist in anderen Fällen die Bearbeitung aufwendiger, indem zum Beispiel Teile aus drei

 Martin Opitz: Acht Bücher Deutscher Poematum, Breslau 1825, hier Poetische Wälder 5, S. 137– 143; auch in Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 2, T. 2, hg. von George Schulz-Behrend, Stuttgart 1978, S. 606–614.  Klöker: Caspar und Catharina, S. 192 (in Brief Nr. 059).  So ist bei den oben zitierten Schlussversen in Brief 024 zu sehen, dass Caspar zwei Verse wohl selbst geschrieben, dann aber vier Verse von Opitz entlehnt und bearbeitet hat; vgl. Anm. 18 dieses Beitrags.

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Gedichten von Paul Fleming zu einem neuen Gedicht montiert werden (Nr. 050) oder einzelne Teile aus fünf geistlichen Liedern von Georg Weber zu einem „Bindebrief“ zusammengesetzt werden (Nr. 047), wie bereits in der Briefedition näher erläutert wurde.³⁰ Es ist also nicht ganz abwegig, hier von Plagiaten zu sprechen, wenn auch das Bewusstsein für geistiges Eigentum noch nicht so ausgeprägt war wie heute. Dass es gleichwohl ein Bewusstsein für den Unterschied von Imitatio und Diebstahl schon im 17. Jahrhundert gab, hat Wulf Segebrecht in seiner großen Studie zum Gelegenheitsgedicht hervorgehoben und belegt. Er zeigt, dass etwa das Austauschen von Namen als einzige Veränderung nicht legitim war.Vielmehr handelte es sich bei der Annahme, dass man im 17. Jahrhundert noch kein Verhältnis zum ‚geistigen Eigentum‘ entwickelt habe, um einen Irrtum, „eine Fiktion, entstanden aus der Bemühung der Literarhistoriker, dem Originalitätswert eine kategoriale Alternative zu schaffen“. In dem von ihm herangezogenen Beispiel von Johann Samuel Wahll aus dem Jahre 1707/1710 hat ein Freund des Autors ein Plagiat hergestellt, indem er den Text nahm, die Überschrift veränderte und die Personennamen austauschte sowie eine Strophe aus einem anderen Text von Wahll und eine weitere Strophe unbekannter Herkunft ergänzte.³¹ Caspar Meyer verfuhr mit seinen Vorbildern ganz ähnlich. Jedenfalls ist es auch im Dichtungsverständnis der Zeit nicht legitim, wenn Caspar die Gedichte als selbst „abgefasst“, „gesetzt“ oder „erdichtet“ ausgibt. Sie sind nicht seine originäre Erfindung, sondern geben in großen Teilen die Verse anderer Dichter unverändert wieder. Das wird nicht durch die rhetorische Imitatio gedeckt, sondern von den Zeitgenossen als anrüchiges „Ausschreiben“ bezeichnet.³² Insofern darf durchaus von einem Plagiat gesprochen werden, zumal Cas-

 Klöker: Caspar und Catharina, S. 164 f., 173 f.  Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, S. 148, bes. Abschnitt „Imitatio und Diebstahl“ (S. 147–149).  Segebrecht (ebd.) zitiert S. 148 Wahll, der in seiner Poetik Kurtze doch gründliche Einleitung (1715), S. 136 schreibt: „niemand […] dürfe ‚dencken, daß imitiren ausschreiben heisse‘“. Hierzu auch Baur: Didaktik der Barockpoetik, wo S. 211 auf die unterschiedliche Beurteilung der Übernahme fremder Erfindungen hingewiesen wird. Der dort angeführte Harsdörffer sagt im Poetischen Trichter: „Etliche bedienen sich fremder Poeten Erfindungen/ und ist solches ein rühmlicher Diebstahl bey den Schulern [!]/ wann sie die Sache recht anzubringen wissen/ wie Virgilius des Theocriti, und Homeri, Horatius des Pindari Gedichte benutzet hat: ja deßwegen liset man anderer Sprachen Bücher/ aus ihnen etwas zu lernen/ und nach Gelegenheit abzuborgen: Es muß aber solches nicht dergestalt mißbrauchet werden/ daß man ein gantzes Gedicht/ fast von wort zu wort/ übersetzet/ und für das seine dargiebet/ welches bey denen/ so es in einer andern Sprache auch gelesen/ nicht verantwortlich ist“; Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter/ Die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateinischen Sprache in VI. Stunden einzugiessen,

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par an keiner Stelle auch nur den geringsten Hinweis auf die Herkunft der Verse gibt; andere Dichter gibt es nicht in den Briefen. Es war allem Anschein nach seine Absicht, Catharina glauben zu machen, er selbst sei zu solchen sprachlich gewandten Versen fähig und könne so schöne Gedichte erschaffen. Ob und wie das – zumal über viele Jahre hin – funktionieren konnte, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Catharina dürfte in der städtischen Jungfernschule oder durch Privatunterricht Lesen und Schreiben gelernt haben, aber es ist weder bekannt, ob sie Bücher besaß noch in welchem Maße sie mit der zeitgenössischen Dichtung vertraut war. Ihre Briefe geben darüber keine Auskunft. Glaubt man den Gelegenheitsgedichten vor allem Paul Flemings, so waren die städtischen Jungfrauen allerdings Teil der fröhlichen Festkultur und nicht selten das Ziel von scherzhaften und verliebten Versen, im Ausnahmefall auch selbst Verfasserinnen.³³ Gegenüber einem bloßen Plagiat bleibt einzuwenden, dass Caspar die Gedichte oder Teile daraus ja nicht eins zu eins wiedergab, sondern durchaus Arbeit investierte, um einen eigenen Text, ein genau auf seine und ihre persönliche Situation abgestimmtes Gedicht daraus zu formen. Er machte sich die Verse zu eigen, indem er sie ein wenig umformte und einpasste in seine unglückliche Liebe und in den jeweiligen Brief. Insofern werden die fremden Gedichte instrumentalisiert und in seinen eigenen Mund gelegt. Aus ihnen spricht Caspar mit einem starken, aber leidenden und hoffnungssatten Ich. In dieser ‚produktiven Aneignung‘, wie ich es nennen möchte, sind sie seine Aussage und nicht die irgendeines anderen Dichters. Das ist eine für den Liebesbrief nicht unerhebliche Steigerung der Authentizität. Denn schließlich geht es darum, seine Gefühlslage glaubhaft zu vermitteln, ja besser noch – im Sinne der Affekterregung – mit rhetorischen Mitteln nachempfindbar zu machen.³⁴

Nürnberg 1647, S. 91 f. Wenn schon bei der Übersetzung die wörtliche Übernahme also ein Missbrauch ist, wie viel mehr dann das direkte Abschreiben!  Das Bindegedicht Herr Magister, wo soll ich das Band finden von Elisabetha und Katharina Knop sowie Katharina Temme, das im Absonderlichen Buch Poetischer Wälder von Paul Fleming enthalten ist, belegt, dass Revaler Jungfern grundsätzlich in der Lage waren, Gedichte zu verfassen; Fleming: Teutsche Poemata, S. 260 f.; Johann Martin Lappenberg (Hg.): Paul Flemings Deutsche Gedichte, T. 2, Stuttgart 1865, S. 614.  Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, 3. erg. Aufl., Tübingen 1991, S. 76–90, zeigt S. 82, wie in der Poesie ornatus zur emotionalen Beeinflussung im Sinne von delectare und movere eingesetzt wird: „Der Weg zum Herzen des Lesers führt über den Ornatus.“ Dabei geht es nicht um die Umgangssprache, sondern um eine „rhetorisch überhöhte Ausdrucksweise, deren Ziel darin liegt, das Herz des Lesers zu erwärmen und ihn vorsichtig oder auch mit Gewalt dahin zu bringen, daß er das Mitgeteilte versteht, sich daran freut, bewegt wird und dadurch glaubt“ (ebd., S. 90). Zur Affekterregung im Brief gibt es im Handbuch Brief keine

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3.3 Eigene Dichtung Schließlich ist der dritte Typus des dichterischen Schreibens im Brief zu beleuchten: die eigene originäre Dichtung. Angesichts der beim zweiten Typus sichtbaren Unterschiede zwischen den abgeschriebenen und den selbst gedichteten Passagen deuten mangelhafte Verse darauf hin, dass Caspar diese selbst verfasste. Zwar gibt es auch gute Verse, für die (bisher jedenfalls) keine externe Quelle benannt werden kann. Aber die Suche nach Vorbildern ist schwierig, außerdem könnte es sich um eine Auftragsdichtung handeln.³⁵ Solange jedoch kein Nachweis bei einem anderen Dichter vorliegt – das gilt für fünf Gedichte in diesem Briefwechsel (Nr. 001, 007, 027, 091, 094) –, kann für die Autorschaft von Caspar lediglich anhand der Verse eine Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Glücklicherweise hat sich in einem Fall nicht nur das Gedicht selbst, ein Neujahrsgedicht, sondern auch das zugehörige Konzept in Caspars Handschrift erhalten (Nr. 094, 095). Es handelt sich mit 132 Versen zugleich um das längste Gedicht in der gesamten Korrespondenz. An diesem Konzept mit vielen Korrekturen ist nun die Entstehung des Gedichts zu beobachten. Da sowohl der Ausgangstext als auch das Endprodukt in vieler Hinsicht deutliche Mängel aufweisen, ist wohl davon auszugehen, dass Caspar hier nicht bei anderen Dichtern abgeschrieben hat, sondern wirklich selbst formulierte. Dass einzelne Phrasen und Reime bekannt vorkommen, muss dem nicht widersprechen, sondern gehört zur üblichen intertextuellen Verflechtung. Die von ihm benutzten Gedichte zeigen ja, dass Caspar mit der zeitgenössischen Dichtung von Opitz, Fleming und anderen gut vertraut war. Insofern hatte er sie zweifellos im Ohr, wenn er selbst dichtete.

eigene Darstellung, aber den Beitrag von Paweł Zarychta: Trostbrief / Kondolenzbrief / Trauerbrief, in: Strobel u. a.: Handbuch Brief, S. 582–593, in dem die Affekte eine größere Beachtung finden; ferner Katharina Fürholzer und Yulia Mevissen (Hg.): Briefkultur und Affektästhetik, Heidelberg 2017; Claus-Michael Ort: Affektenlehre, in: Meier: Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 124–139.  Die Suche nach Vorbildern ist angesichts der kaum abzuschätzenden Menge an möglichen Texten fast aussichtslos, da über das Internet bisher in der Regel nur die Werke der großen Dichter recherchierbar sind. Allein schon die regionale Produktion der sogenannten Poetae minores ist kaum überschaubar. Hinzu kommt die Möglichkeit einer – natürlich nicht gekennzeichneten – Auftragsdichtung, sodass der wirkliche Dichter der Verse unbekannt bleiben würde.

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Ausschnitt aus Meyers Neujahrsgedicht (Brief Nr. 94/95).³⁶

In diesem Ausschnitt ist rechts der fortlaufende Text des Konzepts mit den Korrekturen zu sehen, links dann die Entsprechungen in der Reinschrift. Leicht ist zu erkennen, dass sowohl der Ausgangstext als auch das Endprodukt metrische Unzulänglichkeiten aufweisen. Das Ziel war offenbar, immer neun Silben zu setzen, jedoch passen einige Male die Hebungen bzw. die Wortakzente nicht und es müssen Silben gekürzt werden wie in Vers 58: „Daß einß vnsr trauwrige hertzn lachen“. Das Gedicht ist formal zwar nicht perfekt und fällt gegenüber der zeitgenössischen Dichtung in Reval ab, doch wird hier stärker als bei den anderen Gedichten die qualitative Veränderung durch die Versifikation erkennbar. Der Text ist inhaltlich ein Liebesbrief (mit Anrede, Schilderung der Liebe des Mannes, Beschreibung der Schönheit und Tugend der Frau, Wunsch des Zusammenseins usw.), der in eine kunstvolle sprachliche Form gebracht wurde, freilich metrisch  Konzept und Reinschrift in Klöker: Caspar und Catharina, S. 273‒280.

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nicht immer so gelungen, wie bei den abgeschriebenen Gedichten oder Gedichtteilen von bekannten Autoren. Doch dieses Gedicht zeichnet sich durch einen ganz persönlichen Ton aus, der in dieser Intensität nur hier im Gedicht, nicht aber in der Prosa zu finden ist.

4 Fazit In den Gedichten Meyers handelt es sich also um eine in Vers und Reim komprimierte, verdichtete persönliche Sprache, mit der es Caspar zusätzlich zur Briefprosa gelingt, seine Liebe und sein Leid eindringlich zu vermitteln. Das liegt freilich auch daran, dass in den versifizierten Briefen oder Briefteilen in aller Regel nicht die profanen und alltäglichen Dinge zur Sprache kommen, sondern in situativer Einordnung Liebe und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, also die ‚emotionale Ebene‘ in verschiedener Ausprägung. Das Gedicht und die Verssprache werden gezielt dafür in den Dienst genommen, sei es durch das Zitat oder die produktive Aneignung von Gedichten anderer Verfasser oder durch das eigene Dichten. Dieses ‚verdichtende Dichten‘ im Brief zeigt sich aus der Perspektive des Schreibprozesses jedoch als ein meistens vom Brief abgesondertes Verfahren. Für die Briefe gilt in aller Regel, dass sie mehr oder weniger spontan niedergeschrieben wurden. Grundsätzlich besteht selbstverständlich die Möglichkeit, dass auch sie von Fall zu Fall sorgfältig konzipiert und dann ganz sauber und ordentlich ins Reine geschrieben werden konnten. Zu denken ist etwa an Briefe zu besonderen Anlässen oder beispielsweise Briefe, mit denen Caspar eine Versöhnung mit Catharina herbeiführen wollte. Das kann hier nicht weiterverfolgt werden und wäre im Einzelnen an den Originalbriefen zu untersuchen, unter denen jedoch bisher ‒ im Gegensatz zu den besprochenen Gedichten ‒ keine Konzepte oder Reinschriften identifizierbar waren. Zumindest ist der erste und ungeprüfte Eindruck, wenn man das meistens saubere Schriftbild und die (wenigen) Korrekturen betrachtet, dass es sich bei den vorliegenden Ausfertigungen um direkte Niederschriften handelt, die mit der für einen professionellen Sekretär üblichen Sorgfalt angefertigt wurden. Gerade im Vergleich mit den offensichtlich sehr schnell und nachlässig geschriebenen kleineren Zetteln ist ersichtlich, dass auch die umfangreicheren Briefe wohl direkt verfasst wurden. Und es darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um gefährliche Briefe handelt, die nicht in die Hände von anderen fallen durften und deren Abfassung wohl besser im Verborgenen geschah. Insofern dürfte Caspar wahrscheinlich keine längere Arbeit (mit aufwendiger Anfertigung eines Konzepts) an diese Briefe gewandt haben.

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Ganz anders dagegen verhält es sich bei den selbstständigen Gedichten. Sie präsentieren nicht nur auf den ersten Blick eine ansprechende Optik mit sauberer Schrift, großen Initialen und erkennbarer Strukturierung. Das vorliegende Beispiel für Konzept und Reinschrift belegt, dass vor einer so ordentlichen Endausfertigung ein Entwurf angefertigt und am Text gearbeitet wurde. Genauso ist bei den anderen Gedichten, für die kein Entwurf mehr vorliegt, anhand der nachgewiesenen Erarbeitung aus einem oder mehreren Vorbildern zu ersehen, dass sie nicht spontan und unmittelbar niedergeschrieben sein konnten, sondern einen Prozess der Textbearbeitung durchlaufen haben, bevor sie in den – jetzt vorliegenden – Ausfertigungen überreicht oder verschickt wurden. Von kleineren Reimereien abgesehen hat Caspar Meyer also die eingeschlossenen oder gesondert übergebenen Verse und Gedichte vorgängig gedichtet oder aus Vorlagen durch unterschiedlich starke Bearbeitung erstellt und der jeweiligen Situation wie auch Intention angepasst. Insofern ist die Schreibsituation von (Brief‐)Gedicht und Prosa-Brief bei Caspar Meyer zeitlich klar zu unterscheiden. Wurden Gedichte separat als Briefgedichte übersandt, so geht dem ein aufwendiger Herstellungsprozess voran.³⁷ Bei der Abfassung eines Briefes lag dann das einzuschließende oder beizufügende Gedicht bereits vor. Darin gleicht es situativ den im Sinne eines Zitates verwendeten Versen von anderen Dichtern, die von Caspar auch nur wenig anders als die ‚eigenen‘ oder als selbst ‚gedichtet‘ ausgegebenen Verse im Brief verwendet und eingeführt werden. Zwar besteht auch die Möglichkeit, dass die Abfassung eines Briefes unterbrochen wurde, um die Verse oder das Gedicht gewissermaßen extern, außerhalb des Briefes, zu erarbeiten. Insbesondere bei ganz geringem Umfang und eher anspruchsloser Poesie ist das gut vorstellbar. Bei umfangreicheren Gedichten und aufwendiger Textarbeit dürfte dies aus praktischen Erwägungen jedoch nicht die Regel gewesen sein. Zugleich würde dies nichts daran ändern, dass es sich um zwei getrennte Schreibprozesse handelt, die zeitlich entkoppelt sind. Das Schreiben eines Briefes ist vom Dichten eines Gedichtes zu unterscheiden. Dieser Befund ist an sich wenig überraschend und findet seine logische Ausformung in der Korrespondenz an jenen Stellen, wo Caspar ein Gedicht einführt oder ‚präsentiert‘ als einen (zuvor) vorliegenden Text, der ihm in diesen Zeiten etwa Trost spende oder den er (vor Kurzem) in seinem Leiden verfasst habe.

 Zu überlegen wäre, ob bei einigen Gedichten überhaupt im eigentlichen Sinn von einem Brief die Rede sein kann und nicht vielmehr ein ganz normales Gelegenheitsgedicht vorliegt, das als Geschenk überreicht wurde. Allerdings könnte eingewendet werden, dass auch diese Gedichte in die schriftliche Kommunikation der Liebenden gehören, also Teil der Korrespondenz waren. Bei Gedichten, die das Schicksal des Paares thematisieren, dürfte dies unstrittig sein, zumal sie (ganz wie die Briefe) gefährlich und deshalb vertraulich sein mussten.

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Die Autorschaft spielt hier zunächst eine untergeordnete Rolle, weil die Verse instrumentalisiert werden. Wichtig ist die inhaltliche Aussage der Poesie in der treffenden sprachlichen Fassung, die das Gemüt erregen und bei Catharina im direkten Wortsinn ‚Mit-Gefühl‘ erwecken soll. Hinzu kommt die Freude an der Sprachkunst. Selbst im Leiden, trotz der unerfüllten Hoffnung und der Anfeindungen, die durch die Verse präsent werden, soll und kann Dichtung ‚ergetzen‘ und dabei helfen, die – durchaus berechtigte, aber als gefährlich und sündhaft angesehene – Melancholie zu vertreiben. Dazu bedarf es jedoch erhöhten Aufwands bei der Auswahl der Worte. Anders als in der Prosa, die ja beim Liebesbrief auch schon einem besonderen rhetorischen Anspruch im Hinblick auf den angemessenen und korrekten Ausdruck unterliegt, muss im Gedicht die Sprache in Versifizierung, Metrik und Gedichtform eingepasst und ‚verdichtet‘ werden, sodass ein ‚kunstvolles‘ Produkt entsteht. Selbst ein herausragender Dichter mit Talent und Übung kann das nur im Ausnahmefall aus dem Ärmel schütteln und wie Briefprosa niederschreiben; für Caspar, der wenig dichterisches Talent besaß und wohl erst mit der Zeit – dank fleißigen ‚Ausschreibens‘ – etwas Übung bekam, war das schwieriger. Seine Gedichte blieben angesichts deutlicher Mängel ohne Glanz. Doch kommt an dieser Stelle seine – wie gezeigt wurde: streitbare – Autorschaft ins Spiel. Wenn er sich als Verfasser zu erkennen gibt, kann ihm durch Catharina der für ein Gedicht betriebene sprachliche Aufwand, die dichterische Spracharbeit, angerechnet werden. Mögen die Gedichte auch nicht perfekt sein, so zeichnet sie für Catharina doch aus, dass sie von Caspar erarbeitet wurden. Was den Gedichten an poetischer Lizenz fehlt, das besitzen sie aufgrund seiner Autorschaft an persönlicher Lizenz.

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Auktoriale Inszenierungen bei Sophie von La Roche und Bettina von Arnim – Ein Beitrag zur historischen Schreibprozessforschung Die Titelvignette des ersten Bandes zu Sophie von La Roches Mein Schreibetisch (1799) zeigt die Autorin als schreibende Frau mit der Feder in der Hand vor einer Bücherwand sitzend, die halb von einem Vorhang verdeckt ist, und als Matrone mit hoher weißer Haube – die Haube als Zeichen der verheirateten Frau – in einem dunklen, hochgeschlossenen Kleid mit hellem Schal, Rüschenmanschetten am Ellenbogen und darunter helle, bis an die Hand reichende, enganliegende Ärmel. Diese inszenierte Körperlichkeit Sophie von La Roches in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Witwe und Matrone vermittelt ein gravitätisch-damenhaftes und zugleich freundlich-selbstbewusstes Bild einer Frau, die für die literarische Öffentlichkeit als Schriftstellerin posiert, denn Schreiben und die Publikation von siebzehn Büchern und zahlreichen Journalbeiträgen füllten La Roches Leben nach der Elternphase seit etwa 1771 aus. Noch als Siebzigjährige konnte sie 1801 von sich sagen: „Ich kann noch, obwohl nicht ohne Brille, gute Bücher lesen und kosten, fühle noch unaussprechlich lebhaft und tief den Wert der tätigen Tugend und Weisheit, das ist noch viel, viel Erdenglück.“¹ Ausgehend von Sophie von La Roche (1730‒1807) und ihrer Enkelin Bettina von Arnim (1785‒1859) möchte ich der Selbstinszenierung als Autorin, jeweils für das 18. und 19. Jahrhundert, nachgehen ‒ der Inszenierung zweier Frauen, die verschiedenen Generationen, Literaturperioden und Kulturphasen (in Deutschland) angehören und durch Familienkonnex und gesellschaftliche Stellung verbunden sind: La Roche als Autorin zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit und ihre Enkelin Bettina als publizierende Frau zwischen Romantik und Vormärz. Zu diesen zwei Autorinnen bemerkte der Alt-Romantiker Eichendorff 1851 in Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum: „Die Laroche [ist] die geistige Ahnfrau jener süßlichen Frauengeschichten geworden, […] wie zur Buße, zugleich die leibliche Großmutter eines völlig anderen genialen

 La Roche an Elise zu Solms-Laubach am 04.05.1801, zit. nach Sophie La Roche. Ihre Briefe an die Gräfin zu Solms-Laubach 1787‒1807, hg. von Karl Kampf, Offenbach 1965, S. 90. https://doi.org/10.1515/9783110792447-008

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Abb. 1: Titelvignette für den ersten Band von Sophie von La Roche Mein Schreibetisch (1799), gestochen von Christian Schule, nach einem Kupferstich von Heinrich Sintzenich für ihre Zeitschrift Pomona (1783).

Ein Beitrag zur historischen Schreibprozessforschung

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Geschlechts, und nimmt sich dabei aus wie eine Henne, die Schwäne ausgebrütet hat“.² Eine dichtende Frau steht allerdings schon an den äußerten Grenzen ihres natürlichen Berufs. […] Sophiens Enkelin […] ist in neuerer Zeit eine so anomale Erscheinung […] wo sie in ernsten, und namentlich in religiösen und politischen Dingen den Männern ins Handwerk pfuscht, ist sie durchaus ungenügend, weil unklar und phantastisch […]: Ja, das Anomale und Pikante ihrer Poesie besteht eben darin, daß sie gegen die natürliche weibliche Bestimmung und Beschränkung rebellirt, und doch nimmermehr heraus kann.³

Soweit die zeitgenössische Wertschätzung im literarischen Feld aus der Feder eines wichtigen Konkurrenten, dem mit Bettina von Arnim gleichaltrigen Dichter Eichendorff. Nun sind Kreative durchaus bekannt für bissige Abwertung anderer Kollegen und Kolleginnen, aber im Falle Eichendorff repräsentieren diese Bemerkungen ziemlich genau die Werteskala der Literaturgeschichte und des literarischen Marktes im 19. Jahrhundert, d. h. den begrenzten Rahmen, innerhalb dessen die Selbstinszenierung einer Autorin stattzufinden hatte, als sie nur ‚unter falschem Namen‘ im literarischen Feld ‚sich einen Namen machen‘ konnte. Während nun die gesellschaftlichen und persönlichen Hindernisse für schreibende Frauen von der feministischen Forschung detailliert aufgearbeitet worden sind,⁴ möchte ich hier die Betonung auf die auktoriale Selbstinszenierung als Selbst-Ermächtigung zur erfolgreichen Autorin im literarischen Feld, auf das Konstruieren einer eigenen Identität und öffentlichen Persona legen, und die Autorinszenierung als Narrativ im kulturhistorischen Kontext anvisieren. Schon seit Stephen Greenblatt 1980 den Begriff ,self-fashioning‘ (Selbst-Inszenierung) eingeführt und als das Konstruieren einer eigenen Identität und öffentlichen Persona bei Autoren der englischen Renaissance beschrieben hat,⁵ ist das Konzept einer ‚Autorpersona‘ im literarischen Feld nach Bourdieusʼ Habitus-Begriff weiter ausdifferenziert und auch für zumeist kanonische Autoren der deutschen Literaturgeschichte in den letzten drei Jahrzehnten wiederholt untersucht worden, allerdings bevorzugt für Moderne und Gegenwart. Hier wurden besonders Skandalpraktiken, Reklame und Kommerz im Konkurrenzkampf des Literatur-

 Joseph von Eichendorff: Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum, Leipzig 1851, S. 111.  Ebd., S. 276 f.  Vgl. u. a. Miriam Seidler und Mara Stuhlfaut: Ich will keinem Mann nachtreten. Einleitende Überlegungen, in: Ich will keinem Mann nachtreten. Sophie von La Roche und Bettina von Arnim, hg. von dens., Frankfurt a. M. 2013, S. 7–27.  Stephen Greenblatt: Introduction, in: ders.: Renaissance Self-Fashioning from More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 1–9.

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betriebs des 20. und 21. Jahrhunderts herausgestellt.⁶ In der Germanistik sei nun im Streit zwischen Biografismus und Theorie der Dekonstruktion eine ‚Poetik der Kultur‘ ausgehandelt worden, die die Autorinszenierung als Narrativ im kulturhistorischen Kontext anvisiert.⁷ Wenn also der kulturhistorische Kontext berücksichtigt wird, sollten eben auch gerade die seit dem 18. Jahrhundert sich im literarischen Feld langsam etablierenden Autorinnen mit berücksichtigt werden, was diese Arbeit anstrebt und dabei auch die Publikationsformen und poetologischen Aspekte mit berücksichtigt.

1 Sophie von La Roche, geb. Gutermann (1731‒ 1807): Doris – Sternheim – Pomona – Melusine 1.1 Doris Sophie Gutermann, die hochbegabte Tochter eines gelehrten Arztes, wurde in früher Kindheit vom Vater zunächst zu einer ,gelehrten Frau‘ erzogen, sie erhielt (wie sie in einem autobiografischen Rückblick von 1782 berichtete) „den Schlüssel zu [der] Bücherstube [ihres] Vaters“, während „in der Bibel und Erbauungsbüchern […] alle morgen als Pflicht gelesen [wurde …] meine Mutter, und die andern arbeiteten, und dann hatten wir, nach dem Mittag-Essen und Abends, Stunden zu lesen und Uebung im Französischen und Italiänischen. […] Auf diese Art wurden auch Bücher zu einem unerschöpflichen Vorrath von allzeit bereitliegendem Vergnügen. Auch diese haben die Probe gehalten, mir alles zu ersezen, mir alles zu seyn.“⁸ Nach dem Scheitern ihrer vom Vater arrangierten, standesgemäßen Verlobung mit dem italienischen Leibarzt von König August III. von Sachsen Giovanni Bianconi, konnte die zwanzigjährige Sophie Gutermann durch ihre

 Einen Überblick anhand von Autoren des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bietet Alexander Fischer, Posierende Autoren. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Heidelberg 2016, S. 551–586, der Autorinszenierungen sogar in 16 Kategorien systematisiert, aber keine Autorin berücksichtigt.  So geht Dirk Niefanger z. B. von der aktuellen Autorschaftstheorie einerseits und der Performanzforschung andererseits aus und liest die Selbstinszenierungen von Autoren als spezifische Form von Theatralität; vgl. Dirk Niefanger: Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung, in: Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne, hg. von Marcus Fauser, Bielefeld 2011, S. 65–82.  ‚Mein Glüke. Einer klagenden Freundin gewidmet Von Madame L. R.‘, in: Magazin für Frauenzimmer, hg. von David Christian Seybold, Erstes Stück, Januar 1782, Straßburg: Leyrault, 1782, S. 92–101, hier S. 96 f.

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Brieffreundschaft (und heimliche Verlobung)⁹ mit ihrem Cousin, dem Pfarrerssohn Christoph Martin Wieland (1733‒1813), am geselligen Freundschaftsspiel der jugendlichen Literaten um Bodmer in Zürich in den 1750er Jahren teilnehmen, allerdings nur im Briefwechsel. Die ersten (erhaltenen) Briefe Christoph Martins sind wolkige, französische Liebesbriefe, ein deutsches Liebesgedicht und ein Prosastück Einige Betrachtungen über die Dichtkunst überhaupt. ¹⁰ Sophie Gutermann war wohl die erste Zuhörerin, Beraterin und Kritikerin der literarischen Anfänge Wielands, bald traten die Männer des Züricher Kreises an ihre Stelle: Wieland hatte einen Briefwechsel u. a. mit Bodmer und dem Züricher Pfarrer Heinrich Schinz begonnen, dem Mitglied einer literarischen Gesellschaft, die sich für Klopstock begeisterte und Wieland nach Zürich einlud.¹¹ Wieland vermittelte auch Sophie Gutermann als Brieffreundin für Schinz’ Verlobte Barbara Meyer.Wie Marionetten instrumentalisierte Wieland die beiden Frauen in seinem literarischen Freundschaftsspiel: Wieland teilte Sophie die Rolle der ,Doris‘ als Geliebte und Dichter-Muse im modischen, anakreontischen Spiel zu und führte Sophie so (als Leserin und Ideengeberin) in die damals entstehende ,schöne Literatur‘ (belles lettres) ein.¹² Gutermann wurde von Wieland und auch von Bodmer z. B. aufgefordert, sich in die Assenat (in Bodmers Epos Jacob und Joseph) zu verset-

 Vater Gutermann reiste 1747–1748 für fast ein Jahr mit Sophies Verlobtem Bianconi nach Italien, die Verlobung ging auseinander, weil Gutermann und Bianconi sich nicht über die Konfession der zu erwartenden Kinder einigen konnten. Gutermann schickte nach dem Tode seiner ersten Frau, Sophies Mutter (1748), seine Kinder aus dieser Ehe, von denen Sophie die älteste war und ihre Geschwister betreuen musste, zum Großvater Gutermann in Biberach, wo Sophie 1750 den drei Jahre jüngeren Vetter Wieland kurz kennenlernte und sich mit ihm verlobte. Wieland brach sein eben begonnenes Jurastudium in Tübingen bald ab und ging schon 1751 zu Bodmer nach Zürich.  Vgl. die Briefe Nr. 1, 3, 7‒12 in: Wielands Briefwechsel, hg. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1963, Bd. 1; Nr. 12 enthält Wielands „Betrachtungen“, seine wohl erste literarische Schrift, gerichtet an Sophie Gutermann. Ihre Briefe an Wieland sind erst vom 30. Januar 1753 (hier Nr. 96) an erhalten, alle ihre Briefe nach Zürich gingen über Wieland. Ansonsten enthält Wielands Briefwechsel alle erhaltenen Briefe aus dieser Korrespondenz bis zu La Roches Tod 1807 ebenfalls mit Kommentar, allerdings waren die Herausgeber weitaus mehr an Wieland interessiert.  Vgl. ebd., Bd. 2, S. 166‒701. Die Einladung nach Zürich war von Mitgliedern dieser Gesellschaft, die Wieland im Mai 1752 in Tübingen traf, ausgegangen, die Wieland in dem Glauben ließen, Bodmer stände hinter der Einladung. Bodmer, der sich inzwischen mit Klopstock und dessen jungen Bewunderern überworfen hatte, sah sich dann gezwungen, die Einladung dennoch auszusprechen. Wieland trat zunächst auf Bodmers Seite und unterstützte dessen literarische Geschmacksurteile.  Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Lesen, Geselligkeit und Entstehung der Schönen Literatur, in: dies.: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin, Heidelberg 2008, S. 15‒38.

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zen¹³ oder ihre Gefühle über Hagedorns Oden und Lieder zu beschreiben, was Wieland dann im Bodmer-Kreis herumreichte und zur Inspiration der Dichter diente.¹⁴ Wieland bat sich den Briefwechsel auf Deutsch aus und nicht, wie damals in großbürgerlichen Kreisen Südwestdeutschlands üblich, auf Französisch. Er ermunterte Sophie: „Sie machen mir unendlich viel Vergnügen, wenn Sie sich in der Dichtkunst immer mehr üben, wie auch in der deutschen Sprache, welche viel schöner als die französische ist.“¹⁵ Die jungen Literaten im Züricher Kreis um Bodmer wollten eine nationale deutsche Literatur schaffen, wobei ihre Freundinnen als Musen und konkreter als Leserinnen und Zulieferinnen von Ideen und Einfällen fungieren sollten. Auch die anakreontische Kostümierung für die beiden Frauen als literarisierte Geliebte, Sophie Gutermann als ‚Doris‘, Barbara Meyer als ‚Daphne‘, was dem literarischen Geschmack der Rokoko-Gesellschaft und der Klopstock-Jünger entsprach, stammte von Wieland. Er inszenierte diese parallellaufenden Freundschaften der jungen Liebhaber, um Hallers Liebesspiel mit Doris, Klopstocks mit Cidli in der Tradition der Liebespaare seit Catull und Ovid nun noch verfeinerter und artifizieller nachzuspielen. In diesem geselligen Spiel wurden die beiden Frauen in die traditionellen Rollen der „Geliebten“ mit allen rhetorischen Floskeln des Liebesdiskurses eingesetzt. Doris – Sophie Gutermann – durchkreuzte jedoch dieses Spiel, sie verfolgte auch ein handfestes Anliegen mit dieser Brieffreundschaft mit Barbara Meyer: Sie wollte persönlich teilnehmen und zu Meyer und Wieland in die Schweiz reisen. Unter der literarisch-stilisierten Oberfläche sind Sophies konkrete Wünsche und Absichten nicht zu überhören. Jeder Brief Sophie Gutermanns enthält neben den emotionsgeladenen Floskeln den expliziten Wunsch, Zürich zu sehen und an dem literarischen Spiel teilzunehmen, womit indirekt eine Vereinigung ‒ Heirat ‒ mit Wieland gemeint war.¹⁶ Diese für Sophie Gutermann lebenswichtige Frage bildete

 Wielands Briefwechsel, Bd. 2, S. 128.  Ebd., Brief von Gutermann an Wieland, 30. Januar 1753; Bd. 2, S. 159 f. enthält Gutermanns Brief an Bodmer vom selben Datum. Gutermanns Briefwechsel lief über Wieland.  Wielands Brief vom Juli 1751, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 20 [Hervorh. B.B.C.]. Sophies französische Erzählung dürfte aus dieser Zeit stammen, die sie später überarbeitet und ohne Verfassernamen in einer deutschen Fassung drucken ließ; Sophie von La Roche: Les Caprices de LʼAmour et de LʼAmitié. Anecdote Angloise, suivie dʼune petite Anecdote Allemande, Zuric, chez Orell, Geβner, Fueβlin & Comp. 1772, und dies.: Der Eigensinn der Liebe und Freundschaft. Eine engländische Erzählung. Nebst einer kleinen deutschen Liebensgeschichte. Aus dem Französischen übersezt, Zürich: Orell, Geβner, Füeβlin und Comp., 1772.  Zunehmend berichtete sie dann auch von den Veränderungen bei den Gutermanns, dass eine Schwester verheiratet wurde und die Familie mit den zwei jüngsten Geschwistern nach Augsburg zog.

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einen Haupttext unter der Konvention der stilisierten Freundschaftsbriefe. Denn in der realen Welt versuchten sowohl Wielands Familie als auch Sophies Mutter und Vater Gutermann, der wiedergeheiratet hatte und damals eine Versorgungsheirat für Sophie anbahnte, die Verlobung mit Wieland auseinanderzubringen. Wenige Monate später, im Dezember 1753,¹⁷ heiratete Sophie Gutermann Georg Michael Frank La Roche (1720‒1788), den Privatsekretär, Adoptivsohn und vermutlich natürlichen Sohn des Reichsgrafen von Stadion (1691‒1768). Ihre lebenslang harmonische Ehe führte sie zunächst (als Zuarbeiterin) in die kulturellen Aktivitäten aristokratischer Kreise ein, denn sie lebte dann mit La Roche und ihrer wachsenden Familie als Hofdame, Gesellschafterin und Vorleserin der Stadionʼschen Familie im Schloss Warthausen, später in der glanzvollen Residenz des Kurfürsten und Erzbischofs Johann Friedrich Karl von Osteins in Mainz, wohin die La Roches Stadion 1754 folgten, als dieser dort mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut wurde.¹⁸ All dies förderte Sophies literarische Tätigkeit und ermöglichte ihre spätere, professionelle Autorschaft. ‚Doris‘ war eine Fremdinszenierung durch den aufstrebenden, sich im literarischen Feld der 1750er Jahre etablierenden jugendlichen Wieland. Sophie Gutermann spielte als Geliebte die Rolle der inspirierenden Dichter-Muse und wurde so in den literarischen Zirkeln der Schweiz und Südwestdeutschlands bekannt. Die Freundschaft mit Wieland führte sie in die deutsche Literatur ein, während Wieland mit patriarchalischer Geste den Kunstrichter aus der Ferne spielte und Sophies frühe eigene Schreibversuche ermunterte und förderte: Die Fabel, welche Sie mir geschickt haben, ist ganz artig, außer daß die Wörter ‚verbande, fande, erführe‘ wider die deutsche Grammatik verstoßen. Es muß ‚verband‘, ‚fand‘ heißen, das e ist unerlaubt. Doch dieses ist eine Kleinigkeit, die ich meiner liebenswürdigen Schwäbin, gar gern vergebe. Ihre Prosa ist unvergleichlich.¹⁹

 Wielands Eifersüchteleien, seine Affären mit Frauen in Zürich, Streit mit Wielands Mutter, die vermutlich Briefe von Wieland nicht an Sophie weiterleitete, und der Druck ihrer Eltern auf Versorgung ließen ihr keine andere Wahl als eine Heirat einzugehen.  Mit Rat in vielen Briefen und persönlichem Einsatz begleitete Sophie La Roche Wielands Karriere bis zu dessen Übersiedlung nach Weimar 1772. Aus der inspirierenden Muse für Wielands Dichtung war nun eine praktische Lebens- und Karrierehelferin geworden. La Roche half Wieland bei seinen Frauengeschichten; fand in Julie Bondeli, Wielands Schweizer Verlobte, die sich nach Wielands monatelangem Schweigen bei Sophie La Roche mit einem Brief nach dem Verbleib Wielands erkundigte, eine eigene langjährige Briefpartnerin; Sophie betreute Christine Hogel, Wielands nicht standesgemäße, schwangere Geliebte und half schließlich Wielands Ehe mit der wohlhabenden Kaufmannstochter Anna Dorothea von Hillenbrand zu arrangieren; vgl. Barbara Becker-Cantarino: La Roches Autorschaft und die schwierige Beziehung zu Wieland im Zeichen von Literatur und Freundschaftskult, in: Meine Liebe zu Büchern, S. 41‒86.  Wielands Brief vom Juli 1751, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 20.

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1.2 Sternheim Zwanzig Jahre später wurde Wieland bekanntlich zum literarischen Mentor als Herausgeber von La Roches erstem Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771). La Roche hatte inzwischen den Hofdienst verlassen, da Graf Stadion verstorben war und dessen Erben Georg Frank La Roche auf eine untergeordnete Stellung als Amtmann in Bönnigheim verdrängt hatten. La Roche verlor ihre geselligen Kontakte, die Privilegien und das damit verbundene gesellschaftliche Prestige. Sie hatte sich seit 1766 wieder mit eigenen literarischen Arbeiten beschäftigen können, als ihre beiden Töchter gegen ihren Wunsch im Klosterpensionat erzogen wurden, und legte 1767 ihrem Seelenfreund und Mentor „lettres à C.“ vor, die laut Wielands Mitteilung besonders bei seiner Frau Gefallen fanden. „Jʼaime Votre manière de moraliser“,²⁰ fügte er hinzu. Er begutachtete die übersandten fiktionalen Briefe, wünschte, dass Sophie etwas von ihrem Enthusiasmus verlieren möge, während sie selbst gerade den Enthusiasmus als die Triebfeder ihrer Handlungen, als „gegenwehr manches unvermeidlichen mißvergnügens“ gegen den „Frost und Schnee in [ihrer] Seele“ ansehe, den das Altern noch verstärke.²¹ Am 22. April 1770 konnte La Roche aus Warthausen an Wieland melden, dass der erste Band ihres Romans fast vollendet sei und der zweite Band „courre au grand trot dans ma tete“ ‒ ob er wohl des Druckes würdig sei?²² Ende April 1770 bot Wieland Sophie an, für die Publikation des Romans zu sorgen: „Ich werde Ihr Pflegevater seyn. Reich²³ soll sie in einer üppig gezierten, aber simpel schönen Ausgabe verlegen.“²⁴ Für den zweiten Band bezahlte Reich 20 Dukaten (Wieland erhielt für seinen Diogenes im selben Jahr 50 Dukaten) an Wieland, der eine genaue Abrechnung ablegte: Einen Dukaten bezahlte er dem Kopisten des Manuskriptes, das restliche Geld wurde gegen die Forderungen, die Wieland für die Betreuung von La Roches ältestem Sohnes Frank, der seit einiger Zeit zur Erziehung in Wielands Haus weilte, verrechnet. Danach sollte sich Sophie den Rest von ihrem Manne auszahlen lassen.²⁵ Sophie war allerdings am Erhalt des Geldbe-

 Wielands Brief vom 17. November 1767, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 3, S. 481.  La Roches Brief vom 25. Februar 1770, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 97.  La Roches Brief vom 22. April 1770, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 139.  Philipp Emanuel Reich förderte als Geschäftsführer der Weidmannʼschen Buchhandlung in Leipzig (1747‒1787) zunächst junge, aufstrebende Autoren wie Wieland, Johann Georg Sulzer, Christian Felix Weiße, Johann Kaspar Lavater. Er reformierte den deutschen Buchmarkt, indem er gegen Raubdruck und Selbstverlag anging und statt des Tauschhandels den Barverkehr einführte.  Wielands Brief von Ende April, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 140 f.  Wielands Brief vom 31. August 1771, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 351.

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trages sehr interessiert; ja sie scheint fast zu bereuen, das Honorar des ersten Bandes für wohltätige Zwecke bestimmt zu haben; sie war von der Landgräfin Karoline von Darmstadt eingeladen worden und benötigte Geld für die Reise: „Wenn ich nicht eine Läpin geweßen und alles Geld meines ersten theils außgegeben hätte, ohne an meine wünsche zu denken, so könte ich dieße Reiße machen und La Roche würde nicht geplagt?“²⁶ Mit dem ausdrücklichen Wunsch nach Veröffentlichung begann La Roche ihre Karriere als Schriftstellerin, die Publikation musste über den renommierten Schriftsteller Wieland gehen, der den Text leicht redigierte,Verlag und Druck besorgte und ihn als Herausgeber für ‚eine Freundin‘ mit seiner gönnerhaft-schulmeisterlichen Vorrede den Leserinnen ans Herz legte.²⁷ Damit etablierte Wieland die Nische ,Frauenliteratur‘ im literarischen Feld. Die Autorin La Roche trat bald aus dem Schatten der Anonymität heraus, sie selbst stilisierte sich persönlicher und differenzierter, als ihr männlicher Mentor das getan hatte, zur schreibenden Mutterfigur, sie habe ein „papiernes Mädchen“ erziehen wollen und ihre „Einbildungskraft“ habe ihr geholfen „den Plan zu Sophiens Geschichte“²⁸ zu erschaffen. Ihren therapeutischen Schreibanlass verband die Autorin mit ihrem kreativen Impetus, ihrer Einbildungskraft in der femininen Mutter-Metapher („ein papiernes Mädchen erziehen“), wobei sie mit dem Terminus ‚Einbildungskraft‘ durchaus an die zeitgenössische Poetik anschloss und damit ein Anrecht auf ‚Dichtertum‘ artikulierte. Die lebhafte zeitgenössische Rezeption des Romans identifizierte jedoch vielfach die Autorin mit der Heldin als ‚die Sternheim‘ und die Literaturgeschichte bis ins 20. Jahrhundert verengte Sophie von La Roches Autorschaft auf den Sternheim-Roman – und auf die noch heute oftmals als ästhetisch minderwertig angesehene ‚Frauenliteratur‘.

 La Roches Brief vom 24. August 1771, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 348. Erst 1772 gab ihr Mann die Erlaubnis, das Geld zu diesem Zweck zu benutzen, um mit Tochter Maxe nach Darmstadt und Hamburg zu reisen.  Immer wieder hatte Wieland den Nutzen dieses Werkes für das weibliche Geschlecht betont, er nannte ihn „un bien infini aux personnes de Votre sexe“, in: Wielands Brief vom 17. Dezember 1769, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 72.  Sophie von La Roche: Melusinens Sommer-Abende, hg. von C. M. Wieland, Halle 1806, S. XXVII. La Roche musste um 1770 eine persönliche Sinnkrise und körperliche Erschöpfung durchstehen und meisterte diese in der Art einer pietistischen Umkehr oder eines Durchbruchs, was sie später im Rückblick als „Kopf ausleeren“ (S. XXVI) und Selbstbeobachtung ihrer eigenen Gedanken erklärte.

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1.3 Pomona Für die literarische Öffentlichkeit der Aufklärung stellte La Roche ihr weiteres umfangreiches Werk an Romanen, Erzählungen, Reiseberichten, kurz: ihre publizistische Tätigkeit als eine erzieherische Aufgabe vornehmlich für Frauen dar, wie der Untertitel von Pomona. Für Teutschlands Töchter deutlich machte. Pomona war der programmatische Name ihrer Moralischen Wochenschrift, die sie 1783‒ 1784 herausgab. Mit dem Namen ‚Pomona‘, der antiken Göttin des Herbstes und der Fruchtbarkeit, wählte die über fünfzigjährige Autorin eine altersgerechte, feminine Inszenierung. Sie wies mutig auf ihr Alter, ihren Status als Matrone hin: „Ich bin in dem Herbst meines Lebens, und der Entwurf dazu entstund in dem Herbst.“²⁹ Mit ‚Pomona‘ meinte La Roche aber auch die betont produktiv-feminine Figur, als in den 1780er Jahren die jungen Genies des Sturm und Drang das literarische Feld beherrschten und die Empfindsamkeit (Klopstock, Gleim, Wieland) als unästhetisch und veraltet abwerteten (was die Literaturgeschichtsschreibung bis heute tradiert). Die bewusste Namensgebung war ein Zeichen des wachsenden Selbstbewusstseins La Roches als Autorin auf dem literarischen Markt, eine Geste der Positionierung ihrer Zeitschrift in der Konkurrenz zu zahlreichen Moralischen Wochenschriften ‒ im 18. Jahrhundert existierten allein über 120 Wochenschriften nur für Frauen,³⁰ zudem gab es eine Flut an literarischen Journalen, die fast alle ‒ wie auch später die vielen Damenkalender und (Musen)Almanache für Damen ‒ von männlichen Literaten redigiert und zunächst vorzugsweise von männlichen Autoren beliefert wurden, während vielfach unbekannt gebliebene schreibende Frauen ebenfalls anonym – unter Chiffren – zeichneten, die zumeist heute noch nicht erschlossen sind. La Roche begann ihr Vorwort zu Pomona mit dem Anspruch auf Neuheit, Originalität und einer eigenen Meinung als Frau: „Das Magazin für Frauenzimmer und das Jahrbuch der Denkwürdigkeiten für das schöne Geschlecht – zeigen meinen Leserinnen, was teutsche Männer uns nützlich und gefällig erachten. Pomona – wird Ihnen sagen, was ich als Frau dafür halte.“³¹ La Roche betonte ihre Herausgeberschaft als Frau und unterstrich dazu noch, dass sie diese nach ihren eigenen Vorstellungen ausüben werde. In der Inhaltsgestaltung entwickelte La Roche ein eigenes Profil der unterhaltenden Wissensvermittlung für ihre Zeitschrift. Die von ihr verfassten Briefe an Lina und zehn moralische Erzählungen  Sophie von La Roche: Veranlassung der Pomona, in: Pomona (1783), H. 1, S. 15.  Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1998, S. 50‒75, 599‒605. Nur sieben Frauen (alle im späten 18. Jahrhundert) sind unter den Herausgebern.  Sophie von La Roche: Pomona (1783), H. 1, Vorrede unpag., S. a2r.

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bildeten den Grundstock, den sie später separat nochmals publizierte. Sie brachte Schöne Literatur neben Gebrauchsprosa: Gedichte, Erzählungen, Übersetzungen, Aufsätze zu allgemeinbildenden Gegenständen (u. a. Geschichte, Dichtkunst, Musik, Medizin), Reiseberichte und Frauenthemen (Mode, Tanz, moralische Schönheit). Das zweite Heft ist Frankreich, das vierte England und das sechste ist Italien gewidmet mit Artikeln über Literatur, Kultur und geographische Besonderheiten. Damit vermittelte La Roche Informationen, Allgemeinbildung und regte zur Weiterbildung an. In ihren Aufsätzen Über das Lesen (Heft 9) und Das Bild meiner Arbeit und Sorgen (Heft 6) zeigte sich La Roche eher von einer persönlichen Seite und sprach das Mitgefühl an, über die eigene Situation und Sorgen als Frau nachzudenken. La Roche ging es in der Pomona nicht um Mutterschaft und Kindererziehung, sondern um die Bildung der erwachsenen, älteren Frau, die wie sie selbst in einer schwierigen Phase der Neuorientierung in der Familie und Ehe war. 1780 war Georg Frank von La Roche beim Erzbischof in Ungnade gefallen, verlor mit der fristlosen Entlassung seine Privilegien und den gesellschaftlichen Rang; sie zogen auf Einladung des Domherrn Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld, der auch seine Pensionsansprüche an La Roche abtrat, von Ehrenbreitstein in dessen Haus nach Speyer (1866 nach Offenbach), während die heranwachsenden Kinder in den 1770er und 1780er die Familie verließen. La Roche wagte in der Pomona leise Kritik an der gesellschaftlichen Stellung der Frau: „Wir und unsere Fähigkeiten wurden immer nur zu der Hausdienerschaft gerechnet.“³² Sie appellierte an die eigenen Verstandeskräfte und Fähigkeiten mit dem Verweis auf Vorbilder: „Immer ist es Beweiß, dass wir mit unsern Verstandeskräften tun können, was wir wollen, wenn es uns nur recht Ernst ist.“³³ Und sie zitierte aus einer Zuschrift, die einen Blick warf „ins bessere Leben, wo kein Unterschied zwischen Mann noch Weib sein wird, wo gleich einmütiges Bestreben nach höchster möglicher Vervollkommnung unsere Bestimmung, und Forschen in dem, was war und sein wird, unser aller Arbeit sein wird.“³⁴ Eine besondere Innovation ist La Roches Dialog mit ihren Leserinnen. Schon in ihrer Vorrede hatte sie ihre Leserinnen aufgefordert, ihr mitzuteilen „was meine Leserinnen von Pomona wünschen.“ Die größtenteils authentischen, teils wohl auch fingierten Briefe und Antworten gaben La Roche die Legitimation, mit persönlichen Dingen an die Öffentlichkeit zu treten und Fragen über ihr Leben und ihre Interessen darzustellen. Sie gaben der Zeitschrift auch eine stärkere

 Ebd., 1784, H. 1, S. 170.  Ebd., 1783, H. 4, S. 368.  Ebd., 1784, H. 4, S. 380.

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individuelle Note. La Roche adressierte ihre Leserinnen als „liebenswürdige teutsche Landsmänninnen“ und sah sie ausdrücklich „nicht als Schülerinnen“ an, sondern als Freundinnen, von denen sie „die Geschichte fremder Gesinnungen und Schicksale“ hören wollte; sie ist Beraterin und zugleich interessierte Zuhörerin der „Erfahrungen und Kenntnisse anderer.“³⁵ Damit signalisierte sie Gleichheit, weichte die traditionelle Hierarchie der Lehrerin oder Mutter auf und erschien selbst als Lernende, anstatt als Sittenrichterin. Die Rubrik „Briefe und Antworten“ bot so Diskurse über Geschmack, Autorschaft von Frauen, Schöne Literatur und besonders über das spätaufklärerische Weiblichkeitsideal und Geschlechterbeziehungen. Zwar gab es auch Selbstdarstellung, schmeichelndes Lob und sanften Tadel bis zur Moralpredigt, dennoch war La Roches explizites dialogisches Vorgehen ein wichtiger Impuls für die Moralischen Wochenschriften. La Roches Pomona spiegelte den kulturellen Habitus des aufgeklärten Bildungsbürgertums mit pietistischen Anklängen. Dieser Habitus basierte in dem Vertrauen auf eine gottgewollte,vernünftige Stände- und Geschlechterordnung, in der jeder Mensch seinen Platz haben sollte. Die Menschen waren durch Erziehung und eigene Arbeit zu ihrem ‚Glück‘ zu bringen. In diesem Sinne sollte die Pomona für die von den Erziehungsbestrebungen vernachlässigten Frauen nützlich, aber in der (damals) modernen journalistischen Form einer Zeitschrift auch unterhaltend sein und die Geselligkeit (etwa mit den Liedern und Gedichten zum Vortrag) fördern. La Roches Selbststilisierung und ihre Anpassungsstrategien waren vereinbar mit, ja beruhten auf festen ethischen Werten der Nächstenliebe und der Selbstliebe, einer starken Identifikation mit ihrer gesellschaftlichen Rolle; das hatte sie in der Gesellschaft der Aufklärer wie Stadion und La Roche erfahren. Ihr Glaube an die ethischen Werte und den erziehbaren Menschen trugen neben ihrer Schreiblust das Unternehmen der Pomona, mit dem sie auch Geld verdienen, aber ihren gutbürgerlichen Ruf und damit die prekäre Existenz der La Roches nach Frank Georgs fristloser Entlassung keineswegs aufs Spiel setzen wollte und konnte.³⁶ Die Rezeption der Zeitschrift in den 1780er Jahren beweist, dass sie dem Geschmack und den Vorstellungen der zeitgenössischen Leserschaft der Schönen Literatur aus den gehobenen Schichten (fast alle Abonnentinnen und Abonnenten kamen aus dem niederen Adel und dem gehobenen Bürgertum) entsprach und erst später, im Zuge der Ausdifferenzierung der Schönen Literatur als zweckfreie Kunst in der Klassik und Romantik, als ‚unmodern‘ wahrgenommen wurde.

 Ebd., 1783, H. 1, S. 317 f.  Es ist anachronistisch, aus der heutigen Perspektive des sozialen Wohlfahrtsstaates revolutionäre oder feministisch-emanzipatorische Texte in der Pomona zu erwarten.

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La Roche führte ihr Schreiben in den zwei, sich oft überschneidenden Hauptrichtungen fort: in zumeist didaktischen Verhaltensschriften wie Briefe an Lina und in den eher fantasievoll-unterhaltsamen Erzählungen und Romanen. Diese zahlreichen weiteren Publikationen kombinierten das horazische ,prodesse et delectare‘ in fiktionaler Gestaltung lebensweltlicher, zeitgenössischer Problemsituationen mit Frauen und Männern sowie mit praktischen Ratschlägen und der Vermittlung von kulturellem Wissen (besonders in ihren vier Reiseberichten).³⁷ In ihrem autobiografischen Lebensrückblick Melusinens Sommerabende (1806)³⁸ erwähnte La Roche aber auch ihre Tarnstrategie beim Schreiben, nämlich dass sie „Lieblingsideen“, die sie nicht ausführen, Gedanken, die sie nicht „laut sagen wollte“, mit „Einbildungskraft“ in der „idealischen Welt“ mit „wahren Begebenheiten“ vermischt nur in ihren Fiktionen darstellen konnte.³⁹ Ihre Schriften bezeichnete sie als „Züge unserer Seele im Denken und im Fühlen […] was wir aus Unterredung und Büchern uns zu eigen machen“, eine Verarbeitung von eigenem Denken, Fühlen, Gesprächen und in Büchern Gelesenem, eine „Kleidung und Verzierung unseres Geistes und unserer Empfindungen“, die der Gesellschaft nützlich und gefällig werden soll.⁴⁰ Mit ihrer Selbstinszenierung als Autorin verband La Roche ein anspruchsvolles literarisches Programm aufklärerischer Bildung und fantasievoller, femininer Selbstgestaltung.

 Auch La Roches Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahre 1799 (Leipzig: Gräf, 1800) war eben nicht eine sentimentale Reise in die Vergangenheit, sondern ein präzise geplantes,wohl durchdachtes Schreibprojekt in der Art, in der La Roche am besten und wohl auch am liebsten erzählte.  La Roche adressierte ihr letztes Werk an die fiktive Melusine von Planberg, die ihre Eltern „früh verloren – und die Erbin von großen Gütern“ wurde; ‚Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen‘. Sophie von La Roche (1730‒1807), Katalog Museum Sophie La Roche, Bönnigheim 2000, S. 102. In der Figur der mittelalterlichen Sagengestalt der dämonischen, wandelbaren Wasserfee Melusine, Heldin einer tragischen Liebesgeschichte, griff die Autorin eine populäre Figur (Goethes Märchen Die neue Melusine erschien 1807, später als Einlage in Wilhelm Meisters Wanderjahren) der Romantik auf und positionierte diese als Rezipientin ihres (La Roches) Literaturprogramms.  Sophie von La Roche: Melusinens Sommer-Abende, hg. von Christoph Martin Wieland, Halle 1806, S. XXX‒XXXIII.  Ebd., S. XXII.

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2 Bettina von Arnim, geb. Brentano (1785‒1859) Die Enkelin La Roches – über ihre Tochter Maximiliane – war Bettina Brentano.⁴¹ Nach dem Tod ihrer Eltern lebte Bettina in den Revolutionskriegen von 1797 bis etwa Dezember 1802, zwischen ihrem 12. bis zum 16. Lebensjahr, bei der Großmutter in Offenbach, lernte dort die vielen Besucher La Roches und die (bei La Roche einquartierten) royalistischen französischen Emigranten kennen. In diesen formativen Jugendjahren hat Bettina ihr Sensorium entwickelt und ihre sie prägende Sozialisation erfahren, im Haus mit Arbeitszimmer und Bibliothek der Großmutter, dem Garten, der Kleinstadt und deren sozialem Umfeld. La Roche hat Bettina die Welt der Bücher nähergebracht, sie diese achten und lieben gelehrt, ihre Bildung durch Vorlesen und Übersetzen sowie ihre musische Begabung gefördert. Verglichen mit ihrer Großmutter und anderen Autorinnen und vielen Autoren der Zeit hatte Bettina eine privilegierte Ausgangsposition im literarischen Feld. Als Lieblingsschwester von Clemens Brentano, der sie ab 1800 in die romantische Literatur und Freundeszirkel einführte, ab 1811 als Ehefrau des Dichters Achim von Arnim, dessen literarische Karriere sie enthusiastisch und publizistisch förderte, verkehrte sie ab 1811 in den literarischen Salons der gehobenen Berliner Gesellschaft, hatte viele Geistesgrößen ihrer Zeit persönlich aufgesucht oder war mit ihnen befreundet.⁴² Sie hatte, angefangen mit dem Bruder Clemens, mehrere intensive Korrespondenzen geführt, ihre Kompetenz im Briefeschreiben wurde zur Grundlage für die Buchpublikation ihrer fünf Briefdichtungen. Mit dem Schreiben von Briefen hat sie ihr Leben reflektierend begleitet, sich privat und öffentlich autobiografisch und fantasievoll zwischen ‚Dichtung und Wahrheit‘ inszeniert.

 Ich bezeichne mit ‚Bettina Brentano‘ die historische, unverheiratete, mit ‚Bettina von Arnim‘ oder kurz ‚Arnim‘ die verheiratete Schriftstellerin, mit ,Bettina‘ das Bild der Person und Dichterin besonders in der Rezeption.  Schon in ihrer Frankfurter Jugendzeit bis 1807 lernte sie Goethes Mutter, Tieck, Karoline von Günderrode, Friedrich Karl von Savigny, Friedrich Creuzer, Wieland und Goethe persönlich kennen, in Kassel, München und Wien u. a. die Brüder Grimm, die Jacobis, Beethoven, und in fast 50 Jahren in Berlin u. a. Schleiermacher, Schinkel, Karl August und Rahel Varnhagen, Heine, Fürst Pückler, Fanny Lewald, Hoffmann von Fallersleben; vgl. Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim in der Kommunikationskultur der Romantik sowie Netzwerk, Freundschaften, Mentoring, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von ders., Berlin/Boston 2019, S. 156–241.

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Abb. 2: Bettina von Arnim mit dem Entwurf ihres Goethe-Denkmals. Radierung von Ludwig Emil Grimm, 1838.⁴³

 Mit freundlicher Genehmigung SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Rudolph Kramer. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (SKD), Kupferstich-Kabinett, Signatur/Inventar-Nr.: Singer 1062/3425 & A 3031, 2.

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2.1 Kind / Mignon Angeregt vom Bruder Clemens und der Lektüre von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) inszenierte sie sich zunächst im jugendlichen Freundeskreis als schwärmerisch-liebende Verehrerin des Dichters Goethe. Schon die knapp 22jährige Bettine Brentano organisierte einen ersten Goethe-Besuch 1807 in Weimar,⁴⁴ besuchte Goethes Mutter in Frankfurt, schickte Goethe exquisite Geschenke und begann einen Briefwechsel mit demselben.⁴⁵ Diesen verarbeitete sie dreißig Jahre später kurz nach dem Tod des Dichter 1832 zu ihrem Goetheʼs Briefwechsel mit einem Kinde. Seinem Denkmal (1835), das eine literarische Sensation im Erscheinungsjahr wurde, Arnim zu einer prominenten, aber auch umstrittenen Autorin machte, denn die Goethe-Verehrer der damals sich etablierenden Germanistik diskutierten kontrovers die Echtheit der in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde enthaltenen Briefe von Goethe und Arnims Aussagen über den Dichter und ignorierten Arnims Goethebuch als fiktionales, literarisches Werk. Mit dem Untertitel „seinem Denkmal“ hatte Arnim geschickt auf ihr Image als GoetheVertraute, Verehrerin und Interpretin hingewiesen, was sie auch in ihrem langjährigen Projekt eines Goethe-Denkmals pflegte,⁴⁶ das bis heute zum ikonischen Bild dieser Autorin gehört. Anders als die Goethe-Philologen es erwarteten, stellte die damals knapp 50-jährige Arnim in ihrem Goethe-Buch nicht den großen Dichter, sondern in einer völlig subjektiven, ich-bezogenen Erzählperspektive sich selbst dar. Ausgehend von der ‚jungen Bettine‘ um 1807 in der Freundschaft mit

 Sie überredete ihren Schwager, den Ehemann ihrer Schwester Lulu (und Bankier des Königs von Westphalen, Jérôme Bonaparte), sie auf einer Geschäftsreise nach Berlin mitzunehmen und auf der Rückreise nach Frankfurt einen Abstecher in Weimar zu machen.  Von Arnim sind 40 sehr ausführliche, persönliche Briefe an Goethe aus den Jahren 1807 bis 1832 erhalten; Goethe schrieb ihr 17-mal, meist knappe Danksagungen für empfangene Geschenke oder für Mitteilungen aus Frankfurt und seiner Jugendzeit, die Goethes Mutter Bettina Brentano erzählt hatte. Nach 1811 (dem Skandal der handgreiflichen Auseinandersetzung Bettinas mit Goethes Ehefrau Christiane in Weimar) antwortete Goethe nicht mehr und empfing die Arnims bei ihren Besuchen in Weimar nicht mehr.  Arnim begann bereits 1824 mit ihrer Entwurfszeichnung für das derzeit geplante GoetheDenkmal in Frankfurt, verbesserte die Zeichnung jahrzehntelang, beauftragte den Bildhauer Steinhäuser in Rom mit der Ausführung, konnte aber eine Finanzierung weder durch Friedrich Wilhelm IV. noch durch ihren Spendenaufruf einer „Subscription“ erreichen. Schließlich ermöglichte der Erbgroßherzog von Sachsen-Weimar-Gotha um 1850 den Transport der Kolossalstatue nach Weimar, wo sie heute im Landesmuseum aufgestellt ist. Arnim soll entsetzt gewesen sein, als sie die Statue 1853 sah: „Solch ein Monstrum und solch einen Knirps soll ich erdacht haben?!“; Petra Maisak: Bettina von Arnim als bildende Künstlerin, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Boston 2019, S. 549–577, hier S. 573.

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Goethes Mutter bis zu Reaktionen auf Goethes Tod 1832 stilisierte sie sich in der Rolle des Kindes. Bis zu ihrem Besuch bei Goethe in der letzten Szene des „Tagebuches“, das mit Buch der Liebe betitelt ist, inszenierte sie sich als naiv-romantisches Genie und Künstlerin. Als ‚Kind‘ erinnert und verwandelt die Erzählfigur ‚Bettine‘ sich zurück in eine jugendliche Liebende, Geliebte und Dichtermuse der Romantik. Diese romantische Kind-Fiktion positioniert sich außerhalb der Konventionen und beengenden Regeln der Gesellschaft ihrer Zeit. Die gefühlvolle, autobiografisch-subjektive Selbstinszenierung der Autorin Bettina von Arnims begeisterte das junge, studentische Lesepublikum und besonders Frauen und prägte das Bild von ‚Bettina‘, der ‚großen Liebenden‘. Die Autorin Bettina von Arnim konterkarierte mit ihrer Fiktion auch die reale ‚Frau Baronin Bettina von Arnim‘ (so nannte sie sich in offiziellen Briefen an den Berliner Magistrat oder im Geschäftsverkehr mit Verlegern und Buchgehilfen). Sie kaschierte damit ihre wenig poetische Situation als Witwe (Achim von Arnim war bereits 1831 gestorben) mit sieben heranwachsenden Kindern (geboren zwischen 1811 und 1827) und Matrone, die etwa im Kaffeter-Club, ein Treffpunkt, der von der Generation ihrer Töchter frequentiert wurde, nur als ‚Patronesse‘ ab und an zugeladen wurde.⁴⁷ Dennoch war Bettina von Arnim auch als ältere Frau eine prominente Figur in der besten Berliner Gesellschaft. Arnim konnte die gesellige Kultur der Berliner Salons nutzen, die Gespräche und Einladungen zu musischliterarischen Darbietungen, die Mode der Visiten und privaten Besuche in prominenten Häusern, um ihre Aktivitäten als Autorin zu fördern. Auch in ihren zahlreichen Privatbriefen konnte Arnim rhetorisch versiert ihre literarischen Arbeiten darstellen. Der große Publikumserfolg ihres ersten Briefbuches eroberte ihr einen Platz im literarischen Feld als Autorin. Sie war bestens mit Literaten vernetzt, wie mit Karl August von Varnhagen, der mit Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1833) ebenfalls ein erfolgreiches Erinnerungsbuch publiziert hatte, oder dem exzentrischen Aristokraten und populären Autor Fürst Pückler-Muskau (Briefe eines Verstorbenen, 1830–1831), dessen Freundschaft sie gesucht hatte. Im Briefwechsel mit Pückler erprobte sie im Spiel mit Imaginationen ihr Schreiben für das Goethe-Buch und Pückler ermunterte sie:

 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Erziehung, Kinder, Nachfahren, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von ders., Berlin/Boston 2019, S. 144–155.

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Du bists – eine ächte Dichterin – und schöner kann sich des Weibes Gemüth nicht aufthun als in Deinen letzten Briefen. Fahre ja mit Göthe aus Deinem Leben fort, und verschweige nichts, thue Dir auch nicht den leisesten Zwang an, schreib als sprächest Du zu Dir selbst.⁴⁸

2.2 Mentorin / ‚Ambrosia‘ Mit ihrer Autorinszenierung als Kind und als romantisch-mythische Romanfigur der Mignon aus Goethes bekanntestem Roman konnte Arnim eine jugendliche Fangemeinde in den späten 1830er Jahren gewinnen, die ihre fantasievolle Inszenierung mit der Betonung von Liebe und Gefühl besonders ansprach. Arnim schlüpfte dann zunehmend selbst in die Rolle einer „epistolaren Mentorin“⁴⁹ und Erzieherin der Jugend, genauer gesagt: junger begabter Männer aus großbürgerlichem und aristokratischem Hause, Bildungsreisender und Intellektueller, die in der aufstrebenden Metropole Berlin ihre Karriere fördern wollten. Viele waren Schüler Savignys, die an der Berliner Universität studierten. Die jungen Intellektuellen, darunter spätere Geistesgrößen wie der Kunsthistoriker Jacob Burkhardt oder der Dichter Emanuel Geibel, besuchten Arnim in ihrer Berliner Wohnung mit oder ohne Empfehlungsschreiben und wurden, entweder umgehend oder nach einigen Versuchen, empfangen. Diese sahen in ihr eine Art moderne Mutterfigur und Mentorin und wollten, auch weil Arnim als Literatin und Aristokratin gut bekannt war, von ihrer gesellschaftlichen Prominenz und ihrem Netzwerk profitieren, ähnlich wie Arnim es mit ihrem Anschluss an Goethe getan hatte. Arnim ihrerseits steuerte den Besucherstrom, sammelte einen Kreis junger Männer um sich und kultivierte ganz gezielt persönliche Beziehungen zu einzelnen Verehrern, für die sie sich als Mentorin inszenierte, wie Moriz Carriere, Marcus Niebuhr oder Heinrich Bernhard Oppenheim. Ihr Enthusiasmus, ihre rhetorische Brillanz und ihre Selbstinszenierung als kritische Stimme gegen die ‚Philister‘, die Honoratioren des Establishment, förderten deren persönliche und berufliche Entwicklung. Arnim widmete ihr zweites Briefbuch Die Günderode (1840) „Den Studenten. […] Euch Irrenden Suchenden! Die Ihr hinanjubelt den Parnassos, zu Kastalias Quell […] Die Ihr Hermanns Geschlecht Euch nennet, Deutschlands Jünger-

 Bettine von Arnim und Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt. Briefwechsel 1832‒1844, hg. von Enid und Bernhard Gajek, Stuttgart 2001, S. 49.  Wolfgang Bunzel: Brief-Erziehung. Bettine von Arnim als epistolare Mentorin, in: Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation, hg. von Selma Jahnke und Sylvie Le Moël, Berlin 2015, S. 137‒ 158.

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schaft.“⁵⁰ Sie sah in ihnen die Repräsentanten der Zukunft, sie werden die Zukunft sein und die Zukunft bestimmen. Arnim schrieb, sie fühle immer mehr, dass sie sich nur an „die jüngere Welt anschließen“ könne, „die alten Nobilitäten sind wie alte Schläuche, faßt man sie an oder wollte man sie gar mit Wein auf füllen, so würden sie wie Zunder reißen“.⁵¹ In ihren Selbstkommentaren in ihren Briefbüchern (sowie in ihren Privatbriefen) inszenierte sich Arnim als geniales Naturkind und spielte dieses Image gegen die Zwänge der Konvention und ‚Schicklichkeit‘ aus. Im Understatement und Paradox verwies sie auf ihre geistige und gesellschaftliche Kompetenz, wenn sie etwa in Die Günderode ihre Jugenderinnerungen ausbreitet und im fiktiven Gespräch des ‚Kindes‘ mit der ‚Großmama‘ dieser widerspricht und behauptet, sie (und nicht die „geistreichen Männer“) sei dazu berufen, „die Welt zu verstehen und zu leiten“.⁵² Sie plädierte in bester aufklärerischer Tradition für das „Selbstdenken“.⁵³ In privaten Briefwechseln mit jungen Protegés inszenierte Arnim sich als Mentorin. Doch nur eine Korrespondenz publizierte sie leicht überarbeitet in Ilius Pamphilius und die Ambrosia (1848/1849). Es ist ein dialogischer Diskurs über die Entwicklung der Persönlichkeit und beruhte auf dem Briefwechsel, den sie von 1837 bis 1839 mit Philipp Nathusius⁵⁴ führte. In diesem ein Jahrzehnt später publizierten Briefbuch trat Arnim metaphorisch als ‚Ambrosia‘ auf; der Selbstentwurf inszeniert sie als geistige Lehrerin und assoziiert sie mit ‚Ambrosia‘, der antiken Götternahrung. Der Briefroman erzählt von der Einheit einer nicht überbrückbaren Differenz zwischen ‚ewig junger‘ Romantik und historischer Gegenmacht des Philistertums, um dieses einmal mehr zu überbieten.⁵⁵ Die geringe Resonanz auf diesen Briefroman lag wohl u. a. daran, dass das Erscheinen des Buches mit den Revolutionsereignissen zusammenfiel – das Pathos, der hymnische Ton und die Thematik einer Mentorin mit ‚Ambrosia‘ waren im literarischen

 Bettina von Arnim: Die Günderode, in: Bettine von Arnim. Werke und Briefe, hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1, S. 297.  Arnims Brief von 27. Oktober 1841 an ihren Sohn Friedmund, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Boston 2019, S. 252.  Arnim: Die Günderode, in: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 514.  „Selbstdenken ist der höchste Mut. – Die meisten Menschen denken nicht selbst; das heißt sie lassen sich nicht von der Fabel des göttlichen Geistes belehren die alle Wirklichkeit durchleuchtet.“ Ebd., S. 662.  Nathusius war ein wohlhabender Kaufmannssohn aus Alshaldensleben bei Magdeburg, der in Berlin studierte und Arnim besuchte; Arnim arrangierte den Druck seiner Gedichte und Rezensionen, allerdings mit wenig Erfolg. Nathusius ging dann eigene Wege, wurde Fabrikant und baute später die Innere Mission der Evangelischen Kirche auf.  Vgl. Hedwig Pompe: Ilius Pamphilius und die Ambrosia, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Boston 2019, S. 439–450, hier S. 449.

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Diskurs mittlerweile obsolet geworden. Arnims schon für den Druck vorbereiteten Briefwechsel mit dem jungen Protegé Julius Döring publizierte sie nicht mehr⁵⁶ und wandte sich sozialpolitischen Fragen zu.

2.3 Mittlerin zum Volk / ‚Frau Rat‘ Als prominente Literatin mit Konnexion zur Aristokratie Preußens – Arnims Schwager Friedrich Karl von Savigny war preußischer Staatsrat und Justizminister – begann Arnim einen Briefwechsel mit dem Kronprinzen, der ab August 1840 dann als König Friedrich Wilhelm IV. regierte und zunächst ein Hoffnungsträger für das Bildungsbürgertum war. Bettina von Arnim hatte durch den Briefwechsel mit dem König, den sie 1839 im Zuge ihrer Bemühungen um eine Anstellung der Brüder Grimm angeschrieben hatte, mittlerweile dessen Aufmerksamkeit erlangt und versuchte nun, über eine volksnahe, literarische Publikation im Stile der Romantiker auch öffentlich auf den bald als schwach geltenden König Einfluss zu nehmen. Im Frühjahr 1841 gelang es Bettina, mit der Hilfe Alexander von Humboldts die Erlaubnis zu erhalten, ein Buch dem König widmen zu dürfen,⁵⁷ das dann unter dem Titel Dies Buch gehört dem König 1843 erscheinen konnte.⁵⁸ Arnim verband den missionarischen Anspruch, den König zu informieren und zu erziehen, geschickt mit der Vision eines ‚Volkskönigs‘.⁵⁹ Der erste, eher anekdotische Teil des Buches, von Bettina als „Der Erinnerung abgelauschte Gespräche und Erzählungen von 1807“ in die Romantik zurückverlegt, enthält zuvorderst fiktive Gespräche der ‚Frau Rat‘, der Mutter Goethes, so unter anderem mit der legendären Königin Luise, der Mutter Friedrich Wilhelms IV. (an den das Buch adressiert ist). Die gemeinsame Mutterschaft der beiden (und die der Autorin Bettina) spielt einerseits auf die menschlich-familiäre Verant-

 Hierzu die informative Ausgabe von Wolfgang Bunzel: Bettine von Arnim. Letzte Liebe. Das unbekannte Briefbuch. Korrespondenz mit Julius Döring, Berlin 2019.  Vgl. Ingo Schwarz: Alexander von Humboldt, in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Boston 2019, S. 276–286.  In öffentlichen Zeitungen erschienen (wohl von Bettina selbst oder durch ihre Bekannte lancierte) Meldungen wie „Von Bettina soll nächstens ein Buch unter dem Titel Dies Buch gehört dem König erscheinen.“ Zur Publikations- und Zensurgeschichte vgl. Barbara Becker-Cantarino: Kampf gegen die Zensur, und: Dies Buch gehört dem König (1843), in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von ders., Berlin/Boston 2019, S. 295–305, 384–396.  Vgl. u. a. Barbara Becker-Cantarino: Die Idee vom ‚Volkskönig‘. Zu Bettina von Arnims Transformation romantischer Konzepte in ‚Dies Buch gehört dem König‘, in: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, hg. von Dirk von Petersdorf und Bernd Auerochs, Paderborn 2009, S. 67–80.

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wortung der Mutterfigur an, andererseits auf deren Erziehungsfunktion auch gegenüber dem König und dem Volk. Arnim schreibt sich hier auch als zu Füßen der „Frau Rat Goethe“ sitzende junge Zuhörerin, als Lernende, als Mitglied des Volkes in ihr Buch ein. Eine weitere, ebenfalls im ersten Teil geführte Debatte der Frau Rat mit dem Pfarrer gibt Arnim ferner Gelegenheit zur Kritik an Religion und Staatsräson, die im zweiten Teil mit der „Socratie der Frau Rat“ (Goethe) zunehmend aktuelle sozialkritische und politische Anliegen anspricht, wie eine Humanisierung des Strafrechts und Kritik an den Übergriffen der Polizei. Arnim stilisierte sich zur Mittlerin zwischen Volk und König⁶⁰ und poetisierte diesen Anspruch in der fiktiven Figur ‚Frau Rat‘ (Goethes Mutter), die im volkstümlichen Frankfurter Ton vor sich hin plaudert, naiv beobachtet und Fragen stellt. Mit dieser Tarnstrategie der Verharmlosung konnte die Autorin kritische Bemerkungen einstreuen und so die strenge Zensur des Vormärz umgehen.⁶¹ Arnim imaginiert eine gemeinsame Erziehung von Fürst und Volk, wünscht eine Bindung des Monarchen an das Volk als seine Pflicht, wirbt für Verständnis und Achtung dem Volk gegenüber und hat beide Parteien, Fürst und Volk, in ihrem pädagogischen Diskurs idealisiert. Ihre Pläne für ein ‚Volkskönigtum‘ gingen Hand in Hand mit ihren Bemühungen um eine ‚Fürstenerziehung‘, in deren Rahmen sie in den 1840er Jahren Briefwechsel mit dem Kronprinzen Karl von Württemberg und dem Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach führte. Auch hier blieb sie noch eminent der literarischen Tradition und Bilderwelt verhaftet. Sie spielte die Muse oder die Sibylle, wobei eine gute Portion kreative Selbstdarstellung und starkes Geltungsbewusstsein eine Rolle spielten, jene Eigenschaften also, die sie auch an Goethe und anderen bedeutenden Männern in ihrem Leben so sehr bewunderte. Politische und persönliche Umstände und familiäre Rücksichten verhinderten Arnims weitere Publikationspläne und öffentliche Stellungnahme in der 1848er Revolution, ihre sogenannte Polenbroschüre ließ sie 1849 anonym er-

 So etwa in der brieflichen Ankündigung ihres ersten Bandes des Königsbuches vom Februar 1843: „Die Welt umwälzen – denn darauf läufts hinaus“; Ursula Püschel (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim und Friedrich Wilhelm IV., Bielefeld 2001, S. 81 f.  Erst der Anhang zum Königsbuch, die „Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland“, enthielt den eigentlichen sozialkritischen Zündstoff des Buches, einen Angriff auf das Versagen der öffentlichen Armenfürsorge und die Armenpolitik der Regierung, die den wachsenden Pauperismus in Preußen ignorierte und sogar leugnete. Diese Sozialreportage über die Armen in dem ‚Vogtland‘ genannten Quartier am nördlichen Stadtrand Berlins hatte Bettina von dem Schweizer Lehrer und Schriftsteller Heinrich Grunholzer (1819–1873) übernommen; vgl. Pia Schmid: Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande (1843), in: Bettina von Arnim Handbuch, hg. von Barbara Becker-Cantarino, Berlin/Boston 2019, S. 411‒416.

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scheinen, was sie vor Familie und auch gegenüber engsten literarischen Freunden wie Varnhagen oder Moriz Carriere geheim hielt. ⁶² Die ästhetisch-romantische Selbstinszenierung Arnims im Königsbuch als Vertreterin des Volkes war die einer Frau aus der liberalen, intellektuellen Oberschicht. Arnim fand um 1848 im Grunde keine passenden Adressaten mehr, weder unter der regierenden Aristokratie und dem Großbürgertum noch unter den Reformern des Vormärz. Die Liberalen waren von der noch um 1840 verbreiteten Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie schon bald zur Diskussion einer parlamentarischen Demokratie übergegangen.⁶³ Die Idealisierung des Volkes und die Poetisierung eines Volkskönigtums durch die ‚Baronin von Arnim‘ war da nicht mehr zeitgemäß. Gegenüber den Forderungen nach einer konstitutionellen Verfassung (mit Wahlrecht und Volksvertretung) und einer vereinten Nation blieb Arnims romantische Idee vom Volk in der angespannten Lage vor und während der Revolution von 1848 politisch wirkungslos. Dennoch sollte zumindest das anregende Potenzial für die Zeitgenossen nicht unterschätzt werden. Für Arnim selbst war das Königsbuch ein wichtiger Schritt von der poetisierenden, ästhetischen Romantikerin zur sozialpolitisch engagierten Schriftstellerin – diese Schriften sollten vornehmlich eine Funktion erfüllen: die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

3 Zu Strategien auktorialer Inszenierung im 18. und 19. Jahrhundert Mit der Leserevolution begann der Aufstieg der Schönen Literatur (gegenüber der gelehrten und religiösen) im gehobenen Bildungsbürgertum, aus dem Wieland und La Roche stammten. Beide konnten sich als erfolgreiche Autoren, allerdings recht unterschiedlich, etablieren ‒ Wieland als Dichter, der von der Literaturkritik

 Auch weil Arnim nicht öffentlich die Liberalen der 1848er Revolution unterstütze, wurde sie nicht als politische Autorin rezipiert. Erst die neuere Bettina-Forschung betont die ‚politische Bettina‘, angefangen mit der DDR-Forschung zur Romantik, etwa Ursula Püschels zahlreichen Aufsätzen zur ‚politischen Bettina‘ und ihrer kommentierten Edition des Briefwechsels; Pia Püschel (Hg.): ‚Die Welt umwälzen – denn darauf läufts hinaus‘. Der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim und Friedrich Wilhelm IV., Bielefeld 2001 und später Ulrike Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk, Würzburg 2000.  Vgl. Heinz Härtl: Zur zeitgenössischen publizistischen Rezeption des ‚Königsbuches‘. Mit einem bibliographischen Anhang, in: ‚Der Geist muß Freiheit genießen‘. Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims, hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff, Berlin 1992, S. 208–235, bes. S. 218–220.

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gefeiert wurde und schließlich mit einer Anstellung (dann Pension) vom Weimarer Hof und guten Einnahmen aus seinen publizistischen Unternehmungen vom Schreiben leben konnte. Sophie von La Roche konnte, dank ihrer Bildung und der gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie und des Ehemanns, als Schriftstellerin für ein weibliches Publikum Anerkennung finden, wurde aber von der Literaturkritik belächelt, erzielte mit ihren Publikationen nur magere Einkünfte und lebte letztlich ‚ohne Beruf‘. Der Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit entsprechend stilisierte sich La Roche als eine Autorin, deren Literatur aus dem eigenen Verstand und Gefühl der Schreibenden ebenso entsprang wie aus Geselligkeit und Gespräch, und die leserfreundlich, ebenso belehrend wie unterhaltsam, sein wollte. La Roche betonte damit auch die innere Kohärenz von Leben und Literatur (womit sie keine beliebige Vermischung gemeint hat), sondern die Verbindung zwischen Autorschaft, Literatur und Lesepublikum,⁶⁴ die ihr – als betont aus weiblicher Perspektive schreibende Autorin im Genderkanon ihrer Epoche – wichtig waren, auch für ihren Erfolg. Erst die spätere Generation der Romantik, Kunstperiode und Nationalliteratur hat die aufklärerische, an ein weibliches Lesepublikum adressierte Literatur für wenig ästhetisch, d. h. kunstlos und daher minderwertig, erklärt und damit fast zwei Jahrhunderte lang das literarische Feld für sich, für männliche Autoren und Interessen dominiert, ohne die eigene Beschränktheit und Befangenheit in der eigenen Epoche zu reflektieren. Mehr als zwei Generationen später konnte sich La Roches Enkelin Bettina von Arnim ab 1835 als Schriftstellerin im literarischen Feld zwischen Romantik und Vormärz etablieren. Der ,Autor‘ war inzwischen ein (Brot‐)Beruf und wurde von der Generation der Jungdeutschen angestrebt, während zahlreiche Frauen ebenfalls erfolgreich publizierten, wenngleich ihr Schreiben oftmals von Literaturkritik und Kanon übersehen oder als ,Romanfabrik‘ bzw. ,Brotschreiberin‘ abgewertet wurde ‒ eine Valorisierung, die u. a. auch Bettina von Arnim traf.⁶⁵ Arnim war eine Künstlerin der Selbstinszenierung, und zwar nicht nur in Bezug auf ihre eigene Biografie, sondern vor allem auch bezüglich ihres Images als Autorin. Das auktoriale Persona-Image der Arnim war ausgesprochen vielfältig: Mit der Tarnstrategie naiver Kindlichkeit inszenierte sie ihre Bedeutsamkeit als schreibende Frau, mit dem Anschluss an den ‚großen Dichter‘ Goethe etablierte sie ihre Autorschaft im literarischen Feld und mit den Briefbüchern, entstanden aus der Korrespon-

 Hierzu Barbara Becker-Cantarino: Autorschaft. Zum Briefwechsel von Sophie von La Roche und Christoph Martin Wieland, in: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, hg. von Jochen Strobel, Heidelberg 2006, S. 61–78.  Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim, die ‚Frauenfrage‘ und der ‚Feminismus‘, in: ‚Die echte Politik muß Erfinderin sein.‘ Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim, hg. von Hartwig Schulz, Berlin 1999, S. 217–248, hier S. 226–232.

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denz mit Clemens Brentano und Karoline von Günderrode, machte sie ihren Anspruch auf Deutungshoheit, Memoria und Tradierung der Romantik unmissverständlich publik. Sie inszenierte sich als Genie und Künstlerin. Im Königsbuch und der späteren Publikation Gespräche mit Dämonen (1852) artikulierte sie ihre Preußenkritik und tarnte sie zugleich als mütterliches Erziehungsprogramm für den Volkskönig und Souverän. Sie lancierte erste Pläne für eine PauperismusDokumentation anonym in die Presse, etwa über Brief- und Gesprächspartner wie Adolf Stahr oder Gutzkow, was im Vormärz von liberalen Intellektuellen enthusiastisch rezipiert, aber nicht ausgeführt und nach 1848 obsolet und vergessen wurde. Arnims Selbstinszenierung zwischen ‚Dichtung und Wahrheit‘ bereitete den Mythos ‚Bettina‘ des ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert strategisch vor und hat Arnims neuestes Autorimage als ‚politische Bettina‘ nachhaltig geprägt und popularisiert.

III Praktiken, raumzeitliche, materiale und soziale Infrastrukturen von Schreibszenen im 18. Jahrhundert

Jennifer Clare

Schreibszene extended – Die Schreibumgebung in raum- und praxissoziologischer Perspektive

Jeder literarische Schreibprozess findet in einem bestimmten raumzeitlichen Rahmen statt, in einer bestimmten geografischen, technischen und sozialen Umgebung, potenziell in Anwesenheit weiterer Personen und gleichzeitig mit anderen Prozessen. All diese Faktoren sind untrennbar mit dem Akt des Schreibens verbunden und werden einer Schreibforschung zugänglich, sofern sie sich in die überlieferte Prozessspur, den Text, einschreiben. Besonders sichtbar und relevant werden solche Verbindungen und Einschreibungen im Umgang mit Schreibprojekten, die eng und längerfristig mit zwischenmenschlichen Beziehungen verknüpft sind – seien es Formate des gemeinsamen Schreibens wie etwa Briefwechsel, Ehetagebücher, geteilte Notizbücher oder andere kollaborativ entstandene Texte, seien es Formate, die in einen privaten,¹ mit Freunden und Familienmitgliedern geteilten Alltag eingelassen sind, wie Tagebücher oder Kollektaneenbücher. Solche Gegenstände stellen besondere Anforderungen an eine Schreibforschung: Sie verlangen eine literatursoziologische Perspektive auf das Schreiben, in der Schreibhandlungen analytisch bezogen werden können auf Schreibhandlungen und Textprodukte eines Gegenübers, auf einen geteilten Alltag und gelebte private Beziehungen. Sie werden, anders gesagt, in ihren Besonderheiten erst im Rahmen einer komplexen raumzeitlichen, personellen, diskursiven und textuellen Umgebung greifbar. Die Frage nach diesen Aspekten und ihrer möglichen Adressierung im Rahmen einer Schreibforschung trifft auf mehreren Ebenen ins Herz des Interesses des vorliegenden Bandes: Wie verhalten sich Schreibprozess, schreibendes Individuum und Schreibumgebung zueinander? Wie lässt sich eine Schreibumgebung raumsoziologisch modellieren – im geografischen wie im sozialen Sinne? Wie lässt sich das Aufeinandertreffen zweier schreibender Individuen darin abbilden? Und auf Basis welcher Daten kann eine Schreibforschung auf dieses Verhältnis zugreifen? Welche Rolle nimmt der geschriebene Text dabei ein? Frei nach Facebook: Es ist kompliziert.  Die genannten Formate müssen dabei nicht notwendigerweise in ihrer Produktion und Rezeption auf den privaten Raum beschränkt sein. Gerade das frühe 19. Jahrhundert, aus dem das untersuchte Beispiel stammt, hat eine Reihe von semiöffentlichen Umgebungen des Schreibens und Lesens, wie etwa die bürgerlichen Salons, und damit eine Vielzahl an Texten im Zwischenraum von Privatheit und Öffentlichkeit hervorgebracht. https://doi.org/10.1515/9783110792447-009

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Dieser Beitrag möchte einen Teil dieser Komplexität mit Hilfe der Begriffe Praxis, Raum und Schreib-Szene beleuchten. Im ersten Schritt soll ein praxeologisches Verständnis von Schreiben und Raum in ihrem Verhältnis zueinander entwickelt werden. Im zweiten Schritt werden diese Ergebnisse mit dem Konzept der Schreibszene/Schreib-Szene zusammengeführt und anhand eines Textbeispiels aus der Korrespondenz von Rahel Levin und Karl August Varnhagen ausgewertet.

1 Literarisches Schreiben unter den Aspekten von Praxis und Raum Eine praxeologische² Forschung setzt sich mit dem wechselseitigen Zusammenhang von individuellen Handlungen und umfangreicheren sozial-kulturellen Phänomenen auseinander. Sie begreift Gesellschaft und Kultur³ dabei nicht als stabile Entitäten, sondern als etwas Dynamisches, das in vielen kleinen, alltäglichen Tätigkeiten und Interaktionen von Individuen stetig praktiziert wird.⁴ Andreas Reckwitz hat diesen Zusammenhang zwischen einzelnen Handlungen und einem praktizierten sozial-kulturellen Gefüge im Anschluss an Theodore Schatzki einschlägig über den Begriff der Praktik beschrieben:  Einleitend sei darauf hingewiesen, dass „Praxeologie“ kein homogenes, geschlossenes Theoriegebäude bezeichnet, sondern vielmehr einen gewachsenen „Strang der Kulturtheorie“, innerhalb dessen es gemeinsame Grundannahmen und ein in vielen Punkten ähnliches Begriffsverständnis von „Praxis“, aber durchaus auch markante Unterschiede gibt; Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser: Hinführung zum Thema und Zusammenfassung der Beiträge, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von dens., Berlin 2014, S. 3–12, hier S. 5. In Bezug auf ein mögliches praxeologisches Raumverständnis hat Markus Schroer solche Unterschiede prägnant herausgearbeitet; Markus Schroer: Räume der Gesellschaft. Soziologische Studien, Wiesbaden 2019. Im Folgenden wird sich unter dem Schlagwort „Praxeologie“ vor allem auf den Praxisbegriff von Theodore Schatzki und dessen Weiterentwicklung in der deutschsprachigen Soziologie (u. a. Norbert Ricken, Andreas Reckwitz, Thomas Alkemeyer) bezogen.  Anders als viele andere soziologische Ansätze trennt die Praxeologie nicht zwischen (eher zeitgebundener) Gesellschaft und (eher lokal bzw. materiell gebundener) Kultur, sondern fasst sie als untrennbar miteinander verschränkte Ergebnisse von Praxen auf; zu diesem Zusammenhang Andreas Reckwitz: Praktiken und ihre Affekte, in: Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, hg. von Hilmar Schäfer, Bielefeld 2016, S. 163–180, hier S. 163.  Karl H. Hörning und Julia Reuter: Doing Culture. Kultur als Praxis, in: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, hg. von dens., Bielefeld 2015, S. 9–18, hier S. 10 f.

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Eine Praktik lässt sich als ‚a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings‘ verstehen. Sie ist eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte oder gewohnheitsmäßige Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens) und umfasst darin Formen des impliziten Wissens, des know how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion.⁵

Weitgehende Faktoren einer individuellen Handlung,⁶ wie z. B. ihre in einem spezifischen Kontext ‚richtige‘ Ausführung, ihre Motivation, ihre affektive Besetzung oder das durch sie aufgerufene Handlungswissen, sind demnach bereits durch ihr vorausgehende Praktiken sozial-kulturell präfiguriert. Gleichzeitig bleiben dem oder der Handelnden immer gewisse Spielräume und Variationsmöglichkeiten, sodass die präfigurierenden Praktiken weder deterministisch noch statisch sind, sondern in ihrer Entstehung, Erhaltung und Veränderung wechselseitig auf die individuellen Handlungen angewiesen sind.⁷ Das konkrete körperliche Durchführen von Handlungen im Rahmen spezifischer Praktiken – mit den erwähnten Spielräumen und Kontingenzen, die sich in individuellem Subjektverhalten auftun und in denen die Praktiken modifiziert werden können – wird in der Regel als „Praxis“ bezeichnet.⁸ Eine praxeologische Perspektive auf das Schreiben würde dieses entsprechend verstehen als zugleich individuell ausgeführte und kollektiv präfigurierte, sozial-kulturell eingebundene Praxis. Dieser Praxis gehen bestimmte Schreibpraktiken, d. h. Bündel von mit dem Schreiben verknüpften Normen, Routinen, Machtstrukturen, Deutungen und Emotionen, voraus – die ihrerseits im Rahmen

 Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, S. 72, zit. nach Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 89 [Hervorh. i. O.].  Thomas Alkemeyer hat im Anschluss an Arthur Danto argumentiert, dass „Basishandlungen“, d. h. vorpraktische, kontext- und bedeutungslose Körperbewegungen, nur als theoretische Größe denkbar sind: Sobald sie wahrgenommen werden, sind sie dadurch unvermeidlich in ein soziales Gefüge, in ein Vorher-Nachher- und Ursache-Wirkungs-Gefüge eingebunden. Jegliche Handlungen erlangen „ihren Sinn, ihre Reflexivität, ihre Intelligibilität ausschließlich als Momente einer sozialen Praktik“; Thomas Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hg. von dems., Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 33–68, hier S. 46.  Theodore R. Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002 sowie daran anschließend u. a. Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken und Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis.  Thomas Etzemüller: ‚It’s the Performance, Stupid‘. Performanz → Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, hg. von dems. Bielefeld 2019, S. 9– 44, hier S. 16 f.

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der Schreibpraxis aktualisiert oder modifiziert werden.⁹ In der Schreibdidaktik¹⁰ und in Studien zum wissenschaftlichen Schreiben¹¹ hat es sich in den letzten Jahren bereits vermehrt durchgesetzt, in dieser Weise von Schreibpraktiken bzw. vom Schreiben als Praxis zu sprechen.¹² Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive steht ein systematischer Zugang zum Schreiben als Praxis noch aus. Es sind jedoch bereits in einzelnen Studien zahlreiche Kategorien der Literaturwissenschaft im Horizont des Praxisbegriffs reflektiert worden. Diese verweisen auf Spezifika einer literarischen Schreibpraxis, indem sie etwa Autor:innenschaft,¹³ Gattungen und Epochen,¹⁴ Autobiografie¹⁵

 Zembylas und Dürr haben eine am Schreibprozess orientierte Definition von Praxis so formuliert: „Praxis ist Handeln in einem historischen und sozialen Kontext, der das Handeln strukturiert und mit Bedeutung belegt. Daher verweist dieser Begriff immer auf ein überindividuelles und gemeinschaftliches Phänomen, das sich sowohl auf eine informelle als auch auf eine institutionalisierte Weise entfaltet. Praxis ist jedenfalls weder ein Antonym zu Theorie oder zu Ideen und Idealen noch stellt sie eine Dichotomie zu diesen Bereichen dar. Im Gegenteil: Theorien und andere Verdinglichungsformen sind emergente Produkte einer Praxis“; Tasos Zembylas und Claudia Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben. Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien 2009, S. 165.  Stephanie Dreyfürst und Nadja Sennewald (Hg.): Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung, Opladen 2014; Maria Mochalova: Schreiben in der Schuleingangsphase. Eine videobasierte Untersuchung von Schreibpraktiken mehrsprachiger Kinder, Frankfurt a. M. 2016; Afra Sturm und Mirjam Weder: Schreibkompetenz, Schreibmotivation, Schreibförderung. Grundlagen und Modelle zum Schreiben als soziale Praxis, Seelze 2016.  Doris Pany-Habsa: ‚Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein‘. Ein reflexiv-praxeologischer Blick auf das wissenschaftliche Schreiben, in: Schreibforschung interdisziplinär. Praxis ‒ Prozess ‒ Produkt, hg. von ders., Susanne Knaller und Martina Scholger, Bielefeld 2020, S. 81–98 sowie Fridrun Freise, Mirjam Schubert, Lukas Musumeci und Mascha Jacoby (Hg.): Writing spaces. Wissenschaftliches Schreiben zwischen und in den Disziplinen, Bielefeld 2021.  Anlass ist hier vor allem die schreibdidaktische Einsicht, dass das zu erlernende Schreiben „nicht nur ein kognitiv gesteuerter Prozess, sondern auch eine soziale Handlung ist, mit der Schreibende in Beziehung zu anderen Personen treten“; Gabriela Ruhmann und Otto Kruse: Prozessorientierte Schreibdidaktik. Grundlagen, Arbeitsformen, Perspektiven, in: Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung, hg. von Stephanie Dreyfürst und Nadja Sennewald, Opladen 2014, S. 15–34, hier S. 23. Eine Reflexion, wie Schreiben gelernt, ausgeführt und professionalisiert werden kann, muss neben kognitionspsychologischen Voraussetzungen entsprechend auch die Verschränkung der lernenden Person und ihrer individuellen Schreibhandlung mit einer sozial-kulturellen Umgebung im Blick haben.  Sabine Kyora: ‚Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur‘. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hg. von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 251–274.  Philipp Löffler: Was ist eine literarische Epoche? Literaturgeschichte, literarischer Wandel und der Praxisbegriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Praxeologie. Beiträge zur

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oder die epistemische Dimension literarischen Schreibens¹⁶ als Ergebnisse von Praxen ausweisen. Hinzu kommen mehrere Studien zu ästhetischen bzw. künstlerischen Praxen¹⁷ oder zur subjektbildenden Qualität von Praxen¹⁸ mit jeweils literaturwissenschaftlicher Beteiligung. In dieser Zusammenstellung lassen sich bereits zwei Dinge erahnen: Erstens ist ein als Praxis verstandenes literarisches Schreiben kaum isoliert untersuchbar: Literarische Schreibhandlungen sind in aller Regel auf mehrere Praktiken zurückverwiesen, in deren Rahmen sie sozial-kulturelle Bedeutung erlangen. Im literarischen Schreibprozess wird, anders gesagt, nicht nur Schreiben praktiziert, sondern – je nachdem, was für ein Text angestrebt wird – auch zum Beispiel Kunst, Autor:innenschaft oder Briefkultur. Zusätzlich sind gerade Schreibhandlungen, die dem privaten Bereich nahestehen, häufig auf (mehr oder weniger) außerliterarische Praktiken verwiesen: Welches Schreibwerkzeug eine Person benutzt oder an welchen stilistischen Konventionen sie sich orientiert, lässt sich dann zum Beispiel auch im Horizont praktizierter Geschlechtlichkeit auswerten – und im Ehetagebuch oder Liebesbriefwechsel werden nicht nur Schreiben, sondern möglicherweise etwa auch Alltagskommunikation, Erinnerung oder eine Beziehung praktiziert. Zweitens rückt ein als Praxis verstandenes literarisches Schreiben das schreibende Individuum mit seiner Körperlichkeit, seiner Vorgeschichte und seinen Verhaltensentscheidungen – kurz, das Subjekt der Schreibpraxis – ins Zentrum der Betrachtungen. Die Frage, was in einem literarischen Schreibprozess getan wird, erweist sich aus praxeologischer Sicht untrennbar mit der Frage verbunden, wer es tut. Norbert Ricken hat das Verhältnis zwischen Praxis und Subjekt umfassend soziologisch ausgeleuchtet. Nach Ricken ist das praxeologische Subjekt, anders als das cartesianische Subjekt, unabhängig von seiner sozial-kulturellen Umgebung nicht denkbar. Es erlangt seine Existenz als Subjekt zuallererst dadurch,

interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, Berlin 2014, S. 73–96.  Dominik Barta: Autobiografieren. Erkenntnistheoretische Analyse einer literarischen Tätigkeit, Paderborn 2015 sowie der anglo-amerikanische life writing-Diskurs.  Zembylas/Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben.  Michael Kauppert und Heidrun Eberl (Hg.): Ästhetische Praxis, Wiesbaden 2016 sowie Rolf Elberfeld und Stefan Krankenhagen (Hg.): Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, Paderborn 2017.  Alkemeyer/Budde/Freist: Selbst-Bildungen.

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dass es innerhalb dieser Umgebung handelt, sich bewegt und äußert.¹⁹ Mit jeder Praxis (also auch jeder literarischen Schreibpraxis) sind entsprechend Vorgänge der Subjektformation, Subjektaktualisierung und Subjektmodifikation verbunden. Damit muss ein Aspekt in die Betrachtung des Schreibens einbezogen werden, den Reckwitz „hybride Interferenzen unterschiedlicher kultureller Codes“²⁰ in einem Subjekt nennt: Da ein Subjekt immer schon als etwas in die Praxis eintritt, das aus anderen Praktiken Wissen, Erfahrungen und Dispositionen inkorporiert hat,²¹ können in die Praxis fremde Codes einbrechen, die anderen Praktiken aus anderen Lebensbereichen entstammen, an denen das Subjekt Teil hat, und die sich nun „als Überraschung oder Störung erwarteter Abläufe geltend machen“ können.²² In jedem schreibenden Subjekt gibt es demzufolge Spannungen, die aus unterschiedlichen Subjektformen resultieren, die in ihm aufeinanderprallen – ein schreibendes Subjekt ist zum Beispiel gleichzeitig Autorin, Hausfrau, Katholikin und große Schwester.²³ Solche Spannungen bedeuten, dass innerhalb einer Praxis sowohl Regeln, Routinen und Orientierungspunkte durch Praktiken erkennbar werden können als auch individuelle Wege, Irritationsmomente und Reibungen im Umgang mit ihnen. Einer Schreibforschung können sich im Schreiben, Lesen, Kommunizieren und Alltagsleben einerseits zeittypisch erwartbare, andererseits überraschende Entscheidungen und Verhaltensweisen des schreibenden Subjekts offenlegen. Mit dem Subjekt, das in einer sozial-kulturellen Umgebung handelt und körperlich-materiell präsent ist, rücken Aspekte des Raums in den Fokus praxeologischer Reflexion: „Praktiken vollziehen sich an bestimmten Orten und etablieren ihre eigenen Räume“,²⁴ hält Thomas Alkemeyer fest. Die individuellen Handlungen, auf die jede Praxis zurückgeht, finden also einerseits an einem beschreibbaren physischen Ort statt. Sie sind körperliche Bewegungen in Raum und Zeit, die sich im Rahmen der Praxis mit vorgefundenen materiellen Be-

 Norbert Ricken: Anerkennung als Adressierung, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hg. von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 69–100.  Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis, S. 78.  „Individuen treten nie als a-soziale Entitäten in eine Praktik ein, sondern bringen immer schon Erfahrungen und Dispositionen mit, auf deren Folie sie sich Subjektformen aneignen – vorausgesetzt, diese bieten ihnen Ankopplungsmöglichkeiten“; Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken, S. 38.  Ebd., S. 57.  Solche „idiosynkratischen Besonderheiten“ (Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis, S. 81) prägt jedes Subjekt in seinen Handlungen aus – besonders jedoch in zwei für diesen Beitrag sehr wichtigen Bereichen: in persönlichen Beziehungen und in der Kunst.  Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken, S. 63.

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schaffenheiten, Artefakten und anwesenden anderen Subjekten auseinandersetzen müssen. Sie sind andererseits dafür verantwortlich, dass ein Raum bzw. Räumlichkeiten ‚praktiziert‘ werden, sodass benennbare Räume in ihren sozialkulturellen Bedeutungen und Bezügen überhaupt erst entstehen und für ein Subjekt wahrnehmbar werden. Auf diese Doppeleigenschaft von Raum als Bedingungsfaktor und Produkt von Praxis verweist auch Theodore Schatzki mit seinem Begriff von „social sites“. Nach Schatzki lässt sich das Soziale über das Zusammenwirken von Praktiken, Subjekten und Artefakten an Orten beschreiben: The social site is a specific context of human coexistence: the place where, and as part of which, social life inherently occurs. To theorize sociality through the concept of a social site is to hold that the character and transformation of social life are both intrinsically and decisively rooted in the site where it takes place. In turn, this site-context, I claim, is composed of a mesh of orders and practices. Orders are arrangements of entities (e. g., people, artifacts, things), whereas practices are organized activities. Human coexistence thus transpires as and amid an elaborate, constantly evolving nexus of arranged things and organized activities.²⁵

Ein so verstandener praxeologischer Raum verhält sich zum Subjekt nicht wie eine stabile Entität oder „veräußerlichte, begehbare Umwelt“.²⁶ Er ist vielmehr das dynamische und instabile Ergebnis eines Prozesses zwischen Subjekten und Artefakten an einem Ort.²⁷ Dieses Raumverständnis ist unübersehbar verwandt mit dem, was die Kulturwissenschaften unter den Schlagworten des ‚spatial‘ oder ‚topographical turn‘ entwickelt haben: Der Raum tritt nicht als vorgefundener Behälter sozial-kultureller Vorgänge in Erscheinung, sondern als von und mit ihnen Produziertes und damit z. B. Machtstrukturen gegenüber nicht Neutrales.²⁸ Er ist analytisch nicht zu  Schatzki: The site of the social, S. xi.  Kerstin Meißner: Relational Becoming ‒ mit Anderen werden. Soziale Zugehörigkeit als Prozess, Bielefeld 2019, S. 100.  Schroer: Räume der Gesellschaft, S. 96. Nach Markus Schroer lässt es sich unter diesen Prämissen streng genommen überhaupt nicht mehr von „dem Raum“ sprechen, sondern von einer „Praxis der Verräumlichung“, insofern „Räumlichkeit erst über das Zusammenwirken von Körpern, Materialitäten und Wissensbeständen entsteht“ (ebd., S. 82).  Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2001), H. 2, S. 151–165; Stephan Günzel: Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, S. 219–238; Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich und Kirsten Mahlke: Räume. Zur Einführung, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2008), S. 7–16 sowie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Doris Bachmann-Medick: Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze. Bewegungshorizonte und Sub-

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trennen von seiner „Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung“²⁹ durch Subjekte. Entsprechend muss sich eine praxeologische Perspektive mit dem Raum als Subjektivationsfaktor auseinandersetzen: Ein Raum wird dann vom Standpunkt eines bestimmten Subjekts aus analysierbar als dessen Umgebung, in der es handelt, die es wahrnimmt und die es dadurch auch praktiziert. Jedes Subjekt ist durch seinen Körper zu jedem Zeitpunkt örtlich lokalisiert – und damit, wie Reckwitz betont, nur innerhalb von den jeweiligen lokalen und historischen Wissensordnungen seiner Umgebung denkbar. Zugleich ist es zu jedem Zeitpunkt sozial verortet, d. h. jede Praxis bedeutet für die beteiligten Subjekte auch ein „Ins-Verhältnis-Setzen[] zu sich selbst, zu anderen und zur Welt“.³⁰ Neben der lokalen Verortung geht es also zusätzlich um eine relationale Verortung in einem sozialen Raum und damit zum Beispiel um das Verhältnis zu anderen Subjekten, Artefakten und Institutionen.³¹ Kerstin Meißner hat die unmittelbar subjektkonstitutive Dimension dieser beiden Ebenen betont: Erst in Wechselwirkung mit einem bestimmten Raum vergegenwärtigt sich ein Subjekt als körperliches und soziales Gegenüber, das andere Subjekte wahrnimmt und von diesen wahrgenommen werden kann, sodass sie sich handelnd aufeinander beziehen können.³² Dabei ist wichtig im Blick zu behalten, dass Subjekt, Raum und Praktik, wenn sie in der Praxis aufeinandertreffen, jeweils potenziellen Modifikationen durch einander ausgesetzt sind. Die Vergegenwärtigung eines Subjekts im Raum kann

jektverortung in literarischen Beispielen, in: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, hg. von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, Bielefeld 2009, S. 257–280 sowie Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, in: ebd., S. 11–32.  Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 292.  Ricken: Anerkennung als Adressierung, S. 95.  Theodore Schatzki hat für diese Form der relationalen Verortung den Begriff der position geprägt: „To be ‘positioned’ is to take up a place among other things, a place that reflects relations among the things involved. […] ‘Position’ in short is an abstract term denoting where an entity fits in a nexus“; Schatzki: The site of the social, S. 19. Vor diesem Hintergrund literaturwissenschaftlich anschlussfähig sind Julia Watsons autobiografietheoretischen Überlegungen zu location und position eines autobiografischen Subjekts: Ein über sich schreibendes Subjekt verortet sich zum einen geografisch (mit entsprechenden Implikationen, z. B. nationaler, ethnischer, geschlechtlicher, habitueller Identität), zum anderen kann es aus dieser location heraus verschiedene Positionen einnehmen (z. B. situativ, ideologisch, adressat:innenbezogen). Beide zusammengenommen betrachtet erlauben eine Annäherung an die Frage, von welchem Standpunkt eine autobiografische Artikulation ausgeht; Julia Watson: The Spaces of Autobiographical Narrative, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr, Peter Burschel und Gabriele Jancke, Köln 2007, S. 13–25.  Meißner: Relational becoming, S. 93.

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entsprechend – ebenso wie der Raum selbst – nur als momenthaft und in stetigem Prozess angenommen werden. Für eine literarische Schreibpraxis lässt sich zusammenfassen, dass sie und ihr schreibendes Subjekt im Horizont eines Raums mit physischer und sozialer Dimension untersuchbar sind: Zunächst hat jede Schreibpraxis einen physischen Ort und einen historischen Zeitpunkt – nämlich den, an dem sich das schreibende Subjekt im Moment der Aufzeichnungshandlung körperlich befindet. Die soziale Dimension des umgebenden Raums weist aber in mehrfacher Hinsicht über diesen Ort und Zeitpunkt hinaus: Die Praktiken, mit denen sich ein Individuum im Schreiben auseinandersetzt, z. B. wie man an einem Schreibtisch sitzt, wie man einen Brief anfängt oder welche Artefakte als Schriftträger in Frage kommen und welche nicht, sind ebenso durch andere Individuen an anderen Orten geprägt worden wie die Erfahrungen und Dispositionen, die das schreibende Subjekt selbst aus anderen Praxiskontexten in die Schreibpraxis mitbringt (um beim Beispiel zu bleiben, ob eine schreibende Hausfrau oder ein schreibendes Kind im 19. Jahrhundert überhaupt auf die Idee kommen würden, sich zum Schreiben an einen ‚Schreibtisch‘ zu setzen, der seinerseits ein historisches und kulturell semantisiertes Artefakt ist). Für die praxeologische Betrachtung literarischer Schreibprozesse muss entsprechend festgehalten werden, dass die räumliche Umgebung eines Schreibprozesses auch von Faktoren und Individuen abhängt, die im Moment der Aufzeichnung nicht materiell anwesend sind, aber sich dennoch in Schreibprozess und Text einschreiben. Diese Einsicht hat Konsequenzen für das Verständnis des Verhältnisses von Schreibpraxis, Subjekt und Schreibumgebung: Wenn der das Schreiben umgebende Raum einerseits unhintergehbarer Subjektivationsfaktor ist (insofern das schreibende Subjekt außerhalb von ihm nicht als Subjekt denkbar ist) und andererseits maßgeblich erst in der Praxis der handelnden Subjekte als solcher hervorgebracht, modifiziert und aufrechterhalten wird, dann stehen sich schreibendes Subjekt und Schreibumgebung in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis als gleichermaßen instabile und dynamische Größen gegenüber. Damit ist zugleich angedeutet, dass Schreibumgebung und schreibendes Subjekt nur von einer fließenden Grenze getrennt sind: Wenn ein Subjekt als Subjekt ausschließlich situativ im Rahmen der Praxen existiert, an denen es teilhat und in allen kennzeichnenden Eigenschaften wie seinem Körper, seiner Wahrnehmung und seinen Gefühlen von Praktiken geformt und abhängig ist, die seiner Umgebung entstammen, dann ist es problematisch anzunehmen, dass an einem bestimmbaren Punkt die Grenze des Subjekts aufhört und die der Umgebung beginnt – oder, anders gesagt, dass die Schreibumgebung etwas

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dem schreibenden Subjekt Äußeres ist, das sich von einem Subjekt-Inneren dichotomisch abgrenzen lässt.³³ Im Schreiben wie in anderen Praktiken kann ein Subjekt in einem Raum niemals als klar von ihm geschiedene Essenz in Erscheinung treten, sondern immer nur in momenthafter Relationalität zu diesem Raum.

2 Schreibpraxis und Schreib-Szene Wie kann man diese praxissoziologischen Annahmen über Schreibumgebung und schreibende Subjekte produktiv mit der bisherigen literaturwissenschaftlichen Schreibforschung zusammenbringen? Dies soll im Folgenden diskutiert und entlang eines Textbeispiels erprobt werden. Die literaturwissenschaftliche Schreibforschung hat in den letzten Jahrzehnten an zahlreichen Beispielen eindringlich herausgearbeitet, dass sich der Schreibprozess als „dritte Dimension“³⁴ in Material und Schrift des resultierenden Texts einschreibt.³⁵ Diese Einschreibung kann, wie die bisherigen Studien ebenfalls zeigen, sehr unterschiedlich aussehen, insofern niemals alle Tätigkeiten, die ein literarisches Textprodukt ermöglichen, „einen textuellen Niederschlag finden“³⁶ und selbst diejenigen, die sich im Textprodukt sichtbar niederschlagen, niemals als Abbilder linear-kausaler Prozessschritte erscheinen, sondern als deutungsbedürftige Spuren. Der historische Schreibprozess ist immer nur so weit zugänglich, wie er entweder textgenetische Spuren am Material hinterlassen hat oder vom schreibenden Subjekt selbst thematisiert wird.³⁷

 „Da Körper […] gleichzeitig Produkte und Produzenten von Gesellschaft sind, stehen sie für die Unmöglichkeit, binär zwischen einem gesellschaftlichen Außen und einem körperlichen Innen zu unterscheiden“; ebd., S. 49; hierzu auch Ricken: Anerkennung als Adressierung, S. 96 f.  Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer critique génétique [1984], in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Frankfurt a. M. 2012, S. 132– 151.  Exemplarisch sei hier auf die seit 2004 im Wilhelm Fink Verlag erscheinende, von Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti herausgegebene Reihe Zur Genealogie des Schreibens verwiesen sowie auf Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger (Hg.): Schreibszenen. Kulturpraxis ‒ Poetologie ‒ Theatralität, Freiburg i. B. 2015; Jennifer Clare, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauf und Toni Tholen (Hg.): Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg 2018; Carsten Gansel, Katrin Lehnen und Vadim Oswalt (Hg.): Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen, Göttingen 2021.  Zembylas/Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben, S. 11.  „[I]n historischer Perspektive hat man es prinzipiell nie mit den (vergangenen) Schreibprozessen ‚selbst‘ zu tun, sondern nur mit ihren Spuren, sofern diese sich erhalten haben“; Sandro

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In dem hier ausgewählten Beispiel ‒ einem Brief von Rahel Levin Varnhagen³⁸ an Karl August Varnhagen vom 10./11. Juli 1813 – ist das Manuskript nicht erhalten, sodass ein Zugriff auf die historische Schreibpraxis ausschließlich über textuelle Darstellungen der schreibenden Person selbst oder anderer möglich ist.³⁹ Betrachtet werden, mit anderen Worten, Schreibszenen bzw. Schreib-Szenen im Sinne Rüdiger Campes und Martin Stingelins. Doris Pany-Habsa hat im Kontext der Erforschung wissenschaftlicher Schreibprozesse darauf hingewiesen, dass die Praxeologie als theoretischer Rahmen zahlreiche Schnittmengen mit Campes Konzept einer Schreibszene hat, weil für beide „das Zusammendenken von Artefakten, Produkten, Medien, Wissensformen bzw. Diskursen und Körpern“⁴⁰ zentral ist. Um dieses Zusammendenken näher zu konturieren, lohnt sich ein Blick auf Campes Auseinandersetzung mit Roland Barthes’ écriture-Begriff:⁴¹ Campe weist ausgehend von der Doppelbedeutung des französischen écriture (‚Schrift‘ oder ‚Schreiben‘) darauf hin, dass sich die Schrift (als Manifestationsform von Sprache) nicht von den gestischen und technischen Umständen ihres Geschrieben-Werdens trennen lässt. Er zeigt die „fundamentale sprachlich-gestische Beziehung“⁴² zwischen der Praxis Schreiben⁴³ und der Praxisspur Schrift

Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur, in: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2009, S. 75–88, hier S. 76.  Barbara Hahn hat die komplexe Namenssituation schreibender Frauen im 19. Jahrhundert zwischen Eheschließungen, Pseudonymen und religiöser Konversion rekonstruiert und auf die damit verbundene geringere Sichtbarkeit in Kanon und Literaturbetrieb aufmerksam gemacht; Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a. M. 1991. Um den gesamten Briefwechsel einheitlich zu umspannen und im Einklang mit den aktuell von Barbara Hahn und Ursula Isselstein herausgegebenen Brief- und Tagebuchausgaben wird daher der Kunstname „Rahel Levin Varnhagen“ verwendet.  Carsten Gansel hat eine grobe Typologie für „das künstlerische In-Szene-Setzen von Schreibsituationen“ im Text vorgeschlagen, die zwischen Selbst- und Fremddarstellung einer Schreibsituation einerseits und zwischen dem Beobachtungsfokus auf Person oder Umwelt andererseits differenziert; Carsten Gansel: Autorschaft, Schreiben und das Erzählen von Geschichten zwischen Schreibrausch und Schreibstörung. Statt einer Einleitung, in: Schreiben, Text, Autorschaft II, hg. von dems., Katrin Lehnen und Vadim Oswalt, Göttingen 2021, S. 15–38, hier S. 24.  Pany-Habsa: ‚Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein‘, S. 88.  Ich beziehe mich für den Begriff der écriture im Folgenden lediglich auf die Referenztexte von Rüdiger Campes Aufsatz: Schreiben, ein intransitives Verb? und Leçon – im Bewusstsein, dass der Begriff in weiteren Texten Barthes’ anders besetzt ist und darin auch einer für Barthes typischen Begriffspolitik, terminologische Festschreibungen und Vereindeutigungen zu vermeiden, folgt; zur Begriffsgeschichte ausführlich Daniela Langer: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Paderborn 2005.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben [1991], in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 269–282, hier S. 270.

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auf und leitet daraus seine bekannte These ab, dass Schreiben und Schrift immer nur als verschränkter Gegenstand, als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“⁴⁴ untersuchbar sind. Über die Aspekte Instrumentalität und Geste gelangt neben dem geschriebenen Text das schreibende Subjekt, in einem spezifischen körperlichen, räumlichen, technischen und medialen Setting, in Campes analytischen Fokus. Wie Campe an mehreren Textbeispielen unterschiedlicher Epochen zeigt, wirken Körper, Text, Medium und Subjekt im Schreiben/in der Schrift immer zusammen, und zwar als instabile, grenzoffene Elemente. Auf dieser Basis lässt sich die Schreibszene nach Campe in all ihren Aspekten als Schauplatz und Ergebnis von Praktiken (nicht nur des Schreibens) denken. Auch mit den praxeologisch angenommenen Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen schreibendem Subjekt, Schreiben und Schreibumgebung erweist sie sich als kompatibel. Ein weiterer relevanter Aspekt, der bei Campe anklingt und den Martin Stingelin über den Begriff der Schreib-Szene weiter ausdifferenziert hat, ist, dass das Schreiben in der Schrift nicht neutral in Erscheinung tritt, sondern in Form eines subjektiven In-Szene-Setzens eines subjektiv erlebten Moments im Schreibprozess:⁴⁵ Er passt zur praxeologischen Einsicht, dass eine historische Praxis nur über Zeugnisse greifbar wird, die beteiligte Subjekte selbst hervorgebracht und medial vermittelt haben – entlang zeitgenössischer Praktiken der Medialisierung, Selbstreflexion und Selbstinszenierung.⁴⁶ Dass die so verstandene reflexive Schreib-Szene keine empirische Bedingung des Textes abbilden kann, wird besonders deutlich an Fällen, in denen sich Schreib-Szenen kooperierender Schreibender⁴⁷ oder textgenetische Befunde und Schreib-Szene⁴⁸ widersprechen.

 Roland Barthes verwendet in Leçon den sowohl als ‚Praxis‘ als auch als ‚Praktik‘ übersetzbaren Begriff pratique ebenso unkommentiert wie ihn Rüdiger Campe übernimmt; hierzu Roland Barthes: Leçon. Französische und deutsche Antrittsvorlesung im Collège de France, gehalten am 07.01.1977, Frankfurt a. M. 1978, S. 24. Ich verstehe im Folgenden pratique im Sinne des Praxisbegriffs dieses Beitrags. Auf weitere denkbare Bezüge zu der langen Tradition des Begriffs pratique in der französischen Sozialphilosophie (etwa bei Althusser, Bourdieu, Foucault) kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 271.  Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems., Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7–21, hier S. 8 ff.  Hörning/Reuter: Doing culture sowie Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis.  Zur Zusammenarbeit von Arno Holz und Johannes Schlaf vgl. Urania Milevski: Von der Schreibszene zur Streitszene – Rekonstruktion(en) von Schreibprozessen bei Arno Holz und Jo-

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3 Schreibpraxis, Schreibumgebung und Schreibszene bei Rahel Levin Varnhagen Prag, Sonnabend, den 10. Juli 1813 Vormittags 10 Uhr. Helle brennende Sonnenhitze; mein Fenster gegen Morgen. … Als ich gestern Deine Briefe gelesen hatte, mußt’ ich gleich nach dem Landhause, die Schildwache genannt, fahren, ich nahm Papier mit, und wollte Dir dort schreiben: die Hitze, die Sonne, die Menschen, mein körperlicher Zustand, alles störte mich, auch war es später, als ich glaubte, wir mußten bald essen, nach Tisch kam eine Unzahl Menschen. […] Damit, trauter August, fing mein Herz den Brief an: damit, daß ich, nachdem ich um halb elf Uhr mit der Brede wieder zu Hause auf dem Sopha lag, ich wieder von den fünf Briefen sprach, und ihr sagte: „Ich kann ihm seine Liebe, all seine Äußerungen gar nicht danken! Ich müßt’ ihm gleich das ganze Herz lebendig in einer goldenen Kapsel hinschicken! […] Sonntag, 12 Uhr, mittags Ich bin schon fix und fertig angezogen; habe schon eine lange Morgenvisite, mitten im Haarbürsten, vom Grafen gehabt, er schlief heute nacht hier, dicht neben mir an; sehr still und angenehm; Auguste ist auf der Probe, um heute Abend Ophelia zu spielen, jetzt geht der Graf im andern Zimmer mit Marais auf und ab. Auguste wohnt nicht mehr auf dem Ring, sondern in der Fleischhackergasse, auf einem kleinen Platze jedoch, schräg der Steinernen Jungfer, nicht gar weit vom Redoutensaal, im zweiten Stock, in sehr geräumigen guten Zimmern, wovon ich dicht neben ihr das größte bewohne: sehr einig, amüsant und angenehm. Sie ist von den wenigen, mit denen man ganz nah, familiär sein kann. Ich glaube, auch ich bin ihr nicht unangenehm. […] Ich schreibe Dir alles dies, damit Du siehst, wie wir leben: der Graf schneidet meine Federn: hat aber kein anderes als mein berühmtes Federmesser – das sag dem General ‒ , Papier haben wir gemeinschaftlich, er meines, oder ich seines; so auch oft ein Dintfaß, und einen Toilettspiegel. Du siehst, es ist ein kleiner bivouac; und ich habe Deine Stelle. Denk Dir aber ja keine Unordnung! Immer ein sehr aufgeräumtes Zimmer: wo gar nichts zu sehen ist als seine Meubles, Dintfaß und Bücher; kühle reine Luft. Du kennst mich darin: allen Menschen ist auch wohl in diesem Zimmer; man sagt es mir sogar.⁴⁹

Levin Varnhagens Brief verweist zunächst recht eindeutig auf den physischen Ort und historischen Zeitpunkt seiner Produktion: einmal durch seine Datierungen und einmal durch die recht ausführliche Repräsentation und Inszenierung der

hannes Schlaf, in: Schreiben, Text, Autorschaft II, hg. von Carsten Gansel, Katrin Lehnen und Vadim Oswalt, Göttingen 2021, S. 183–208.  Zur Zusammenarbeit von Conrad Ferdinand und Betsy Meyer vgl. Rosmarie Zeller: Betsy Meyer. Sekretärin, Kopistin, Mitarbeiterin. Ihre Selbstdarstellung im Briefwechsel mit dem Verleger, in: Literarische Zusammenarbeit, hg. von Bodo Plachta, Berlin 2001, S. 157–166.  Rahel Varnhagen: Briefwechsel, Bd. 2: Rahel und Karl August Varnhagen, hg. von Friedhelm Kemp, München 1979, S. 224‒229.

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räumlich-materiellen Umstände seiner Entstehung. Wenn wir ein grundsätzlich referenzielles Verhältnis⁵⁰ zwischen dieser Repräsentation und dem Leben und Alltag der Schreibenden annehmen (was das Genre Brief nahelegt), dann lässt sich entlang der Datierungen eine Zeitspanne von etwa 50 Stunden abstecken, innerhalb derer – so zeigen uns mehrere kleinere Schreib-Szenen im Stingelin’schen Sinne – an vier verschiedenen physischen Orten geschrieben wird bzw. geplantes Schreiben verhindert wird: 1. Freitag, 9. Juli 1813 morgens: Levin Varnhagen liest die vorausgehenden Briefe Varnhagens. Sie plant, die Antwort auf der „Schildwache“ zu schreiben, findet aber keine geeignete Umgebung vor (zu viele Leute, Einladung zum Essen). 2. Freitagabend um halb elf: Levin Varnhagen spricht mit Auguste Brede über ihren Briefwechsel mit Varnhagen. Ihr Herz wird in die Schreibstimmung versetzt. 3. Sonnabend, 10. Juli 1813, 10 Uhr: Levin Varnhagen beginnt, allein am Fenster in ihrem Zimmer, den Brief zu schreiben. 4. Sonntag, 11. Juli 1813, 12 Uhr: Levin Varnhagen setzt das Schreiben am Brief in ihrem Zimmer fort. Was hier sofort auffällt ist, dass innerhalb eines recht kurzen Texts mehrere raumzeitliche Momentaufnahmen vermittelt werden – sowohl was den Ort des Schreibens betrifft als auch seine Einbettung in einen sozialen Raum. Man kann gut sehen, dass die Umgebung in jeder dieser Momentaufnahmen eine andere ist: Sie ist etwa mit unterschiedlichen Emotionen besetzt und mit unterschiedlichen Interaktionspartner:innen belebt. Zusätzlich trägt der Text Spuren weiterer Praktiken, die sich mit der Schreibpraxis überkreuzen und in sie hineinspielen – etwa solche des freundschaftlichen Umgangs oder der Geschlechtlichkeit. Es ist zum Beispiel unausgesprochen klar, dass sie der Freundin zwar vom geplanten Brief erzählen kann, aber nicht in ihrer Gegenwart Papier und Feder hervorzieht und zu schreiben beginnt, dass sie mit dem befreundeten Grafen Bentheim zwar Schreibtisch, Papier, Tintenfass und Federmesser teilt, aber eigene Schreibfedern hat, oder dass ihr provisorisches Schreibzimmer dem Anspruch genügen muss,

 Die Referenzialität zwischen Leben und Text ist hier im Sinne der neueren Autobiografieforschung nicht als Abbildverhältnis oder auch nur hierarchisches Verhältnis, sondern als vielfältig gestaltbarer und wechselseitig konstruktiver Zusammenhang gemeint – schließt also Möglichkeiten der Inszenierung, Fiktionalisierung und Literarisierung des eigenen Lebens im Text ausdrücklich ein. Einen guten Überblick über neuere Konzepte und Modelle des Zusammenhangs von Leben und autobiografischem Text bieten Sidonie Smith und Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives, Minneapolis 2010.

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für andere angenehm und einladend zu sein. Auch die Nähe zu ihrem Briefpartner und Verlobten Karl August Varnhagen wird schreibend praktiziert: Sie schreibt, damit er „sieh[t], wie wir leben“⁵¹ und teilt auch ihren Gedanken, ihm statt des Briefs „gleich das ganze Herz lebendig“⁵² zu schicken. Hier passiert mehr als eine bloße Benennung eines gegenseitigen Interesses oder einer Bindung. Die – in dieser Phase fast ausschließlich auf Distanz über Briefe geführte – Beziehung zum Verlobten wird durch Selbst- und Fremdadressierungen wie die hier zitierten im Rahmen einer Beziehungspraxis, eines „doing belonging“,⁵³ bekräftigt, in Szene gesetzt und mit Leben gefüllt. Teil einer ähnlichen Beziehungs- bzw. Zugehörigkeitspraxis ist Levin Varnhagens Schilderung des Kontakts zu Graf Bentheim (der auch Varnhagens ehemaliger militärischer Vorgesetzter ist): Levin Varnhagen setzt das mit ihm geteilte Zimmer als „bivouac“, also als provisorisches Feldlager, und sich als Adjutantin des Grafen und damit Nachfolgerin ihres Verlobten in Szene („ich habe deine Stelle“).⁵⁴ Damit nähert sie schreibend zwei Leben einander an, positioniert ihren Verlobten und sich durch die militärischen Metaphern zumindest schreibend in einem gemeinsamen Setting, das in diesem Falle auch (militärische) Machtimplikationen besitzt. Das Verhältnis zwischen Schreib-Szene und Raum erscheint in allen SchreibSzenen als wechselseitig produktives: Der physische und soziale Raum wird zum Thema, weil die Schreibende sich darin bewegt, mit Anderen interagiert, ihn nutzt oder sich daran stört – er wird in genau dem Rahmen zugänglich, in dem das Subjekt wahrnimmt, handelt und Elemente für aufzeichnenswert befindet. Hier lässt sich das eingangs angesprochene kontingente Potenzial, das jede Praxis an sich hat, gut sehen: Praktiken des Schreiben, des sozialen Umgangs, der Wahrnehmung sowie die vorgefundene physische und personelle Umgebung machen einige Vorgaben – in deren Rahmen sich das schreibende Subjekt aber auf Basis seiner individuellen Dispositionen unterschiedlich verhalten kann (d. h. ein anderes Subjekt würde sich im gleichen Setting nicht genauso verhalten und auch andere Elemente im Schreiben aufzeichnen). Zugleich lässt es sich im Horizont der Schreibszenenforschung auswerten: Wie Martin Stingelin gezeigt hat, entsteht eine Schreib-Szene immer aus der Auseinandersetzung mit einem Widerstand – wobei dieser Widerstand ein subjektiv empfundener und individuell im Schreiben bearbeiteter ist. Egal ob der Widerstand vom Schreibgerät, von der Sitzhaltung, dem schmerzenden Kopf, der Ablenkung durch ein Gespräch oder der schwierigen Verschriftung eines Gedankens ausgeht, er ist immer im Zwischenraum von    

Varnhagen: Briefwechsel, S. 228. Ebd., S. 226. Meißner: Relational becoming, S. 11. Varnhagen: Briefwechsel, S. 229.

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schreibendem Subjekt und seiner Umgebung angesiedelt und wird daher erst im Schreiben von genau diesem Subjekt zum Schreib-Widerstand. Das belebte Landhaus mit seinen lauten Geräuschen im untersuchten Beispiel – räumlicher Ausgangspunkt der ersten Momentaufnahme – gewinnt sein Potenzial als Schreibumgebung und als im Schreiben bearbeiteter Widerstand im Sinne Stingelins, indem die Schreibende einen Tag später aufschreibt, wie schwierig das Schreiben dort war. Ohne diese Schreibpraxis wäre es einfach das Landhaus des geselligen und weltoffenen Theaterdirektors Liebich. Zugleich gewinnt in diesem Vorgang ein Subjekt Kontur, das sich selbst in einer Prager Kulturszene und einem bestimmten Freundeskreis verortet. Die Schreib-Szenen sind damit nicht das Abbild eines Subjekts und seiner Auseinandersetzung mit einer vorgefundenen (widerständischen) Schreibumgebung, sondern Schauplatz der wechselseitigen Bearbeitung der beiden dynamischen Größen Subjekt und Schreibumgebung. Bislang nicht angesprochen wurde die Komplexität, dass der untersuchte Text Teil eines Briefwechsels ist, also eines erstens seriellen und zweitens kollaborativen Schreibformats mit drittens eventuell komplexer Materiallage. Teile dessen, was in Schreibpraxis und Schreibumgebung über die explizite SchreibSzene hinausweist, finden schriftlichen Niederschlag in vorausgehenden Briefen Rahel Levin Varnhagens und auch ihres Briefpartners. Die betrachteten SchreibSzenen werden so zugleich lesbar als Momentaufnahmen eines größeren Schreibund Textzusammenhangs, aus dem heraus sich zum Beispiel erst verstehen lässt, wer „der Graf“ ist und welche Vorgeschichte ihn mit beiden Schreibenden verbindet, was es mit der „Schildwache“ auf sich hat und warum sich Levin Varnhagen überhaupt in Prag bei „der Brede“ aufhält. Das wirft die schwierige theoretische Frage auf, wie sich ein solcher praxeologischer Gegenstand auf Textebene sinnvoll fassen und begrenzen lässt: Betrachten wir den unmittelbaren Schreibprozess am Einzelbrief und ordnen die übrigen Briefe dessen Schreibumgebung zu? Oder dehnen wir den Gegenstand selbst aus, indem wir den gesamten Briefwechsel als Schreibprodukt eines länger andauernden Schreibprozesses annehmen? Im ersteren Fall würde der Einzelbrief als Textgegenstand betrachtet und weitere Briefe des Briefwechsels als Schauplätze und nachträgliche Informationsquellen vorausgehender Schreibpraxis und Subjektivation des schreibenden Subjekts oder auch als materielle Artefakte, auf die sich schreibend bezogen wird. Im zweiteren Fall würde der gesamte Briefwechsel als Textgegenstand und Spur eines längeren gemeinsamen Schreibprozesses betrachtet. Argumente lassen sich für beide Ansätze finden: Der Einzelbrief besitzt einerseits eine sichtbare Textgrenze, sein Unterzeichnen und Abschicken kommt einem vorläufigen Abschluss, einer ersten Autorisierungsstufe gleich. Andererseits sprengt er, als Schreibpraxis gelesen, in seinen Bedingungsfaktoren,Widerständen und Dispositionen ohnehin den raumzeitlichen und auch personellen Rahmen der Aufzeichnung vom ersten

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zum letzten Buchstaben – und als Brief ist in ihm auch genretechnisch angelegt, dass er auf einen vorausgehenden Text antwortet und ihm ein weiterer Text folgt. Ein solcher Textgegenstand besitzt dann jedoch eine potenziell unendliche Schreibumgebung – denn auch der gesamte Briefwechsel als Schauplatz und Ergebnis einer Schreibpraxis gelesen weist wiederum über sich hinaus in andere örtliche, personelle und textuelle Szenarien. Hier wird offenkundig, dass der geschriebene Text unter praxeologischen Gesichtspunkten mitnichten ein klarerer Gegenstand ist als sein Schreibprozess. Erstens bleibt vieles, was zeitgenössisch in der Schreibpraxis eine Rolle gespielt hat, ohne lesbare Spur im Text – häufig sind nicht einmal alle zeitgenössisch erzeugten Spuren erhalten. So ist etwa im untersuchten Briefwechsel eine Reihe von Briefen nicht überliefert. Einige davon treten in den erhaltenen Briefen als ‚Phantom-Texte‘ in Erscheinung (das gilt etwa für die im Beispiel erwähnten fünf Briefe Karl August Varnhagens) oder ihre Existenz kann gar nicht rekonstruiert werden. Es handelt sich also, egal wo man die Grenze zwischen Schreiben/Schrift und Schreibumgebung zieht, schon von Seiten des Materials immer um eine von mehreren möglichen Konstellationen, aus der heraus der Blick auf die historische Schreibpraxis und -umgebung fällt. Zweitens setzt jede Lektüre, Herausgabe und Forschung den betreffenden Schreibprozess auf eine bestimmte Weise neu in Szene und generiert darin, wenn man möchte, einen neuen Textgegenstand. Am untersuchten Beispiel lässt sich das leicht zeigen: Hätte das Originalmanuskript den zweiten Weltkrieg überlebt, müsste diskutiert werden, inwiefern bei ihm und der hier zitierten, von Karl August Varnhagen und Ludmilla Assing posthum bearbeiteten Fassung überhaupt von der gleichen raumzeitlichen Rahmung und den gleichen beteiligten Subjekten ausgegangen werden darf. Und auch die beiden vorgeschlagenen Textgrenzen (Einzelbrief oder gesamter Briefwechsel) sind nicht die einzig möglichen. Auch die vier zu unterschiedlichen Zeiten geschriebenen Teile des Einzelbriefs lassen sich zum Beispiel als Zwischenstufen und damit einzelne Textgegenstände untersuchen. Eines sollte bis hierher deutlich geworden sein: Weder der Schreibprozess noch sein Produkt sind essenzielle Gegenstände, sondern immer Resultate einer Interpretationsentscheidung im Lese- und Forschungsprozess. Die Gleichung 1 Text = 1 raumzeitlich definierbarer Schreibprozess verkompliziert sich an verschiedenen Stellen: Zuerst entsteht kein zu untersuchender Text in einem klar umgrenzten Vorgang, sondern inmitten etlicher, raumübergreifender Prozesse. Wie weit die Schreibumgebung gefasst und in die Betrachtung einbezogen wird, ist ebenso offen entscheidbar wie die Frage, an welchem Punkt dieser Prozesse der untersuchte Text angesetzt wird. Nimmt man Roland Barthes’ These ernst, dass Prozess und Produkt untrennbar verschränkt sind, dann gibt es keinen empirischen Zeitpunkt, an dem ‚das Produkt‘ da ist.Vielmehr lassen sich zu jedem

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Zeitpunkt des Schreibprozesses materielle Stadien extrahieren, die insofern ‚Produkte‘ sind, wie wir uns dafür entscheiden, sie als solche zu lesen. Die ‚Zwischenstufe‘ ist damit auch ausdrücklich nicht im Sinne der veralteten Prämisse gemeint, dass der Schreibprozess über bestimmte notwendige Stationen auf ein vorab feststehendes Prozessziel zuläuft. Sie entsteht im Rahmen einer heuristischen, am Einzelfall begründbaren Entscheidung. Als Entscheidungsfaktoren, was sich als eine textuelle ‚Zwischenstufe‘ sinnvoll untersuchen lässt, kommen z. B. in Frage, welche Formen der Autorisierung und Finalisierung ein potenzieller Gegenstand aufweist oder wie deutlich er selbst Grenzen in Szene setzt, etwa zwischen Vorfassungen und publiziertem Werk oder zwischen Text, Para- und Epitext.⁵⁵ Was lässt sich hieraus für eine praxeologische Perspektive auf das Schreiben ableiten? Deutlich geworden ist, dass sie die „Trichotomie von Produkt, Prozess und sozialer Situiertheit“⁵⁶ als absolute Kategorien an ihre Grenzen treibt bzw. in der Schwebe zwischen Kategorien arbeiten muss: Was wir als Schreibprozess, Schreibumgebung und Schreibprodukt eines historischen Schreibens in den Blick bekommen, sind niemals drei gegebene Untersuchungsgegenstände, sondern eine Konstellation mit mindestens drei wechselseitig abhängigen dynamischen Elementen, die wiederum in wechselseitiger Abhängigkeit zum ebenfalls dynamischen schreibenden Subjekt stehen. Eine praxeologisch orientierte Schreibforschung muss sich, anders gesagt, von der Vorstellung verabschieden, dass zu irgendeinem Zeitpunkt ein stabiles Subjekt einen definiert abgegrenzten Schreibprozess in einer empirischen Schreibumgebung durchgeführt hat, der nur mehr oder weniger Daten hinterlassen hat. Die historische Schreibpraxis und Schreibumgebung erweisen sich als kein reines Rekonstruktionsproblem, sondern vor allem als Konstruktions- und Abgrenzungsproblem: Wo und auf welcher Datenbasis nehme ich eine Stichprobe dieser Konstellation, wo ziehe ich mit welchen Argumenten heuristische Grenzen zwischen Schreibprodukten, ihrem Entstehungsprozess und ihrer Entstehungsumgebung? Nötig sind diese Grenzen, schon allein um überhaupt eine Untersuchung zu ermöglichen, und wurden auch für diesen Beitrag gezogen – sie bleiben jedoch in jedem Fall begründungsbedürftige erste interpretatorische Entscheidungen.

 Peter Hughes, Thomas Fries und Tan Wälchli (Hg.): Schreibprozesse, Paderborn 2008 zeigen hier ebenso wie Uwe Wirth: Zwischenräumliche Schreibpraktiken, in: Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, hg. von Jennifer Clare, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauf und Toni Tholen, Heidelberg 2018, S. 13–26 jeweils ein sehr weites Spektrum auf.  Pany-Habsa: ‚Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein‘, S. 89.

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4 Abgrenzungsprobleme und -potenziale von Schreibpraxen: ein vorläufiges Fazit Mit der Modellierung des Schreibens als Praxis geraten vermeintlich fest umrissene Gegenstände wie Schreibumgebung, Schreibprozess und Textprodukt grundlegend auf den Prüfstand. Die Schreibumgebung verstanden als sozialer und physischer Raum einer Schreibhandlung erweist sich als im stetigen Prozess befindliches Moment, das in seinen schriftlichen Spuren unter Umständen weit über seinen physischen Ort und historischen Zeitrahmen hinausweist. Ein wichtiger Grund dafür ist seine wechselseitige Abhängigkeit von einem gleichermaßen dynamischen schreibenden Subjekt. Aus praxeologischer Sicht ist weder das schreibende Subjekt noch seine Schreibumgebung zu irgendeinem historischen Zeitpunkt als stabiler Gegenstand verfügbar, sondern wird durch und im Schreiben produziert. Der in dieser Konstellation ausgeführte historische Schreibprozess muss begriffen werden als zugleich Austragungsort und Ergebnis zeitgenössischer Praktiken (nicht nur des Schreibens). Das hat wiederum Konsequenzen für das Verständnis des Schreibprodukts: Ein zu untersuchender Text steht immer im Zwischenraum von materialem Artefakt und Prozessspur (ein Gedanke, der sich, wie oben erwähnt, schon in Campes Barthes-Lektüre angelegt findet). In verschiedenen Prozessphasen entstehen schriftliche Spuren, die einen jeweiligen Moment der Konstellation von schreibendem Subjekt, Schreibumgebung und Schreibprozess aufnehmen. ‚Den‘ Schreibprozess eines Textes kann es damit ebenso wenig geben wie ‚die‘ Umgebung dieses Prozesses oder ‚die‘ ausführende Person. Das macht diese Begriffe keinesfalls beliebig oder obsolet. Ein schreibendes Subjekt etwa hat zwar seine Schnittmengen mit und seine Abhängigkeiten von dem Raum, in dem geschrieben wird, aber es ist weder der Schreibprozess noch dessen Umgebung – und methodenunabhängig kommt eine Forschung nicht daran vorbei, bestimmte Prozessspuren als Gegenstand auszuwählen und damit von anderen abgegrenzt zu betrachten. Schreiben als Praxis verstehen heißt, Grenzen zu benennen, aber als stetige Verhandlungsmasse des Schreibens zu begreifen und sensibel zu werden für die Auseinandersetzungen an ihren Rändern und in ihren Zwischenräumen. Die Schreib-Szene kann als Momentaufnahme solcher Auseinandersetzung in den Blick genommen werden. Sie ist, so verstanden, keine Abbildung, sondern Schauplatz von Raumerschließung, Selbstverortung und Subjektivation. Rüdiger Campes Definition der „Schreibszene, Schreiben“ von 1991 legt diese Offenheit bereits an: ‚Die Schreibszene, Schreiben‘ erinnert an Unterscheidungen – der Körper/die Sprache, das Gerät/die Intention –, die sie dann wieder zu übergehen auffordern. Mit ‚Schreiben‘ ist oft

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eine Bewegung gemeint, die die Grenze der Unterscheidungen in Richtung auf den Körper oder auf Materialität überquert.⁵⁷

Schreiben ist demnach eine stetige und oft konfliktreiche Auseinandersetzung zwischen vermeintlich klar abgegrenzten Aspekten wie Körper, Sprache, Werkzeug, zwischen Flüchtigkeit und Materialität, zwischen Vorfinden und Inszenieren, zwischen Text und Nicht-Text. Mit dem skizzierten praxeologischen und raumsoziologischen Ansatz wird diese Komplexität der Schreibszene literatursoziologisch ausdifferenziert: Schreiben wird zugänglich als Schauplatz und momenthafte Materialisierung eines Bewegens, Handelns und Zusammenlebens von schreibenden Subjekten in gelebten Umgebungen.

 Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 270.

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Über das Exzerpieren schreiben – Exzerptsammlungen und ihre Autoren im 18. Jahrhundert Das Exzerpieren hat eine lange, epochen- und kulturübergreifende Geschichte. Im europäischen Kulturraum ist das Phänomen als Begriff und Praxis seit der Antike belegt.¹ So hat beispielsweise Plinius der Ältere seine monumentale Historia naturalis auf der Grundlage von Exzerpten geschrieben.² Ausführliche Dokumente zu Exzerpierpraktiken (Exzerptsammlungen, Zeugnisse über die Exzerpierpraxis einzelner Personen, Informationen zur schulischen Unterweisung im Exzerpieren) sind allerdings erst seit Beginn der Neuzeit überliefert.³ Ebenfalls erst seit Beginn der Neuzeit sind Texte bezeugt, in denen explizit über das Exzerpieren nachgedacht wird. Mit der humanistischen Bewegung beginnt im lateinischen Europa ein Diskurs über das Exzerpieren, der im 17. Jahrhundert ein eigenes Textgenre (De arte excerpendi) hervorbringt.⁴ Ein Grund für diese Entwicklung sind die neuen, mit dem Buchdruck entstandenen Bedingungen, die Leser vermehrt vor die Aufgabe stellen, aus der wachsenden Fülle an Informationen auszuwählen.⁵ Konstant seit der Antike sind zwei zentrale Funktionen, die den Exzerpten zugewiesen werden: Sammlungen von Exzerpten dienen einerseits als Speicher von Gelesenem und andererseits als Reservoir von Baumaterialien für die Herstellung ‚sekundärer‘ Texte, wobei ‚sekundär‘ hier wertneutral in einem vorwiegend chronologischen Sinn verstanden werden will. Als Ergebnis der Selektion, Organisation und Rekonfiguration von Gelesenem bilden Exzerptsammlungen damit ein äußerst bedeutsames Scharnier – sowohl in kognitiver als auch in textgenetischer Hinsicht – zwischen zwei Facetten der intellektuellen Arbeit:

 René Jacob und Franz-Hubert Robling: Art. Exzerpt, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1996, Sp. 183‒185, hier Sp. 183.  C. Plinius Caecilius Secundus: Sämtliche Briefe, eingeleitet, übersetzt und erläutert von André Lambert, Zürich/Stuttgart 1969, S. 111 f. (Buch III, Brief Nr. 5 [10, 17]).  Anthony Grafton: Les lieux communs chez les humanistes, in: Lire, copier, écrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siècle, hg. von Elisabeth Décultot, Paris 2003, S. 31‒42 (dt.: Anthony Grafton: Die loci communes der Humanisten, in: Lesen, Schreiben, Kopieren, hg. von Elisabeth Décultot, Berlin 2014, S. 49‒66).  Alberto Cevolini: De Arte Excerpendi. Imparare a dimenticare nella, Florenz 2006.  Ann Blair: Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven/London 2010. https://doi.org/10.1515/9783110792447-010

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Sie dokumentieren selbstverständlich die Lese- und Rezeptionstätigkeit des Exzerpierenden; doch bilden sie auch die Keimzelle neuer Schreibarbeit und gewähren somit einen Einblick in den Prozess, der vom Lesen zum sekundären Schreiben führt. Mit anderen Worten liefern Sammlungen von Exzerpten die konkrete, materiell-gegenständliche Grundlage für das in der Literaturwissenschaft oft heraufbeschworene Phänomen der Intertextualität⁶ – wobei Intertextualitätstheoretiker sich mit Exzerptsammlungen und exzerpierenden Praktiken nicht befasst haben. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, anhand von exemplarischen Exzerptsammlungen aus dem 18. Jahrhundert das Phänomen des Exzerpierens und die daraus resultierenden Exzerpte mit Blick auf das Schreiben zu analysieren, und dies ausgehend von zwei Fragenkomplexen. In einem ersten Schritt soll untersucht werden, wie im 18. Jahrhundert über das Exzerpieren geschrieben wurde, mit anderen Worten: wie das Exzerpieren und die daraus resultierenden Exzerpte als Etappen für eine sekundäre Schreibaktivität thematisiert, inszeniert bzw. kritisch reflektiert wurden. In einem zweiten Schritt soll die Frage verfolgt werden, inwiefern exzerpierende Praktiken spezifische Formen des Schreibens hervorgerufen haben. Mit der Beantwortung dieser Fragen sollen einige Kernbegriffe des modernen Literaturverständnisses – wie etwa ‚Autorschaft‘, ‚Originalität‘ oder ‚Plagiat‘ – beleuchtet werden.

1 Das Abschreiben beschreiben Wie einleitend erwähnt, ist die althergebrachte Praxis des Exzerpierens im 18. Jahrhundert noch sehr lebendig. Davon zeugen etwa die Nachlässe von Voltaire, Montesquieu,Winckelmann oder Jean Paul (Abb. 1).⁷ Neu im 18. Jahrhundert ist allerdings eine immer deutlichere Diskrepanz zwischen einer weiterhin intensiv betriebenen Exzerpierpraxis einerseits und dem Exzerpierdiskurs andererseits, der in der Tat in den Hintergrund rückt. Während Exzerpieranleitungen und -unterricht in den deutschen Universitäten des 17. Jahrhundert florierten, wird das Exzerpieren als eigenständiges Unterrichtsfach an deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert abgeschafft.⁸ Auf die eigene Exzerpiertätigkeit wird, wenn über-

 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Literaturwissenschaft und Linguistik III, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt a. M. 1972, S. 345‒375; Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982.  Zu diesen Nachlässen vgl. u. a. Décultot: Lire, copier, écrire (dt. Übers. mit neuer Einleitung).  Helmut Zedelmaier: Christoph Just Udenius and the German ars excerpendi around 1700. On the Flourishing and Disappearance of a Pedagogical Genre, in: Forgetting Machines. Knowledge

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haupt, vorwiegend in privaten Dokumenten (etwa Briefen oder Notizen) hingewiesen.

Abb. 1: Montesquieu, Exzerpte aus De Regio Persarum principatu, an[no] 1595, in: Bibliothèque Municipale de Bordeaux, Handschrift 2526/7, Bl. 1r.

Management Evolution in Early Modern Europe, hg. von Alberto Cevolini, Leiden/Boston 2016, S. 79‒104.

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Aus der Exzerpiertätigkeit, der sich Johann Joachim Winckelmann sein ganzes Leben widmete, ist ein Corpus von mehr als 7.500 handschriftlichen Seiten entstanden, deren Herstellung wohl einen erheblichen Anteil seiner Arbeitszeit sowohl in Deutschland als auch in Italien ausgemacht haben dürfte.⁹ Über diese intensive Exzerpiertätigkeit unterhält sich Winckelmann allerdings nur mit den engsten Freunden, und zwar verhältnismäßig knapp. Seinen Freunden gegenüber erwähnt er gelegentlich die fleißigen Frühstunden – „von 3 Uhr, wie es kommt, bis 7“ –, die er der Bereicherung seiner Exzerpte widmete (Abb. 2).¹⁰ Nur selten geht er etwas näher auf seine Aktivität als fleißiger Exzerpierer ein, so etwa wenn er 1754 gegen Ende seines Aufenthalts in der Bibliothek des Reichsgrafen von Bünau in Nöthnitz mit Stolz an seinen Freund Hieronymus Dieterich Berendis schreibt: Meine Extraits sind auf einen gantz anderen Fuß eingerichtet, und sehr angewachsen. Ich habe sie sehr sauber geschrieben: ich halte sie nunmehro vor einen großen Schatz, und wünschte, daß Du Zeit hättest daraus zu profitiren.¹¹

Auch Jean Paul, der eine immense und selbst für Jean-Paul-Experten zum Teil unergründliche Exzerptsammlung konstituierte, schreibt in seinen eigenen Schriften so gut wie nicht über die eigene Exzerpiertätigkeit.¹² Nur einzelnen hinterlassenen privaten Notizen kann man entnehmen, wie wichtig diese Materialien für ihn waren: „Bei Feuer sind die schwarzeingebundnen Exzerpte zuerst zu retten“, schrieb er 1812 an seine Frau Caroline, als er das Haus für einige Tage verlassen musste.¹³ Schon das handschriftliche Titelblatt seines ersten Exzerptbandes von 1778 weist die „schwarzeingebundenen Exzerpte“ als ein in der Tat recht kostbares Gut aus (Abb. 3).

 Zu Winckelmanns Exzerpiertätigkeit Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art, Paris 2000 (dt.: dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding 2004).  Winckelmann: Brief an Konrad Friedrich Uden, 07.12.1749, in: ders.: Briefe, hg. von Walther Rehm unter Mitwirkung von Hans Diepolder, 4 Bde., Berlin 1952‒1957, hier Bd. 1, S. 94.Von diesen frühen Arbeitsstunden zeugt ein Heft mit Auszügen aus lateinischen Dichtern mit dem Titel Von den Frühstunden, das Winckelmann wohl in Seehausen oder Nöthnitz geschrieben haben dürfte; Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 69, Bl. 185r‒196v.  Winckelmann: Brief an H. D. Berendis, 06.07.1754, in: ebd., Bd. 1, S. 142.  Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte,Würzburg 1988; Michael Will: Lesen, um zu schreiben – Jean Pauls Exzerpte, in: Jean Paul. Dintenuniversum. Schreiben ist Wirklichkeit, hg. von Markus Bernauer u. a., Berlin 2013, S. 39‒48.  Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Eduard Berend u. a., Weimar/Berlin 1927 ff., hier Abt. III, Bd. 6, S. 267.

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Abb. 2: J. J. Winckelmann, Exzerpte mit dem Vermerk „Von den Frühstunden“, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 69, Bl. 185r.

In dieser Konstellation gehört sicherlich Lichtenberg zu denjenigen Autoren, die am ausführlichsten auf das Exzerpieren eingehen, wobei diese Tätigkeit von ihm nicht explizit als die eigene beschrieben wird und diese Schilderung im Rahmen seiner privat gehaltenen „Sudelbücher“ vorgenommen wird. So sind Exzerpte für Lichtenberg Waren, über die der Gelehrte nach dem Vorbild des Kaufmanns minutiös Buch führen muss, indem er auf der einen Seite einträgt, was er kauft, und

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Abb. 3: Jean Paul: Verschiedenes, aus den neuesten Schriften. Erster Band, Schwarzenbach an der Saal 1778, in: Nachlass Jean Paul, Staatsbibliothek zu Berlin, Fasz. Ia/1, Bl. 2r.

auf der anderen Seite, was er verkauft, mit anderen Worten, was er beim Anderen abschreibt und was er in seinen eigenen Schriften ‚umsetzt‘: Die Kaufleute haben ihr Waste book (Sudelbuch, Klitterbuch glaube ich im Deutschen), darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein, was sie verkaufen und kaufen, alles durch einander ohne Ordnung, aus diesem wird es in das Journal getragen, wo alles mehr systematisch steht, und endlich kommt es in den Leidger at double entrance nach der italiänischen Art buchzuhalten. In diesem wird mit jedem Mann besonders abgerechnet und zwar erst als Debitor und dann als Creditor gegenüber. Dieses verdient von den Gelehrten nachgeahmt zu werden. Erst ein Buch worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes getragen werden, wo die Materien mehr

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abgesondert und geordnet sind, und der Leidger könnte dann die Verbindung und die daraus fließende Erläuterung der Sache in einem ordentlichen Ausdruck enthalten.¹⁴

All diesen Hinweisen auf das Exzerpieren als eigene Tätigkeit oder als Tätigkeit eines Dritten ist gemeinsam, dass sie in Texten erfolgen, die primär nicht zur Drucklegung bestimmt sind, also einer breiteren Öffentlichkeit vorenthalten bleiben, als sollte das Exzerpieren nicht thematisiert, gleichsam unter der Hand praktiziert werden. Diesen Zeugnissen ist aber auch gemeinsam, dass sie Exzerpte als zentrales Kernstück schriftlicher Tätigkeit beschreiben. In der europäischen Schreibkultur des 18. Jahrhunderts ist der Rückzug des Schreibens über das Exzerpieren in die Privatsphäre dem Emporkommen des neuen Paradigmas der Originalität sowie eines stark individualisierten Autorschaftsbegriffs geschuldet. Im Zeitalter der Aufklärung wird gerne Distanz zu einer Praxis gehalten, die als Grundlage für autoritätsfixiertes und unselbstständiges Denken gilt. Zwar sind diese Vorbehalte nicht neu. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts wurden mit der wachsenden Trennung zwischen ‚honnête homme‘ und ‚érudit‘, Eleganz und Pedanterie, die Vorbehalte gegen die Exzerpierkunst immer lauter. 1673 gibt Charles Sorel genaue Anweisungen zur Erstellung von Exzerptheften in seinem Werk De la connoissance des bons livres (1671), warnt aber vor den „Pedanten und Sophisten, die große Ladungen von loci communes aufnehmen, um über ein Magazin von schönen Worten zu verfügen, mit denen sie überall prahlen“.¹⁵ Im 18. Jahrhundert wird das Begriffspaar Erfindung/Nachahmung zunehmend als Gegensatzpaar verstanden und das Exzerpieren als Ursache für epigonales Schreiben an den Pranger gestellt.¹⁶ Das häufige Verschweigen der eigenen Exzerpiertätigkeit darf aber keineswegs auf eine minderwertige Bedeutung der Exzerpierpraxis im 18. Jahrhundert schließen lassen. Die bemerkenswerte Sorgfalt und Konstanz, mit der Exzerptsammlungen angelegt wurden, zeugt im Gegenteil für die ungebrochene Relevanz dieser Technik. Dies belegen die Exzerpthefte Winckelmanns in eklatanter Weise,  Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbuch EI 46, in: ders.: Schriften und Briefe, Bd. 1, hg. von Wolfgang Promies, München 1968, S. 352.  Charles Sorel: De la connoissance des bons livres ou Examen de plusieurs autheurs. Supplément des ‚Traitez de la connoissance des bons livres‘, hg. von Hervé D. Béchade, Genf/Paris 1981, S. 15: „Il nʼy a que les Pedans et les Sophistes qui se chargent de Lieux communs pour avoir un magazin de belles paroles dont il font parade en tous lieux.“  Einer der unbarmherzigsten Gegner der ars excerpendi in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war in Deutschland der Jenaer Professor für Poesie und Eloquenz Friedrich Andreas Hallbauer, der insgesamt 16 Klagepunkte gegen die „oratorischen excerpta und collectanea“ aufführte; F. A. Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie, nebst einer Vorrede von den Mängeln der Schul-Oratorie, Jena 1725, Faksimile Kronberg/Ts. 1974, S. 291‒294.

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die für ihn offenkundig die zentrale Funktion einer tragbaren handgeschriebenen Bibliothek erfüllten. Diese sollte ihren Besitzer übrigens nicht nur mit Auszügen aus gelesenen Texten versorgen, sondern auch mit ‚exzerpierten Abbildungen‘ im Sinne von sorgfältig abgezeichneten Stichen (Abb. 4 und 5).¹⁷ Als Winckelmann noch als Sekretär des Grafen von Bünau in Nöthnitz arbeitete, schickte er mit Stolz einige dieser Hefte an Freunde, die keinen Zugang zu guten Bibliotheken hatten, und wurde äußerst unruhig, wenn das kostbare Gut zu lange ausblieb.¹⁸ Als er Sachsen im Jahre 1755 Richtung Rom verließ, machten diese Exzerpte den wichtigsten und kostbarsten Teil seiner Ausstattung aus. Bei Winckelmann, dem Sohn eines Schuhmachermeisters, hat das Exzerpieren sicherlich zunächst einen Grund in der sozialen Herkunft: In der Mitte des 18. Jahrhunderts sind Bücher teure Waren für einen Schustersohn. Jenseits dieser soziologischen Komponente wirkt jedoch beim Exzerpieren etwas Tieferes mit, etwas, was mit der persönlichen Inbesitznahme des Buches zu tun hat. Erst durch den körperlichen, oft mühsamen Gestus des Abschreibens vollzieht sich für Winckelmann die Aneignung des Gelesenen. Gedruckte Bücher besaß er in Deutschland nur recht wenige. Aber anscheinend reichte ihm diese bloß äußere Form des Besitztums nicht, denn aus Werken, die er in Druckform besaß, fertigte er ebenfalls Exzerpte an.¹⁹ Einem leidenschaftlichen Exzerptor wie Winckelmann ist das Kopieren die unerlässliche Bedingung zur wahrhaften Inbesitznahme des Buches. Viele von Winckelmanns Exzerptheften zeigen, wie wichtig ihm der Moment der bloß manuellen Kopieraktivität, des Abschreibens war. In einem Heft, das in den 1730er oder 1740er Jahren entstanden sein dürfte, stehen ganze Auszüge aus Gedichten des Anakreon in säuberlicher Schönschrift (Abb. 6).²⁰ Seine leidenschaftliche Begeisterung für die griechische Sprache, die bei ihm schon

 Vgl. beispielsweise Winckelmann: Exzerpte aus Caylus: Recueil d’Antiquités, Bd. 1, Paris 1752, Tf. LXXXIV, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 67, Bl. 28r; sowie die Abb. 4 und 5 dieses Beitrags. Ferner Winckelmann: Exzerpte aus Claude Perrault: Les dix livres dʼarchitecture de Vitruve […], seconde édition, Paris 1684, in: ebd., Bd. 62, Bl. 70r; ders.: Exzerpte aus Charles Augustin d’Aviler: Cours d’architecture, Paris 1691, in: ebd., Bd. 62, Bl. 77r.  Winckelmann: Briefe an H. D. Berendis, 19.12.1754, 23.01.1755, 10.03.1755, in: ders.: Briefe Bd. 1, S. 160, 164, 166. Seine Exzerpthefte vertraute Winckelmann vor allem seinen Freunden F. W. P. Lamprecht und H. D. Berendis an.  In seiner bescheidenen Büchersammlung besaß Winckelmann z. B. die Anthologia Græca; Winckelmann: Briefe an Konrad Friedrich Uden, 24.05.1751 und 03.03.1752, in: ders.: Briefe, Bd. 1, S. 105, 110. Aus diesem Buch machte er ausführliche Exzerpte; vgl. Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 60, Bl. 168r‒245v (darunter auch leere Seiten).  Nachlass Winckelmann, Hamburg, Staats- und Universitä tsbibliothek, Cod. Hist. Art. 1,2 (4°), Bl. 140r‒155r.

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Abb. 4: J. J. Winckelmann, Exzerpte aus Claude Perrault: Les dix livres d’architecture de Vitruve […], seconde édition revue, corrigée et augmentée, Paris: Jean-Baptiste Coignard, 1684, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 62, Bl. 70r.

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Abb. 5: J. J. Winckelmann, Exzerpte aus Charles Augustin d’Aviler: Cours d’architecture, Paris: N. Langlois, 1691, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 62, Bl. 77r.

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früh erwachte, ist ursprünglich eng mit der Faszination für die plastischen Formen griechischer Schriftzeichen verbunden.²¹

2 Vom Exzerpieren zum Schreiben Wie hat sich nun diese weit verbreitete Exzerpiertätigkeit auf die Schreibtätigkeit von Autoren des 18. Jahrhunderts ausgewirkt? Von Anfang an wurden die Exzerpthefte als Bestände konzipiert, die nicht nur das Gelesene aufbewahren, sondern auch neue Texte generieren sollten – ein Produktionsprozess, der nicht selten unter Rückgriff auf Bilder aus der kaufmännischen Metaphorik als Kapitalvermehrung umschrieben wurde, etwa nach dem vorhin zitierten Vergleich Lichtenbergs. Der Weg, der den Schriftsteller vom Exzerpieren zum Schreiben führt, fängt sehr oft mit derselben Geste an, und zwar mit der Herstellung von Katalogen, Registern und Inhaltsverzeichnissen seiner Exzerpthefte – anders gesagt, mit der Produktion von Ordnungssystemen, die das Wiederfinden und die Verarbeitung des ‚fremden‘ Exzerpts für die eigene Schreibtätigkeit ermöglichen. Das ist bei Jean Paul der Fall, der vielfältige Register seiner Exzerpte erstellt,²² und auch bei Winckelmann, der immer wieder versucht, Kataloge oder Verzeichnisse seiner eigenen Exzerptbibliothek herzustellen.²³ In all diesen Katalogen erfüllt das Erstellen von Rubriken eine zentrale Funktion: Den bloßen Schlagwörtern dieser Kataloge lässt sich schon eine Art gedankliches Gerüst zum entstehenden Werk entnehmen – wie beispielsweise die Verbindung zwischen Kunstblüte und Freiheit bei den Griechen in der Rubrik „Libertas Graeciae“, die Winckelmann in einem solchen Katalog aufführt und die zu den grundlegenden Thesen seiner später

 Winckelmann: Briefe an Caspar Fü ssli. 27.07.1758, in: ders.: Briefe, Bd. 1, S. 400: „Ich werde einige nicht bemerkte Stellen, sonderlich aus dem Plato und Aristoteles griechisch in den Noten drucken laßen: ich wünschte aber daß man schöne Lettern haben könnte: dieses würde mich bewegen noch eine und die andere zuzusetzen. Es hat der gute Geschmack in dieser Art seit Robert Stephani Zeit in der Welt verlohren. Es ist kein Licht und Schatten mehr in den griechischen Buchstaben. Ich werde verstanden werden weil ich mit einem Künstler rede, und gewisse Abkürzungen, Abbreviaturen gehören zur schönen Form, und geben ihnen die Runde und die Gratie. Es könnte geschehen, daß ich mit der Zeit etwas Griechisches drucken ließ.“  Jean Paul: Register über die vorzüglichsten Sachen, in den Exzerpten aus den neuesten Schriften, in: Nachlass Jean Paul, Staatsbibliothek zu Berlin, Fasz. Ia,6, 3r. Dazu Müller: Jean Pauls Exzerpte, bes. S. 9‒13, 327‒330; Michael Will: Jean Pauls (Un‐)Ordnung der Dinge, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41 (2006), S. 71‒95.  Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 73, Bl. 46r‒68r (Catalogus).

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Abb. 6: J. J. Winckelmann, Exzerpte aus Anakreon, in: Nachlass Winckelmann, Hamburg, Staats- und Universitä tsbibliothek, Cod. Hist. Art. 1,2 (4°), Bl. 141.

entstandenen Geschichte der Kunst des Alterthums gehört (Abb. 7).²⁴ Das bloße Sortieren und Registrieren der Exzerpte unter Schlagwörtern kann damit als die allererste Phase der persönlichen Schreibarbeit betrachtet werden. Von der produktiven Funktion des bloßen Sortierens und Rubrizierens von Exzerpten zeugt ein besonderes Dokument. Im Jahre 1767, ein Jahr vor seinem

 Ebd., Bd. 57, Bl. 198r‒233v (dort Rubrik „Libertas Graeciae“, Bl. 215v.); Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, erste Auflage Dresden 1764, zweite Auflage Wien 1776, hg. von A. H. Borbein, T. W. Gaehtgens, J. Irmscher und M. Kunze, Mainz 2002.

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Abb. 7: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 57, Bl. 215v.

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Abb. 8: J. J. Winckelmann: Collectanea zu meinem Leben, in: Nachlass Giovanni Cristofano Amaduzzi, Rubiconia Accademia dei Filopatridi, Savignano sul Rubicone (Italien), classis VI.

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gewaltsamen Tod, verfasste Winckelmann unter dem Titel Collectanea zu meinem Leben eine autobiografische Erzählung merkwürdiger Art (Abb. 8). Mit Hilfe von unkommentierten Exzerpten aus zum größten Teil antiken Texten, die er seinem immensen Exzerptmagazin entlehnte, stellte er eine Liste von sentenzartigen Sätzen auf, die als kurze Beschreibungen des eigenen Lebenswegs fungierten. So schildert er dort seine Beziehung zur Stadt Rom mit Worten von Martial: 13. Nescis dominae fastidia Romae. Martial. [Übersetzung W. Rehm: „Du kennst nicht den Hochmut der Herrin Roma“].

Oder seinen schweren Lebensweg mit den Worten Ovids: 52. Et data sunt vitae fila severa meae. Ovid. [Übersetzung W. Rehm: „Und meinem Leben ist ein hartes Gepräge gegeben“].²⁵

In dieser Autobiografie besonderer Art gibt es so gut wie keine Worte Winckelmanns selbst. Nur aus dem Zusammenflicken ‚fremder‘ Zitate ist dieses Selbstporträt entstanden. An diesen Collectanea zu meinem Leben wird deutlich, dass das Exzerpieren von Werken anderer Autoren eine quasi existenzielle Bedeutung in Winckelmanns Werk besitzt. Für ihn ist schon das Exzerpieren fremder Texte ein Schreiben über sich selbst.

Der Exzerpierer als Autor Wie wird nun in dieser Exzerptsammlung für die eigene Schreibarbeit konkret gearbeitet? Und welche Beziehungen unterhält dabei der Exzerpierer zum Autor als ‚Schöpfer‘? Diese Fragen sollen hier am Beispiel Winckelmanns beantwortet werden, eines Autors, der nicht nur ein eifriger Exzerpierer war, sondern auch ein eifriger Übersetzer von Exzerpten, die er für die eigenen Werke ausgewertet hat. Als Autor geht Winckelmann mit der Benennung seiner Quellen recht frei um. Aus seinen Exzerptheften übernimmt er für seine erste Veröffentlichung, die Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und

 Winckelmann: Collectanea zu meinem Leben, in: Nachlass Giovanni Cristofano Amaduzzi, Rubiconia Accademia dei Filopatridi, Savignano sul Rubicone (Italien), classis VI. Dazu Wolfgang Schadewaldt: Winckelmann als Exzerptor und Selbstdarsteller. Mit Beiträgen von Walther Rehm, in: Hellas und Hesperien, Bd. 2, hg. von Wolfgang Schadewaldt, Zürich/Stuttgart 1960, S. 637‒657; Décultot: Enquête sur la genèse, S. 9 f., dt.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften, S. 11 f. Zur Transkription und Übersetzung in der Edition von Walther Rehm vgl. Winckelmann: Briefe, Bd. 4, S. 154‒163.

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Bildhauer-Kunst, einige Sentenzen, die er übersetzt und als Entlehnungen kenntlich macht. So schreibt er folgende Sentenz von La Rochefoucauld über den moralischen Begriff der Wahrheit in seinen Exzerptheften auf (Abb. 9): La vérité est le fondement & la raison de la perfection & de la beauté; une chose, de quelque nature qu’elle soit, ne sauroit être belle & parfaite si elle n’est véritablement tout ce qu’elle doit être, & si elle n’a tout ce qu’elle doit avoir.²⁶

Und er fügt eine wortgetreue Übersetzung dieses Zitats in das Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung unter Erwähnung der Quelle ein: Die Wahrheit ist der Grund und die Ursach der Vollkommenheit und der Schönheit; eine Sache, von was vor Natur sie auch ist, kann nicht schön und vollkommen seyn, wenn sie nicht wahrhaftig ist, alles was sie seyn muß, und wenn sie nicht alles das hat, was sie haben muß.²⁷

Aber noch mehr liebt es Winckelmann, sich Sentenzen aus seiner Exzerptsammlung anzueignen und nach Belieben umzuformen, ohne ihren Ursprung anzugeben. So borgt er bei Dominique Bouhours folgenden Vergleich zwischen Schönheit und „vollkommenstem Wasser“ („une eau pure & nette“): Le beau langage ressemble à une eau pure & nette qui n’a point de goût, qui coule de source, qui va ou [sic] sa pente naturelle le porte²⁸

und wandelt ihn in der Geschichte der Kunst des Alterthums – ohne Erwähnung von Bouhours’ Namen – folgendermaßen um: Nach diesem Begriff soll die Schönheit seyn, wie das vollkommenste Wasser aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches, je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen geläutert ist.²⁹

 Winckelmann: Exzerpte aus La Rochefoucauld, Pensées, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 72, Bl. 112r.  Winckelmann: Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung in der Malerey und Bildhauerkunst, in: ders.: Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm, unter Mitwirkung von H. Sichtermann, Berlin 1968, S. 60‒89, hier S. 77.  Winckelmann: Exzerpte aus Abbé Bouhours ‚Les entretiens dʼAriste et dʼEugène‘, Paris 1671 (IIe Entretien: „La langue françoise“, S. 55), in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 71, Bl. 44v („Die schöne Sprache gleicht dem reinen, sauberen Wasser, dem kein Geschmack anhaftet, aus der Quelle fließt und dorthin läuft, wo es von dem Abhang geführt wird.“ Übers. E.D.).  Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. 150‒151 (Seitenzahlen hier und nachfolgend nach der Paginierung der Erstaufl. 1764).

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Abb. 9: J. J. Winckelmann, Exzerpte aus La Rochefoucauld: Pensées, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 72, Bl. 112r.

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Seiner fremdsprachlichen handgeschriebenen Bibliothek hat Winckelmann aber vor allem einzelne Wörter bzw. Begriffe entnommen.Von Anfang an springt in den Gedancken über die Nachahmung die Häufigkeit von Begriffen wie etwa „Contour“, „Drapperie“, „Composition“, „Ordonance“ und „Colorit“ ins Auge, die eindeutig fremden Terminologien entnommen sind. Im Übrigen weist Winckelmann in seinen Publikationen explizit auf solche sprachlichen Einarbeitungen hin. Wenn er befürchtet, das Lehnwort könnte nicht verstanden werden, umschreibt er es: „Unter dem Wort Drapperie begreift man alles, was die Kunst von Bekleidung des Nackenden und von gebrochenen Gewändern lehret.“³⁰ In diesem Prozess der sprachlichen Aneignung von Fremdwörtern, bei dem eine eigene Terminologie erarbeitet wird, sind verschiedene Strategien zu verzeichnen. So belässt Winckelmann gerne Begriffe unübersetzt, die in seinen Kanon der Schönheit nicht passen. Dies ist bei Schlüsselwörtern der antiken oder modernen Formenwelt der Fall, die auf Unruhe und Exzess hinweisen, wie etwa „Franchezza“, „Contrapost“ oder „Parenthyrsis“.³¹ In seinen Texten finden solche Begriffe niemals eine Übersetzung ins Deutsche. Als Fremdkörper in seiner Schönheitslehre bleiben sie auch sprachliche Fremdkörper in seinen Schriften. Ganz anders verhält es sich mit den topischen Attributen griechischer Schönheit wie „grandeur“ oder „simplicité“, die in den Gedancken sofort mit „Größe“ und „Einfalt“ wiedergegeben werden.³² Im Verlauf dieses Prozesses lexikalischer Aneignung führt der Übersetzer allerdings nicht selten Akzentverschiebungen ein, die dem Wort im Deutschen neue Konnotationen verleihen. Dies zeigt sich insbesondere bei zentralen Begriffen seines Kunstdenkens, wie etwa bei dem Terminus „Einfalt“.Winckelmanns berühmte Formel von der „edle[n] Einfalt“ und „stille[n] Größe“ griechischer

 Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst [Erstveröffentlichung: Friedrichstadt 1755], in: ders.: Kleine Schriften, S. 27‒ 59, hier S. 42.  Zum Begriff von Parenthyrsis als Gegenstück zum Begriffskomplex Stand/Ruhe vgl. Winckelmann: Gedancken, S. 43 f.: „Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Charakter der Weißheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsis nannten. […]. Im Laocoon würde der Schmerz, allein gebildet, Parenthyrsis gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in eins zu vereinigen, eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der nächste war.“ Winckelmann notiert zweimal den Ausdruck „Franchezza di tocco“ in seinen Exzerpten aus F. Baldinucci: La vita del Cavaliere […] Bernino, Florenz 1682, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 61, Bl. 26r und Bd. 62, Bl. 45r. Das Wort „Franchezza“ taucht unübersetzt in den Gedancken über die Nachahmung wieder auf; Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke, S. 44.  Ebd., S. 43.

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Kunst ist eigentlich nur die Umformulierung eines Gemeinplatzes der europäischen Kunstliteratur und wurde lange vor ihm von Félibien, Roger de Piles, Du Bos und anderen Autoren geprägt und benutzt.³³ Bei Charles Perrault oder Shaftesbury exzerpiert Winckelmann häufig die Begriffe „sérénité“, „tranquillité“, „grandeur“, „naïveté“, „simplicité“ oder „simplicity“ in direkter Verbindung zur griechischen Antike.³⁴ In seiner Exzerptensammlung findet sich sogar der Ausdruck „noble simplicité“ in einem Exzerpt zu Jonathan Richardsons Traité de la peinture, der in den Gedancken über die Nachahmung in wortwörtlicher Übersetzung als „edle Einfalt“ wieder auftaucht.³⁵ Jedoch begnügt sich Winckelmann nicht damit, seine Quellen treu zu übersetzen. Als deutsches Pendant für das Wort „simplicité“ wählt Winckelmann den Terminus „Einfalt“ aus und vervielfältigt damit die Bedeutungsebenen eines Begriffs, der in seinen französischen und englischen Vorlagen vor allem eine moralisch-ästhetische Bedeutung hatte. Mit dem Begriff „Einfalt“ fängt Winckelmann diese moralisch-ästhetische Bedeutungsebene zwar auf, fügt ihr aber eine ethnologische Konnotation hinzu, die sich insbesondere in der Geschichte der Kunst des Alterthums kundtut. Folgt man Winckelmanns historischem Abriss der antiken Völker, so haben die Griechen ihre Kunst aus sich selbst hervorgebracht, waren deren „erste[] Erfinder“,³⁶ was bedeutet, dass sie in älteren Zeiten den Ägyptern nichts entliehen haben. Gerade diese künstlerische Autarkie und kulturelle ‚Unvermischtheit‘ der Griechen macht für ihn ihre „Einfalt“ aus:

 Ebd. Zur Geschichte dieser Topik vgl. insbesondere Wolfgang Stammler: ‚Edle Einfalt‘. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos, in: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag, hg. von Alfons Eichstaedt und Gustav Erdmann, Berlin 1961, S. 359‒382 (auch in: Wolfgang Stammler: Wort und Bild, Berlin 1962, S. 161‒190); Claudia Henn: Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland, 1674‒1771, Zürich 1974; vgl. auch die Anmerkungen von Walther Rehm in: Winckelmann: Kleine Schriften, S. 342, 377. Winckelmann diskutiert ausdrücklich diese Begriffe in: Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst und Beantwortung des Sendschreibens über die Gedanken, in: Winckelmann: Kleine Schriften, S. 97‒144, hier S. 114.  In Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes notiert sich Winckelmann z. B. eine Bemerkung des Chevalier über die „Einfachheit und Naivität“ („simplicité et naïveté“) der Griechen; vgl. Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 72, Bl. 172v. Die Verbindung des Begriffs der „simplicity“ mit der Antike ist extrem verbreitet in Shafteburys Characteristicks, die Winckelmann umfänglich exzerpiert; vgl. ebd., bes. Bd. 66, Bl. 42r.  Winckelmann: Exzerpte aus Jonathan Richardson: Traité de la peinture et de la sculpture, 3 Bde., Amsterdam 1728, in: Nachlass Winckelmann, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Bd. 70, Bl. 128r; Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke, S. 43.  Winckelmann: Geschichte der Kunst, S. 5.

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Bey den Griechen hat die Kunst, ob gleich viel später, als in den Morgenländern, mit einer Einfalt ihren Anfang genommen, daß sie, aus dem was sie selbst berichten, von keinem andern Volke den ersten Saamen zu ihrer Kunst geholet, sondern die ersten Erfinder scheinen können.³⁷

Anders ausgedrückt, kulturelle Vermischung – Vielfalt – ist in der Winckelmannʼschen Lesart der Kunstgeschichte pejorativ konnotiert als ein Faktor von Dekadenz. Bei der Übertragung von „simplicité“ durch „Einfalt“ in der positiven Konnotation von ‚Ursprünglichkeit‘, ‚Originalität‘ erfährt somit der Begriff eine semantisch weitreichende Verschiebung ins Ethnologische. In diesem Umgang mit dem Übersetzen von exzerpierten Stellen steckt eine Erkenntnis weitreichender Tragweite. Aus seiner Erfahrung als Leser, Exzerpierer und Übersetzer hat Winckelmann gelernt, dass Nachahmung und Erfindung, Kopie und Schöpfung für die schriftstellerische Produktion keine entgegengesetzten Pole sind, sondern im Grunde genommen einander ergänzende Praktiken.

 Ebd.

IV Transkulturelle und intermediale Perspektiven auf Schreibszenen im 19. Jahrhundert

Cornelia Ortlieb

Die neueste Versmode – Stéphane Mallarmés serielles Schreiben und die Künste der Zeitschrift Die Zeitschrift La Dernière Mode ist ein außergewöhnliches Beispiel für ein dezidiert modernes Schreiben, das man mit einem Dreiklang als dissimulierend, diminuierend und disseminierend bezeichnen könnte, somit als verbergendes, verkleinerndes, verbreiterndes oder auch vervielfachendes Schreiben. Denn die 1874 bis 1875 in Paris erschienenen acht Ausgaben der luxuriösen Zeitschrift sind nicht nur, wie man lange Zeit dachte, von Stéphane Mallarmé, dem wichtigsten französischen Versdichter und Prä-Avantgardisten des späten 19. Jahrhunderts, „redigiert“ worden – so hat er selbst in einem autobiografischen Text seine Arbeit bezeichnet.¹ Vielmehr hat Mallarmé nachweislich auch die Texte der Zeitschrift verfasst, jedenfalls so viele, dass er mit Abstand ihr Hauptautor ist, und er hat dafür eine Reihe überaus interessanter Pseudonyme gewählt, sich also selbst nicht nur hinter einem anderen Namen verborgen, sondern zugleich kollektiviert. Wenn dieses Signieren „mit teils recht phantasievollen Namen“ als „Indiz“ dafür gelesen werden kann, dass Mallarmé „den Modejournalismus auch als ein stilistisches Experiment aufgefaszt hat, das ihm erlaubt, diverse Schreibrollen auszuprobieren“,² so ist es überaus vielversprechend, die Verlängerung und Vermehrung dieses diversifizierten und adressierten Schreibens zur Fülle der seriell produzierten Verse zu bestimmten Anlässen, Gelegenheiten und Umständen zu verfolgen.³ Sie sind, wie die Artikel der Zeitschrift, vermeintlich banalen

 [Anonym] [d. i. Stéphane Mallarmé]: La Dernière Mode. Gazette du monde et de la famille, Première Livraison, Dimanche 6 Septembre, Paris 1874 (im Folgenden zit. als LDM mit Angaben zu Ausgabe, Jahr und Seitenzahl). Zur einst unbekannten, dann umstrittenen Autorschaft Mallarmés, der in der Forschung zeitweise auch fälschlich als Herausgeber der Zeitschrift bezeichnet wurde, vgl. den einlässlichen Kommentar von Bettina Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmés kritischen Schriften, in: Stéphane Mallarmé: Werke in 2 Bde. Französisch und Deutsch, Bd. 2: Kritische Schriften, übers. von Gerhard Goebel, hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 315–380, hier S. 320 (im Folgenden zit. als Werke).  Ebd., S. 319.  Das naheliegende Wort Gelegenheit als Übersetzung für circonstance ist in der deutschen Literaturgeschichte vielleicht zu eng mit Goethes sogenannten Gelegenheitsgedichten assoziiert; vgl. aber Klaus W. Hempfer: Zur Differenz von ‚Lyrik‘ und ‚Gelegenheitsdichtung‘. Das Beispiel Mallarmé, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 128 (2018), H. 2–3, S. 187–211, hier S. 189. https://doi.org/10.1515/9783110792447-011

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Geschehnissen und Dingen einer neuen Alltagskultur gewidmet, die im künstlerischen Arrangement poetisch überhöht werden. Alle Gedichte wurden wohl zwischen 1871 und 1898 verfasst, mindestens ab Mallarmés Rückkehr nach Paris und bis zu seinem frühen Tod.⁴ Mallarmés ‚Gelegenheitsverse‘, für die er selbst den sprechenden Titel Vers de circonstance, Verse unter Umständen, gewählt hat, sind eine betont beiläufige Kunst aus dem Handgelenk, die im Zitat älterer Formen und Formate etwa das galante Kompliment zelebriert, Dank ausspricht oder die scherzhaft-ironische Huldigung eines befreundeten Künstlers mit einer mehr oder weniger dezenten Betonung der eigenen Virtuosität verbindet.⁵ Auf gewöhnliche, teils massenhaft produzierte Alltagsgegenstände wie Briefumschläge, handelsübliche Papierfächer oder Visitenkarten geschrieben, verbinden die kalligrafisch anmutenden Versblöcke aus meist vier Zeilen im Rechteckformat grafische und bildkünstlerische Elemente und laden zu einer Wahrnehmung mit allen Sinnen ein.⁶ Namentlich die Fächergedichte, von denen manche als einzige auch Eingang in die Werkausgaben der Gedichte Mallarmés gefunden haben, sind in ihrer poetischen Selbstreflexion zugleich untrennbar mit diesem modischen Accessoire und Artefakt verbunden.⁷ Die erste große Abbildung der Zeitschrift, die eine anmutig posierende junge Frau in einem bodenlangen, vielfach und raffiniert gefalteten Kleid mit Schleppe

 Bertrand Marchal hat zudem zu Recht betont, dass auch andere – oder vielleicht alle – Gedichte Mallarmés solchermaßen ‚unter Umständen‘ geschrieben wurden: „Der Titel Vers de circonstance, der von Mallarmé selbst stammt, [bedeutete] nicht etwa, dass das Zweitrangige auf der Seite des Anlassgebundenen wäre und das Bedeutendere auf der des Absoluten: Die Gedichte der Poésies/Gedichte sind ebenso anlassbezogen.“ Bertrand Marchal: Éventails, ‚Éventails‘, in: Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de Stéphane Mallarmé, hg. von Philippe Rollet, Ausstellungskatalog, Vulaines-sur-Seine, Musée Mallarmé, Montreuil-sous-Bois 2009, S. 26–33, hier S. 30, Übers. C.O.  Zum Weiteren eingehend Cornelia Ortlieb: Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance · Verse unter Umständen, Dresden 2020. Zu diesen Ding-bezogenen Gedichten vgl. auch die materialreiche Dissertation Séverine C. Martin: Out of the Néant into the Everyday. A Rediscovery of Mallarmé’s Poetics, Columbia University 2014, S. 5, https://academiccommons.columbia.edu/doi/10.7916/D8QF8QTH (letzter Zugriff 09.03. 2022).  Bereits der Pariser Katalog zum 100. Todestag hat eindrucksvoll demonstriert, welche Fülle von grafischen Formen zwischen Literatur und Bildender Kunst Mallarmé in seiner Dichtung, in Übersetzungen, Kommentaren, kritischen Essays und Zeichnungen genutzt hat; Stéphane Mallarmé 1842–1898. Un destin d’écriture, hg. von Yves Peyré, Ausstellungskatalog, Paris, Musée d’Orsay, Paris 1998.  Ortlieb: Weiße Pfauen, bes. S. 80–108.

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und zahllosen Rüschen zeigt, weist somit ein überaus sprechendes Detail auf: In ihrer zarten linken Hand hält die Frau, halb geöffnet, einen jener Papierfächer mit schmalen senkrechten Falten, die Mallarmé selbst zu einer Sammlung zusammengestellt und unzählige Male mit galanten Versen zur Übereignung an ihre Besitzerin beschriftet hat.⁸ Dass die erst posthum erschienene Sammlung der Vers de circonstance in der Buchausgabe von 1920 die erstaunliche Zahl von 482 Gedichten umfasst, zeigt bereits eindrucksvoll, dass diese Dichtkunst, wie die Produktion schöner Alltagsgegenstände am Ende des 19. Jahrhunderts, eine serielle ist, deren Mittel auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts vorausweisen, zumal dort, wo Mallarmé seine Verse auf vermeintlich beliebigen ‚gefundenen‘ Dingen arrangiert, wie Calvados-Krügen, gefärbten Ostereiern oder flachen Kieselsteinen, die er am Strand von Honfleur aufgelesen hat. Zeitschrift-Projekt und Verskunst wären somit zusammen zu lesen, wie im Folgenden skizziert werden soll.⁹

1 Vielfalt der Namen, Einheit des Tons. Zur fiktiven Autorschaft von Frauen, Köchen und Parks Das Interesse an Mallarmés Zeitschriftenprojekt gilt gemeinhin zu Recht dieser eigenwilligen Form des Modejournalismus, die allerdings die Gesetze des Marktes, auf den sie zielt, offenbar nicht zu Genüge kennt – nach einigem Anfangserfolg musste das Zeitschriftenprojekt wieder eingestellt werden, offenbar, weil die adressierten Leserinnen andere, pragmatischere Zugänge zur Welt der Mode bevorzugten.¹⁰ Vermutlich waren es bildliche Darstellungen neuer Kleider, die ab 1873 den ersten Anlass für Mallarmés Konzeption der Zeitschrift gegeben haben, die „Modegravuren“, die „ein gewisser Charles Wendelen herausgab“, seit einiger Zeit als „ein Nachbar Mallarmés in Paris“ identifiziert, ein „ehemaliger Offizier,

 Zu Mallarmés Fächersammlung Rollet: Rien qu’un battement aux cieux, S. 50 f.; zu seiner Fächer-Dichtung Marchal: Éventails, ‚Éventails‘, S. 26–33.  Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance, Paris 1920.  „La Dernière Mode ist ein Luxusjournal, das mit einem Preis von 2 frs. pro Heft auf die zahlungskräftigen Kundinnen der Couture zielt, damit aber exakt das künftige Publikum des Modejournalismus in Frankreich verfehlt, das mehr an praktischen Ratschlägen und Nähanweisungen sowie der neuesten Konfektionsware interessiert ist als an der Geschmackshegemonie der Aristokratinnen in Sachen Mode.“ Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven, S. 319, hier auch weiterführende bibliografische Hinweise zur zeitgenössischen Modeschriftstellerei und Mallarmé als Akteur in diesem journalistischen Gebiet (ebd., S. 318).

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der sich nach 1871 eine Existenz als Verleger eleganter Blätter aufzubauen suchte“.¹¹ Erzwingt hier der verlorene Krieg die Suche nach einer einträglichen neuen Tätigkeit, so hatte Mallarmé gleichfalls seit seiner Rückkehr nach Paris im November 1871 viele Anstrengungen unternommen, neben der ungeliebten Tätigkeit als Englischlehrer an einem Gymnasium alte und neue Kontakte zur Pariser Kunstszene zu finden und sein bescheidenes Einkommen aufzubessern. Im Jahr 1874 gelingt es ihm wenigstens, nach vier Umzügen in acht Jahren in der ‚Provinz‘, zusätzlich zur winzigen Wohnung in der Rue de Rome zwei Zimmer in einem Häuschen in Valvins zu mieten, die dem Familienleben mit Ehefrau und zwei Kindern etwas Luft verschaffen.¹² Die Zeitschrift wird ihm, trotz des baldigen Endes nach einem Jahr und acht Ausgaben, vorübergehend einen bescheidenen Wohlstand verschaffen und seiner Frau ermöglichen, regelmäßig am Dienstagnachmittag Gäste einzuladen; abends kommen Mallarmés Literatenfreunde zu Besuch, sodass die Zeit der nachmals berühmten „Mardis“, „Dienstage“ der Dichterversammlung um Mallarmé in diesem vergleichsweise glücklichen Jahr beginnt.¹³ Das luxuriöse Leben, das die Zeitschrift zelebriert, ist entsprechend ein Produkt der Imagination, angeregt von zeitgenössischen Künsten und Gewerben. Auf engem Raum kollaborieren hier unter anderem die Wortführerin „Marguerite de Ponty“, ab dem vierten Heft die englisch-französisch hybridisierte „Miss Satin“ und ein abgekürzter, namenloser „Ix“, stets geschrieben mit großem I und kleinem x.¹⁴ Die erste Ausgabe weist aber darüber hinaus noch erstaunliche weitere Positionen aus: Unter „I, Texte“, findet sich im Inhaltsverzeichnis nach der doppelt genannten Marguerite de Ponty und diesem Ix mit den einschlägigen Titeln La Mode, Die Mode und Chronique de Paris, Pariser Chronik, ein metonymischer Autorname, nämlich, in Versalien, „Le CHEF de BOUCHE chez BRÉBANT“.¹⁵ Brébant ist eine seit 1865 bis heute so betriebene Pariser Brasserie, eine Mischung aus Café und Restaurant, aber zur berühmten französischen Küchenbrigade gehört zwar regelmäßig ein Chef de Cuisine, Küchenchef, und manchmal ein Boucher, Fleischer, aber nicht ein Chef de Bouche, wörtlich: ein ‚Mundchef‘, der hier

 Ebd.  Zu zahlreichen neuen Details dieses Zusammenlebens Gordon Millan: Marie Mallarmé. Le fantôme dans la glace, Paris 2019, S. 85 ff.  Ebd., S. 87.  LDM 1 (1874), Inhalt [unpag., S. 2]. Diese Feminisierung der eigenen Autorschaft hat zu Recht einige Beachtung gefunden; vgl. u. a. Claire Lyu: Stéphane Mallarmé as Miss Satin. The Texture of Fashion and Poetry, in: L’Esprit Créateur 40 (2000), H. 3, S. 61–71.  LDM 1 (1874), Inhalt [unpag., S. 2]; Auszeichnungen folgen hier und im Folgenden grundsätzlich der Vorlage.

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nicht spricht, sondern schreibt. Er zeichnet nämlich als Verfasser von LE CARNET D’OR, DAS GOLDENE HEFT. Dieses enthält zwei Blätter, betitelt erstens als Menu d’un Déjeuner au bord de la mer, „Menü für ein Mittagessen am Ufer des Meeres“, also eine Art Speisekarte, und zweitens Une Corbeille de Jardin au mois d’août, „Ein Gartenkorb im Monat August“, mit einer weiteren Kuriosität, denn dort steht an der Stelle des Autornamens, wieder in Versalien, „PARC MONCEAU“, der Name eines damals und heute für kleine Ausflüge beliebten Pariser Parks.¹⁶ Der etwas paradoxe französische Name der Zeitschrift, La Dernière Mode, wörtlich: „Die Letzte Mode“, im Sinn von ‚Die Neueste Mode‘, umfasst also sehr viel mehr als ein Schreiben über neue Kleidung, wie schon das aufwendig gestaltete Titelblatt der ersten Ausgabe anzeigt.¹⁷ Mit einer Vielzahl typografischer Differenzierungen, die gleichsam Mallarmés Handschrift tragen und nachweislich von ihm so angeordnet sind, wird hier rund um die aufwendig gestalteten auf- und absteigenden Schriftzüge für Titel und Untertitel in der Mitte der großformatigen Seite eine Fülle heterogener Zeichen zur Lektüre angeboten, etwa die Darstellung des geselligen Lebens bei Theaterbesuch, Reitsport und feinem Essen, aber auch einer im Meer schwimmenden Frau und rechts unten das häusliche Nähen und Stoff-Verarbeiten. Das heterogene Ensemble mutet ‚romantisch‘ an, im historischen Sprachgebrauch: „gothic in style and design“.¹⁸ In zusätzlichen kleinen Überschriften, die mit großzügigem Weißraum an den Rändern platziert in Versalien deutlich abgesetzt sind, verspricht die Titel-Reihung, über die Moden mit Blick auf die ‚großen Hersteller‘ zu informieren. Im Goldenen Heft sollen sich dann auch die zugehörigen Handwer Ebd.  Entsprechend lässt sich die Zeitschrift wiederum als Teil eines umfangreichen und vielgestaltigen ‚anderen Werks‘ Mallarmés begreifen: Mit der Veröffentlichung seiner Korrespondenz ist, so Bettina Rommel in ihrer Erläuterung der Kritischen Schriften Mallarmés, der historische „Entstehungskontext“ seiner essayistischen Texte sichtbar geworden und „das lang gehegte ondit vom Kommunikationsverweigerer in Frage gestellt: Seitdem gilt, daß die gesteigerte, hochelaborierte Schriftlichkeit der Poésies, auf die der Mythos sich ausschließlich beruft, ein Komplement im gelockerten, nicht-linearen Sprechakt der causerie besitzt.“ In Mallarmés Essays und Kritiken, etwa zu Fragen zeitgenössischer Ästhetik und zu Ereignissen des Pariser Kulturlebens, finde sich ein Schreiben, das „überaus aktualitätsbezogen“ sei; Rommel: Mallarmés Kritik. Eine Einführung, in: Werke, Bd. 2, S. 9–15, hier S. 10.  Zu diesem Eindruck tragen die Schmuckelemente der Schrift entscheidend bei; der zitierte Halbsatz lautet entsprechend vollständig: „Working with the illustrator Edmond Morin, the aesthetic of the magazine reflected the mode of the time, largely illustrative and gothic in style and design.“ Anja Aronowsky Cronberg u. a.: Myth-Making in the Fashion Magazine. Stéphane Mallarmés La Dernière Mode, in: Vestoj. The Platform for Critical Thinking on Fashion, http://vestoj. com/stephane-mallarmes-la-derniere-mode-and-myth-making-in-the-fashion-magazine/ (letzter Zugriff: 09.03. 2022).

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Abb. 1: Titelblatt La Dernière Mode, Nr. 1, Paris 1874.

ker, die „Tapeten- oder Teppichdekorateure“, die „Küchenmeister, Gärtner“ und schließlich die „Liebhaber des Sports und des dekorativen Kleinkrams“ (der „Bibelots“) präsentieren.¹⁹ Links von dieser Sparten-Ankündigung, auf derselben Höhe und in denselben Buchstabenformaten, wird neben der schon erwähnten Chronik die Rubrik NOUVELLES ET VERS, KURZGESCHICHTEN UND VERSE angekündigt, „von den führenden Erzählern und Dichtern der Gegenwart“, wie der Untertitel angibt.²⁰ Auf dem inneren Deckblatt – an der Stelle des Schmutztitels im Buchdruck – sind dann statt dieses metonymischen Superlativs Namen zu finden, die in den folgenden Ausgaben immer wiederkehren werden, gesetzt in gebrochenen Zeilen, die aus der prominenten Liste quasi ein unförmiges Gedicht machen:

 LDM 1 (1874), Titelblatt, Übers. C.O.  Ebd., Übers. C.O.

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NOUVELLES & VERS DE THÉODORE DE BANVILLE, LÉON CLADEL FRANCOIS COPPÉE ALPHONSE DAUDET, LÉON DIERX, ERNEST D’HERVILLY STÉPHANE MALLARMÉ, CATULLE MENDÈS SULLY PRUDHOMME AUGUSTE VILLIERS DE L’ISLE ADAM, ÉMILE ZOLA, ETC.²¹

Über diese Reihung prominenter Zeitgenossen aus dem engeren Umkreis Mallarmés wäre sicher einiges zu sagen, zumal sie an eher unauffälliger Stelle den Zeitschriftenmacher selbst enthält, der sich hier unversehens als Autor von Versoder Prosa-Dichtungen präsentiert. Mit Blick auf den programmatischen ersten Artikel der ersten Ausgabe der Zeitschrift lässt sich im Folgenden etwas näher beleuchten, wie das Schreiben unter weiblichem Pseudonym einen Raum eröffnet, aus dem bald in alle möglichen Richtungen andere Texte diffundieren werden, die ‒ seriell verfasst ‒ nicht nur die aufgeführten Autoren und männlichen Leser adressieren, sondern auch eine neue Gruppe von Leserinnen, die hier schon antizipiert ist. Denn am Rand des vielgestaltigen Titelblatts sind in einigen Vignetten Frauen bei unterschiedlichen, jeweils in diesem Kontext implikationsreichen Beschäftigungen zu sehen: Eröffnet wird die Reihe häuslicher Szenen beim Betrachten in der üblichen Leserichtung von links nach rechts durch eine bequem sitzende Frau in zeitgenössischer modischer Kleidung, die ein großes Zeitungsblatt studiert, neben ihr ein bäuchlings auf dem Boden liegendes und auf ein großes Blatt schauendes kleines Mädchen. Die etwas abgesetzte nächste Szene zeigt zwei Mädchen oder junge Frauen, die das vor ihnen liegende aufgeschlagene Heft oder Buch liegen lassen und gemeinsam ein großformatiges Blatt studieren, rechts eine Frau am Nähmaschinentisch, auf die noch zurückzukommen sein wird.²² Unter dem schlichten Titel Bijoux, Schmuck, formuliert Marguerite de Ponty im ersten Artikel der ersten Ausgabe der Zeitschrift mit einer solchermaßen weiten impliziten Adressierung zunächst ein Paradox, das für die Mode wie für das Zeitschriften-Schreiben gleichermaßen typisch ist: „Trop tard pour parler des modes d’été et trop tôt pour parler de celles d’hiver“, „Zu spät, um von den Sommermoden – und zu früh, um von den Winter- (oder selbst Herbst‐)Moden zu reden.“²³ Die Mode hat bekanntlich ihre Saison, denn sie wird im Takt der Pro LDM 1 (1874), Deckblatt [unpag., S. 3].  Ebd.  Marguerite de Ponty [d. i. Stéphane Mallarme]: Bijoux/Schmuck, in: Werke, Bd. 2, S. 30–39, hier S. 30 f. Da hier Text und Übersetzung parallel angeboten werden, zitiere ich den Artikel im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe.

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duktion immer neuer Kollektionen vermarktet, wobei dasselbe Wort im Französischen die Jahreszeiten bezeichnet; wie die neue Mode muss aber auch das Schreiben und Publizieren, hier zweimal im ‚Sprechen‘ metonymisch benannt, weitergehen. Wenn man noch nicht mit der Neu-Einkleidung beginnen kann, muss das schriftliche Gespräch sich, buchstäblich, anderen Gegenständen widmen: „[N]ous voulons entretenir nos lectrices d’objets utiles à l’achever“, „[Wir wollen] unsere Leserinnen mit Dingen unterhalten, die zu deren Vollendung nützlich sind: Schmuck“.²⁴ Das Echo einer der ältesten Formeln der antiken Poetik, das Prodesse et delectare des Horaz, ist hier unüberhörbar: Unterhalten und nützen soll bei ihm bekanntlich (noch) die Dichtung.

2 Reflexionen über Blumen und Schmuck, Bildsprachen des Globalen vor Ort in Bijoux Wie sich zeigen wird, ist vom Schmuck hier in einer geradezu, wörtlich, globalen Sicht die Rede, denn ‚überall auf der Welt‘ und besonders in Paris, so Marguérite de Ponty, ist er zu finden, genauer und profaner: „Paris fournit le monde de bijoux“, „Paris beliefert die Welt mit Schmuck“.²⁵ In der Wiederaufnahme eines romantischen Topos, der etwa bei den Brüdern Schlegel Teil der Vision einer weltoder vielmehr erdumspannenden Poesie ist, die zugleich Religion und Philosophie sei, fragt und behauptet Marguerite de Ponty mit dem typischen Mittel der rhetorischen Frage, überall sei doch dasselbe günstige Klima für das Wachstum von Blumen wie für die Herstellung von Schmuck vorhanden: „Fleurs et joyaux: chaque espèce n’a-t-elle pas comme qui dirait son sol?“, „Blumen und Schmuck: hat nicht jede Art sozusagen ihren Nährboden?“²⁶ Ähnlich bewegt sich der ganze Text in einer Spannung, die schon in der Zusammenfügung von Blumen und Schmuck angelegt ist, zwischen einem Ideal der Einfachheit, Schlichtheit und Natürlichkeit und der Erkenntnis eines Verlusts. Denn zu finden sind diese gleichsam klassischen Dinge, wie es heißt, in der heutigen Zivilisation nicht mehr und müssen daher womöglich reimportiert werden, aus zeitlich wie räumlich entfernten Gegenden, darunter explizit genannt „les bracelets de verre filé de l’Inde et les pendants d’oreilles en papier decoupé de la Chine“, „Glasdraht-Armreifen aus Indien und Scherenschnitt-Ohrgehänge

 Ebd.  Ebd.  Ebd.

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aus China“ oder aber „l’art de l’orfèvre […] dans l’antiquité classique et barbare“, die „Goldschmiedekunst […] der klassischen und barbarischen Antike“.²⁷ Diese filigranen Meisterstücke des internationalen Schmuckgewerbes haben offensichtlich auch Qualitäten, die Mallarmés Versdichtung andernorts immer wieder beschwört und evoziert: Im pointierten Schwarz-Weiß seiner beiden Sonette – Salut, Gruß / Toast und À la nue accablante tu, Verheimlicht träger Wolkenlast – zu Auftakt und Ende der Poésies und des berühmten Partitur-Gedichts Un coup de dés, Ein Würfelwurf reflektiert Mallarmé nicht nur die Materialität und Medialität moderner Verskunst im Schreiben mit Tinte und im Druck, schwarz auf weiß, sondern die Notwendigkeit einer solchen Kunst, die gleichermaßen existenziell, allumfassend und nahe am Nichts ist.²⁸ Die durchsichtig-weißen Glasfäden oder zarten Figuren, die als Schmuck und Dekor in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr beliebt waren, und die filigranen winzigen Scherenschnitte aus schwarzem oder weißem Papier sind somit im Kontext von Mallarmés Poesie und Poetologie überaus sprechende Dinge, wie auch der zarte Goldschmuck nach antiken Vorbildern, der bereits auf andere Erscheinungsformen des Goldenen, zumal in den Fächergedichten, vorausweist. Diese Zusammenstellung lässt sich auch als Programm eines Eklektizismus lesen, der, wiederum postromantisch gedacht, auf die Kunstformen früherer Epochen zurückgreifen muss, weil die eigene Zeit zu schwach für die Produktion von Neuem sei; auch ein beliebtes Dekadenz- und Fin-de-siècle-Motiv.²⁹ Und bedenkenswert ist sicher der allgemeinere Befund, dass Mallarmé hier „im leichten Plauderton einige grundsätzliche Probleme der dekorativen Kultur in der modernen industrialisierten Gesellschaft“ anspricht, deren „wichtigstes Gestaltungsmittel“ die „Stilmischung“ ist: „Sie bedient sich der vergangenen Kulturen als eines Fundus, der das zeitgenössische Kunsthandwerk sowie die Architektur beliefert. Die aus ihrem historischen Kontext gelösten Vorlagen sind von ihrem modernen Zitat kaum mehr zu unterscheiden.“³⁰ Dabei sollte aber nicht überlesen werden, wie konkret hier die Bedingungen des zeitgenössischen, kapitalistisch organisierten Marktes mit Paris als Zentrum des globalen Handels mit Konsum-

 Ebd., S. 32‒34.  Zu dieser Dichtung in Schwarz-Weiß vgl. ausführlich Ortlieb: Weiße Pfauen, S. 34–59.  Bettina Rommel spricht von einem „Synkretismus der Stile“, der für Mallarmé „geradezu Kennzeichen der industriellen Großstadtzivilisation, der Moderne“ sei. Der „Erfahrungsort“ jener Moderne ist wiederum aus hier einschlägigen Gründen Paris als „Vorreiter in der serienmäßigen Fertigung von Kleidung“ und massenhafter Produktion von „Konfektionsware, die fortan in den Grands Magasins der großen Pariser Boulevards angeboten wird“; Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven, S. 324.  Ebd.

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gütern in den Blick genommen sind, spätestens dort, wo es heißt, man möge doch die großen Juweliere einmal daraufhin befragen, woher eigentlich ihre „admirable science toute critique“, „wunderbare, durchaus kritische Wissenschaft“ komme, etwa aus „[n]otre Musée Campana (on s’en souvient)“, „unserem Campana-Museum (man erinnert sich)“.³¹ Denn Gianpietro Campana war ein berüchtigter römischer Sammler, der mit unterschlagenen Geldern unter anderem riesige Bestände antiker Gegenstände angehäuft hatte, die nach seiner Verhaftung 1857 beschlagnahmt und teilweise von Napoleon III. aufgekauft und in den Louvre integriert wurden; man kann sich also hier gleichermaßen an einen modernen Skandal wie an eine einzigartige Auswahl griechischer und etruskischer Kunstwerke erinnern.³² Modern ist der Skandal auch im Hinblick auf den Anbruch einer neuen Zeit der Literaturgeschichte: 1857 erscheint mit Charles Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du mal, Die Blumen des Bösen, ein Gründungstext der europäischen Moderne.³³ In der Verlängerung des Satzes heißt es hier zudem, andernfalls betrieben diese Juweliere ihre „kritische Wissenschaft“, also etwa die Durchmusterung und Übernahme vorgefundener Überlieferungen, an den „vitrines de l’Hôtel de Cluny“, „Schaukästen des Hôtel de Cluny“, also dem großen Pariser Museum für mittelalterliche Kunst, oder am „comptoir parisien des marchands japonais, voire algériens“, dem „Pariser Kontor der japanischen, ja der algerischen Händler.“³⁴ Dieses global-lokale Gemenge von Künsten und Kommerz, Altertum und Adaptation lässt sich in einer griffigen Formel zusammenfassen: Ainsi le seul Paris se plaît à résumer l’univers, musée lui-même autant que bazar: rien qu’il n’accepte, étrange; rien qu’il ne vende, exquis. [So gefällt sich schon Paris allein darin, das Universum in sich zu fassen, selber ein Museum so gut wie ein Basar: nichts, was es nicht annimmt an Fremdem; nichts, was es nicht verkauft, an Erlesenem!]³⁵

 De Ponty [d. i. Mallarmé]: Bijoux/Schmuck, S. 32 f.  Der Skandal betrifft auch das Agieren der französischen Regierung: Napoleon III. hatte sich persönlich für eine mildere Strafe für Campana eingesetzt, Teile der Sammlung wurden für große Summen angekauft, griechische und etruskische Keramiken in den Louvre aufgenommen; zum Kontext Susanna Sarti: Giovanni Pietro Campana, 1808–1880. The Man and his Collection, Oxford 2001.  Wolfgang Matz hat daher zu Recht dafür plädiert, dieses Jahr in mehrfacher Hinsicht als epochal anzusehen; Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt a. M. 2007.  Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven, S. 324.  De Ponty [d. i. Mallarmé]: Bijoux/Schmuck, S. 32 f; das Ausrufezeichen ist eine Hinzufügung der Übers. C.O.

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Der im Deutschen verstärkte Ausruf enthält einen selbstreflexiven Loop, denn eben diese Zeilen sind ja Teil einer aufwendig gestalteten, vergleichsweise teuren neuen Modezeitschrift, die ihrerseits in serieller Folge eine solche Sammlung heterogener Dinge aus aller Welt präsentiert und zugleich als käufliches Produkt eines bestimmten Marktes anbietet, ähnlich wie die Waren im Warenhaus, aber auch wie die sehenswerten ‚Auslagen‘ in einem Museum.³⁶

3 Vers-Farben, seriell verteilt. Mallarmés Vers de circonstance Ich möchte aber nun zeigen, wie die vorgeblich leicht dahingesagten Bemerkungen über schöne Dinge direkt in Mallarmés Vers-Schreiben führen. Dazu dient eine letzte Fokussierung auf die Schmuckgegenstände, die Marguerite de Ponty hervorhebt und gleichsam vor dem betrachtenden Auge vergrößert, etwa goldene Ohrstecker, eine Halskette aus Türkisen, mit goldener Schließe, oder auch aus Türkisen mit Perlen und vieles mehr, das explizit in ein sogenanntes Brautkörbchen gelegt werden kann, darunter wieder Ohrgehänge aus Gold und eine Schmuckgarnitur aus dem gerade sehr beliebten Lapislazuli, aber auch „des cabochons grenats en formes de poires ou de pommes dont la queue est garnie de diamants“, „rundgeschliffene Granaten in Birnen- und Äpfelform, am Stiel mit Diamanten garniert“.³⁷ Der Text evoziert solchermaßen ein Schauspiel aus metallischen Formen, den Farben von Edelsteinen und Glanz, das direkt in die gleichfalls serielle Versproduktion Mallarmés führt, die sich über Jahrzehnte entsprechend als geselliges Ritual und neue Schreib-Mode realisiert und explizit schöne Dinge und/als Gaben umkreist. Darauf verweist schon unmissverständlich ein Absatz über den Fächer als unverzichtbares Accessoire der Dame, zugleich als Ort der Kunst, denn was die neuen Fächer bieten, sind, wie Marguerite de Ponty schreibt, Bilder, Gemälde, etwa aus der Schule von Boucher oder Watteau, mithin aus der Rokoko-Kultur des

 Entsprechend wird Mallarmé 1892 einen Text mit dem Titel Étalages (dt. Auslagen) zur Reflexion der Krise des zeitgenössischen Buchmarkts veröffentlichen, demzufolge das neue Publikum der journalistischen Massenmedien die Fantasieanregungen, für die früher bestimmte Gattungen der Literatur zuständig waren, nun aus den Journalen bekommt; vgl. Stéphane Mallarmé: Étalages/Auslagen, in: Werke, Bd. 2, S. 242–253.  De Ponty [d. i. Mallarmé]: Bijoux/Schmuck, S. 34 f.

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heiteren erotischen Spiels, die im Kreis um Mallarmé in verschiedenen künstlerischen und geselligen Formen leichthin wieder aufgenommen wird.³⁸ Denkbar superlativisch heißt es aber schon im Satz zuvor: Toutefois, rien ne vaudra jamais un éventail, riche tant qu’un voudra par sa monture, ou même très-simple, mais présentant, avant tout, une valeur idéale. [Jedoch kommt nichts je einem Fächer gleich, so kostbar wie man will, was das Gestell angeht, oder auch ganz einfach, aber zuvörderst einen idealen Wert darstellend.]³⁹

Die Farbeffekte des genannten Brautschmucks lassen sich dann unschwer in Mallarmés Fächergedichten wiederfinden, die ihrerseits auf die kostbar anmutenden, aber massenhaft industriell produzierten Papierfächer geschrieben sind, die es Ende des 19. Jahrhunderts in Paris zu kaufen gab, bei Bedarf auch noch weiß, zur eigenen Gestaltung. So zeigt etwa ein Fächer mit einem Gedicht für Misia Natanson ein japanisches Dekor und könnte entsprechend direkt beim zitierten ‚japanischen Händler‘ erworben worden sein.⁴⁰ Ein besonders aufwendig gestalteter und beschrifteter Fächer für Mallarmés Tochter Geneviève wiederholt das bereits beim Schmuck benannte Farbenspiel von Gold, Weiß und Rot, wie es die Nennung von Goldschmuck, Perlen und Granaten aufgerufen hatte, mit einem Gedicht, das selbst in der Schlusspointe wieder auf den womöglich goldenen Schmuck am Handgelenk der Dame, die den Fächer hält, zurückverweist, denn das letzte Wort auf dem Fächer rechts unten ist „Bracelet“, „Armband/-reif“. Als Geburtstagsgeschenk für die heranwachsende junge Frau ist der Fächer mit einem Gedicht beschriftet, das unmissverständlich über eine weibliche Initiation zur Liebe und Erotik spricht, womit das kostbare Artefakt insgesamt gleichermaßen zärtlich und zudringlich agiert.⁴¹ Auch die königliche Farbkombination von Dunkelblau – Lapislazuli – und Gold, heute bekannt aus der altägyptischen Schmuckkunst, etwa aus der 1922 entdeckten berühmten Maske des Königs Tutanchamun, ist Teil von Mallarmés

 Der Satz enthält allerdings auch eine, buchstäblich, moderne Wendung: „Den Wert eines Gemäldes: eines alten aus der Schule von Boucher, Watteau oder gar von diesen MEISTERN; oder wenn modern, von unserem Mitarbeiter Edmond Morin“ (ebd., S. 36 f.).  Ebd.  Fächer von Misia Natanson mit eigenhändig geschriebenem Gedicht Mallarmés, japanisch dekoriertes Papier mit Inschrift in roter Tinte, 30 × 56 cm, in Rollet: Rien qu’un battement aux cieux, S. 54 f.; ähnliche Beispiele ebd.  Fächer von Geneviève Mallarmé aus weißem Papier, montiert auf Perlmutt, mit Gedicht von Stéphane Mallarmé in roter Tinte, Durchmesser 29,5 cm, in ebd., S. 62, Nr. 30; zur Geschichte dieser Gabe mit weiterführenden Hinweisen ebd., S. 5, sowie Ortlieb: Weiße Pfauen, S. 84 f.

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Dichtung, beispielsweise in seinem Versdrama-Fragment Hérodiade, Herodias, das kongenial, eben auch farbgetreu übersetzt wurde von Stefan George mit einer Buchgestaltung von Melchior Lechter.⁴² Türkis und Gold sind schließlich die – wiederum japanischen oder ‚japanischen‘ – Farben der Schönheit, wie sie Mallarmé in den Versgedichten für Méry Laurent, eine Schauspielerin und berühmte Pariser Salondame, die er in zahllosen Gedichten und Briefen umwirbt, entwirft.⁴³ Mallarmés Malerfreund Édouard Manet hat sie insgesamt dreizehn Mal porträtiert, das vielleicht bekannteste Gemälde ist klassisch in Ölmalerei auf Leinwand ausgeführt mit einer dezidiert japanischen Bildsprache: Vor einem blass türkisblauen Hintergrund mit Blumenmuster, der an typische Paravents mit ostasiatischem Dekor oder ähnlich gestaltete Stofftapeten erinnert, ist ihr Gesicht im Halbprofil von rechts zu sehen, also typisch japanisch, mit einer gleichfalls japanisch anmutenden Reduktion auf seine Grundfarben und -formen. Ins Auge fällt neben dem rotblonden Haar, dessen Fülle und Glanz Mallarmé vielfach beschrieben hat, die ovale weiße Fläche des Gesichts, das reglos, ohne erkennbaren Ausdruck, durch die kalkuliert gesetzten Farbeffekte der geschminkten roten Lippen und der wiederum türkisblauen Augen durchbrochen ist.⁴⁴ In ähnlicher Pose und dezidiert japanisch gewandet, ist Méry Laurent zudem auf einer Fotografie zu sehen, die gleich noch zu berücksichtigen sein wird.Womöglich zu einer ähnlichen Serie von Fotografien, die größtenteils nicht erhalten oder heute unbekannt sind, hat Mallarmé wiederum seine typischen vierzeiligen Versgedichte verfasst, von denen sieben unter dem Gattungstitel Photographies in der bereits zitierten Buchausgabe der Vers de circonstance 1920, also zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht worden sind.⁴⁵ Sie nehmen das Motiv der schönen weißen Japanerin auf und variieren es, interessanterweise mit einer an Manets Bild erinnernden Umkreisung der Farbe Türkis, die bereits in einem Gedicht auf einem Fächer für Laurent zu finden war, von dem leider keine Abbildung bekannt ist. Es beginnt mit einer Apostrophe, die im ersten erhaltenen PhotographiesGedicht wiederholt werden wird: „O Japonaise narquoise / Cache parmi ce lever / De lune or ou bleu turquoise / Ton rire qui sait rêver“, im Wechsel von achtsilbigen

 [Stefan George]: Herodias. ML 1905 an Stefan George, in: Stefan George, Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen, hg. von Enrico De Angelis, Göttingen 2013, S. 99–109.  Ortlieb: Weiße Pfauen, bes. S. 196–206. Zur Lebensgeschichte dieser „Ikone des Fin de siècle“ Joy Newton: Méry Laurent, icône fin de siècle, in: Méry Laurent, Manet, Mallarmé et les autres, hg. von Françoise Bayle, Ausstellungskatalog, Nancy, Musée des Beaux-Arts,Versailles 2005, S. 9–32.  Vgl. ausführlich, mit ähnlichen Formulierungen Ortlieb: Weiße Pfauen, S. 200. Zu Manets Porträtkunst Barbara Wittmann: Gesichter geben. Édouard Manet und die Poetik des Portraits, München 2004.  Mallarmé: Vers de circonstance, S. 55–59.

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und siebensilbigen Versen finden sich hier auch abwechselnd weibliche und männliche Versenden.⁴⁶ Eine Übersetzung, die neben der charakteristischen Versreihung zum vierzeiligen Block auch die Anzahl der Silben und den Kreuzreim annähernd beibehält, kann lauten: „Oh du Japanerin neckisch / Versteck zwischen diesem Aufgeh’n / Des Monds, Gold oder Blau-Türkis / Dein Lachen, das Träumen versteht.“ Der verkürzte letzte Vers müsste eigentlich um ein „zu“ ergänzt werden: Die angesprochene Dame „weiß [zu] träumen“, wie es wörtlich im Französischen heißt.⁴⁷ Das zweite Gedicht nimmt die Bildsprache des Fächergedichts wieder auf: Es betont auch die weiße Blässe der ‚Japanerin‘ Méry Laurent, die nun explizit in ein türkisfarbenes Kleid gehüllt ist, mit einer Schlusspointe, die ein Reim-Echo zum zitierten Fächergedicht bietet: „Blanche japonaise narquoise / Je me taille dès mon lever / Pour robe un morceau bleu turquoise / Du ciel à quoi je fais rêver.“⁴⁸ Auch hier kann eine Übersetzung mit Beibehaltung von Versform, Silbenzahl und Kreuzreimen nur annähernd die Vieldeutigkeit und den Anspielungsreichtum des quatrain erfassen: „Weiße Japanerin, neckisch / Ich schneide fürs Aufsteh’n mir das / Als Kleid zu: ein Stück Blau-Türkis / Himmel, an den ich träumen lass.“⁴⁹ Der Parallelismus der letzten beiden Verse kann darüber hinwegtäuschen, dass zwischen beiden Gedichten ein folgenreicher Wechsel der Perspektive stattgefunden hat: „je fais rêver“ benennt eine mindestens geringfügige Einwirkung auf etwas oder jemanden, im Gegensatz zur bloßen Veranlassung des „sait rêver“ in der ersten schwärmerischen Anrede der verführerischen ‚Japanerin‘. Zudem wechselt die sprechende Stimme innerhalb des Gedichts offensichtlich vom Betrachter zur Handelnden, die sich in den letzten beiden Versen überraschend als nicht nur modisch gewandete, sondern selbst Hand anlegende Schneiderin präsentiert. Im Zuschneiden des türkisblauen Stoffes, der grammatisch erst nach dem Enjambement als Teil des Himmels selbst erkennbar wird, realisiert sich somit eben die weibliche Handlungsmacht, die Mallarmés Zeitschrift als eigenhändige Verschönerung aller Lebensbereiche impliziert und antizipiert. Wie in dem richtungsweisenden Artikel von Marguerite de Ponty ist hier zudem offensichtlich eine bestimmte Japan-Mode angesprochen, die unschwer in der bereits erwähnten, nichtdatierten und anonymen Fotografie Méry Laurents wiederzuerkennen und in deren Beschriftung auch explizit genannt ist: „Méry

 Stéphane Mallarmé: O Japonaise narquoise, in: ebd., S. 44, Nr. XIII.  Diese Passage ist wörtlich übernommen aus Ortlieb: Weiße Pfauen, S. 202.  Mallarmé: Blanche japonaise narquoise, in: Vers de circonstance, S. 57, Nr. II.  Auch diese Passage ist wörtlich übernommen aus Ortlieb: Weiße Pfauen, S. 203. Die deutsche Fassung wurde im Rahmen eines kollaborativen Übersetzungsprojekts von Cornelia Ortlieb, Christin Krüger und Vera Vogel erstellt; beiden sei für ihre vielen wertvollen Hinweise gedankt.

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Abb. 2: Unbekannter Fotograf: Porträt Méry Laurent, Paris, undatiert.

Laurent en kimono et tenant un éventail“, also „Méry Laurent im Kimono, einen Fächer haltend“.⁵⁰ Die heute mindestens im Deutschen veralteten Vokabeln der Photographie-Gedichte zu einer weiblichen Zeichensprache des ‚Kokettierens‘, das im 19. Jahrhundert häufig, wie bei Mallarmé, als ‚schelmisch‘ oder ‚neckisch‘, gleichsam kindlich-naiv gefasst wird, weisen bereits überdeutlich auf die erotischen Implikationen der Wahl bestimmter Farben, Stoffe und Schnitte hin. Und so geben auch die Evokationen des türkisblauen Gewandes, das auf der Fotografie Laurents womöglich eine real-historische Entsprechung hat, mit der Nennung des Himmels, der Zeitangabe „seit morgens“ und des eigentlich unauffälligen „nur“ unmissverständliche erotische Hinweise, die im japanischen Namen kimono für

 [Anonym]: Méry Laurent en kimono et tenant un éventail, Benque et Cie, in: Bayle: Méry Laurent, Manet, Mallarmé, S. 51, Nr. 23, Übers. C.O.

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das vorne geöffnete mantelartige Kleidungsstück ohnehin aufgerufen sein können, wenn der (europäische) ‚Morgenmantel‘ als private oder intime Form der Verhüllung von Nacktheit nach dem Aufstehen oder Bad verstanden wird. In zahllosen Versgedichten für seine Freunde, eine gesellige Runde, und für viele der Damen, die auch sein Modejournal adressiert, hat Mallarmé über Jahrzehnte solche galanten und teils anzüglichen Komplimente häufig zur Übersendung von kleinen Gaben in einer Serie solcher Vierzeiler formuliert: auf kleinen Karten als Billett, aber auch, wie eingangs erwähnt, auf Briefumschlägen, Fächern, bemalten Ostereiern und sogar auf Calvados-Krügen und flachen Kieselsteinen. Nach seinem plötzlichen Tod 1898 mit nur 56 Jahren hat es über zwanzig Jahre gedauert, bis seine Tochter diese weit verstreuten Verse zur Buchausgabe der Vers de circonstance versammeln konnte, die mit nahezu 500 Gedichten viel mehr enthält als die veröffentlichten Gedichtsammlungen Mallarmés. Sie nehmen vielfach auf und variieren, was das vielhändige Schreiben für die Zeitschrift erprobt hatte, die Feier kostbarer Dinge, die Herstellung von etwas Schönem mit leichter Hand, in der kaschierten Autorschaft des vorgeblich kollektiven Schreibens, in der Hinwendung zum vermeintlich Kleinen und in dessen weiträumiger Streuung, zugleich, avantgardistisch, in der Ausrichtung auf bestimmte Praktiken des täglichen Lebens. Entsprechend ist es überaus sinnfällig, dass die Zeitschrift La Dernière Mode von Anfang an nicht nur ein Extrablatt enthielt, mit einer Lithografie, auf der ein besonderes Kleidungsstück in Farbe, also gedruckt und nachkoloriert, zu sehen war, sondern auch einen Schnittmusterbogen, wie ihn vermutlich die Leserinnen auf dem ersten inneren Titelblatt in der Hand halten. Die Frau, die in der rechten oberen Titelvignette an einer der neuen Nähmaschinen sitzt, die sich trotz der reduzierten Darstellung unschwer als typisches zeitgenössisches Modell mit eckigem Aufsatz, isolierter Spule und Schwungrad für die rechte Hand identifizieren lässt, führt dann bereits aus, was ihre Nachbarinnen zur Linken im Studium der Blätter offenbar noch bedenken und besprechen: Sie bearbeitet mit eigener Hand und zugleich mit den neuen Mitteln des industriellen Zeitalters einen Stoff, der sich solchermaßen in ein aufwendig gestaltetes Artefakt verwandelt, an einer Maschine, die erstmals auf der Pariser Weltausstellung von 1855 vorgestellt worden war. Wie der Dichter Stéphane Mallarmé die massenhaft produzierten und entsprechend vergleichsweise preisgünstigen Papierfächer mit japanischem Dekor mit eigener Hand in Vers-Kostbarkeiten verwandelt, so haben auch diese weibliche Textilkünstlerin und ihr fiktionalisiertes Double im Fotografie-Gedicht an einer neuen, modernen Ästhetik Teil, in der die Grenzen zwischen Kunst und Gewerbe, Kostbarkeit und Massenprodukt längst verwischt sind. Der Bogen lag zudem einer zweiten Abteilung bei, die wiederum mit dem aus der Kleidermode bekannten Wort Accessoires betitelt war, das man auch mit dem

Die neueste Versmode

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Abb. 3: La Dernière Mode, Paris, 1847, innerer Titel mit Illustrationen.

entsprechend implikationsreichen deutschen Wort ‚Beiwerk‘ übersetzen kann. Mallarmés Œuvre wäre, wie die Überlegungen dieses Beitrags angedeutet haben, entsprechend um solche vermeintlichen Beigaben zu ergänzen, als die auch die Vers de circonstance auftreten, die typischerweise andere Gaben – etwa die an Neujahr oft versandten glasierten Früchte, Taschentücher oder Briefe im Inneren eines Gedichtumschlags – begleiten. Bloß Äußerliches und das Innere wahrer Poesie sind hier, wie Derrida es für das Verhältnis von Werk und Beiwerk generell konstatiert hat, nicht zu trennen, und die kollektivierte Arbeit an einem – weiblich konnotierten – Schönen findet gleichermaßen in der marktgängigen Zeitschrift La Dernière Mode wie in den ostentativ beiläufig verfassten, stets namentlich adressierten Versen unter Umständen statt.⁵¹ Deren gemeinsames Umkreisen der

 Derrida schreibt in seiner Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft unter anderem „Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen

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je eigentümlichen Materialität von schönen Dingen in ihrer spezifischen realen oder fiktiven Umgebung zeigt sich sinnfällig bereits vor jeder Lektüre in der Gestaltung der Zeitschrifteneinkleidung, die solchermaßen mehr als Beiwerk oder Accessoire ist: Das gesamte Heft war farbig eingebunden, im Türkis der neuen Vers-Mode, die bei Mallarmé, wie wir gesehen haben, nur vermeintlich verborgen und verkleinert, aber vor allem mit leichter Schreibhand weit gestreut ist.

her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen; wie eine Nebensache, die man verpflichtet ist, am Rande, an Bord aufzunehmen“; Jacques Derrida: Parergon, in: ders.: Die Wahrheit in der Malerei,Wien 1992, S. 31–176, hier S. 74. Hier, wie andernorts, beinhaltet diese Reflexion offensichtlich zugleich eine Arbeit an der (eigenen) Sprache; Derrida spricht auch mit einem unübersetzbaren Wortspiel vom „Parergon, diese[m] Supplement außerhalb des Werkes (ce supplement hors d’œuvre)“, wobei in der französischen Speisenfolge als Hors d’œuvre die Vorspeise bezeichnet ist, die entsprechend immer zuallererst serviert wird. Zu Parergon und Paratext vgl. auch Kristin Knebel und Cornelia Ortlieb: Sammlung und Beiwerk, Parerga und Paratexte. Zur Einführung, in: Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk, hg. von Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb und Gudrun Püschel, Dresden 2018, S. 7–27, hier bes. S. 15 f.

Rita Rieger

Paul Valéry: Ego scriptor – Schreiben im Spannungsfeld von Schreibvergnügen und ennui In den Cahiers (Heften) dokumentiert der französische Schriftsteller Paul Valéry (1871–1945) auf mehr als 30.000 Seiten, lose oder gebunden in mehr als 260 Heften unterschiedlicher Formate, zwischen 1894 und 1945 eine morgendliche ritualisierte Schreibpraxis, die Überlegungen zu Literatur und den Künsten, zu Physik und Mathematik, zur Philosophie und Psychologie sowie der Politik enthalten. Seine Gedanken werden mithilfe der Schrift, anhand von Berechnungen und Formeln, Aquarellen und Diagrammen, zu Papier gebracht und weisen bisweilen das Format von kleinen Prosagedichten, den petits poèmes abstraits, auf.¹ Diese häufig von Valéry als „exercice“ (Übung), „esquisses“ (Skizzen), „études“ (Studien) oder „ébauches“ (Entwürfe) bezeichnete Schreibpraxis der Cahiers ist hierbei der formulierte Grund und Zweck des Schreibens.² In einem unbetitelten Cahier aus dem Jahr 1939 vergleicht Paul Valéry Kunst mit einer Übung, deren Zweck in einer transformativen Wirkung auf das Ich liege. Die mit dem Wort „Ego“ rubrizierte Eintragung: „Que me fait un art dont l’exercice ne me transforme pas?“, „Ego. Was bedeutet mir eine Kunst, deren Ausübung mich nicht verwandelt?“,³ verweist in Form einer rhetorischen Frage auf die Dynamik der Kunst wie etwa jene des Schreibens, deren Transformationspotenzial sich auf semantischer Ebene in einem Denkanstoß an den Leser – der Valéry zunächst selbst war – fortsetzt. Valérys Frage kondensiert das Hauptinteresse des vorliegenden Beitrags, der sich der Konzeptualisierung des schreibenden Ich der Cahiers im Spannungsfeld von Schreibvergnügen und „ennui“ widmet.

 Während das Ende der Schreibpraxis der Cahiers durch den Tod Valérys konkretisiert werden kann, steht der Beginn dieser jahrzehntelangen Übung nicht eindeutig fest. Es existieren überlieferte Aufzeichnungen auf losen Blättern, die vor den Sommer 1894 datieren und damit in den Entstehungszeitraum des erst 2005 veröffentlichten sogenannten Pré-Cahier, „Carnet de Londres“ fallen, und durchaus dem Taxon der Cahiers zuzuordnen wären, wie Métraux festhält; Alexandre Métraux: Paul Valéry als Selbstaufschreiber. Analysen einiger autographischer Bruchstücke, in: ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘. Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2008, S. 217–248, hier S. 223.  Paul Valéry: Cahiers I, hg. u. komm. von Judith Robinson, Paris 1973, S. 6.  Valéry, Cahiers I (1973), S. 293; dt. Übers. nach Paul Valéry: Cahiers/Hefte I, übers. von Markus Jakob, Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Corona Schmiele und Karin Wais und hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 1987, S. 369. https://doi.org/10.1515/9783110792447-012

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Als ritualisierte Übung revolutioniert diese Schreibpraxis nicht nur Valérys Vorstellung des literarischen Schreibens und hinterfragt zentrale Begriffe der Literatur und Literaturtheorie, die um die Trias ‚Schriftsteller‘, ‚Werk‘ und ‚Leser‘ kreisen, vielmehr problematisieren Valérys Skizzen neben dem Schreiben als konstruktive Handlung auch die Rolle des schreibenden Ich („Moi“). Denn im Schreiben zeichnet Valéry nicht einfach seine alltäglichen Gedanken oder poetologischen Reflexionen auf, vielmehr dient das Schreiben einer Selbstanalyse, die zu beständig neuen Gewichtungen und Assoziationen im Verhältnis von Körper, Geist und Umwelt führt, – die er in der Formel „C.E.M. corps, esprit, monde“ (Körper, Geist, Welt) verdichtet – und die durch das Schreiben einen direkten Einfluss auf das Leben hat. Derart weisen die Einträge der Cahiers einen ethopoetischen Zug auf und können als Einübungstechnik einer spezifischen Lebensform gelesen werden.⁴ Nimmt man den visuellen Eindruck der handschriftlichen Einträge in den Blick, scheint das Schreiben als produktiver Akt in den Cahiers einer bestimmten Choreografie zu folgen, da das Geschriebene in Höhe und Breite auf der Heftseite derart positioniert wird, dass zwischen den einzelnen Schriftblöcken das unbeschriebene Papier in seiner Flächigkeit als Abgrenzung und Distanzwahrer einzelner handschriftlicher Gedanken zum Vorschein tritt, diese gleichsam auf eine Bühne hebt, wobei jede Eintragung für sich heraussticht, wenngleich Gedanken in verfremdeter Wiederholung im Laufe der Jahre mehrmals auftreten, deren Ausdruckspotenzial sich in Relation auf die sie umgebenden Notizen wandelt. Erstaunlicherweise finden sich in diesen Aufzeichnungen kaum Durchstreichungen oder sprachliche Fehlleistungen.⁵ Aus dieser umfassenden und kaum ausschöpfend erforschbaren Schreibpraxis der Cahiers möchte ich den bislang weniger beachteten Aspekt des Schreibvergnügens herausgreifen, das Valéry unter den Stichworten der „joie“

 Als ‚ethopoetisch‘ bezeichnet Foucault jene Funktion des Schreibens, die auf der Überführung von als wahr erkannten Aussagen in die eigene Lebensweise basiert. Im Sinne einer Übung oder Technik der Lebenskunst setzt dieses Schreiben bestimmte Disziplinierungstechniken sowohl hinsichtlich der Körperhaltung und Handhabung von Materialien und Schreibutensilien voraus, wie auch die Organisation von Gedanken, die durch die schriftlichen Aufzeichnungen analysierbar werden. Schreiben geht hierbei über eine rein dokumentarische Funktion hinaus und fungiert als eine einzuübende Technik der Lebenskunst; Michel Foucault: L’écriture de soi, in: Michel Foucault: Dits et écrits. 1954–1988, Bd. IV: 1980–1988, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Paris 1994, S. 415–430, hier S. 415 f.  Anders verhält es sich mit der Materialität der Schreibhefte, deren Format von losem Papier, das nachträglich durch Fäden gebunden wurde, über zurechtgeschnittene Packpapierbögen, hin zu erschwinglichen Schulheften oder luxuriösen, ledergebundenen Heften reicht; Métraux: Paul Valéry als Selbstaufschreiber, S. 223–227.

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(Freude) und „excitation“ (Erregung) thematisiert. Diese Perspektivierung der Bedeutung von Emotionen im Schreiben soll eine neue Sicht auf das vielfach betonte analytische, kombinierende und grafisch-manuelle Schreibverständnis, das bislang den Cahiers zugrunde gelegt wurde, ermöglichen.⁶ Die Auswahl der einzelnen Entwürfe aus den Cahiers leitete ein Interesse an eben diesem Verhältnis von Schreibvergnügen und Schreiber, das innerhalb der Aufzeichnungen von Valéry unter der Klassifizierungskategorie des „ego scriptor“ gehäuft thematisiert wird, geht jedoch über nur in dieses Klassem fallende Aufzeichnungen hinaus.⁷ Methodisch greift der Beitrag auf das erprobte Analysemodell der ‚Schreibszene‘ wie jenes der ‚Schreib-Szene‘ von Rüdiger Campe, Martin Stingelin, Sandro Zanetti und Davide Giuriato zurück, das um das emotionstheoretische Schreibmodell von Susanne Knaller erweitert wird.⁸ Emotionen bilden Susanne Knaller nach eine Schnittstelle zwischen Diskursen und Praktiken, psychophysischen und kognitiven Bewegungen sowie empirischen und konzeptuellen Realitätsdimensionen, die in der Moderne vermehrt in den Blick geraten.⁹ Insbesondere um 1900 werden die psychophysischen, kognitiven und neurologischen Aspekte von Emotionen in Relation auf den Menschen in seiner Umwelt

 Paul Valérys Schreibübungen wie auch seine literarischen Werke wurden vielfach in Relation auf philosophische Fragestellungen sowie hinsichtlich seiner Überlegungen zur Funktionsweise von Gedanken und Geist untersucht. Stellvertretend seien folgende Arbeiten genannt: Jürgen Schmidt-Radefeldt: Verschriften des Gedachten. Zur ‚écriture‘ von Paul Valéry, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 68 (1987), S. 33–46; Claudia Burghart: Paul Valérys Blick auf den modernen Menschen – Experiment einer neuen Philosophie, Berlin 2013; Pablo Valdivia Orozco und Andrea Allerkamp (Hg.): Paul Valéry. Für eine Epistemologie der Potentialität, Heidelberg 2017.  Für die Überlegungen in diesem Beitrag wurde vorwiegend die kommentierte und thematisch geordnete Edition in zwei Bänden von Judith Robinson herangezogen, die einen Großteil von Valérys Aufzeichnungen enthält, und nur exemplarisch auf die Faksimileedition des CNRS zurückgegriffen, da der Beitrag zunächst auf eine grundsätzliche Klärung der Bedeutung des Schreibvergnügens, wie sie in den Cahiers reflektiert wird, abzielt. Neben Einträgen, die mit „Ego scriptor“ rubriziert wurden, stützen sich folgende Überlegungen vorwiegend auf weitere Notizen zum schreibenden Ich aus den Rubriken von „Ego“, „Gladiator“ sowie „Le Moi et la personnalité“.  Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 269–282; Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems. unter Mitarbeit von Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7–21; Sandro Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur, in: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2009, S. 75–88.  Susanne Knaller: Mit Texten umgehen. Ein theoretisch-methodologisches Modell, Bielefeld 2022, S. 109; auch Susanne Knaller: Emotions and the Process of Writing, in: Writing, Emotions. Theoretical Concepts and Selected Case Studies in Literature, hg. von ders., Ingeborg Jandl, Sabine Schönfellner und Gudrun Tockner, Bielefeld 2017, S. 17–28, hier S. 17–20.

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bedeutsam und im ästhetischen Diskurs unter dem Begriff der „sensibilité“ diskutiert.¹⁰ In der Erforschung innerer Regungen nimmt das Schreiben hierbei nicht nur in handschriftlichen Notizen aus grafologischer Sicht, sondern auch durch die Entwicklung technischer Apparaturen zur Aufzeichnung von Muskel-, Atemoder Gehirnbewegungen eine entscheidende Rolle ein.¹¹ Schreib-Szenen des Schreibvergnügens, wie sie Paul Valéry zunächst handschriftlich verfasst, stellen eine Möglichkeit der Ausdifferenzierung innerer Bewegungen dar. Sie werden in diesem Beitrag als jenes Relais erachtet, durch das die (literarische) Schreibpraxis und ein Ich des Schreibenden zusammengeschalten werden können und eine wechselseitige Bestimmung sowohl des Schreibens als auch des Selbst wie der emotionalen Disposition dieses Selbst ermöglichen. Die aus Valérys Reflexionen resultierende Ausweitung der sprachlich-gestisch-instrumentellen Komponenten der Schreib-Szene um die emotionale Komponente des Schreibenden erweist sich, wie gezeigt werden soll, als notwendig, um ‚freudig-erregte‘ Schreib-Szenen hinsichtlich ihrer Subjekt-ObjektRelationen allererst analysierbar zu machen.

1 Erweiterte Schreib-Szene: Instrumentalität, Gestik, Sprache und Emotionalität Bekanntlich bezeichnet die stets individuelle und historisch variable ‚Schreibszene‘ eine gerahmte, instabile Relationierung von sprachlichen, psycho-physi-

 Knaller: Mit Texten umgehen, S. 109 f. Die Gefühlstheorien um 1900, die unter dem Begriff der „sensibilité“ bzw. des Einfühlungsbegriffs firmieren, basieren auf der Annahme „eines verallgemeinerbaren und zugleich einzigartigen Subjekts“ sowie auf einer Vorstellung von Kunst als privilegierten Ort der emotionalen Erfahrung. Hierbei zeichnet sich eine Entwicklung ab, die sich an einem anthropologisch konzipierten Menschenbegriff orientiert, das menschliche Leben als Prozess begreift und das lebensweltliche Potenzial produktions- und rezeptionsästhetischer Emotionen thematisiert, für die Paul Valérys Cahiers ein paradigmatisches Beispiel geben (ebd. S. 110). Dazu auch Susanne Knaller und Rita Rieger: Ästhetische Emotion. Modelle und Paradigmen in Zeiten des Umbruchs der Künste und Wissenschaften. Eine Einleitung, in: Ästhetische Emotion. Formen und Figurationen zur Zeit des Umbruchs der Medien und Gattungen (1880– 1939), hg. von dens., Heidelberg 2016, S. 7–21, hier S. 14 f. Zur Bedeutung der „sensibilité“ in Valérys Poetik vgl. William Marx: Valéry – Une poétique du sensible, in: Aisthesis 1 (2012), S. 95– 109.  Stephan Kammer: Darstellen, Aufzeichnen, Speichern. Zur Beziehungsgeschichte von Schrift und Bewegung, in: Notationen und choreographisches Denken, hg. von Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann und Kirsten Maar, Freiburg/Berlin/Wien 2010, S. 131–154, hier S. 146 f.

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schen und technisch-medialen Komponenten einer kulturellen Praktik.¹² Dieses dynamische Verhältnis von Semantik, Gestik und Instrumentalität kann, wie ebenfalls bekannt, durch die Problematisierung des Schreibens, zumeist in Form von Widerständen im Schreiben, in das Geschriebene einfließen. Die Semantisierung des Schreibens wird von Martin Stingelin, Sandro Zanetti und Davide Giuriato mit dem Begriff der ‚Schreib-Szene‘ bezeichnet und bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen.¹³ Die Schreib-Szene stellt einen autoreflexiven Akt dar, der die nicht minder herausfordernde Frage aufwirft, worin das Selbst dieser Selbstbezüglichkeit bestehe und wie es sich im Geschriebenen zeigen könne.¹⁴ Dass sich um 1900 dieses Selbst auf das „Moi“ des Schreibenden beziehen, es jedoch nie ganz dechiffrieren kann, verdeutlichen auf unvergleichliche Weise die Schreib-Szenen der Cahiers. ¹⁵ Als Annäherung an dieses Selbst analysiert der vorliegende Beitrag die Thematisierung und textuelle Inszenierung des Schreibvergnügens, welche verschiedene Rollen des schreibenden Ich in Relation auf den Körper wie die Welt erkennen lässt, und zugleich das schreibende Ich in Abgrenzung zu zentralen literatur- und schreibtheoretischen Begriffen wie ‚Schriftsteller‘, ‚Werk‘ und ‚Leser‘ konturiert. Rüdiger Campe schlägt im Zuge seiner Überlegungen über eine erweiterte Perspektive der Literaturgeschichtsschreibung, die mittels Analysen von SchreibSzenen das kulturhistorische Wissen des Schreibens literarhistorisch fruchtbar machen könnte, vor, statt nach „Darstellungsformen der ‚Schreib-Szene‘ nach den Imperativen ihrer Inszenierung“ zu suchen.¹⁶ Damit einher gehe die Frage, so Campe weiter, ob „Anweisungen, wie zu schreiben sei“, nicht bereits vor der

 Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 270.  Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 15; Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti: Einleitung, in: ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘. Schreibszenen als Selbstlektüren, hg. von dens., München 2008, S. 9–17, hier S. 12.  Giuriato/Stingelin/Zanetti: Schreibszenen als Selbstlektüren, S. 13. Mögliche Antworten auf diese Frage, die je nach individueller Schreib-Szene einzelner Autor:innen und deren Gewichtung der verschiedenen Elemente des heterogenen Ensembles der Schreibszene näher an der sprachlich-semantischen, technisch-medialen oder körperlich-gestischen Seite zu beantworten ist, geben die Beiträge des genannten Bandes.  Alexandre Métraux nähert sich dem Selbst der Cahiers etwa über die aufgezeichnete Selbstfigur der Schreib-Szenen in Relation zu den technischen Schreibutensilien und physischen Bewegungen wie Schreibhebel, Tinte, Papier und Gestik; Métraux: Paul Valéry als Selbstaufschreiber, S. 218. Mit Bezug auf die Problematik der Emotionen, insbesondere auf die Angst der Kriegsjahre als entscheidender Faktor von Schreib-Szenen der späten Cahiers vgl. Robert Pickering: Régime scriptural, régime politique dans les derniers cahiers de Paul Valéry, in: L’Esprit Créateur 41/2 (2001), Devenir de la critique génétique/Genetic Criticism, S. 90–107.  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 275.

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„Festlegung […] eines Darstellungsraums der ‚Szene‘ für das ‚Schreiben‘“ erfolgen, wodurch der Kontext des Schreibens in die Szene verlegt werde.¹⁷ Übertragen auf Valérys intellektuelle Schreibfreude hieße dies nach den emotionalen Imperativen der Inszenierung des Schreibens zu fragen. Inwiefern sich Paul Valéry für die Cahiers bereits im Vorhinein bestimmte Schreibzwänge oder Schreibanweisungen auferlegt hat, lässt sich in diesem Zusammenhang allerdings nur über das Geschriebene in seiner Materialität und Semantik rekonstruieren. Als ein entscheidender, immer wieder thematisierter Imperativ erscheint hierbei die Bedeutung der emotionalen Disposition des schreibenden Subjekts, insbesondere in Form des Vergnügens und des „ennui“ als dessen Komplementär. Dass das „Moi“ des Schreibenden durch die emotionale Disposition näher bestimmbar wird, stellt hierbei einen entscheidenden Faktor des Schreibens dar, den Roland Barthes – der gleichsam den gemeinsamen Fluchtpunkt der genannten methodischen Modelle von Campe, Stingelin et al. und Knaller bildet – in seinen schreibtheoretischen Essays ausführt. Roland Barthes rückt in Écrire, verbe intransitive? (1970) den Grad der Involviertheit des schreibenden Subjekts im Prozess des Schreibens in den Vordergrund.¹⁸ Für die Analyse von Valérys Skizzen erweist sich insbesondere Barthesʼ Feststellung, dass das Schreiben auf den Schreibenden rückwirke, als von zentraler Bedeutung. Durch die unmittelbaren Auswirkungen des Schreibens auf die Schreibenden kann diese Form der reflektierten Schreibpraxis wie im Falle Valérys eine Fertigkeit bezeichnen, die in den Bereich der Lebenskünste fällt. Denn das Schreiben der Cahiers gilt Valéry als Form des Selbststudiums und als Medium, dieses schreibende „Moi“ zu ergründen und weiterzuentwickeln. Hierin ähneln die Cahiers dem Schreiben der antiken hypomnêmata, wie sie Michel Foucault in seinem Essay LʼÉcriture de soi (1983) als eine Form des Selbststudiums im Rahmen der Lebenskünste beschreibt.¹⁹ Ein Selbst vorausgesetzt, übernehme dieses die Ästhetik des Daseins formende Schreiben, nach Foucault, vergleichbar einer formalen Übung, eine ethopoetische Funktion, da das Schreiben als Ope Ebd.  Roland Barthes: Écrire, verbe intransitif?, in: ders.: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 21–32.  Die in der griechischen und römischen Antike verbreiteten hypomnêmata beinhalten Foucault nach Notizen von Gesehenem und Gehörtem oder Zitate und Abschriften aus gelesenen Werken, die als Memorierungshilfe erlangter Einsichten und Fundus noch zu schreibender Texte zugleich fungieren konnten. Als Manifestation einer spezifischen kulturellen Praktik zähle das Schreiben neben der körperlichen Übung, dem Reden und Schweigen oder der Meditation zu jenen Techniken der Lebenskünste, welche durch regelmäßige Übung die Erlangung der angestrebten Fertigkeiten für ein glückliches Leben durch Selbstdisziplinierungstechniken ermöglichen sollten; Foucault: L’écriture de soi, S. 418.

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rator der Transformation von Wahrheit in Ethos fungiere. Auf diese Weise werde das Selbst im Akt des Schreibens und durch die Tätigkeit des Schreibens konstituiert, beständig adaptiert und verworfen.²⁰ Eine Analyse von Schreib-Szenen kann hierbei Einblicke in die stets im Wandel begriffenen Konzeptualisierungen des „Moi“ geben, wobei das Selbst in Valérys Cahiers als ebenso flüchtig wie dynamisch angesehen wird und die darüber reflektierenden Schreib-Szenen keinesfalls als generelle Aussagen über das Selbstverständnis der historischen Person Paul Valéry missverstanden werden sollten.²¹ Dass Emotionen den Schreibprozess auf verschiedene Weise beeinflussen, führt Roland Barthes anhand von Überlegungen zum Schreibvergnügen in Variations sur l’écriture aus.²² Mit Roland Barthes, der Schreiben unter dem Aspekt der kulturellen Praktik analysiert und seine Überlegungen mitunter auf die Lektüren von Mallarmé und Valéry stützt, ist Schreiben nicht nur als Geste oder autorisierender Akt vorstellbar, sondern kann an ein Vergnügen gebunden sein, das aus der physischen Erfahrung des schnellen Gleitens der Feder über das Papier resultiere. Ein Empfinden, das den Körper der Schreibenden in den Vordergrund rückt und das Barthes in seinen kurzen Texten über die écriture anhand von Situationen der Schreibpflicht wie dem Abschreiben oder Kopieren thematisiert: [L]a page d’écriture était une corvée; mais d’un autre côté, certains éprouvent (éprouvaient?) une volupté à écrire, à faire glisser la plume, à tracer l’arabesque des mots sans aucun égard pour ce qu’ils veulent dire […]. L’écriture est donc une pratique manichéenne: castratrice et/ou rédemptrice. C’est dire que, dans les expériences de scription pure (puisqu’elles se conduisent sans aucune considération de content), c’est le corps et le corps seul qui est engagé: retirez le sens, il reste le corps, tantôt astreint, tantôt gratifié.

 Vgl. ebd. Dazu auch Sandro Zanetti: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von dems., Berlin 2012, S. 7–34, hier S. 8 f.  Da dieser Beitrag das „Moi“ des Schreibers nur im Kontext der emotionalen Involviertheit streift, sei für umfassende Studien zum Ich bzw. „Moi“ des Schreibers in Valérys Cahiers auf die wegweisende Monografie von Nicole Celeyrette-Pietri: Valéry et le Moi. Des Cahiers à l’œuvre, Paris 1979 oder die komparatistische Arbeit von Gerhard Weber: Novalis und Valéry. Ver-Dichtungen des Ich 1800/1900, Bonn 1992 verwiesen. Aus schreibtheoretischer Perspektive vgl. die rezentere Studie von Paul Ryan: ‚L’ici est le moi de l’espace‘. Self, Genesis, and the Space of Writing in Valéry’s ‚Cahiers‘, in: The Modern Language Review 97/3, (2002), S. 553–565.  Die Entstehung der Variations sur l’écriture wird auf 1973 datiert, wenngleich diese kurzen schreibtheoretischen Texte bis zur Publikation der Œuvres complètes von Éric Marty unveröffentlicht blieben; Anne Herschberg Pierrot: L’écriture comme un faire, in: Moderne Language Notes 132 (2017), S. 851–863, hier S. 851.

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[Das Schreibblatt war eine lästige Pflicht; aber andererseits empfinden (empfanden?) manche eine Lust zu schreiben, die Feder gleiten zu lassen, die Arabeske der Wörter ohne jegliche Rücksicht auf das, was sie sagen wollen, zu zeichnen […]. (hier siehe französisches Zitat: L’ Ècriture est donc…). Die Schrift ist also eine manichäische Praktik: kastrierend und/oder erlösend. Das heißt, dass in den Erfahrungen der bloßen Skriptur (weil sie ohne den Inhalt zu berücksichtigen gemacht werden), der Körper und nur der Körper beteiligt ist: Ziehen Sie den Sinn ab, es bleibt der Körper, bald gezwungen, bald belohnt.]²³

Barthes charakterisiert den Akt des Schreibens im Sinne einer lustvollen Praktik losgelöst von jeglicher Sinnproduktion als zweiseitiges, psycho-physisches Ereignis, das von physischen Zwängen und einem Vergnügen physischer Bewegungsausführung gleichermaßen bestimmt werden kann.²⁴ Was aber ist Vergnügen? Oder in Analogie zu einer von Valérys Verschiebungen in zentralen Fragen der Menschheit wie von ‚Was ist der Mensch?‘ hin zu „Que peut un homme?“ (Was kann ein Mensch?):²⁵ Was kann Schreibvergnügen? Was können Emotionen in Schreib-Szenen? Werden Freude, Angst, Wut, Ekel, Langeweile oder andere Emotionen in Schreib-Szenen erfahrbar, gelangt das reziproke Verhältnis von Subjekt und Objekt im kulturellen Handlungsraum in den Blick, wodurch eine nähere Beschreibung sowohl des schreibenden Subjekts als auch des mit einer spezifischen emotionalen Reaktion assoziierten Objekts ermöglicht wird.²⁶ Mittels thematisierter Emotionen kann die interaktive, dynamische und jeweils zu historisierende Subjekt-Objekt-Beziehung näher bestimmt werden, zieht man die Verwendung unterschiedlicher kognitiver, evaluativer und imaginativer Repräsentationen, die Beschreibung verschiedener Verhaltensweisen oder die Schilderung körperlichperzeptiver wie hedonistischer Komponenten heran.²⁷ Aus diesem Komplex können in Schreib-Szenen, welche die emotionale Disposition der Schreibenden problematisieren, einzelne Komponenten verhandelt, ihre Wechselwirkung oder aber Widersprüchlichkeiten thematisiert werden. Bezogen auf den Schreibprozess lassen sich anhand von Emotionen zudem Re-

 Barthes: Variations sur l’écriture, S. 1560 [Übers. R.R.].  Ebd., S. 1535.  Valéry: Cahiers I, S. 231.  Zum Verhältnis von Subjekt und formalen Objekt in der Analyse von Emotionen vgl. Ronald de Sousa: The Rationality of Emotion, in: What Is an Emotion? Classic and Contemporary Readings, hg. von Robert C. Solomon, New York/Oxford 2003, S. 248–257, hier S. 255.  Zu den verschiedenen Komponenten von Emotionen aus kognitionsphilosophischer Sicht vgl. Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin/Boston 2015, S. 184, 208.

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ferenzziehungen von Lebenswelt und ästhetischer Realitätsebene beobachten, deren explizite Thematisierung in Schreib-Szenen den kulturellen Handlungsraum, den Körper und das Emotionswissen preisgeben.²⁸ Mit Blick auf Valéry lassen sich insbesondere die Fertigkeiten des Schreibenden und deren Funktionalität in selbstbildender, physischer wie weltreferenzieller Hinsicht erfassen. Anhand der vorgeschlagenen auf Schreib- und Emotionstheorien fundierten Perspektive lässt sich die eingangs formulierte Frage, welche Imperative SchreibSzenen des Vergnügens grundieren, folgendermaßen präzisieren: Welches formale Objekt lassen Valérys freudig-erregte Schreib-Szenen als emotionsauslösende Komponente erkennen? Welche Aussagen lassen sich über das schreibende Ich, das Selbst dieser freudig-reflexiven Aufschreibepraktik treffen? Ausgehend von Schreib-Szenen, in denen Valéry insbesondere die Wechselwirkung zwischen Sprache, Körper und mentaler Tätigkeit im Schreiben problematisiert, möchte dieser Beitrag zeigen, dass das formale Objekt des Schreibvergnügens von einer das schreibende Ich transformierenden Kraft der Erkenntnis von Verfahrensweisen, Konstruktionen und Macharten gebildet wird, wobei dieses Transformationspotenzial im Schreiben entsteht, durch das Schreiben sich selbst wie auch das „Moi“ dokumentiert und zugleich das schreibende Ich samt Schreibakt nachhaltig verändert. Die dadurch implizierte Gewichtsverlagerung vom Geschriebenen, vom Text oder literarischen Werk hin zur Prozesshaftigkeit des Schreibens sowie von einer homogenen, invariablen Ich-Vorstellung hin zur Instabilität des schreibenden Ich durchzieht die Cahiers als ein vielfach wiederkehrender Gedanke.

2 „Moi fabricateur“: Zur Gewichtung von Schreibprozess und Werk Das Revolutionäre an Valérys Schreibverständnis der Cahiers besteht darin, dass er die Gewichtung von Schreibprozess und Werk als dessen Resultat umkehrt, indem er alles Gemachte als „Nebensache“ und „das Machen als die Hauptsache“ ansieht.²⁹ Kunstfertigkeit und Wissen, die aus rezeptionsseitiger Perspektive dem Werk oder den Schriftsteller:innen zugeschrieben werden, sollen stattdessen auf

 Knaller: Mit Texten umgehen, S. 112.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 253. Dazu auch Rita Rieger: Paul Valérys tänzerische Schreibpraktiken. Analogie als Analysekategorie zwischenräumlicher Bewegungen, in: Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, hg. von Jennifer Clare, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauff und Toni Tholen, Heidelberg 2018, S. 229–245.

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dessen Herstellung übertragen werden, sodass der Schreibprozess vergleichbar einer Tanzaufführung oder einem Fechtkampf als ereignishafte Konstruktion von Handlungen und Erwartungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.³⁰ Dem in den Notizen lediglich als Spur vorhandenen Schreibprozess gilt die größte Bedeutung. Zugleich wird jedoch das Medium der Schrift als Wissensspeicher ob seiner fehlenden Dynamik skeptisch betrachtet, da es bewegliches Wissen nur fragmentarisch und selektiert dokumentieren kann und sich im Geschriebenen sowohl den Lesenden wie auch Valéry als Selbstleser entzieht. Daher auch der Zweifel an der Schrift, an allem Fixierten, das einer Dummheit gleiche und zu einer beständigen Arbeit an der Form führe.³¹ Nichtsdestotrotz finden sich zahlreiche Einträge, welche die Prozesshaftigkeit des Schreibens wie auch das erkenntnistheoretische Potenzial dieser kulturellen Praktik schriftlich festhalten. Als Modellgeber dieses Schreibverständnisses im Sinne einer wissensgenerierenden und das Selbst transformierenden Schreibpraktik gelten Stéphane Mallarmé und Leonardo da Vinci, deren individuelle Schreibpraxen sich ebenfalls in Heften manifestierten.³² Valérys Figur des Léonard inkarniert hierbei die von Valéry entwickelte Methode zur Beschreibung des poietischen Prozesses, der sich, wie Karin Krauthausen ausführt, am Erfinden ausrichtet, und den Valéry hinsichtlich der geistigen Aktivität sowie des Schreibens analysiert.³³ Die im Zuge von Valérys Leonardo-Studien aufgeworfenen Fragestellungen, die erstmals 1894 in seinem Essay Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci publiziert wurden, kehren in unterschiedlichen Formaten in den Cahiers wieder, stützen jedoch jeweils die zentrale Vorstellung, die Mechanismen und Methoden des literarischen Schaffens, der künstlerischen, wissenschaftlichen wie technischen Erfindung zu ergründen. Mit diesem Zugriff auf die Herstellung von Kunst, auf die Konstruktion, auf die Poiesis, die das im gesamten Herstellungsprozess involvierte Wissen fasst, wird zugleich das erfindende Subjekt konturiert, das sich im Zentrum dieses zweiseitigen Prozesses von gekonnter Anwendung bereits erworbener Fertigkeiten und Improvisation im Augenblick der

 Ebd.  In einem Eintrag von 1941 heißt es „J’ai la sensation de quelque bêtise devant tout ce qui est fixé.“ Valéry: Cahiers I (1973), S. 299. Dt.: „Was fixiert ist, wirkt auf mich irgendwie einfältig.“ Valéry: Hefte 1 (1987), S. 375.  Zu Paul Valéry und Leonardo da Vinci allgemein und zur Bedeutung der Linie in den Heften im Besonderen vgl. Sabine Mainberger: LE PARTI PRIS DU TRAIT: Zu Paul Valéry und Leonardo da Vinci, in Poetica 41.1/2 (2009), S. 127–159.  Karin Krauthausen: 1894. Erfinden als Lebensform bei Paul Valéry, in: Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien, hg. von Sandro Zanetti, Zürich/Berlin 2014, S. 385–397, hier S. 386 f.

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Herstellung befindet, wie Karin Krauthausen ausführt. Das Machen im Sinne des Erfindens gilt Valéry hierbei als eine Form der Lebenskunst.³⁴ Paradigmatisches Beispiel dieses Erfinders ist die Leonardo-Figur Valérys, die einem intellektualisierten Künstlerideal entspricht, und die die Lebewesen und Künste wie ein Ingenieur behandle, ihre Maße nehme, ihre Funktionsweisen studiere, die Lebewesen aus der luftigen Distanz einer Vogelperspektive oder die Psycho-Physiologie der Personen aus nächster Nähe analysiere.³⁵ Reduziert auf ein Denksystem entspricht dieses Künstlerbild einem „Moi superconscient“, das im Künstlerideal mit einem mitunter „hypertrophierten“ Sehvermögen ausgestattet und befähigt sei, sich durch Verfahren der Analogie- und Äquivalenzziehung Ordnungsprinzipien der Natur anzuverwandeln.³⁶ Darüber hinaus fungiert der Renaissancekünstler als Modellgeber der Lebenskunst, der einfach, aber selbstkritisch lebe, um sich beständig zu verändern: „Lionardo. Être, et ce qu’on est, et son propre mathématicien et son propre physicien, et son propre constructeur – c’est-à-dire observateur, combinateur, organisateur, et ouvrier –.“ „Lionardo. Sein, was man ist, und dazu sein eigener Mathematiker und Physiker, auch sein eigener Konstrukteur – das heißt Beobachter, Kombinator, Organisator und Arbeiter –.“³⁷ Im Rahmen solcher Studien eines „Moi fonctionnel“ bestimmt Valéry das Selbst in Analogie zu einem mathematischen Objekt, das neben allen persönlichen Aspekten eine abstrahierte Figuration des Menschlichen darstellt.³⁸ Dieses allgemeine Interesse an den Herstellungsmechanismen in den Künsten und Wissenschaften wird in den Cahiers auch auf das Schreiben appliziert und präsentiert ein Verständnis des schreibenden Ich, das im Aufschlüsseln und Nachvollziehen von Funktionsprinzipien sein Alleinstellungsmerkmal als Schriftsteller, oder vorsichtiger formuliert, als Schreiber sieht: Gl. Pour me comprendre. Le livre – l’écrit – est pour moi un accident – Limite factice d’un développement mental. Ceci est essentiel p[our] comprendre mon allure – et il me semble – manière de sentir qui m’oppose à la plupart des écrivains. [Gl. Um mich zu verstehen.

 Ebd., S. 390.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 358.  Cornelia Klettke: Simulakrum Schrift. Untersuchungen zu einer Ästhetik der Simulation bei Valéry, Pessoa, Borges, Klossowski, Tabucchi, Del Giudice, De Carlo, München 2001, S. 49.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 371; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 460.  Celeyrette-Pietri: Valéry et le Moi, S. 26 f.

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Das Buch – das Geschriebene – ist für mich ein Zwischenfall – Künstliche Begrenzung einer mentalen Entwicklung. Das ist wesentlich, um mein Vorgehen und – wie mir scheint – meine Art zu empfinden zu verstehen, die mich zu den meisten Schriftstellern in Gegensatz bringt.]³⁹

Charakteristisches Merkmal von Valérys Schreibhandlungen und Empfindungsweise, so dieser selbstreflexive Eintrag aus dem Jahr 1930, ist eine kontinuierliche Entwicklung des Denkens – ein Kriterium, das Valéry heranzieht, um sich von der Menge der Schriftsteller:innen abzuheben. Die Abkürzung Gl. steht für „Gladiator“, eine der thematischen Kategorien, die Valéry schon wenige Jahre nach den ersten Aufzeichnungen erstellt, um seine Notizen zu klassifizieren. Die Klassifikation der Einträge erweist sich als dynamisch, wie manche Einträge zur Thematik des schreibenden Selbst bezeugen, die zunächst dem Klassem ‚Ego‘ und erst in einem zweiten Schritt der Gruppe ‚Gl.‘ zugeordnet wurden. Die im eben angeführten Zitat erwähnte ‚geistige Entwicklung‘ in Verbindung mit einem spezifischen Empfinden lässt sich als Verweis auf ein holistisches Menschenbild lesen, das zugleich den Schreiber vom Schriftsteller unterscheidet: Ce qui sépare ma vision d’une vision littéraire, ce qui me divise d’avec le littérateur – c’est qu’ils voient œuvres et que je vois Homme. / Ils ne regardent que ce résultat – le Livre – et je ne regarde que le fabricateur. [Was meine Weise zu sehen von einer literarischen Sicht unterscheidet, was mich von den Literaten trennt – ist, daß sie Werke sehen und daß ich Mensch sehe. / Sie betrachten nur dieses Ergebnis – das Buch – und ich betrachte nur den Hersteller.]⁴⁰

Anders als ‚Literaten‘ bevorzugt Valéry für die Bezeichnung des Subjekts der schreibenden Tätigkeit das Wort „scripteur“, wie die mit „ego scriptor“ klassifizierten Einträge verdeutlichen, die ursprünglich eine Unterkategorie von ‚Ego‘ bildeten. Diese Kategorie wird erst relativ spät, 1930, eingeführt und thematisiert zumindest drei konfligierende Funktionen des Skriptor-Ich, wie Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt festhalten: erstens die zweckfreie Denk- und IchAnalyse. Zweitens die an die Form gebundenen Schreib-Szenen des Dichter-Ichs und drittens das als zumeist langweilig empfundene Schreiben von Literatur im Sinne von Auftragsprosa.⁴¹ Dieser Ausdifferenzierung des Schreibens entsprechen nicht nur verschiedene Rollen des schreibenden Ich, vielmehr können diese Rollen mit unterschiedlichen Praktiken und Logiken des Schreibens – von Lite Ebd., S. 269; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 340.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 240 f.; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 308.  Hierzu der einleitende Kommentar der deutschen Übersetzung von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt in Valéry: Hefte 1 (1987), S. 27.

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ratur, für die Wissenschaft oder zum Zwecke des Selbststudiums – korrelieren, die ihre je eigenen Kompetenzen erfordern.⁴² Vor diesem Hintergrund erweisen sich die in einzelnen Schreib-Szenen präsentierten Rollen des Skriptors sowie die attribuierten Ich-Funktionen in ihrer Gültigkeit temporär zumeist auf die jeweilige Schreib-Szene limitiert, die zugleich das schreibende „Moi“ in seiner Dynamik für den Augenblick je neu konstituieren oder vorhandene Ich-Vorstellungen verwerfen. Wie erwähnt gilt das Interesse des schreibenden Ich vorrangig den Konstruktionsverfahren in den Künsten und Wissenschaften. In Analogie zu einer Differenzierung des Schreibers von Literaten durch den „fabricateur“ definiert Valéry das Werk als „application“: […] L’œuvre, donc, est application à mes yeux. Tandis que chez la plupart, elle est le capital de l’instant. − − Donc, le Grand Œuvre est pour moi la connaissance du travail en soi − de la transmutation − et les œuvres sont applications locales, problèmes particuliers. − Ce sont les problèmes où, à titre de conditions indéterminées, entrent les caractéristiques d’Autrui = l’idée que je me fais de l’action extérieure des œuvres. [Das Werk ist also in meinen Augen Anwendung. Während es für die meisten das Kapital des Augenblicks ist. – – / Das grosse Werk ist also für mich das Erkennen der Arbeit an sich – der Wandlungsprozesse – die Werke dagegen sind lokale Anwendungen, Einzelprobleme – Probleme, in die als undeterminierte Voraussetzungen die Wesenszüge des Anderen eingehen = Vorstellungen, die ich mir von der Außenwirkung der Werke mache.]⁴³

Das Werk als Anwendung zu verstehen, verweist nicht nur auf die problemlösende Funktion des Schreibens als Kulturtechnik, sondern im Speziellen auf Valérys Interesse an der Rückwirkung der mentalen Tätigkeit auf den Geist und damit auf den Weltbezug im Akt des Schreibens. Aus dieser transformativen Rückwirkung des Schreibens resultiert wiederum das Schreibvergnügen. Vor diesem Hintergrund fungiert nicht die Schöpfung einer Form am Ende des Schreibprozesses als formales Objekt des Schreibvergnügens – denn das vollendete Werk löst im Schreiber keine Freude aus –, sondern eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst. In dieser schreibend-analytischen Selbstsorge sieht Valéry den großen Nutzen des Schreibens für den Schriftsteller, wobei über diese Zweckbestimmung des

 Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur, S. 80. Jürgen Schmidt-Radefeldt differenziert das Schreiben der Cahiers von Valéry nach der Klassifikation von Otto Ludwig in ein „Aussich-heraus-schreiben, ein bewußtmachendes, operatives Schreiben“ und „ein konservierendes Schreiben“; Jürgen Schmidt-Radefeldt: Verschriften des Gedachten. Zur ‚écriture‘ von Paul Valéry, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 68 (1987), S. 33–46, hier S. 45.  Valéry, Cahiers I (1973), S. 277; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 350 [Hervorh. i. O].

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Schreibens zugleich eine Trennlinie zwischen Schreibenden und Lesenden gezogen wird: Le poème sera pour les autres – c’est-à-dire pour la superficie, le premier choc, l’effet, la dépense, – – cependant que le travail sera pour moi, – c’est-à-dire pour la durée, la suite, la recette, le progrès. [Das Gedicht wird für die anderen sein – das meint für die Oberfläche, die erste Erschütterung, die Wirkung, [ ] die Ausgabe – – die Arbeit jedoch ist für mich – das bedeutet für die Fortdauer, die Weiterführung, [die Einnahme], das Voranschreiten.]⁴⁴

Das vollbrachte Werk, wie sehr es auch bewundert werden mag, so Valéry in Anspielung auf La Jeune Parque, verweigere dem schreibenden Ich jegliches Vergnügen. Nach Phasen des Entwurfs, der Materialsammlung, der langwierigen Auseinandersetzung mit allen Komponenten sei das Im-Entstehen-Begriffene Teil des Lebens geworden, mit all seinen Verzögerungen, seinem Herantasten, seinen Abneigungen und Zufällen. Mit der Publikation werde es jedoch gleichsam als ein einziger Block, mit einem Mal, dem Publikum präsentiert, ohne ein Wort über seine Genese zu verraten.⁴⁵ Während das Werk bei den Rezipient:innen in der erstmaligen Lektüre aufgrund seiner Neuheit und Gesamtheit eine Vielzahl an Emotionen hervorzurufen vermag, bleibe ein vergleichbarer Schock, eine ‚totale Erschütterung‘ der Erstbegegnung im Dichter aus, da das Werk in statu nascendi bereits seit Jahren Bestandteil seines Lebens und das geschrieben habende Ich emotional ganz anders involviert sei. Für den Schreiber erscheint der Schaffensprozess daher von größerer Relevanz zu sein, da die im Schreiben gewonnenen Erkenntnisse das schreibende Ich kontinuierlich transformieren. Weniger als um emotionale Stimuli geht es Valéry im Schreiben um Erkenntnisgewinn, der an eine Schreibfreude gebunden ist, die ob ihrer Intellektualisierung und Verortung im ästhetischen Kontext an René Descartesʼ „joye intellectuelle“ erinnert, wie er sie in Les Passions de l’âme (1649) beschreibt: Bei dieser intellektuellen Freude handle es sich um eine Empfindung, die aus der erkannten Affizierung etwa durch die Kunst resultiere, unabhängig davon, ob es sich um von der Lektüre einer Tragödie ausgelöste Gefühle des Schreckens, der Angst oder des Schauderns, oder aber um kunstinduzierte angenehme Empfindungen handle.⁴⁶

 Valéry: Cahiers I (1973), S. 243; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 310.  Ebd., S. 252.  René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-deutsch, hg. u. übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1984, S. 230.

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Im Gegensatz zum ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert wird im ästhetischen Diskurs um 1900 unter dem Begriff der „sensibilité“ jedoch nicht länger die Wirkung des Werkes auf die Rezipient:innen, sondern das Affizierungspotenzial von Literatur und Kunst im Kontext des kreativen Schaffensprozesses verhandelt.⁴⁷ Thematisierungen des Schreibvergnügens, die unter den Stichworten der „joie“ (Freude) und „excitation“ (Erregung) erfolgen und als freudig-erregte Schreib-Szenen solchen des „ennui“ gegenübergestellt werden, sind ein Beispiel dafür.

3 Freudig erregte Schreib-Szenen In einem Eintrag aus dem Jahr 1927 steht als erstes notiertes Wort der morgendlichen Übung eine Emotion: [←] Joie − excitation de surgir à 5 h. et de se jeter à noter une foule d’idées comme simultanées ressentant une vitesse intime extrême, qui fait apparaître sur toute l’étendue cachée − (la décelant ainsi) du champ mental, des relations (car il y a en chacun un tel empire caché) et le langage même interne pas assez prompt pour suivre et communiquer à l’âme ce qu’elle touche d’autre part (c’est la scintillation de la mer sous le soleil −) en identifiant, en se réfléchissant, illuminant à chaque choc un ensemble des choses en elle qui sont réponses mutuelles des divers ordres − réponses sensitives, ou formelles, significatives ou autres. [[←] Freude – Erregung, um 5 Uhr aufspringen und sich sogleich darauf werfen, eine Menge Gedanken gleichsam simultan niederzuschreiben, / mit dem Gefühl extremer innerer Geschwindigkeit, die über die ganze verborgene Ausdehnung des geistig-seelischen Feldes hin (das dadurch überhaupt erst freigelegt wird) Verbindungen aufscheinen läßt, / (denn in jedermann gibt es solch ein verborgenes Reich) / und die Sprache, selbst die innere, nicht schnell genug, um zu folgen und der Seele mitzuteilen, was sie andrerseits doch schon berührt (das ist das Flimmern des Meeres unter der Sonne –) / identifizierend, / sich spiegelnd, bei jedem Auftreffen eine bestimmte Menge von Dingen in sich beleuchtend, die wechselseitige Antworten der verschiedenen Ordnungen sind – empfindungshafte Antworten oder auch formelle, signifikative oder andere.]⁴⁸

 Valéry spricht sich auch in seinem Discours sur l’Esthétique (1937) für eine ‚Wissenschaft des Fühlens‘ im ästhetischen Kontext aus und hebt einmal mehr die Bedeutung der mentalen Komponente kunstbezogener Emotionskonzepte hervor; Paul Valéry: Discours sur l’Esthétique, in: ders.: Œuvres I, hg. von Jean Hytier, Paris 1960, S. 1294–1314, hier S. 1295 f.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 8 f.; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 37.

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Nach einem rückwärtsgewandten Pfeil, der auf die vorhergegangene Seite verweist, beginnt dieser Eintrag mit „joie – excitation“, zwei Attribute, die Valérys morgendliche Schreibübung sowie die momentane emotionale Disposition des Schreibers in dieser Schreib-Szene charakterisieren. Die skizzierte morgendliche Schreibübung wird von einer freudigen Erregung angetrieben, die sich im körperlichen Aufspringen zum Schreiben ausdrückt. Das Schreiben über das vergegenständlichte Schreiben wird neben der Wahrnehmung der Schreibumgebung und der introspektiven Gedankenanalyse als eine unter verschiedenen, simultan verlaufenden Aktionen beschrieben, die sich zu überschlagen drohen. Valéry charakterisiert die Freude am Schreiben über ein „Gefühl extremer innerer Geschwindigkeit“ in der Veräußerung von inneren Regungen und Gedanken, die in einem einzigen, verschachtelten und durch abrupte Zeilenumbrüche rhythmisierten Satz ihre Spuren hinterlässt. Dabei überträgt sich diese Erregtheit nicht auf grafologische Besonderheiten, wie Alexandre Métraux richtigerweise anmerkt, denn das Schriftbild dieser Aufzeichnung weicht nicht wesentlich vom Aussehen anderer Einträge ab.⁴⁹ Die gewählten syntaktischen Muster dieser Schreib-Szene können hingegen als subtile Verweise der inneren Erregung gelesen werden, wenn Valéry, mit den Worten Roland Barthesʼ, den die Geschwindigkeit des Schreibflusses zügelnden Punkt vermeidet und stattdessen die fließenden Kommata, Gedankenstriche und Klammern verwendet, um disparate gedankliche Einheiten zu trennen.⁵⁰ Aus der oben zitierten Schreib-Szene lässt sich allerdings bereits ablesen, dass die Mannigfaltigkeit der Selbstbeschreibung dieses „Moi“, nicht anders als durch eine Spaltung in ein schreibendes, ein fühlendes, ein reflektierendes Ich, die miteinander in Dialog treten können, kommunikabel erscheint. Dass diese verschiedenen Facetten zugleich agieren, verdeutlicht der Hinweis, dass selbst die „innere Sprache“ nicht schnell genug sei, um alles Wahrgenommene, alles Gedachte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse einem anderen Teil des „Moi“ mitzuteilen, geschweige denn, die verschiedenen Akte in ihrer Gleichzeitigkeit lesbar aufzu-

 Métraux: Paul Valéry als Selbstaufschreiber, S. 247. Anders verhält es sich bei jenen Einträgen, die in den Zeitraum der Bekanntschaft mit Catherine Pozzi im Jahr 1920 fallen und in denen sich die Heftseite als Ausdrucksmedium der Affekte erweist, wie auch die Angst der Kriegsjahre, deren Einfluss auf das Schreiben in den Cahiers sowohl in semantischer als auch materialer Hinsicht Pickering untersucht; Pickering: Régime scripturale, S. 92.  Barthes hält fest, dass das Heben der Feder oder des Stiftes, um einen Punkt zu setzten, im Gegensatz etwa zum Ziehen von Beistrichen den Schreibprozess verlangsame; Barthes: Variations sur l’écriture, S. 1561. Inwiefern diese syntaktischen Muster auf freudig-erregte Schreibszenen limitiert oder als allgemeines Indiz eines gesteigerten Grads an emotionaler Involviertheit des Schreibenden lesbar sind, müsste in künftigen Forschungsarbeiten noch geklärt werden.

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schreiben. Dabei fällt auf, dass es vor allem ergänzende Erläuterungen, generalisierende Ableitungen und Präzisierungen des eben Geschriebenen sind, die in den Klammern oder nach den Gedankenstrichen zum Ausdruck kommen, und sich mit dem erstnotierten Gedanken über das Vergnügen zu Schreiben verwickeln. Neben der sprachlichen, gestischen, mentalen und emotionalen Komponente – den Akteuren dieser Szene – thematisiert diese Schreib-Szene zudem, dass die verschrifteten Gedanken in engem Zusammenhang mit der äußeren Welt, der Empfindung eines „Flimmern[s] des Meeres unter der Sonne“, stehen, wobei diese Wechselwirkung von Welt, Körper und Geist sogleich analysiert und kommentiert in das Beschreiben der Schreibszene einfließt. Wie vielfach bemerkt, sind es die Hand, der Schreibtisch, die Gegenstände, die sich auf ihm oder im Raum befinden, aber auch der sich vom Blatt Papier erhebende und in die Ferne schweifende Blick, welche die Schreib-Szenen der Cahiers formen, in denen verschiedenste Gegenstände, Empfindungen,Wahrnehmungen und Gedanken einzig über das schreibende und sich im Schreiben konstituierende „Moi“ verbunden werden.⁵¹ Valérys Schreibvergnügen, so könnte man die Analyse dieser freudig-erregten Schreibszene schließen, resultiert aus einer Verschriftung von Gedanken, die sich in einer rauschhaften Geschwindigkeit ereignet. Dennoch hält sich dieses Vergnügen nicht am berauschenden Gedankenstrom oder Schreibfluss auf. Sobald das Skriptor-Ich ‚inspiriert‘ sei, unterbreche es sich unmittelbar, da es die Geschwindigkeit und die Dynamiken solcher Zustände fürchte, die nur allzu oft ins Absurde führten: Ego Scr. Quand je suis ‘inspiré’ je m’interromps très vite; je crains les vitesses de cet état qui jettent dans l’absurde. Je sais qu’il faut cueillir au vol et se dégriser. [Ego Scriptor / Wenn ich ‚inspiriert‘ bin, unterbreche ich mich sehr schnell; ich fürchte die Geschwindigkeit, das Jähe dieses Befindens, was ins Absurde treibt. Ich weiß, man muß im Fluge ergreifen und sich dann ernüchtern.]⁵²

 Ausführlicher zum Verhältnis von Schreibraum und „Moi“ vgl. die Studie von Paul Ryan, der diesbezüglich zudem auf Mallarmés Schreib-Szenen in ihrer Modellwirkung hinweist, da sie ebenfalls die physische Dimension wie auch die Bedeutung der Objekte in der unmittelbaren Schreibumgebung als konstitutive Elemente der Schreib-Szenen thematisieren; Ryan: L’ici est le moi de l’espace, S. 554.  Valéry: Cahiers I, S. 268; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 340. Auch diese ein Unbehagen ausdrückende Schreib-Szene weist keine grafologischen Besonderheiten auf; Paul Valéry: Cahiers Bd. XIV (1929‒1931), hg. von CNRS, Paris 1959, S. 603. Der in der Übersetzung getilgte liegende Doppelpunkt stellt ein Spezifikum von Valérys Satzzeichengebrauch dar. Der horizontale Doppelpunkt kann für ein Satzende oder einen Halbsatzschluss stehen; Métraux: Paul Valéry als

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Mittels bewusster Inhibition des affektiven Erlebens werden momentane Gefühlszustände wie auch die Wirkung von Empfindungen unterbrochen, um das (selbst-)analytische, erkenntnisgenerierende Moment des Schreibens nicht zu gefährden. Der analytisch-zergliedernde Blick spaltet das „Moi“ des Schreibers zwar in ein schreibend-tätiges, ein empfindsames, ein freudig-erregtes und ein diese Freude, diese Empfindungen und mentalen Verknüpfungen reflektierendes Ich, doch handelt es sich hierbei lediglich um ein Hilfsverfahren, um die mannigfachen Relationen zwischen den Empfindungen der Welt, der geistigen und der physischen Aktivität des Schreibenden überhaupt erst aufzuzeigen. Zugleich ermöglicht diese Parzellierung eine nähere Bestimmung des formalen Objekts der Freude am Schreiben: ein Schreibakt, der als manuelle Tätigkeit zum Medium einer Veräußerung bislang verborgener Regungen, Gedanken und Einsichten avanciert, in großer Geschwindigkeit vollzogen wird und als verschrifteter Erkenntnisprozess gedanklich entworfene Verbindungen auf empfindsamer, formeller oder signifikativer Ebene festhält. Dergestalt erweist sich die Schreibfreude eng verflochten mit einem Erkenntnisprozess, der die Konstruktionsprinzipien des dynamischen Verhältnisses von Körper, Geist und Welt im Schreiben generiert, durch das Schreiben offenlegt und verändert. Ein Merkmal, das Valéry in die Nachfolge Leonardo da Vincis und Stéphane Mallarmés stellt. Die Vorstellung einer „intellektuellen Freude“ oder einer „sinnlichen Intellektualität“, nach Ernst Robert Curtius, kennzeichnet Valérys Schreibvergnügen, das durch seine Nicht-Linearität, durch Inhibitionen und arrangierende Akte näher bestimmbar wird und derart das schreibende Ich konturiert, das neben der Rolle des Skriptors auch jene des Schriftstellers einnehmen kann.⁵³ Denn in einem Eintrag aus dem Jahr 1935 dehnt Valéry sein zentrales Interesse an Konstruktionsprinzipien auf das literarische Schreiben aus: En tant qu’écrivain, je n’ai rêvé que constructions et j’ai abhorré l’impulsion qui couvre le papier d’une production successive. Si pressante et riche et heureuse soit-elle, cette foison ne m’intéresse pas. J’y vois une génération ‚linéaire‘ qui exclut toute composition.

Selbstaufschreiber, S. 243. Häufig findet sich der liegende Doppelpunkt auch nach einer der Rubrikbezeichnungen wie im oben erwähnten Zitat.  Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert. Gide – Rolland – Claudel – Suarès – Péguy – Proust – Valéry – Larbaud – Maritain – Bremond, 2. Aufl., Bern/ München 1960, S. 374, 363. Obschon Curtius mit diesen beiden Attributen Valérys Lyrik charakterisiert, lässt sich die widersprüchliche Kombination aus intellektuellem und sinnlichem Anteil auch als spezifisches Merkmal von Valérys Schreiben der Cahiers feststellen. Zur doppelten Poetik vgl. auch Marx: Une poétique du sensible, S. 95–109.

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[Als Schriftsteller habe ich einzig von Konstruktionen geträumt und habe den Trieb verabscheut, der das Papier ununterbrochen mit seinen Produkten bedeckt. Dieses Überquellen interessiert mich nicht, so sprudelnd, reich und glücklich es auch sein mag. Ich erblicke darin ein ‚lineares‘ Erzeugen, das jegliche Kompositionen ausschließt.]⁵⁴

Inspiriert von den Naturstudien und kunsttheoretischen Überlegungen in Leonardo da Vincis Heften, die Valéry zeitgleich mit der Entstehung seines ersten Cahiers, dem Journal de Bord,⁵⁵ rezipierte, bildet auch hier das Erkennen von Konstruktionsprinzipien, räumlichen, visuellen oder formalen Querbezügen – und nicht etwa eine unreflektierte Schreibwut oder ein genialischer Schreibfluss – das formale Objekt der Schreibfreude und die Grundlage des literarischen Schreibens, dem eine entscheidende transformative Kraft zugeschrieben wird. Fehlt dieses Element der Erkenntnisherstellung im Schreiben, so fungiert nicht die Freude, sondern die Langeweile als formales Objekt der emotionalen Disposition in den geschilderten Schreibszenen.

4 Schreib-Szenen des „ennui“ Valéry, in seiner unablässigen Analyse mentaler Tätigkeiten in Relation auf die eigene Physis und die Welt, lehnt die Aufzeichnung der eigenen Befindlichkeiten insofern ab, als ihm jegliche Verdoppelung der Gegenwart oder Vergangenheit durch das Schreiben widerstrebe: Je ne suis pas écrivain, – écriveur, car il ne m’importe pas et il m’excède d’écrire ce que j’ai vu, ou senti ou saisi. Cela est fini pour moi. Je prends la plume pour l’avenir de ma pensée – non pour son passé. J’écris pour voir, pour faire, pour préciser, pour prolonger – non pour doubler ce qui a été. Mais que me fait ce qui est, ce qui fut, ce qui sera ? Je subis, je crains, et même je désire mais avec mépris.. Tu m’épouvantes, je tremble et cependant – je sens toujours que nous n’avons pas d’importance. [Ich bin nicht Schriftsteller – Schreiber, denn es liegt mir nichts daran, ja es widerstrebt mir, zu schreiben, was ich gesehen oder gefühlt oder begriffen habe. Das ist für mich zu Ende. Ich greife zur Feder um der Zukunft meines Denkens willen – nicht seiner Vergangenheit. / Ich schreibe, um zu sehen, zu machen, zu präzisieren, um fortzusetzen – nicht um zu verdoppeln, was gewesen ist. / Was kümmert mich, was ist, was war, was sein wird? / Ich leide, ich

 Valéry: Cahiers I (1973), S. 285; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 360 [Hervorh. i. O].  Zum Einfluss Valérys Beschäftigung mit Leonardo da Vincis Heften auf die Entstehung der Cahiers vgl. auch Mainberger: LE PARTI PRIS DU TRAIT, S. 130 sowie Krauthausen: Erfinden als Lebensform, S. 386.

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fürchte, und ich begehre sogar, aber mit Verachtung. Du erschreckst mich, ich zittre und doch – fühle ich immer, daß wir keine Bedeutung haben.]⁵⁶

Statt durchlebte Gefühle durch das Schreiben zu konservieren oder zu reaktivieren, solle das Schreiben für den Schreibenden neue Erkenntnisse generieren, etwas machen, Vorhandenes präzisieren oder dessen Fortbestehen ermöglichen. Affekte und Gefühle, über deren Erleben sich das Subjekt in seiner Umwelt definieren kann, werden in ihrer Bedeutung allerdings limitiert, wie Valéry anhand des nach dem für seine Schreibweise typischen liegenden Doppelpunkts anhand einer Angst auslösenden Begegnung konkretisiert: Auch wenn Alter Schrecken verursache, der in Ego die physische Reaktion des Zitterns auslöse, sind diese Emotionen von geringer Relevanz. Diese Überlegungen lassen an Valérys Vorstellung eines „Moi zéro“ denken. Denn im Bild der mathematischen Null lässt sich Valérys Selbst – nicht etwa verstehen – aber schreiben. Die Null markiere ein attribut-, bild- und wertloses Subjekt und fungiere zugleich als Multiplikator, wenn es mit anderen Merkmalen, Identitäten oder Ich-Bildern kombiniert werde.⁵⁷ Das „Moi zéro“ meint hierbei keinesfalls Nichts, vielmehr fungiert es für Valéry als ein Operator, der einerseits festlegt, dass Ich weder eins noch zwei noch unendlich ist. Andererseits erweist sich das „Moi“ vergleichbar dem mathematischen Grundwert der Null unerlässlich, um Denk-, Sprech- und Schreibhandlungen zu realisieren und hebt deren

 Valéry: Cahiers I, S. 244; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 311 f. [Hervorh. i. O].  Paul Valéry: Cahiers II, hg. u. komm. von Judith Robinson, Paris 1974, S. 327: „La meilleure image du MOI est bien le Zéro, qui, d’une part, exprime le sans-attribut, ni image, ni valeur du ‘moi pur’ qui s’obtient par exhaustion, puisque tout ce qui se propose à la conscience est un Antégo par là même; et d’autre part, le zéro multiplie par 10 le nombre donné – comme la perception qu’un fait quelconque nous intéresse en personne et doit être décrit en employant moi, mon, me etc. lui communique une valeur aussitôt incomparable. […] Le Moi, coefficient d’importance. […]“; [Das beste Bild des ICH ist sicherlich die Null, welche einerseits das Attributlose, Bildfreie, Wertfreie des ‚reinen Ich‘ ausdrückt, welches durch Ausschöpfung gewonnen wird, da alles, was sich dem Bewußtsein darbietet, eben dadurch ein Antego ist; und andererseits erhöht die Null die gegebene Zahl um das Zehnfache – wie die Wahrnehmung, daß ein beliebiges Faktum uns persönlich angeht und beschrieben werden muß unter Zuhilfenahme von ich, mein, mich/mir usw., alsbald einen unvergleichlichen Wert annimmt. […] Das Ich: Wichtigkeitskoeffizient. […]; dt. Übers. nach Paul Valéry: Cahiers/Hefte 4, übers. von Markus Jakob, Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Corona Schmiele und Karin Wais und hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 1990, S. 531]. Cornelia Klettke nach weist dieses „Moi“, das eng an die écriture gebunden ist, auf Jacques Derridas Differenzphilosophie voraus, da das Ich bei Valéry und Derrida weder präsent noch absent sei, sondern eine Lücke repräsentiere; Klettke: Simulakrum Schrift, S. 52 f.

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Bedeutung hervor, indem es als „Coefficient d’importance“, als „Wichtigkeitskoeffizient“ operiert.⁵⁸ Dennoch gilt, dass was als Selbst erkannt und geschrieben werden kann, niemals das ganze oder reine Selbst sein kann, sondern lediglich ein Gegenteil, ein „Antégo“ erfasst. Vor diesem Hintergrund setzen die analysierten Schreib-Szenen von Emotionen weniger spezifische Persönlichkeitsmerkmale des Schreibers als die kulturelle wie individuelle Verknüpfung bestimmter affektiver Reaktionen auf bestimmte formale Objekte in Szene. Und dennoch verabschiedet Valéry trotz zahlreicher Eintragungen über das abstrahierte „Moi zéro“ die Vorstellung einer Einzigartigkeit oder Unverwechselbarkeit des „Moi“ nicht zur Gänze, wenn er sich gegen eine Verdoppelung von Gesehenem, Gefühltem oder bereits Erfasstem durch das Schreiben wendet. Hierzu wird der „ennui“, der mit einer Dublette von bereits gemachten Erfahrungen assoziiert wird, als einflussreiche Emotion des Schreibens explizit genannt: J’ai une étrange répugnance – un fastidium à écrire ce que j’ai vu. Cela me rebute – m’ennuie. Je sens que cela ne coûte que de l’ennui, et toute la grossièreté de l’approximation qu’est une description d’hommes et de choses. Je sens que je puis, – une fois la plume intervenue, faire ce que je veux de ce qui fut. Prendre et laisser. Ou bien, il faudrait faire un procès-verbal – et quel ennui! [Ich habe eine merkwürdige Abneigung – ein fastidium, hinzuschreiben, was ich gesehen habe. / Das stößt mich ab – ödet mich an. / Das kostet keinerlei Anstrengung – außer der Langeweile. / Und ständig spüre ich, daß die Beschreibung von Menschen und Dingen doch nur ein höchst grobes Annäherungsverfahren ist. Ich spüre, daß ich, wenn erst einmal die Feder dabei ist, mit dem, was war, machen kann, was ich will. Genausogut aufnehmen wie nicht aufnehmen. Oder aber man müßte ein Protokoll anfertigen – du liebe Zeit!]⁵⁹

Diese Schreib-Szene des „ennui“ rollt das Bedeutungsfeld des „ennui“ auf, das von einfacher extrinsisch motivierter Langeweile oder Mühsal über existenziellen „ennui“ bis zum impliziten Stimulus der kreativen Handlung, nämlich anders und anderes als das Gesehene, Empfundene und Erlebte zu schreiben, reicht.⁶⁰ Be-

 Ebd. sowie Ceylerette-Pietri: Valéry et le Moi, S. 35. Auf zeitgenössische digitale Schreibpraxen bezogen wäre zu fragen, ob auch maschinengestützte Sprach- und Schreibproduktionen über einen äquivalenten Faktor verfügen, der eine zentrale Schnittstelle artifizieller Intelligenz bildet.  Valéry: Cahiers I (1973), S. 275; dt. Übers. nach Valéry: Hefte 1 (1987), S. 347 f.  Zum „ennui“ als ästhetische Emotion in der Moderne und insbesondere in Paul Valérys Poetik vgl. Rita Rieger: Gegen die Langeweile. Tanz und Sprachhandlungen in Paul Valérys ‚L’Âme et la Danse‘, in: Ästhetische Emotion. Formen und Figurationen zur Zeit des Umbruchs der Medien und Gattungen (1880‒1939), hg. von Susanne Knaller und Rita Rieger, Heidelberg 2016, S. 201– 218, hier S. 204–207.

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Rita Rieger

schreibungen von Perzeptionen werden hierbei nicht nur als mühsam, sondern auch als unzureichende Annäherungen an die Wirklichkeit präsentiert. Jedes (Be-)Schreiben impliziert eine Selektion wie ein konstruktives Moment, das auf die Selektionsentscheidungen des schreibenden „Moi“ rückverweist. Andernfalls müsste man ein Protokoll verfassen, das wiederum in Valérys Analyse des deskriptiven Schreibens die Klimax von Schreib-Szenen des „ennui“ darstellt und durch eine möglichst nicht verfremdende Wiederholung von bereits angeeignetem Wissen den Gegenpol zum Schreibvergnügen bildet.

5 Kurzes Fazit Weder das Machen allein als körperliche Geste, als sinnenthobenes Vergnügen im Sinne Barthesʼ, noch die sprachlich-gestisch-technische Handlung insgesamt können meines Erachtens das formale Objekt von Paul Valérys Schreibvergnügen bilden. Ersteres wäre zu kurz gegriffen, da es sich nur auf die physische Tätigkeit und deren Empfindung bezöge. Zweiteres wäre zu weit gegriffen, da auch andere Komponenten des Ensembles, wie etwa eine neue Feder, Format und Haptik der Hefte, sprachliche und metrische Stilübungen oder veränderte Körperhaltungen in ihrem Zusammenwirken das formale Objekt des Schreibvergnügens bilden könnten. Von zentraler Bedeutung erscheint mir hingegen Valérys Bemerkung, dass sich ein „ennui“ einstelle, wenn Schreibhandlungen ohne Erkenntniszuwachs für den Schreibenden erfolgen. Wenn es an Anreiz mangelt, im und durch das Schreiben neue Verbindungen und Relationen zu generieren und aufzuzeichnen, fehlt auch das auf das schreibende Ich wirkende Transformationspotenzial des Schreibens – und, Paul Valérys Logik weiterführend, die Sicherung der Fortdauer des Schreibens und der dynamischen Beziehung zwischen Schreibenden und Umwelt. „Ennui“ und Schreibvergnügen bilden die beiden Enden einer emotionalen Skala des Schreibens. Wobei das erkenntnisgenerierende Moment des Schreibens das formale Objekt des Vergnügens bildet und zugleich das Selbst konstituiert, indem schreibend Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Dingen und deren Formen sowie der mentalen Tätigkeit, den Empfindungen und der physischen Schreibhandlung aufgezeigt und aufgezeichnet werden. Weder manisch im Sinne eines durch Enthusiasmus entrückten Dichtergenies noch rein körperlich-handwerklich präsentiert sich Valérys Schreibvergnügen, vielmehr geht es aus der stimulierenden Tätigkeit des Erkennen-Könnens von Konstruktionsprinzipien, Wirkungsmechanismen und Arbeitsprozessen verschiedenster Dinge hervor. Diese Freude hervorrufenden Erkenntnisse werden im und durch das Schreiben gewonnen, lassen den Körper morgens um fünf Uhr

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aufspringen, wirken immer auf das schreibende Ich zurück, wodurch der Schreibprozess kontinuierlich transformiert wird, und garantieren derart für das Fortdauern des sich der Schreib-Szene letztendlich doch entziehenden „Moi scripteur“.

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Schreiben über das Schreiben – Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Robert Musil Drei Konzepte, die sich als zentral für die Analyse literarischer Schreibprozesse erwiesen haben, stehen im Mittelpunkt des Beitrags: die ‚Schreibszene‘, eingeführt von Rüdiger Campe für den konkreten Akt des Schreibens und weiterentwickelt von der Forschungsgruppe Genealogie des Schreibens um Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti, die im Kontrast dazu die ‚Schreib-Szene‘ profiliert haben:¹ Der Autor, die Autorin reflektiert, thematisiert, problematisiert das Schreiben selbst, indem er/sie auf Widerstände stößt und diese zu überwinden sucht.² Ich habe dies 2019 um die ‚Überlappungszone‘ zwischen Schreibszene und Schreib-Szene ergänzt.³ Denn es ist ein entscheidender Unterschied, ob eine Schreib-Szene publiziert wurde (etwa in einem Buch) oder während des Schreibens als Schreiben über das Schreiben stattfand. In diesem Fall überlappen sich konkrete Schreibszene und Schreib-Szene. Dies möchte ich exemplarisch an Robert Musils Schreiben erläutern.

1 Die Schreibszene Campe definiert die ‚Schreibszene‘ als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“.⁴ Im Hintergrund kreuzen sich meines Erachtens vier

 Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772; Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von Martin Stingelin unter Mitarbeit von Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7–21; Rüdiger Campe: Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreibszene, in: ‚Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen‘. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, hg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2005, S. 115–132; zur Forschungsgruppe Genealogie des Schreibens http://www.schreibszenen.net/ (letzter Zugriff 14.05.2021).  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 759–772; Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 7–21.  Anke Bosse: ‚Die Wortmaschine … wird jetzt in Betrieb genommen.‘ Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Josef Winkler, in: Textgenese in der digitalen Edition, hg. von Anke Bosse und Walter Fanta, Berlin/Boston 2019, S. 291–304, hier S. 295 f.  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 760. https://doi.org/10.1515/9783110792447-013

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Anke Bosse

‚turns‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften: der ‚linguistic turn‘, der ‚medial turn‘ und der ‚material turn‘ sowie der ‚performative turn‘. Zum Schreiben bedürfen wir des Wissens, wie wir mit Sprache umgehen müssen, damit verständliche Sätze entstehen (‚linguistic turn‘). Schreiben bedarf bestimmter medialer und materieller Bedingungen, wie sie im ‚medial und material turn‘ in den Blick rücken; daher treten zur Sprachlichkeit und Semantik des Schreibens noch zwei weitere, wesentliche Elemente hinzu: die Instrumentalität und Technologie sowie die Körperlichkeit des Schreibens.⁵ Um das mental Formulierte im Schreiben fixieren zu können, sind Schreibinstrumente und ‐materialien nötig. Sie sind abhängig von der jeweiligen medientechnischen Entwicklung, die vom Holzkeil zum Smartphone, von der Tontafel zur digitalen Datei führte. Hier verbinden sich Instrumentalität und Technologie des Schreibens mit seiner Körperlichkeit, also der Fertigkeit, Schreibmaterialien und ‐instrumente so einzusetzen, dass Schreiben gelingt. Campe ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass bereits der Begriff ‚Schreibszene‘ deutlich macht, dass Schreiben immer ein dynamisches Handeln und eine Performance vor Publikum ist – und dies verbindet es mit dem ‚performative turn‘. Das Publikum der Schreib-Performance sind zunächst die Autor:innen selbst, die während des Schreibens Leser:innen der eigenen Texte sind. Erst viel später treten die Leser:innen der Bücher hinzu. Schreiben ist also theatral, ist immer ein Gegenüber von Akteur:in und Zuschauer:in bzw. Leser:in.⁶ Während des Schreibens fallen beide Rollen ko-präsent in der schreibenden Person zusammen, Schreibszene und Leseszene konvergieren.⁷ Dahingegen sind im Gegenüber von Schreiber:in und (Buch‐)Leser:in die Schreibszene und die Leseszene unwiderruflich getrennt, das Gegenüber ist zeitlich und räumlich versetzt, vermittelt durch das Medium Buch. Ist das Gegenüber eine andere Person,

 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [frz. 1964/1965]. Frankfurt a. M. 1988, S. 292–332; Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985.  Zur Theatralität und ihrer Ableitung vom Theater, das zwingend die Ko-Präsenz von Akteur:in und Zuschauer:in voraussetzt, vgl. Klaus Lazarowicz: Einleitung, in: Texte zur Theorie des Theaters, hg. von Christopher Balme und Klaus Lazarowicz, Stuttgart 1991, S. 19‒38, hier S. 23 und Anke Bosse: Retheatralisierung in Drama und Theater der Moderne. Das Spiel im Spiel, in: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, hg. von Thomas Anz und Heinrich Kaulen, Berlin/New York 2009, S. 417–430, hier S. 418 f.  Zur Leseszene Uwe Wirth: Lesespuren als Inskriptionen. Zwischen Schreibprozessforschung und Leseprozessforschung, in: Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Anke Jaspers und Andreas B. Kilcher, Göttingen 2020, S. 37–63; Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, Heidelberg 2020.

Schreiben über das Schreiben

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ein:e (Buch‐)Leser:in, kommen umso mehr theatrale Inszenierungspraktiken auf Seiten der Akteur:in ins Spiel. Doch Inszenierungspraktiken setzen schon viel früher ein, nämlich in der konkreten Schreibszene, insofern das Schreiben als Performance darauf angewiesen ist, seine Gelingensbedingungen in Szene zu setzen: um schreiben zu können, werden ein bestimmter Ort, ein bestimmtes Schreibinstrument, bestimmtes Schreibmaterial von der Autorin, vom Autor arrangiert. Wir haben es also mit mehreren Ebenen der Inszenierung und diversen Inszenierungspraktiken zu tun. Daher ergänze ich Campes drei Kriterien der ‚Sprachlichkeit‘, ‚Körperlichkeit‘ und ‚Instrumentalität‘ mit einem vierten, der ‚Theatralität‘ des Schreibens.⁸ All dies muss ineinandergreifen, damit Schreiben gelingt. Dies gilt umso mehr für literarisches Schreiben. Wenn ein Autor wie Robert Musil ins Ungesagte und Unbekannte vorstößt, braucht er umso mehr eine wohlinszenierte Schreibszene mit spezifischen Gelingensbedingungen. Robert Musil, 1880 in Klagenfurt geboren,⁹ starb 1942 im Schweizer Exil in Genf. Er hinterließ einen der wohl umfänglichsten und komplexesten Nachlässe der deutschsprachigen Literatur. Dieser setzt sich zusammen aus 64 Mappen und 40 Heften und umfasst insgesamt ca. 12.000 Manuskriptseiten. Er liegt heute im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek¹⁰ und wurde 2014 in das UNESCO-Programm Memory of the World / Gedächtnis der Menschheit aufgenommen mit folgender Begründung: Der Nachlass dokumentiert die Entstehungsgeschichte des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ und er enthält die Romanfortsetzung, an der Musil bis zu seinem Tod 1942 arbeitete, ohne sie abzuschließen. […] Der Nachlass ist in seiner Gesamtheit […] als Werk sui generis zu betrachten, als literarisch-philosophisches Laboratorium […]. [Hervorh. A.B.]¹¹

Den Nachlass als „Werk sui generis“, als „literarisch-philosophisches Laboratorium“ zu bezeichnen, löst ihn aus dem Konnex mit dem Romanprojekt Der Mann

 Im Verlauf des ‚performative turn‘ setzte sich die Erkenntnis durch, dass sowohl Sprechen als auch Schreiben Handeln ist. Beides ist Handeln vor Publikum – ob vor anderen Menschen als adressiertes Gegenüber oder vor sich selbst als Adressat:in; vgl. dazu auch Anm. 6 dieses Beitrags.  In Musils Klagenfurter Geburtshaus hat neben dem Musilmuseum der Stadt Klagenfurt das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt seinen Sitz, das ich seit 2015 leite.  Österreichische Nationalbibliothek. Literaturarchiv, Nachlass Robert Musil. LIT 459/17; https://www.onb.ac.at/bibliothek/sammlungen/literatur/bestaende/personen/musil-robert1880-1942 (letzter Zugriff 01.10. 2021).  https://www.unesco.at/kommunikation/dokumentenerbe/memory-of-austria/verzeichnis/de tail/article/nachlass-robert-musil (letzter Zugriff 14.06. 2021).

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ohne Eigenschaften. Tatsächlich repräsentieren Musils Nachlass-Manuskripte „schreibendes Denken / denkendes Schreiben“¹² einen unablässigen, offenen Prozess. Da macht es keinen Sinn, ein ‚Werk‘ editorisch zu rekonstruieren.¹³ Sinnvoll ist vielmehr, von vornherein auf die Darstellung des Schreibprozesses zu fokussieren. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass – wie die UNESCO ebenfalls festhielt – Musils im Nachlass überlieferte Arbeit die „Entstehungsgeschichte des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ […] dokumentiert“, dass sie auf eine Fortsetzung des Romans zielte. Denn im Nachlass liegen nicht nur ca. 2.000 Seiten Manuskripte, die sich der Entstehung von Erstem Buch und erstem Teil des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften zuordnen lassen, die Musil 1930 bzw. 1932 publizierte, sondern auch ca. 3.000 Seiten Manuskripte zu seinen Fortsetzungsversuchen in den Jahren 1933 bis zu seinem Tod 1942 sowie ca. 2.000 Seiten Manuskripte mit Vorstufenprojekten zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften aus den Jahren 1902 bis 1928, die Musil für die Weiterarbeit aufbewahrt hatte. Weitere Teile des Nachlasses sind mit dem Romanprojekt über inhaltliche Bezüge und Musils spezifisches Verweissystem verknüpft (ca. 3.000 Seiten). Doch das Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften blieb unvollendet. Dafür gibt es externe und interne Gründe. Die externen Gründe liegen in Musils immer prekäreren Lebensumständen. Zweimal war er damit konfrontiert, von Publikationsmöglichkeiten, ja vom Literatur- und Kulturbetrieb überhaupt radikal abgeschnitten zu werden: Erst zwang ihn die Installation des Nazi-Regimes 1933 in Deutschland, aus Berlin nach Wien auszuweichen;¹⁴ dann zwang ihn die Annexion Österreichs 1938 durch NaziDeutschland, mit seiner jüdischen Frau Martha ins Schweizer Exil zu fliehen. Hier schrieb Musil fast nur noch ‚für die Schublade‘ bzw. ‚den Schreibtisch‘. Die internen Gründe dafür, dass Der Mann ohne Eigenschaften unvollendet und für immer Projekt blieb, liegen in Musils Schreiben selbst. Es war immer weniger zielgerichtet, blieb Prozess und Laboratorium. Er hielt die Kapitelfolge offen,

 Walter Fanta: Die textgenetische Darstellung des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ von Robert Musil auf ‚Musil online‘, in: Textgenese in der digitalen Edition, hg. von Anke Bosse und Walter Fanta, Berlin/Boston 2019, S. 225–245, hier S. 226 f.  Hierzu Walter Fanta: ‚Man kann sich das nicht vornehmen‘. Adolf Frisé in der Rolle des Herausgebers Robert Musils, in: Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren, hg. von Roland S. Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta, Berlin/Boston 2011, S. 251–286.  Konkrete Anlässe waren unter anderem der Überfall einer SA-Formation auf Musils Verlag Rowohlt und die Auflösung der Berliner Musil-Gesellschaft im Februar 1933.

Schreiben über das Schreiben

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kehrte immer wieder zu bereits bearbeiteten Kapitelentwürfen zurück, arbeitete immer wieder um. Musils Schreiben verzweigte sich so sehr, dass das Verweissystem immer wichtiger wurde, um sich noch orientieren zu können. Vor allem verfasste er in der Spätzeit eine stetig wachsende Zahl von ‚Studienblättern‘, die die Entwurfsarbeit begleiteten und reflektierten (ca. 2.000 Seiten) sowie ‚Schmierblätter‘ mit Formulierungsversuchen (ca. 1.700 Seiten). Dagegen verringerte sich der Anteil von Romanentwürfen auf ca. 750 Seiten. Umso mehr wurde Musils Schreiben zu einem schreibenden Denken / denkenden Schreiben, das um sich und in sich kreist. Als ich mein Modell aus Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene an den Schreibanfängen Josef Winklers entwickelte,¹⁵ hat Walter Fanta es auf die Schlussszene des Musilʼschen Schreibens übertragen.¹⁶ Das Arrangement seiner Papiere, Mappen und Hefte auf dem Schreibtisch ist die In-Szene-Setzung seiner Schreibszene, die – obwohl wohlinszeniert – immer weniger zum Gelingen beitrug. In den letzten Lebensmonaten verlangsamte sich Musils Schreiben immer mehr, es stand sich zunehmend selbst im Wege. Wie die dann finale Schreibszene inszeniert war und was sie enthielt, kann aus Musils Übersiedlungsinventar von April 1941 rekonstruiert werden, das im Nachlass überliefert ist.¹⁷ Im Chemin des Grangettes notierte Musil minutiös, was auf dem Schreibtisch, in den Schränken, in den Büffets lag, um es in derselben Ordnung im Chemin des Clochettes wiederherzustellen (Abb. 1). Exakt ein Jahr vor seinem Tod kommentierte Musil im Inventar eine Auflistung jener sechs Mappen von insgesamt 52, die er in Genf noch in Verwendung hatte, und bot damit eine Beschreibung seines Schreibtischs und seiner Schreibszene. Kurz nach seinem Tod hat seine Frau Martha ein Register dessen angelegt, was sie im Arbeitszimmer ihres Mannes vorfand und zu diesen sechs Mappen vermerkt: „Auf dem Schreibtisch gelegen“¹⁸ (Abb. 2, rote Umrandung).

 Bosse: Die Wortmaschine, S. 295–304.  Fanta: Die textgenetische Darstellung, S. 234–237.  ÖNB digital. Nachlass Musil: Blaue Mappe, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces? doc=DTL_8533288&order=1&view=SINGLE, S. 172 (letzter Zugriff 03.03. 2022) sowie Robert Musil: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino unter Mitwirkung von Rosmarie Zeller, erarb. am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 2004 (= Klagenfurter Ausgabe, im Folgenden zit. als KA), Stand Juli 2015 mit DVD: Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Mappen, Blaue Mappe, S. 129.  KA, Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Mappen, Mappengruppe VIII, Mappe VIII/7, S. 24; Mappe VIII/7 erscheint demnächst auf ÖNB digital.

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Abb. 1: Musils Schreibtisch in Genf, Chemin des Clochettes. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Universität Klagenfurt. Bestand Karl Corino. Sign. 1591040027.¹⁹

In der finalen Schreibszene darf man sich laut Fanta²⁰ die drei Tagebuch- und Notizhefte mit den Nummern 30, 32, 34, in die Musil am Ende noch schrieb, und die Mappe mit Briefkonzepten vorstellen, zuoberst das letzte Briefkonzept an Henry Hall-Church. Es liegt in der Mappe „Schreibtisch zuletzt“.²¹ Dieser Epitext zeigt noch einmal das Schwanken zwischen der Hoffnung, publizieren zu können, und dem Verbleib im Echoraum des eigenen Schreibens:  Abgedruckt in: www.aau.at/musil/publikationen/aktuelles/musil-publikationen-textgenese/ fanta/ Folie 13, 240.  Fanta: Die textgenetische Darstellung, S. 235–237. Die Forschung hat in jahrzehntelanger Arbeit die chronologischen Verhältnisse zwischen den Textzeugen im Nachlass sehr genau erschlossen. Alle Textzeugen wurden einem Datierungsabschnitt (DA) zugewiesen. Es wurden insgesamt 9 Hauptabschnitte mit insgesamt 44 Unterabschnitten identifiziert. Die Schlussszene stimmt überein mit dem Datierungsabschnitt DA 9‒6 von Mitte Januar 1942 bis 15. April 1942, in dem Musil kaum anderes tat, als die letzte Fassung des Romankapitels Atemzüge eines Sommertags zu überarbeiten. Dazu schrieb er Notizen, die er in der ‚Arbeitsmappe‘ (Mappe V/5) ablegte, und Entwürfe, die er in der ‚Reinschriftmappe‘ (Mappe V/6) aufbewahrte; vgl. hierzu Anm. 24 und 25 dieses Beitrags sowie Walter Fanta: Datierungen, in ‚Musil Online‘, hg. vom Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv und dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Klagenfurt/Wien 2022, Version 0.1a, März 2022, https:// edition.onb.ac.at/musil/o:mus.date/methods/sdef:TEI/get (letzter Zugriff 15.03. 2022).  ÖNB digital, Nachlass Robert Musil: Briefkonzepte IV, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/ viewer.faces?doc=DTL_8584394&order=1&view=SINGLE (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Mappen, Weitere Mappen, Briefkonzepte IV.

Schreiben über das Schreiben

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Abb. 2: Register des Materials, das zum Todeszeitpunkt Musils in seinem Arbeitszimmer und auf seinem Schreibtisch lag. Typoskript mit handschriftlichen Anmerkungen Martha Musils. Österreichische Nationalbibliothek. Nachlass Robert Musil. Signatur Ser.nov. 15.119, S. 27.²²

 Mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

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Der Hauptschaden ist aber der, obwohl es zugleich auch ein Hauptnutzen ist, daß ich bis dahin nur auf meine eigene Stimme höre und dadurch Gefahr laufe kein Ende finden zu wollen; denn auch die Einsamkeit erzeugt einen Rausch, der redselig macht. Ich gedenke darum mich schon jetzt nach einem Verleger wenigstens umzusehn, soweit das bei den allseitigen Blockaden dazu möglich ist. Kennen Sie vielleicht die Oxford Press, eventuell einen der Verlage in USA? […] Ich hoffe in wenigen Wochen darangehen zu können, die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben zu können; sie wird dann druckfertig sein, aber seine zweite Hälfte ist leider noch sehr im Rückstand.²³

Auf dem Schreibtisch liegen außerdem die gelbe Mappe mit „Sch[mierblättern] zu “Korr. III 88“ und das letzte Notizblatt in der ‚Arbeitsmappe‘ mit „letzten Arbeiten“ zum „Schlußblock“; es ist mit der Sigle „K XIII 11“ in Musils Verweissystem eingebunden.²⁴ Dazu liegen aufgeschlagen in der dunkelblauen ‚Reinschriftmappe‘ die letzte Entwurfsseite des letzten Romankapitels Atemzüge eines Sommertags ²⁵ und das letzte Notiz- und Tagebuchheft 30 mit der letzten Eintragung: Rauchen: Wem es eine verlockende Vorstellung ist, eine Zigarette zu rauchen und zu schreiben, wird ohne sie nicht schreiben können. (Ähnlich wie ein Sherlock Holmes scheinbar nicht ohne Pfeife nachdenken kann). Schaffe dir die Vorstellung, daß es nur ohne das [Rauchen] ungehemmt genußvoll ist zu arbeiten!²⁶

Dieses inszenierte Arrangement auf dem Schreibtisch umfasst laut Fanta alles, was das Schreiben Musils ausmacht – und zwar in jeder beliebigen Schreibphase seit 1919/1920 bis zu dieser finalen Schreibszene.²⁷ Wir haben hier also den Fall einer seit mehr als zwei Jahrzehnten wohlinszenierten Schreibszene, die aber am Ende nicht mehr zum Gelingen beitrug. 1919/1920 war Musil Beamter im Archiv des Pressediensts im Außenministerium und psychologischer Fachbeirat im Heeresministerium. In seinem behördlichen Büro entwickelte er seine genuine Schreibszene: gleichzeitige Präsenz von Entwurf, Notiz, Verweis, Heft, Brief;

 ÖNB digital, ebd., S. 16; sowie KA, ebd., S. 11.  ÖNB digital, Nachlass Robert Musil, Mappe V/5, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer. faces?doc=DTL_8093399&order=1&view=SINGLE, S. 3 und S. 305 (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Mappengruppe V, Mappe V/5, S. 1 und S. 250.  ÖNB digital, Nachlass Robert Musil, Mappe V/6, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer. faces?doc=DTL_7956352&order=1&view=SINGLE, S. 46 (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Mappengruppe V, Mappe V/6, S. 42.  ÖNB digital, Nachlass Robert Musil, Heft 30, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.fa ces?doc=DTL_8861787&order=1&view=SINGLE, S. 136 (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Hefte, Heft 30, S. 130.  Fanta: Die textgenetische Darstellung, S. 237–240.

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‚Wandern‘ von Textteilen zwischen ihnen; Verweise aufeinander durch das Siglensystem ‒²⁸ letzteres ein hypertextuelles Verweissystem, das die Hyperlinks in digitalen Texten vorwegnimmt.

2 Die Schreib-Szene Mit dem Briefkonzept an Hall-Church und der Notiz zum Rauchen und Schreiben bewegen wir uns auf die ‚Schreib-Szene‘ zu: Der Autor, die Autorin reflektiert, thematisiert, problematisiert das Schreiben selbst, indem er/sie auf Widerstände stößt und diese zu überwinden sucht.²⁹ Sind nicht Musils ausufernde kommentierende ‚Kapitelstudien‘ auf den Studienblättern der Spätzeit Schreib-Szenen? Ist nicht sein ganzes schreibendes Denken / denkendes Schreiben geradezu prädestiniert für die selbstreflexive Schreib-Szene? Nehmen wir die Notiz zum Rauchen – Musil war starker Raucher. Gemäß dieser Notiz gerät derjenige, der sich vorstellt, ohne Rauschmittel – hier das Nikotin der Zigarette – nicht schreiben zu können, in genau diese Abhängigkeit. Nach dieser auf alle gemünzten Bemerkung und einem Sidestep Richtung Sherlock Holmes folgt eine selbstadressierte Aufforderung: „Schaffe dir die Vorstellung, daß es nur ohne das [Rauchen] ungehemmt genußvoll ist zu arbeiten!“ [Hervorh. A.B.] – also eine Aufforderung, sich durch pure Vorstellungskraft von der Abhängigkeit zu befreien. Allerdings blieb das Publikum dieser Notiz genauso wie des Briefkonzepts … Musil selbst. Ich möchte daher vorschlagen, die ‚Schreib-Szene‘ dahingehend zu präzisieren, dass sie im publizierten Buch den Autor:innen dazu dient, ihr Schreiben und damit sich selbst gleichsam auf eine Bühne zu heben – ein wirkungsvolles Theater, das der posture des Autors, der Autorin zuarbeitet, wie sie Jérôme Meizoz im Anschluss an Bourdieus ‚Habitus‘-Begriff entwickelt hat.³⁰ Im Buch treten

 Eine wohlinszenierte Schreibszene wie diese, mit spezifischen Gelingensbedingungen, gilt je individuell angepasst für alle Autorinnen und Autoren. Sie ist die materiale Voraussetzung der Autor-Werdung, des Autor-Seins. Schreiben wird – nach Roland Barthes – zu einer Lebensform; Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb? [frz. 1984], in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Essais IV, Frankfurt a. M. 2006, S. 18–28. Im Falle Musils spitzte sich dies im Genfer Exil gezwungenermaßen zu. Völlig auf das Schreiben reduziert, isoliert, abgeschnitten von jeglicher Publikationsmöglichkeit und auch vom literarischen und kulturellen Betrieb, brauchte er das Schreiben, um überleben, weiterleben zu können, um seinem Leben Sinn und Struktur zu geben.  Campe: Die Schreibszene, Schreiben, S. 759–772; Stingelin: Schreiben. Einleitung, S. 7–21.  Jérôme Meizoz: Posture littéraires. Mises en scène modernes de l’auteur, Essai, Genf 2007; ferner ders.: Die ‚posture‘ und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq, in: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, hg. von Markus Joch und Norbert C.

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Anke Bosse

Schreib-Szenen als inszenatorische Selbstdarstellungen wie im Theater vor ein Publikum – nun vor die Leserinnen und Leser. Die Theatralität und Inszeniertheit des Schreibens ist also in der Schreib-Szene des publizierten Buchs (oder eines anderen öffentlichen Mediums) besonders evident. Dass wir im Buch meist wenige Indizien haben, die uns erlauben, den Grad des Inszenatorischen zu ermessen, führt dazu, dass oft zu das Schreiben erläuternden Epi- und Peritexten gegriffen wird – mit all den Unwägbarkeiten, die insbesondere Selbstdarstellungen und Selbstdeutungen von Autor:innen innewohnen.³¹ Gerade Musils Briefentwurf an Henry Hall-Church zeigt ein Schwanken zwischen dem Eingeständnis des Scheiterns und der – trotz labiler Gesundheit – deklarierten Überzeugung, den nächsten umfänglichen Teil des Mann ohne Eigenschaften bald abzuschließen und sich daher – trotz der kriegsbedingten „Blockaden“ – nach einem Verlag umzusehen. Zu diesem ‚Abschluss‘ gibt es im Nachlass keine Hinweise. Brauchte Musil eine Opus-Fantasie – das „im kreativen Prozeß vorphantasierte Werk“ ‒³² nicht nur, um Hall-Churchs Unterstützung bei der Verlagssuche einzuwerben, sondern um überhaupt schreiben zu können? Dass die Selbsteinschätzung auch eines so hoch reflektierten Autors wie Musil erstaunlich fehlgeht, zeigt sich, als er Ende 1941, nur vier Monate vor seinem Tod und inmitten von mehr als 12.000 Manuskriptseiten sitzend, notierte: „Einfall: Ich bin der einzige Dichter, der keinen Nachlaß haben wird. Wüßte nicht wie.“³³

Wolf, Tübingen 2005, S. 177–188; Anke Bosse: Inter- und transmediales Schreiben bei Josef Winkler – Performance, Poetologie, ‚posture‘, in: Inter- und transmediale Ästhetik bei Josef Winkler, hg. von Anke Bosse, Christina Glinik und Elmar Lenhart, Berlin/Heidelberg 2022, S. 279– 300.  Nicht zuletzt bieten die Textzeugen im Archiv die Möglichkeit, die öffentlichen Selbstdarstellungen eines Autors kritisch zu beleuchten, die er zu seinem Schreiben nicht nur in seinen literarischen Texten, sondern auch in Epitexten wie Interviews, Briefen, Tagebucheinträgen etc. macht. All dies kann einem größeren Publikum erst durch textgenetische Editionen oder Darstellungen, durch Rekonstruktion und Darstellung von Schreibprozessen zugänglich gemacht werden.  Peter von Matt: Die Opus-Phantasie. Das phantasierte Werk als Metaphantasie im kreativen Prozeß, in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur, München/Wien 1994, S. 43–60, hier S. 49 [Hervorh. i. O.].  KA, Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Hefte, Heft 33, S. 116 (erscheint demnächst auf ÖNB digital). Angesichts der äußerst prekären wirtschaftlichen und gesundheitlichen Situation Musils kann sich seine Bemerkung natürlich auch darauf beziehen, dass er keine Hoffnung hatte, seine Papiere und Unterlagen könnten nach seinem Tod gerettet und gar einem Archiv überantwortet werden.

Schreiben über das Schreiben

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3 Überlappungszone Hier kommt die von mir vorgeschlagene Überlappungszone ins Spiel, in der sich Schreibszene und Schreib-Szene überlappen.³⁴ Denn bereits während des Schreibens reflektieren, thematisieren, problematisieren Autor:innen ihr Schreiben. Während des Schreibens schreiben sie über das Schreiben – und genau das geschieht hier bei Musil. Die entsprechenden ‚Spuren‘ der Überlappung von konkreter Schreibszene und das Schreiben reflektierender Schreib-Szene finden sich im Nachoder Vorlass im Archiv, nicht im publizierten Buch. Im Buch finden wir die SchreibSzene als Inszenierung, öffentliche Bühne des Autors, der Autorin, weil fremdadressiert an die Leser:innen. Während des Schreibens in der Überlappungszone aber sind die Reflexionen zum Schreiben und das Schreiben über das Schreiben selbstadressiert. Sie haben den Autor, die Autorin selbst als Publikum und sind dementsprechend anders inszeniert. Dies gilt für Musils Notizen zum Rauchen und Schreiben und zum vermeintlich nicht vorhandenen „Nachlaß“. Beim Briefkonzept sieht es etwas anders aus: Epistolarisches Schreiben ist immer fremdadressiert, allerdings nicht öffentlich, sondern privat zwischen Sender:in und Empfänger:in. Es ist stets auch selbstadressiert, da oft der Selbstreflexion dienend – wie hier Musils Briefkonzept, das letztlich nie zum Brief an Hall-Church wird, aber mit der Imago dieses Adressaten arbeitet. Das Briefkonzept verbleibt genauso wie die Notizen zum Rauchen und Schreiben und zum Nachlass in der Überlappungszone von Schreibszene und Schreib-Szene. Für immer. Textpassagen, die in der Überlappungszone entstehen und uns Einblick gewähren in das Schreiben über das Schreiben während des Schreibens, können prinzipiell zwei ‚Wege‘ nehmen: 1. Sie verbleiben in der Überlappungszone und kommen nicht ins Buch oder ein anderes öffentliches Medium, vor das Publikum. Dann bilden sie einen autozentrierten Echoraum des Schreibens, der dem Publikum zwangsläufig verschlossen bleibt. Einblicke in diesen Echoraum haben jeweils nur der Autor, die Autorin und – später – die Forscher:innen, die Zugang zum Nachoder Vorlass im Archiv haben. Solche selbstadressierten Passagen weisen eine große Bandbreite auf: Es gibt selbstadressierte Schreibanweisungen, autoreflexive und autokommentierende Passagen zum Schreibakt selbst und zu seinen materialen, mentalen, psychischen Gelingensbedingungen, Zeugnisse des Scheiterns, die jenseits von Schrift und sogar jedes Zeichens sein können, wie z. B. leere Blätter.

 Bosse: Die Wortmaschine, bes. S. 295 f.

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2.

Anke Bosse

Die selbstadressierten, das Schreiben reflektierenden Textpassagen können aber auch den zweiten Weg nehmen und ins publizierte Buch (oder ein anderes öffentliches Medium) gelangen. Dort fungieren sie dann als Schreib-Szene vor Publikum. Ihre Genese, ihre Modifikationen zu rekonstruieren, ist insofern aufschlussreich, weil sich so herausarbeiten lässt, wie sich die (Selbst‐)Inszenierung des Autors, der Autorin – ihre posture – verändert, je mehr sich ein Schreibprojekt der Publikation vor Publikum nähert.

Für den ersten Fall bieten Musils Notizen zum Rauchen und Schreiben sowie zum Nachlass schlagende Beispiele. Doch gerade dieser ‚Fall‘ ist bei Musil der notorische. Mit den sogenannten ‚Studienblättern‘ liegt ein Material- und Textsortentypus vor, der für Musils Schreiben am Projekt des Mann ohne Eigenschaften charakteristisch ist: Sie tragen Notizen, die nicht nur der Planung und Konzeptualisierung des Romantexts dienen, sondern vor allem „die bisherige Produktion reflektieren, die weitere Produktion von Entwürfen begleitend kommentieren“.³⁵ Kurz: Sie bezeugen Musils Schreiben über das Schreiben, die Konvergenz von Schreibszene und Schreib-Szene in der Überlappungszone, ja sie „bilden geradezu die ‚Überlappungszone‘“.³⁶ Mit 2.013 Manuskripten bilden die Studienblätter den eindeutig größten Anteil an Musils Nachlass. Das Schreiben über das Schreiben, das Kommentieren und Reflektieren umfasst bei Musil die ganze Bandbreite der oben unter 1. genannten selbstadressierten Passagen. Bei ihm aber überwuchert sein Schreiben über das Schreiben mehr und mehr das Schreiben am Romanprojekt selbst, sodass es die Arbeit an diesem behinderte, ja letztlich blockierte. Um dies zu illustrieren, sei aus diesem höchst umfänglichen Korpus nur ein Beispiel herausgegriffen, das in der oben genannten ‚Arbeitsmappe‘ mit „letzten Arbeiten“ zum „Schlußblock“ zu finden ist. Es geht um die Frage, wie Gefühl fassbar und darstellbar ist: „Ausgangspunkt“: Gefühl = Verhalten! hat sich während der Ausführung als ungenügend herausgestellt. Nebenbei auch das Schwanken zw. zuviel u zuwenig Theorie nicht beruhigt. Das Referieren eines Teils der Theorien darf nur eine illustrative Bedeutung haben; aber anderseits ist es ganz natürlich, daß es viele Theorien gibt, u. sie haben noch viele Unerwähnte Pro und Contraʼs, u. das Ganze geht uns nichts an. Absicht: Ich muß meine Auffassung korrigieren u. von dieser These über das Gefühl ausgehend, wird sich möglicherweise der referierende Teil vereinfachen lassen u. u.U. wieder auf 1 Kapitel zusammenziehn. […]

 Fanta: Textgenetische Darstellung, S. 241.  Ebd.

Schreiben über das Schreiben

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Entscheidung: Daß Fühlen als zuständlich erscheint, hängt mit dem Begriff der Person zusammen. U. eigentlich hat es da erst Interesse. Wie ich es behandelt habe, ist etwas überholt! Es äußert sich wirklich als Zustand der Person, ist es auch, ist aber nicht nur das.³⁷

Diese Notate zeigen – in einem nur winzigen Ausschnitt – das profunde Denken und selbstkritisch reflektierende Schreiben Musils, sein schreibendes Denken / denkendes Schreiben. Doch dieses wird immer mehr ein Schreiben über das Schreiben, sodass Schreib-Szenen wie die zitierte in der Überlappungszone verbleiben, für immer. Der zweite Fall, der im Kontrast dazu zur Publikation einer Schreib-Szene in einem öffentlichen Medium führt, ist seit Musils erzwungener Flucht ins Exil 1938 mangels Publikationsmöglichkeiten extrem selten. Es erscheinen bis zu seinem Tod nur noch Nachlaß zu Lebzeiten (Zürich 1935/1936) und der Vortrag Über die Dummheit als Einzeldruck (Wien 1937). Es ist also opportun, zeitlich weiter zurückzugreifen. Zu dem Essay Unter Dichtern und Denkern, den Musil am 13. November 1926 erst in der Prager Presse und einen Tag später wortgleich in der Wiener Zeitung Der Tag veröffentlichte, liegt im Nachlass ein umfängliches Notizen-Konvolut.³⁸ Die zeitlich ersten Notate lassen erkennen, dass ein ‚starting point‘ des Schreibens der beobachtete Kontrast zwischen dem sogenannten „Volk der Dichter und Denker“ und der verbreiteten Leseunwilligkeit gegenüber ‚schöner‘ Literatur war: „Lest nicht Bücher, lest Literatur!“ (Abb. 3, blaue Umrandung). Damit verband Musil die an sich selbst adressierte Frage: „(Ich möchte mir die Frage erlauben, ob es kein Genie gibt, weil es nur Genies gibt?)“ (Abb. 3, grüne Umrandung). Beim Versuch, dies zusammenzudenken und -zuschreiben kommt schon hier die Einsicht, dass sich dazu – wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment, z. B. mit dem Kircherʼschen Huhn – nichts Abschließendes sagen lässt. Experimente müssen Hypothesen nicht bestätigen.³⁹ Musil notiert am Rande den selbstadressierten metatextuellen Kommentar: „Ich möchte also nichts Abschließendes sagen“ (Abb. 3, rote Umrandung). ‚Sagen‘ steht hier metonymisch für ‚schreiben‘, denn der hier vollzogene kommunikative Akt ist nicht ‚Sprechen‘, sondern ‚Schreiben‘ – und

 ÖNB digital, Nachlass Robert Musil, Mappe V/5, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer. faces?doc=DTL_8093399&order=1&view=SINGLE, S. 4 (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Mappengruppe V, Mappe V/5, S. 2 [Hervorh. i. O.].  ÖNB digital, Nachlass Robert Musil, Mappe VI/2, https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer. faces?doc=DTL_7972703&order=1&view=SINGLE, S. 68 (letzter Zugriff 03.03. 2022); sowie KA, Transkriptionen & Faksimiles, Nachlass Mappen, Mappengruppe VI, Mappe VI/2, S. 47.  Es handelt sich um ein Experiment der Hühnerhypnose, das Anasthasius Kircher im 17. Jahrhundert erstmals durchführte, das aber nicht immer funktioniert; Anasthasius Kircher: Mirabele Experimentum de Imaginatione Gallinae, Rom 1646.

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wird es immer bleiben. Mit nonverbalen Zeichen – eckigen Klammern und Pfeil – setzt Musil diesen Satz in den Haupttext ein. Dieser selbstadressierte, autoreflexive und metatextuelle Satz ist eine Schreib-Szene, verlässt die Überlappungszone und gelangt mit der Veröffentlichung des Essays Unter Dichtern und Denkern leicht abgewandelt in den Druck: „Ich möchte also lieber nichts Abschließendes sagen.“⁴⁰ Diese nun öffentliche Schreib-Szene in der Prager Presse und in Der Tag ist nicht nur in den Haupttext integriert, sondern ganz an dessen Ende, an dessen ‚Abschluss‘ gestellt. So steht er an der ‚Eindrucksstelle‘, die mnemotechnisch besonders wichtig ist, da sie bei ihren Leser:innen am längsten nachwirkt.⁴¹ Hier werden die Leser:innen im Ungewissen gelassen und müssen selbst weiterdenken. Musil macht seine Skrupel nun zur öffentlich präsentierten Einsicht, nichts ‚End-Gültiges‘ sagen und schreiben zu können. Indem er gegenüber der handschriftlichen Notiz hier in der öffentlichen Zeitungsversion „lieber“ hinzufügt, sendet er den Leser:innen ein zusätzliches Signal der Vorsicht – schließlich setzt er sich ja öffentlich als Nicht-Autorität in Szene. Dies ist nicht nur Ergebnis der für ihn typischen permanenten Selbst-Befragung und -Infragestellung, vielmehr macht er diese – indem er hier in der Zeitung seine Leser: innen daran teilhaben lässt – zu seiner öffentlichen Autor-posture. Diese posture ist zugleich in einem breiteren Kontext zu sehen, ist die permanente skeptische Infragestellung doch symptomatisch für die Moderne, erst recht nach der historischen Zäsur, die der Zusammenbruch der ‚alten Ordnung‘ durch den Ersten Weltkrieg bedeutete. Es ist daher umso interessanter, dass Musil Unter Dichtern und Denkern mit dem das Satirische zuspitzenden Titel Unter lauter Dichtern und Denkern in die 1935 als Buch publizierte Sammlung Nachlaß zu Lebzeiten aufnahm, und zwar in die Abteilung Unfreundliche Betrachtungen.⁴²

 Prager Presse, 13. November 1926, und Der Tag, 14. November 1926, S. 33 f.; anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=tag&datum=19261114&seite=10&zoom=33 und anno.onb.ac.at/cgi-content/ anno?aid=tag&datum=19261114&seite=10&zoom=34 (letzter Zugriff 27.02. 2022). Abgedruckt in: Robert Musil Gesamtausgabe, Bd. 11: In Zeitungen und Zeitschriften III, hg. von Walter Fanta, Salzburg 2021, S. 140–144.  Erich Drach unterschied erstmals die Ausdrucksstelle am Satzanfang und die Eindrucksstelle am Satzende, mit entscheidenden Impulsen für die Satztopologie; Erich Drach: Grundgedanken der deutschen Satzlehre, Frankfurt a. M. 1937, S. 18 f. In Anlehnung an Roman Jakobsons Definition der sechs Sprachfunktionen (ders.: Linguistik und Poetik, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt a. M. 1971, S. 142‒178) lässt sich ergänzen, dass die Ausdrucksstelle senderbezogen (expressiv-emotiv) und die Eindrucksstelle adressatenbezogen (appelativ-konativ) zu deuten und über die Satzebene hinaus auf Texte, ja sogar Performances (vgl. Theater) beziehbar ist.  Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten, Zürich [1935] 1936, S. 105–109; Wiederabdruck in: Robert Musil Gesamtausgabe, Bd. 8: Bücher II, hg. von Walter Fanta, Salzburg 2019, S. 467–471.

Schreiben über das Schreiben

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Abb. 3: Notizen Musils zum Schreibprojekt Einige Schwierigkeiten der Dichtkunst, hier zu Unter Dichtern und Denkern. Österreichische Nationalbibliothek. Nachlass Robert Musil. Signatur S.N. 15.095, S. 47.⁴³

 Mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

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Anke Bosse

Diese Publikation brauchte Musil „dringend […], um sich als Autor in Erinnerung zu halten“.⁴⁴ Das sollte ihm auch gelingen – allerdings erst posthum. In der Version in Nachlaß zu Lebzeiten verschwindet die aufs Zeitungspublikum zielende Nonchalance, darunter der unterhaltsame Sidestep zum Experiment mit dem Kircherʼschen Huhn als Beispiel für das Scheitern von Hypothesen. Es wurde in der Zeitungsversion zunächst spannungssteigernd angespielt, um erst im letzten Absatz als Rätsel aufgelöst und erläutert zu werden und dann in den Schlusssatz „Ich möchte also lieber nichts Abschließendes sagen“ zu münden. In der Version in Nachlaß zu Lebzeiten fehlen der Sidestep und der komplette letzte Absatz. So fehlt der Bezug auf das eigene Sagen und Schreiben und der Zweifel an deren Aussagekraft – und damit genau das, was einmal nicht nur Schreib-Szene war, sondern auch die Teilhabe der Leser:innen am Zweifel provozierte. In der Version in Nachlaß zu Lebzeiten fehlt das Ich, fehlt die subjektive Perspektive überhaupt, fehlt so auch jede posture. Es ist aber diese Version, in der Unter lauter Dichtern und Denkern nach Musils Tod bekannt und gelesen wurde und bis heute wird. Ich hoffe gezeigt zu haben, wie erkenntnisfördernd es demgegenüber ist, die vorangehenden Schreib- und Publikationsprozesse zu rekonstruieren. Bei Musil stellen wir fest: Das Lebensprojekt Der Mann ohne Eigenschaften bleibt ein „Laboratorium“. Musils schreibendes Denken und denkendes Schreiben generierte Schreib-Szenen, die in ein in sich zirkulierendes Schreiben über das Schreiben führten, die sein Schreiben am Roman letztlich blockierten und die für immer in der Überlappungszone verblieben. Fast immer. Denn es sind die Editor:innen, die posthum die Inszenierung auch der in der Überlappungszone verbliebenen Schreib-Szenen übernehmen – durch deren Publikation in Buchform oder in anderen öffentlichen Medien. Die posture des Autors ist dann also eine weitgehend posthum zugeschriebene. Die Intervention der Editor:innen generierte überhaupt wesentlich das Bild von Robert Musil – so das heroisierende Narrativ, er sei im Schreiben vom Tode überrascht und daher am Abschluss des Mann ohne Eigenschaften gehindert worden. Prompt versuchte der erste Musil-Editor, Adolf Frisé, aus dem Nachlass eine Fortsetzung des Romans zu generieren, ja eine „gesicherte Romanfortsetzung“ zu suggerieren bis hin zum Erfinden von Kapiteltiteln.⁴⁵ Hier wurde Musils Schreiben in eine Teleologie und Ordnung eingestellt, die es nie hatte. Aber es waren Frisés Editionen und ihre Inszenierung, die für Musil ein ‚Autor-Label‘ installierten, das ihn ‚weltberühmt‘

 Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten [1936]. In: Robert-Musil-Handbuch, hg. von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf, Berlin/Boston 2006, S. 320–340, hier S. 320.  Fanta: Die textgenetische Darstellung, S. 230.

Schreiben über das Schreiben

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machte. Sie durch eine verlässliche Leseausgabe abzulösen, ist das Ziel der 2016 bis 2021 publizierten Robert Musil Gesamtausgabe.⁴⁶ Doch Musils Schreiben steht der Linearität eines Buchs entschieden entgegen. Es ist multidirektional und selbstbeobachtend, rhizomatisch. Dies spiegelt der hoch komplexe Nachlass wider, der dadurch wiederum anschlussfähig ist für hypertextuelle Strukturen, die bei Musil über das Verweissystem schon angelegt sind. Darauf haben wir am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv Rücksicht genommen, indem wir die oben erwähnte Gesamtausgabe in Buchform mit dem Webportal www.musilonline.at begleiteten.⁴⁷ Natürlich agieren wir mit dieser Hybrid-Edition selbst als Inszenator:innen … eines „Laboratoriums“. Ihre digitale Komponente kann nichts anderes sein als ein Langzeitprojekt. In Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek wurde ein neuer Prototyp entwickelt, der Musil online ablösen soll.⁴⁸ Er wurde am 15. März 2022 per Soft Launch freigeschaltet und wird kontinuierlich weiterentwickelt: edition.onb.ac.at/context:musil. Ein in die Zukunft offenes Projekt mit großem Potenzial – und darin letztlich sehr ‚musilianisch‘.

 Robert Musil Gesamtausgabe, 12 Bde., hg. von Walter Fanta, Salzburg 2016–2021.  Die Hybrid-Ausgabe soll die Klagenfurter Ausgabe (KA) ablösen, die auf DVD gebrannt wurde und nicht aktualisiert werden kann; vgl. Anm. 17 dieses Beitrags. Sie ist inzwischen technisch völlig obsolet: Sie wurde mit dem proprietären Programm Folio Views erstellt, die entsprechende Firma gibt es nicht mehr; sie läuft nur unter alten Windows-Versionen, weshalb an Forscher:innen, die mit der KA arbeiten, persönlich adressierte Updates versendet wurden, was eine nicht haltbare Situation ist. Und nicht zuletzt gibt es den die DVD vertreibenden Verlag nicht mehr.  Mit einer Abschaltung und Weiterleitung zu edition.onb.ac.at/context:musil ist im Laufe des Jahres 2022 zu rechnen.

Katja Barthel

Interferenz von administrativer und literarischer Schreibszene – Robert Walsers Korrespondenz bei der Berliner Secession mit Walther Rathenau (1907) Im Jahr 1907 übernimmt Robert Walser (1878‒1956) das Amt des Sekretärs der Berliner Secession. Als Schreiber und Commis, als Angestellter, der sich um administrative Details kümmert, gerät der Schriftsteller Walser ins Zentrum der künstlerischen Avantgarde Deutschlands. Für kurze Zeit ‒ im Rahmen der 13. Ausstellung, vom 20. April bis 18. August 1907 ‒,¹ arbeitet er am Nabel einer Organisation von bildenden Künstlern, Malern und Grafikern, die heute zur ‚klassischen Moderne‘ zählen. Die Berliner Secession vertrat Künstler:innen wie Käthe Kollwitz, Max Beckmann, Ernst Barlach, Wassily Kandinsky und viele mehr, die mit ihren abstrakten, impressionistischen und expressionistischen Darstellungsformen die Kunstszene der Jahrhundertwende und die öffentliche Debatte um ästhetische, moralische und gesellschaftliche Werte polarisierten.² In expliziter Opposition zur „offiziellen Kunst des Kaisers“ war die Vereinigung 1898/1899 von Max Liebermann, Walter Leistikow, Lovis Corinth und anderen gegründet worden; Liebermann amtierte bis 1911 als Präsident.³ Trotz einer repressiven kaiserlichen Kulturpolitik konnten die Secessionisten immer wieder Unterstützer und Sympathisanten für sich gewinnen und ein Netzwerk aufbauen, das Künstler und Künstlerinnen, Förderer, Mäzene und Kunstinteressierte aus unterschiedlichen politischen, sozialen und künstlerischen Kreisen zusammenführte.⁴ Für die  Anke Matelowski: Die Berliner Secession 1899‒1937. Chronik, Kontext, Schicksal, Wädenswil 2017, S. 594; Bernhard Echte (Hg.): Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt a. M. 2008, S. 210 (Datierung 20.04.‒01.08.1907).  Mitgliederlisten bei Matelowski: Die Berliner Secession, S. 561‒583. Zu den Künstlerinnen vgl. Ulrike Wolff-Thomsen und Jörg Paczkowski (Hg.): ‚Sie sind keine Randnotiz!‘. Käthe Kollwitz und ihre Kolleginnen in der Berliner Secession (1889‒1913), im Auftrag der Stiftung Schlösschen im Hofgarten Wertheim, Ausstellungskatalog, Berlin 2012, S. 10‒33.  Zur repressiven Kulturpolitik Peter Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin 1983, S. 17 f., 155; Renate Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer. Bühnenglück und Liebestod, Berlin 1997, S. 21, 54 f.; zur europäischen Secessions-Bewegung vgl. Matelowski: Die Berliner Secession, S. 34‒39, 561 (Vorstandsmitglieder).  Paret: Berliner Secession, S. 123, 133 (Sympathisanten in Ministerien und kaiserlichen Organen); Bernhard Echte und Walter Feilchenfeldt (Hg.): Kunstsalon Bruno & Paul Cassirer. Die https://doi.org/10.1515/9783110792447-014

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Katja Barthel

Durchsetzung moderner Kunst und Lebensart war die Berliner Secession ein entscheidender Multiplikator im deutschen wie europäischen Raum. Im administrativen Zentrum dieser Vereinigung war Robert Walser aktiv. In der Literaturwissenschaft hat die konkrete Tätigkeit Walsers als Sekretär der Berliner Secession allerdings überraschend wenig Aufmerksamkeit gefunden. Mehr als eine knappe Feststellung der biografisch interessanten Etappe findet sich selten. Bernhard Echte bemerkt, die Aufgabe Walsers als Sekretär habe im Wesentlichen darin bestanden, die „Korrespondenz zu erledigen und interessierte Besucher durch die Ausstellung zu führen.“⁵ Perikles Monioudis betont das Prestige und die Chance zum „sozialen Aufstieg“, die sich mit der Aufgabe, „das Sekretariat erledigen zu dürfen“, verbunden hätte, geht aber auf konkrete Tätigkeiten, Arbeitsabläufe und Routinen nicht ein.⁶ Ähnlich allgemein bleiben die Hinweise in anderen literaturwissenschaftlichen Studien.⁷ In den kunstgeschichtlichen Untersuchungen zur Berliner Secession erhält man ebenfalls wenig Auskunft. Anschaulich hat zuletzt die detaillierte Archivstudie von Anke Matelowski die administrativen, sozialen und künstlerischen Strukturen und Entwicklungen der Secession erschlossen.⁸ Die monumentalen Bildbände von Bernhard Echte und Walter Feilchenfeldt dokumentieren eindrucksvoll die Aktivitäten des Kunstsalon Cassirer, einer Galerie, die sich über die Person Paul Cassirer (1871‒1926) aufs Engste mit der Secession verbindet, weil Cassirer sowohl Inhaber des Kunstsalon als auch Geschäftsführer der Berliner Secession war.⁹

Ausstellungen, Bd. 3: ‚Den Sinnen ein magischer Rausch‘. Kunstsalon Cassirer. Die Ausstellungen 1905‒1908, unter Mitarbeit von Petra Cordioli,Wädenswill 2013, S. 5‒10, 467‒489; Bernhard Echte: In Berlin, in: Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Lucas Marco Gisi, Stuttgart 2018, S. 24‒30, hier S. 25 (im Folgenden zit. als RWH).  Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 210.  Perikles Monioudis: Robert Walser, München 2018, S. 45.  Bernhard Echte und Andreas Meier (Hg.): Die Brüder Karl und Robert Walser. Maler und Dichter, Stäfa 1990, S. 184; Anne Gabrisch: Robert Walser in Berlin, in: Robert Walser, hg. von KarlMichael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a. M. 1991, S. 30‒55, hier S. 53; Jörg Amann: Robert Walser. Eine literarische Biographie in Texten und Bildern, Zürich/Hamburg 1995, S. 95; Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999, S. 201; Diana Schilling: Robert Walser, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 39; dies.: Der Entwicklungsroman als Farce. Robert Walser ‚Jakob von Gunten. Ein Tagebuch‘ (1909), in: Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Berlin 2008, S. 73‒85, hier S. 77; Kirsten Scheffler: Mikropoetik. Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein ‚Bleistiftgebiet‘ avant la lettre, Bielefeld 2010, S. 48; Lucas Marco Gisi (Hg.): Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2018, S. 9, 25 f., 107, 138.  Matelowski: Die Berliner Secession, vgl. Anm. 1 dieses Beitrags.  Bernhard Echte und Walter Feilchenfeldt (Hg.): Kunstsalon Bruno & Paul Cassirer. Die Ausstellungen, 6 Bde., unter Mitarbeit von Petra Cordioli, Wädenswil 2011‒2016. Ausstellungen der

Interferenz von administrativer und literarischer Schreibszene

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Robert Walser wird in den kunsthistorischen Studien immer als Sekretär erwähnt, doch weiterführende Informationen sucht man auch hier vergebens.¹⁰ Da in der Forschung bisher nicht geklärt ist, was den Tätigkeitsbereich des Sekretärs der Berliner Secession überhaupt auszeichnete, welche zeitlichen und räumlichen Vorgaben und Freiheiten die Sekretariatsaufgaben mit sich brachten, wie Arbeitsabläufe und Routinen im Büro organisiert waren, kurz: was Walser eigentlich in diesem rätselhaften Sommer des Jahres 1907 tat, als er im „Sekretariat der Berliner Secession“¹¹ tätig war, greift der vorliegende Beitrag zwei Fragekomplexe auf: 1. Wie lässt sich eine materialitätssensible Schreibforschung für die Erschließung einer, wie ich es nennen möchte, ‚administrativen Schreibszene‘ Robert Walsers nutzen? 2. In welchem Verhältnis stehen administrative und literarische Schreibpraktiken zueinander? Lassen sie sich trennen? Wenn nicht, wo überlagern sie sich, d. h. welche Schnittstellen bilden sie, und welche Faktoren begünstigen das interferente Verhältnis? In Kapitel 1 werden die Materialien vorgestellt und kritisch reflektiert, die es erlauben, Rückschlüsse auf administrative Schreibpraktiken und Arbeitsabläufe im Büro zu ziehen. Auf der Grundlage textueller, bildlicher, architektonischer Dokumente und pragmatischer Formate, wie Eintrittskarten, Stempel oder Plakate, sollen dann grundlegende räumliche und zeitliche, interaktionale und institutionelle Strukturen rekonstruiert werden, die das Arbeiten im Büro der Secession beeinflusst haben müssen (Kapitel 2). Anschließend werden an einem geschäftlichen Brief von Robert Walser in der Funktion als Sekretär der Berliner Secession an den Industriellen, Kunstliebhaber und späteren Außenminister Walther Rathenau (1867‒1922) vom 15. Mai 1907 die Grenzen und Überschneidungen ‒ die Interferenzen von administrativer und literarischer Schreibszene ‒ diskutiert (Kapitel 3). Im Zentrum meiner Überlegung steht die These, dass die Schreibszene verschiedene funktionale Modi ausbildet, um in unterschiedlichen kommunikativen Domänen zu funktionieren. Administrative und literarische

Secession fanden mitunter in den Räumen des Kunstsalons Cassirer statt, etwa die „Schwarz-Weiss Ausstellung“ im Dezember 1906; Echte/Feilchenfeld: Kunstsalon Cassirer, Bd. 3, S. 293. Objekte, Kontakte, Kauf- und Verkaufsoptionen wurden zwischen beiden Institutionen transferiert. Kommerzielle Interessen scheinen im Kunstsalon einen höheren Stellenwert gehabt zu haben; Paret: Berliner Secession, S. 139‒141, 236.  Matelowski: Die Berliner Secession, S. 561; Wolfram Groddeck: Robert Walser, in: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne, Bd. 1, hg. von Konstanze Fliedl u. a., Berlin/Boston 2011, S. 785‒788, hier S. 785; Eva Caspers: Paul Cassirer und die Pan-Presse. Ein Beitrag zur deutschen Buchillustration und Graphik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989; weiterführend Kap. 1.2 dieses Beitrags.  So die offizielle Bezeichnung auf dem Stempel der Institution, mit dem Walser die Korrespondenzen signiert; vgl. Abb. 6 dieses Beitrags.

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Schreibszene bilden zwei Modi der Schreibszene Robert Walsers, die sich voneinander unterscheiden, aber auch interferieren, sodass sie relational zueinander zu bestimmen sind (Kapitel 4).

1 Walsers ‚administrative Schreibszene‘: Theoretische und quellenkritische Einordnung 1.1 Begriffsklärung Das Konzept „Schreibszene/Schreib-Szene“, das von Rüdiger Campe formuliert und von Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti weiter ausdifferenziert worden ist,¹² findet nicht nur im Bereich der ästhetischen Kommunikation Anwendung, sondern diffundiert in die Breite interdisziplinär angelegter Studien.¹³ Die doppelte Annahme, dass sich im Zusammenspiel instrumenteller, gestischer und sprachlicher Verfahrensweisen („Instrumentalität, Gestik, Sprache“), räumlicher und zeitlicher Strukturen, in Abhängigkeit von (Schreib‐) Werkzeugen, Materialien und Technologien, in der Interaktion mit menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren und Aktanten einerseits ein „nicht-stabiles Ensemble“ generiert, das den Schreibprozess ermöglicht (die Schreibszene als die materiale, praxeologische Dimension von Schreibakten), und dass dieses ‚En-

 Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1991, S. 759‒772; Martin Stingelin: Schreiben. Einleitung, in: ‚Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. von dems., Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004, S. 7‒21, bes. S. 15.  Bryan Klausmeyer, Andrea Krauß und Johannes Wankhammer: An Introduction, in: Scenes of Writing, hg. von dens., Special Issue Modern Language Notes 5 (2021), S. 965‒970, hier S. 965; ferner u.a. Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger (Hg.): Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, Bielefeld 2020. In Bezug auf die bildenden Künste: Jutta Müller-Tamm, Caroline Schubert und Klaus Ulrich Schubert (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift, Paderborn 2018. Wissenschaftliches Schreiben: Fridrun Freise, Mirjam Schubert, Lukas Musumeci und Mascha Jacoby (Hg.): Writing spaces. Wissenschaftliches Schreiben zwischen und in den Disziplinen, Bielefeld 2021; Christoph Hoffmann: Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte, Tübingen 2018, bes. S. 57‒70 („wissenschaftliche Schreibszene“). Schreibdidaktik: Michael Becker-Mrotzek, Joachim Grabowski und Torsten Steinhoff (Hg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik, Münster/New York 2017. Emotionsforschung: Susanne Knaller, Ingeborg Jandl, Sabine Schönfellner und Gudrun Tockner (Hg.): Writing Emotions. Theoretical Concepts and Selected Case Studies in Literature, Bielefeld 2017; vgl. Beitrag von Rita Rieger und die Einleitung im vorliegenden Band.

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semble‘ andererseits in seiner Instabilität und partiellen Invisibilität einer rekursiven Selbstbezüglichkeit und Objektivation bedarf, um überhaupt erfasst und interpretiert werden zu können (die Schreib-Szene als die reflexive, sich selbst problematisierende Objektivation von Schreibakten), ist für das Phänomen Schreiben nicht nur in literarischen Kommunikationszusammenhängen relevant. Hier setzen meine Überlegungen zur administrativen Schreibszene ein. Schreiben ist zwar eine universale Kulturtechnik, vollzieht sich aber in vielfacher Hinsicht sehr uneinheitlich.¹⁴ Nicht nur individuelle, generationenspezifische, kulturelle und zeithistorische Unterschiede prägen das Schreiben, sondern in verschiedenen kommunikativen Bereichen und „sozialen Domänen“, wie Schule, Familie, Justiz,¹⁵ sind spezifische Normen, Konventionen und Erwartungshaltungen relevant, welche die Rede in mündlicher wie schriftlicher Form beeinflussen – und somit auch Schreibprozesse. Dies betrifft z. B. die Angemessenheit/ Unangemessenheit von sprachlichen Registern, soziokulturellen und emotionalen Codes, aber auch die materiale Präsentation der Rede in Form von Druckformaten, Typografie- und Layoutkonventionen. Mit Sandro Zanetti ließe sich von verschiedenen „Schreibweisen“ sprechen, die je nach Diskursbereich („Schreiben für die Zeitung, für die Bürokratie, für die Wissenschaft, für den Literaturbetrieb“) spezifischen Regeln, Logiken, Praktiken folgen, variabel realisiert werden und „spezifische Kompetenzen“ der schreibenden Subjekte erfordern.¹⁶ Auch das Sekretariat bzw. das Büro kann als ein domänenspezifischer Kommunikations- und Handlungsraum verstanden werden. Dabei ist zu beachten, dass Operationsketten im Büro um 1900 einer umfassenden schrift- und medienhistorischen Transformation unterliegen, wie Stephan Kammer gezeigt hat: Arbeitsabläufe rationalisieren sich, neue Technologien wie Telefon, Fernsprecher, Schreibmaschine verändern zeitliche und infrastrukturelle Prozesse im

 Sandro Zanetti: Einleitung, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von dems., Berlin 2012, S. 7‒34, hier S. 7.  In der Soziolinguistik werden „Domänen“ definiert als „ein Bündel von sozialen Situationen […], die durch spezifische Umgebungsbedingungen […] und Rollenbeziehungen zwischen den Interaktionsteilnehmern sowie durch typische Themenbereiche gekennzeichnet sind (Schule, Familie, Arbeitsplatz, staatliche Administration etc.).“ Domänen umfassen soziale „Verhaltensnormen“ und sprachliche Konventionen, die als angemessene oder unangemessene Varietäten in diesen Bereichen gelten; Hadumod Bussmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, 4. Aufl., Stuttgart 2008, S. 148.  Sandro Zanetti: Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten, Ditzingen 2022, S. 42; auch in ders.: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur, in: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, hg. von Uwe Wirth, Berlin 2008, S. 75‒88, hier S. 80.

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„Modell Büro“.¹⁷ Dieser Wandel wird nicht nur in instrumenteller Hinsicht relevant, in Bezug auf Schreibwerkzeuge und Geräte, sondern beeinflusst auch Zeiterfahrungen und Zeiterwartungen („Geschwindigkeitsrausch“) und wirkt durch die Normalisierung körperlicher Effekte (Krümmungswinkel des Rückens, Sitzhöhe von Büromöbeln, Anordnung von Ablageflächen) auf die psychophysische Konstitution der Büroangestellten.¹⁸ Als die spezifische Verfasstheit von materiellen wie immateriellen Rahmenbedingungen prägt das „Modell Büro“ bzw. das „Bürodispositiv“¹⁹ die (Schreib‐)Praktiken, Vorgänge und Strukturen im domänenspezifischen Kommunikations- und Handlungsraum ‚Büro‘, der sich wiederum aufgrund jener Praktiken formiert und dabei wandelt. Als Walsers ‚administrative Schreibszene‘²⁰ möchte ich im Folgenden instrumentelle, raumzeitliche, soziale sowie semantische und stilistische Aspekte in den Blick nehmen, die sich auf die geschäftliche Textproduktion (Korrespondenz) im Sekretariatsbetrieb der Berliner Secession beziehen und den Aufgabenbereich verwaltungstechnischer Angelegenheiten betreffen. Wie jeder domänenspezifische Kommunikations- und Handlungsraum privilegiert auch das ‚Modell Büro‘ bestimmte Formen des Sprachgebrauchs und des sozialen Verhaltens und disqualifiziert andere. Für den administrativen Kontext gilt die banale, aber folgenreiche Feststellung, dass es sich um keine Diskurse und Praktiken handelt, die über die Lizenz zur Selbstreferenzialität, Polyvalenz (Ambiguität) und Fiktionalität verfügen. Im Gegensatz zur literarischen Kommunikation, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit diesen Kriterien enggeführt wird,²¹ drängt die administrative Schriftsprachlichkeit auf die Eindeutigkeit von Signifikanten, den Aus Stephan Kammer: Graphologie, Schreibmaschine und die Ambivalenz der Hand. Paradigmen des Schreibens um 1900, in: ‚Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen.‘ Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, hg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti, München 2005, S. 133‒152, hier S. 134.  Ebd., S. 138, 140.  Ebd., S. 135.  Ich ziehe den Begriff ‚administrativ‘ dem synonymen Ausdruck ‚bürokratisch‘ vor, weil sich das Begriffsfeld ‚bürokratische Verwaltung‘ im 19. Jahrhundert im Sinne von staatlicher Verwaltung und Herrschaft verengt. Passender für den hier verhandelten Zusammenhang ist der Ausdruck ‚administrativ‘, abgeleitet von lat. administratio, Verwaltung, Dienstleistung; Bernd Wunder: Art. Verwaltung, Amt, Beamter, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw‒Z, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosselleck, Stuttgart 1997, S. 1‒96, bes. S. 80.  Benjamin Specht: Polyvalenz – Autonomieästhetik – Kanon. Überlegungen zum Zusammenhang von Textstruktur und historischer Ästhetik bei der Herausbildung des deutschsprachigen Literaturkanons, in: Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, hg. von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko, Berlin/Boston 2012, S. 19‒39, bes. S. 32.

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schluss von sekundären Bedeutungsebenen, und ist einer klaren Funktionalität untergeordnet – nämlich geschäftliche Absprachen und bürokratische Vorgänge möglichst objektiv und unzweideutig schriftlich zu fixieren.²² Dieser Funktionalität entsprechen soziale Verhaltenserwartungen und Erwartungserwartungen;²³ man würde z. B. davon ausgehen, dass ein Sekretär die in einem Geschäftsbrief behandelten Inhalte exakt und sachlich wiedergibt und nicht etwa eigene Erfindungen hinzufügt. Interaktionsformen, mündlicher wie schriftlicher Sprachgebrauch sind im ‚Modell Büro‘ nicht beliebig.

1.2 Quellenkritik und Forschungsstand Die größte Schwierigkeit, auf die eine Rekonstruktion der Sekretariatstätigkeit Walsers bei der Berliner Secession stößt, ist sicherlich die dünne Quellenlage. Wie in Büros üblich, gibt es auch im Kunstbüro im Grunde keine Veranlassung, organisatorische und betriebliche Vorgänge, einzelne Arbeitsschritte, räumliche und zeitliche Strukturen eigens zu dokumentieren. Administrative Vorgänge sind oft dann besonders effizient, wenn es keine Veranlassung gibt, sie zu thematisieren. Erst wenn Operationsketten stocken, wenn „Widerstände“²⁴ den internen Bürobetrieb beeinträchtigen, kann es notwendig werden, Abläufe und Routinen zu thematisieren. Doch selten wird dies verschriftlicht. Unter den historischen Archivalien zur Berliner Secession finden sich zwar Sitzungsprotokolle, Mitgliederlisten, Korrespondenzen und Rechnungen, aber keine Arbeitsverträge, Tele-

 Die Forderung nach einem sachlichen, präzisen und exakten Sprachgebrauch findet man im administrativen Kontext seit dem 18. Jahrhundert; Klaus Magreiter: Die Diskussion über die deutsche Verwaltungssprache, ca. 1750‒1840. Unter besonderer Berücksichtigung der Hand- und Lehrbücher für Beamte, in: Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Peter Becker, Bielefeld 2018, S. 75‒105, bes. S. 82‒84.  Prämisse in der soziologischen Rollentheorie, dass mit der Übernahme sozialer Rollen bestimmte Einstellungen, Aktions- und Reaktionsformen abzuleiten sind, an denen sich das soziale Verhalten orientiert und die von den Akteuren untereinander erwartet werden können. Werden Erwartungen selbst zum Gegenstand von Erwartungen und beeinflussen, auf welche Weise erwartet wird, spricht man von „Erwartungserwartungen“; Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, 4. Aufl., Stuttgart 1994, S. 194; Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt a. M. 2000, S. 73 f.  Martin Stingelin: ‚Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken‘. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche [2000], in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. von Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 283‒304, bes. S. 292.

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fonnotizen oder Beschwerden, die eine ‚Mikroperspektive‘ auf das Sekretariat im Besonderen zuließen.²⁵ Stattdessen existiert eine Fülle an literarischen Texten von Robert Walser, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen. Feuilleton- und Prosastücke, die der Angestelltenliteratur der 1920er Jahre²⁶ zugeordnet werden (z. B. Acht Uhr,²⁷ Die Bühne ist ein Büro,²⁸ Der Sekretär,²⁹ Herren und Angestellte)³⁰ thematisieren den Arbeitsraum ‚Bureau‘ im Allgemeinen. Neben Orten, Räumen, zeitlichen Abläufen, sozialen Interaktionsformen, Verfahrensweisen und Werkzeugen einer Textproduktion, die Simon Roloff als „bürokratisches Schreiben“³¹ und „bürokratische Schreibszenen“³² fasst, werden, wie Stephan Kammer zeigt, auch erstaunlich viele Technologieentwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts thematisiert.³³ Die Tatsache, dass Walser mehrfach als Sekretär in unterschiedlichen Büros angestellt gewesen war, führte zunächst vor allem zu einer biografischen Lesart dieser ‚Bürotexte‘, die heute zugunsten kultur- und medienhistorischer Fragestellungen in den Hintergrund rückt. Neben Kammer und Roloff stellen auch Reto Sorg und Lucas Marco Gisi fest, dass sich über das Motiv des erzählten Arbeitsraums ‚Büro‘ zugleich ein Narrativ der industrialisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft entfaltet.³⁴ Seit 2011 ist eine Auswahl von Walsers Bürotexten erstmals in einer Anthologie versammelt.³⁵ Daneben existiert eine zweite Gruppe an Prosatexten, die nicht nur für die Literaturwissenschaft, sondern auch für die Kunstgeschichte und Intermediali-

 Zu den ungedruckten Quellen mit Standortnachweisen sowie dokumentierten Aktenverlusten vgl. Matelowski: Die Berliner Secession, S. 607‒611.  Thomas Wegmann und Erhard Schütz: Neue Sachlichkeit und Angestelltenliteratur, in: Handbuch Literatur & Ökonomie, hg. von Joseph Vogl und Burkhardt Wolf, Berlin/Boston 2020, S. 598‒611; historische Perspektive bei Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hg.): Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003; Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Tübingen 2004.  Robert Walser: Acht Uhr, in: ders.: Im Bureau. Aus dem Leben der Angestellten, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Reto Sorg und Lucas Marco Gisi, 2. Aufl., Berlin 2013, S. 101‒103; hier publ. im Berliner Börsen-Courier vom 02.06.1926 (Daten der Erstpublikation ebd., S. 143‒145, auch für die Folgenden).  Ebd., S. 104‒115, nicht veröffentlichtes Mikrogramm Nr. 222‒224 von 1926/1927.  Ebd., S. 91‒93, publ. in Neue Züricher Zeitung vom 21.10.1917.  Ebd., S. 116‒119, publ. in Berliner Tageblatt vom 03.08.1928.  Simon Roloff: Büro (Der ewige Angestellte), in: RWH, S. 328‒330, hier S. 329.  Simon Roloff: Der Stellenlose. Robert Walsers Poetik des Sozialstaats, Paderborn 2016, S. 11.  Kammer: Paradigmen des Schreibens um 1900, S. 141 f.  Sorg/Gisi: Im Bureau, S. 134 f.; Kammer: Paradigma des Schreibens um 1900, S. 135; Roloff: Der Stellenlose, S. 11 f., 178.  Sorg/Gisi: Im Bureau, Anm. 27 dieses Beitrags.

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tätsforschung von Interesse sind, weil sie sich konkreter auf Personen, Orte und Gemälde aus dem Umfeld der Berliner Secession beziehen lassen. So gelten die Prosastücke Portrait eines Kaufmannes (1926 publ. in Prager Presse) und Frau Bähni (1916 publ. in Die Ähre) als die Beschreibung Paul Cassirers und seiner Partnerin Tilla Durieux.³⁶ Der in der Neuen Züricher Zeitung erschienene Text Der Sekretär (1917) wird in der Walserforschung als eine retrospektive Reflexion Walsers über seine Anstellung bei der Berliner Secession behandelt.³⁷ Ein ABC in Bildern von Max Liebermann (1909 publ. in Kunst und Künstler) gilt als Kunstrezension, die Walser zum 1908 erschienenen, gleichnamigen Kunstbuch von Max Liebermann anfertigte.³⁸ Walsers Kurzprosa Zu der Arlesierin von van Gogh (1912 publ. in Kunst und Künstler), ein Text, der sich auf van Goghs Gemälde Arlésienne bezieht, das 1912 in der Berliner Secession ausgestellt wurde, wird als eine ästhetische Einschätzung Walsers über van Gogh und den Impressionismus gewertet.³⁹ Viele weitere Gemälde fanden über die bildästhetische Reflexionen Eingang in Walsers literarisches Werk.⁴⁰ Während man die literarischen Texte lange als eine Art Selbstzeugnis des Autors behandelte, die entweder über Walsers berufliche Tätigkeit im nichtliterarischen Bereich (Sekretariat) Auskunft geben oder Hinweise zur Wahrnehmung und Bewertung von Gemälden oder Personen bieten, haben die transmedialen Studien der letzten Jahre eindrücklich auf die Brüche und Transferleistungen zwischen grafischen und sprachlichen Strukturen, zwischen Malerei und Literatur, aufmerksam gemacht. Das Verfahren der Verfremdung, der Digression und

 Robert Mächler: Robert Walser. Biographie, Frankfurt a. M. 1992, S. 93 f.; Texte in Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. von Jochen Greven, Zürich/Frankfurt a. M. 1985 (im Folgenden zit. als SW mit Bandnummer und Seitenzahl), hier SW 18, S. 24‒26 und SW 16, S. 277‒282.  Echte: Leben in Texten und Bildern, S. 210 f; SW 16, S. 272‒274.  Tamara Evans: ‚Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen‘. Zu Robert Walsers Kunstrezeption in der Berliner Zeit, in: Bildersprache Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser, hg. von Anna Fattori und Margit Gigerl, München 2008, S. 107‒116, hier S. 112 f.; ferner Ulf Bleckmann: Thematisierung und Realisierung der bildenden Kunst im Werk Robert Walsers, in: Intermedialität.Vom Bild zum Text, hg. von dems. und Thomas Eicher, Bielefeld 1994, S. 29‒58; Tamara Evans: Robert Walser. Writing Painting, in: Robert Walser and the Visual Arts, hg. von ders., New York 1996, S. 23‒35.  Evans: Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen, S. 114 f.; dazu auch Bernhard Walcher: Das deutschsprachige Bildgedicht. Kunstwissen und imaginäre Museen (1870‒1968), Berlin/ Boston 2020, S. 377.  Robert Walser:Vor Bildern. Geschichten und Gedichte, hg. von Bernhard Echte, Frankfurt a. M. 2006; Groddeck: Handbuch der Kunstzitate, S. 785‒788; Echte/Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 9‒56; Beate Bichsel: Augen-Blicke des Schreibens. Zur Poetik des Visuellen in der Schreibszene Robert Walsers, Basel 2020.

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vielfachen Brechung von Erlebtem und Erfundenem ‒ ein Effekt, der als Ästhetik der Autofiktion grundsätzlich für Walsers Werk typisch ist ‒,⁴¹ erweist sich auch in seinen Kunsttexten als wirksam. Für Walser ist die Formgebung eines realen Kunstobjekts nie Anlass für ein realistisches, detailgetreues Beschreiben, sondern stets Inspiration für ein verfremdendes und assoziatives Weiterschreiben des vordergründig Wahrnehmbaren. Tamara Evans erklärt das Phänomen treffend mit dem Kunstrezensenten, der – anstatt das Gemälde zu beschreiben und zu analysieren – gewissermaßen „durch den Rahmen“ des Bildes hindurch „ins Weite schaut und erzählt, was es da draußen zu sehen und erleben“ gäbe.⁴² Nicht die deskriptive Beschreibung des kunsthistorisch relevanten Bildinhalts ist für Walsers Kunsttexte zentral, sondern dasjenige, was durch das Kunstobjekt assoziativ hervorgerufen wird und sich in überraschender, unvorhersehbarer Weise in sprachlicher Form entfaltet.⁴³ Für eine Rekonstruktion von Walsers Tätigkeit bei der Berliner Secession können seine literarischen Texte daher nur bedingt in Anspruch genommen werden. Ausgehend von der Prämisse, dass der literarische Text keine realistische Ekphrasis oder Mimesis einer Realität darstellt, die im Text originalgetreu ‚widergespiegelt‘ würde,⁴⁴ ist zu beachten, dass wir es bei Walsers Bürotexten erstens mit retrospektiven Stilisierungen unterschiedlich gelagerter Anstellungs- und Bürokonstellationen zu tun haben können, die nicht notwendig secessionsspezifisch sind.⁴⁵ Zweitens sind die Bürotexte Teil medialer Inszenierungen, auktorialer, verlegerischer und kunstmarktbezogener Selbst- und Fremdstilisierungen.⁴⁶ Vor allem entstanden sie drittens im Rahmen einer ästhetischen Kommunikation mit all ihren Lizenzen, die Gestaltungsräume eröffnen und limitieren. Geht man, wie Sandro Zanetti es jüngst vorgeschlagen hat, davon aus,

 Christian Benne: Ich, Maske, Autofiktion, in: RWH, S. 231‒235.  Evans: Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen, S. 113.  Groddeck: Handbuch der Kunstzitate, S. 788; ähnlich Scheffler: Mikropoetik, S. 289.  Wilhelm Voßkamp: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Gundlagen – Ansätze – Perspektiven, hg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning, Stuttgart 2003, S. 73‒85.  Walsers Erfahrungen in Büros beginnen mit der Kaufmannslehre bei der Berner Kantonalbank 1892‒1895, 1895 Büroangestellter bei von Speyr & Co in Basel, danach Deutsche Verlagsanstalt Union Stuttgart, 1896 Schweizer Transport Versicherungsgesellschaft Zürich, 1902 Schreibstube für Stellenlose Zürich, 1904 Angestellter bei der Züricher Kantonalbank, 1921 Bibliothekar des Berner Staatsarchivs; Echte/Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 207‒209.  Hierzu u. a. Christine Künzel und Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Lucas Marco Gisi, Urs Meyer, Reto Sorg (Hg.): Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst‐)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, München 2013.

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dass nicht nur der literarische Text als Produkt, sondern auch das Schreiben literarischer Texte als eine spezifische Tätigkeit und Praxis zu begreifen sei,⁴⁷ dann stellt sich die Frage, wie sich diese Praxis von Schreibverfahren und Routinen abgrenzt, die in anderen kommunikativen Domänen vorherrschen. Gibt es überhaupt Unterschiede? Wenn ja, wo liegen die Grenzen und was passiert ‚dazwischen‘? Halten wir zunächst fest: Dass das Schreiben im Büro häufig zum erzählten Gegenstand in Walsers literarischen Texten und zum Schreibanlass geworden ist, ist ein wichtiger Befund. Doch wie sieht es andersherum aus: Hat sich das Literarische auch in die bürokratische Kommunikation, in Walsers administrative Schreibszene, ‚eingeschlichen‘? Um Walsers Tätigkeit im Sekretariat der Berliner Secession zu rekonstruieren und das Verhältnis von literarischem und administrativem Schreiben zu untersuchen, ist es sinnvoll, das Text- und Quellenkorpus zu erweitern. Ich schlage daher vor, auch nichtliterarische Quellen und nichttextuelle Artefakte in die Analyse einzubeziehen. Eine materialitätssensible Schreibforschung lädt so zu einem interdisziplinären Brückenschlag zwischen Kunstgeschichte, Sozialgeschichte und Literaturgeschichte ein.

2 Walsers Tätigkeit im Sekretariat der Berliner Secession Als Robert Walser zur Berliner Secession stößt, haben sich die internen Organisations- und Verwaltungsstrukturen des Kunstvereins stark verändert und bedeuten für Vorstand, Künstler:innen und Sekretariat eine Umgestaltung der Arbeitsabläufe. Von 1901 bis 1906 wurden die administrativen Angelegenheiten der Secession hauptsächlich von Paul Cassirer (1871‒1926) verantwortet, der sich mit unternehmerischem Ehrgeiz, betriebswirtschaftlichem Kalkül und Sinn für Aufmerksamkeitspolitik dem Geschäftlichen der Künstlervereinigung annahm. Maßgeblich trug er zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg bei. Aus einer einflussreichen jüdischen Unternehmerfamilie stammend gründete er 1898 mit seinem Vetter Bruno Cassirer (1872‒1941) die Bruno & Paul Cassirer Kunst- und Verlagsanstalt, war im Kunstmarkt gut vernetzt, vermögend, umtriebig und ehrgeizig.⁴⁸ Max Liebermann schlug vor, den Vettern die geschäftlichen Angelegenheiten der Berliner Secession zu übertragen, um den ausschließlich aus

 Zanetti: Literarisches Schreiben, S. 31, 35.  Sigrid Bauschinger: Die Cassirers – Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie, München 2015; Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 25.

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Künstlern bestehenden Vorstand von dieser Aufgabe zu entlasten.⁴⁹ In den Unterlagen der Künstlervereinigung werden beide Vetter seit 1899 als „Sekretäre der Berliner Secession“ geführt; eine Bezeichnung, um die hart gerungen wurde.⁵⁰ Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass Paul Cassirer eine untergeordnete Stellung oder mangelnde Wertschätzung seines Wirkens – egal in welchem Tätigkeitsbereich – nicht zu akzeptieren gewillt war. Zeitgenossen beschreiben ihn als ehrgeizigen „Pionier“ der modernen Kunst, zugleich als „machtliebend, rücksichtslos“; ein „massiver Zeitgenosse“, „narzißhaft“, „explosiv“, von großer „geistiger Beweglichkeit“.⁵¹ Als erfolgreicher Geschäftsmann und Kunsthändler war er etabliert, baute die Kunst- und Verlagsanstalt (den späteren Kunstsalon Cassirer) auf der Victoriastraße 35 zielstrebig aus und begann auch in der Berliner Secession immer mehr Befugnisse und administrativen Einfluss in seiner Hand zu konzentrieren. Der Erfolg sprach für ihn: Durch ein geschicktes Finanzmanagement, die Akquise von Sponsoren, Künstlerbeteiligungen und Eigenkapital gelang es ihm, die Künstlervereinigung, die ursprünglich schon wenige Monate nach ihrer Gründung vor dem finanziellen Aus gestanden hatte (Liebermann 1899: „Wir sind bankrott“),⁵² zu sanieren und betriebswirtschaftlich zu stabilisieren. Cassirers Ambitionen führten aber auch zu Spannungen mit dem Vetter Bruno, sodass dieser 1901 aus der gemeinsamen Kunst- und Verlagsanstalt austrat⁵³ und auch das Sekretariat der Berliner Secession verließ. Seit 1901 oblagen Organisation und Leitung dieser administrativen ‚Schaltzentrale‘ allein Paul Cassirer.

 Paret: Berliner Secession, S. 114: laut Satzung war der Vorstand ordentlichen Mitglieder vorbehalten, die ausnahmslos Künstler sein mussten; dies wurde bei den Verhandlungen mit den Cassirers zum Streitpunkt innerhalb des Vorstandes (ebd., S. 116). Die Kontakte zwischen Liebermann und den Cassirers bestanden, seit die Kunst- und Verlagsanstalt am 01.11.1898 mit einer legendären Gemeinschaftsausstellung von Max Liebermann, Edgar Degas und Constantin Meunier eröffnet worden war; vgl. Rahel E. Feilchenfeldt: Paul Cassirer – ein Mosaik, in: Ein Fest der Künste. Paul Cassirer, der Kunsthändler als Verleger, hg. von ders. und Thomas Raff, München 2006, S. 13‒42, hier S. 17‒19; Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 30 f.  Paret: Berliner Secession, S. 114‒118; Matelowski: Die Berliner Secession, S. 561 und 60, Anm. 108.  Einschätzungen von Wilhelm Herzog, Kasimir Edschmid, Georg Brühl, zit. nach Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 74‒76; „explosiv und erregend“ laut Emil Nolde, zit. nach Caspers: Paul Cassirer und die Pan-Presse, S. 7, Anm. 18.  Protokoll der Sitzung des Secessions-Vorstandes vom 07.02.1899, zit. nach Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 27.  Das Unternehmen wurde geteilt: Bruno Cassirer übernahm den Verlag, bei dem 1906 auch Walsers erster Roman Geschwister Tanner erschien. Paul Cassirer konzentrierte sich auf den Kunsthandel und baute den Kunstsalon Cassirer neben der Secession zu einem der führenden Galerien für moderne Kunst in Berlin aus.

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Vielfältige Tätigkeiten fallen unter die ‚geschäftlichen Angelegenheiten‘ eines Kunstvereins: Kunden- und Sponsorenakquise, Geschäftskorrespondenz,Verträge und Versicherungen, Reklame bis hin zu Abrechnungen, Miete und Steuern, Gewerbemeldungen bei Behörden und Baudezernaten.⁵⁴ Über die administrative Verwaltung hinaus brachte sich Paul Cassirer auch in künstlerische Angelegenheiten ein und drängte – mitunter zum Ärger des Vorstands oder Teilen der Mitglieder ‒ auf Mitspracherecht bei der Künstler- und Gemäldeauswahl, bei Entscheidungen über Hängekonzeptionen, Raumgestaltung und dergleichen.⁵⁵ Paul Cassirer inszenierte sich und seine Tätigkeit als Teil eines umfassenden Kunstmanagements, das in dieser Weise neu war und das er in persona verkörperte.⁵⁶ Mit zunehmendem Erfolg der Berliner Secession und ihren Künstler:innen auf dem deutschen und internationalen Kunstmarkt verdichteten sich auch die Aufgaben im Sekretariat. Auf Bestreben Cassirers kam es daher zu einer erneuten Umstrukturierung der internen Organisation. Cassirer überzeugte den SecessionsVorstand, ihn 1906 zum „Geschäftsführer“ zu ernennen⁵⁷ und die zweite Sekretariatsstelle (die seit dem Ausscheiden Bruno Cassirers nicht wieder besetzt worden war) für die Unterstützung der Geschäftsführung zur Verfügung zu stellen. Die Personalstruktur im Sekretariat verdoppelte sich also. In dieser Konstellation übernimmt Robert Walser 1907 die Funktion des „Sekretärs“. Einerseits ist er veranlasst, selbstständig eine administrative Schreibszene aufzubauen und die Geschäftstätigkeit des Kunstvereins zu unterstützen. Andererseits übernimmt er eine Funktionsstelle, die vor ihm in erster Linie Paul Cassirer geprägt hat. Walser und Cassirer arbeiteten im Folgenden eng zusammen. Mitunter wurde in der Forschung spekuliert, dass Walsers kurze Anstellungsdauer bei der Secession ⁵⁸ auf Schwierigkeiten mit Paul Cassirer und

 Die Berliner Secession war seit März 1899 in zwei Körperschaften organisiert: Neben der Secession als „Künstlervereinigung“, welche die Arbeiten ihrer Mitglieder ausstellte, wurde 1899 eine „Ausstellungshaus GmbH“ gegründet, die als Aktiengesellschaft mit begrenzter Haftung zur Verwaltung des Vereinsvermögens, seiner Trennung von den Gesellschaftern, für Bauvorhaben und andere Finanzangelegenheiten genutzt wurde; Matelowski: Die Berliner Secession, S. 48; Paret: Berliner Secession, S. 375, Anm. 54.  Ebd., S. 116 f.; Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 28; zur internen Kritik an Paul Cassirer vgl. Matelowski: Die Berliner Secession, S. 60 f.  „Eigentlich machen das ganze Wesen der Berliner Sezession nur ich und Leistikow“, soll P. Cassirer geäußert haben; Lovis Corinth: Selbstbiographie, Leipzig 1926, S. 150, zit. nach Casper: Paul Cassirer und die Pan-Presse, S. 10, Anm. 36.  Matelowski: Die Berliner Secession, S. 561; auf S. 60, Anm. 108 vermerkt Matelowski das Jahr 1905.  Die Anstellungsdauer Walsers ist umstritten: Echte vermutete 1990 noch eine kurze Anstellung bis „Mai 1907“, geht aber 2018 „von April bis September 1907“ aus; Echte/Meier: Die Brüder

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dessen teilweise unberechenbarer Persönlichkeit zurückzuführen sei. Tatsächlich aber zeigen die Mitgliederlisten, dass die Sekretariatsstelle nach der Ämterdopplung 1906 häufig nur für eine oder zwei Ausstellungsperioden vergeben wurde.⁵⁹ Die von Paul Cassirer prestigeträchtig aufgebaute Position des „Sekretärs der Berliner Secession“ ist nach dessen Ernennung zum „Geschäftsführer“ eine untergeordnete ‚zweite‘ Sekretariatsstelle, die von hoher Fluktuation gekennzeichnet ist.

2.1 Räumliche und zeitliche Strukturen Wie der Kontakt zwischen Walser, den Cassirers und der Berliner Secession zustande kam, ist im Detail nicht geklärt; für die weitere Argumentation ist dies aber unerheblich. Sicher ist, dass Walser über seinen älteren Bruder Karl Walser (1877‒ 1943) ‒ der in engem Verhältnis zu Max Liebermann stand und als Künstler, Buchillustrator unter anderem im Verlag Bruno Cassirer, als Bühnenbildner am Deutschen Theater von Max Reinhardt und Freskenmaler reüssierte ‒ in die Berliner Kunstszene eingeführt wurde.⁶⁰ Robert Walser wohnte bis auf wenige Unterbrechungen zwischen Dezember 1905 und Sommer 1907 bei seinem Bruder, auf der Kaiser-Friedrich-Straße 70 in Berlin-Charlottenburg.⁶¹ Die Wohnung befand sich fußläufig dreißig Minuten vom Ausstellungsgebäude der Berliner Secession auf dem Kurfürstendamm 208/209 entfernt. Für Walsers Schreibszene im Allgemeinen ist dies relevant, weil sich mit der Beschäftigung bei der Secession ein zweiter Arbeitsort für den Dichter eröffnet, der bisher seiner literarischen Produktion in den eigenen (oder fremden) privaten Wohnräumen nachgegangen war. Folgt man Walsers Selbststilisierung, so soll er 1906 das Manuskript zum

Karl und Robert Walser, S. 185; Echte: In Berlin, in: RWH, S. 27. Zihlmann spricht von nur „einige[n] Wochen“; Franziska Zihlmann: Zeittafel, in: RWH, S. 7‒12, hier S. 9. Gemeinhin nimmt man die Dauer der Secessions-Ausstellung an: 20.04.‒18.08.1907 laut Matelowski: Die Berliner Secession, S. 594; bzw. 20.04.‒01.08.1907 nach Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 210.  Oft handelt es sich um bildende Künstler. Vor Walser war 1906 der Landschaftsmaler Arthur Held (1884‒1939) als Sekretär tätig, später ist die Stelle im Schnitt für zwei Ausstellungsperioden besetzt mit „W. Oesterheld“ (1908‒1910), Theodor Stoperan (1910‒1913), „J. B. Neumann“ (1915/ 1916). Erst 1916 übernimmt sie ehrenamtlich Eugen Spiro, der frühere Ehemann von Tilla Durieux, der sie bis 1927 innehat; Matelowski: Die Berliner Secession, S. 561.  Karl Walser kannte Max Liebermann seit 1906; es entstand eine Art „Vater-Sohn-Beziehung“ künstlerischer wie privater Art; Echte/Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 183, 180. Gemeinsame Reisen von Liebermann und Karl Walser für Freilichtstudien nach Holland vgl. Mächler: Robert Walser, S. 81; ferner Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 218 f.  Wohnadressen, in: RWH, S. 13‒15, hier S. 14.

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Roman Geschwister Tanner in der Wohnung seines Bruders Karl in knapp sechs Wochen, zurückgezogen und quasi rauschhaft über Nacht, verfasst haben.⁶² Zumindest formal separiert die Möglichkeit, in ein Büro außerhalb des privaten Wohnraums zu gehen, den privaten vom beruflichen Bereich und die literarische von der geschäftlichen Tätigkeit ‒ auch wenn sich diese Trennung in praxi vielfach nicht aufrechterhält. Allein aber die Tatsache, dass die Option zur Separierung beider Sphären besteht, eröffnet die Möglichkeit, sich zum Schreiben zu Hause und zum Schreiben im Büro selbstreflexiv verhalten zu können, was in der Folge wiederum die (bewusste) Überblendung beider Modi begünstigen kann.

Abb. 1: Repräsentatives Ausstellungsgebäude der Berliner Secession nach dem Umzug 1905 auf den Kurfürstendamm 208/209 am Tiergarten.

Als Robert Walser die Sekretariatstätigkeit bei der Berliner Secession aufnimmt, hat der Verein seit zwei Jahren repräsentative Räumlichkeiten in zentraler Lage bezogen (Abb. 1). Der Umzug von der Kantstraße 12 auf den Kurfürstendamm 208/209 am Tiergarten wurde von Vorstand, Künstlern und Öffentlichkeit als sichtbares Zeichen für den Erfolg und die ambitionierte Durchsetzung der künstlerischen Ziele des

 Echte/Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 182. Im Gespräch mit Carl Seelig spricht Walser rückblickend sogar nur von „drei oder vier Wochen“; Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser, hg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung, mit Nachwort von Elio Fröhlich, 16. Auf., Frankfurt a. M. 2019, S. 49.

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Vereins gewertet.⁶³ Die neuen Räumlichkeiten verweisen aber auch deutlich auf die Geschäftstüchtigkeit Paul Cassirers. Innerhalb kürzester Zeit war es ihm gelungen, die Schulden des Vereins zu tilgen⁶⁴ und ausreichend Kapital zu erwirtschaften, sodass bereits zum zweiten Mal ein eigens auf die Bedürfnisse der Secession zugeschnittenes Gebäude errichtet werden konnte.⁶⁵ Nach den Entwürfen von Bruno Jautschus entstand ein lichtdurchflutetes, repräsentatives Ausstellungsgebäude.⁶⁶

Abb. 2: Grundriss Ausstellungsgebäude der Berliner Secession am Kurfürstendamm 208/209, Erdgeschoss und Garten, nach dem Entwurf von Bruno Jautschus.⁶⁷

 Echte/Feilchenfeld: Kunstverein Cassirer, Bd. 3, S. 8; Grundriss Kantstraße 12 in Matelowski: Die Berliner Secession, S. 585.  Nach Paret hatte die Secession 1902 „ihre Schulden zu Dreiviertel getilgt“; Paret: Berliner Secession, S. 123.  Echte: Bilder und Texte, S. 121; Matelowski: Die Berliner Secession, S. 585‒590.  Ebd., S. 586.  Abb. zit. nach Matelowski: Die Berliner Secession, S. 586.

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Der Grundriss des von Bruno Jautschus entworfenen Hauses lässt erkennen: das Sekretariat, die administrative Schaltstelle, ist wichtig (Abb. 2). Das Sekretariat befindet sich im Erdgeschoss gegenüber der Garderobe, rechter Hand im unmittelbaren Eingangsbereich. Wer die Ausstellungsräume betrat, musste das Sekretariat passieren. Bereits die architektonische Raumgestaltung suggeriert, dass der Sekretär gewissermaßen ‚immer‘ präsent ist, weil er jederzeit am Publikumsverkehr teilnehmen kann. Der Grundriss dokumentiert aber auch, dass sich die organisatorische und personale Differenzierung des Sekretariats in der Raumgestaltung niederschlägt. Oder anders ausgedrückt: der Bauplan lässt erkennen, dass Paul Cassirer die personelle Aufstockung des Sekretariats im baulichen Entwurf von 1904/1905 bereits eingeplant hatte. Das Sekretariat ist zweigeteilt (Abb. 3). Dem Publikumsstrom unmittelbar geöffnet ist nur der innen gelegene, kleinere linke Raum. Daneben, vom Eingangsbereich nicht direkt zu erreichen, sondern nur über einen Gang am ersten Sekretariat vorbei oder vom Garten über den Säulengang her zu betreten, liegt rechts ein separater Raum mit Fenster und bodentiefer Fenstertür.⁶⁸ Dieser Büroraum ist abgeschirmter als der vordere. Zugleich hat man vom Fenster einen direkten Blick in den Innenhof und zum Eingangsbereich, sodass man verfolgen kann, wer kommt, wer geht, was im Innenhof bei Festivitäten geschieht (Abb. 4).

Abb. 3: Detail Eingangsbereich und Aufteilung der Sekretariatsräume.

Die Separierung der Sekretariatsräume hat Konzept. Man darf annehmen, dass das linke kleinere Büro dem ‚zweiten Sekretär‘, Robert Walser, überlassen wurde,

 Fenster sind im Bauplan durch Strich gekennzeichnet, (Fenster‐)Türen bleiben weiß; auf Fotografien sind die Fenstertüren zu erkennen, Abb. 4 dieses Beitrags.

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während der Geschäftsführer Paul Cassirer das größere rechts außenliegende Büro genutzt haben dürfte, das mehr Rückzugsmöglichkeit bietet, um ungestört Vertragsverhandlungen und administrative Tätigkeiten zu erledigen und das Gebäude zu betreten oder zu verlassen, ohne das Haupthaus passieren zu müssen. Die räumliche Nähe zum Publikum, die das kleinere Büro links kennzeichnet, erlaubt es hingegen, neben Korrespondenz und Schriftverkehr auch jene Aufgaben wahrzunehmen, die ebenfalls in den Tätigkeitsbereich des Sekretärs fielen: Gäste in der Ausstellung herumzuführen⁶⁹ und Verkäufe anzuregen.⁷⁰ Im Prosastück Der Sekretär beschreibt Walser die Besucher geradezu als eine eindringende, nicht zurückzuhaltende Masse: „in meinem Sekretariat [verkehrte] die halbe hauptstädtische Welt […]. Personen, jeglichen Charakters, allerlei Ranges und Standes drangen mehr oder weniger heftig ins Ministerium, will sagen Hauptquartier hinein“.⁷¹ Jeder dieser Gäste, „Gestalten von allen Gattungen“: „elegante Agenten, […] gerissene Zigeuner […], vornehme Damen, […] Gelehrte, Verleger und Finanzgenies“ konnten Käufer sein.⁷² Der Sekretär musste „aufmerksam sein, der allerunscheinbarste Mann kann sich als Kenner und Käufer jäh entpuppen.“⁷³ Die administrative Schreibszene, die nicht nur Schreibarbeiten im engeren Sinne umfasst, sondern auch Kundenkontakt und Verkauf, erfordert vom Sekretär neben Sachkenntnis vor allem die Bereitschaft zum raschen Wechsel zwischen verschiedenen Kommunikationsformen und Tätigkeitsbereichen. Neben der sorgfältigen Buchführung und dem zügigen Abwickeln der täglichen Korrespondenz nimmt er am Publikumsverkehr in der Galerie und bei anderen sozialen Aktivitäten teil (Vernissagen, Ausflüge, Restaurantbesuche) und muss entsprechend interagieren können. Vergegenwärtigt man sich, dass die Ausstellungsräume Montag bis Samstag von 9 bis 19 Uhr sowie Sonntag von 10 bis 19 Uhr geöffnet waren, wie man den Eintritts- und Dauerkarten entnehmen kann,⁷⁴ dann ist die Anstellung des Sekretärs, selbst in untergeordneter Position und wenn er nicht durchgängig anwesend war, ein Fulltimejob in ständiger Interaktion mit einer Vielzahl unterschiedlicher Personengruppen.

 Ebd.  In Walsers Prosastück Der Sekretär heißt es: „Der Sekretär […] hat zu sorgen, daß recht viele Abschlüsse definitiv zustande kommen, fleißig Bilder fortverkauft werden“; SW 16, S. 273.  Ebd. [Hervorh. K.B.].  Ebd.  Ebd. [Hervorh. K.B.].  Abbildungen in Mateloswki: Die Berliner Secession, S. 67; Paret: Berliner Secession, S. 117.

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Abb. 4: Blick in den Innenhof, Ausstellungshaus Kurfürstendamm 208/209.⁷⁵

2.2 Institutionelle und interaktionale Strukturen Die räumliche Zweitteilung der Sekretariatseinheit impliziert organisatorische Hierarchien und soziale Asymmetrien, die sich auch in unterschiedlichen Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereichen niederschlagen. Um eine Schreibpraxis und schriftsprachliche Routine zu illustrieren, die für Textuierungsprozesse im Büro typisch ist, verweise ich zuerst auf eines der ersten Schriftstücke, die Walser für das „Sekretariat der Berliner Secession“ anfertigt. Die geschäftliche Mitteilung an den Kunstsammler und Mäzen Harry Graf Kessler (1868‒1937) vom 29. April 1907 lässt Rückschlüsse auf typische Schreibverfahren im Büro der Secession zu (Abb. 5). Das Schriftstück ist ganz und gar gewöhnlich: Mit Tinte ist erkennbar von Walsers Hand in regelmäßiger Sütterlinschrift die sachliche Auskunft verfasst, dass sich Lovis Corinth (1858‒1927), Künstler und Vorstandsmitglied der Secession, „auf einer Reise in Italien“ befindet. Über der Zeile erkennt man die nachträgliche Einfügung: „einer vierzehntägigen Reise“. Das Dokument scheint banal, gibt aber einen wichtigen Hinweis. Würde es sich um eine Abschrift von einer Vorlage handeln, bei der Walser ein Schreibfehler unterlaufen war – und erst recht, wenn es sich um ein Schriftstück handeln würde, das Walser selbstständig  Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 210.

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verfasst haben sollte ‒, dann hätte er sicherlich, neun Tage nach Antritt der neuen Stelle, die Mitteilung noch einmal korrekt abgeschrieben. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um ein von Walser verschriftlichtes Diktat Cassirers handelt, der nachträglich sein gesprochenes Wort korrigiert.

Abb. 5: Nachricht von Walser in der Funktion als Sekretär der Berliner Secession an Harry Graf Kessler vom 29. April 1907.⁷⁶

Das Diktat ist in der Geschäftskorrespondenz um 1900 ein verbreitetes Textuierungsverfahren. Es setzt voraus, dass mindestens zwei Personen in direktem Kontakt miteinander arbeiten, denn Diktiergeräte kamen erst in den 1930er Jahren auf den europäischen Markt.⁷⁷ Weil die Schreibsituation des Diktats, wie sie sich hier im Textträger dokumentiert, auch für die Interpretation des Briefes an Walther Rathenau (Abb. 6) bedeutsam ist, soll sie kurz eingeordnet werden. Das Briefdiktat ist eine Verschriftlichung von gesprochener Sprache, bei der ein Sender einen nicht anwesenden Empfänger adressiert, wobei die Verschriftlichung nicht vom Sender, sondern von einem Dritten, dem Schreiber, vorgenom Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 215. Ein Abdruck des transkribierten Briefes findet sich auch in Robert Walser: Werke, Bd. 1: Briefe 1897‒1920, hg. von Peter Stocker und Bernhard Echte, unter Mitarbeit von Peter Utz und Thomas Binder, Frankfurt a. M. 2018, S. 173, die Einfügung ist nicht markiert (im Folgenden zit. als BA).  Technologien der 1880/1890er Jahren setzten sich kommerziell nicht durch; erst Diktier- und Tonbandgeräte mit magnetisch beschichtetem Kunststoffband waren seit Mitte der 1930er Jahre verfügbar, wurden aber anfangs wegen ihrer Größe und schlechten Bedienbarkeit kaum nachgefragt; Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, S. 355.

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men wird.⁷⁸ Bereits die Tatsache, dass der Sender nicht selbst schreibt, sondern schreiben lässt, impliziert eine betriebsinterne und soziale Asymmetrie und Hierarchie. Der Sender verfügt über Personal, das Arbeitsanweisungen erfüllt. Der Schreiber stellt gegen Entlohnung seine Arbeitskraft (zeitlich, motorisch, kognitiv) in den Dienst des Senders bzw. der Institution. Räumlich und interaktional führt das Diktat Sender und Schreiber zusammen, die zugunsten der gemeinsamen Tätigkeit die Separierung von Arbeitsräumen und Tätigkeitsbereichen temporär aufheben. Im Geschäftsbrief an Kessler vermengen sich zudem berufliche und private Informationen: Nicht nur der Empfänger Kessler erfährt vom Sender Cassirer, dass, wohin und wie lange Corinth (gewissermaßen das Objekt der Rede) verreist ist, sondern auch der Schreiber, Walser, erhält private, interne Informationen. Zwischen Sender, Schreiber und Empfänger entsteht ein vielschichtiges Verhältnis von räumlicher, sachlicher und persönlicher Nähe und Distanz. Typisch für die Kommunikation in bürokratischen Kontexten sind Hierarchien, die sich im Brief an Kessler nicht nur durch die Diktatsituation, sondern auch auf materialer, typografischer und semantischer Ebene manifestieren. Zu den standardisierten Formalia von Geschäftsbriefen zählen u. a. der Stempel und das Kürzel. In komplexen Verwaltungsapparaten dient das Kürzel der Rationalisierung von Arbeitsvorgängen. Es subsumiert den Einzelnen unter den Funktionszusammenhang der Institution und markiert die Position innerhalb des Apparats, die nicht durch den Positionsinhaber definiert ist, sondern von beliebigen Angestellten besetzt werden kann.⁷⁹ Das Kürzel erlaubt eine Überblendung (blending) von hierarchischen Strukturen und Kompetenzbereichen: diejenige Instanz, die Vorgänge bearbeitet, ist nicht die Instanz, die Entscheidungen trifft und Anweisungen gibt, sie wird aber als ausführende Instanz mit repräsentativer Macht ausgestattet, sodass sie stellvertretend für die Institution oder Organisationseinheit steht, der sie untergeordnet ist. Neutrale Sprachformen, wie Nominalstil, Passivkonstruktionen und depersonalisierte Sprecherinstanzen, erzeugen den Eindruck von Sachlichkeit, Neutralität, administrativer Regelhaftigkeit, Routine.⁸⁰ Auch im Schreiben an Kessler wird das Kürzel verwendet, was bemerkenswert ist, denn die Personalstruktur im Sekretariat war keineswegs komplex. Denkbar ist, dass man standardisierte Formalia aus der Verwaltungssprache übernahm,

 Weitere Diktatformen (Stenografie) vgl. Gabler Bürolexikon, Wiesbaden 1982, S. 76.  Peter Becker: ‚Das größte Problem ist die Hauptwortsucht‘. Zur Geschichte der Verwaltungssprache und ihrer Reformen, 1750‒2000, in: Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von dems., Bielefeld 2018, S. 219‒244, hier S. 223.  Ebd., S. 221.

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um mit dieser Gestaltung eine Außenwirkung zu erzielen, die das Sekretariat mit Professionalität, administrativer Autorität und Routine assoziiert. In notationaler Schriftbildlichkeit⁸¹ steht das Kürzel „RW“ unter dem Stempel der Institution, die ihrerseits in der Signalfarbe Rot hervorgehoben ist, wie auf Abbildung 6 zu erkennen ist. Schrifttopografie, Typografie und Farbsymbolik signalisieren: Das „Sekretariat der Berliner Secession“ steht über dem einzelnen Sekretär, der beauftragt ist zu schreiben; der Stempel der Institution gilt mehr als der Einzelne, der ihn setzt.⁸² Der Brief an Kessler als Ausdruck der professionellen Selbstinszenierung der Institution insinuiert gewissermaßen eine komplexe administrative Schreibszene mit hierarchischen Strukturen, die zumindest personell in dieser Komplexität de facto nicht existierte. Es ist kaum zu entscheiden, ob Paul Cassirer dadurch versuchte, das Sekretariat pompöser erscheinen zu lassen, als es Personalstruktur und Waltungsbefugnisse hergaben. Doch unabhängig davon, wie sich die Hierarchien im Sekretariat tatsächlich auswirken mochten, hat der repräsentative Gestus der Verwendung von Kürzeln und Stempeln Effekte auf die Positionierung der schreibenden Subjekte. Walser benutzt im Büro nicht ‒ wie er es in seiner eigenen Geschäftskorrespondenz mit dem Inselverlag oder dem Bruno-Cassirer-Verlag tat ‒ seinen vollständigen bürgerlichen Namen „Robert Walser“,⁸³ sondern er übernimmt im Sinne einer bürokratischen Partage die Rolle einer anonymisierten Kürzel-Instanz. Schriftsprachlich repräsentiert durch das Kürzel „RW“ spaltet der empirische Schreiber Walser die bürgerliche Person Walser von der Berufs- und Angestelltenrolle des Sekretärs ab und erhält damit einen gewissen Spielraum gegenüber den eigenen Rollen. Wie aus der Verwaltungssprache bekannt, ist auch der Kessler-Brief um sprachliche Neutralität und Sachlichkeit bemüht. Rhetorisch geschieht dies durch die Wahl des Pluralis Modestiae: „Wir teilen Ihnen mit“.⁸⁴ Der im Brief realisierte Schreib- und Sprechakt nutzt in höflicher Distanz den Plural und entkoppelt die Rede von einer singulären, spezifizierten Schreiber- und Sprecherinstanz. Auf-

 „Das Lesen von notationaler Schriftbildlichkeit bezieht den ‚Stellenwert‘ des Geschriebenen, seine Topographie [auf dem Schriftträger] in den Prozess der Semiose ein“; Christian Walt: Improvisation und Interpretation. Robert Walsers Mikrogramme lesen, Frankfurt a. M./Basel 2015, S. 66.  Zur Geschichte und Akzeptanz des Stempels vgl. Magreiter: Die Diskussion über die deutsche Verwaltungssprache, S. 75.  Verwendung des vollständigen Namens in Walsers eigener Verlags- und Geschäftskorrespondenz vgl. BA 1, S. 139, 145‒172; vgl. auch Michel Foucault: Was ist ein Autor? [1969], in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Marias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 194‒229.  Brief an Harry Graf Kessler vom 29.04.1907, zit. nach Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 215; BA 1, S. 173.

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grund dieses in Bürokontexten üblichen Vorgangs ist nicht ohne Weiteres zu entscheiden, ob die Instanz, die den Schreibakt ausführt, auch die Instanz ist, die den Inhalt der Rede entwirft. Was in Anlehnung an administrative Kommunikationsformen einerseits den Eindruck von höflicher Sachlichkeit und administrativer Professionalität erzeugt, erschwert es andererseits, konkrete Sprecher- und Schreiberinstanzen eindeutig zuzuordnen. Als das sprechende „Wir“ können Cassirer, Walser, R.W., Cassirer und Walser, Cassirer oder R.W., das Sekretariat, die Berliner Secession als allgemeine Institution oder auch einzelne Mitglieder der Secession eingesetzt werden.

3 Walsers geschäftliche SecessionsKorrespondenz an Walther Rathenau Die bisherigen Beobachtungen werden interessant mit Blick auf einen Geschäftsbrief der Berliner Secession an den Industriellen, Kunstliebhaber und späteren Außenminister der Weimarer Republik Walther Rathenau (1876‒1922). Robert Walser hat den Brief am 15. Mai 1907 verfasst, vier Wochen nach Arbeitsbeginn bei der Secession. Der Brief trägt zweifelsfrei seine Handschrift (Abb. 6). Eventuell gab es im Rahmen kultureller Veranstaltungen zuvor die Gelegenheit zur Bekanntschaft zwischen Walser und Rathenau, es verwundert jedoch der privatime, wie Bernhard Echte es nennt: „nonchalante Ton“ der Korrespondenz.⁸⁵ Der Briefstil tendiert ‒ wenn man ihn nicht als sozial ungemessen bezeichnen will ‒ ins Joviale und Dichterische. Die Forschung nimmt den Brief überrascht hin und erklärt ihn mit Walsers Jugendlichkeit und Unbekümmertheit.⁸⁶ Robert Walser schreibt:

 Echte/Meier: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 184.  Echte: „nonchalant“ (ebd.); Greven spricht vom „überraschend vertrauten, ja burschikosen Ton“, sieht darin „Übermut“ und einen „faux pas“; Jochen Greven: Die beklatschte Tragödie. Robert Walser und Walther Rathenau – Versuch einer Rekonstruktion, in: Allmende 50/51 (1996), S. 11‒30, hier S. 14; Zur Beziehung Walser – Rathenau vgl. Karl Wagner: Geld und Beziehungen. Walser – Musil – Rathenau, in: Robert Walser, hg. von Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a. M. 1991, S. 323‒342.

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Abb. 6: Brief von Robert Walser in der Funktion als Sekretär der Berliner Secession an Walther Rathenau vom 15. Mai 1907⁸⁷ Herrn Dr. Walter Rathenau Berlin. Lieber, sehr geehrter Herr Doktor. Herr Cassirer und ich werden uns sehr freuen, wenn Sie uns mitteilen wollen, wann es Ihnen möglich sein wird, uns einmal zu besuchen, um uns etwas abzukaufen.Wir bitten Sie, das zu tun und hoffen, Sie werden nicht böse sein, daß wir Sie an das Versprechen erinnern, einen E. R. Weiss [Maler Emil Rudolf Weiß, K.B.] zu kaufen. Mit den Prozenten, die die Sezession

 Für die Abbildung, Druckrechte und weiterführende Informationen danke ich herzlich Dr. Reinhard Schmook, Rathenau-Gedenkstätte im Schloss Freienwalde.

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davon bekommt, haben wir bereits gerechnet, das heißt, der Gewinn ist bereits verbraucht (vertrunken) worden. Ist das nicht ein fabelhaft schönes Wetter jetzt? Wir waren eine ganze Gesellschaft zusammen, neulich in Werder, und es gab eine herrliche abendliche Motorbootfahrt. Kommen Sie doch, bitte, bald einmal. Dadurch, daß Sie uns besuchen, machen Sie, daß das Geschäft etwas besser geht. Inzwischen mit herzlichem Gruß in vorzüglicher Hochachtung, Secretariat der Secession RWalser.⁸⁸

Der Brief an Rathenau irritiert stilistische, inhaltliche und soziokulturelle Codes, die man im Rahmen der administrativen Korrespondenz eines Kunstbüros erwarten dürfte. Dass die Nachricht als Geschäftsbrief ‚durchgeht‘, verdankt sie vor allem ihrer paratextuellen und materialen Rahmung auf dem Geschäftsbriefpapier der Berliner Secession, das 1899 angeschafft wurde.⁸⁹ Briefköpfe mit Firmennamen und Anschrift drucktechnisch herzustellen, ist im Geschäftsbereich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt, u. a. aus dem Hotelwesen,⁹⁰ und wird im Literatur- und Kunstbetrieb immer üblicher, wenn auch noch nicht selbstverständlich. Der repräsentativen Funktion des Geschäftsbriefes entsprechen die typisierten Anrede- und Schlussformeln, die auch im Brief an Rathenau gewahrt bleiben. Dazwischen jedoch, im Hauptteil, wird das Parkett der Geschäftskorrespondenz weit ausgereizt. Der Briefstil schwappt mal mehr, mal weniger ins Private, ins Poetische. Dies beginnt 1. mit der Aufweichung und inkonsistenten Verwendung des Pluralis Modestiae. Das höflich neutrale, die administrative Sprecherinstanz depersonalisierende ‚Wir‘ wird konkretisiert in Form von „Herr Cassirer und ich“. Nicht primär die Institution, vertreten durch das „Sekretariat der Berliner Secession“, und auch nicht der Kürzel-Mitarbeiter „RW“ scheinen sich an Rathenau zu wenden, sondern ‒ ja wer eigentlich? Mit Blick auf die Schreibsituation des Diktats ist es zweifellos Paul Cassirer. Allerdings signiert er an keiner Stelle das Hervorgebrachte; nur in der Diegese des sprechenden (schreibenden) Ich wird er präsent, das über ihn spricht, als träte es in Personalunion mit ihm auf. Der eigentliche Sender aber spricht nicht; er lässt schreiben. Vom Schreiber-Ich gibt die Kontamination in der Unterschrift „RWalser“ zwar etwas mehr preis als das anonymisierte Kürzel „RW“, doch trifft auch hier zu, was oben zum Gestus von Stempel und Kürzel gesagt wurde: Ob die Instanz, die den Schreibakt ausführt,

 Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 215; BA 1, S. 175; Hans Dieter Hellige, Ernst Schulin und Tilman Koops (Hg.): Walther Rathenau Gesamtausgabe, Bd. 5/1: Briefe 1871‒1913, Düsseldorf 2006, S. 991, Brief ist im Kommentar abgedruckt (im Folgenden zit. als WRG).  Matelowski: Die Berliner Secession, S. 50.  Davide Giuriato: Briefpapier, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift, hg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M./ Basel 2008, S. 1‒18, hier S. 7.

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auch die Instanz ist, die den Inhalt der Rede entwirft, ist nicht zu entscheiden. Prinzipiell könnten verschiedene Personen der Sender des Briefes sein. 2. Im Gegensatz zum Kessler-Brief fehlen im Brief an Rathenau die für die Geschäftskorrespondenz typischen syntaktischen Formen, wie Nominalstil, Passivkonstruktionen und Hypotaxe. Die sprachformalen Konventionen des Geschäftsbriefs treten in den Hintergrund. 3. Stattdessen beschreibt das sprechende Ich im Namen des Adressanten-Wir subjektive Empfindungen und Eindrücke, das Wetter und die Stimmung bei geselligen Ausflügen betreffend. 4. Dieser für die Geschäftskorrespondenz ganz und gar untypische Sprachgebrauch wird auf inhaltlicher Ebene fortgeführt. Unvermittelt wechselt das sprechende Ich zwischen geschäftlichem und subjektivem Sujet. Neben Impressionen von Motorbootfahrten⁹¹ sind von vorrangigem Interesse ‒ nicht nur, aber auch ‒ die unverblümt und wiederholt eingebrachten Aufforderungen zum Kauf, zur Abnahme etwaiger von der Secession angebotener Kunstobjekte: „wann [wird] es Ihnen möglich sein, uns einmal zu besuchen, um uns etwas abzukaufen. Wir bitten Sie, das zu tun“, „wir erinnern Sie an das Versprechen, einen E. R. Weiss zu kaufen.“ Die Dringlichkeit der Kaufaufforderung wird gesteigert, indem in einer Art Klimax oder Hyperbel der erwartete Gewinn als bereits verausgabt ‒ „vertrunken“, d. h. verschleudert ‒ erklärt wird. Da die Schriftzüge keinerlei Unregelmäßigkeiten erkennen lassen, sondern im Gegenteil ausgesprochen gleichmäßig und ohne jeden Absatz verlaufen, wie es für Walsers Handschrift typisch ist (Abb. 6), gibt es keinen Grund dafür anzunehmen, dass der Schreiber durch Trunkenheit beeinträchtigt gewesen sei oder den Brief spontan im Überschwang dahingekritzelt habe. Vielmehr spricht das Schriftbild dafür, dass der Brief in vollem Bewusstsein, mit Sorgfalt und Überlegung verfasst worden sein muss. Am Ende gibt der Brief sogar ungeniert zu erkennen, dass jegliche Kontaktaufnahme dem Ziel dient, die eigene Geschäftstätigkeit zu steigern: „Dadurch, daß Sie uns besuchen, machen Sie, daß das Geschäft etwas besser geht“. Walther Rathenau hat auf diesen Brief nie geantwortet. In keinem der Nachlässe, weder von Cassirer noch von Rathenau, nicht im Walser-Nachlass und an keiner anderen Stelle ist ein Antwortschreiben überliefert. Rathenau und Cassirer waren zwar einander bekannt und verkehrten miteinander ‒ Rathenau zählte in Deutschland zu den ersten Käufern der Werke Edvard Munchs und stellte sie u. a. als Leihgabe dem Kunstsalon Cassirer zur Verfügung.⁹² Cassirers Salon

 Biografische Hinweise bei Echte: Leben in Bildern und Texten, S. 214.  Munchs Ölgemälde Regenwetter in Christiana, das Rathenau 1893 erworben hatte, hing 1907 im Kunstsalon Cassirer auf der Victoriastraße 35; WRG 5/1, S. 780 f., Anm. 1 und S. 454 f. Zur selben Zeit begann Munch mit seinem berühmten Rathenau-Portrait, das er im Haus des Industriellen auf

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befand sich schräg gegenüber von Rathenaus Wohnhaus, auf derselben Straße im Berliner Tiergartenviertel,⁹³ sodass Rathenau mit Sicherheit Gast im Salon war, doch ein derart vertrautes Verhältnis zwischen Cassirer und Rathenau, wie es der Brief suggeriert, und erst recht zwischen Rathenau und Walser, legt die Überlieferung nicht nahe. Ein brieflicher Austausch bestand nicht.⁹⁴ Terminvereinbarungen oder Telefonnotizen, die auf private Verabredungen und eine freundschaftliche Beziehung hinweisen könnten, sind nicht auffindbar.⁹⁵ Nur dreimal vermerkt Rathenaus Tagebuch persönliche Treffen.⁹⁶ Nicht zuletzt ist der Vorname Walther im Secessions-Brief falsch geschrieben („Walter“), was an einem vertrauten Verhältnis ebenfalls zweifeln lässt (Abb. 6). In der Funktion als Sekretär der Secession kann es zwar zwischen Walser und Rathenau, wie Jochen Greven vermutet, zu einem Treffen auf Rathenaus Landsitz in Bad Freienwalde gekommen sein.⁹⁷ Dies ist nicht auszuschließen, doch stützt sich Grevens Argumentation

der Victoriastraße 3 anfertigte; Brief Rathenau an Munch vom 15.01.1907, in: WRG 5/1, S. 780. Interesse Rathenaus an Munchs Malerei bereits 1892; WRG 5/1, S. 45.  Rathenau bewohnte das Haus seiner Großeltern auf der Victoriastraße 3, der Kunstsalon Cassirer befand sich unmittelbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite, Victoriastraße 35; Harry Graf Kessler: Gesammelte Schriften in 3 Bde., hg. von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster, Bd. 3: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, mit Nachwort und Anmerkungen von Cornelia Blasberg, Frankfurt a. M. 1988, S. 13. Zur sozialen Dynamik des Berliner Tiergartenviertels mit seiner regen Haus- und Salongeselligkeit; vgl. Heinz Reif: Adel, Aristokratie, Elite. Sozialgeschichte von Oben, Berlin/Boston 2016, S. 173 f.  Nur vier Briefe zwischen Rathenau und Cassirer sind überliefert, deren Ton sachlich gehalten ist: Brief von Rathenau an Cassirer vom 22.07.1909 mit der Bitte um finanzielle Unterstützung des Schriftstellers und Malers Max Dauthendey, die Cassirer ablehnt; WRG 5/1, S. 892 f. Brief von Rathenau an Cassirer vom 19.02.1911, Rat, um den Cassirer Rathenau mündlich gebeten hatte, bezüglich der Jagow-Affäre, in die Tilla Durieux verwickelt war; Antwort von Cassirer am 01.03. 1911 und sehr knapper, förmlicher Dank für Information von Rathenau am 03.03.1911; WRG 5/1, S. 982 f. Briefe zwischen Walser und Rathenau sind nicht überliefert. In Rathenaus Tagebuch wird Walser nicht erwähnt; vgl. Walther Rathenau: Tagebuch 1907‒1922, hg. und kommentiert von Hartmut Pogge von Strandmann, Düsseldorf 1967.  Für diese Auskunft danke ich herzlich dem Mitherausgeber der Walther-Rathenau-Gesamtausgabe, Bd. 5/1, 5/2, Dr. Alexander Jaser, demnach alle Dokumente von oder an Paul Cassirer, Bruno Cassirer und Robert Walser in der Gesamtausgabe publiziert worden sind, auch unter Berücksichtigung der in Moskau befindlichen Teile des Rathenau-Nachlasses. Unter den im Kommentar WRG 5/1, S. 34 und WRG 5/2, S. 2681 erläuterten Dokumenten, die nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen wurden, finden sich demnach keine an oder von den o. g. Personen.  Treffen Rathenau und Cassirer am 18. und 19.02.1911 sowie am 08.04.1911 zur Abendgesellschaft bei Lotte Cassirer, geb. Jacobi, Mutter von Paul Cassirer; Rathenau: Tagebuch 1907‒1922, S. 129, 136, kein Tagebucheintrag zu Walser. Hierzu auch Wagner: Walser – Musil – Rathenau, S. 335.  Greven: Die beklatschte Tragödie, S. 17.

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ausschließlich auf fiktionale Texte, andere Quellen gibt es nicht, und der Besuch wurde offenbar nicht wiederholt.⁹⁸ Kurzum, nach bisherigem Kenntnisstand wirkt der jovial-poetische Ton, wie ihn der Secessions-Brief von Walser und Cassirer an Rathenau anschlägt, so ungewöhnlich und geradezu despektierlich, dass man sich fragen muss, welchem Zweck der Brief dient.Wie lässt sich die Funktion eines ‚geschäftlichen‘ Schreibens, das doch geradezu ins Poetische tendiert, erklären und einordnen? Ein Geschäftsbrief, der explizit eine Kaufaufforderung formuliert, dabei aber offenlässt, welches konkrete Objekt aus einem Spektrum möglicher Waren, die ein Unternehmen anbietet, gewählt werden kann (‚kaufen Sie einen Weiß oder etwas anderes‘), ist im Grunde genommen ein Werbebrief. Hierzu heißt es im Handbuch Brief: Der Werbebrief war „vor dem Ersten Weltkrieg kaum bekannt“ und ist dadurch charakterisiert, dass er „ursprünglich vom Firmenchef persönlich […] fortan von Angestellten in dessen Auftrag verfasst wurde“.⁹⁹ In den 1920er Jahren wurden erste „Werbebriefwettbewerbe“ veranstaltet und im Nachgang publiziert.¹⁰⁰ Die Vorworte geben Hinweise, wie ein solcher Text zu gestalten sei. Demnach soll der Werbebrief den Empfänger „mit der Kraft eines persönlich an ihn gerichteten und für ihn geschriebenen Briefes […] erreichen“, Ziel sei die „Herbeiführung einer ‚Atmosphäre der Kaufbereitwilligkeit‘“, die zum „direkte[n] wirtschaftliche[n] Erfolg“ führt.¹⁰¹ Wie eine solche ‚Atmosphäre‘ sprachlich am besten herzustellen sei, scheint indes anfangs keineswegs klar gewesen zu sein, da sich die Werbebriefe erst nach und nach ‚verbessert‘ hätten.¹⁰² Allerdings: Eine Bindung zwischen Sender und Empfänger herzustellen, mit der Kraft der persönlichen Überzeugung und der poetischen Pointe kommunikativ auf den Adressaten einzuwirken und durch die Suggestion einer persönlichen ‚Atmosphäre‘ die Kaufkraft anzuregen, diese Absichten lassen sich auch im Secessions-Brief von Robert

 Grevens Argumentation stützt sich ausschließlich auf fiktionale Texte von Walser, den unveröffentlichten Räuber-Roman und den Prosatext Zwei Männer, publ. August 1918 in: Deutsche Monatshefte; SW 16, S. 194‒204; Greven: Die beklatschte Tragödie, S. 17 f.  Marie-Helene Wichmann: Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund?, in: Handbuch Brief.Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres, hg. von Marie Isabel Matthwes-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel, Berlin/Boston 2020, S. 536‒552, hier S. 537.  Ebd., S. 538.  Ebd., S. 538 f.  In einer 1928 publizierten Sammlung der ‚Gewinner der besten Werbebriefe‘ stellen die Herausgeber fest: „Wer die Sammlungen aufmerksam durchliest, wird zugestehen, daß die Briefe besser geworden sind, besser in der Form und besser in der Werbekraft ihres Inhaltes“, zit. nach ebd., S. 539.

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Walser und Paul Cassirer an Walther Rathenau erkennen. Wir haben es offenbar mit einer Vorform des Werbebriefs um 1900 zu tun.

4 Resümee: Interferenz von literarischer und administrativer Schreibszene Seit dem 20. Jahrhundert ist der Einsatz poetischer und rhetorischer Mittel in der Werbebranche gang und gäbe.¹⁰³ Um 1900 ist dies jedoch noch nicht der Fall, vielmehr entwickelt sich die Werbung sukzessive mit der industrialisierten Warenwelt. Mit ihrer Sprache, ihren Formen und Logiken für Aufmerksamkeitspolitiken greift die Werbung in ökonomische und künstlerische Bereiche ein; unter dem „stilistischen Einfluss des Werbewesens“ entwickeln sich „im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert neue Formen der wirtschaftlichen Ausdrucksweise“.¹⁰⁴ Als Kunstmanager der ersten Stunde ‒ so legen es die bisherigen Beobachtungen zu den Strukturen und Arbeitsweisen im Sekretariat der Berliner Secession nahe ‒ versteht es Paul Cassirer zweifellos, diese Tendenzen für die strategische Positionierung der von ihm vertretenen Institutionen, die Berliner Secession und den Kunstsalon Cassirer, zu nutzen. Kunstobjekte als käufliche Waren zu behandeln und Kunst durch eine gezielte Inszenierung zu vermarkten, ist im Kunstbetrieb der Jahrhundertwende ein Novum und Paul Cassirer einer der ersten, der diese Art von Kunstmanagement geschickt forciert.¹⁰⁵ In persona lebt er diese Überzeugung und verteidigt sie auch gegen Widerstände aus den eigenen Reihen. Die von Cassirer im Sekretariat etablierten Strukturen sind hierarchisch, bieten aber auch Freiräume für kreatives Engagement.Vor diesem Hintergrund scheint es nicht plausibel, Walsers Brief an Walther Rathenau als eigenständiges Produkt des jungen ‚unbekümmerten‘ Dichters zu begreifen, der das Decorum der Berliner Kunst- und Geschäftswelt ‚nonchalant‘ ignoriert.¹⁰⁶ Vielmehr zeigt sich das Gespür Paul Cassirers für geschäftliche Innovation: Im Sinne der Berliner Bohème

 Maximilian Weiß: Ambiguität und Werbesprache. Formen, Verwendung und Nutzen sprachlicher Mehrdeutigkeit in der Werbung, Hamburg 2011.  Wichmann: Der Werbebrief, S. 537.  Möhrmann: Tilla Durieux und Paul Cassirer, S. 29.  Hierzu Anm. 85 und 86 dieses Beitrags; von einem „Scheitern“ Walsers in Berlin spricht auch Christoph Siegrist: Vom Glück des Unglücks. Robert Walsers Bieler und Berner Zeit, in: Robert Walser, hg. von Karl-Michael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a. M. 1991, S. 56‒69, hier S. 56; Hans-Ulrich Treichel: ‚Wo der raue, böse Lebenskampf regiert‘. Robert Walser in Berlin, in: ders.: Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur, Frankfurt a. M. 2000, S. 50‒54.

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bedient er Ästhetik und Provokation und setzt sie zu Zwecken des Marketings bewusst ein, um moderne Kunst mit Verve zu verbreiten und zu verkaufen. Dies zeigt sich auch an der Art und Weise, wie Cassirer die Außenwirkung der künstlerischen Institutionen kreiert und lenkt. Dazu stellt er poetisch talentierte Mitarbeiter wie Robert Walser ein, die im engen Kontakt mit Cassirer ‒ d. h. kollaborativ in der Schreibsituation des Diktats ‒ eine Art Postsendung entwerfen, die persönlich wirken soll, das Flair der Berliner Avantgarde mit all ihren Brüchen und der Tendenz zum Überraschenden und Absurden abbildet und zugleich handfeste monetäre Interessen des Unternehmens verfolgt. Schreibverfahren und literarische Darstellungsweisen, die Walser meisterhaft beherrscht (Ausdruck von Subjektivität, augenblickhafte Impressionen, Detailbeschreibungen, Spannungsaufbau durch überraschende Wendungen), erkennt Cassirer als geeignete Mittel, um gewissermaßen eine PR- und Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen, die den ökonomischen und strategischen Interessen des Kunstbetriebs entgegenkommt (Kunden- und Sponsorenakquise, Netzwerkbildung mit kulturellen, politischen und ökonomischen Funktionseliten, Aufmerksamkeit/Öffentlichkeitswirksamkeit). Das Sekretariat der Berliner Secession mit seinen fluiden Zonen und Sphären räumlicher, personaler, interaktionaler Nähe und Distanz ist der Ort, an dem sowohl administrative Verwaltung, monetäre Interessen und Abhängigkeiten als auch künstlerische Existenz- und Ausdrucksformen zusammenlaufen. Dies findet auch im Schriftverkehr einen Niederschlag, genauer im neu entstehenden Medium des Werbebriefs. Administrative und literarische Schreibszene greifen ineinander, sie interferieren. Dass Cassirers Konzept Erfolg hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Kunstliebhaber Walther Rathenau der Berliner Secession eng verbunden bleibt und in den kommenden Jahren u. a. zu einem Förderer des Künstlers Emil Rudolf Weiß wird. Die Gesamtausgabe von Rathenaus Schriften, die 1918 bei Samuel Fischer in Berlin erscheint, wird auf ausdrücklichen Wunsch Rathenaus von „E.R. Weiß“ ausgestattet, der 1907 auch als Mitglied in die Berliner Secession aufgenommen wird.¹⁰⁷ Der provokante Werbebrief hat für die geschäftlichen Verbindungen zwischen Rathenau, der Berliner Secession, den Künstlern und den Sekretären Cassirer und Walser keinerlei nachteilige Folgen.

 WRG 5/2, S. 1745 f.; zum Briefwechsel zwischen Rathenau und Weiß vgl. WRG 5/1, S. 1018, 1038; ferner WRG 5/2, S. 1742 f.; Rathenau: Tagebuch 1907‒1922, S. 130, 134 (Treffen Rathenau und Weiß am 22.02.1911 und 26.03.1911). Zudem war Rathenau gelegentlich Gast in der sog. „Donnerstagsgesellschaft“, der Weiß angehörte; hierzu u. a. Andreas Hansert: Georg Hartmann (1870‒ 1954). Biografie eines Frankfurter Schriftgießers, Bibliophilen und Kunstmäzens, Wien/Köln/ Weimar 2009, S. 74, 49 f.; zur Stellung Weißʼ in der Secession vgl. Matelowski: Die Berliner Secession, S. 579, 663, 66 (Vorstandsmitglied 1908).

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Im Gegenteil, für Robert Walsers Schreibszene im Allgemeinen ist das Umfeld der Berliner Secession in mehrfacher Hinsicht produktiv. Er findet hier nicht nur Anregungen und Motive für sein literarisches Schaffen und verarbeitet sie in den ‚Bürotexten‘ der 1920er Jahre, sondern Paul Cassirer versteht es zweifellos, die poetischen und schreibpraktischen Kompetenzen des jungen Dichters Walser, seine literarische Kreativität, die tadellose Handschrift und seine Qualitäten als Sekretär für die Institution zu nutzen und auszubauen. Es zeigt sich, dass Robert Walser fähig ist, sein Schreiben funktional zu differenzieren: Ebenso versiert wie er unterschiedliche Textsorten und Genre für diverse Zeitungen, Zeitschriften und Verlage verfasst, ist er in der Lage, Geschäftskorrespondenzen entweder standardmäßig anzufertigen oder kreativ zu variieren. Seine Schreibszene offenbart eine Flexibilität, die alles andere anzeigt als einen Unbekümmert-Ungelenken, der auf dem Parkett der Berliner Avantgarde und als Sekretär der Berliner Secession „gescheitert“ sei.¹⁰⁸ Im Gegenteil zeugt die Flexibilität seiner Schriftkompetenz von einer Professionalität, die Robert Walser im Umgang mit heterogenen Modi des Schreibens in unterschiedlichen Schreibumgebungen schon in jungen Jahren entwickelt.

 Siegrist: Vom Glück des Unglücks, S. 56.

Autorinnen und Autoren Stefan Abel ist Dozent für Ältere deutsche Literatur am Institut für Germanistik an der Universität Bern. Er habilitierte sich mit einer Arbeit zur Chrétien-Überlieferung in mittelhochdeutschen Bearbeitungen um 1200. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Geistlichen und höfischen Literatur des Spätmittelalters, der historischen Narratologie und Kulturgeschichte, der Paläographie, Kodikologie und Editionswissenschaft. Demnächst erscheinen u. a. …Unheimliche Begegnungen der dritten Art im silvanen Third Space der deutschen Artusepik, in: Der Wald in der Literatur des Mittelalters. Konzept – Funktionen – Deutungen, hg. von Simone Schultz-Balluff und Franziska Hammer, Tübingen 2023 (bei den Hg.); Cut, copy, and paste in der Reimpaarrede vom ‚Hurübel‘ nach dem Frankfurter Druck von 1545, in: Framing, Deframing, Reframing. Wege, Mechanismen und Strategien der kulturellen Aneignung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Christina Antenhofer und Heike Schlie, Heidelberg 2022 (bei den Hg.). Katja Barthel ist Postdoc am Institut für Germanistik an der Universität Osnabrück. Sie studierte Germanistik und Kulturwissenschaften in Leipzig und Lyon. Promotion an der Universität Halle/Wittenberg und der Universität Gießen. Derzeit arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt zur Inszenierung ästhetischer Produktionsprozesse und literarischer Schreibpraktiken um 1900. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Geschichte des 17./18. Jahrhunderts, Gattungstheorie, Genderstudies, Schreibprozessforschung. Publikationen u. a. Abenteuerin, Affekt, Alterität im Roman zwischen Barock und Aufklärung. Am Beispiel von August Bohses ‚Ariadne von Toledo‘ (1699), in: Triebökonomien des Abenteuers, hg. von Susanne Gödde u. a., Paderborn 2022, S. 175–206; gemeinsam mit Friedolin Krentel u. a.: Library Life. Werkstätten kulturwissenschaftlichen Forschens, Lüneburg 2015. Barbara Becker-Cantarino ist Professor Emerita für Literaturwissenschaft und Geschichte. Sie lehrte an den Universitäten an der Indiana University (Bloomington), University of Texas (Austin), der Ohio State University (Columbus) und war Gastprofessorin in Berlin, Breslau, Oxford, Graz und Maryland. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts (Aufklärung, Pietismus, Romantik) mit Fokus auf Frauen- und Genderforschung; Migrationsforschung (insbesondere deutscher Emigrant:innen nach Nordamerika). Publikationen u. a.: Bettina von Arnim Handbuch, Berlin/Boston 2019; Feministische Forschung zur Frühen Neuzeit und Aufklärung. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert, in: Aufklärung, Bd. 32 (2020), S. 323‒ 350; Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, Berlin 2010. Anke Bosse ist Professorin für Neuere deutschsprachige Literatur an der Universität Klagenfurt und Leiterin des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchivs. Zuvor hatte sie den Lehrstuhl für Neuere deutschsprachige Literatur und Komparatistik an der Universität Namur in Belgien inne. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der deutschsprachigen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, insbesondere in der Goethezeit und der österreichischen Gegenwartsliteratur, in der Schreibprozessforschung, der Archiv- und Editionsforschung sowie den Digital Humanities. Publikationen u. a. gemeinsam mit Christina Glinik und Elmar Lenhart (Hg.): Inter- und transmediale Ästhetik bei Josef Winkler, Berlin/Heidelberg 2022; gemeinsam mit Walter Fanta (Hg.): Textgenese in der digitalen Edition, Berlin/Boston 2019. https://doi.org/10.1515/9783110792447-015

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Autorinnen und Autoren

Jennifer Clare ist Postdoc am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hildesheim. Sie studierte Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaft in Hildesheim mit Arbeitsstationen an den Universitäten London und Guangzhou. Derzeit arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt zu relationalen auto/biographischen Praktiken und Geschlechtlichkeit im frühen 19. Jahrhundert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Schreibprozessforschung und die Literatursoziologie. Zuletzt erschienen u. a. ‚Prenuptial Agreements‘ und ‚Rewards‘. Subjektivierung und Autoästhetik in kollaborativen Schreibprojekten der Gegenwart, in: Fakten und Fiktionen im Zwischenraum. Autoästhetische Praktiken im 21. Jahrhundert, hg. von Patricia Cifre Wibrow und Arno Gimber, Salamanca 2020. S. 121–134; gemeinsam mit Susanne Knaller, Rita Rieger u. a. (Hg.): Textprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg 2018. Élisabeth Décultot ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle und leitet seit September 2020 das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung (IZEA) dieser Universität. Ihr wurde 2015 eine Alexander-von-Humboldt-Professur verliehen, nachdem sie zwischen 2005 und 2015 als „Directrice de recherche“ am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris tätig war. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kunstliteratur des 18. bis 19. Jahrhunderts sowie in der Geschichte der gelehrten Praktiken der frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Exzerpierens. Publikationen u. a. gemeinsam mit Martin Dönike u. a. (Hg.): Die WinckelmannRezeption in Italien und Europa, Berlin/Boston 2021; gemeinsam mit Helmut Zedelmaier (Hg.): Exzerpt, Plagiat, Archiv. Untersuchungen zur neuzeitlichen Schriftkultur, Halle/S. 2017. Jan Habermehl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Mainz und Frankfurt am Main. Derzeitige Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkte: Wissens- und Gebrauchsliteratur der Frühen Neuzeit, insbesondere Drucke zur praktischen Geometrie (Dissertationsprojekt), Edition und Kommentar von Frauenlob-Tönen der Kolmarer Liederhandschrift, außeruniversitäre Frühgermanistik. Publikationen u. a. ‚Hier van daan ging ik na een Boekverkoopers winkel‘. Buchmarktkenntnis und poetologische Selbstreferenzialität in einem niederländischen Szeneroman des späten 17. Jahrhunderts, in: Daphnis 48 (2020), S. 435–461; Art. Johann Faulhaber, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon (VL17), hg. von Stefanie Arend u. a., Berlin/Boston 2020, Bd. 2, Sp. 829–841. Stephan Kammer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig- Maximilians-Universitä t Mü nchen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Theorie und Geschichte des Künstlichen, der deutschsprachigen Literaturen des 17. bis 21. Jahrhunderts im medialen Kontext, in der Kultur- und Wissensgeschichte der Medialität und er arbeitet u. a. zur Literatur- und Wissensgeschichte der Schrift, des Schreibens und der Philologie. Auswahl an Publikationen: gemeinsam mit Karin Krauthausen (Hg.): Make it real. Fü r einen strukturalen Realismus, Zürich 2020; Ü berlieferung. Das philologisch- antiquarische Wissen im frü hen 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2017; gemeinsam mit Davide Giuriato (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt a. M./Basel 2006. Martin Klöker ist Senior Researcher am Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn/Estland. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, speziell die literarische Kultur im Baltikum in europäischen Bezügen, Bildungsgeschichte sowie Buch- und Bibliothekswesen. Publikationen

Autorinnen und Autoren

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u. a. Die mediale Pragmatik der Aufklärer in der Region: Hupel – Schubart – Möser, in: Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext, hg. von Liina Lukas, Berlin/Boston 2021, S. 187‒206; David Hilchen: Sub velis poeticis. Lateinische Gedichte, hg., übers. und komm. von Kristi Viiding und Martin Klöker, Münster 2021; Caspar und Catharina. Eine Revaler Liebe in Briefen des 17. Jahrhunderts, Münster 2020. Cornelia Ortlieb ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Zuvor war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Komparatistik an der FAU Erlangen-Nürnberg und Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die europäische Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, die Materialität von Schrift und Schreiben, literaturwissenschaftliche Objektforschung. Publikationen in Auswahl: Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die ‚Vers de circonstance · Verse unter Umständen‘, Dresden 2020; gemeinsam mit Tobias Fuchs (Hg.): Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, Hannover 2017. Michael R. Ott lehrt als Akademischer Oberrat auf Zeit an der Ruhr-Universität Bochum und vertrat 2021/22 den Lehrstuhl für Mediävistische Germanistik an der Universität Freiburg. 2022 erschien seine Habilitationsschrift. Derzeit arbeitet er gemeinsam mit Helge Perplies im Rahmen einer Förderung der Volkswagenstiftung an postromantischen Perspektiven auf die mittelalterliche Literatur. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Kulturwissenschaften, die Postcolonial Studies, die Geschichte der Germanistik sowie spätmittelalterliche Prosaromane. Publikationen u. a.: Die Germanistik und ihre Mittelalter. Textwissenschaftliche Interventionen, Berlin/Boston 2022; gemeinsam mit Thomas Meier u. a. (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin/München/Boston 2015. Rita Rieger ist Elise-Richter-Stelleninhaberin am Zentrum für Kulturwissenschaften an der Universität Graz. Habilitationsprojekt zu Poetiken der Bewegung in französischen Tanztexten des 18. Jahrhunderts. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Schreibpraktiken und Schreibkonzepte der Moderne, Emotion und Text, spanische und französische Literatur um 1900 sowie Tango Argentino in Literatur und Film. Publikationen: Bewegungsszenarien der Moderne. Theorien und Schreibpraktiken physischer und emotionaler Bewegung, Heidelberg 2021; zusammen mit Susanne Knaller, Jennifer Clare u. a. (Hg.): Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg 2018. Elisabeth Wåghäll Nivre ist Professorin für germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Sie promovierte an der Washington University, St. Louis und war am Davidson College, an der Technischen Hochschule Karlskrona und an der Universität Växjö tätig. Seit 2018 ist sie Vizerektorin an der Universität Stockholm und Dekanin der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der frühneuzeitlichen Literatur und Kultur, im Bereich Wissenstransfer, Life Writing / Subjektivitäts- und (Auto‐)Biografieforschung. Publikationen: Grenzen des Enzyklopädischen? Erfahrungen von der Stadt als Lebens- und Wirkungsraum im frühneuzeitlichen Prosaroman, Wiesbaden 2019; gemeinsam mit Maren Eckart: Narrating Life. Early Modern Accounts of the Life of Queen Christina of Schweden (1626‒ 1689), Berlin/Boston 2010; Dargestellte Welt – Reale Welt. Freundschaft, Liebe und Familie in den Prosawerken Georg Wickrams, Frankfurt a. M. 1996.

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Autorinnen und Autoren

Sandro Zanetti ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Zuvor war er Professor an der Universität Hildesheim und lehrte im Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Produktionsästhetik und Schreibprozessforschung, die Lyrik vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Medien- und Literaturtheorie. Publikationen in Auswahl: Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten, Dietzingen 2022; gemeinsam mit Agathe Mareuge (Hg.): The Return of DADA / Die Wiederkehr von DADA / Le Retour de DADA, 4 Bde., Dijon 2022; Celans Lanzen. Entwürfe, Spitzen, Wortkörper, Zürich 2020.

Personenregister Abaelardus, Petrus 57 f. Amman, Jost (Kupferstecher) 68 – 72, 74 Arnim, Achim von 23, 164, 167 Arnim, Bettina von 23, 25, 151, 153, 164‒174 Assing, Rosa Ludmilla 193 August III., König von Sachsen 154 Augustinus 103, 105 Barlach, Ernst 279 Baudelaire, Charles 228 Beckmann, Max 279 Berendis, Hieronymus Dieterich 200, 204 Bianconi, Giovanni 154 f. Bodmer, Johann Jakob 155 f. Botticelli, Sandro 103, 105 Brehme, Christian 138 Brentano, Bettina 23, 25, 151, 153, 164 – 174 Brentano, Clemens 164, 166, 174 Bulaeus, Christoph 85 Bünau, Heinrich von 200, 204 Burkhardt, Jacob 168 Carriere, Moriz 168, 172 Cassirer, Bruno 279 f., 289 – 292, 300, 305 Cassirer, Paul 27, 279 – 281, 287, 289 – 292, 294 – 296, 300‒309 Catull, Gaius Valerius 156 Cicero, Marcus Tullius 54 Colin, Philipp 46, 48 – 51, 60 f., 64 Corinth, Lovis 279, 291, 297, 299 Cramer, Daniel 84 f. Crusemarck, Johannes 133 f. Da Vinci, Leonardo 246, 254 f. Denain, Wauchier de 46 f. Descartes, René 250 Dobbin, Sophia 130 Döring, Julius 170 Durieux, Tilla 279, 287, 289 – 292, 305 Eichendorff, Joseph von 151, 153 Eschenbach, Wolfram von 45 – 47, 51, 64 f.

https://doi.org/10.1515/9783110792447-016

Fleming, Paul 25, 85, 132, 136, 140, 143 – 145 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 166, 170 – 172 Frisé, Adolf 264, 276 Fürstenberg-Haslach, Gottfried von (Graf) 50 Fürstenberg-Haslach, Herzelaude (Tochter des Grafen Gottfried von FürstenbergHaslach und der Gräfin Anna von Montfort) 50 Galle, Johannes (Kupferstecher) 75 Garzoni, Tommaso 84 f. Geibel, Emanuel 168 Ghirlandaio, Domenico 103 – 105, 107 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 160 Goethe, Catharina Elisabeth, geb. Textor 164, 166 f., 170 f. Goethe, Johann Wolfgang von 90, 163 – 168, 170 f., 173, 219 Gogh, Vincent van 287 Grimm, Jacob und Bruder Wilhelm 62, 164, 170 Grimm, Ludwig Emil (Kupferstecher) 165 Günderode, Karoline von 164, 168 f., 174 Gustav Adolf, König von Schweden 84 Gutenberg, Johannes 73, 77 f., 82, 85‒87. Gutermann, Sophie 151 – 163, 172 f. Gutzkow, Karl 174 Hagedorn, Friedrich von 156 Halberstadt, Albrecht von 118, 124 Hall-Church, Henry 266, 269 – 271 Haller, Albrecht von 156 Heidenreich, Tobias (Drucker) 84 Henslin 49 Hohenfeld, Christoph Philipp Willibald von 161 Hölderlin, Friedrich 8 Hornschuch, Hieronymus 76 f., 79 – 86 Hoyen, Catharina von der 25, 129, 131‒149 Hoyen, Iwan von der 130

316

Personenregister

Humboldt, Alexander von 170 Huß, Matthias (Drucker) 68 Jautschus, Bruno (Architekt)

294 f.

Kafka, Franz 8, 261 Kandinsky, Wassily 279 Karl Alexander August Johann, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 171 Karoline, Landgräfin von Hessen-Darmstadt 159 Kessler, Harry Graf 297 – 300, 304 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 155 f., 160 Kollwitz, Käthe 279 Köselitz, Heinrich 112 La Roche, Frank 158 La Roche, Georg Michael Frank 157 f. La Roche, Maximiliane 164 La Roche, Sophie von 151 – 174 La Rochefoucauld, François de 212 f. Lantzenberger, Michael (Drucker) 80, 84 Laurent, Méry 231 – 233 Leistikow, Walter 279, 291 Lichtenberg, Georg Christoph 8, 10, 38 – 40, 201, 203, 207, 285 Liebermann, Max 279, 287, 289 f., 292 Lorichius, Gerhard 123 f. Ludwig, Kaiser von Bayern 49 Luther, Martin 67, 70 Mallarmé, Stéphane 26 f., 219 – 236, 243, 246, 253 f. Malling-Hansen, Rasmus 110 Mayer, Caroline 200 Meyer, Anna Ovena 133, 138, 140 Meyer, Barbara 155 f. Meyer, Caspar 25, 129‒149 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 198 f. Montreuil, Gerbert de 45 f. Moscherosch, Johann Michael 139 f. Munch, Edvard 304 f. Musil, Martha 264 f., 267 Musil, Robert 21, 27, 261 – 277, 301, 305

Napoleon III. 228 Nathusius, Philipp 169 Niebuhr, Marcus 168 Nietzsche, Elisabeth 111 Nietzsche, Friedrich 10, 18, 110 – 112, 187, 285 Opitz, Martin 25, 117, 136 f., 139 – 142, 145 Oppenheim, Heinrich Bernhard 168 Ostein, Graf Johann Friedrich Karl von 157 Overbeck, Franz 110, 112 Ovid 56, 118, 120, 124 – 126, 132, 156, 211 Paul, Jean 26, 198, 200, 202, 207 Petrarca, Francesco 98 – 102, 109 Philipp IV., König von Portugal 49 Pine, Sampson 49, 60 Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Heinrich von 164, 167 f. Raabe, Max 89 Rappoltstein, Johann von 24, 45 – 66 Rappoltstein, Ulrich von 49 – 54, 66 Rathenau, Walther 279, 281, 298, 301 – 308 Rée, Paul 110, 112 Reinhardt, Max 292 Richardson, Jonathan 215 Rievaulx, Aelred von 54 Ritzsch, Georg (Drucker) 84 f., 87 Sachs, Hans 69, 71 f., 74 Salomé [Andreas], Lou 112 Savigny, Friedrich Karl von 164, 168, 170 Schinz, Heinrich 155 Schöffer, Ivo (Drucker) 124 Schreiber von Onhein (unbek. Schreiber) 49 Schule, Christian (Kupferstecher) 152 Sintzenich, Heinrich (Kupferstecher) 152 Sorel, Charles 203 Stadion, Anton Heinrich Friedrich von 157 f., 162 Stahr, Adolf 174 Straet, Jan van der (Kupferstecher) (Stradanus) 74 f., 77 Straßburg, Gottfried von 56 – 58

Personenregister

Täubel, Christian Gottlob 79 Troyes, Chrétien de 45, 47, 51, 64, 66 Valéry, Paul 27, 237 – 259 Varnhagen, Karl August 26, 164, 167, 172, 178, 187‒196 Varnhagen, Rahel, geb. Levin 26, 164, 167, 172, 178, 187‒196 Voltaire 198

Weber, Georg 140, 143 Weiß, Emil Rudolf 302, 306 – 308 Wickram, Georg (Jörg) 25, 115 – 126 Wieland, Christoph Martin 155 – 160, 163 f., 172 f. Winckelmann, Johann Joachim 26, 198‒216 Winkler, Josef 261, 265, 270 Wisse, Claus 46, 48 – 50, 60 f. Young, Edward

Wahll, Johann Samuel 143 Walser, Karl 280, 287 f., 292 f., 301 Walser, Robert 27, 279 – 309

317

94

Zimmermann, Johann Georg

93 f., 110