»Du mauvais goût«: Annie Ernauxs Bildungsaufstieg als literatur- und gesellschaftskritische Selbstzerstörung: Eine Untersuchung ihres Werks mithilfe textlinguistischer, psychologischer und soziologischer Kriterien [Reprint 2016 ed.] 9783110910254, 9783484550353

The works of Annie Ernaux (b. 1940, Prix Renaudot 1983) have been a source of ongoing controversy. Their central concern

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German Pages 318 [320] Year 2001

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Danksagungen
Lesetechnische Hinweise
Einleitung
Die Untersuchungsmethoden: Textverständnis - Interpretationsverständnis
Einführende Synopsis: Die Gemeinsamkeiten der Ernauxschen Werke
These: Il y a d'abord les parents. Die tendenziell psychologische Präsentation des Klassenwechsels, der Identitätsentwicklung und des Eltern-Kind-Konflikts. von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien als «Mémoires de jeunes filles dé-rangées»
Les armoires vides. Abtreibung eines Subjektwerdungsprozesses
Ce qu'ils disent ou rien. Die «Regeln» einer gewaltvollen Fremdbestimmung
Ausleitender synoptischer Vergleich von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien. Das Politische Moment des Privaten
Antithese:Il y a d'abord les différences sociales. Die tendenziell soziologische Präsentation des Klassenwechsels, der Identitätsentwicklung und des Eltern-Kind-Konflikts von La femme gelée und La place als «Bourgeoise malgré elle»
La femme gelée. Die unmerkliche Geburt der Bürgerin
La place. Schuldhafte Klassendifferenz
Synthese: Il y a d'abord la mère. Rückkehr zum Privaten und Psychologischen und zum Mutter-Kind-Verhältnis von Une Femme (1988) als das Verbinden der Widersprüche
Une Femme. Eine Geschichte liber Demeter und Kore
Die Wiederholung: Il y a d'abord la mère et la honte. Psychologischer Mutter-Tochter-Konflikt und «autoethnologische» Präsentation des Klassenwechsels von «Je ne suis pas sortie de ma nuit» und La honte als Selbstzerstörung der Annie E...
«Je ne suis pas sortie de ma nuit». Intertextuell, mutterbestimmt, destruktiv
La honte. Die programmatische Selbstzerstörung
Synoptische Abschlußbewertung der «Familienromane»
Anhang: Auszüge aus dem Interview mit Annie Ernaux vom 29.7.97
Literaturverzeichnis
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»Du mauvais goût«: Annie Ernauxs Bildungsaufstieg als literatur- und gesellschaftskritische Selbstzerstörung: Eine Untersuchung ihres Werks mithilfe textlinguistischer, psychologischer und soziologischer Kriterien [Reprint 2016 ed.]
 9783110910254, 9783484550353

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mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance

Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel

35

Heike Ina Kühl

»Du mauvais goût«: Annie Ernauxs Bildungsaufstieg als literatur- und gesellschaftskritische Selbstzerstörung Eine Untersuchung ihres Werks mithilfe textlinguistischer, psychologischer und soziologischer Kriterien

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

D 25 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kühl, Heike Ina: »Du mauvais goüt«: Annie Ernauxs Bildungsaufstieg als literatur- und gesellschaftskritische Selbstzerstörung: eine Untersuchung ihres Werks mithilfe textlinguistischer, psychologischer und soziologischer Kriterien / Heike Ina Kühl. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Mimesis; 35) ISBN 3-484-55035-X

ISSN 0178-7489

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Danksagungen Lesetechnische Hinweise

XV XVI

Einleitung

1

1 Fragestellung der Arbeit 1.1 Formale Besonderheit: Einzelwerkanalyse und synoptische Untersuchung 1.2 Inhaltliche Schwerpunkte

2 3 4

2 Aufbau der Untersuchung

6

3 Anmerkung zur Sekundärliteratur

7

Die Untersuchungsmethoden

9

1 Überblick

9

2 Das zugrundeliegende Textverständnis 2.1 Grundsätzliches 2.2 Kommunikationsorientiert 2.3 Erzähltextanalytisch

10 10 12 14

3 Die textlinguistische Analyse 3.1 Makrostruktur: die Textkonstituenten der Erzählung . . . . 3.1.1 Definition und Untergliederung nach van Dijk . . . . 3.1.2 Erläuterung nach Labov und Kloepfer 3.1.3 Die Gliederungssignale von Gülich/Heger/Raible . . 3.2 Diskursstruktur

16 16 17 18 20 21

Einführende Synopsis: Die Gemeinsamkeiten der Ernauxschen Werke

23

1 Personale und gesellschaftliche Grundkomponenten

23

2 Formale Konstanten

24

3 Wiederkehrende Sinneinheiten und ihre Spiegelungen

27

V

II y a d'abord les parents Die tendenziell psychologische Präsentation des Klassenwechsels, der Identitätsentwicklung und des Eltern-Kind-Konflikts

THESE:

Les armoires vides. Abtreibung eines Subjektwerdungsprozesses .

33

1 Einleitung 1.1 Werküberblick 1.2 Erster Eindruck: Verwirrend und abstoßend

33 33 34

2 Textlinguistische Analyse 2.1 Makrostruktur 2.1.1 Fließtext als subjektiver Bewußtseinsstrom 2.1.2 Die Tempus-Gliederung der drei Ich-Ebenen 2.2 Bauplan der Erzählung 2.2.1 Gliederungskriterien 2.2.2 Der Bauplan 2.2.3 Zum Verhältnis von Rahmen- und Binnengeschichte: ein psychoanalytischer Selbstversuch 2.2.4 Zur Binnengeschichte: negierte Entwicklung 2.3 Diskursanalyse: Die erzähltechnische Konstruktion des subjektiven Erinnerungsvorgangs 2.3.1 Die verschiedenen Ich-Ebenen 2.3.2 Negative Wirklichkeitsdarstellung 2.3.3 Negative Selbstbeschreibung, selektive Personenbeschreibung 2.3.4 Proletarische Lebenszusammenhänge statt bürgerlicher Analyse 2.3.5 Zeit im Dienste des Bewußtseinsstroms 2.3.6 Orts- und Zeitangaben als versteckter pacte autobiographique

35 35 35 37 38 38 39

3 Diktion - Fiktion: Reale Fiktion 3.1 Identität und Name 3.2 Literatur als abschreckende Realität

49 50 51

4 Inhaltsanalyse: negative Entwicklungsgeschichte einer Tochter aus einfachem Hause 4.1 Ausgangspunkt der Erzählung 4.1.1 Verlust und Leere 4.1.2 Die Erzählerin - das malträtierte Ich 4.1.3 Die Abtreibung - Sinnbild der Erzählung 4.1.4 Wende: dezidierte Ursachenforschung 4.2 Suche nach den Ursachen des lebensvernichtenden Hasses 4.2.1 Glückliche versus reorganisierte Kindheit

52 52 52 53 54 57 58 58

VI

40 41 42 42 42 43 45 47 48

4.2.1.1 Unterschwellige Milieubezichtigung: Das Elternhaus am Rand der Gesellschaft . . 4.2.1.2 Tendenzielle Selbstbezichtigung 4.2.1.2.1 Ambivalente Sexualität und doppelbödige Freiheit 4.2.1.2.2 Das kindliche Selbstwertgefühl: arroganter Mittelpunkt der Welt . . 4.2.2 Konkretisierung der Fragestellung: Wie kam es zur familiären Entfremdung? 4.2.3 Stigmatisierung I: Klassenspezifische Ausgrenzung . . 4.2.3.1 Eintritt in eine andere Welt 4.2.3.2 Verlust der Würde, der guten Eigenschaften und des eigenen Selbst 4.2.4 Neuer Blick: Demütigung als Beweis der eigenen Schlechtigkeit und als Rache am bon goüt 4.2.5 Stigmatisierung II: Persönliche Verdammung durch die katholische Kirche 4.2.6 Annulationsversuche der Stigmatisierung 4.2.6.1 Sozialer Aufstieg als Rachestrategie 4.2.6.2 Die trennende Macht der Wörter 4.2.6.3 Die Entscheidung für das Bürgertum und die Ablehnung der Gemeinschaft der Heiligen . . 4.2.7 Einsamkeit, Zerrissenheit, Haß. Der definitive Status Quo der Klassenwechslerin 4.2.7.1 Isolation 4.2.7.2 Das vierte Gebot als humanistisches Paradox 4.2.7.3 Haß als Lebensweg 4.2.8 Fatale Wiederholung von Hoffnung auf Akzeptanz und ihrer Enttäuschung 4.2.8.1 Einsame Außenseiterin 4.2.8.2 Gewinn und Verlust des brevets 4.2.8.3 Le flirt. Der zweite Weg zum reinigenden Aufstieg 4.2.8.4 «Automatische» Destruktion alles Positiven 4.2.8.5 Gleich unter Gleichen 4.2.9 Zwischenbilanz: Bildungsaufstieg - ein antigoneskes Drama 4.2.10 Der Eintritt ins Paradies als Hölle der Erkenntnis . . 4.3 Gesamtfazit: Je ne voudrais pas crever 5 Abschließende Bemerkung

59 62 62 63 65 67 67 68 69 70 71 71 72 74 75 75 75 77 78 79 80 81 82 83 84 85 87 88

VII

Ce qu'ils disent ou rien. Die «Regeln» einer gewaltvollen Fremdbestimmung

89

1 Synopsis: Vom Haß in die Orientierungslosigkeit oder das zahme Scheitern

89

2 Diktion - Fiktion: Zeugnis einer bislang verschwiegenen Lebensrealität 2.1 «Geheimnisse» 2.2 Textspiegelung im Text: ichbezogen, alltäglich, authentisch 2.3 Bemühen um wahrhaftes Erinnern suggeriert Authentizität 2.4 Literatur als Lebenstütze. Die fehlende Literatur wird selbst erschaffen 2.5 Fazit: Autofiktion

93 94

3 Textlinguistische Analyse 3.1 Textstruktur: gewollt unreif 3.1.1 Die offensichtliche [/«Struktur 3.1.2 Der oberflächliche Bauplan des Werks 3.1.3 Die geheime Struktur: «des Pudels Kern» 3.2 Diskursanalyse: Jugendlich, unsicher, verdrängend

94 95 95 96 97 99

4 Inhaltsanalyse: Verhinderung einer eigenen Identität durch gewaltvolle Fremdbestimmung 4.1 Die Situation der Erzählerin 4.2 Das beziehungslose Leben «davor» 4.2.1 Die vermeintlich glückliche Zeit 4.2.2 Existenzialistische Geworfenheit 4.2.3 Getrübtes Eltern-Kind-Verhältnis 4.2.4 Bedrohliche Einheit mit der Mutter, Wächterin über die «Regeln» 4.2.5 Lösungsversuche der Konflikte 4.3 Zwischenbilanz: emotionale und körperliche Beziehungslosigkeit 4.4 Die Suche nach Befreiung als «crotte de chien» Geschichte 4.4.1 Die zum Scheitern führenden Faktoren 4.4.1.1 Ungleichheit 4.4.1.2 Sexualität als Ablösungsstrategie von den Eltern 4.4.2 Das Ergebnis: Geschlechtsgebundene Freiheit oder die vergewaltigende Verortung der Frau 4.5 Folgen der verweigerten Freiheit: Rückzug aus dem Leben Ausleitender synoptischer Vergleich von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien. Das Politische Moment des Privaten . . . VIII

90 90 91 92

101 102 105 105 106 107 109 110 111 113 113 113 114 116 118

122

Il y a d'abord les différences sociales Die tendenziell soziologische Präsentation des Klassenwechsels, der Identitätsentwicklung und des Eltern-Kind-Konflikts ANTITHESE:

La femme gelée. Die unmerkliche Geburt der Bürgerin

127

1 Einleitung 1.1 Synopsis: Fokussierung und Wendepunkt 1.2 Werküberblick: Von der Gefahr, die patriarchalische Konditionierung zu unterschätzen

127 127

2 Textlinguistische Analyse: Lebensgeschichtliche Dokumentation einer politischen These 2.1 Diktion - Fiktion 2.2 Erzählerinnenverhalten 2.3 Makrostruktur: Entwicklungsgeschichtliche Etappen des Frauwerdungsprozesses 2.4 Diskurs: Die bürgerliche Ironie der Gescheiterten 3 Inhaltsanalyse: Ligne de fille en femme 3.1 Das Ende liegt im Anfang 3.2 Positive Ausgangsbasis: Jenseits der traditionellen Rollenverteilung 3.2.1 Das unpolitische Gegenmodell der Eltern 3.2.2 Geschlechtslose Erziehung 3.2.3 Von der Auslassung zum Nichts - Folgen einer inexistenten Sexualerziehung 3.3 Sekundäre Sozialisation: Das bürgerliche Geschlechtsrollenverhalten 3.3.1 Weibliche Opferbereitschaft 3.3.2 Das außerschulische Weiblichkeitsbild 3.4 Zeit der Verwirrung, Kampf der beiden Ordnungen 3.4.1 «Der erste Kontakt» als praktische Einübung in die Unterwerfung 3.4.2 Die Verwerfung der weiblichen Lust 3.4.3 Der größte Unterschied: die Klassenbarriere 3.4.4 Das liberale Bezugssystem: Gleichheit im Phallozentrismus 3.5 Definitive Etablierung des Herrschaftssystems 3.5.1 Die unehrliche Entscheidung für das traditionelle Lebensmodell: Heirat der «großen Liebe» 3.5.2 Sich Arrangieren mit den «Gegebenheiten» 3.5.3 «Herrschende» Problemlösung: ein Kind 3.5.4 Hypnotisiertes Verharren im Unglück 3.5.5 Die Veränderung: installée dans la différence 3.5.6 La femme gelée sans corps

128 130 130 131 133 134 135 135 137 137 139 140 141 142 144 145 145 146 147 148 150 150 151 152 153 156 157 IX

La place. Schuldhafte Klassendifferenz

158

1 Einleitung 1.1 Synopsis 1.2 Werküberblick

158 158 159

2 Diktion - Fiktion 2.1 Erste Informationen des Textes 2.2 Poetologische Kriterien 2.3 Textinterne Hinweise 2.3.1 Schuld als Realitätsbeweis 2.3.2 «Autorinnenreflexion»: Protokollarischer Bericht statt Roman 2.3.3 Tradierte und interpretierte Erinnerungen 2.3.4 Erinnerungsschwierigkeit als Zeichen eines Wahrheitsanspruch 2.3.5 «Klassenbiographie» und poetische Strukturen . . . . 2.3.6 Autobiographische Nuance: reelle Grenzerfahrungen 2.4 Fazit: Pluraler Anspruch in komplexer Ausführung

160 161 162 163 163

3 Textlinguistische Analyse: Konstruktion und Wirklichkeit . . . . 3.1 Makrostruktur 3.1.1 Das Gliederungsmerkmal «blanc» 3.1.2 Bauplan 3.2 Diskursanalyse 3.2.1 Die Kommunikationsebenen des Textes 3.2.2 Die interpretierende Neutralität der Erzählerin . . . 3.2.3 Zeitverhältnisse 3.2.4 L'écriture plate als kommunikativer Verbindungsversuch von Unter- und Mittelschicht . .

170 170 170 171 172 172 174 175

4 Inhaltsanalyse: Souvenirs du mauvais goût 4.1 Die erzählende Tochter 4.1.1 Bürgerlicher und schuldbewußter Standort 4.1.2 Der immer schon wertende Blick 4.2 Das Vaterportrait 4.2.1 Stationen des väterlichen Aufstiegs 4.2.1.1 Startbedingung: Vos parents veulent donc que vous soyez misérables comme eux! . . . . 4.2.1.2 Mühsame Aufstiegsetappen 4.2.1.3 Die gesellschaftliche Isolation des Klassenwechslers 4.2.1.4 Entbehrung als Lebensschicksal 4.2.1.5 Der definitive Aufstieg 4.2.2 Unüberwindbare Klassenbarrieren

178 178 179 180 182 183

X

164 165 166 167 167 169

176

183 185 187 187 189 190

4.2.2.1 Wechsel von Erzählperspektive und Aussageschwerpunkt 4.2.2.2 Relativ(iert)es Glück oder teuflischer Minderwertigkeitskomplex 4.2.2.3 Sprache als Schranke 4.2.2.4 Vorlieben und Verhaltensweisen des «einfachen Mannes» 4.2.2.5 Erstes Fazit für das väterliche Leben: Resignation und Delegation 4.3 Das Vater-Tochter-Verhältnis 4.3.1 Bruch durch den Aufstieg der Tochter 4.3.1.1 Aufstiegsbedingte Ablösung der Tochter . . . 4.3.1.2 Gegensätzliche Entwicklungen. Die Familie als Opfer des «Klassenkampfs» 4.3.2 Die ersehnte Verbindung von Vater und Tochter . . . 4.3.3 Schlußbilanz für Vater und Tochter Ausleitende synoptische Betrachtungen zu La place und den Vorgängerwerken

190 191 192 193 194 195 195 195 197 199 200 202

Il y a d'abord la mère Rückkehr zum Privaten und Psychologischen und zum Mutter-Kind-Verhältnis SYNTHESE:

Une Femme. Eine Geschichte über Demeter und Kore

207

1 Einleitung 1.1 Das erste offiziell synoptische Werk 1.2 Werküberblick: Das Werk vom Widerspruch

207 207 208

2 Diktion - Fiktion 2.1 Die Ähnlichkeiten des schreibenden, erzählenden und erzählten Ichs 2.2 Die widersprüchlichen Ansprüche der abstrakten Autorin an den Text

209

3 Textlinguistische Analyse: Widerspruch durch Klarheit und Transparenz 3.1 Makrostruktur: Chronologie und Textproduktionsspuren . . 3.2 Sinn-Bauplan von Une femme 3.3 Diskursanalyse: Wortlose Trauer 4 Inhaltsanalyse: Die ewige Tochter 4.1 Schreiben zur Überwindung kindhafter Einsamkeit 4.2 Portrait der femme réelle - das mütterliche Pendant zu La place

209 211 214 214 216 218 219 219 220 XI

4.3 Portrait der femme imaginaire 4.3.1 Widersprüche der Mutter und widersprüchliche Wahrnehmungsweise der Tochter 4.3.2 Gegensätze von Mutter und Tochter 4.3.2.1 Pubertäre Entfernung 4.3.2.2 Räumliche, klassen- und entwicklungsbedingte Entfernung 4.3.2.3 Patriarchalische Entfernung 4.3.3 Wieder vereint durch Abhängigkeit 4.3.4 Töchterliches Erinnern versus mütterliches Vergessen 4.4 Die einsame Tochter und ihr Wunsch einer ewigen Mutter-Tochter-Beziehung

224 224 227 227 229 230 231 232 234

Die Wiederholung: Il y a d'abord la mère et la honte. Psychologischer Mutter-Tochter-Konflikt und «autoethnologische» Präsentation des Klassenwechsels «Je ne suis pas sortie de ma nuit». Intertextuell, mutterbestimmt, destruktiv

239

1 Synoptische Einleitung

239

2 Formale Besonderheiten 2.1 Identitätenkollaps oder das eindimensionale Ich 2.2 Deklarierte Gattung mit intertextueller Aufgabe

240 241 241

3 Offizielle Funktion: Verifizieren durch Relativieren

244

4 Versteckte Funktion: Zerstörung des klassischen Literaturbegriffs 4.1 Literatur als Frage der Veröffentlichung und Autobiographie als evolutiver Prozeß 4.2 «Je ne suis ...» als intertextueller Knotenpunkt

245 246

5 Vergleich von «Je ne suis ...» und Une femme: Schuldgefühle ertragen versus Widersprüche vereinen

248

6 Die Konstante des Gesamtwerks 6.1 Selbstverständnis und Mutterportrait: zwei Facetten einer Einheit 6.1.1 Allmächtige Mutter - relationale Identität der Tochter 6.1.2 «Böse Mutter» - töchterliche Sexualität 6.2 Mutter-Tochter-Verhältnis: Fesseln der Liebe XII

245

250 251 251 252 253

7 Der andere Literaturbegriff: Schreiben über die Mutter als Selbstzweck

257

La honte. Die programmatische Selbstzerstörung

259

1 Synoptische Werkeinleitung

259

2 Fiktion - Diktion: Rückkehr zur Verschlüsselung und Fiktion

260

3 Linguistische Textanalyse: Essai mit vorgetäuschter Erzählstruktur 3.1 Makrostruktur 3.2 Bauplan 3.3 Diskurs

262 262 264 265

4 Inhaltsanalyse: Die Logik der Schande 4.1 Die «Szene» 4.2 Irreführende Absichtserklärungen, nutzlose Darlegungen . . 4.3 Der Mechanismus: à la honte il faut plus de honte encore . 4.4 Die Schande der sozialen Minderwertigkeit 4.5 Identität durch honte und Orgasmus

266 266 268 271 272 273

Synoptische Abschlußbewertung der «Familienromane»

276

1 Sozialer Aufstieg im Werk von Annie Ernaux

276

2 Sexualität im Werk von Annie Ernaux

278

3 Die Entwicklung, die keine ist 3.1 Statische Erzählelemente 3.2 Dynamik einer sich wiederholenden Stagnation

279 280 281

Anhang: Auszüge aus dem Interview mit Annie Ernaux vom 29.7.1997

285

Literaturverzeichnis

291

XIII

Danksagungen

Mein ganz spezieller Dank gilt Herrn Prof. Dr. Joseph Jurt und Georg Stephanus, deren Unterstützung für die Erstellung dieser Arbeit von großer Bedeutung war. Herzlich danken möchte ich auch Prof. Dr. Karlheinz Jakob, Prof. Dr. Kochendörfer und PD Dr. Bernhard Kelle für ihr langjähriges Vertrauen in meine Tutoratstätigkeit. Besonderer Dank gebührt ferner den Professoren Dr. Johannes Schwitalla, Dr. Daniel Jacob, Dr. Dr. hc. Volker Schupp, Dr. Hugo Steger der Universität Freiburg und Dr. Riegel von der Université de Sciences Humaines de Strasbourg für ihre wohlwollende Leitung im Studium, die mir den Weg zur Dissertation ebnete. Mein herzlicher Dank geht ebenso an das Frankreichzentrum der Universität Freiburg, an Prof. Dr. Dr. hc. Manfred Löwisch, damaliger Rektor der Universität Freiburg, und Herrn Dr. Schröder, Direktor des A A A der Universität Freiburg, die mir meine Arbeit für EUCOR, neben der finanziellen Unterstützung, zu einer wertvollen beruflichen Erfahrung werden ließen. Annie Ernaux möchte ich für ihre sehr freundliche Aufnahme und ernsthafte Beantwortung meiner Fragen danken. Fehlen soll nicht mein herzliches Dankeschön an Daniel Gassner (Strasbourg), Bettina Fraisl (Graz), Doris Häring (Gladenbach), Mademoiselle Broto vom Institut Catholique de Paris und Franck Bourrât (Paris). Die Arbeit ist meinen Eltern gewidmet.

XV

Lesetechnische Hinweise

Allgemein gilt, daß die Verwendungsweise wissenschaftlicher Begriffe in der Arbeit jeweils bei ihrer ersten Nennung angegeben wird. Sind keine Angaben gemacht, werden die Begriffe im allgemein gebräuchlichen Sinne verwendet. Die Autorin illustriert mit ihren Werken auf literarische Weise, was die linguistischen Theorien auf wissenschaftlichem Wege festgestellt haben, nämlich, daß Sprache Wirklichkeit konstituiert. Problematisch ist dies für die vorliegende Arbeit insofern, als die teilweise sehr vulgäre Wortwahl der Autorin eben einen solchen vulgären Kontext erschaffen will, eine «neutrale», dem wissenschaftlichen Diskurs angepaßte Bezeichnung durch mich die gewollte Sichtweise der Erzählerinnen verstellt, da zum Beispiel «Geschlechtsteil» andere Konnotationen besitzt als das Bild einer «nach Ammoniak stinkenden Qualle». Dies trifft vor allem auf den sexuellen Bereich zu. Deshalb muß sich der Leser dieser Arbeit immer wieder vergegenwärtigen, daß die neutralen Termini eine gereinigte Fassung darstellen. Auch werde ich, um diesem Übersetzungsproblem auszuweichen, zum Teil die französischen Ausdrücke in meinen Text übernehmen. Der sehr lange Titel des letzten Werks der Autorin «Je ne suis pas sortie de ma nuit» wird der Lesbarkeit halber in dieser Arbeit durch die Abkürzung «Je ne suis ...» wiedergegeben. In der Arbeit werden nur die männlichen Anredeformen verwendet. Dies mag bei der Behandlung einer Autorin durch eine Interpretin erstaunen. Da einerseits ihr Anliegen geschlechtsübergreifende Allgemeingültigkeit anstrebt und die Autorin ausschließlich weibliche Erzählerinnen sprechen läßt, andererseits sich die Doppelanredeformen «Leser/Leserin» sehr umständlich ausnehmen, das Wort «Leserschaft» nicht überall einzusetzen war, habe ich mich für die geschlechtsübergreifend zu lesende männliche Form entschieden, auch um den Eindruck eines rein weiblichen Textes und Kontextes zu vermeiden. Ich bitte dafür um Verständnis. Die Arbeit wurde nach den Regeln der «alten» Rechtschreibung verfaßt.

XVI

Lebenschancen sind nie gleich verteilt. [...] Auch die Unterscheidung von Arbeitsteilung und sozialer Schichtung gehört in dieses Kapitel, dessen Absicht häufig die Hoffnung ist, daß verschiedene Aufgaben und Interessen sich im Prinzip auf der Basis völliger Gleichrangigkeit koordinieren lassen. [...] Doch sind all diese Hoffnungen falsch. [...] Gesellschaft heißt nämlich immer Normierung von Verhalten. [...], daß bestimmte Werte als geltend gesetzt werden, [...], daß es Instanzen gibt, die Geltung verleihen und Sanktionen verhängen können. [...] Das aber sind Herrschaftsinstanzen. [...] Gesellschaft heißt Herrschaft, und Herrschaft heißt Ungleichheit. (Dahrendorf, Ralf: Der moderne soziale Konflikt: Essay zur Politik der Freiheit. Stuttgart, 1992, p. 4 6 - 4 7 )

Il est difficile d'être cru quand on ne décrit que des impressions. Pourtant on ne peut décrire autrement le malheur d'une condition humaine. L e malheur n'est fait que d'impressions. Les circonstances matérielles de la vie, aussi longtemps qu'il est à la rigueur possible d'y vivre, ne rendent pas à elles seules compte du malheur car les circonstances équivalentes, attachées à d'autres sentiments, rendraient heureux. Ce sont les sentiments attachés aux circonstances d'une vie qui rendent heureux ou malheureux, mais ces sentiments ne sont pas arbitraires, ils ne sont pas imposés ou effacés par suggestion, ils ne peuvent être changés que par une transformation radicale des circonstances elle-mêmes. (Simone Weil: Expérience de la vie d'usine. Lettre ouverte à Jules Romains. Aus Œuvres complètes, p. 299)

XVII

Einleitung

Leid muß schmackhaft präsentiert werden, will es Aufmerksamkeit erregen, so stellte schon Heinrich Heine desillusioniert fest. Annie Ernaux macht zwar ein Kunstwerk aus dem Leid ihrer Ich-Erzählerinnen, aber keines, dessen Genuß zu entrückten Schauern führt. Ganz im Gegenteil scheint sie geradezu programmatisch ihre Leserschaft strapazieren zu wollen, indem sie sie indiskret in tabuisierte Winkel blicken läßt, sie mit ihrer Erzähltechnik das Leid der Protagonistinnen selbst durchleben läßt und ihr eine Katharsis im traditionellen Sinne vorenthält. Im Mittelpunkt des Ernauxschen 1 Schreibens steht die radikal subjektive Realität weiblicher Ichs, deren Erzählungen nicht nur eine literarisch aufbereitete Form von Wirklichkeit, sondern ihre einzig wahre Existenzform darzustellen scheinen. Denn bis auf Passion simple und Journal du dehors beschreiben alle Ich-Erzählerinnen ihren Bildungsaufstieg von der Unterschicht in das Bürgertum als Stigmatisierungsprozeß und schildern sich selbst als Grenzgängerinnen, denen Grenze offensichtlich im Sinne Freuds als etwas Unreines definiert wurde. Obwohl Stigmatisierung und Selbstverachtung in der Belletristik keine unbekannten Größen sind, man denke bspw. an die jüdische oder afroamerikanische Literatur, ist ihre Assoziation mit dem sozialen Aufstieg unserer Zeit weniger verbreitet. Dafür spricht auch, daß der Aufsteiger im Laufe der Geschichte viel eher belustigend (wie Le Bourgeois Gentilhomme von Molière), als naturalistisches Studienobjekt (bei Flaubert, Maupassant, Zola, Hauptmann ...), ideologisch aufbereitet (im sozialistischen Realismus oder bei Paul Nizan) oder typologisch negativ (Julien Sorel, Felix Krull etc.) dargestellt wurde. In seiner Komplexität als Schnittpunkt psychologischer und gesellschaftlicher Probleme aber war er bislang selten Gegenstand literarischer Bearbeitungen. 2 Annie Ernaux setzt ihn nun solchermaßen zwiespältig und düster in das Zentrum ihrer 1

2

Annie Ernaux wurde 1940 in Lillebonne (Seine-Maritime) als Kind einfacher Leute geboren. Sie wuchs in Yvetot, einer Kleinstadt in der Nähe von Rouen in der Normandie auf. Heute lebt sie in Cergy in der Nähe von Paris. Sie ist geschieden, hat zwei erwachsene Kinder und lehrt als professeur par correspondance für Lettres Modernes. Ausnahmen hierzu bilden die Romane Anton Reiser von Karl Philipp Moritz aus den Jahren 1785-90 und im umgekehrten Sinne Le petit chose von Alphonse Daudet aus dem Jahre 1868, die sich aber beide auf gesellschaftliche Realitäten längst vergangener Tage beziehen. Auch das 1994 posthum erschienene Romanmanuskript von Albert Camus Le premier homme befaßt sich grundsätzlich mit dem Bildungsaufstieg, stellt seine Geschichte aber im Ver-

1

Werke und beschreibt ihn, ohne für die eine oder andere Schicht 3 eindeutig Partei zu ergreifen. Sie konfrontiert die Leser vielmehr mit einer eigentümlichen Mischung aus distanzierter Dokumentation und emotionaler Betroffenheit, aus Verteidigung und Anklage, die ihnen sowohl den Rückzug in eine distanzierte Betrachterrolle als auch die Flucht in eine verklärende Sichtweise verwehrt. Als hätte sie sich Albert Camus' Aufruf 4 an die Dichter des 20. Jahrhunderts, gegen das Schweigen vorzugehen, auf die Fahnen geschrieben, rächt sie in wenig gefälliger Weise die Erfahrungen ihrer Ich-Erzählerinnen durch eine zum Teil «schamlose» 5 Offenheit und bricht damit das herkömmliche Schweigen der Klassenwechsler.

1 Fragestellung der Arbeit Die vorliegende Arbeit untersucht die Werke Les armoires vides (1974), Ce qu'ils disent ou rien (1977), La femme gelée (1981), La place (Prix Renaudot 1983), Une femme (1988), «Je ne suis pas sortie de ma nuit»6

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gleich zu den Darstellungen von Annie Ernaux auf eine eher positiv-romantische Weise vor. Die in der Arbeit häufig verwendeten Begriffe «Unterschicht» und «Mittelschicht» orientieren sich an den persönlichen Konzeptionen der Erzählerinnen, die sich mit diesbezüglichen soziologischen Untersuchungen decken (cf. bspw. Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris, Minuit, 1982 oder Erhardt Wien: «Schicht». In: HSK. Handbücher zur Sprache und Kommunikationswissenschaft. Band 3.1. Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, 1987, p. 109). Schicht wird neben den sogenannten «objektiven» Merkmalen wie Arbeitssituation, Berufszugehörigkeit, Einkommen, Vermögen, Bildungsstand auch mit Hilfe der sogenannten «subjektiven» Faktoren wie Prestige und Anerkennung definiert. Beide Merkmalsgruppen haben einen nachweislichen Einfluß auf die Entscheidungs-, Lebens- und Sprachgewohnheiten, auf Wahlverhalten, Kindererziehung und Berufswahl. Eine Beeinflussung der Schichtzugehörigkeit auf Persönlichkeit und Möglichkeiten der sozialen Mobilität, sowie Wechselwirkungen von Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung konnten ebenfalls festgestellt werden. Die Begriffe «Klasse» und «Schicht» werden in dieser Arbeit ungeachtet ihres jeweiligen politischen Hintergrunds völlig gleichbedeutend verwendet, zumal ihre Unterschiede laut den Angaben des Wörterbuchs für Soziologie autorenabhängig schwanken, je nachdem was als sozial relevante Merkmale definiert wurde. Mit «sozialem Aufstieg, sozialer Mobilität» ist «die Bewegung zwischen sozial definierten Positionen in der Generationenfolge» gemeint (T. A. Herz: Klassen, Schichten, Mobilität, Stuttgart, Teubner, 1983, p. 153). In seiner Dankesrede für den Literaturnobelpreis in Uppsala Cf. Richard Huber: «Muß man wegschauen? Das Genitale im Bild». In: G.-K. Kaltenbrunner, Ich stelle mich aus. Das Zeitalter der Schamlosigkeit, München, Herder, 1984, p. 69-72. Dieser Titel wird im folgenden mit «Je ne suis ...» abgekürzt.

(1997) und La honte (1997). Die Erzählungen Passion simple (1991) und Journal du dehors (1993) werden aus der intensiven Textanalyse ausgeklammert, da sie nicht wie die übrigen Werke der Autorin die ElternKind-Beziehung der Erzählerinnen thematisieren, weshalb ich auch die der Interpretation zugrundeliegenden Werke in Anlehnung an Freud 7 «Familienromane» nenne. 1.1 Formale Besonderheit: Einzelwerkanalyse und synoptische Untersuchung Der Terminus «Familienromane» deutet schon das erste grundlegende Untersuchungsergebnis der Arbeit an, denn die so bezeichneten Werke gleichen einander nicht nur übergeordnet in Bezug auf die Eltern-KindThematik, sondern zeichnen sich konkret durch die Wiederkehr gleicher Erzählkomponenten und durch eine kunstvolle Spiegelung der Hauptthemenkreise «soziale Identität», 8 «Sexualität» und «Sprache» aus. Das Aufzeigen und Interpretieren dieser wiederkehrenden Elemente im Hinblick auf ihre Entwicklung und gegenseitige Beeinflussung stellt ein Hauptinteresse der Arbeit dar. 9 Dies geschieht sowohl auf der Ebene des Einzelwerks als auch in einem gesamtwerklichen Zusammenhang (cf. Aufbau der Arbeit). Die Untersuchung geht detailliert und textlinguistisch vor (cf. Methodenkapitel), um einerseits der Eigenständigkeit der Einzelwerke Rechnung zu tragen und um andererseits die von der Kritik bislang ignorierten Werke der Autorin aufzuschließen. Denn Les armoires vides scheint offenbar durch seinen aggressiven, obszönen Tonfall, Ce qu'ils disent ou rien durch seine vordergründige Belanglosigkeit und die späteren Werke Une femme, «Je ne suis pas sortie de ma nuit», La honte durch die Repetition der Thematik abzuschrecken. In der Tat liegen für die einzelnen Werke bis auf La place keine eigenständigen Textanalysen vor, können Überblicksinterpretationen den einzelnen Werken in keiner Weise gerecht werden, wie es das nachfolgende Zitat verdeutlicht. Wenn ich aber mit Worten all das sagen wollte, was ich durch den Roman auszudrücken vorhatte, so müßte ich den gleichen Roman, den ich schon geschrieben habe, noch einmal schreiben. Und wenn Kritiker das, was ich sagen will, jetzt schon verstehen und in einem Feuilleton ausdrücken können, kann ich sie nur beglückwünschen [...] und wenn kurzsichtige Kritiker meinen, ich 7

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Sigmund Freud (1909): «Der Familienroman der Neurotiker.» In: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, (ed.) Anna Freud et al., Frankfurt, S. Fischer, 1946, p. 227-231; im folgenden Freud GW. Zum Identitätsbegriff cf. Thomas Luckmann: «Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz». In: O. Marquard, K. H. Stierle (ed.), Identität, München, Fink, 1979, p. 293-315, sowie Lothar Krappmann: «Identität». In: HSK. Bd. 3.1, p. 132. Dabei werden die Themenkreise nicht einzelmotivisch, sondern in eben diesen Zusammenhängen untersucht.

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hätte nur das beschreiben wollen, woran ich Gefallen hatte, [...], so irren sie sich. Bei allem, fast bei allem, was ich schrieb, leitete mich die Notwendigkeit, die Gedanken zu sammeln, die miteinander verkettet sind, um sie ausdrücken zu können: jeder Gedanke aber, der für sich allein mit Worten ausgedrückt wird, verliert entsetzlich, wenn man ihn so für sich nimmt und ohne die Verkettung, in der er sich befindet. 10

Eine textgenaue Analyse scheint auch notwendig, um eine vorgefertigte Texterwartung so weit wie möglich auszuschließen und die literarische Leistung der Texte zu würdigen, die von der Sekundärliteratur oftmals zugunsten einer moralisierenden Besprechung der Inhalte zurückgestellt wurde. 11 1.2 Inhaltliche Schwerpunkte Das autobiographisch motivierte Thema des sozialen Aufstiegs und die Frage nach seiner literarischen Umsetzbarkeit beherrschen die ersten fünf Werke und das bis dato letzte Werk der Autorin wie ein tiefsitzendes Trauma und stellen deshalb einen inhaltlichen Schwerpunkt meiner Analyse dar. Ihre Erzählungen werden als bewußter Tabubruch interpretiert, der sich sowohl gegen das Gebot des Schweigens, das die bürgerliche Schicht den Aufsteigerinnen auferlegt, wenn sie in ihre Gemeinschaft aufgenommen werden, als auch gegen das Gebot des Vergessens, das ihnen die eigene Scham empfiehlt, wendet, indem sie über eine «unwürdige», weil «niedere» und unspektakuläre Herkunft und die daraus resultierende gesellschaftliche Stigmatisierung öffentlich sprechen. Denn die Texte schildern den Weg des Aufstiegs auf eine Weise, die den Mythos um die Welt der «einfachen Leute» wie auch den um die Toleranz linker Intellektueller oder Bildungsbürger dekonstruiert. Die feinsinnigen Schilderungen der schichtspezifischen Unterschiede werden von den wissenschaftlichen Studien Pierre Bourdieus vollständig bestätigt, so daß sie in dieser Arbeit nicht mehr hervorgehoben werden. Da demgegenüber die Ambiguität des sozialen Aufstiegs allgemein und in Hinblick auf Annie Ernaux bislang kaum analysiert wurde, wie bspw. die alltägliche Gefühls-

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Leo Tolstoi zitiert nach Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers, v. Rolf-Dietrich Keil, München, Fink, 2 1981, p. 25. Aus diesem Grunde blieben die Interviews mit der Autorin unberücksichtigt, führte ich mein Interview mit der Autorin, das im Anhang in Auszügen abgedruckt ist, erst am Ende der Arbeit. Denn einerseits sind die Antworten von Annie Ernaux durch die jeweilige Fragestellung beeinflußt, und andererseits stellen sie strenggenommen auch «nur» Interpretationen der eigenen Texte, Erläuterungen ihrer Aussageabsichten dar, weil die Autorin zum Zeitpunkt ihrer Textinterpretation eine andere ist als zum Zeitpunkt der Textproduktion, besonders wenn in der Zwischenzeit Jahrzehnte vergangen sind und durch die Verleihung des Prix Renaudots 1984 aus einer unbekannten eine bekannte Schriftstellerin geworden ist.

verunsicherung und Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kind, steht er im Zentrum der vorliegenden Schrift. Besondere Beachtung wird den Auswirkungen des Aufstiegs auf die Identitätsentwicklung der Betroffenen geschenkt, da die Klassenwechslerinnen bei Annie Ernaux auf der Suche nach einer neuen, sozialen Identität innerlich zerreißen, weil sie sich entsprechend ihrer gesellschaftlichen und seelischen Zwitterposition weder der Herkunfts- noch der Zielgruppe eindeutig zugehörig fühlen können. Der weibliche Kontext der Thematik macht Annie Ernaux' Werk zu einer Besonderheit, da sich die übrige diesbezügliche Belletristik auf männliche Lebensläufe bezieht und in der Soziologie bislang und bis auf wenige Ausnahmen eine unzulässige, geschlechtsübergreifende Verallgemeinerung der Erhebungen an männlichen Probanden betrieben wurde. 12 Der zweite, nicht weniger tabuverletzende Themenkomplex in den Werken von Annie Ernaux ist die Darstellung von Sexualität, die ich funktionell als Spiegel des Subjektwerdungsprozesses der Ich-Erzählerinnen interpretiere, mit denen die Autorin die im Spannungsfeld der sozialen Unterschiede gemachten Unwerterfahrungen der Ich-Erzählerinnen auch auf der Darstellungsebene spiegelt. Damit bringt die Autorin dem Leser ihr Anliegen in Form von «entblößenden» Wirklichkeitsausschnitten und mit einer «schamlosen» Sprache auf höchst intime Weise nahe. 13 Schließlich thematisieren alle Texte von Annie Ernaux immer auch direkt oder indirekt Form und Sinn von Literatur. Die Bedeutung der Gattungszugehörigkeit der Texte wird deshalb idiosynkratisch, auf der Grundlage der Einzelwerkanalyse und des synoptischen Vergleichs her12

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Cf. Hannelore Bublitz: Ich gehöre irgendwie so nirgends hin ... Arbeitertöchter an der Hochschule, Gießen, Focus, 1980, Hedwig Ortmann: Arbeiterfamilie und sozialer Aufstieg. Kritik einer bildungspolitischen Leitvorstellung. München, Juventa, 1971 und Anne Schlüter (ed.): Arbeitertöchter und ihr sozialer Aufstieg. Zum Verhältnis von sozialer Klasse, Geschlecht und sozialer Mobilität, Weinheim, Deutscher Studienverlag, 1992 und idem (ed.): Bildungsmobilität. Studien zur Individualisierung von Arbeitertöchtern in der Moderne, Weinheim, Deutscher Studienverlag, 1993. Die Literatur einer Schriftstellerin läßt heutzutage sogleich die Frage nach weiblichem Schreiben und Erinnern, der dahinterstehenden Subjekttheorie, der Intention des ästhetischen Konzepts und der Wirklichkeitsdefinition stellen. Ob es eine spezifisch weibliche oder männliche Schreibweise gibt, ist schwierig zu beantworten (cf. bspw. Gertrude Postl: Weibliches Sprechen. Feministische Entwürfe zu Sprache und Geschlecht, Wien, Passagen, 1991 und Toril Moi: Sexus, Text, Herrschaft. Feministische Literaturtheorie, Bremen, Zeichen und Spuren, 1989/1985). Sicher aber gibt es in einer geschlechtsspezifischen Gesellschaftsaufteilung unterschiedliche geschlechtsspezifische Problematiken und Blickweisen, so daß Annie Ernaux sowohl unter weiblicher wie unter männlicher Schrift zu verorten ist, da ihre Aussagen zwar geschlechtsgebunden gewonnen wurden, aber geschlechtsübergreifende Gültigkeit haben. Wenn im folgenden Sexualität bei Annie Ernaux als negativ bezeichnet wird, bezieht sich dies auf ein am Durchschnitt (= Norm) gemessenes Verhalten. Es beinhaltet keine moral-ethische Beurteilung.

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ausgestellt. Es wird gezeigt werden, daß Sprache, Erzähltechnik und makrostruktureller Aufbau der Texte als Metapher für den Blick der Schriftstellerin gedeutet werden können und daß ein Erkennen von gesellschaftlichen Zusammenhängen auch auf literarischem Weg möglich ist.14

2 Aufbau der Untersuchung Die Analyse der «Familienromane» von Annie Ernaux beginnt mit einer «einführenden Synopsis», in der die gemeinsamen Elemente der Erzählungen aufgezeigt werden. Die anschließende Folge von Einzelwerkuntersuchungen orientiert sich an der Chronologie der Werkproduktion, da die Texte aus sich heraus verstehbar gemacht werden sollen und die thematische und formale Entwicklung des Gesamtwerks textimmanent belegt wird. In diesem Sinne bildet der erste und zugleich längste Text der Autorin den Ausgangspunkt der Interpretation. Er wird ausführlich analysiert, zum einen um seine Sperrigkeit aufzuschließen und zum anderen weil er viele Gedanken der Autorin zum ersten Mal ausspricht, auf die in den anschließenden Einzelwerkinterpretationen nur noch verwiesen wird. Die Einzelwerkinterpretationen zeichnen sich auch deshalb zunehmend durch Vergleiche und Hinweise auf Parallelstellen in den anderen Familienromanen aus. Während der Vergleich der ersten Werke in eigenständigen synoptischen Kapiteln geschieht, die über formale, inhaltliche Entwicklungen und paradigmatische Wenden Auskunft geben, werden die drei letzten Werke Une femme, «Je ne suis pas sortie de ma nuit» und La honte durchgängig synoptisch interpretiert, da sie von der Autorin speziell so angelegt scheinen. Die Analysen der einzelnen Familienromane bauen somit aufeinander auf und bilden gleichzeitig zusammen mit den dazugehörigen Einleitungs- und Zwischensynopsen eigenständige Interpretationseinheiten. Die Einzelwerkuntersuchungen werden durch Zwischentitel zu Einheiten zusammengefügt (These, Antithese, Synthese, Wiederholung), die auf der inhaltlichen Analyse gründen (cf. Kapitel Einführende Synopsis, Punkt 3, viertletzter Absatz). 14

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Auch wenn die verschiedenen westeuropäischen Gesellschaftssysteme nicht vergleichbar sind, lassen sich die Beobachtungen über die Wichtigkeit von sozialen Symbolen im Alltag als Zugehörigkeitsmerkmale zu einer bestimmten Klasse auf alle bürgerlichen Gesellschaften übertragen. Deshalb sind die Aussagen von Annie Ernaux bezüglich der französischen Verhältnisse prinzipiell auch für die (west-)deutsche Gesellschaft gültig. Vergleiche dazu die Studie von Max Haller: Klassenstrukturen und Mobilität in fortgeschrittenen Gesellschaften. Eine vergleichende Analyse der BRD, Österreichs, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt, New York, Campus, 1989.

D i e Einzelwerkauslegungen folgen bis auf die Untersuchung von «Je ne suis..» demselben Schema: Sie werden durch ein synoptisches 15 und werküberblickendes Kapitel eingeleitet und beschäftigen sich dann mit der Frage von «Diktion und Fiktion». 16 Die darauffolgende textlinguistische Analyse setzt sich aus einer Untersuchung der Makro- und Diskursstruktur des Werks zusammen (cf. Methodenkapitel) und wird von einer Analyse der inhaltlichen Aussagen abgeschlossen, die auf den Ergebnissen der textlinguistischen Analyse (= sinnstiftende Strukturen) aufbaut. 17 D i e chronologische Interpretation der Einzelwerke mündet schließlich in einen synoptischen Schlußteil, der ein Resümee aller Themenschwerpunkte liefert.

3 Anmerkung zur Sekundärliteratur Die bisher erschienenen Werkbesprechungen sind größtenteils thematisch motiviert. Viele beschränken sich auf eine bewertende Wiedergabe der von Annie Ernaux vorgenommenen Schilderung der unterschichtsspezifischen Lebensweise. Durch das Fehlen einer detaillierten und systematischen Textanalyse 18 blieben die versteckten Zwischentöne und 15

Nicht zu Beginn von Les armoires vides. Diese Termini stammen von Gérard Genette, um die differenzierte Beschreibung von fiktionalem und realem Beschreiben von Literatur zu geben. Cf. idem: Fiction et Diction. Paris, Seuil, 1991. 17 Die Unterteilung der Textuntersuchung in Makro-, Diskurs- und Mikrostruktur geht auf Rolf Kloepfer: «Zum Problem des ». In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 27/28 (1977), p. 69-90 zurück. Dem Faktum der künstlichen Aufgliederung eines Textes in solche Untersuchungsebenen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung wird in der inhaltlichen Interpretation, die sich auf die Ergebnisse der durch die Makro- und Diskursanalyse erworbenen Sinnstrukturen stützt, Rechnung getragen. Doch können, wie Kloepfer formuliert, Wörter, Sätze etc. sowohl monofunktional für eine Ebene als auch polyfunktional für alle drei Ebenen gleichzeitig eingesetzt werden (idem: op. cit., p. 80), sind die Übergänge zwischen den Ebenen fließend. 18 Claire-Luise Tondeurs Interpretation (idem: «Entretien avec Annie Ernaux». In: The French Review 69 (October 1995), Illinois) mag als Beispiel für eine oberflächliche und deshalb irreführende Schlußfolgerungskette stehen, wenn bspw. der Ernauxsche Blick auf die Eltern ab La femme gelée als zunehmend differenzierter bewertet wird, wo er sinnigerweise zum ersten Mal positiv ausfällt, ansonsten aber vielmehr umgekehrt La femme gelée die Eltern-Kind-Beziehung wesentlich eindimensionaler schildert als die Vorgängerwerke. Gleiches gilt für ihre Einschätzung der Mutter-Tochter-Beziehung, die sie m. E. eher verfälschend zusammenfaßt, denn akzentuiert interpretiert. Ob es sich darüber hinaus auch bei der Angabe auf Seite 87, wo eine wichtige Stelle von La place als Interviewaussage der Autorin angegeben wird, um einen Fehler handelt, sei dahingestellt, da bspw. auch die Interviewaussagen Ernaux' bei Anne Walter (idem: «. Entretien avec Annie Ernaux». In: Marie Ciaire (März 1997), Paris, p. 93-96) bezüglich der beiden letzt 16

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Nuancen der Erzählungen bislang unentdeckt, so daß manche stark moralisierenden Stellungnahmen 19 die Literarizität der Texte völlig vergessen konnten. 20 Die vorliegende Vorgehensweise, die Einzelwerkanalyse und synoptische Zusammenschau kombiniert, versucht dem entgegenzuwirken. Deshalb halte ich eine allgemeine, vorangestellte Abhandlung der bestehenden Sekundärliteratur, die in der Zwischenzeit auf eine beachtliche Anzahl allerdings nach wie vor kurzer Aufsätze und Rezensionen angewachsen ist, für nicht erforderlich. Bemerkenswert ist jedoch, daß sich der überwiegende Teil der Sekundärliteratur auf das preisgekrönte Werk La place konzentriert, nachrangig die Erzählung Une femme Beachtung findet und die Vorgängerwerke nur in allgemeinen Abrissen oder Aufsätzen mit übergeordneter Fragestellung von kursorischem Charakter Eingang gefunden haben. Zu dem 1977 veröffentlichten Text Ce qu'ils disent ou rien erschien erst 1994, also 17 Jahre später, der erste unabhängige Artikel (!), und dem 1974 erschienenen Erstlingswerk Les armoires vides wurde bislang nicht einmal eine Einzelwürdigung zuteil; es wird lediglich in dem Überblickswerk von Tondeur (1996) etwas ausgiebiger behandelt. Für die Werke «Je ne suis ...» und La honte gibt es aufgrund ihrer unmittelbaren Veröffentlichung noch keine Literatur. Nicht uninteressant ist auch die Tatsache, daß sich die französische Öffentlichkeit wesentlich später mit Annie Ernaux befaßte als die englischsprachige und deutsche Kritik und sich ferner lieber formalen Fragen (écriture, Autobiographizität etc.) oder allgemeinmenschlichen Themen (Tragik des Elternverlustes etc.) widmete als der dominanten gesellschaftspolitischen Aussage der Werke, die von der nicht-französischen Kritik ohne zeitliche Verzögerung gewürdigt wurde.

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veröffentlichten Werke auffällige wörtliche Übereinstimmungen mit den betreffenden Texten aufweisen. In dem Interview mit mir hingegen machte die Autorin von derartigen Eigenzitaten keinen Gebrauch. Marie-France Savean bspw. versucht Annie Ernaux' Elternanklage in La place mit dem Verweis auf ebenso verfahrende, andere Autoren zu entschuldigen und verkennt somit gerade die beabsichtigte Brisanz dieses Vorgehens (MarieFrance Savean Commente et d'Annie Ernaux, Paris, Gallimard, 1994, im folgenden: Savean 1994), während Francine D e Martinoir, deren Analyse ich ansonsten zustimme, den Diskurs von La place genau entgegengesetzt bewertet, nämlich als frei von Haß und Anklage, als «paternel wie er einem Lacan gefallen hätte»! (Francine D e Martinoir: «Annie Ernaux: ». In: NRF 375 (April 1984), Paris, p. 111-114). Das Buch von Savean (1994) bietet dafür ein abschreckendes Beispiel. Es entbehrt m.E. jeder Methode, da Text- und Autorenebene, Wirklichkeit und Fiktion beständig miteinander vermischt werden. Ferner «belegt» die Verfasserin ihre Thesen mittels einer unzulässig kontextenthobenen Aneinanderreihung von Zitaten aus den verschiedenen Werken Ernaux' und bietet zum Teil arge Sinnstiftungen, wenn sie beispielsweise die Tatsache, daß die Autorin Ernaux Papier von beiden Seiten beschreibt, als Zeichen ihrer armen Herkunft wertet.

Die Untersuchungsmethoden: Textverständnis - Interpretationsverständnis

1 Überblick In der Sprachphilosophie wie in der traditionellen Textanalyse glaubte man lange Zeit, die Natur der Dinge zu erfassen, wenn man die Realität entziffert, die sich «hinter» den sprachlichen Repräsentationen verbirgt. Später fragte man sich vorsichtiger, inwieweit diese angenommene Bedingung womöglich selbst ein Konstrukt sein könnte, und überlegt heute gar, ob die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, von Philosophie und Text überhaupt eindeutig zu treffen ist, wenn man bspw. wie Goodman 1 die Natur als ein Produkt der Kunst und Sprache definiert und den Realismus als relativ, als an die Darstellungsgewohnheiten seiner Zeit gebunden entlarvt. Ein solches Infragestellen ist theoretisch sinnvoll und begleitete meine Textanalyse kritisch, lähmte aber nicht den Umgang mit dem Wort überhaupt, da ich u.a. aufgrund von Theorien aus Semantik und Pragmatik davon ausgehe, daß Menschen in einem synchronen Sprachsystem sehr wohl in der Lage sind, relativ sicher und eindeutig miteinander zu kommunizieren. In diesem Sinne gehe ich bei der Analyse literarischer Texte davon aus, daß sie einerseits mit einer bestimmten Aussageabsicht geschrieben worden sind, die die Leser herausfinden sollen und können, und daß andererseits ein Text als Gewebe von verschiedenen Sinneinheiten Deutungsweisen zuläßt, die von der Autorin nicht bewußt bedacht worden sind, aber aufgrund der Textstruktur als eindeutig vorhanden und im psychologischen Sinne als autorenbezogene Inhalte gewertet werden können. Darüber hinaus ist die Entdeckung von Sinnstrukturen eines Textes neben den durch den Text selbst gesteuerten Erkenntnislinien natürlich auch rezeptionsbedingt, sagen Interpretationen immer etwas über ihren Interpreten aus, ist die Schrift ja schon die Mimesis der Mimesis, wie schon in der Lehre vom Satz festgestellt wurde. 2 Damit aber Interpretationen aus dem Bereich des ungewissen Meinens und Glaubens herausgeführt werden, bedarf es eines Untersuchungsinstrumentariums, das es erlaubt, die Erkenntnisse am Text selbst festzumachen. Da m.E. jeder literarische Text die für ihn zutreffenden 1 2

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Frankfurt, Suhrkamp, 1973, p. 44. Aristoteles: Peri hermeneias oder Lehre vom Satz, 2. unv. Aufl., Leipzig, Meiner, 1925.

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Methoden selbst vorgibt, habe ich für meine Fragestellung an das Werk von Annie Ernaux Ansätze aus verschiedenen Disziplinen gewählt. Mein wichtigstes Werkzeug zur Entschlüsselung der Texte ist das Instrumentarium der Erzähltextgrammatik (cf. Punkt 2.3 dieses Kapitels), das es erlaubt, die Werke so textnah wie möglich auf ihren eigenen Aussagewert hin zu untersuchen, was besonders bei Texten wie denen von Annie Ernaux, die sich durch eine komplexe Erzählweise auszeichnen, sehr hilfreich ist. Der synoptische Vergleich ist der zweite Hauptpfeiler der Arbeit, der über die konkrete literarische Entwicklung der gesamttextlich wiederkehrenden Themen Aufschluß gibt, indem die textimmanenten Ergebnisse der Einzelwerkanalysen in einen werkgeschichtlichen Zusammenhang gebracht werden. Zur Klärung der inhaltlichen Schwerpunkte der Werke wie soziale Mobilität, Sexualität, Identität, Sprache etc. wurden die durch die textlinguistische Analyse erhaltenen Thesen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang ursächlich interpretiert, wozu gemäß der jeweiligen Thematik Deutungsansätze aus den Bereichen Psychologie, Soziologie oder Linguistik herangezogen wurden. Bei der Auswahl der Theorien wurde, soweit dies möglich und sinnvoll war, Untersuchungen berücksichtigt, die eine feministische,3 das heißt geschlechtspezifische Sichtweise wählen bzw. ihr Augenmerk auf die Situation der Frau richten. Damit soll dem Faktum Rechnung getragen werden, daß es sich erstens bei Annie Ernaux um eine Autorin handelt, deren «weibliche» Lebenserfahrung unweigerlich die Weltsicht ihrer Figuren prägt und sie zweitens ausschließlich weibliche Personen erzählen läßt und drittens die Protagonistinnen spezifisch «weibliche», weil zum Teil konkret an ihre Körperlichkeit gebundene Probleme zu bewältigen haben wie bspw. Schwangerschaft und Abtreibung.

2 Das zugrundeliegende Textverständnis 2.1 Grundsätzliches «Text» ist einer der schwierigen Begriffe der Sprachwissenschaft, dessen Definition je nach theoretischem Ansatz unterschiedlich ausfällt. Wichtige und durchgängig zu findende Definitionskriterien 4 sind jedoch die «textinternen» Merkmale: relative Selbständigkeit, inhaltliche Kohärenz und formale Strukturiertheit und die «textexternen» Elemente wie Kon3

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Der Terminus wird in dieser Arbeit ganz allgemein in Hinblick auf Theorie und Lehre der Frauenbewegung verwendet, siehe auch Brockhaus. Die Enzyklopädie. Bd. 7. Mannheim, 1996. Siehe Robert-Alain de Beaugrande; Wolfgang Ulrich Dressler: Einführung in die Textlinguistik, Tübingen, Niemeyer Verlag, 1981 oder Isenberg (1976).

stanz der Situation, Redekonstellation und kommunikative oder soziale Funktion. Dabei kommt dem Kriterium der Kohärenz sowohl innersprachlich (Syntax, z.B. Anaphorik, Semantik, z.B. Themastruktur) als auch bezüglich der äußeren Einbettung der Texte höchste Bedeutung zu. 5 D i e Unterscheidung zwischen alltäglichen und literarischen oder zwischen mündlichen und schriftlichen Erzählungen ist auf dieser grundsätzlichen Ebene von untergeordneter Wichtigkeit (cf. bspw. Gülich in Ehlich 1980, p. 375) 6 . Kahrmann et alii 7 unterscheiden ferner zwischen fiktionalen Texten (wo das Geäußerte als erfunden dargestellt wird, auf die Wirklichkeit nur indirekt im Sinne einer Interpretation bezug genommen wird) und faktischen Texten (in denen auf die Wirklichkeit 8 als etwas Reales bezug genommen wird), die in pragmatischen und nicht pragmatischen Redesituationen vorkommen können. 9 Im übrigen wird der Erzähltext 10 in dem hier diskutierten Zusammenhang (nach Ehlich 1980) ohne 5 6 7

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Cf. Brigitte Schlieben-Lange: Text. In: HSK, Bd. 3.1, p. 1205-1215. Konrad Ehlich (ed.): Erzählen im Alltag, Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 1980, im folgenden: Ehlich 1980. Cordula Kahrmann; Gunter Reiß et al.: Erzähltextanalyse. Eine Einführung in Grundlagen und Verfahren, Bd 1 - 2 , Kronberg, Athenäum, 1977 und idem: Erzähltextanalyse: eine Einführung in Grundlagen und Verfahren, mit Studienund Übungstexten. 2. Aufl. d. Überarb. Neuausg. Meisenheim, Hain, 1991. Im folgenden Kahrmann et alii. Wirklichkeit definieren sie folgendermaßen: «Wenn hier - verkürzt - von Wirklichkeit gesprochen wird, dann ist stets gemeint: Bewußtsein von Wirklichkeit. Ohne dieses erkenntnistheoretische Problem hier behandeln zu können, müssen wir davon ausgehen, daß das Bezugsfeld des fiktionalen Textes nicht die Wirklichkeit als solche ist, sondern Wirklichkeitsmodelle als . Diese . (Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München, 1976, 118-119).» (Kahrmann et alii 1991, p. 53). Diese Unterscheidung halte ich jedoch für theoretisch, da im Grunde jede Referenz auf etwas Reales als Interpretation ausgelegt werden kann. Gülich unterteilt folgendermaßen: Erzählen = der Vorgang des Erzählens, Erzählung = Oberbegriff, Textsortenklasse; Geschichte/histoire = die Abfolge der erzählten Ereignisse (Inhalt); Erzähltext/discours du récit = die Äußerung (cf. Elisabeth Gülich: «Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse (am Beispiel mündlicher und schriftlicher Texte)». In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Beiheft 4: Erzählforschung 1 (1976), Göttingen, p. 224-256; im folgenden: Gülich 1976). Cf. auch Werner Kallmeyer: «Gestaltungsorientiertheit in Alltagserzählungen». In: R. Kloepfer, G. Janetzke-Dillner (ed.), Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Kohlhammer, 1981, p. 409-429 (im folgenden Kallmeyer 1981) oder Johannes Schwitalla: «Erzählen als die gemeinsame Versicherung sozialer Identität». In: W. Raible (ed.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema , Tübingen, Narr, 1988, p. 111 -132 (im folgenden Schwitalla 1988). 11

Unterschied, ob als Erzählen im Alltag oder als literarische Gattung, betrachtet und definiert als sprachlich äußerst komplexe Handlung, die eingebettet ist in die gesellschaftlichen Handlungsbezüge seiner Aktanten und folgenden Zweck erfüllt: Es ist eines der prominentesten Mittel, mit denen der Transfer von Erfahrung bewältigt werden kann. Erzählen ist eine Tätigkeit, die, vom partikularen Erlebniswissen (Ehlich und Rehbein 1977) bis hin zu komplexen, aber als Geschichte geradezu sinnlich wahrgenommenen Ereignissen und Zusammenhängen, Erfahrung kommunikativ vermittelt. Erzählen überwindet Isolation und konstituiert gemeinsame Teilhabe am Diskurswissen, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Praxis realisiert wird. (Ehlich 1980, p. 20).

2.2 Kommunikationsorientiert D i e kommunikationsorientierte Erzähltextanalyse 11 geht von der Einbettung von Erzähltexten in eine Kommunikationssituation aus und untersucht im Einklang mit der obigen Textdefinition sowohl textinterne (bezogen auf den Text als Sprachsystem, sprachliche Handlungsmuster) als auch textexterne Merkmale (bezogen auf die äußere Kommunikationssituation, nicht sprachliche Handlungsmuster). 12 Letzteres nimmt sich für die Beschreibung literarischer Texte teilweise schwierig aus 13 und soll auch im vorliegenden Falle (bis auf das Interview mit der Autorin) ausbleiben. Der literarische Text wird demzufolge als Kommunikat zwischen einem Urheber und einem Adressaten gewertet. Allerdings ist wie bei schriftlichen Texten «in nicht pragmatischer Funktion» allgemein der Kommunikationsakt zeitlich unterbrochen, da der Kommunizierende die Einwirkung auf den Kommunikationspartner via Text nicht wie in einer face-to-face Situation überprüfen kann. Deshalb muß man im Prinzip 11

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Für eine intensivere Beschreibung dieses Kommunikationsmodells und seiner Implikationen verweise ich auf die diesbezüglichen Abhandlungen von Elisabeth Gülich, Wolfgang Raible: Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten, München, Fink, 1977 (im folgenden Gülich/Raible 1977) speziell die Seiten 21-59. In diesem Buch wird in einem ersten Schritt auf Kommunikationsmodelle allgemein eingegangen, in einem zweiten Schritt auf die verschiedenen Arten von Textmodellen und in einem dritten Schritt (ab Seite 192) auf Textmodelle, die in Hinblick auf eine bestimmte Textsorte (Erzähltexte) entwickelt wurden. So muß der Autor ein Schreibanliegen, eventuell ein Mitteilungsbedürfnis oder den Wunsch haben, die zukünftigen Handlungen des Lesers zu beeinflussen, während der Hörer bereit sein muß, über längere Zeit in der passiven Rolle zu verweilen, die Kommunikationssituation muß über eine längere Zeit konstant bleiben, der Bereich der Gegenstände und Sachverhalte (Inhalt) ist entweder fiktional oder real, die Kommunikationsebene zwischen den dargestellten Personen unterliegt ebenfalls den Erkenntnissen der Sprechakttheorie und Konversationsanalyse. Cf. Franke in: Klaus Brinker (ed.): Aspekte der Textlinguistik, Hildesheim, Olms, 1991.

zwei Kommunikationssituationen, die Produktions- und die Rezeptionssituation betrachten, wobei sich das Interesse des Betrachters im ersten Falle auf Merkmale im Text richtet, die auf den Standort des Autors hinweisen, und im zweiten Fall auf die Erfassung der Merkmale eines Textes, die durch [...] das Interesse des Rezipienten am Text als Merkmale des Textes erst herausgestellt und im Leseprozeß aktiviert werden (Bedeutungsherstellung durch den Rezeptionsvorgang). (Kahrmann et alii 1991, p. 41).

Diese Unterscheidung erscheint mir allerdings vor allem gradueller Natur zu sein. Im Sinne der Sprechakttheorie geht man davon aus, daß auf der Erzähltextebene Indikatoren für die illokutionären Rollen des Textes zu finden sind, die über die Intention des Autors Auskunft geben (Schreibanlaß, etc.), und davon, daß der Text einen perlokutionären Akt beim Leser hervorrufen soll (wie Belehren, Erklären etc.), der über das einfache Lesen des Werks hinausgeht. Der interne Kommunikationsakt, der neben der realen Kommunikationssituation vorliegt (= Schreib- bzw. Lesevorgang eines realen Autors und eines realen Lesers), ist ferner als fingiert zu bezeichnen, da sich der Autor als Erzähler gegenüber einem fiktiven Leser imaginiert, wobei der Rezipient als konkreter Leser des Textes nicht mit dem Adressaten als intendiertem Empfänger identisch sein muß. Des weiteren glaubt man, daß der literarische Text speziell vor dem Hintergrund kollektiver Stereotypen stattfindet: Im Sinne der Durkheim-Schule läßt sich z.B. ein Element der individuellen Vergangenheit nur im Rahmen oder auf dem Hintergrund einer Struktur, wie sie das Kollektivgedächtnis darstellt, unterscheiden, identifizieren und mit einem Sinn versehen. Erst wenn der chaotische, nichtchronologische Strom individueller Erinnerungen und Beobachtungen in den Rahmen des Kollektivgedächtnisses gestellt wird, erfährt er eine chronologisierende und sinnverleihende Strukturierung. (Kahrmann et alii 1977, p. 185)

Schlieben-Lange bezeichnet den Text überhaupt als diejenige sprachliche Ebene, auf der einerseits die «gesellschaftliche Organisation sich am direktesten fassen läßt [...], andererseits [...] sich das Individuum unmittelbar manifestiert. Auf keiner anderen Ebene der Sprache ist die Spannung von Sozialem und Individuellem so stark.» 14 Dies trifft für Texte von Annie Ernaux im ganz besonderen Maße zu. Die noch ausstehenden Elemente für eine komplette Textbeschreibung sind umfassend. Wie Raible in seinem gleichnamigen Aufsatz ausdrückt, hat der Text viele Stiefväter. 15 Man muß seiner Meinung nach mit 14 15

Brigitte Schlieben-Lange op. cit., p. 1209. Siehe auch 1210 sq. Wolfgang Raible: «Vom Text und seinen vielen Vätern oder: Hermeneutik als Korrelat der Schriftkultur». In: A. u. J. Assmann, Chr. Hardmeier (ed.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I, München, Wilhelm Fink, 1983, p. 20-23.

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den Kirchenvätern neben dem Wortsinn einen moralischen (die praktische Auswirkung) und einen allegorischen Sinn (die Heilfunktion) einräumen und nach heutigen Erkenntnissen zudem die Ebene des Unbewußten, des kollektiven Unbewußten, der Klassenzugehörigkeit, der literarischen Tradition und der Gattungszugehörigkeit mitbedenken, so daß der Schriftsinn nicht nur eine ganze Reihe von Interpretationsmöglichkeiten bietet, sondern ferner seine Interpretation nie abgeschlossen zu sein scheint. So folgert Raible: «Eine notwendige Ergänzung jeder Schriftkultur ist somit die Exegese.» (22).

2.3 Erzähltextanalytisch Die Untersuchungsmethode der Erzähltextgrammatik geht auf die Untersuchung von Vladimir Propp (1927) zur Morphologie der russischen Zaubermärchen 16 zurück, der auf der Suche nach etwaigen konstanten, textsortenspezifischen 17 Elementen feststellte, daß die Protagonisten der Märchen stark variieren, ihre Funktionen als handelnde Personen aber weitgehend gleich blieb. Er schlußfolgerte, daß nicht ihre Persönlichkeit als solche von Interesse war, sondern lediglich ihre «Funktion», die er daraufhin als «Aktion einer handelnden Person [...] die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird» 16 17

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Vladimir Propp: Morphologie des Märchens, München, Hanser, 1972. Nach Brinker sind Textsorten oder Texttypen ganz allgemein komplexe Muster sprachlicher Kommunikation mit konventioneller Geltung, d. h. sie sind sowohl für die Textrezeption als auch für die Textproduktion von Bedeutung. Textsorten lassen sich bestimmten Textbereichen zuordnen und sind primär aufgrund kommunikativ-funktionaler Kriterien voneinander abgrenzbar. Textmuster bezeichnen bestimmte makrostrukturelle Vertextungsmuster primär thematischer Art (Makro- und Superstrukturen bei van Dijk 1980; Grundformen der Themenentwicklung bei Brinker 1993). Diese Muster, von denen das deskriptive (beschreibende), das narrative (erzählende), das explikative (erklärende) und das argumentative (begründende) Muster wohl die wichtigsten sind, gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber und geben den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die thematische Gestaltung ihres Sprachhandelns. Textmuster sind auf Textsorten bezogen, wenn auch nicht im Sinne einer l:l-Beziehung. Sie werden durchaus in verschiedenen Textsorten verwendet, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung. Dieses Gebiet ist bis auf die Textmuster «Erzähltext» und «argumentativer Text» wenig erforscht. (Klaus Brinker: Textlinguistik, Heidelberg, Groos Verlag, 1993, p. 5. sq. im folgenden Brinker 1993). In Hinblick auf die Texte von Annie Ernaux läßt sich folgendes feststellen: Da die Gliederungsmerkmale nach van Dijk, Labov und Gülich/Heger/Raible, die auf die Erzählungen angewendet werden konnten, und nach Meinung der Forscher, die Makrostruktur textsortenspezifisch ist, sind die Erzählungen von Annie Ernaux bis auf La honte (cf. diesbezügliche Analyse) dem narrativen Genre zuzuordnen (für die Bestimmung von literarischen Gattungen cf. auch Wolfgang Raible: «Was sind Gattungen?». In: Poetica 12 (1980), p. 320-349).

(1972, p. 27) beschrieb. Da er zudem die Anzahl dieser Funktionen als begrenzt und ihre Reihenfolge als immer dieselbe betrachtete, sah er durch sie die Textsorte «Zaubermärchen» konstituiert. Dieser Ansatz ist auch für das Werk Annie Ernaux' nicht unbedeutend (cf. Kapitel «Die Gemeinsamkeiten der Ernauxschen Werke»). Seitdem wurden von verschiedensten Schulen Erzähltexte nach funktionellen Teilen untersucht, wobei die Kategorien, die von verschiedenen Forschern aufgestellt wurden, um die Struktur einer Erzählung zu erfassen, auf den unterschiedlichsten Definitionen dessen beruhen, was als elementare Einheiten einer Geschichte aufgefaßt wurde, so daß eine große Anzahl in Ansatz, Methode und Terminologie stark divergierender Modelle entstanden, die aber grob durch die Art ihrer Definition von Funktion (formal oder inhaltlich) unterschieden werden können. Ich beschränke mich hier auf die Kurzdarstellung jener Ansätze, die die vorliegende Interpretation direkt beeinflußten, weshalb die Erörterung der bekannten französischen Strukturalisten entfällt (Roland Barthes, Claude Bremond, Claude Chabrol, Algirdas Julien Greimas, Julia Kristeva, Tzvetan Todorov; cf. hierzu bspw. Gülich/Heger/Raible 1977, p. 200 sq.), die die elementaren Textelemente weitgehend inhaltlich definieren, das heißt, in der Tradition eines Vladimir Propp ihr Augenmerk auf die erzählte Handlung und nicht auf den Erzähltext oder das Erzählen selbst richten. Die seit ihrer Entstehung Mitte der Sechziger sich schnell etablierende Textlinguistik18 geht einer zweifachen Fragestellung nach: Was macht einen Text zum Text, und nach welchen Strukturen lassen sich Texte zu Klassen zusammenfassen? War die Blickrichtung der Erzähltextanalyse zu Beginn noch stark «grammatikalisch» ausgerichtet (Harweg 1968),19 so richtete sich das Augenmerk bald auf die Analyse einer abstrakten, semantisch-thematischen Textbasis (Petöfi, Dressler, van Dijk). Schließlich kristallisierte sich, beeinflußt durch die pragmatische Wende der siebziger Jahre, der handlungs- oder kommunikationstheoretische Ansatz, der die kommunikative Funktion der Texte erforscht, als der heute dominierende Forschungsansatz heraus (Brinker 1991, p. 9). «Text» wird somit nun nicht mehr nur unter grammatischen, sondern vor allem unter situativen, kommunikativ-funktionalen, thematischen und kognitiven Aspekten erforscht.

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Sie unterteilt sich nochmals in Textgrammatik und Textpragmatik, und die Textgrammatik untergliedert sich ihrerseits nochmals in Textsyntax und Textsemantik. Roland Harweg: Pronomina und Textkonstitution, München, Fink, 2. verb. u. erg. Aufl. 1979.

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3 Die textlinguistische Analyse20 Ziel des Autors ist es, dem gedachten Adressaten seine Kommunikationsabsicht mittels des Erzähltextes so darzustellen, daß sie, [...], adäquat rezipiert wird. U m dies zu erreichen, orientiert der Autor die Auswahl seiner Darstellungsmittel und die Redestrategie am Bild des intendierten Adressaten. Sein Erzählen ist Planung der (gewünschten) Rezeption. (Kahrmann et alii 1991, P- 58)

Wie bereits im Abschnitt zum Aufbau der Untersuchung erwähnt, unterteile ich die Einzelwerkanalyse in fünf Abschnitte, die sich nacheinander mit der Synopse, der Gattungsproblematik, der Makrostruktur, der Diskursstruktur und der Inhaltsanalyse beschäftigen. Die Untergliederung in Makrostruktur und Diskursstruktur stützt sich auf die im folgenden erörterten Modelle, die Text-, Gattungsdefinition und Untersuchungsmethode in einem sind. Die Ansätze von Labov und van Dijk dienten der Grobuntergliederung der Texte, das Modell von Gülich/Heger/Raible der Feinanalyse. Mit ihrer Hilfe sind die «Baupläne» der Erzählung entstanden. Der konkrete Anwendungsvorgang wird in den jeweiligen Kapiteln nicht mehr angezeigt, da die Modelle als «Werkzeug» dienten und der Schwerpunkt der Arbeit nicht in ihrer theoretischen Überprüfung lag. 3.1 Makrostruktur: die Textkonstituenten der Erzählung [...] les événements se produisent dans un sens et nous les racontons en sens inverse. On a l'air de débuter par le commencement: «[...].» Et en réalité c'est par la fin qu'on a commencé. Elle est là, invisible et présente, c'est elle qui donne à ces quelques mots la pompe et la valeur d'un commencement. 21

Unter einer Makrostruktur wird die Untergliederung eines Erzähltextes in funktionale Textteile verschiedenen Grades verstanden, die in einer Hierarchie zueinander stehen und im Zusammenhang des Gesamttextes eine spezifische Aufgabe erfüllen. Sie können bei einer Analyse freigelegt

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Unter linguistischer Textanalyse versteht man ganz allgemein die Erforschung und Darstellung der Struktur (des grammatikalischen und thematischen Aufbaus) konkreter Texte sowie ihrer kommunikativen Funktion, um dadurch Einsichten in die Regelhaftigkeit von Textbildung (Konstitution) und Textverstehen (Rezeption) zu erhalten (nach Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin, Schmidt, 3. durchges. u. erw. Aufl. 1992, p. 8). Jean Paul Sartre: Les Mots. Paris, Livre de poche, 1962. Zitiert nach Gülich 1976, p. 246.

werden und sind inhaltlich und/oder formal abgrenzbar. 22 Konkret bedeutet dies zunächst einmal eine Unterteilung der Erzählung in «Geschichte» und «Moral» (= Einbettung in einen größeren Sinnzusammenhang) und die Untergliederung der «Geschichte» in eine Abfolge von Sequenzen. Die Untergliederungsart und Definition der funktionalen Textteile von van Dijk, 23 Labov,24 Gülich/Raible und Kloepfer 25 stimmen im Prinzip überein. Da sie sich aber in Feinheiten (Ansatz, Methode und Zielvorstellung) und in den sprachlichen Termini unterscheiden, werden sie nachfolgend modellimmanent dargestellt. 3.1.1 Definition und Untergliederung nach van Dijk Teun A. van Dijk versuchte u.a. im Rahmen seines generativen Ansatzes, ein Erzähltextmodell zu entwerfen, das theoretisch fundiert und dessen Regeln und Kategorien von einem allgemeinen Textmodell ableitbar sein sollen (mit zusätzlichen Bedingungen und/oder Restriktionen). 26 So definierte er Makrostruktur (1980) als eine semantische Tiefenstruktur des Textes, die eine Vorstellung vom «globalen» Zusammenhang und der Textbedeutung liefern soll und sich auf einer höheren Ebene in Form von einzelnen Propositionen manifestiert. Sein Modell der Makrostrukturen von 1974, das als eine Detaillierung des Labovschen Modells gelten kann (siehe nachfolgend), diente mir als Grundraster für die Betrachtung der Texte von Annie Ernaux. Hiernach unterteilt sich eine Erzählung grundsätzlich in eine Geschichte und eine Moral, untergliedert sich die Geschichte selbst nochmals in Plot und Evaluation. Der Plot besteht seinerseits aus der Unterteilung in einzelne Episoden, wobei zumindest die erste Episode aus einem Rahmen (setting), der in Umstände und Exposition aufgespalten wird, und einem Ereignis (happening) besteht, das sich in Komplikation und Auflösung untergliedert. 22

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Cf. Kritik von Quasthoff an Gülich/Raible, 3.1.3. Sie belegt, daß sich die Untergliederung kaum ohne Einbeziehung einer inhaltlichen Sichtweise machen läßt, so daß die entstandenen Schemata als Verarbeitung beider Sichtweisen zu verstehen sind. Teun A. van Dijk: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung, Tübingen, Niemeyer, 1980. William Labov: «Der Niederschlag von Erfahrungen in der Syntax von Erzählungen». In: Idem, Sprache im sozialen Kontext, Königsstein, Athenäum, 1987. Bd. 2, p. 5 8 - 9 9 . Rolf Kloepfer: «Zum Problem des ». In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 27/28 (1977), p. 69-90, im folgenden Kloepfer 1977. Die Modelle der französischen Strukturalisten wurden im Gegensatz dazu lediglich anhand einer Reihe von Textanalysen eruiert. Im Hinblick auf die Tatsache, daß die Oberflächenstrukturen des Textes, der Erzähltext selbst für van Dijk weitgehend uninteressant waren, blieb er allerdings dieser Tradition verhaftet.

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Plot Episode Rahmen Umstände

Exposition

Erzählung Geschichte \ , . Evaluation

Moral

Episode Ereignis Komplikation

Auflösung

3.1.2 Erläuterung nach Labov und Kloepfer Das Strukturprinzip von Labov (1973), das er anhand von Untersuchungen mündlicher Erzählungen 27 herausgearbeitet hat, das aber auch auf schriftliche Texte angewendet werden kann, wird als erklärende Ergänzung zum Van Dijkschen Modell herangezogen. Labov bezieht sich bei der Unterteilung eines Textes in makrostrukturelle Konstituenten im Gegensatz zu van Dijk auf die Textoberfläche, also den Erzählte** und nicht die Erzählgeschickte 28 und richtet sein Augenmerk auf den Evaluationsteil der Geschichte. Seiner Ansicht nach bestehen Erzählungen aus Abstract, Orientierung, Handlungskomplikation, Resultat, Koda und Evaluation, in dieser Reihenfolge oder auch kompliziert ineinander geschaltet. Die ersten fünf Textteile sind nach Ansicht Labovs obligatorisch, die Koda ist fakultativ. Die Exposition von van Dijk entspricht dabei ungefähr der Orientierung bei Labov, ebenso wie sich Komplikation (Labov) und Auflösung (van Dijk) entsprechen und Evaluation und Koda bei Labov mit der Moral bei van Dijk gleichzusetzen sind. Unter Abstract versteht Labov eine anfängliche Zusammenfassung (Kern der Erzählung) der Geschichte durch den Erzähler und eine Erläuterung, warum sie für erzählenswert gehalten wird. Die Orientierung führt 27

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Als Erzählung versteht Labov eine Methode, zurückliegende Erfahrungen verbal zusammenzufassen, indem eine Folge von Teilsätzen eine Folge von Ereignissen darstellt. Eine Minimalerzählung definiert er als Abfolge von zwei narrativen Teilsätzen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie temporal verknüpft sind, also eine Umstellung ihrer Reihenfolge die semantische Interpretation verändern würde (temporal ungebundene Teilsätze nennt er «freie Teilsätze»). Labov hat seine Untersuchung anhand von alltäglichen Erzählungen, die eine persönliche, brisante Lebenssituation schildern, vorgenommen, weil er davon ausging, daß der Sprecher bei der Schilderung derartiger Erlebnisse seine Sprache nicht so stark kontrollieren kann wie in anderen Situationen. Er unterteilte also nach formalen Gesichtspunkten, wobei die Unterteilung zwischen formal und inhaltlich nicht kategorisch getroffen werden kann (cf. Kritik von Quasthoff an Gülich/Heger/Raible, Punkt 3.1.3).

den Leser in die allgemeine Situation der Geschichte ein, die den Ausgangspunkt für die Konfliktentwicklung bildet; sie gibt Auskunft über Ort, Zeit, Protagonisten und ihre Charaktere. Sie leitet von der Erzählzeit in die erzählte Zeit über und steht häufig in den Verlaufsformen der Vergangenheit, kann aber auch an strategisch wichtigen Punkten der Erzählung stehen. Beides ist bei Annie Ernaux in den später als Ringgeschichten bezeichneten Erzählteilen anzutreffen. Die Handlungskomplikation bildet das Kernstück der Erzählung als Darstellung des Handlungsverlaufs. Das Resultat erzählt den Ausgang der Handlungskomplikation, schließt die Ereignisfolge ab. Die Koda schließlich zeigt das Ende der Erzählung an und definiert gegebenenfalls die gewünschte Wirkung auf den Leser, leitet von der erzählten Zeit in die Erzählzeit über. Diese Textteile finden sich bei Annie Ernaux in den Binnengeschichten wieder. Die Textteile, die Labov Evaluation nennt und denen sein ganz besonderes Interesse galt, können verstreut über den gesamten Erzähltext auftauchen. Sie betonen die raison d'être des Textes, warum erzählt wird und welche Wirkung erreicht werden soll, stellen also die Bewertung des Erzählers seiner Geschichte dar. Sie zeichnen sich sprachlich oftmals durch eine komplizierte Darstellungsform aus, 29 wodurch sie also auch auf syntaktischem Wege die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich lenken. 3 0 Auch dafür finden sich in den Ernauxschen Texten Entsprechungen in Form der von mir sogenannten Autorinnenreflexionen. Auch Kloepfer (1977) hält die Evaluation für ein konstitutives Element des narrativen Kodes, die eine Geschichte erst zur Erzählung macht, ebenso wie die narrativen Strukturen eine Abfolge von Geschehnissen zur Geschichte machten. 3 1 Sie sei darüber hinaus in Verbindung mit den einfachen Formen als ideologiekritische Textanalyse zu gebrauchen, da man mit ihnen nachweisen könne, daß ein Text neben der rein referentiellen Kodierung und der expliziten Moral auch eine implizite Moral (= Evaluationen) enthält, die unterschwellig wirkt, weil der Erzähler sie mit der referentiellen Kodierung verknüpft hat.

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Seine Untersuchungen ergaben, daß die Phrasenstruktur der Erzählung in der Regel nach einem sehr einfachen Muster (Satzadverb + NP + VP) gebaut ist einfacher als das Bauprinzip der alltäglichen Sprache - , während die Evaluationsteile der Erzählung sich als die syntaktisch kompliziertesten Stellen erwiesen. Nach Schwitalla (1988) gehören zu den Labovschen Strukturen «erzählspezifische Sprechhandlungen» wie bspw. Evaluierungen (wertende Äußerungen des Erzählers, die auch im Abstract oder der Coda vorkommen können), Detaillierung oder Raffung, Perspektivenwechsel etc., die die Relevanz indizieren und festlegen. Hierbei stützt er sich auf die Überlegungen von André Jolles 1930, der die Wirklichkeit durch die Sprache und ihre «Einfachen Formen» sinnbildend geordnet sah (cf. André Jolles: Einfache Formen, Halle, Niemeyer, 2 1956).

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3.1.3 D i e Gliederungssignale von Gülich/Heger/Raible 32 Diese Autoren schließlich gehen ebenfalls davon aus, daß ein Text eine für den Leser erkennbare Makrostruktur hat, - die textsortenspezifisch ist, d.h. daß eine Textoberfläche Indikatoren enthält, die es dem Leser erlauben, die Zugehörigkeit des Textes zu einer Textsorte festzumachen, 3 3 - und die sich zuallererst auf syntaktischer Ebene in funktionale Teile untergliedern läßt. Wie auch van Dijk sehen sie den Text in hierarchisch geordnete Textteile untergliedert, die jeweils eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamttexts erfüllen. Diese funktionalen Teile demonstrieren die Relation von Form und Inhalt. D i e hierarchische Untergliederung in Textteile erfolgt aufgrund der von ihnen so benannten Gliederungssignale, die als Indikatoren im Text vorliegen. Die Autoren eruieren folgende: Auf der ersten Ebene gibt es die meta-narrativen Sätze, die einen Text als Ganzes abgrenzen (Beispiel: Rahmenerzählung). Auf der zweiten Ebene, der Substitution auf MetaEbene,34 wird vom Erzähler die Textsorte benannt (Beispiel: récit). Diese Ebene ist in den Ernauxschen Texten unterschiedlich ausgeprägt. Die dritte Ebene wird von sogenannten Episodenmerkmalen und Iterationsmerkmalen angezeigt, und die ihr untergeordnete vierte Ebene wird durch die Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger markiert. Auf der fünften und sechsten Strukturebene des Textes wird dies durch die Gliederungsmerkmale Renominalisierung einerseits und Textadverbien und Textkonjunktionen andererseits getan. 32

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Hierbei stütze ich mich vor allem auf Elisabeth Gülich, Klaus Heger, Wolfgang Raible: Linguistische Textanalyse. Überlegungen zur Gliederung von Texten, Hamburg, Buske, (1974), 21979, im folgenden Gülich/Heger/Raible 1974. Sie nehmen an, daß sie auch in anderen Textsorten vorkommen, nur die Art ihrer Hierarchie erzähltextspezifisch ist und sie übereinzelsprachlich sind, da sie ihre Untersuchungen an deutschen, französischen und englischen Erzähltexten, mündlicher und schriftlicher Natur, vorgenommen haben. Zur Konkretisierung des Begriffs Substitution auf Metaebene'. «Um Verwechslungen vorzubeugen, muß im Zusammenhang mit der Substitution auf Metaebene darauf hingewiesen werden, daß alle Kommunikationssysteme das «kontrakonfliktäre Kommunikationsmittel» der Paraphrase kennen (vgl. Ungeheuer 1969: 251= 1972: 204. bedeutet: der prinzipiellen Unzuverlässigkeit des Kommunikationssystems entgegenwirkend) und daß Paraphrasensignale mitunter formal dem ähnlich sein können, was eben als für die Substitution auf Metaebene charakteristisch beschrieben wurde. Deshalb sei folgende Restriktion eingeführt, die es gestattet, Paraphrasenfälle dieser Art auszuscheiden: Wo man bei einem Gliederungsmerkmal wie das h e i ß t , das für sich gesehen sowohl Paraphrasensignal als auch Gliederungssignal auf der zweiten Stufe der Hierarchie sein kann, das durch «der vorhergehende (nachfolgende) Text» ersetzen kann, liegt ein Gliederungsmerkmal auf der zweiten Stufe der Hierarchie vor. Wenn es sich um ein Gliederungsmerkmal handelt, wird im übrigen im Gegensatz zur Paraphrase der vorhergehende bzw. nachfolgende Text im allgemeinen durch einen textsortenspezifischen Terminus wie , , usw. bezeichnet sein.» (op. cit., p. 89-90).

Quasthoff (1976) kritisiert an diesem Ansatz, daß die Episodenmerkmale nur selten vorkämen und die Autoren die iterativen Gliederungsmerkmale nur im Zusammenhang mit dem Merkmal «Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger» gelten ließen, was gegen ihr Postulat, nur formale und keine inhaltlichen Kriterien anzuwenden, verstoße. 35 Ihr Einwurf ist berechtigt, schmälert aber nicht den konkreten Wert dieser Theorie für die Textanalyse. 3.2 Diskursstruktur Ich verstehe unter Diskursstruktur nach Kloepfer, der sich seinerseits auf Todorov (1966) und Genette (1974) stützt, die Überführung der Geschichte in eine Kommunikationssituation mit dem Leser. Sie ist in dieser Hinsicht der Makrostruktur untergeordnet. Da sie aber dem allgemeinen Sinnzusammenhang dient (cf. 3.1.2, Stichpunkt Evaluation), ist sie für Kloepfer von besonderer Bedeutung. 36 Weil es innerhalb der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Tradition keine einheitliche Terminologie zur Beschreibung diskursspezifischer Kategorien gibt, habe ich in der Einzelwerkanalyse versucht, die Beschreibungskategorien so allgemeinverständlich wie möglich zu halten. Theoretisch beziehe ich mich jedoch auf die Kriterien von Kloepfer (1977), Petersen (1977),37 Baur (1981)38 und Kahrmann et alii (1977 und 1991). Kloepfer (1977) trennt zwischen Erzählform, Erzählverhalten und Erzählperspektive. Zur Erzählform rechnet er alle Phänomene der Relation zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, die er in die drei Subkategorien 35

«Die exemplarische Überprüfung [die Quasthoff an mündlichen Texten vornahm, H. I. K.] im Fall der «meta-narrativen Sätze», der absoluten und relativen Episodenmerkmale sowie des Tempuswechsels, ergab, daß die Gliederungssignale zwar in einer z.T. auffälligen Systematik auf die MS beziehbar sind, daß diese Beziehung aber nicht eindeutig und die MSA nicht vollständig daraus ableitbar ist. So sind diese Signale auf der «Oberfläche» mehrdeutig, sie können ihre Signalfunktion nur im Zusammenspiel mit einer semantischen Deambiguierung erfüllen.» (Uta Quasthoff: «Makrostruktur und Gliederungsmerkmale in konversationellen Erzählungen. Gedanken zur Strukturbeschreibung von Texten». In: H. Weber, J. Weydt (ed.), Sprachtheorie und Pragmatik. Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums Tübingen 1975, Tübingen, Niemeyer, 1976, Band 1, p. 299).

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Sie gibt wie auch die Makrostruktur Informationen zur Gattungszugehörigkeit der Texte. Jürgen H. Petersen: «Kategorien des Erzählens». In: Poetica. Zeitschrift für Sprache und Literaturwissenschaft. Bd. 9 (1977), p. 167-195; im folgenden Petersen (1977). U w e Baur: «Deskriptive Kategorien des Erzählverhaltens». In: R. Kloepfer (ed.), Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 1981, p. 31-39.

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unterteilt: Ordnung, Dauer und Häufigkeit. Bezüglich der Erzählperspektive unterscheidet er zwischen Ichform (autobiographisch, testimonial) und Erform (auktorial, neutral). Sein Begriff «Erzählverhalten» bezieht sich auf die Referenzen des Textes (Sprachliches, Nichtsprachliches), die zur Unterteilung in Bewußtseinsstrom, innerer Monolog, direkte Rede, indirekte Rede, Bericht und Beschreibung führen. Petersen (1977) differenziert u.a. Erzählform (Ich- oder Er-Erzählung), Blickpunkt, point of view (olympischer oder figurörtlicher Standpunkt), Erzählperspektive (Innen- oder Außensicht), Erzählverhalten (auktorial, personal oder neutral), Erzählhaltung (+- verhaltener Wertung) und Darbietungsweise (Kommentar, Bericht, Beschreibung, innerer Monolog, erlebte Rede). Baur (1981) seinerseits geht davon aus, daß der Erzähler real sei und sein «Erzählverhalten» bezüglich seines «Seins im Text» und bezüglich seines Verhaltens gegenüber den erzählten Figuren eruiert werden kann. Im Hinblick auf die erste Kategorie unterscheidet er sein zeitliches, räumliches und kommunikatives Erzählverhalten, im Hinblick auf die zweite Kategorie sein zeitliches, räumliches, psychologisches und mentales Verhalten. Die Untersuchung nach Kommunikationsebenen von Kahrmann et alii (cf. auch Kallmeyer 1981) schließlich erschien mir am handhabbarsten. Sie unterscheiden fünf Erzählebenen des Erzählwerks: die Ebene der erzählten Figuren, die der erzählenden Figur, die des Autorenbewußtseins, die der Produktion (realer Autor) und Rezeption (realer Leser) sowie die des historischen Kontextes (Autor und Leser als historische Personen).

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Einführende Synopsis: Die Gemeinsamkeiten der Ernauxschen Werke

Zwischen:

und:

J'écoutais trois ou quatre fois de suite le même disque, [...] Récouter, rérécouter, rétrécir de plus en plus quelque chose, arriver au point de saisir je ne sais quoi, la perfection, [...]. (Ce qu'ils disent ou rien: 38/39)

Décrire pour la première fois, sans autre règle que la précision, [...] lignes dures qui la désenchantent, [la topographie douce des souvenirs, H. I. K.] [...]. (La honte: 48/49)

Konstitutives Merkmal der bisher erschienenen Familienromane, auch das der in dieser Arbeit nur andeutungsweise zur Sprache kommenden Texte Passion simple und Journal du dehors, ist die intertextuelle 1 Wiederaufnahme der Hauptthemenbereiche einerseits und die Spiegelung von thematischer Aussage und formaler Darstellungsweise andererseits. Dies wird ferner immer vermittels gleicher Erzählelemente verwirklicht, die lediglich von Werk zu Werk unterschiedlich gewichtet, verflechtet und ursächlich hergeleitet werden. Deshalb kann ihr synoptischer Vergleich Aufschluß über die Ideenentwicklung der Autorin geben, zumal die Verquickung der Themenkreise und ihre gegenseitige Beeinflussung bzw. Interdependenz als integrale Abbildung der Problematik angelegt zu sein scheint.2 Die Ernauxsche Suche nach Wahrheit nimmt sich dabei wie der subtile, aber fortwährende Prozeß einer Selbstzerstörung aus, da die subjektive Innenperspektive der erzählenden und erlebenden Ichs einem Gefängnis gleicht, ihr Blick immer an den wunden Punkten der Lebensgeschichte verharrt.

1 Personale und gesellschaftliche Grundkomponenten Im Sinne der Theorie des Handlungssubstrats 3 weisen die Ernauxschen Familienromane immer dieselbe Figurenstruktur auf. Personaler Kern der Erzählungen ist die aus der Unterschicht stammende Kleinfamilie (Tochter,4 Mutter, Vater), die in einem schon ländlich anmutenden Randgebiet 1

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Cf. bspw. Ulrich Broich und Manfred Pfister (ed.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen, Niemeyer, 1995. Auch wenn der Autorin die Idee des Gesamtkunstwerks erst im Laufe des Schaffensprozesses gekommen sein mag. Mit der Einschränkung, die in der Makrostrukturanalyse von Les armoires vides diskutiert wird: Die Personen existieren nur in der Erinnerungswelt der Erzählerin. Sie ist Einzelkind mit einer erstgeborenen, schon jung verstorbenen Schwester.

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einer Kleinstadt in der Nähe von Rouen und Le Havre wohnt und dort ein café-épicerie führt. 5 Ihr soziales Netz beschränkt sich auf die Kunden, da Bekannte oder Freunde der Familie unerwähnt bleiben und die väterliche und mütterliche Familie eine ausgesprochen untergeordnete Rolle spielen. Auch die Tochter hat keine «echten», sondern nur «funktionale» Freundinnen und Freunde, denn sie werden immer utilitaristisch geschildert: die Unterschichtsfreundinnen im Zusammenhang mit ersten sexuellen Entdeckungen, die Mittelschichtjungen im Zusammenhang mit ersten sexuellen Kontakten, als politische «Lehrer» und zusammen mit den bürgerlichen Schulkameradinnen als Quelle von Abwertung und Demütigung. Die Texte bauen überdies immer auf derselben gesellschaftlichen Grundkonstellation auf, nämlich einerseits auf dem Gegensatz von Unterschicht und Mittelschicht, von café-épicerie und Schule/Kirche, und andererseits auf die im Laufe des Erwachsenwerdens auftretende Ambivalenz von Elternhaus, Schule und Kirche, welche alle vom ehemaligen Zufluchtsort und Grundstein für Selbstbewußtsein zum Anstoß zur (SelbstAbwertung mutieren. Die sozialen Schichten Unterschicht und Bürgertum werden immer gegensätzlich, immer vermittels der gleichen Insignien und Personengruppen dargestellt. Das bürgerliche Milieu wird von Lehrerinnen, Schulkameradinnen, Ärzten und späteren Freunden der Erzählerin präsentiert, die Unterschicht wird neben den Eltern und der elterlichen Familie besonders anhand der Kundschaft illustriert. Während sich die einen durch distinguiertes Verhalten und Äußeres auszeichnen, fallen die anderen durch ihre Vulgarität und tendenzielle Alkoholabhängigkeit auf. Auch die Örtlichkeiten begrenzen sich in der Regel auf diese Bereiche und spiegeln damit auch materiell die Begrenztheit des erzählerischen Blicks und Bewußtseinsraums. Der Zeitbezug der Erzählungen erfolgt jeweils indirekt über Nennungen von historischen Ereignissen; die Schilderungen beziehen sich u.a. immer auf die Kindheits- und Jugendphase der Ich-Erzählerinnen, die in den Vierziger, Fünfziger und Sechziger Jahren spielt.

2 Formale Konstanten Alle Erzählungen, auch Passion simple und Journal du dehors, sind subjektive Realitätswahrnehmungen einer Ich-Erzählerin, die also zugleich erzählendes und handelndes Medium ist, dabei aber nicht ihren «figuren5

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Nur in Ce qu'ils disent ou rien gibt es dazu eine kleine Abwandlung: dort wird der Vater nur als Arbeiter dargestellt, und die Mutter arbeitet als Aushilfe in einem Café.

örtlichen» Standort aufgibt. Diese altert im Einklang mit der Autorin, so daß ihr Bezug zu den immer wieder geschilderten Kindheits- und Jugenderfahrungen zumindest zeitlich zunehmend distanzierter wird. Immer ist das Erzählgeschehen als Rückblick und Erinnerung konzipiert, haben die erzählten Personen und Orte in gewissem Sinne nur eine Statistenfunktion im Innenraum des Ichs inne. Auch die erzählerische Ausgangssituation ist im Prinzip immer dieselbe: leicht variiert erinnert sich die Ich-Erzählerin aus Anlaß eines ( u n mittelbaren (tragischen) Ereignisses (mit Ausnahme von La femme gelée) ihrer Vergangenheit (Kindheit, Jugendzeit), um ihre aktuelle, psychisch kritische Situation besser zu verstehen, weil sie ohne Hilfe von außen ist. Immer weisen die Texte im Sinne der Makrostruktur nach van Dijk die erzähltextlichen Elemente Exposition, Handlungskomplikation, (Auflösung), Evaluation und Moral auf, was in der Regel als eine Abfolge von Szenen und Ellipsen (nach Kloepfer 1977) und Reflexionen der Erzählerinnen oder abstrakten Autorinnen realisiert wird. Die Werke zeichnen sich darüber hinaus stets durch intertextuelle Bezüge aus, die sich einerseits auf die übrigen Ernauxschen Werke und andererseits auf eine Gruppe von immer wiedergenannten Schriftstellern beziehen. Diese werden jeweils der «guten» (Proust, Camus, Sartre, de Beauvoir ...) oder «schlechten» Literatur (Delly ...) zugeteilt, welches symbolisch der Loslösung des sich verbürgerlichenden Kindes vom proletarischen Elternhaus entspricht. Auf die Besonderheit dieser «ernauxfremden» intertextuellen Bezüge, die jeweils den Gefühls- und Geisteszustand des erlebenden Ichs reflektieren, 6 und die Annie Ernaux geradezu als praktische Umsetzung des Derridaschen Gedankens, daß Texte auf 6

Savéan (1994) erläutert einige der im Ernauxschen Werk erwähnten Autoren, welche der Kategorie «schlechte Literatur» zugehören. Hier sollen kurz einige Ernauxsche Nennungen aus Les armoires vides in Bezug auf das Erstlingswerk gedeutet werden: Sagans Bonjour tristesse stellt hierzu natürlich den absoluten Gegensatz dar; Gide hat wie Rousseau (Nouvelle Héloise) in seinem autobiographischen Roman Si le grain ne meurt einen fingierten Erzähler eingesetzt, der aus seiner Erzählgegenwart die Erfahrungen von gestern (Vergangenheit der Ich-Person) relativiert, wie dies auch in Les armoires vides der Fall ist. Ferner hat er ein Werk geschrieben (Palude), dessen Erzählvorgang durch einen Erzähler den Hauptgegenstand der Geschichte bildet. Charles Péguy könnte seinerseits die Verbindung von «Religion» und «Volk» darstellen, da alle Werke des ehemaligen Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei religiös inspiriert sind. Jeanne d'Arc, die französische Nationalheldin starb in Rouen am 30.5.1431 auf dem Scheiterhaufen und ist somit regional mit dem Romangeschehen von Les armoires vides verbunden. Die Existenzialisten schließlich werden für die innere Ablösung der Schülerin von ihrem elterlichen Milieu verantwortlich gemacht. Durchgängig wird von ihnen die Lektüre von Camus' L'Étranger erwähnt, dessen Inhalt ihre eigene Befindlichkeit spiegelt als «Zusammenbruch der bis dahin gültigen Ordnung (...) und das Vergebliche einer Auflehnung gegen den als maschinell und unbeeinflußbar empfundenen Lauf

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Texte Bezug nehmen, verwirklicht, wird in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen. Durch die Wiederkehr derselben Erzählelemente und ihre tendenzielle Übereinstimmung mit den biographischen Daten der Autorin spielen alle Erzählungen immer auch auf ein autobiographisch motiviertes Erzählen an, welches auf der Ebene des Erzählgeschehens durch die Tatsache, daß die Erzählerin ihren Erinnerungsvorgang immer kritisch auf die Möglichkeit einer wahrheitsgemäßen Abbildung von Wirklichkeit hinterfragt, aufgegriffen und verstärkt wird. Durchgängig durch alle Werke ist auch der «andere» Diskursstil der Erzählerinnen, der sich im Erstlingswerk durch einen aggressiven, dann aber zunehmend abgeklärten Duktus auszeichnet, immer aber durch eine indiskrete Blickweise eine aufrührerische Komponente beibehält. Darüber hinaus ist der Diskurs immer autoreflexiv (bezüglich der Erkenntnis, der Erinnerung und der Abbildung derselben), womit die Autorin einerseits der Textaussage mehr Wahrheit und Authentizität verleiht und andererseits dem Leser die Identifikation mit dem Werk erschwert, da hiermit der Eindruck eines runden Erzählgeschehens, einer fiktionalen Abgeschlossenheit aufgebrochen wird. Ein weiteres übergeordnetes Merkmal aller Erzählungen ist ihre Form-Inhalt-Spiegelung, denn die unterschiedliche thematische Bearbeitung des Themas wird in den einzelnen Werken jeweils entsprechend leitmotivisch, sprachlich und strukturell umgesetzt, wie bspw. durch die doppeldeutige Erzählweise in Les armoires vides, die Geheimnisstruktur in Ce qu'ils disent ou rien, das Prinzip der Widersprüche in Unefemme oder das der Schande in La honte. Ferner enthalten die Erzählungen in der Regel keine explizite Moral, sondern drücken ihre Gesellschaftskritik indirekt in Form der Evaluationen der Erzählerin (im Sinne von Labov und Kloepfer) und anhand der Erzähl- und Darstellungsweise aus, wenn bspw. das Problem der Scham auf eine den Leser beschämende Weise dargestellt wird. der Dinge» und «der daraus resultierende Verlust an Selbstvertrauen» (Hauptwerke der französischen Literatur, Edition Kindler, p. 408). Neben Albert Camus besteht zu Simone de Beauvoir eine besondere Verbindung. La place weist in erstaunlich vieler Hinsicht Parallelen zu Une mort très douce von S. de Beauvoir auf, so daß es quasi als «proletarisches» Gegenstück zur «bürgerlichen» Eltern-Kind-Darstellung gelten kann, zumal sich die Erzählerin in der dreizehnten Episode ausdrücklich auf Simone de Beauvoir bezieht: «Je le surveillais en essayant de lire Les Mandarins de Simone de Beauvoir.» (108), In Une femme stellt die abstrakte Autorin den Tod ihrer Mutter gar in eine direkte Beziehung zu Simone de Beauvoir, die acht Tage nach der Mutter verstarb. Ferner spielt das «feministische» Werk La femme gelée direkt auf Le deuxième sexe von de Beauvoir an, so daß naheliegt zu glauben, Annie Emaux intendiere tatsächlich ein «proletarisches Gegenstück» zur Geschichte einer bürgerlich weiblichen Genese.

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Alle Werke der Autorin stellen hohe Ansprüche an die Gutwilligkeit des Lesers, weil ihre Lektüre teils durch eine provokante Sprache und einen Textaufbau, dessen Vielschichtigkeit der Leser erst durch «Schürfarbeit» entdecken kann, teils durch die thematischen Wiederholungen der Werke oder die bis auf Passion simple durchgängig negative Sichtweise der Texte strapaziös sein kann.

3 Wiederkehrende Sinneinheiten und ihre Spiegelungen Die Themen «sozialer Aufstieg, schichtspezifisches Verhalten und Bewerten», «Sexualität» und «die soziale Funktion von Sprache und Literatur» bilden die semantischen Tiefenstrukturen der «Familienromane». Ihre jeweilige Gewichtung wird oftmals schon durch das Motto der Erzählungen angegeben. So stellt der Klassenwechsel der Ich-Erzählerin in Les armoires vides, Ce qu'ils disent ou rien und La place das zentrale Thema dar, während er in La femme gelée und Une femme nur eine, aber eine wichtige Grundkomponente der dort entwickelten Problematik ausmacht. Obwohl er dann in Passion simple völlig zur Nebensache gerät, ersteht er in Journal du dehors wieder als Hauptgegenstand auf, jedoch mit der Einschränkung, daß es sich nun nicht mehr um einen ichbezogenen Familienroman handelt, sondern der Gegenstand von einer äußeren Warte aus im Hinblick auf Randgruppen (clochards und Ausländer) betrachtet wird. Mit der Rückwendung zur Familienproblematik in «Je ne suis pas sortie de ma nuit» scheint der Klassenwechsel als Problem überwunden worden zu sein, da er textlich fast inexistent ist, um dann um so erstaunlicher in La honte als Motor allen Seins und Schreibens erneut zum zentralen Thema zu avancieren. Der soziale Aufstieg der Ich-Erzählerin wird durchgängig in seinem Zusammenhang mit dem weiblichen Erwachsenwerden speziell im Hinblick auf den Eltern-Kind-Konflikt und die Identitätsentwicklung der Aufsteigerin geschildert. Auch deshalb beziehen sich alle Familienromane mehr oder weniger ausführlich auf die Kindheit und Jugendzeit als die entwicklungspsychologisch weichenstellende Zeit. Es wird gezeigt, daß die gesellschaftlichen und familiären Bedingungen des Menschen unlösbar miteinander verknüpft sind. Ferner wird der soziale Aufstieg in La femme gelée durch die Thematik der Emanzipation, in La place durch die Thematik der Vatergeschichte und in Une femme durch die Geschichte der Mutter ergänzt. Die Auswirkungen für das Eltern-Kind-Verhältnis werden als Dekonstruktion des Mutter- und Vaterbilds geschildert. Das Idol Mutter wird gestürzt (früher resolut, mutig, arbeitsam, dann vulgär, unordentlich und dreckig), das Vaterbild verändert sich ebenso ins Negative (früher zärtlich und zurückhaltend, dann unerträglich schüchtern und 27

eigenbrötlerisch). Durch die schmerzliche Entdeckung der gesellschaftlichen Unterschiede und der Zugehörigkeit der Eltern zur verachteten Gruppe werden die kleinen, aber signifikanten Unterschiede der sozialkonnotierten Lebens-, Denk- und Sprechweisen für die Ich-Erzählerin zu einer unversiegbaren Quelle von Minderwertigkeitsgefühlen, Haß gegen die Eltern und Verkehrung dieses Hasses in Selbsthaß, da sie die gegen das elterliche Milieu vorgebrachten Abwertungen verinnerlicht. Damit geht die vollständige Abwesenheit rein positiver Schilderungen 7 und das durchgängig negative und determinierte Selbst-, Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbild einher, unabhängig davon, ob die Darstellungen in einer tendenziell soziologischen oder psychologischen Perspektive gehalten sind und unabhängig von den verschiedenen Standpunkten der Erzählerin: hassend (Les armoires vides), unsicher (Ce qu'ils disent ou rien), frustriert-abgeklärt und feministisch (La femme gelée), schuldbewußt und bußfertig (La place) oder abhängig (Une femme, «Je ne suis pas sortie de ma nuit», La honte). Die mehr oder minder, aber immer präsente Sexualität kann diesbezüglich als Symbolträger für die Selbsteinschätzung und Befindlichkeit der jeweiligen Erzählerin gedeutet werden. Sie wird bis auf Passion simple überwiegend befremdlich bis abstoßend geschildert und symbolisiert immer zuerst die «minderwertige Herkunft» und dann die von außen erfahrene Aggression. Die Abwertung dieser «Lebensquelle» durch die Verletzung der Integrität der Erzählerinnen führt jeweils zu deren Unfähigkeit, sich positiv wahrzunehmen, und spiegelt damit die Schattenseite des sozialen Aufstiegs. Diesbezüglich wiederkehrende Details sind Menstruation(sblut) als Sinnbild für Unberührbarkeit, Reinheit oder Initiation in die Welt der Erwachsenen; die negative Beeinflussung durch die vieux sadiques des cafés und die Skandalgeschichten der Frauen der épicerie, ebenso wie die Ansichten der Mutter, die Freundschaften zu den Unterschichtsmädchen und -jungen und die Bekanntschaft mit Mittelschichtsjungen. Sieht man die Darstellung der Klassendifferenzen und Sexualität im Zusammenhang, kreisen die Werke Annie Ernaux' immer um Erlebnisund Verarbeitungsweisen von Demütigungen, die als sexuelle Gewalt, göttliche/religiöse, geschlechtsspezifische oder klassenspezifische Verwerfung dargestellt werden. Ihre Zerstörungskraft ist umfassend, die jeweiligen Ich-Erzählerinnen fühlen sich integral, in Hinblick auf ihre geistige (überheblich), seelische (sale, impure) und äußerliche (häßlich, unbeholfen, vulgär) Seinsweise abgewertet. Ebenso durchgängig reflektieren die Werke indirekt (Frühwerke) oder direkt (Autorinnenreflexion der späteren Werke) die Bedeutung von Sprache und Literatur. Die Enttäuschung der Ich-Erzählerin, für die eige7

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Mit Ausnahme von

Passion

simple.

nen Probleme keine Lösung in der Literatur finden zu können (konkret angesprochen in Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien), liest sich wie eine Anleitung für das Werkverständnis. Immer wird in den Familienromanen Hilfe in der Literatur gesucht, selten wird sie gefunden. Im Laufe der Gesamtwerkentwicklung wird Literatur zunehmend zum Zeichen einer Überlieferung (= die Mentalitätsgeschichte einer Aufsteigerin) und des Wunsches, für die Eltern als Repräsentanten derjenigen, für die das literarische Universum bislang keinen würdigen Platz vorgesehen hat, ein Denkmal zu schaffen. Auf der Ebene der erzählenden Ichs bleibt die dadurch erhoffte Erlösung allerdings aus, weil sie zwischen Rache an der Mittelschicht und dem Versuch einer Wiedergutmachung an den Eltern hin und her lavieren. Die gegenseitige Spiegelung der genannten Grundkomponenten ist immer dieselbe: Stets wird die emotionale Befindlichkeit der Ich-Erzählerin auf der Ebene der Sexualitätsdarstellung reflektiert, deren Obszönität den Themenkreis «Sprache» als Autofiktion, Therapie, Flucht oder Selbstentwertung aufnimmt, welcher wiederum mit dem ersten Themenschwerpunkt verknüpft. In dieser Verbindung stellt sich die Geschichte der sozialen Aufsteigerinnen im übertragenen Sinne als «schamloses» Unterfangen dar, deren Offenlegung von den Ich-Erzählerinnen selbst als Übertretung eines Tabus erlebt wird. Dieser gegenseitige Verweis von Gesellschafts- und Selbstkritik gestaltet sich vor dem Hintergrund der tabuisierten Themenbereiche und der Frage nach der Autobiographizität der Texte dann als eine übergeordnete Erkundung, wie obszön Literatur sein darf. Aufgrund der Abfolge und Gewichtung der aufgeführten Erzählelemente habe ich das bisherige Werk von Annie Ernaux in drei Schaffensphasen zusammengefaßt, welche das Grundgerüst für die nachfolgende Einzelwerkanalyse bilden: Zur «ersten Schaffensperiode» werden die ersten fünf Erzählungen gezählt, die das Thema Klassenwechsel quasi als Abfolge von These, Antithese und Synthese behandeln. Die tendenziell psychologische Sichtweise der Werke Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien führen über eine soziologisch argumentierende Antithese des Romans La femme gelée und der Erzählung La place hin zu einer vorläufigen Synthese des récits Une femme. Die «zweite Schaffensperiode» wird in dieser Arbeit ausgeklammert. Sie zeigt eine Abwendung von der Familienproblematik und kann in zweierlei Hinsicht als eine Weiterentwicklung der «ersten Schaffensperiode» verstanden werden: Erstens, weil das Werk Passion simple zum ersten Mal Sexualität auch positiv beschreibt, und zweitens, weil Journal du dehors die Ichzentriertheit der Vorwerke durch eine Außenbeschreibung anderer ersetzt. Um so erstaunlicher ist es, daß die Autorin in ihrer «dritten Schaffensperiode» zu den Ursprüngen: dem Familienroman, der negativen Ich-zen29

triertheit und einer Verquickung von psychologischer und «ethnologischer» Sichtweise zurückfindet. Diese Phase wird deshalb als fatale Negierung der «ersten Schaffensperiode» und als Programm einer Selbstzerstörung gewertet, da «Je ne suis pas sortie de ma nuit» die Aussagen von Une femme lediglich wiederholt und der Text La honte, der sich auf alle Familienwerke bezieht, in seiner «Destruktivität» den vorläufigen Höhepunkt des Ernauxschen Schaffens darstellt. Daher werden diese Werke als «zerstörerische Wiederholung von These, Synthese und Antithese» bezeichnet. So erklären sich die Zwischentitel der Arbeit. Die Analysen münden in einer abschließenden Betrachtung der Werkentwicklung, die sogenannte Endsynopse.

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THESE:

Il y a d'abord les parents

Die tendenziell psychologische Präsentation des Klassenwechsels, der Identitätsentwicklung und des Eltern-Kind-Konflikts von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien als «Mémoires de jeunes filles dé-rangées»

Les armoires vides. Abtreibung eines Subjektwerdungsprozesses

1 Einleitung 1.1 Werküberblick Les armoires vieles (1974) ist die Geschichte der zwanzigjährigen Studentin Denise Lesur, die nach einem Abtreibungsversuch bei einer Engelmacherin unter Schmerzen und Todesangst, versteckt und alleingelassen, an einem Sonntag im Jahre 1961 in ihrem Wohnheimzimmer voller Haß gegen die Unterschichtseltern, die bürgerlichen Vorbilder und sich selbst ihr Leben Revue passieren läßt. In einer Art Innerem Monolog rollt die Ich-Erzählerin in Kontradiktion zum bürgerlichen Typus eines Bildungsromans ihren eigenen Werdegang als (Zer)-Störung einer Ich-Entwicklung, eines gesunden Selbstwertgefühls auf und erlaubt sich in ihrer Darstellung eine Subjektivität und Vulgarität, die sie als erlebendes Ich im Laufe ihrer Kinder- und Jugendzeit zugunsten einer vollkommenen Angleichung an die bürgerliche Lebensweise ablegen mußte. Die tragische Frage nach Schuld 1 und Verantwortung dieser nicht vorhandenen Selbstsicherheit stellt die Geschichte sowohl formal als auch inhaltlich auf äußerst destruktive und aggressive Weise dar. Als Annie Ernaux dieses Buch 1973 schrieb, war sie 34 Jahre alt. Es ist ihr erstes, 2 längstes und emotional heftigstes Werk, das am deutlichsten jene Verwicklungen und Mechanismen aufzeigt, die dazu führten, daß auch alle späteren Werke der Autorin in geradezu traum(a)wandlerischer Weise um die Problematik des Klassenwechsels und seine Auswirkungen auf das Selbstverständnis und das Eltern-Kind-Verhältnis der Aufsteigerin kreisen. Das Hauptgewicht von Les armoires vides liegt auf den Auswirkungen, die der Klassenwechsel auf die Ich-Bildung hat, deutet aber auch alle anderen Problemkomponenten an, die in den folgenden Werken jeweils in unterschiedlicher Gewichtung betrachtet werden. Als widerspenstigstem und grundlegendem Werk wird seiner Analyse in dieser Arbeit ein besonderer Platz eingeräumt. 1

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Cf. Stichwort Schuld in: Wolfgang Mertens: Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe, München, Quintessenz, 1992, p. 209-213. An dieser Stelle geht es um die Frage nach der Schuld (im realen und objektiven Sinne) im Gegensatz zu den ebenso durchgängigen Schuldgefühlen der Erzählerin. Laut Angaben der Autorin hat sie ihr erstes Werk mit 22 Jahren dem Gallimard Verlag geschickt, der dieses unter dem Einfluß des nouveau roman entstandene Manuskript ablehnte (cf. Interview mit Laacher und mir).

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1.2 Erster Eindruck: Verwirrend und abstoßend Nimmt ein Leser die Taschenbuchausgabe des Erstlingswerks aufgrund ihrer naiv-idyllischen Umschlagsgestaltung 3 zur Hand, werden ihn die ersten Zeilen des Werks um so unvorbereiteter treffen. Sollte er dennoch weiterlesen in der Hoffnung, die Schonungslosigkeit von Darstellungsweise und Darstellungsgegenstand würde auf den darauffolgenden 180 Seiten nachlassen, wird er sich enttäuscht durch einen Text «kämpfen», der ohne visuelle (er ist mit einer Ausnahme ohne eine Leerzeile gedruckt) und offensichtliche Gliederungselemente auskommt und sich als eine Aneinanderreihung von zum Teil unverbunden erscheinenden Detailinformationen präsentiert. Neben der populär-vulgären Wortwahl, die auf detailliert indiskrete Weise tabuisierte und abstoßende Wirklichkeitsausschnitte ausmalt, werden ihm auch der gesprochensprachliche Wegfall von Verbalphrasen, der fliegende Perspektivenwechsel zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die vielen Wiederholungen und Widersprüchlichkeiten und das Fehlen auflockernder Beschreibungsphasen den Lesevorgang stark erschweren und die Frage nach Schreibintention und Zielpublikum wecken, denn die Autorin scheint das alte Gespann von «Unterhalten und Belehren» durch «Belehren durch Schockieren» ersetzt zu haben. Jene Leser, die sich durch diesen ersten Eindruck nicht abschrecken lassen, werden eine höchst differenzierte Schilderung des Gefühlszustandes einer jungen Bildungsaufsteigerin finden, wie sie in der soziologischen und psychologischen Forschungsliteratur erst Jahre später erfolgt. Das Buch La distinction von Bourdieu bspw. erscheint erst 1982 und andere Arbeiten zu diesem Thema vor 1974 beschränken sich auf die Andeutung dieser Problematik, widmen ihr aber keine eigenständige Untersuchung. Somit markiert das Werk einen revolutionären Durchbruch, über den sich die Kritik allerdings ausschwieg, da der sozio-politische Geist der Siebziger kritische Betrachtungen zur Arbeiterlebens- und denkweise als reaktionär abtat. 4 Und dies, obwohl das Werk neben der nuancierten und feinfühligen Beschreibung schichtspezifischer Stigmatisierungserfahrung 5 sich gleichermaßen den Tabuthemen der Kinder- und 3

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Sie zeigt ein junges Mädchen mit einer Lesefibel auf dem Dach eines pittoresken Häuschens. Die Autorin bestätigte im Interview, damals aufs Heftigste angegriffen worden zu sein. Cf. Hermann Strasser: Prestige - Stigma. In: HSK. Bd. 3.1, p. 140-144. Ich stütze mich diesbezüglich vor allem auf die Werke von Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt, Suhrkamp, 1992 (1967), im folgenden: Goffman (1967), Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim, Christian-Verlag, 4. Aufl. 1975 (1948), p. 203-209, 258-277, im folgenden Lewin (1948) und Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduk-

Jugendsexualität widmet, ohne bei romantischen Herzklopfendarstellungen stehenzubleiben. Selbst die Problematik des familiären Kindesmißbrauch wird angesprochen, welcher erst heute, 20 Jahre nach der Erstausgabe, zu einem öffentlichen Thema geworden ist. Aber noch immer scheint die «schamlose» Findungsgabe des Werkes und seine durchgängige Negativität, welche beide dafür sorgen, daß Les armoires vides keine «Genußlektüre» darstellt, Leser und Kritiker gleichermaßen abzuschrekken.

2 Textlinguistische A n a l y s e Herbe écrasée du sentier, [...] mes doigts qui gardent des relents de glu, je pense toujours c'est rouge, les yeux fermés. On dirait l'odeur des poiriers en fleur ou du carrelage frotté à l'eau Javel. Et je me respire sur ses mains à lui, parfum gras et chaud, fourrure de chien mouillé. (142) 6

Dieses Zitat könnte man bei einem schnellen und somit zwangsläufig selektiven Lesevorgang vermittels der Wortkette «Herbe écrasée-sentierrelents-poiriers-chaud» als harmlose Naturschilderung abspeichern und würde erst bei einer intensiven Lektüre verwundert feststellen, daß es sich um eine ganz andere Naturbeschreibung handelt, als man zunächst angenommen hatte, ja daß der Roman insgesamt voller solcher Beschreibungen steckt. Und in der Tat eröffnet sich das Frühwerk von Annie Ernaux in vielerlei Hinsicht erst auf den zweiten Blick. Dann aber offenbart sich der schockierende und verwirrende Eindruck des Werks als beabsichtigt und sinntragend, zeigen sich die textlichen Ordnungs- und Darstellungsprinzipien als Spiegel der inhaltlichen Sinnstrukturen. Deshalb ist ihre detaillierte Freilegung und Deutung der Inhaltsanalyse vorangestellt. 2.1 Makrostruktur 7 2.1.1 Fließtext als subjektiver Bewußtseinsstrom Laut Lämmert 8 hat die erzählende Kunst ihre Quelle in den Begebenheiten, während die lyrische Kunst ihre Quelle in der Seele des Dichters hat, so wie es schon ihre jeweils typischen Einleitungssätze es ward versus ich singe darstellten. Annie Ernaux' Les armoires vides hingegen ist ein

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7 8

tion von sozialer Ungleichheit, Frankfurt, Campus, 1991, im folgenden: Neckel (1991). Alle Seitenangaben ohne Titelbezeichnung beziehen sich auf die in der Bibliographie angegebenen Originale des jeweiligen Untersuchungsabschnitts, hier also auf Les armoires vides. Zur Definition von Makroanalyse siehe Methodenkapitel. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart, Metzler, 1993 (1955).

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erzählerisches Werk, das einzig und allein vom Seelenzustand seiner IchErzählerin handelt und diesen auf eine ihr ganz eigene Weise darbringt: «Cracher, vomir pour oublier.» (49). Und wie es aus der Kategorisierung von Lämmert herausfällt, so läßt es sich auch schwerlich in andere Systematiken einreihen, denn es ist ein in extremem Maße ichbezogenes Werk, das sich bewußt gegen die herkömmlichen Kriterien sträubt und deshalb auch von dieser jugendlich-protestierenden Seite her betrachtet werden soll. Das einzige visuelle Kriterium, das die 182-seitige Erzählung neben der Absetzung von Titel, Motto und einer Zeitangabe am Ende des Textes untergliedert, ist der Beginn einer neuen Seite auf Seite 18 und ein kursivgedruckter Textabschnitt im Fließtext. 9 Diese beiden «Kapitel» unterscheiden sich entsprechend ihres unterschiedlichen Umfangs (das erste umfaßt sieben, das zweite die restlichen 164 Seiten) auch in ihrer Funktion, denn das erste bildet die Rahmenhandlung, aus der heraus das zweite Kapitel als Binnengeschichte entwickelt wird, das seinerseits nur noch durch übliche Absätze (= Beginn einer neuen, eingerückten Zeile) unterteilt ist. Auch inhaltlich scheint für den Binnentext, der auf den ersten Blick wie ein ununterteiltes Nacheinander von kleinen und kleinsten Episoden wirkt, kein höheres Ordnungsprinzip erkennbar als die Erinnerung einer Ich-Person in Form einer chronologischen Gedankenassoziation. Dies evoziert die Textsorte des Inneren Monologs, zumal auch die Ausgangsposition der Ich-Erzählerin diesem Schema entspricht, die in Todesangst (vor ihrem Ableben oder Scheitern des Abbruchversuches) ohne Hoffnung auf Hilfe von außen mit ihrem Schicksal hadert. 10 Das Verhältnis der beiden Kapitel als Rahmen -und Binnengeschichte hingegen erinnert an den klassischen Werkaufbau einer Novelle, bei dem ebenfalls über einen kritischen Moment hinweg erzählt wird. Doch werden auch die diesbezüglichen Gattungskriterien nur zum Teil erfüllt, da das Ende der Ringgeschichte nicht visuell existiert, die Binnengeschichte lediglich in Form von Spiegelungen auf der wörtlichen und emotionalen Ebene zur situativen Ausgangsposition zurückführt, indem bspw. das Adjektiv «vides» des Titels und Mottos durch das Bild der im Keller explodierenden Cidreflaschen am Ende der Erzählung wiederaufgenommen wird und im übertragenen Sinne (durch die Explosion der gärenden Wut) die Rückkehr in die Erzählzeit der Ich-Erzählerin anzeigt.

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Titel, Motto und Zeitangabe können im Sinne von Gülich/Raible als metanarrative Sätze bezeichnet und der Autorenebene zugeordnet werden. Cf. beispielsweise Leutnant Gustl von Arthur Schnitzler, der erste Innere Monolog der deutschsprachigen Literatur, dessen Protagonist in einer Nacht sein Leben Revue passieren läßt, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ehrenkodex) seinen Selbstmord fordern.

2.1.2 Die Tempus-Gliederung der drei Ich-Ebenen Zusätzlich zeichnet sich Les armoires vides durch drei Ich-Ebenen aus: die des erzählenden Ichs (= Erzählerin), die des erlebenden Ichs der Gegenwart und die des erlebenden Ichs der Vergangenheit. Die Binnengeschichte (= Erlebniswelt des erzählten Ich, Vergangenheit der Erzählerin) ist nämlich von einer Reihe von Bemerkungen der Erzählerin durchsetzt, die einerseits zurück in die Ringgeschichte verweisen (Gegenwart der Erzählerin) und u. a. das sich im Laufe des Erzählprozesses verändernde Erkenntnisinteresse der Erzählerin kundtun, 11 und andererseits Bewertungen der erzählten Vergangenheit darstellen. Die Ebenen, die sich inhaltlich nicht immer offensichtlich trennen lassen, unterscheiden sich auch formal nur subtil durch ihr Erzähltempus: die Erlebniswelt des Mädchens wird im Präsens geschildert, die Evaluationen der Erzählerin bezüglich dieser Erlebniswelt sind im Imparfait gehalten, während jene Gedanken, die sich auf die aktuelle Gegenwart der Erzählerin (= Ringgeschichtsebene) beziehen, wieder im Präsens stehen. Man kann ergo von einem Wechsel zwischen Handlungs- und Erzählebene, zwischen vergangener und gegenwärtiger Gegenwart und schließlich von einem Wechsel zwischen kindlichem und erwachsenem Standpunkt sprechen, der lediglich durch einen Tempuswechsel angezeigt wird, dessen Eruierbarkeit für den Leser durch den deduktiven Werkstil (cf. Diskursstruktur) zusätzlich erschwert wird. Einige Sequenzen 12 zeichnen sich durch einen besonders verwirrenden, weil stark wechselhaften Tempusgebrauch aus, da die Erzählerin quasi nach jedem zweiten Satz zwischen Passé composé, Imparfait und Präsens hin- und herspringt. Die Tatsache, daß es sich dabei um Sequenzen handelt, die eine besonders schmerzhafte Erinnerung darstellen, 13 legt die Vermutung nahe, daß die Erzählerin aufgrund ihrer emotionalen Betroffenheit nicht umhinkommt, sich in den Erzählvorgang einzuschalten und die vergangenen Erlebnisse sowohl im Hinblick auf die daraus resultierende weitere Entwicklung als auch im Hinblick auf das Resultat «Gegenwart» zu bewerten. 14 11

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Hiermit wird auch die Linearität des Erzählvorgangs und der Eindruck seines ad-hoc-Charakters unterstrichen. Eine Sequenz bezeichnet hier eine von der Autorin vorgenommene Unterteilung des Textes in Absätze, die außerdem durch das Erzähltextinstrumentarium von formalen und inhaltlichen Kriterien unterstützt werden. Es betrifft die ersten drei Sequenzen des Abschnitts über die Ecole libre, die ihre ersten Demütigungserfahrungen beschreiben, die darauffolgenden zwei Sequenzen über die Beichte und die damit verbundene Gesamtverurteilung ihrer Person, die Sequenzen, in denen ihr Elternhaß manifest wird, und ihr Alleingelassenwerden durch den bürgerlichen Freund. Die Tempusverteilung verhält sich dabei noch relativ regelmäßig: während szenische Beschreibungen mit direkter Rede der Vergangenheit und die Erzählerinnenkommentare in Hinblick auf ihre Gegenwart weiterhin im Präsens stehen und die Bewertungen der Vergangenheit ebenfalls ihr Tempus (Imparfait) bei-

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Beurteilt man den Tempusgebrauch von Les armoires vides nach den Kriterien von Weinrich,15 so benutzt die Autorin zur Markierung der Erzählerin-Kommentare ein «erzählendes» Tempus, welches fiktional und subjektbezogen ist und die Involviertheit seines Sprechers ausdrückt, während sie für die Darstellung der Vergangenheit, die im Präsens oder Passé Composé (= «berichtendes Tempus») gehalten ist, nach der Terminologie von Weinrich nicht-fiktionale, objektbezogene Tempora verwendet, zu denen der Sprecher in einem distanzierten Verhältnis steht. Genau diese Interpretation der Tempusverwendung scheint auch die Autorin zu intendieren. 2.2 Bauplan der Erzählung 2.2.1 Gliederungskriterien Eine makrostrukturelle Unterteilung des Werks auf der Grundlage des Tempuswechsels ist nicht sinnvoll, da die Sprünge zu häufig, sogar innerhalb eines einzigen Satzes erfolgen: «C'est comme ga, j'étais heureuse.» (45, 46) oder «eile donnait des conseils, on vient la chercher» (97). Da er jedoch konstitutiv für das Werk und seine Interpretation ist, (er stellt schließlich das einzig formale Kriterium dar, um den Perspektivenwechsel zwischen Erzählerin und erlebendem Ich der Vergangenheit zu erfassen), sind meine Bezeichnungen Erzählerin einerseits und Mädchen, erlebendes Ich der Vergangenheit, Heranwachsende etc. andererseits als Interpretation der ihnen zugrundeliegenden Tempusdistribution zu verstehen. Auch die übrigen Gliederungskriterien des Textes, wie sporadisch vorkommende Motti zu Beginn eines Absatzes oder zusammenfassende Bewertungen im letzten Satz eines Absatzes, manche Orts- oder Zeitangaben oder Veränderungen der Personenkonstellation sind für eine makrostrukturelle Untergliederung des Werks nicht tauglich, da sie eine zu mikroskopische Unterteilung liefern und sie zudem auf die Textstruktur des Bewußtseinsstroms abgestimmt sind, Personen also kein Eigenleben haben und wie alle Ereignisse lediglich im Bewußtsein der Ich-Erzählerin existieren (cf. Diskursstruktur). Dennoch läßt sich der verwirrende Eindruck von Les armoires vides entschärfen, wenn man die erzähltextgrammatische Detailanalyse der Abfolge aller einzelnen Absätze zu größeren inhaltlichen Einheiten zusammenfaßt. Dann erweist sich Les armoires vides plötzlich als ein chronologisches Abbild der psychosozialen Entwicklung des erzählenden Ichs, durchsetzt mit einigen paradigmatischen Blickwechseln, durch die das erzählende Ich eine Fragestellung oder Erkennt-

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behalten, werden lediglich die Situationsbeschreibungen, die «normalerweise» im Präsens beschrieben werden, nun im Passé Composé ausgedrückt. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart, Kohlhammer, 3 1977 (1964), im folgenden Weinrich (1964).

nis benennt bzw. eine neue Leserlenkung für den Erzählfortgang bewirkt. D i e thematische Progression der Absätze verläuft in der Regel entlang einer Assoziationskette, die sich jeweils aus der vorausgehenden ThemaRhema Einheit entwickelt. Die Inhaltsanalyse erfolgte anhand dieser eruierten Makrostruktur.

2.2.2 D e r Bauplan Titel, Motto:

Leere, Verlust, Täuschung

10

Ringgeschichte, vorderer Teil Son., Mai 1961 Jahre

20

Die Erzählerin stellt sich und ihr Problem vor wie kam es zu dieser Entwicklung, diesem Haß

ERSTE FRAGESTELLUNG:

11-17

B innengeschichte Teil 1: Die Ausgangsbasis 5 - 1 0 Jahre (1945 - 50)

1.) Glück durch Einheit und Gleichheit . . . . 2.) Die erste Sozialisation

18-27 28-50

BLICKWECHSEL: W i e k a m es zur familiären E n t -

fremdung16 Teil 2: Die Stigmatisierung 3.) Schule: klassenspezifische Verwerfung . . . 4.) Persönliche Verdammung durch die katholische Kirche BLICKWECHSEL: Erinnern als Rache am bon goût

50-63 63-68

Teil 3: Die Folgen der Stigmatisierung 8 - 1 2 Jahre (1948 -52) ab 10 Jahre (1950) ab 12 Jahre (1952) ab 15 Jahre (1956) 16 Jahre (1957) 17 Jahre (1958)

16

5.) Eingliederungsversuche 68-73 6.) Innere Verwandlung 73-82 7.) Stationen der innerfamiliären Entfernung 83-91 8.) Innere Emigration 91-95 9.) Verstoß gegen das 4. Gebot 95-119 10.) Ortlos, der Status Quo der Klassenwechslerin 119-127 11.) Kurze Phase des Glücks 127-144 12.) Zerstörung des neugewonnenen Selbstbewußtseins 144-149

Dieser Abschnitt enthält eine Reihe von Sätzen, in denen die Erzählerin versucht, wieder in die Vergangenheit einzutauchen, es ihr aber nicht recht gelingen will. Ich habe diese Untersequenzen an dieser Stelle der Erlebniswelt «Ringgeschichte» untergeordnet, erstens weil sie von Ringgeschichtssequenzen eingerahmt werden, und zweitens weil sie außerhalb der Chronologie der Binnengeschichte stehen und eine Art übergeordnetes Lebensbild ihrer glücklichen Kindheit liefern sollen. 39

Teil 4: Stationen auf des Lebens 1958 18 Jahre (1959) 20 Jahre (1961)

Weg

13.) Vorübergehende Befreiungsstationen . . . BLICKWECHSEL: Sozialer Aufstieg als Verlust 14.) La fête: Eintritt ins Bürgertum 15a) La dé-fête: Schwangerschaft und Abweisung

149-164 164-176 176-179

Ringgeschichte, hinterer Teil Son., Mai 61 30. Sept. 73

15b) Fazit und Aufbruch zu neuen Ufern . . . .

179-182

2.2.3 Zum Verhältnis von Rahmen- und Binnengeschichte: ein psychoanalytischer Selbstversuch Betrachtet man das Zusammenspiel der semantischen Tiefenstrukturen von Titel, Motto, Rahmen- und Binnengeschichte, so ergibt sich ein Bild, das in seiner Grundkonstellation einer psychoanalytischen Sitzung ähnelt. Denn das Frame «existenzielle Leere und Traurigkeit, weil von falschen Voraussetzungen ausgegangen», das Titel und Motto vorgeben 17 und das von der Rahmenerzählung weitergeführt wird (cf. Inhaltsanalyse, Punkt 4.118), bildet einen Zustand ab, dessen Zustandekommen durch die Binnenerzählung erklärbar und verstehbar gemacht werden soll. Zu diesem Zweck macht die Erzählerin sich selbst respektive den Leser zum Therapeuten und versucht liegend, monologisierend, ohne Eingreifen eines Zuhörers, sich über ihre mißliche Lage klar zu werden, indem sie die Geschichte ihrer Kindheit und Jugendzeit bis hin zur Gegenwart erzählend rekapituliert. Dabei kann der Leser erspüren, daß die Erzählerin von einem «Verdacht» geleitet ist, der sich in der Art der Darstellung und der Verknüpfung der einzelnen Szenen abzeichnet, aber ihr keine emotional nachvollziehbare Erklärung für ihr Schicksal zu bieten scheint. Der Charakter der Binnengeschichte als ein Fluß von Worten, Aneinanderreihungen von Erlebnissen und Szenen, Wiederholungen von schon verworfenen Ideen und Gedanken bildet den Erinnerungs- und Deutungsprozeß der Erzählerin realistisch ab, der nicht im eigentlichen Sinne als analytisch zu bezeichnen ist, so daß der Leser in die Rolle der Ich-Person bzw. des Analysanden schlüpfen und den Deutungs- und Verstehensprozeß zusammen mit der Ich-Erzählerin durchleben muß. Es wird Aufgabe der Inhaltsanalyse sein, den Verdacht der Erzählerin zu «entdecken». 17

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Hier gilt es zu bedenken, daß Titel und Motto der metanarrativen Erzählstufe zuzuordnen sind und nicht mit der nach Verstehen strebenden Person der Erzählung gleichzusetzen sind. Da jedoch die Lebensdaten von Ich-Person und Autorin eine Reihe von Übereinstimmungen aufweisen, kann eventuell schon hierin ein versteckter pacte autobiographique (Lejeune) gesehen werden. Sofern keine anderslautenden Angaben gemacht werden, wird immer innerhalb einer Einzelwerkanalyse verwiesen.

Aufgrund der teleologischen Vorgabe der Ringgeschichte und der Tatsache, daß das «Ende der Geschichte» schon feststeht, liegt die Spannung nicht ergebnisorientiert auf der Entfaltung überraschender Entwicklungen, sondern in der Konfrontation der Erzählerin mit sich selbst und in ihrem Erkenntnisprozeß.

2.2.4 Zur Binnengeschichte: negierte Entwicklung Der Erinnerungsprozeß präsentiert sich als schwierige Rekonstruktion (cf. Diskursanalyse) der gesellschaftlichen Etablierung und Identitätsbildung des erlebenden Ichs, gesteuert durch die sich während des Erinnerns verändernde Sichtweise des erzählenden Ichs. Nachdem die Ich-Erzählerin sich und ihr Problem im vorderen Teil der Ringgeschichte vorgestellt (Orientierung19), ihr Grundverständnis der Lage angedeutet und mit einer konkreten Leserlenkung in die Binnengeschichte als Suche nach den Ursachen ihrer mißlichen Situation übergeleitet hat (Abstract), erinnert sie sich zunächst ihrer frühen Kindheit (Teil 1 des Bauplans, 4.2.1 der Untersuchung, Handlungskomplikation inklusive Evaluationen). Ihre Schilderungen veranlassen die Erzählerin dann dazu, ihre Eingangsfrage umzuwandeln in die Frage, wie es zur innerfamiliären Entfernung kam (4.2.2). Daraufhin stellt sie ihre Aufnahme in die konfessionelle Schule und die Konfrontation mit der Lehre der katholischen Kirche als stigmatisierenden Eintritt in die Welt des Bürgertums dar (Teil 2 des Bauplans, Punkt 4.2.3 bis 4.2.5). Diese Erinnerungsstationen bringen das erzählende Ich zu einem erneuten Positionswechsel: Erinnerung als Rache am Bürgertum (4.2.4, explizite Evaluation). Die weiteren Lebensstationen werden als Versuche des erlebenden Ichs beschrieben, die erfahrene Abwertung rückgängig zu machen: Assimilationsversuche, Separation der beiden Welten, Entscheidung für das Bürgertum (Teil 3 des Bauplans, Punkt 4.2.6). Sie münden in die Beschreibung des Status Quo der Klassenwechslerin (4.2.7) als einem selbstzerfleischenden Wechsel von Hoffnung auf Akzeptanz und Enttäuschung dieser Hoffnung (4.2.8). Obwohl alle weiteren Lebensentscheidungen des Ichs Stationen auf dem Weg in das bürgerliche Lager sind (Teil 4 des Bauplans), ist die Bilanz, die das erlebende Ich vor dem Eintritt in die Universität zieht (4.2.9), negativ. Sie wird durch die Erfahrungen an der Universität (4.2.10) weiter untermauert. Das Gesamtfazit (Resultat und Koda), das die Erzählerin als Zusammenführung aller Hauptthemenstränge zum Ende ihres Erinnerungsprozesses präsentiert, führt zur Ausgangssituation der Ringgeschichte zurück (hinterer

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Alle in diesem Unterkapitel stehenden Klammerausdrücke beziehen sich auf Labov (cf. Methodenkapitel).

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Teil der Ringgeschichte im Bauplan, Punkt 4.4 der Untersuchung) und schließt den Roman ab. 2.3 Diskursanalyse: 20 Die erzähltechnische Konstruktion des subjektiven Erinnerungsvorgangs Im Einklang mit der Makrostruktur unterstreichen auch die erzähltechnischen Stilmittel des Romans seinen Charakter als subjektiven Bewußtseinsstrom. Sie konkretisieren ihn als höchst einseitigen «Erkenntnisfindungsprozeß», der stark durch die negative Selbsteinschätzung der Erzählerin geprägt ist. 2.3.1 Die verschiedenen Ich-Ebenen Die Tatsache, daß der Erzähler das Erzählte als Erzähltes ausgibt, er eine «Mittlerrolle» zwischen Erzähltem und Leser einnimmt, schafft entgegen anders lautenden Behauptungen keine größere Distanz zwischen Leser und Text, wie Lämmert richtig bemerkt, sondern ganz im Gegenteil den Eindruck einer tatsächlichen Identität zwischen Ich-Person und Erzähler, einer «Illusion seiner persönlichen Wirklichkeit und Nähe» (Lämmert 1993, p. 69). Diese Illusion entsteht in Les armoires vides um so mehr, als die Erzählerin der Ringgeschichte quasi hinter die Erzählerin der Binnengeschichte zurücktritt, indem sie ihre eigene Vergangenheit nicht erzählend, sondern «erlebend» zu erinnern versucht und dazu ihre wissensund gefühlsmäßige Entwicklung chronologisch genau aus der jeweils gegenwärtigen Perspektive des erlebenden Ichs abbildet. Das Ich des Romans spaltet sich somit nicht lediglich in ein erzählendes und ein erlebendes Ich auf, sondern in eine Vielzahl von erlebenden Ichs, ohne daß deren Facetten zu einem Alterungs- und Reifeprozeß zusammengefügt und harmonisiert werden; das Heranwachsen des Ichs wird vielmehr mit all seinen Widersprüchlichkeiten abgebildet. So lassen sich auch die vielen inhaltlichen Wiederholungen, Zweifel und Rückschritte erklären. Ich spreche aber der Einfachheit halber auch weiterhin vom erlebenden Ich in der Einzahl.

2.3.2 Negative Wirklichkeitsdarstellung Diese erzählerische Genauigkeit verdeckt die tatsächliche emotionale und kognitive Situation der Ich-Erzählerin. Denn die Zwanzigjährige verfügt weder über eine gefühlsmäßige noch über eine zeitliche Distanz zu 20

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Zur Definition des Begriffs «Diskursstruktur» siehe Methodenkapitel, Punkt 3.2.

den Ereignissen, die sie bislang lieber verdrängte. 21 Zudem ist Erinnerung nicht nur immer schon sinnstiftend, filternd und modifizierend, sondern wird im vorliegenden Falle zusätzlich durch ein krisenhaftes Erlebnis (Todesangst) ausgelöst, welches eine besonders starke «Reorganisation der Vergangenheit» verursacht (cf. 4.2.1). So zeichnet sich das erzählende und erlebende Ich durch eine sehr begrenzte Sichtweise aus, da beide die Welt einzig als Spiegel ihrer negativen Selbsteinschätzung sehen und alle Personen und Ereignisse ausschließlich auf ihre Klassenzugehörigkeit hin untersuchen: «Celui-là, il travaille au chantier de construction et c'est comme s'il n'existait déjà plus.» (131). Obwohl dieses Vorgehen sehr programmatisch erscheint, spiegelt es auf kongeniale Weise den Selbstzerfleischungsprozeß der Erzählerin wider. Hat man zu Beginn des Romans noch den Eindruck, das Ich beschreibe tabuisierte Lebensbereiche, um ein ehrliches und vollständiges Bild seiner Vergangenheit zu schaffen, «elle nous a fait sentir ses culottes, à mon père, à moi, en riant» (173), zumal das Ziel des Erzählvorgangs ja in einem Erkenntnisgewinn liegen soll, so muß der Leser im Verlauf der Geschichte erkennen, daß die Welt des Ichs offenbar nur aus abstoßenden Erfahrungen besteht bzw. das Ich nur die widerlichen Aspekte einer jeglichen Angelegenheit erinnert. Die indiskreten Wirklichkeitsausschnitte werden aufs genaueste gezeichnet: ekelerregende, vom Alkohol gezeichnete, alte Männer beim Urinieren, eine bei lebendigem Leib verfaulende Alte, das männliche Geschlechtsteil und seine Metamorphosen, Menstruationsblut, Sperma, der mechanische und körperliche Abtreibungsvorgang, Selbstbefriedigung, Petting, der Zustand unsauberer Toiletten etc.. Lediglich die Fälle von Kindesmißbrauch durch alkoholabhängige Väter werden nur benannt, nicht beschrieben. 22 2.3.3 Negative Selbstbeschreibung, selektive Personenbeschreibung Daß Vergangenheit und Gegenwart sich wechselseitig beeinflussen, zeigt deutlich die Selbsteinschätzung der Erzählerin, die den Hauptgegenstand der Inhaltsanalyse/des Romans darstellt, aber auch an dieser Stelle erwähnt werden muß, da sie sich direkt in ihrer Erzählweise niederschlägt (Vokabular und Wirklichkeitsausschnitt). Ohne der Inhaltsanalyse vorgreifen zu wollen (cf. 4.1), muß festgestellt werden, daß die Protagonistin 21 22

Offensichtlich hatte Denise niemals eine Vertrauensperson. Sehr blaue Augen von Toni Morrison hat eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit Les armoires vides: In beiden Werken werden die Folgen einer internalisierten Abwertung geschildert, beide weisen diesbezüglich auf die Rolle der Schule und ihr bürgerliches Referenzmodell hin, beide sprechen von Kindesmißbrauch, beide wurden 1974 veröffentlicht. Ihre literarische Umsetzung hingegen ist völlig unterschiedlich. Toni Morrison: Sehr blaue Augen, Reinbek, Rowohlt, 1994.

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von Les armoires vides durch ihr durchgängig negatives Selbstbild die Sympathien des Lesers bewußt abzuwehren scheint, ihre «Liederlichkeit und Vulgarität» konstitutiver Teil des inhaltlichen Programms von Les armoires vides ist, um die verheerenden Folgen einer verinnerlichten Stigmatisierung offenzulegen. Dies illustriert beispielhaft die erste geschlechtliche Festlegung des Ichs (8), die mittels der Benennung seiner Genitalien vorgenommen wird und durch eine Reihe von negativen Charakterisierungen fortgesetzt wird: Die Erzählerin beschreibt sich als ein Mädchen, das früh sexuelle Erfahrungen macht, das abtreibt (12/13), seine Eltern zutiefst verachtet (15) und arrogant ist: «la première de la classe, l'étudiante boursière» (15). Die physische Konstitution der Erzählerin hingegen bleibt im dunkeln, was spätestens auf Seite 171 auffällt, wenn sie die Farbe ihrer Schamhaare benennt und dadurch klar wird, daß ihre Haarfarbe bislang ungenannt blieb. 23 Es scheint, als schwebe ihr Nachname Lesur, nomen est omen, schicksalshaft über ihrem Leben, wenn er als Ableitung des lateinischen Wortes laesurus (Partizip Futur: verletzt werdend) von ladere, laedo, laesi, laesus interpretiert wird, das sich im Französischen noch in den Wörtern «lésion»: «Verletzung» und «léser»: «verletzen, verstoßen, schädigen, Unrecht tun» wiederfindet. 24 Das Selbstverständnis des Ichs ist ferner zutiefst «relational», denn es schildert und bewertet sich ausschließlich im Vergleich zu anderen. Dabei ist seine Sichtweise stark selektiv, da es nicht in die anderen Figuren eindringt. Eine psychologische Innensicht der Personen fehlt ebenso wie eine Außensicht, da Denk- oder Handlungsweisen der anderen, die sich unabhängig von der Protagonistin ereignen, nicht vorkommen 2 5 Alle Personen werden nur in Beziehung zum Ich und aus der Sicht des Ichs geschildert; sie sind keine eigenständig handelnden Größen, sondern existieren lediglich im Kopf der Erzählerin, wodurch der innere Monolog zur logischen Perfektion getrieben wird. So erklärt sich auch, warum die übrigen Personen des Textes nur selten Namen tragen. Die Eltern werden ausschließlich als Mutter und Vater bezeichnet, die Jungen als flirts. Namentlich genannt werden vor allem unbedeutende Personen (Prof. Bonin), also genau umgekehrt zum üblichen Verfahren (Ausnahme Seite 130, die Freundin Monette). Ihre späteren Freunde erhalten beschrei23

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Ansonsten weiß der Leser nur, daß sie als Mädchen zeitweise Zöpfe oder einen Pferdeschwanz trug, sich im Sommer gerne bräunte und sich im Zuge der Pubertät schwankend häßlich oder attraktiv, aber im Vergleich mit ihren bürgerlichen Schulkameradinnen immer plump und vulgär fand (billige Dauerwelle, billige Brille) und Gegenstand von Belustigung war. Im Interview mit mir erläutert die Autorin, daß Lesur ein in der Normandie häufig vorkommender Name ist und Denise sowohl der Name jener Kusine ist, von der die Mutter immer in den besten Tönen sprach (cf. «Je ne suis pas sortie de ma nuit») und somit ihre Eifersucht erzeugte, als auch der Name jener fingierten Brieffreundin, an die sich die Autorin als Kind wandte (cf. La honte). Nach Petersen 1977

bende Namen (le rouquin oder beaux-arts), die ihre funktionale Bedeutung für das Ich ausdrücken. Sie werden entsprechend der einzigen Denkkategorie der Erzählerin, hinsichtlich ihrer klassenspezifischen Insignien, charakterisiert. Das fehlende Eigenleben läßt die Personen ferner nur so würdig erscheinen, wie es die Erzählerin zuläßt, weshalb der Leser vermutlich auch teilweise versucht ist, sie gegen die einseitige Sichtweise des Ich zu verteidigen. In dieser Hinsicht stellt der Roman das Wohlwollen des Lesers hart auf die Probe, da man spätestens nach dem ersten Drittel versucht ist, die Erzählerin zu bewegen, die Dinge vielfältiger zu betrachten, um einen komfortableren Seelenzustand zu gewinnen. Tatsächlich fehlen dem Roman neben Beschreibungen, die dem Leser ein differenziertes Bild der Welt von Denise geben könnten, auch jede Art von Verschnaufpausen (wie bspw. Beschreibungen von Natur, Wetter, Jahreszeiten, Zeitgeschehen etc.). 2.3.4 Proletarische Lebenszusammenhänge statt bürgerlicher Analyse Vite, elle relève sa chemise, un trou énorme, tout noir, la viande a été aspirée à l'intérieur. Ma mère se penche, le vieux aussi, il va sortir quelque chose d'effrayant, un crabe logé sous des replis, des fourmis comme on en trouve au fond des sacs de sucre. Et c'est tout à coup une odeur de pet, de chou en train de cuire. Sa jambe. La vieille frétille, en remontant encore sa chemise. Entre ses cuisses s'étend une grande mare de pisse séchée, avec des dessins plus roses au bord, des broderies passées. (41)

Auch die Sprache der Erzählerin spiegelt die inhaltliche Aussage und demonstriert dem Leser aus bürgerlicher Sicht die Schlechtigkeit der Erzählerin und ihrer Lebenswelt. Das Vokabular ist familiär, durchsetzt mit vulgären Ausdrucksweisen, lediglich das Geschlechtsteil und der Vorgang des Urinierens werden in der durch die Mutter geprägten Kindersprache wiedergegeben «faire pipi» und «le quat'sous». Es ist eine bildhafte, aber keine selbstgefällige Sprache, die den jeweiligen Beschreibungsgegenstand nicht nur sehr gut beschreibt, sondern geradezu im Leser evoziert, als solle er selbst in die Rolle des empfindenden Ichs schlüpfen. Getreu der Theorie der sprachlichen Realitäten ist die Erzählerin stets bemüht, jene Worte zu finden, die die Realität erzeugen, mit der sie in ihrem Kopfe verbunden sind {Les armoires vides p. 78 und cf. 4.2.1). Da es sich in der Regel um sie ekelnde Erinnerungen handelt, ist ihre Sprache vornehmlich vulgär, gibt es wohl kaum eine Romanseite, auf der nicht sexuelle oder Ausscheidungsvorgänge referiert werden. Da die Wechselwirkung zwischen Sprache und Denken auch Gegenstand der Romanaussage ist, ist diese Sprachverwendung um so bedeutsamer. Den (vermeintlichen) Sprachduktus der Unterschicht abbildend folgt der Satzbau von Les armoires vides dem einfachen Muster «Subjekt-Prädikat-Objekt», wenn er sich nicht in Anlehnung an die gesprochene Spra45

che durch den Wegfall von Nominal- oder Verbalphrasen auszeichnet. Oftmals bestehen die Sätze nur aus substantivischen Ausdrücken: «Des journées heureuses.» (34), gelegentlich aus Einwortsätzen: «Atroce» (11). Die Erzählerin bevorzugt Thema-Rhema-Konstruktionen. Die Nominalphrasen zeichnen sich teilweise durch eine Anhäufung von Adjektiven aus, die aus den bereits genannten Gründen dennoch nicht den Eindruck eines romanesken Sprachstils vermitteln. Die Sprache spiegelt vielmehr die Schnelligkeit der Gedankenassoziationen wider, die sich auf das Wichtigste beschränken. In diesem Sinne finden sich auch kaum unterordnende Satzgefüge und nur wenige Konjunktionen. So spiegelt die Syntax sowohl die unterschichtsspezifische Mündlichkeit des erlebenden Ichs als auch die Gedankenassoziation des erzählenden Ichs. Die überwiegend szenischen Beschreibungen von Les armoires vides, die auch zur Charakterisierung der Romanfiguren dienen, drängen die ohnehin kurzen reflektierenden Beiträge, die oft in Form eines sequenzbeginnenden «Mottosatzes» oder eines sequenzabschließenden Evaluationssatzes auftreten, in den Hintergrund, wodurch der unanalytische Eindruck von Les armoires vides entsteht. Unterstützt wird dieser Charakter durch die häufig unverbundene Abfolge der Szenen, 26 die den Bewußtseinstrom der Erzählerin als «assoziative Gedankenkette» 27 repräsentiert, ebenso wie durch die Verwendung von direkter Rede und einem überwiegend präsentischen Tempusgebrauch, was die «Erzählung» insgesamt in Richtung auf ein dramatisches Genre unterläuft. Doch handelt es sich nicht tatsächlich um Redebeiträge eines Dialogs (cf. Punkt 2.3.3), sondern um stilisierte Redebeiträge, die der Erzählerin dazu dienen, ihre Aussage «in der Wirklichkeit» abzusichern und den Eindruck von Wahrheit zu erzeugen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Hannelore Bublitz im ersten und letzten Teil ihrer Dissertation Irgendwie gehör ich nirgendwo hin. Arbeitertöchter an der Universität (1980) einen ähnlich «mündlichen Stil» für ihre wissenschaftliche Abhandlung gewählt hat, weil ihrer Meinung nach die gesprochene Sprache dem Stil der ArbeiterTöchter) eher entspreche als der «bürgerliche» Stil der wissenschaftlichen Abhandlung, da «proletarische Erkenntnis» im Lebenszusammenhang gewonnen würde! 28 Ganz im Einklang damit sind raffende Be26

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Dadurch kann entgegen Lämmerts Überlegung (1955) selbst ein sehr langer Zeitraum von mehreren Jahren szenisch abgebildet werden. Dazu ein Beispiel, das am Ende des zweiten Teils der Binnengeschichte angesiedelt ist: Geborgenheit im elterlichen Haus - verloren - sie ist eine Vicieuse - Mutter mag Geschichten von gefallenen Mädchen - szenische Darstellung: Mutter und Klientin erzählen sich Geschichten von gefallenen Mädchen, sie hört mit und ißt Süßigkeiten - nicht viele Verbote - Spiele - ... Neben dieser auffälligen formalen Parallelität weisen beide Autorinnen auch viele inhaltliche Übereinstimmungen auf wie bspw. das Gefühl der Ortlosigkeit und die «frühe, freizügige» Einstellung zum anderen Geschlecht. Beides wird

Schreibungen in Les armoires vides quasi inexistent, da die Erzählerin die emotionale und psychische Unsicherheit des erlebenden Ichs nicht zusammenfassend beschreibt, sondern chronologisch genau wiedergibt, (zum Beispiel indem das erlebende Ich auf der einen Seite behauptet, seinen H a ß abgelegt zu haben, um auf der nächsten Seite zur entgegengesetzten Ansicht zu gelangen und auf der übernächsten Seite wieder zur ersten Überzeugung zurückzukehren). Die damit einhergehenden, zahlreichen Wiederholungen und Widersprüchlichkeiten lassen den Leser die Unsicherheit der Protagonistin auf unangenehme Weise nachfühlen, da er gezwungen ist, dem Erkenntnisweg des Ichs Stück für Stück zu folgen 2 9 und ihm immer wieder Glauben zu schenken, was seine innere Abwehr bezüglich des Ichs mobilisiert.

2.3.5 Zeit im Dienste des Bewußtseinsstroms Im Sinne eines Inneren Monologs weist Les armoires vides keinerlei Parallelhandlungen und somit auch keine Gleichzeitigkeiten auf, außer den in die Gegenwart der Erzählerin verweisenden Kommentaren. Ebenso gibt es innerhalb der Binnengeschichte auch nur sehr wenige Vorverweise. Interessanterweise werden diese im Futur und vom erlebenden Ich ausgedrückt und zeigen somit neben der eher inhaltlich ausgerichteten «Reorganisation der Vergangenheit» (cf. 4.2.1) auch formaliter die transparente Grenze zwischen erlebendem und erzählendem Ich an. Der Text enthält nur wenige, unbestimmte (wie «cet été») oder relationale (wie «puis, quand», etc.) Zeitangaben, weshalb das zeitliche Verhältnis der einzelnen Sequenzen zueinander und die zeitliche Ausdehnung der geschilderten Ereignisse nicht immer leicht festzustellen sind. Dies behindert den Verstehensprozeß des Lesers aber nicht, weil ihre Funktion weniger in der zeitlichen Situierung der Ereignisse liegt als in der Spiegelung der Erinnerungsstärke der Erzählerin, wenn sie z.B. weit zurückliegende Erlebnisse und selbst manche einschneidenden Erlebnisse (wie das der ersten Beichte) mit Überblicksangaben wie «Comme ça je les voyais à cinq ans, à dix ans encore» (20) oder ungewissen Zeitangaben belegt: «Un jour d'hiver ou de printemps.» (63). Strukturierender sind die Altersangaben zur Ich-Person, die signalisieren, daß der Schwerpunkt des Romans auf dem entwicklungspsychologischen Aspekt der Handlung liegt, wie auch die Binnengeschichte (mit Ausnahme der Rückverweise in die Erzählzeit) als chronologisch geordnete Entwicklungsgeschichte

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von Bublitz (1980) als kennzeichnend für die Situation der gebildeten Arbeitertöchter gehalten. Die Erzählerin ist nicht allwissend, sie nimmt keinen olympischen Standpunkt ein.

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angelegt ist, 30 die an einem Sonntag erinnert wird. In dieser Hinsicht stellt das fiktive Verhältnis der Erzählzeit zur erzählten Zeit eine Raffung dar; das reale Verhältnis der Lesezeit zur Erzählzeit der Erzählerin (der Ringgeschichte) dürfte etwa 1:1 sein.

2.3.6 Orts- und Zeitangaben als versteckter pacte autobiographique 31 Will der Leser die konkrete Zeit, auf die der Roman Bezug nimmt, eruieren, was aufgrund der Problematik des sozialen Aufstiegs nicht ohne Belang ist, kann er dies nur durch eine zeitliche Umrechnung der allgemeinen lebensumständlichen Indizien tun. 32 Erst auf Seite 150, also im letzten Sechstel des Romans, wird ein geschichtliches Ereignis 33 erwähnt, mittels dessen Historizität es möglich ist, alle anderen relationalen Zeitangaben auf der Zeitachse einzuordnen, da die Angaben miteinander übereinstimmen. Danach erinnert sich die zwanzigjährige Erzählerin an einem Sonntag im Mai 1961 an ihre Kindheit und Jugendzeit in der Nachkriegszeit, weshalb sie also in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 geboren

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Lediglich der erste Teil der rückblickenden Binnengeschichte gibt eine übergreifende Einführung in ihre kindlichen Lebensverhältnisse und ist deshalb außerhalb der Chronologie der Entwicklungsgeschichte anzusiedeln, was Angaben wie: «tous les soirs, les dimanches» oder «Comme ça je le voyais à cinq ans, à dix ans encore.» (20) belegen. Unterstützt wird diese Vermutung erstens durch die Äußerung eines Stammkunden des Bistros, Alexandre, die sich auf ihre schulischen Leistungen bezieht, obwohl die Einschulung erst an späterer Stelle beschrieben wird, und zweitens dadurch, daß eine erste Charakterisierung der frühen Bezugspersonen recht kunstvoll in der Reihenfolge ihres täglichen Erscheinens erfolgt und somit ein «künstlicher Tagesablauf» erschaffen wird, obwohl sich die Beschreibung auf einen Zeitraum von mehreren Jahren bezieht: die Kunden werden an erster und letzter Stelle genannt, die erste Muttercharakterisierung erfolgt erst nach Geschäftsschluß, und das familiäre Zusammenleben wird im Zusammenhang mit dem Abendessen und der Zeit bis zum Zubettgehen geschildert. Nach Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique, Paris, Seuil, 1975. Angaben wie weibliche Studentin, die in einem Studentenwohnheim wohnt und staatliche Studienunterstützung erhält, aber ihre Abtreibung bei einer Engelmacherin vornehmen lassen muß, erlauben eine gewisse zeitliche Eingrenzung. Bei der Anspielung: «Si c'est vrai, ce qu'ils racontent, [...], les généraux ont pris le pouvoir là-bas, en Algérie. [...] ils vont aller le rechercher à Colombey, [...]» (150) und «Il vient! Il va sauver l'Algérie, [...],» (151) - handelt es sich vermutlich um den Militäraufstand in Algier am 13.5.58 unter General Massu, der eine Staatskrise in Frankreich auslöste und Général de Gaulle zur Macht verhalf. Er wurde im Mai gerufen und erhielt am 3.6. zur Lösung des Konflikts Sondervollmachten für 6 Monate. Die diese Sequenz umrahmenden Zeitangaben: «Même pas trois mois que ça a duré» (149) und «le bac l'année prochaine» (152) sowie «Elle a eu chaud, il y a trois ans, [...].» (149) erlauben dann eine genaue zeitliche Errechnung der Abtreibung für Frühling (Mai, nach Muttertag) kurz vor den Prüfungen im Juni 1961.

sein muß. 34 Ihre Freundschaft mit le rouquin dauerte fünf Monate (139) von Oktober 1957, als sie in die Seconde ging (130), bis Februar 1958 (144), Beaux-arts lernte sie folglich im Sommer 1958 kennen. Ihr bac muß die Erzählerin demnach im Jahre 1959 und ihr Propädeutikum im Juni 1960 abgelegt haben. Mit den Ortsangaben verhält es sich ähnlich, es werden keine absoluten Werte genannt. Ihre Verwendung erfolgt als Unterteilungsmerkmal des Textes oder im Hinblick auf inhaltliche Besonderheiten. 35 Dennoch lassen sich auch hier Hinweise, die den Lebensraum der Ich-Erzählerin sukzessiv einkreisen, zu einer konkreten Aussage zusammenfügen: hiernach befindet sich die kleinstädtische Welt des Mädchens in der Nähe von Rouen und Le Havre (76), rund 40 Kilometer vom Ärmelkanal entfernt (100), trägt ihre Privatschule den Namen St. Michel (135 und 141) und beginnt der Ortsname schließlich mit Y (161), so daß im Grunde nur Yvetot, der Geburtsort der Autorin, in Frage kommt. 36 Eine konkrete Situierung der Geschichte in Raum und Zeit scheint nicht gewollt, aber möglich, da die Angaben nicht willkürlich sind und jeweils ein fester Wert genannt wird, anhand dessen alle übrigen, relativen Angaben festgemacht werden können. Diese Kombination läßt auf eine besondere Absicht der Autorin schließen; sie unterstützt den Eindruck eines ad hoc entstandenen Erinnerungsstroms und der «Allgemeingültigkeit» der Romanaussage und legt dem Leser ferner eine Anonymitätswahrung und folglich eine autobiographische Motivation nahe, zumal es tatsächlich frappierende Übereinstimmungen mit den Lebensdaten der Autorin gibt (cf. 3). 37

3 Diktion - Fiktion: R e a l e Fiktion Die Gattungszugehörigkeit des Werks läßt sich aufgrund der Tatsache, daß die Ich-Erzählerin einen anderen Namen trägt als die Autorin, zunächst einfach mit «Fiktion» bezeichnen. 38 Aber schon das Faktum, daß 34

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Dies läßt sich aufgrund der relativen Zeitangaben, die sich im Zusammenhang mit der Erwähnung des Jahres 1958 ergeben, eruieren: «Un bel été.» (154), «J'ai dix-sept ans» (155) und etwas später «De belles années tout de même jusqu'au bac» (161) und «dix-huit ans» (163). Sie stellen vielmehr die Wechselbeziehung von Umwelt und Psyche dar: keine Privatsphäre, Vermischung von Familie und Erwerbsraum, eingeschränkte Rückzugsmöglichkeiten auf Bett, Keller, Hof und die daraus resultierenden Phantasiespiele des Mädchens. Alle übrigen Ortschaften der Normandie, die mit dem Semikonsonanten Y beginnen, sind entweder zu klein oder weisen nicht die angegebene Distanz zu Le Havre und Rouen auf. Die Autorin sprach im Interview gar von einem offensichtlichen pacte autobiographique, was sich auf der Textebene jedoch nicht so offensichtlich gestaltet. Cf. Philippe Lejeune: Moi Aussi. Paris, Seuil, 1986.

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sich rechnerisch die Zeit- und Ortsangaben des Werks mit den biographischen Daten der Autorin decken, 39 weist auf eine reale Fiktion hin. Die Übereinstimmung der geschilderten Gefühle der Aufsteigerin mit diesbezüglichen wissenschaftlichen Abhandlungen, die erst ab Mitte der Siebziger erscheinen, unterstützt diese Annahme. Ferner läßt sich die Frage nach dem Grad der Diktionalität des Werkes auch textintern beantworten, da die Erzählerin auf verschiedene Weise immer wieder die Frage nach ihrer Identität stellt. 3.1 Identität und Name Die Auslassungspunkte nach der vollständigen Namensnennung «moi Denise Lesur, moi...» (47) des erlebenden Ichs legen den Eindruck nahe, daß der Name fingiert ist, zumal er in einem kursiv gedruckten Textstück 40 (Fibel) wiederaufgenommen wird, das ohne formalen und inhaltlichen Bezug zum übrigen Erzähltext steht und das der Erzählerin als Kontrastfolie für ihre Schilderung gedient haben könnte, da die FibelDenise die Erzähltext-Denise in allen Punkten konterkariert: letztere wohnt weder in einem schönen Viertel noch ist sie heiratsfähig (weil schwanger und offensichtlich ohne Partner). Wie zwiespältig jedoch die Gefühle der Erzählerin bezüglich der identitätsstiftenden Kraft des Namens sind, zeigt sich in ihren widersprüchlichen Bewertungen. Mißt sie dem Namen zunächst keine Bedeutung bei: Denise Lesur, c'était comme si ça se décollait de moi, j'aurais pu dire Monette Martin, Nicole Darbois, c'était pareil. (51),

betrauert sie schon bald darauf den Verlust seiner ehemals positiven Besetzung und seine Umwandlung in ein Stigma, das ihr vergällt, sie selbst sein zu wollen: «[...] Denise Lesur, toute barbouillée déjà de mon nom par la maîtresse, par les élèves.» (62). Auch die bewußte Wahrung ihrer Anonymität bei der Engelmacherin: «L'avorteuse n'a pas demandé mon nom. J'étais prête à en inventer un.» (52) und das Doppelgängerinnenmotiv (cf. 4.2.8.5, wenn sie aufgrund einer Namensgleichheit auch eine Schicksalsgleichheit befürchtet), unterstreichen die Vermutung, daß sie dem Namen eine bedeutende Rolle zugesteht.

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Die Gegenwart der Ringgeschichte liegt ungefähr 13 Jahre vor dem Erstellungs- und Veröffentlichungsdatum des Romans, so daß Ich-Person und Autorin dasselbe Alter haben, ferner wuchs die Autorin in der Kleinstadt Yvetot auf u.v.m., cf. einleitende und ausleitende Gesamtsynopsis. Der Text stammt aufgrund seines kindlichen Stils mit unkindlichem Inhalt vermutlich aus einer Lesefibel bzw. soll solches evozieren.

3.2 Literatur als abschreckende Realität Darüber hinaus fordern die ausführlichen und mehrfach erwähnten Literaturauffassungen des erlebenden Ichs den Leser zum Vergleich sowohl mit der eigenen Rezeption als auch mit der Konzeption des vorliegenden Werks auf. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang vor allem die Aussage: «Pour moi, l'auteur n'existait pas, il ne faisait que transcrire la vie de personnages réels.» (80), da sie das authentische Element von Les armoires vides unterstreicht. Die Angaben, unglückliche Heldinnen zu bevorzugen, deren Schicksale noch lange nach Abschluß der Lektüre beschäftigen, hauptsächlich Feuilletons und Schicksalsromane zu lesen, in denen selbst die Armut faszinierend beschrieben wird, 41 weil der konkrete Milieubezug fehlt, können hingegen als programmatischer Gegensatz zur Darstellungswelt von Les armoires vides aufgefaßt werden. Denn Les armoires vides kritisiert explizit die Tatsache, daß sich die LiteraturDenise von ihrem Herkunftsmilieu entfremdete, was zuerst aufgrund der Märchenhaftigkeit der schlechten Literatur, welche die Romanwelt lebenswerter als die Realität zeichnet (= Flucht aus der Realität): «Mais elles ne sont pas vicieuses, jamais moi seule ... Fuir dans ces belles histoires ...» (80), und dann durch die Seelenverwandtschaft mit der wahren Literatur (= Flucht aus dem Milieu) geschieht. Außerdem sind die Unglücksbeschreibungen von Les armoires vides keineswegs beschönigend, laden die Darstellungen nicht zur Nachahmung oder Schwärmerei ein und verhindern die zahlreichen Irritationsmomente ferner eine ungebrochene Identifikation mit der Protagonistin. Gemeinsam ist der textinternen und textexternen Kommunikationsabsicht jedoch erstens die Rache am Bürgertum, wenn die Protagonistin ihre Klassenkameradinnen in ihrer Phantasie abstrus verändert und die Erzählerin sich bewußt gegen den bon goût des Bürgertums erinnert (cf. Inhaltsanalyse, Punkt 4.2.4) und zweitens das Dilemma, die Welt der Unterschicht nicht unterschichtsgemäß abbilden zu können, was sich für die Erzählerin als Reorganisation der Vergangenheit ausnimmt und sich dem erlebenden Ich als «Übersetzungs»problem darstellt: Je ne pouvais pas écrire: (..) mon père, un homme simple, [...] parler de ma famille comme parlent les romanciers des pauvres et des inférieurs. (100/101).

Während das erlebende Ich sich für die Verleugnung seiner wahren Lebensumstände entscheidet, setzt sich das erzählende Ich deutlich gegen die bürgerlichen Anforderungen des bon goût ab, indem es seine Sicht vorzugsweise auf Abstoßendes lenkt und sich damit sowohl von einer unbeteiligten wie auch romantisierenden Darstellungsweise distanziert. 41

Genannt werden Feuilletons wie Lisette, Confidences, Les veillées des chaumières, La semaine de Suzette; Autoren wie Delly und Werke wie Jane Eyre oder Oliver Twist, wobei gerade diese beiden Romane der angegebenen Beschreibung nicht entsprechen.

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D a ß die Erzählweise trotz der starken Ich-Bezogenheit auch leserorientiert gedacht ist, offenbaren nicht zuletzt die beiden direkten Leseranreden des Textes: Qu'est-ce que ça fait quand ce ne sont pas vos parents ... rien, de la pure curiosité, du mépris. (114) und: Et tout le reste, ce qu'on peut pas comprendre si on n'est pas dedans, [...]. (117) und: [...] ça vous ne connaîtrez jamais. (163). Sie deuten zudem eine Personalunion von Erzählerin und Autorin an, da die Binnengeschichte als Selbstgespräch konzipiert ist und unterstreichen ihrerseits die Partizipation von Les armoires vides am diktionalen und fiktionalen Genre.

4 Inhaltsanalyse: negative Entwicklungsgeschichte einer Tochter aus einfachem Hause J'en ai plein le ventre. A vomir sur eux, sur tout le monde, la culture, tout ce que j'ai appris. Baisée de tous les côtés ... (17) 4.1 Ausgangspunkt der Erzählung 42 4.1.1 Verlust und Leere Symbolhaft nehmen Titel und Motto 4 3 des Werks die Verneinung als konstitutives Element der Erzählung vorweg, denn fast alle Substantive werden entweder durch ihre Beiwörter negiert: «faux trésors, armoires vides, navire inutile» oder beinhalten an sich schon eine Negation: «ennui, fatigue». Etwas fehlt, die Erinnerung an den Schatz, der keiner ist, belastet die Gegenwart und Lebensfähigkeit des Ichs, das Ich hat auf eine Illusion, eine Täuschung gebaut, es ist müde und traurig. 44 Die Tatsache, daß die42

Titel, Motto und vorderer Teil der Ringschichte Interessanterweise steht Paul Eluards (1895-1952) lebensfrohe und wortvertrauende Überzeugung dem Lebensausdruck von Les Armoires vides diametral entgegen. «Die Erde ist blau wie eine Orange/ Niemals ein Irrtum die Worte lügen nicht. Hat je ein Dichter größeres Vertrauen, größere Hoffnung in die Worte [...] gesetzt als Éluard [...]? [...] Fast alle Gedichte Éluards sind Liebeslyrik; als solche sind sie zugleich, vom Ansatz her und in ihrer Entfaltung, Gesellschaftskritik, politische Dichtung. [...] die dichterisch Liebenden verwandeln einander in menschlichere Menschen; sie liefern sich bessere Gründe, das Leben lebenswert zu finden, sie stiften eine neue, hellere, reinere Welt. Voraussetzung ist für Eluard, daß die Liebe alles sei: nicht die transzendierende der Sehnsucht, nicht die «galante» der Eroberung, sondern die der schrankenlosen Gewährung und Gabe; [...].» (aus: Irene Schwendemann (ed.): Hauptwerke der französischen Literatur. Edition Kindlers Literaturlexikon, p. 430/431). 44 «Ennui» enthält laut Petit Robert u.a. die Bedeutungsnuancen: 1.) Tristesse profonde, grand chagrin 2.) Mélancolie vague, lassitude morale qui fait qu'on ne prend d'intérêt, de plaisir à rien. v. idées noires.

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ses Gefühl den Verlust der eigenen Kindheit darstellt, die aus einer neuen Perspektive heraus ihren Wert verloren hat, wird als nutzlose Erkenntnis erachtet, 45 da sie den Zustand des Unglücks nicht aufheben kann. 46 Dies ist das Frame 47 des Textes, in das hinein der Leser alle kommenden Informationen einfügen wird. Und tatsächlich handelt die Erzählung von einer Kindheit, deren Wert im Laufe der Entwicklung von der Gesellschaft und dann auch von der Heranwachsenden selbst in Frage gestellt wird, bezeichnen «les armoires vides» jenes fehlende Rüstzeug für den Lebenskampf (= das fehlende Selbstbewußtein, Selbstvertrauen), ohne das die Erzählerin statt einer (bürgerlichen) Entwicklung eine (proletarische) «Abtreibung» ihres Subjektwerdungsprozesses erfährt. Ob diese Kindheit tatsächlich ein falscher Schatz ist, die Suche nach der Ursache der Traurigkeit nutzlos und die Trauer unabänderbar ist, wird die folgende Analyse zeigen. Die Leere des Frames wird auf den ersten Seiten der Erzählung, der Ringgeschichte, im tatsächlichen (= ausgeschabter Uterus) wie im übertragenen Sinne (= Trauer) fortgeführt und als ein aktives Einwirken von außen erklärt. Es zeigt sich, daß die Lebensvergangenheit nicht per se wertlos war, sondern entwertet wurde. Da die Ringgeschichte alle konstitutiven Elemente der Binnenerzählung auf eine metaphorisch verdichtete Weise enthält, kommen ihnen im folgenden eine detaillierte Analyse zu. 4.1.2 Die Erzählerin - das malträtierte Ich Schon das erste Bild, das das erzählende Ich zeichnet (11), spiegelt bildlich die höchst selektive Wirklichkeitsdarstellung von Les armoires vides, denn es ist die Beschreibung eines Unterleibs, der Gegenstand gymnastischer Übungen ist, die Gefühle zwischen Schmerz und Lust (juste avant la douleur, presque du plaisir) hervorrufen. Die Körperregion wird auf geradezu naturhafte Weise (qui s'étale comme une fleur, un déferlement) mit Wörtern tendenziell defätistischen Charakters (ciseaux, douloureuse, douleur, violacée, cogner, pourrie, mourir) verbunden, so daß der Ein45

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Unverbunden folgt das zweite Syntagma, so daß die Art der Verknüpfung zur ersten Gedichtzeile nicht eindeutig festzumachen ist, eine kausale Verbindung, eine Begründung der vorherigen Zeile aber aufgrund der logischen Sachverhaltsdarstellung naheliegt, zumal das Tempus passé composé des Verbs «conserver» eine Verbindung zur Vergangenheit anzeigt, die das Substantiv «enfance» aufgreift. Der ennui kann seinerseits begriffen werden als eine Wiederaufnahme der «faux trésors» und «armoires vides». Aufgrund der kausalen Verbindung des zweiten Syntagmas mit dem ersten (faux trésors) und weil die leeren Schränke das Symbol einer trügerischen Erinnerung sind. Nach der scenes and frame Theorie von Fillmore, cf. Charles J. Fillmore: «Scenes and Frames Semantics». In: Zampolli, Antonio (ed.): Linguistic Structures processing. Amsterdam, North-Holland, 1977, p. 55-81.

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druck entsteht, als sei die Gewalt etwas Natürliches, geradezu Positives: «Elle va se prêter, vous verrez.» (11), als wäre die Abtreibungsübung, um die es sich hierbei handelt, ein natürlicher Lebensbestandteil des Ichs: «douleur et plaisir, toujours» (36). Daß dieser selbstzerstörerischen Aktion jedoch eine von außen vorgenommene Gewalthandlung (die illegale Abtreibung) vorausging, zeigt erst die nächste Sequenz, die erzähltechnisch die Beschreibung des LustSchmerzes in einer Apotheose der Gewalt enden läßt, indem nun auch die den Schmerz bislang ausgleichende Wärme zum Instrument der Gewalt wird (chauffer une minute, sonde rouge, sortie de l'eau bouillante, le serpent rouge brandi au bout d'une pince). Der Körperbereich, der Ziel dieser Gewaltanwendung ist und zunächst nur durch seine Grenzen beschrieben wurde (le bas du ventre, les hanches, le haut des cuisses), wird dabei ebenso sukzessiv mit deutlicheren Ausdrücken belegt (ton quat'sous, les petits bonbons, là, entre les lèvres). Bedeutsamerweise ist die erste Nennung, die das Geschlecht des erzählenden Ichs festlegt, die Nennung seines primären Geschlechtsmerkmals; das Ich stellt sich also dem Leser vermittels der Malträtierung seines Geschlechtsteils vor, das die Grenze der Unschuld überschritten hat.

4.1.3 Die Abtreibung - Sinnbild der Erzählung In der Tat wird auch der Grund, der zur Abtreibung führte, als Grenzüberschreitung angedeutet, die aus dem Antagonismus zwischen Elternhaus: «Il ne faut pas toucher ton quat'sous, tu l'abîmerais» (11) und Freund: «laisse-moi embrasser les petits bonbons, là, entres les lèvres» (11) resultiert. Dieser zerreißt das Ich sinnbildlich (= Abtreibung), zerstört jenen Teil, der beides verbindet (= Fötus), isoliert die junge Frau und vernichtet ihre Lebensfreude. Wie schon zuvor die sprachliche und konkrete Ebene der gymnastischen Übung andeutet, «faire des ciseaux», die auf die Bewegung eines zum Zerteilen bestimmten Werkzeugs rekurriert und damit die schmerzhafte und lebensbedrohliche Zerrissenheit der Ich-Erzählerin symbolisiert, ist auch die Beschreibung der Abtreibung gleichermaßen konkret wie metaphorisch gemeint, denn es handelt sich bei dem ihr zugrundeliegenden Eltern-Freund-Konflikt um einen Klassenkonflikt: J'en ai plein le ventre. A vomir sur eux, sur tout le monde, la culture, tout ce que j'ai appris. Baisée de tous les côtés ... (17).

Die Abtreibung steht im übertragenen Sinne für die Verhinderung eines Subjektwerdungsprozesses, sowohl in Hinblick darauf, daß die Verbindung von «Unterschichtserbmaterial» und erworbenen «Mittelschichtsfähigkeiten» nicht überlebensfähig scheint, als auch im Hinblick auf den nicht auszusöhnenden Zwiespalt zwischen Unterschicht und Mittelschicht 54

(= die Abtreibung einer von einer Mittelschichtssamenzelle befruchteten Unterschichtseizelle). Die Abtreibung versinnbildlicht ferner die Stigmatisierung, die die Aufsteigerin im Laufe ihres Lebens durch die bürgerliche Gesellschaft erfahren hat (die Engelmacherin) und die daraus resultierende Verinnerlichung der Stigmatisierung (die gymnastischen Übungen). Auf diese Weise wird Sexualität und Körperlichkeit als konkrete und sinnbildliche Ebene des Romans eingeführt, auf die die Erzählerin immer wieder rekurrieren wird, um ihre vermeintliche Schlechtigkeit zu illustrieren. Sie tut dies auch an dieser Stelle, indem sie sich auf die körperliche Komponente der Abtreibung beschränkt und eine moralische Überlegung ausspart: «Et que ça part. C'est tout.» (12), was zwar durch den Hinweis auf die Doppelmoral der phallozentristischen Medizin relativiert wird, sie aber dennoch in ein suspektes Licht rückt: 48 Je ne sentais rien [...]. Le soleil traverserait la peau, décomposerait les chairs et les cartilages, la bouillie filerait en douceur à travers le tuyau. (12).

Die Übelkeitswellen, die die Erzählerin unmittelbar vor ihrer Abtreibung überkommen, lesen sich ebenfalls im übertragenen Sinne als existentielles Gefühl ihrer Seinserfahrung in Bezug auf Jean-Paul Sartres Nausée, zumal strukturell die beiden Literatur-Sequenzen von den beiden Übelkeitssequenzen abgelöst werden. So wie die Übelkeit der Mutter in den ersten Schwangerschaftswochen eine besondere Schutzfunktion für den Fötus darstellt, entwickelte die Klassenwechslerin eine besondere Sensibilität für die gesellschaftlichen Be- und Abwertungsmechanismen. Im Gegensatz zum Held des gleichnamigen Werks aber kann die Erzählerin nicht ihre «ekelhafte Existenz» durch die Kunst reinigen, 49 da ihre Realität nicht in der Literatur existiert: Travailler un auteur [...]. Quel écoeurement. Il n'y a rien pour moi là dedans sur ma situation, pas un passage pour décrire ce que je sens maintenant, m'aider à passer mes sales moments. (12), 48

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Man bedenke, daß 1945 in Frankreich die letzte «Engelmacherin» hingerichtet wurde, die Geschichte 1961 spielt und die Erzählung 1974 veröffentlicht wurde. Bemerkenswerterweise äußerte die Autorin im Interview, nicht durch ihre Literatur verändert zu werden, wovon die gesamtwerkliche Entwicklung zeugt, die keine inhaltliche und emotionale Veränderung anzeigt, wie im folgenden zu sehen sein wird. Vielmehr wird auch in den späteren Werken die Situation einer hilflosen, einsamen Ich-Erzählerin aufgegriffen, die in der Literatur Hilfe sucht (cf. Les armoires vides p. 155-158) und die sich jeweils vermittels ihrer Erinnerung diese Literatur selbst erschafft: «11 n'y a que maintenant, pas de modèle, rien, c'est ça le truc horrible.» (Les armoires vides: 55). Bezogen auf Denise entspricht diese Vorgehensweise nach Olbricht/ Todt (1984) besonders belasteten Jugendlichen, die vorrangig Lösungsstrategien suchen, die sie von äußerer Hilfe unabhängig sein läßt. Cf. Erhard Olbrich, E. Todt (ed.): Probleme des Jugendalters. Neuere Sichtweisen, Berlin, Heidelberg, Springer, 1984, im folgenden: Olbrich/ Todt 1984.

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so daß ihr nur das Rollenspiel der Literaturstudentin bleibt, um ihre Zukunft nicht zu gefährden, da sie den Klassenwechsel noch nicht vollständig vollzogen hat: «je suis en transit» (13). Daß auch die Erzählerin die Abtreibung in einem direkten UrsacheWirkungsgeflecht zu ihrem sozialen Aufstieg sieht, zeigt ihr Glaube, für ihre Aufstiegsambition bestraft worden zu sein (= Klassenverrat): Le châtiment. S'ils me voyaient ... . Quant l'ont-ils prononcée pour la première fois, les vieux, leur vieille prédiction. (14)

Dieser Gedanke löst eine Kette von widersprüchlichen Empfindungen in der Ich-Erzählerin aus, die symptomatisch für ihren durch den sozialen Aufstieg ausgelösten Zwiespalt sind und die die gesamte Binnengeschichte durchziehen. Nachdem die Abtreibung den Gedanken an eine Bestrafung und dieser wiederum den Haß gegenüber den Eltern in der Erzählerin entfacht haben, kehren sich die aggressiven Gefühle gegen sie selbst, empfindet sie sich schandhaft undankbar. Doch schon die Vorstellung der unterschichtsspezifischen Lebensweise der Eltern läßt ihr Schuldgefühl abermals in Abscheu umschlagen, um schließlich im Wunsch zu münden, die Zerrissenheit ignorieren zu können. Erst jetzt wendet die Erzählerin ihren Blick kurz und ohne Folgen auf den bürgerlichen Mitverursacher ihrer Schwangerschaft, aber nur um an seinen Hohn zu denken: «Il rirait bien, le petit salaud, la lavette bourgeoise» (15) und sogleich wieder in den Strudel von Elternhaß und Selbsthaß zurückzufallen. Die dabei immer wieder gestellte Frage nach der Ursache ihrer mißlichen Lage in Begriffen von Schuld und Strafe führt die Erzählerin am Ende jeder Gedankenkette zu dem gleichen Resultat, der Selbstverschuldung: La faute de personne. Moi toute seule, moi d'un bout à l'autre. Qui. D'abord la fille de l'épicier Lesur, puis la première de la classe, tout le temps. Et [...] l'étudiante boursière. (15).

Schuldig fühlt sie sich sowohl wegen ihrer sozialen Arroganz: «Ils ont toujours su que je les méprisais, la fille à Lesur elle pourrait servir des patates. Ils la tiennent leur vengeance.» (16), als auch aufgrund ihrer sexuellen Neugierde: «l'herbe écrasée de la kermesse en juillet, la main douce, il ne faut pas» (16). Immer führt sie zuallererst die anderen als Instanzen ein, die sich ihr gegenüber äußern, sie relativieren, ihre Schlechtigkeit verdeutlichen. Dabei scheint die Erzählerin entsprechend dem vierten Gebot der Bibel zu glauben, daß jeder Wille des Kindes, der von dem der Eltern abweicht, eine Revolution gegen die elterliche Autorität darstellt, 50 und versteht ihre Kritik und Eigenständigkeit als Antagonismus zur Elternliebe. Die Erzählerin kann ihre proletarische 50

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Laut Ortmann (1971) ist in Arbeiterfamilien die einzig wichtige Eigenschaft des Kindes tatsächlich das sogenannte «Bravsein».

Vergangenheit und studentische Gegenwart nicht unabhängig voneinander denken, da das eine sogleich das andere als sein Gegenteil evoziert und beide Lebensabschnitte in rivalisierenden Gesellschaftsschichten stattfinden, deren gleichwertiges Nebeneinander aufgrund der gesellschaftlichen Machtstrukturen nicht möglich ist. So erlebt sie ihre Zukunftspläne als schuldhaft, weil sie dem herkömmlichen Lebensweg des Herkunftsmilieus konträr entgegenstehen und sie immer weiter von diesem entfernen. Sie kann ihre Selbstverwirklichung nicht wertneutral als ein übliches Sich-Wegbewegen von den Eltern verstehen, weil diese Entwicklung gleichzeitig ein Klassenwechsel in eine Zielgruppe ist, die ihre Herkunft entwertet.

4.1.4 Wende: dezidierte Ursachenforschung Ihre Einsamkeit 51 und das nunmehr lebensbedrohlich gewordene Ausmaß dieses Zwiespalts (= Gefahr des Mißlingens des Abtreibungsversuchs) und die körperlichen Schmerzen lassen die alten Verdrängungsmechanismen der Erzählerin wirkungslos werden, und zwingen sie, einen neuen Lösungsweg zu suchen: das Erforschen ihrer Lage. Die Tatsache, daß die Erzählerin sich offensichtlich auch an einen fiktiven Zuhörer wendet (cf. 3.2) - das Verb «expliquer» wird transitivisch benutzt, das transitive Verb «raconter» wird eingesetzt - macht aus ihrer Suche nach einer Erklärung gleichzeitig auch den Versuch einer Selbstrechtfertigung. Expliquer pourquoi je me cloître dans une piaule de la Cité avec la peur de crever, de ce qui va arriver. Voir clair, raconter tout entre deux contractions. Voir où commence le cafouillage. Ce n'est pas vrai, je ne suis pas née avec la haine, je ne les ai pas toujours détestés, mes parents, les clients, la boutique ... Les autres, les cultivés, les profs, les convenables, je les déteste aussi maintenant. (17)

Die Aufgabe, die die Erzählerin unbewußt zu vollbringen sucht, ist die Überwindung ihres Eindrucks, lediglich eine zerstückelte bzw. gar keine Identität zu besitzen, entsprechend der Vorstellung, daß nur eine ganze, einheitliche Identität eine vollwertige Identität sei, was ihrer Lebenssituation jedoch diametral entgegensteht. Dies leistet ihr Erzählen nun in der Tat, wenn die verschiedenen «Personen» und Sichtweisen zwar nicht zu

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Ihre Einsamkeit wird vor allem indirekt ausgedrückt, aber im Laufe der Erzählung an drei Schlüsselstellen eindeutig als Grundproblem und zentrale Seinskategorie der Erzählerin angedeutet, die für ihre negative Beurteilung des sozialen Aufstiegs mitverantwortlich ist: «L'admiration des beaux parleurs, je l'ai toujours, ça ne peut pas foutre le camp, sauf maintenant, là, puisque je n'ai personne à qui parler.» (133).

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einem homogenen Ganzen, aber doch im erzählenden Ich zusammenlaufen und eine Identität der Negativität stiften. 52 4.2 Suche nach den Ursachen des lebensvernichtenden Hasses 53 So dezidiert die Erzählerin in der Rahmengeschichte ihr Erkenntnisinteresse an der Binnengeschichte formuliert, so kompliziert gestaltet sich dann ihr Erklärungsversuch (cf. Diskursanalyse), da sie ihre Vergangenheit höchst detailliert als Aneinanderreihung sehr kleinteiliger Szenen mit den ihnen inhärenten Widersprüchen und Wiederholungen - Revue passieren läßt, als ängstigte sie sich, auch nur den Anschein einer möglichen Ursache übersehen zu können. Die vorliegende Deutung arbeitet nun aus dieser Darstellung sowohl die dahinterstehende jugendpsychologische und «aufstiegstypische» Entwicklungsgeschichte (cf. Bauplan) als auch die sich im Laufe des Erinnerungsprozesses verändernden Fragestellungen und Erkenntnisse des erzählenden Ichs heraus (welche im Prinzip immer wieder auf die Ebene der Ringgeschichte zurückführen), da beide Entwicklungen in ihrem Zusammenspiel den Bewußtseinszustand der Klassenwechslerin Denise Lesur ausdrücken. 4.2.1 Glückliche versus reorganisierte Kindheit Obwohl die Erzählerin ihre positive kindliche Sicht- und Empfindungsweise wahrheitsgemäß abbilden will, gelingt ihr dies nicht, da sie die Vergangenheit im Licht der erlittenen Entwertungserfahrungen sieht und deshalb selbst die ehemals positiven Elemente ihres Lebens abwertet. Schon der streng dichotome, durch die Lebensgeschichte geprägte Wertekontext der Erzählerin, aus dem heraus die Frage nach Beginn und Ursache ihres Hasses formuliert wurde (Ringgeschichte), deutete daraufhin: «[...] je ne les ai pas toujours détestés, mes parents, [...] Les autres, [...] les convenables, je les déteste aussi maintenant.» (17). Die Genauigkeit der Darstellung wird somit durch die zwangsläufig evaluative Präsentation konterkariert. Immer wieder tritt die bürgerlich geprägte (= angewiderte) Sichtweise der Erzählerin hervor, so daß die von Brüchen durchzogene Vergangenheitsbeschreibung auf kongeniale Weise die zwiespältigen Wahrnehmungs- und Gefühlssituationen der Aufsteigerin widerspiegelt. 52

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Aus heutiger Sicht ist diese Auffassung von Identität umstritten, da man in der Zwischenzeit auch die gegenteilige Meinung vertritt: Identität als ein Sammelsurium von verschiedenen Rollen. Diese Definition scheint mir allerdings für Menschen in Grenzsituationen weniger gut zuzutreffen (cf. Lothar Baier: «Unlust an der Identität». In: Idem, Gleichheitszeichen. Streitschriften über Abweichung und Identität. Berlin, Wagenbach Verlag, 1985, p. 7 - 1 9 , im folgenden: Baier 1985). Beginn der Binnengeschichte

Ähnlich der Brechtschen Entfremdungstechnik für das Theater irritieren den Leser regelmäßig Elemente, die ihm eine positive Sichtweise des Dargestellten verwehren, um ihn aus der beschriebenen Welt herauszuholen und wieder zum bürgerlichen Betrachter werden zu lassen. Als Beispiel hierfür soll die Sequenzanalyse «Betrunkenheit» auf Seite 24 dienen. Die positive, geradezu poetische Beschreibung von «Je dansais d'un pied sur l'autre sur le pavé plein de traînées» wird im Satz selbst durch die Weiterführung «brunes et violettes entrelacées» gebrochen, so daß auch die darauffolgende Beschreibung: C'était tout chaud d'odeurs, de fumée, de gens qui avaient raconté leur vie, qui m'avaient prise sur leurs genoux, friands d'enfants comme il sont quand ils ont trop bu. (24)

nicht mehr jenen positiven Gleichklang ausstrahlt, der möglich wäre, sondern ebenso eine «bürgerliche» Deutung der Szene beinhaltet, bei der die Luft nicht mehr neutral oder gut riecht, sondern nach schlechtem Alkohol, menschlichen Ausdünstungen und billigen Zigaretten stinkt. Besonders die zur Authentizitätserzeugung verwendete, familiär-vulgäre Ausdrucksweise (wie bspw. «il dérouille sa femme») macht es dem Leser schwer, die dargestellte Lebenswelt losgelöst vom eigenen Wertkontext (asozial und frauenverächtlich) mit den Augen des Mädchens zu sehen, womit der Leser das Sichtwechsel-Problem der Erzählerin selbst nachempfindet. Die verheerenden Folgen einer solchen Neubewertung von Kindheitserinnerungen, die der Roman aufzeigt, machen deutlich, daß die erwachsene/bürgerliche Verunglimpfung der vom Kind geliebten «Säufer» nicht nur der kindlichen Erlebnisweise nicht gerecht wird, sondern auch nachhaltig und tiefgreifend das Vertrauen des Kindes in sich selbst erschüttert. Hierin liegt eine wichtige Ursache für Selbstabwertung des Ichs, verbirgt sich die Gesellschaftskritik von Les armoires vides. 4.2.1.1 Unterschwellige Milieubezichtigung: Das Elternhaus am Rand der Gesellschaft 54 Schon der erste Satz: «Le café-épicerie Lesur, ce n'est pas rien» (18) verdeutlicht mit seiner Relativierung, daß die Erzählerin ihre Kindheit nicht mehr mit ihren Kinderaugen sehen kann und im Grunde das Gegenteil dieser Einschätzung für richtig hält. Von Anbeginn an stellt sie das Elternhaus in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen, dessen herrschende, bürgerliche Wertmaßstäbe es zwangsläufig entwerten. So überwiegen auch schon in der ersten Sequenz die negativen Formulierungen: Die Verhältnisse sind sehr ärmlich (eine Klientel, die erst am Ende des Monats bezahlt), sehr beengt (die räumlichen Verhältnisse erlauben bis auf das eisige Schlafzimmer keine Privatsphäre), sehr unmodern (ohne Wasserlei54

Teil 1 des Bauplans

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tung, ohne sanitäre Anlagen für die Gäste) und weit vom «Zentrum» entfernt. Noch vor einer näheren Charakterisierung der Eltern beschreibt die Erzählerin sodann sehr ausführlich die Kundschaft, womit ihr auch kompositionell die Bedeutung eingeräumt wird, die sie im Leben der kleinen Familie einnimmt: Sie ist als «Existenzgrundlage» die wichtigste Bezugsgröße für Kind und Eltern, die zudem kaum zwischen Arbeit und Leben trennen: «Pas une communauté mais ça y ressemble.» (19). So durchdringt die Kundschaft Haus und Leben (von 7 Uhr morgens bis 21 Uhr abends) und beschäftigt die kleine Familie gedanklich auch noch außerhalb der Geschäftszeit (25). Das Verhältnis des Mädchens zu den clients des Bistros, die sich in ihrer überwiegenden Mehrheit aus (ihre Frauen schlagenden) Alkoholikern und alten, unberechenbaren Pflegeheimbewohnern zusammensetzt, ist infolgedessen sehr vertraut: «C'est moi qui en profite le plus» (21). Die Dunkelheit ihres Lebens (Alkoholabhängigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen, familiäre Verhältnisse etc.), die nur in Nebensätzen durchscheint, liegt für das Mädchen außerhalb seiner Vorstellungskraft. J'étais de leur bord, je les plaignais, des cons les patrons, je les admirais, je les regardais vivre chez nous avec étonnement. Tous transparents, et plus ils boivent, plus ils le deviennent, plus ils deviennent magnifiques aussi. (22).

Verbundenheit und Solidarität, so legt die Erzählerin durch die Beschreibung nahe, basiert im Grunde auf dem kindlichen Unwissen, womit sie erneut ihre erwachsene Beurteilung über ihre kindliche Empfindungsweise stellt. Für wie schädlich die Erzählerin diese Intimität halten muß, verdeutlichen ihre Darstellungen, die diese Beziehung in ein eigentümlich sexuelles Licht rücken: Il me tire par une boucle. De tout près, la chair brune, les dents écartées sur le rire qui gargouille, un genou pointé dans mon ventre. Le monde des garçons et des hommes à quelques centimètres. , dit ma mère. Personne ne me voit, je frotte mes lèvres rentrées - c'est la première fois - à quelque chose de mou, d'odorant, de rugueux, la peau de Bouboule. (20/21).

Wie in der Ringgeschichte wertet sich die Erzählerin dabei gleichzeitig unterschwellig selbst ab, indem sie ihre kindliche Freude an dem tendenziell perversen Verhalten der Kundschaft unterstreicht: 55 Les petits vieux sont vicieux, ils mettent la main au zizi, ils font mine d'aller pisser dans la cour pour l'exhiber en marchant. J'en savais long sur les satyres et les gagas, c'est comme ça, il ne faut pas faire attention mais se tenir prête à détaler au cas où... Là, je ne sais plus, j'imagine avec les copines des heures durant. C'est mou, c'est dur, rose, gris, coupé au bout, personne ne voudrait 55

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Selbst wenn man annimmt, daß die psychologische These der kindlichen Latenzperiode ein Konstrukt unserer Gesellschaft ist und de facto nicht existiert, wirken die stundenlangen sexuellen Gedankenspiele eines zwischen 6 und 12 Jahre alten Mädchens befremdlich.

aller voir de près. On se contente de rire à bonne distance. Mêmes précautions quand un gaga est malade à dégobiller et s'enfuit, la bouche ouverte et pendante aux cabinets de la cour. (22/23).

Erst jetzt schildert die Erzählerin die Eltern, deren Leben ganz im Zeichen der Arbeit, Arbeitsteilung (Vater: Bistro, Mutter: Kramladen) und den damit verbundenen Geldsorgen steht. Und wieder relativiert das Auge des erwachsenen Ichs das Herz des kindlichen Ichs, wenn es seine Liebe und seinen Stolz auf den Vater als König über die Gäste schmälert, indem es auf seine alkoholgesteuerte Regentschaft blickt oder den mütterlichen Vorwurf fehlender Ambitioniertheit gegen die Schilderungen seiner Zärtlichkeit setzt. Die positive Beschreibung der Mutter (mächtig, energievoll, bewundert und geliebt) wird nach dem gleichen Schema dekonstruiert. Waren die Eltern für das erlebende Ich im Vergleich zur Kundschaft die besten: «Je les voyais puissants, libres, mes parents, plus intelligents que les clients» (25), schmälert für Erzählerin und Leser schon alleine die Vergleichsgröße das positive Ergebnis, verdeutlicht die Darstellungsweise, daß die Erzählerin inzwischen ihre Elternbewunderung als Resultat einer falschen, weil kindlich-unwissenden Einschätzung bewertet: «[...] l'homme qui gagnait l'argent d'un petit geste [...].» (26). Daß allerdings der neue, bürgerliche Blickwinkel nicht allein für die Abwertung der Kindheit verantwortlich ist, sondern das kindliche Glück auch an eine milieuinterne Bedingung geknüpft war, die die Erzählerin als Studentin nicht mehr erfüllt, zeigt das Bild, welches für das Mädchen idyllische Geborgenheit und vollkommenes Einssein mit den Eltern bedeutete, L'épicerie-café se rétrécissait, devenait une maison au toit de couvertures, aux murs de chair tiède qui me pressaient et me protégeaient. (28)

aber aus der Perspektive des Lesers die Unterwerfung unter die Bedingung der Gleichheit evoziert: «J'essaie de respirer au même rythme qu'eux.» (28). Und in der Tat zieht auch die Erzählerin im Anschluß an diese Schilderung ihren ersten direkten Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart und bringt dabei ihre Enttäuschung über die verlorengegangene elterliche Unterstützung zum Ausdruck: Ils auraient une crise d'épilepsie si je m'amenais maintenant, dans la carrée du haut, dans leurs draps. » (55). Obwohl die mütterliche Erziehung weiterhin einen starken Gegenpol zur schulisch-religiösen Beeinflussung gebildet habe: « (136), 33

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Die Gegenüberstellung der Elternmodelle (so auch in La place) und ihre Interpretation: «[...] je n'imaginais pas que son image [das der Schwiegermutter, H. I. K.] puisse se glisser dans la nôtre.» (129), mag auch den übrigen Werken zugrunde gelegen haben, da sie den dort unvermittelt auftretenden Haß der bürgerlichen Schwiegermutter erklären könnten. Vierzehntes Kapitel.

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stellt sie ihre eigenen Ziele zurück: «les études par petits bouts» (134) und richtet wie schon zuvor ihre Kritik gegen sich selbst, als wolle sie nicht schon drei Monate nach der Hochzeit erkennen müssen, daß ihre Hoffnungen von vornherein auf Sand gebaut waren. Schon zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich ihre Selbstzurücknahme als endlose Spirale ab, «Moi je me sentais couler.» (134), durch die sie sich dem Modell der Schwiegermutter zunehmend annähert, auch wenn sie mit aller Hartnäckigkeit diese Entwicklung vermeiden will, es aber nicht tut, weil sie ihr Unglücklichsein nicht als Aufforderung sieht, die eigenen Vorstellungen zu verteidigen, sondern zum Anlaß nimmt, die Verhältnisse zu konsolidieren. 3.5.3 «Herrschende» Problemlösung: ein Kind 35 In diesem Sinne entscheidet sich das erzählte Ich sodann für das Austragen der ungeplanten Schwangerschaft. Nicht den Wunsch, ein Kind zu erziehen, sondern den, die Bindung zu sichern und alles kennenzulernen, was gemeinhin unter «Erfüllung» des weiblichen Erfahrungsbereichs gehandelt wird, sowie Rachegedanken seien ihre damaligen Beweggründe gewesen, sagt die Erzählerin, welche die Angst, durch diesen Schritt vollständig ausgeliefert zu sein, überstimmt hätten. Wiederum habe sie sich im Grunde nicht entschieden, sondern treiben lassen: Qu'on puisse vouloir une chose et son contraire, depuis ce moment je sais que c'est possible. (140) und: [...] je me sens entraînée doucement, sous des couleurs layette, dans un nouvel engrenage. (142).

Spätestens an dieser Stelle ist auch dem letzten Leser klar geworden, daß die Erzählerin keinesfalls die Absicht hat, die mütterliche Ikonographie zu unterstützen, der sie zum Opfer fiel, indem sie die wahren Gründe für ihre Entscheidung glorifiziert. Im Gegenteil scheint sie jenen verhängnisvollen Mythos dekonstruieren zu wollen, um nicht spätere Frauengenerationen in denselben Zwiespalt zu führen, der auch sie zu dieser Entscheidung bewog. Ebenso unrühmlich schätzt sie die Beweggründe ihres Ehemanns ein, zwischen Neugierde und Stolz, seine «Männlichkeit» öffentlich bestätigt zu wissen, und schildert ihr Befremden über die Freude des Schwiegervaters: «Je ne comprends pas sa fierté, dégoût même, mon ventre familial.» (140). Nüchtern beschreibt sie ihre Empfindungen über den sich verändernden Körper: «[...] cet orgueil-là ne vaut pas mieux que celui de la bandaison.» (141), ihrer Angst vor der Geburt, den ersten Wochen des Mutterseins und der Veränderung ihres Lebens. Auch die Schilderungen der Krankenhausgeburt 36 zielen auf den machtpolitischen Hintergrund dieser Inszenierung ab, die auf bildliche Weise den gesellschaftlichen Platz und Wert der Frau nachstellt. Denn die 35 36

Fünfzehntes Kapitel. Sechzehntes Kapitel.

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Geburt wird vom erzählten Ich als eine äußerst demütigende Erfahrung erlebt, bei der sie zu einem öffentlichen Gegenstand degradiert wird, indem man sie zwingt, öffentlich zu leiden bzw. den nicht zu unterdrückenden Schmerz zu verbergen, «[...] le sexe dilaté devant tous.» (143). Die Gebärende fürchtet sich dabei sowohl vor den negativen Auswirkungen, die eine solche Entwertung für das eigene Selbstverständnis haben kann, wie vor dem veränderten Blick ihres im Kreissaal anwesenden Ehemanns. Mütterliche Gefühle stellen sich erst allmählich ein, die Freude über das Neugeborene wechselt mit der Erschöpfung über die Last der Verpflichtungen. Auch hier setzt die Erzählerin die Glücksmomente mit dem Kind nicht absolut, für die sich jede Entbehrung rechtfertige: Moments parfaits. J'en ai connu d'autres, certains bouquins, des paysages, la chaleur des salles de classe quand je serai prof. Ils ne s'opposent pas. (145)

obwohl das erlebende Ich versucht ist, auch hierin dem Mythos zu folgen, und lediglich aufgrund eines letzten Rests von Hoffnung in ein anderes Lebensmodell einen inneren Gefühlswiderstand aufbaut: «Si je commence à aimer, je serais perdue.» (146). Da ihr Ehemann zu dieser Zeit selbst noch an dem Bild einer selbstbewußten, unabhängigen Ehefrau hängt, vermutet die Erzählerin (146), teilen sie sich anfangs ansatzweise die Erziehungsaufgaben. 37 Dies gibt der jungen Mutter erneut die Möglichkeit, ihre Lebenslage zu verkennen und ihr Leben ganz in die Verantwortung des Mannes zu legen, indem sie ihn in seine neue Arbeitsstadt begleitet. Sein beruflicher Erfolg ist ihr wichtiger geworden als ihr Bestehen der Capes-Prüfungen, welche ihr nur noch als unbedeutender Verlust einer unwichtigen egoistischen Entscheidungsmöglichkeit erscheint: «Je comptais sur lui, j'avais cessé de me prendre complètement en charge.» (149). Damit wurde die Zementierung ihres stereotypen Rollenverhaltens nur noch zu einer Frage der Zeit. 3.5.4 Hypnotisiertes Verharren im Unglück Je déteste Annecy. C'est là que je me suis enlisée. Que j'ai vécu jour après jour la différence entre lui et moi, [...] D e solitude. [...] Annecy, le fin du fin de l'apprentissage du rôle. (151)

Als sich die 25-Jährige in der Einsamkeit der neuen «gattenbezogenen» Umgebung gezwungenermaßen eingestehen muß, daß ihr Leben als Hausfrau und Mutter sie nicht ausfüllt, hält sie diesmal die Überzeugung, angesichts des Leids der Welt kein moralisches Recht zu besitzen, sich über die eigenen, vergleichsweise geringen Sorgen zu beklagen (152), da37

«Je n'imaginais pas que bientôt il jugerait indigne de prendre parfois ma place auprès de l'assiette à bouillie, [...] que ça lui paraîtrait un épisode un peu folklo lié à notre manque de fric et à notre condition indécise d'étudiants.» (147/148)

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von ab, Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen. Deshalb drückt sie ihre Unzufriedenheit nur noch symbolisch aus, indem sie die Hausarbeiten auf das Nötigste beschränkt. Aber auch diese «Revolte» wird bald durch ihr schlechtes Gewissen gegenüber dem arbeitenden Ehemann und ihrer unausgefüllten Einsamkeit aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt, da sie sich daraufhin getrieben fühlt, auf äußerlichem, materiellem Wege ihrem Leben Harmonie zu verleihen, und beginnt, ihr Heim zu verschönern. Elle fonctionne bien la société, devinez à quoi un jeune ménage va employer ses premiers sous. (154) und: De lui ou de cet ordre, je ne sais pas lequel des deux m'a le plus rejetée dans la différence. (154).

Daß diese Entscheidung im vollen Bewußtsein: Bien sûr on le sait que le bonheur ne se confond pas avec la possession des choses, l'être et l'avoir, on a appris, et Marcuse, du caca aliénant les choses. (155)

und mangels anderer Lebensmodelle getroffen wurde, Ou alors il aurait fallu vivre autrement, tellement autrement que je n'arrivais pas à l'imaginer. (156).

ändert, so macht es der Verlauf der Schilderungen deutlich, nichts an dem verhängnisvollen Ergebnis dieses Lebenswegs: eine femme gelée. Die Zwangsläufigkeit seiner Mechanik erforderte notwendigerweise neben der intellektuellen Einsicht eine Umsetzung in die Praxis; das Sein wirkt bestimmender als das Bewußtsein. Worin das Fehlen von Idee und Glaube an die Machbarkeit einer gleichberechtigten Beziehung begründet liegt, ist nicht eindeutig erkennbar. Vermutet werden kann es in der erziehungsbedingten Ichschwäche, der starren Assoziation von Klasse und Geschlechtsrollenverteilung des Ichs und der daraus resultierenden Bevorzugung der «Mittelschicht» vor «feministischer Freiheit». Eine vollständige Erklärung aber bleibt die Erzählung schuldig, da sie offenbar einen anderen Ausgang programmatisch für ausgeschlossen hält. Das Leben des Ichs wird fortan von der Logik der neuen Ordnung bestimmt. Einsam und ganz auf andere (Kind, Mann, Haushalt) ausgerichtet, ist es in einem «sisyphusschen» System gefangen, [...] une femme dans sa cuisine jetant trois cent soixante-cinq fois par an du beurre dans la poêle, ni beau, ni absurde, la vie Julie. (158),

das seine Gegenwart und somit seine Besinnungsmöglichkeit auffrißt, ohne jedoch seine Empfindung abzutöten: «Je ne m'y habituais pas.» (157). Deshalb bleibt seine Situation weiterhin zwiespältig. Auf der einen Seite erträgt die junge Mutter und Hausfrau die ungerechte Arbeitsteilung ihrer Ehe nicht, beneidet ihren Mann um seine berufliche und freizeitliche Erfüllung, auf der anderen Seite aber beharrt sie nicht auf ihrer Kritik, sondern richtet sie in altbekannter Weise gegen sich selbst (fehlen154

des Organisationstalent, 158). Selbst die wenige Zeit, die sie «erwirtschaftet»: «[...] toute la liberté de ma vie s'est résumée dans le suspense d'un sommeil d'enfant l'après-midi.» (158), kann sie nicht mehr ohne schlechtes Gewissen für sich und ihre Studien nützen, da inzwischen der Fluch der «guten Mutter» auf ihr lastet: (160) und:[...], encore une qui ne pense qu'à elle, si vous ne sentez pas la grandeur de cette tâche, [...] il ne fallait pas en avoir, d'enfant. (162, 163).

Aus Mangel an Austausch mit anderen Müttern kann sie ihre Isolation nicht aufbrechen, leidet die Erzählerin von La femme gelée wie ihre Vorgängerinnen an ihrem Einzelgängertum, an der fehlenden Solidarität mit Gleichgesinnten. Ihr Leben als Mutter, Ehe- und Hausfrau ist gleichförmig und mechanisch geworden, woran auch die Momente des «Mutterglücks» definitiv nichts ändern. Schließlich gibt sie zu, die Entscheidung für das Kind zu bereuen: Le coup de la plus belle part, on me l'a fait, et c'est elle qui m'avait retenue d'aller chez la vieille à lunettes. (163),

da Kindererziehung und Haushaltsführung sie nicht erfüllen: «de renoncement à moi.» (164), sondern im Gegenteil ihre totale Selbstentäußerung heraufbeschwörten, sie schließlich ihren Subjektstatus aufgibt, den ihr ihr Mann schon längst abgesprochen zu haben schien: Attention, pas la responsabilité! Je l'élève seule, le Bicou, mais sous surveillance. (164) und: Son enfant, pas le mien, d'être la pièce active et obéissante d'un système aseptisé, harmonieux, qui gravitait autour de lui, le mari et le père, et qui le rassurait. (164).

In den wenigen Momenten der Selbstbesinnung verspürt sie nur noch eine tödliche Leere, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist und was sie will: Toute mon agitation depuis le matin sept heures aboutissait à ce vide. Ça doit être l'heure où des femmes avalent des comprimés, se versent un petit verre ou prennent des trains pour Marseille. Le monde arrêté. (166).

Daß der Grund dafür aber nicht primär in der Entscheidung für oder gegen ein Kind liegt, sondern im Charakter des Ehemanns und der Art ihres Zusammenlebens verankert sein könnte, scheint der Text offenbar auszuschließen, da die Erzählerin an keine positive Realisierungsmöglichkeit des familiären Zusammenlebens zu glauben scheint, denn schließlich hat auch das erzählte Ich eines der beiden Negativmodelle, mit denen der Roman begann, verbindlich verwirklicht: «Rien que la beauté et l'ordre.» (165). Obwohl man meinen könnte, daß dieser bedrückende Zustand das Ende der Entwicklung bezeichnet, wird der Selbstverlust des Ichs noch durch die protestlose Annahme eines künstlichen Ichs gesteigert, welche als letzte Phase der Geschlechtsrollenkonditionierung beschrieben wird.

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3.5.5 Die Veränderung: installée dans la différence Obwohl es der Protagonistin emotional fast unmöglich wird, ihr Leben fortzuführen: «La nausée existentielle devant un frigo ou derrière un caddy, [...].» (169), sie sogar an Scheidung denkt und andeutungsweise Widerstand leistet, 38 erkennt sie erst nach einem Schlüsselerlebnis,39 daß sich ihre Situation nicht mehr verändern wird, wenn sie nicht selbst handelt. Daraufhin sucht sie sich mit schlechtem Gewissen eine Kinderkrippe, beendet ihr Studium und ergreift ihren Beruf als Lehrerin, der ihr nach der Überwindung der in der Einsamkeit gewachsenen Angst vor anderen Spaß macht. Doch führt das, was wie eine Befreiung, wie der Weg aus der Talsohle ihres Schicksals klingt, zum «Hauptstudium der Geschlechterdifferenz» (174), da offenbar wird, daß sie von der Logik des Systems vollständig durchdrungen ist. Denn das Ich hält seine doppelte Berufstätigkeit nicht nur für richtig, sondern gar für die weibliche Ideallösung: «[...], le coup de la femme totale je suis tombée dedans, fière à la fin, de tout concilier, [...].» (176). Die positive Bewertung der ungerechten Mehrfachbelastung und der ungleichen Arbeitsmotivation ist das sichtbare Ergebnis der qualitativen Neuorientierung des erzählten Ichs: nicht die ursprünglichen, nach dem Optimum strebenden Ansprüche, sondern die durch die alltäglichen Frustrationen eingeschränkte Machbarkeit bildet ihr neuer Maßstab: On finit par ne plus comparer sa vie à celle qu'on avait voulue mais à celle des autres femmes. Jamais à celle des hommes, quelle idée. (175).

So kommt ihr inzwischen selbst ihre fehlende Freude bei der Unterwerfung im Vergleich zu den Frauen der Schwiegerfamilie anormal vor (178), weil ihre Gefühlsweise noch nicht auf die gleiche Weise wie ihre Denkund Handlungsschemata verändert wurde. Dem herrschenden System aber kann sie längst nicht mehr gefährlich werden, da sie das, was sie vormals als Notstand empfand, nun für ein Privileg hält: Le Bicou dort. Papier, stylo. [...] Je n'arrive pas à croire à la réalité de ce que j'écris, une sorte de divertissement [...] Du faire-semblant de création. Le Bicou se réveille. Le sérieux recommence, [...]. (179).

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«[...] attendre les bonnes répliques, celles qui vont me stimuler, m'aider à retrouver un langage perdu, violence et désir d'autre chose.» (170) Dieses Schlüsselerlebnis stellt die Bemerkung ihres Mannes dar, daß es schade sei, wenn beide aufgrund des Kindes nicht mehr ihren Vergnügungen nachkommen könnten, und er infolgedessen beginnt, alleine ins Kino zu gehen, Tennis zu spielen oder Ski zu fahren.

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3.5.6 La femme gelée sans corps 40 Die Perfektion ihrer Konditionierung zeigt sich schließlich in dem Moment, in dem sie erneut die Chance hat, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und wieder selbstbezogener zu leben, aber sich erneut aus Furcht vor der Freiheit: Le vrai motif, c'était que je n'imaginais plus de changer un peu ma vie autrement qu'en ayant un enfant. Je ne tomberai jamais plus bas. (180),

und Angst vor Konfrontationen, «Rien que du trouble-famille tout ça» (179), bedürftig nach gesellschaftlicher Selbstbestätigung: «bénie par la société» (186) für Fremdbestimmung und Abhängigkeit, für eine zweite Schwangerschaft entscheidet. Sie hat ihr ursprüngliches Selbst gegen ein mechanisches Selbst eingetauscht, das den Anforderungen der Gesellschaft entspricht: Illusion d'une décision volontaire, rien fait d'autre que fabriquer la famille idéale, celle que Brigitte, [...] deux, c'est bien. (182),

was sie als Krönung des Systemsiegs nicht einmal mehr bemerkt: Après la vaisselle, je le rejoignais devant le poste de télé. L'harmonie familiale. (183) und: Des différences, quelles différences, je ne les percevais plus. (184).

Die femme gelée hat nicht nur ihr echtes Selbst (Alice Miller 1983) verloren, sondern dadurch auch den Bezug zur Welt: «Il me semblait que je n'avais plus de corps, juste un regard [...].» (185); das Leben ist aus ihr herausgetreten, ihre einzige Sorge dreht sich nur noch darum, ab wann man ihr die innere Leere ansieht: «Déjà moi ce visage.» (185). Die Erzählung endet mit dieser perfekten Konditionierung des weiblichen Ichs, in der Hoffnung, daß ein minutiöses Aufzeigen der Mechanismen den Mythos zerstört. Doch ist die textliche Dekonstruktion nur eine fiktive, eine faire-semblant Rebellion, da das Ich scheiterte und seine ironische Selbstbespiegelung kaum eine Gefahr für das kritisierte System darstellen dürfte.

40

Siebzehntes Kapitel.

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La place. Schuldhafte Klassendifferenz

1 Einleitung 1.1 Synopsis La place (1983) verkörpert die zweite Stufe des Paradigmenwechsels im Werk Annie Ernaux', welcher durch La femme gelée eingeleitet wurde, denn hier werden die Elemente der Vorwerke auf eine Weise kombiniert, daß eine gänzlich neue Qualität entsteht. Es handelt sich nicht ohne Grund um ihre preisgekrönte Erzählung. Während die ersten drei Werke unter anderem den Verlust des positiven Elternideals thematisierten, wird La place und Une femme durch den Verlust eines Elternteils ausgelöst. Zwar erzählt in La place noch immer eine persönlich involvierte Ich-Erzählerin im Sinne der ersten Werke von den tragischen Konsequenzen des Klassenwechsels für offensichtlich noch immer dieselbe Familie, doch spricht nicht mehr eine ihre Eltern anklagende Tochter, sondern in Fortführung von La femme gelée eine sich auch in ihrer Sprache selbst zurücknehmende Erzählerin. Klar und emotionsarm setzt sie den in La femme gelée begonnenen soziologischen Blickwinkel in eine analytische Milieuschilderung um, deren Inhalte an die Verhältnisse von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien erinnern. Allerdings steht nun nicht mehr die Empfindungsweise der Erzählerin bezüglich der durch den Klassenwechsel gestörten Beziehung zu den Eltern im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Sicht- und Seinsweise des Vaters, dessen Leben seinerseits durch die Bemühungen um einen sozialen Aufstieg geprägt war, so daß La place die Geschichte eines zweifachen Klassenwechsels genannt werden kann. Da die Erzählerin der väterlichen Familiengeschichte gerecht werden will, ohne indessen ihren zwiespältigen Standpunkt als Tochter und «Klassenfeindin» zu verleugnen, wird ferner der Literarisierungsprozeß, die Frage der richtigen Darstellung zum dritten Themenpfeiler des Werkes. Damit geht ein völlig neuer Textaufbau einher, der erstmals deutlich die «Schreibbrüche» der Autorin kennzeichnet und die sich im Laufe der Erzählung verändernde Aussageabsicht als konkrete Leserlenkung nahebringt. Der Text ist wesentlich kürzer, klarer strukturiert und «symbolischer» als seine Vorgänger, wenn er mit beispielhaften Szenen ein ganzes Leben höchst wirkungsvoll einfängt. La place rührt den Leser an, auch weil es ihn nicht mehr herausfordert. Die Erzählung wirkt, um mit Anne, der Erzählerin von Ce qu'ils disent ou rien zu sprechen, wie die beispielhafte Einlösung 158

des dort geforderten bürgerlichen Diskurses im Gegensatz zu dem von ihr so bezeichneten langatmigen und nicht auf den Punkt kommenden Unterschichtsdiskurs, wie er im Grunde durch Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien repräsentiert wird.1 1.2 Werküberblick La place bringt alle im Tïtelwort angedeuteten Bedeutungsvarianten 2 zur Sprache: das Werk erzählt ausgehend von der wörtlichen Bedeutung: «Espace [...], où s'exercent certaines activités», dem konkreten Lebensraum des elterlichen café-épicerie, von den drei abstrakteren Verwendungsweisen des Wortsinns, angefangen mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe: «Le fait d'être admis dans un groupe, un ensemble, d'être classé dans une catégorie; condition, situation dans laquelle on se trouve.», über die gesellschaftliche Stellung: «Position, rang dans une hiérarchie» hin zur persönlichen Verortung: «place de qqn.: celle qui lui convient», denn es handelt von der Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und den damit verbundenen Faktoren wie Macht und Prestige.3 La place ist das Zeugnis einer nicht auszuräumenden Zerrissenheit und dem Gefühl von Schuld und Verrat, welche die Ich-Erzählerin nicht verlassen als Aufsteigerin in die bürgerliche Welt, in der das Leben ihrer Eltern und Herkunftsschicht nichts gilt, während sie um die lebenslangen Bemühungen der Eltern weiß, die angesichts dieser (internalisierten) Abqualifizierung versuchen, ihre «Minderwertigkeit» abzubauen, ohne dafür je eine angemessene Anerkennung erfahren zu haben. Die Lebensbeschreibung des Vaters, die sich über drei Generationen erstreckt, ist explizit «klassenbezogen» angelegt, sein Kampf um Anerkennung, Würde und Respekt in einer Gesellschaft, in der Menschen primär nach ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beurteilt werden und nicht nach Charakter und konkreten Verdiensten, hat überindividuellen Anspruch. Das Werk zeigt wie schon Les armoires vides, Ce qu'ils disent ou rien und La femme gelée die negativen Konsequenzen des Klassenwechsels für die Betroffenen, die sich in Resignation, Kampf um Anerkennung und Zerrüttung der Familie ausdrücken, weil das Individuum im konkreten familiären Zusammenhang seine gesellschaftliche Position nicht ablegen kann. La place verdeutlicht, daß die Verantwortung für die gesellschaftliche Ungleichheit neben den Machterhaltungsbestrebungen der Mittelschicht auch in der verhängnisvollen Schicksalsergebenheit der 1 2

3

Cf. dazu auch das Interviews mit der Autorin im Anhang. Das Lexem «place» findet sich überdies in einer Vielfalt von Verwendungsweisen im Text wieder, wie zum Beispiel als «déplacé» (19, 59), «haut placé» (20, 62) oder «tenir sa place» (45). Cf. Le Petit Robert 1. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Nouvelle éd. revue, corrigée et mise au jour pour 1985. Paris, 1984.

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Unterschicht zu suchen ist. Obwohl La place ein Plädoyer für Differenz statt Defizit ist, wenn es die Niederlage der Herzensgüte (Unterschicht) gegenüber dem geistreichen Gespräch (Bügertum) anklagt, ist auch der Tenor dieses Werks hoffnungslos, da es selbst der Erzählerin trotz ihrer realen Partizipation an beiden Klassen, der am eigenen Leib erlebten Diskriminierung und der theoretischen Einsicht in die Zusammenhänge nicht gelingt, sich über die Klassengegensätze hinwegzusetzen.

2 Diktion - Fiktion La place stellt als erster Text von Annie Ernaux die Frage nach seiner Gattungszugehörigkeit auf eine dominant textkonstituierende Weise, indem er die Suche nach der richtigen Art der Verschriftlichung expressis verbis ausdrückt. Diese Überlegungen stehen in einem direktem Zusammenhang mit der Aussageabsicht von La place und werden als offizielle Leserlenkung verstanden; sie werden diesbezüglich und nicht im Hinblick auf eine allgemeine Gattungsfrage analysiert. Im Gegensatz zum Verfasser des Klappentexts: «La narratrice, qui n'est autre que l'auteur», 4 halte ich die Frage, ob es sich bei La place um einen autobiographischen oder fiktionalen Text handelt, für nicht eindeutig beantwortbar, vielmehr scheint mir die Autorin eine ausschließliche Zuordnung zu einer einzigen Gattung absichtlich zu vermeiden, wie es die Textsegmente über den «fiktiven» Verlauf des Textentstehens immer wieder darlegen. Tatsächlich vermischt der Text Elemente des Fiktionalen und Realen miteinander, da die Autorin versucht, ihre subjektive Erlebnisweise objektiv darzustellen: J'ai envie de dire comme Bachelard: je n'invente pas, je retrouve. Je cherche à cerner une réalité. [...]. Je veux dire les choses telles que je les ai vécues, de l'intérieur, [...]. Pas les choses telles qu'on se les raconte.5

Darum sollte man von einer Gattungskompilation sprechen, die fiktionale (Auto)-Biographie mit soziologischer Komponente genannt werden könnte. Da die Unterscheidung zwischen Fiktion und (Auto)-Biographie nicht gleichzusetzen ist mit der Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit, muß auch der Doppelanspruch der (Auto)-Biographie, gleichzeitig wahrhaftig und Kunst sein zu wollen, kein Paradox sein, zumal im Sinne von Philippe Lejeune in Bezug auf Aragons mentir vrai6 eine Referenz sowohl durch eine getreue Sinnwiedergabe (fidélité-signification) als auch 4

5

6

Aus: Annie Ernaux: La place. Gallimard, Paris, 1983. Die meisten Rezensoren gehen von einer Autobiographie aus, ohne dies am Text zu belegen. Annie Ernaux in einem Interview mit Dominique Louise Pélegrin: «La vérité, simplement». In: Télérama N° 2195 (5.2.1992). Lejeune 1975, p. 13-46.

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durch eine genaue Abbildung der Fakten (exactitude-information) dargestellt werden kann. 7 La place scheint beide Formen zu beinhalten. 2.1 Erste Informationen des Textes La place ist ein Prosatext, in dem eine Ich-Erzählerin das Leben ihres Vaters und ihre Beziehung zu ihm beschreibt. Da Stoff und Stil der Erzählung realistisch sind und die Figuren keine Eigennamen tragen, sondern lediglich «je», «il», «elle», «ma mère» oder «mon père» heißen, ist es nicht verwunderlich, wenn der Leser eine Identität zwischen realer Autorin, Erzählerin und Hauptperson vermutet, zumal die sichtbare Verheimlichung der Namen wie zum Beispiel «Y.. .(Seine-Maritime)» (13) und «(madame veuve A...D...)» (21) diesen Eindruck noch verstärkt. 8 Außerdem legen die inhaltlichen Parallelen zur Biographie der Autorin (wie zum Beispiel die Ärmlichkeit des Elternhauses, der Beruf als Studienrätin und die zeitliche Situierung) derartige Annahmen nahe. Die über den gesamten Text verstreuten Hinweise, die den Leser mutmaßen lassen, daß sich die abstrakte Autorin beim Schreiben an Erinnerungsfetzen orientiert hat: «Je revois seulement» (14) und sich mithilfe von Photographien in die Vergangenheit zurückversetzen ließ, unterstreichen ferner diese Vermutung. Gleichzeitig weisen sie aber auch auf eine poetische Konzeption hin, da beispielsweise die Photographiebeschreibungen von Vater und Tochter kunstvoll gegeneinandergesetzt werden und der Verlauf der Schilderung schon bald von Freuds «wiedertun statt erinnern» zeugt (cf. 2.3.4). Deshalb gilt es, die Identität von Autorin und Ich-Erzählerin verläßlich nachzuweisen.

7

8

Interessanterweise bemerkt auch Helmut Koopmann Vergleichbares, wenn er bezüglich der Biographie feststellt, daß mit größerer Faktennähe zwar die Objektivität steige, aber der Text gleichzeitig lebens- und inhaltsleerer würde (Helmut Koopmann: «Die Biographie». In: K. Weissenberger, Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattung der nichtfiktionalen Kunstprosa, Tübingen, Niemeyer, 1985, p. 45-65). Abgesehen davon, daß prinzipiell jede Versprachlichung schon eine Interpretation der Wahrnehmung darstellt, die ihrerseits schon eine Interpretation der Realität ist. Ähnlich sieht es Lejeune: «Cette absence (du nom propre; H. I. K) peut créer une gêne, le lecteur a besoin de nommer. Il remplira ce vide en attribuant au narrateur le nom de l'auteur soit en parlant du ou du .» (in: Philippe Lejeune: Moi aussi, Paris, Seuil, 1986, p. 70). Tatsächlich wissen wir spätestens mit «Je ne suis ...» auf textuellem Wege, daß die Mutter Blanche Deschesne heißt.

161

2.2 Poetologische Kriterien Handelt es sich um eine Autobiographie, ist nach Lejeune die Angabe des Eigennamens ausschlaggebend, 9 da ohne die ausdrückliche Verantwortung einer realen Person durch ihren Namen nicht von einer solchen gesprochen werden könne, zumal sie textintern oftmals gar nicht nachzuweisen sei. Des weiteren sei die Autobiographie eine Gattung, die sich essentiell auf einen Pakt stütze (genre contractuel), der zwischen Autor und Leser geschlossen wird und der dem Leser eine Leseweise (mode de lecture) an die Hand gibt: le pacte autobiographique. Solchermaßen also wäre La place keine Autobiographie, da erstens Eigennamen vollständig fehlen, zweitens das Titelblatt keine Gattungsbezeichnung aufweist und drittens die paratextuellen Stellungnahmen der Autorin ebenfalls ambivalent sind. Dem widerspricht jedoch der Text selbst, in dem sich abstrakte Autorin, Ich-Erzählerin und Protagonistin wie Facetten einer einzigen Person verhalten (cf. 2.3.6) und der in seinen Aussagen den autobiographischen Pakt noch weniger ausschlägt als seine Vorgängerwerke. Auch der Vergleich mit den Konstanten, die Helmut Koopmann 10 zusammengetragen hat, um die Gattung der Biographie zu definieren, welche sich seiner Meinung nach prinzipiell zwischen Historiographie und Fiktion ansiedelt, zeigt, daß die Mehrzahl der Komponenten für La place nur eingeschränkt gelten und zwei konstitutive Merkmale überhaupt nicht aufzufinden sind: erstens gibt es keine Sicherheit, daß sich das Werk auf eine reale Stoffvorgabe bezieht und zweitens muß eine besondere gesellschaftliche Relevanz der dargestellten Persönlichkeit verneint werden. Ferner ist das Werk nur bedingt vergangenheitsbezogen, weist es lediglich einen minimalen historischen Abstand auf und ist nur eingeschränkt einem fremden Leben gewidmet. Allein das Definitionselement der bewertenden Stellungnahme von seiten der Autorin scheint vollständig erfüllt, was angesichts der relativen Allgemeingültigkeit dieses Kriteriums jedoch nicht erstaunt. Insgesamt sprechen die spärlichen, geradezu verwirrenden Zeitangaben, die dominante Erzählstrategie und das fragmentarische Bauprinzip von La place (cf. 3) gegen die Gattung der herkömmlichen Biographie, so daß es sich nur um eine Biographie von besonderer Art handeln kann, zumal eine Ich-Erzählerin ebenso ungewöhnlich ist wie die Tatsache, daß der Beschriebene in Ermangelung von Eigennamen, exakter Zeitangaben und Lebensdaten anonym bleibt.

9

10

Lejeune 1975, p. 1 3 - 4 9 , «[...] il est impossible que la vocation autobiographique et la passion de l'anonymat coexistent dans le même être.» (33). Diese Ansicht relativiert er später in Moi Aussi (1986, p. 1 3 - 3 7 ) als persönliche Auffassung. Koopmann 1985, p. 48 sq.

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Die Beobachtungen von Jochen Rehbein 11 hingegen bezüglich «biographischen Erzählens», welches Biographisches und Poetisches miteinander verbindet, decken sich vollständig und ohne Einschränkung mit den inhaltlichen und formalen Aspekten (Erzählerverhalten und Bauprinzip) des Werks La place (cf. 3 und 4). Rehbein geht davon aus, daß sich biographisches Erzählen dann vollzieht, wenn widersprüchliche Erfahrungen gemacht werden und das Selbstverständnis neu konstituiert werden soll, wozu Prozesse des Interpretierens und Bewertens im Hinblick auf eine Lehre aktiviert würden. In solchen Fällen interpretiere der Erzähler die vergangenen Erlebnisse, indem er sie unter der Perspektive des Heute selektiv darstelle und Lebensstationen beispielsweise nur bruchstückhaft abbilde oder gar ausließe. Zusätzlich bewerte er diese Erfahrungen durch die «Herausbildung eines Skandalons, das heißt eine Konstellation gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der der Sprecher trotz oder wegen gesellschaftlich konformen Handelns Schaden erleidet.» (Rehbein 1982, p. 56). 2.3 Textinterne Hinweise 2.3.1 Schuld als Realitätsbeweis Die ersten Worte des Werks, das Motto, das dem Text vorangestellt ist und in Ich-Form steht: «. [...] [Leerzeile] Par la suite, j'ai commencé un roman [...]. [Leerzeile] Depuis peu, je sais que le roman est impossible. [...] Je rassemblerai les paroles, [...]. (23/24). 25

3.2.2 Die interpretierende Neutralität der Erzählerin Das erzählende Ich von La place zeichnet sich ferner durch eine besonders sensible Wahrnehmung und Interpretation der Gegebenheiten aus,26 die den geschulten Blick der erfolgreichen Klassenwechslerin auch auf der darstellenden Ebene offenbaren. Ferner scheint sich die «objektive Darstellungabsicht» der abstrakten Autorin und Erzählerin als Gegenstück zur «vision distinguée du monde» zu verstehen (cf. 4.1.1), um die bürgerliche Interpretation der Gegebenheiten dem Leser zu überlassen und ihm damit bewußt zu machen. Hierdurch wird er zum Teil der Erzäh25 26

Hervorhebungen von mir. Als Beispiel hierfür soll die Sequenz der «Trauerzeremonie» dienen, in der das zweimalige Kondolieren, das Wippen des Sarges und die sofortige Abreise des Schwiegersohnes als Formen der Abwertung gedeutet werden.

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lung, übernimmt er jenen Part, den die Erzählerin von Les armoires vides mittels des Prinzips der «Reorganisation der Vergangenheit» noch selbst ausfüllte. Natürlich ist auch dieser Objektivität anstrebende Stil wie jede Form sprachlichen Ausdrucks eine Interpretation der Wirklichkeit; zwar wird das Leseverhalten bei La place unverhüllt über die Autorinnenreflexionen gelenkt und wahrt die Erzählerin ihre angestrebte Distanz zum Erzählten (u.a. durch ihr vergangenheitsbezogenes Erzähltempus) eher als jene von Les armoires vides, doch kann auch sie diesen intendierten Abstand verlieren: Devant les personnes qu'il jugeait importantes, il avait une raideur timide, ne posant jamais aucune question. Bref, se comportant avec intelligence. Celle-ci consistait à percevoir notre infériorité et à la refuser en la cachant du mieux possible. (60) 27

Die Verwendung von szenischen Darstellungen, die dem Leser einen scheinbar «neutralen» Interpretationsrahmen vorgeben, ist dem von Les armoires vides ebenfalls ähnlich. 3.2.3 Zeitverhältnisse Die verschiedenen Erzählebenen korrelieren ferner mit den verschiedenen Zeitstufen des Textes: Die Kerngeschichte ist chronologisch geordnet und umfaßt die Jahre 1899 (Geburt) bis 1964 (definitive Trennung von Vater und Tochter). Sie mündet in den zweiten Teil des inneren Rings, der den Sterbemonat Juni 1967 bezeichnet und der mit dem ersten Teil der inneren Ringgeschichte übereinstimmt, die im April 1967, kurz vor dem Tod des Vaters einsetzt und in die Sterbebeschreibung des vorderen Teil des inneren Rings (Juni 1967) eingeht. Das Endstück des äußeren Rings endet quasi auf der Ebene der Textproduktion im Oktober 1982, da er als «Auslöser» für die Textentstehung angesehen werden kann (cf. 4.3.3), welche sich von November 1982 bis Juni 1983 erstreckt, wie das Datum am Ende des Erzähltextes andeutet, das mit den textinternen Angaben der sechsten Autorinnenreflexion übereinstimmt: Il n'y a pas eu de printemps, j'avais l'impression d'être enfermée dans un temps invariable depuis novembre, [...]. Je ne pensais pas à la fin de mon livre. Maintenant je sais qu'elle approche. La chaleur est arrivée début juin. (101).

In diesem Sinne ist der Gesamttext anachronistisch, da erstens jede Autorinnenreflexion, die innerhalb der Kerngeschichte gemacht wird, einen Sprung in die Zeit von Oktober 1982 bis Juni 1983 bedeutet und zweitens der Kerngeschichte, die mit der Geburt des Vaters beginnt und seinem Tod endet, die Tage nach seinem Tod vorangestellt sind und drittens die Kerngeschichte ein anachronistisches Element enthält. 28 27 28

Meine Hervorhebung. Cf. die Fußnote, die dem Wort Selbstbeschränkung in Absatz 4.2.1.2 folgt.

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Bemerkenswerterweise werden diese zeitlichen Verhältnisse im Text nicht sichtbar gemacht, sondern sind nur mittels Rechenarbeit rekonstruierbar, so daß dem Leser nicht auffallen kann, daß der äußere Teil der Ringgeschichte, mit dem der Text beginnt, fünfzehn Jahre vor der Erzählzeit 29 liegt, der Tod des Vaters noch weiter in die Vergangenheit zurückreicht, denn inhaltlich läßt der Text den Leser annehmen, die Schilderungen seien im Verhältnis zur Lesesituation erst unmittelbar vergangen. Überdies verfügt der récit nur über wenige Zeitangaben, die grundsätzlich zu keinem wichtigen persönlichen Ereignis des Vaters in Verbindung stehen, während unwichtige Ereignisse mit einem vergleichsweise genauen Datum versehen sind: «[...] à la fin de l'été, en septembre, il attrape des guêpes.» (91). Auch dieses Vorgehen kann als Spiegelung der Doppelabsicht der abstrakten Autorin verstanden werden, sowohl dem vater- und autobiographischen Moment als auch einem klassenspezifischen Aussageanspruch Rechnung zu tragen, indem die Datierung nicht völlig fehlt, eine Rekonstruktion und Identifikation möglich ist, aber nicht im Vordergrund steht. 3.2.4 L'écriture plate als kommunikativer Verbindungsversuch von Unter- und Mittelschicht Die Sprache von La place wird von der abstrakten Autorin in ihrer ersten Autorinnenreflexion eigens benannt und erläutert: L'écriture plate me vient naturellement, celle-là même que j'utilisais en écrivant autrefois à mes parents pour leur dire les nouvelles essentielles. (24)

Es handelt sich um eine Schreibweise, die einerseits als geistlos qualifiziert wird, aber andererseits die letzte Kommunikationsform (cf. 4.3.1.2) zwischen Eltern und Tochter war, die zum Austausch der wichtigsten Neuigkeiten diente. Im Zusammenhang mit der «objektiven» Darstellungsabsicht der abstrakten Autorin: «Aucune poésie du souvenir, pas de dérision jubilante.» (24), muß «plate» im Sinne einer radikalen Schmukklosigkeit interpretiert werden, die auf der signifiant-Ebene das Pendant zu den «signes objectives, trame significative» der signifié-Ebene darstellt. So wie sie ehemals aus der Not geboren wurde, um den Kontakt zwischen den Eltern und der sich entfremdenden Tochter aufrechtzuerhalten (La place: 89, 90), also Zeichen ihres Festhaltens an einer Verbindung war, dient sie nun dazu, diesen Kontakt im übertragenen Sinne zwischen der Unterschicht (= Inhalt des Werks) und Mittelschicht (= Leserschaft) wieder aufzunehmen bzw. herzustellen. Ihre Syntax ist einfach, oft nach dem Schema «Subjekt, Prädikat, Objekt» gebaut, bei dem die Verbalphrase fehlen kann. Die Nominalphrasen 29

Cf. vorletzte Autorinnenreflexion und hinterer Teil des äußeren Rings.

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bestehen in der Regel lediglich aus einem N o m e n . Ferner sind die Sätze selten explizit aufeinander bezogen, da Renominalisierungen, bezügliche Adverbien, Partikel oder Konjunktionen fehlen. Wenn Konjunktionen verwendet werden, handelt es sich in der Regel u m die beiordnenden Konjunktionen «puis», «alors» und «et», die als die häufigsten Bindewörter des gesprochenen Französisch gelten 3 0 und sich damit nahtlos in das Vokabular mit umgangssprachlichen Einschlägen einordnen. Die Aussprüche normannischer Patois-Einfärbung der Eltern und ihres Milieus werden d u r c h Anführungszeichen oder Kursivschreibweise vom Erzähltext abgesetzt und teilweise mit Paraphrasierungen versehen, wodurch sie eindeutig als Soziolekt etikettiert werden: «, c'est-à-dire net, convenable.» (15). Desweiteren dient diese H a n d h a b u n g der Erzählerin dazu, auch auf der Beschreibungsebene entsprechend der «Objektivitätsmaxime» die Innensicht der dargestellten Personen quasi figurensprachlich zu vermitteln. D i e écriture plate k a n n als eine geschrieb e n e Sprache bezeichnet werden, die Merkmale der gesprochenen Sprache aufweist, in der die E l e m e n t e des français populaire der Eltern und des français soutenu der Schulbildung der Erzählerin zusammenfließen, so daß in La place der Klassenzwiespalt nicht nur mithilfe der üblichen Beschreibungen, sondern auch durch das Beschreibungssysfem selbst ausgedrückt wird, die écriture plate Zeichen des zwischen den Klassen zerrissenen Ichs ist, die ihm «natürlich über die Lippen kommt» (24), weil diese Zerrissenheit seine Seinsweise geworden ist. 31

30 31

Cf. Elisabeth Gülich: Makrosyntax der Gliederungssignale im gesprochenen Französisch. München, Fink, 1970. Hierzu hat Savean 1994 einen auf den ersten Blick luziden Einwand gemacht, indem sie auf die Stelle in Une femme (p. 73) hinweist, die sich auf das Werk La place bezieht, in der bedeutet wird, daß die Geschichte des Vaters nie anders ausgedrückt werden könnte als mit diesen geäußerten Worten. Allerdings lassen sich meiner Meinung nach die Äußerungen der abstrakten Autorin von Une femme, die sich überdies auf die «Geschichte des Vaters» als Ganzes bezieht, nur mit größtem Bedacht auf die Spracherklärung der abstrakten Autorin in La place übertragen, zumal letztere noch nichts von dem Erfolg wissen konnte, der die Erzählerin von Une femme vielleicht dazu bewogen hat, sich derart zu äußern. Zudem wird aber diese Vermutung durch die Veröffentlichung von La honte zunichte gemacht, welche als eine Modifizierung der Vatergeschichte verstanden werden kann. 177

4 Inhaltsanalyse: Souvenirs du mauvais goût Le déchiffrement de ces détails s'impose à moi maintenant, avec d'autant plus de nécessité que je les ai réfoulés, sûre de leur insignifiance. Seule une mémoire humiliée avait pu me les faire conserver. Je me suis pliée au désir du monde où je vis, qui s'efforce de vous faire oublier les souvenirs du monde d'en bas comme si c'était quelque chose de mauvais goût. (72/73) Die folgende Interpretation überprüft anhand der makrostrukturellen Sinngliederung, wie die abstrakte Autorin ihr Vorhaben, ein Vaterporträt, ein Klassenbild u n d die Klärung der zwischen sie und d e n Vater getretenen Klassendistanz, umgesetzt hat. Im Vergleich zu den Werken Les armoires vides, Ce qu'ils disent ou rien u n d La femme gelée weist La place drei n e u e Dimensionen auf: Neben der E b e n e der Autorinnenreflexionen schafft das Werk f ü r die Überlegungen zur Perspektive der Erzählerin, die auch schon in den Vorgängerwerken vorhanden waren, nun gleichsam eine eigenständige Handlungsebene (die doppelte Ringgeschichte, Punkt 4.1). F e r n e r wird in La place die bislang ausgesparte Lebensgeschichte der Eltern in Bezug auf den Vater erzählt (Punkt 4.2), und die ElternKind-Entfremdungsproblematik nun auch aus der Sicht des Vaters rekonstruiert und nicht, wie es bisher der Fall war, lediglich aus der Sicht der b e t r o f f e n e n Tochter (Punkt 4.3).

4.1 Die erzählende Tochter 3 2 Das erste, womit der Leser von La place konfrontiert wird, ist dennoch bezeichnenderweise die Ich-Erzählerin, die d e m Leser ihre diffizile Situation bezüglich des zu Erzählenden nahebringen möchte. W ä h r e n d die erste Episode (= Verbeamtungslehrprobe) den bürgerlichen Standpunkt der Erzählerin illustriert, bringt die zweite Episode (= erste Todesepisode) die definitive Entfernung zwischen ihr und dem Vater zum Ausdruck. Das zeitliche Z u s a m m e n t r e f f e n d e r beiden Ereignisse unterstreicht den klassenspezifischen Charakter ihrer Entfernung, die ihre Erzählmotivation (Schuldgefühl, Rechtfertigungsbedürfnis), die damit zus a m m e n h ä n g e n d e Erzählperspektive (ein Gegengewicht zur «vision distinguée d u monde» vermittels «objektiver Darstellung objektive Zeichen» geben zu wollen) und Erzählanliegen (Rehabilitierung des väterlichen L e b e n s in d e r bürgerlichen Gesellschaft) begründen. Hierin ist eine intellektuelle und emotionale Fortentwicklung der Erzählerin im Vergleich zu d e n Erzählerinnen von Les armoires vides u n d Ce qu'ils disent

32

Dies sind die vorderen Hälften des äußeren und inneren Rings (= erste und zweite Episode), die sich um die Lebensgeschichte des Vaters legen.

178

ou rien zu sehen, die diese Klassendifferenz vor allem auf der emotionalen Ebene zu verweigern schienen. 4.1.1 Bürgerlicher und schuldbewußter Standort Das schuldthematische Frame des Mottos wird auf der ersten Erzähltextseite auf zweifache Weise fortgeführt. Nicht nur die Zeremonie der Unterrichtsbesprechung, - die als Persiflage der Mechanismen des sozialen Aufstiegs interpretiert werden kann, in der die Hüter der Bourgeoisie die Anwärterin auf ihre Berechtigung zur endgültigen Aufnahme in ihre Klasse prüfen, 33 - sondern auch die Lehrmittelgrundlage dieser Unterrichtsprüfung, ein Auszug aus dem Roman Père Goriot von Balzac, legt nahe, daß sich die Erzählerin als Ebenbild der selbstsüchtigen Töchter Goriots versteht, die einzig ihren Aufstieg in die bessere Gesellschaft im Auge hatten und darüber den Vater elend sterben ließen. Da die anschließende Kurzcharakterisierung des Vaters (Alter, Lebensort und beruflicher Stand) eine solche Klassendistanz bestätigt und die erste Beschreibung des Tochter-Vater-Verhältnisses mit der Ankündigung ihrer definitiven Trennung einsetzt: «C'est fini.» (13), ferner der Tod des Vaters zeitlich mit ihrer Verbeamtung zusammenfällt und sich die letzten den Vater betreffenden Erinnerungen der Erzählerin nur sehr zögerlich eröffnen, wird die Vermutung, daß die Erzählerin ihren sozialen Aufstieg als schuldhaft empfindet, verfestigt. Worin die «Schuld» besteht, die erst eine sechzehnjährige Verdrängung und dann eine explizite Verarbeitung (= Erzähltext) nötig macht, 34 lassen die letzten «Ansichten» der Tochter über den toten Vater erahnen: [...] la figure de mon père est devenue méconnaissable. [...] Ce n'était plus mon père. [...] Même celui-là, je ne le reverrai jamais. (16).

Wenn man das Gewahrwerden des biologischen Zerfallsprozesses als Parabel versteht, muß sich das Vaterbild der Erzählerin auch schon zu seinen Lebzeiten verändert haben und er für sie zu einem fremden Men33

34

Diese Prüfung ist für das Bürgertum von großer Bedeutung, da es sich um eine Schlüsselstelle handelt, die ihr Selbstverständnis, in dem Bildung ein wesentlicher Faktor darstellt, verwaltet und weitergibt (cf. Pierre Bourdieu: Les héritiers: Les étudiants et la culture. Paris, Minuit, 1964. Idem: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris, Minuit, 1982. Idem: Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1981). Cf. Sigmund Freud: Die Verdrängung. 1915. In: GW. Bd 10, S. 248-261. Bezeichnenderweise verweisen weder Erzählerin noch abstrakte Autorin von La place auf die vorherigen literarischen Verarbeitungen dieses Themas, obwohl wenig später die abstrakte Autorin von einem gescheiterten Romanversuch spricht, wie auch die vorangegangenen Werke ihre jeweiligen Vorgänger nicht erwähnen. Auch deshalb ist es möglich, daß der Leser vermutet, der Erinnerungsprozeß sei unmittelbar ausgelöst worden.

179

sehen geworden sein (cf. 4.3.2). Die Gründe für diese Entfremdung lassen sich erneut in einem übertragenen Sinne aus der sich anschließenden Schilderung eruieren. Sie unterscheidet sich nicht inhaltlich von denen der Vorwerke, doch ist ihre Präsentation weniger aggressiv und für außenstehende Bürger nachvollziehbarer. 4.1.2 Der immer schon wertende Blick Wie in Les armoires vides betont die erste Schilderung, die die Erzählerin von ihrem Elternhaus gibt, seine Ärmlichkeit: nicht nur der das Haus erfüllende Leichengeruch, sondern auch die Tatsache, daß die Mutter selbst am Beerdigungstag ihres Gatten im hauseigenen Café arbeiten muß, stehen hierfür. Wer immer nun diese Tatsache als bedauerlich bewertet oder daraus schließt, daß Armut würdevolles Verhalten verhindert, so der Tenor, hat eine bürgerliche Sichtweise, die sich von der Einschätzung und Lebenseinstellung der Armen, die sich zuvörderst nach den Gesetzen des Überlebens richten, kategorisch unterscheidet: Larmes, silence et dignité, tel est le comportement qu'on doit avoir à la mort d'un proche, dans une vision distinguée du monde. Ma mère, comme le voisinage, obéissait à des règles de savoir-vivre où le souci de dignité n'a rien à voir.

(17). Damit macht die Erzählerin auf den Mechanismus des parteiischen Vergleichs aufmerksam, zeigt, daß es keine neutralen Bewertungskategorien gibt und läßt, im Zusammenhang mit der unmittelbar vorausgegangenen Episode, in der ihr die Bürgerlichkeit quasi urkundlich bescheinigt wurde, die Deutung zu, daß auch sie die Unterschicht an den Maßstäben der Mittelschicht relativiert, womöglich eine bürgerliche Wahrnehmung des Vaters schon zu Lebzeiten erfolgte und die Trennung herbeiführte. Tatsächlich macht die Erzählerin eine objektive Darstellung wenige Seiten später expressis verbis zu ihrem erklärten Ziel, zeichnet sich der récit durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität aus, obwohl sie im Grunde nur die jeweilige Perspektive (vision distinguée oder vision du savoirvivre) transparent machen kann, da sie als Aufsteigerin einen dritten, intermediären Klassenstandpunkt einnimmt, der weder der ersten noch der zweiten Sichtweise entspricht. Der Appell des Onkels «» (73), so daß ihm als letzte Verbindung zu seiner Tochter einzig «l'espérance que je serais mieux que lui.» (74) blieb. Durch diese Brücke, so mutmaßt die Erzählerin, habe er eine Art «delegierte» Bestätigung seiner Lebensbestrebungen erhofft, als 57

Cf. Analyse von La Femme gelée, Punkt 2.4.

58

Er ißt nur mit Hilfe seines Taschenmessers, schläft nachts mit dem Hemd, das er tagsüber trägt, wäscht sich ausschließlich in einem Waschbecken.

194

er aufgehört hatte, für seinen eigenen Traum, «avoué une fois, tenir un beau café au coeur de la ville» (74), zu kämpfen. Mitte fünfzig ist in Anbetracht der Anstrengungen und spärlichen Erfolge seine Ambition aufgebraucht, «Que voulez-vous.» (75), obwohl ihn der erreichte Lebensstandard nicht befriedigt: «haine de sa servilité» (75). Sein nach wie vor optimistisches, letztes Lebensmotto: «on ne peut pas être plus heureux qu'on est» (77), berechtigt deshalb, so läßt es der Text verstehen, keinen Außenstehenden zu der Annahme, er hätte trotz alledem ein glückliches Leben gehabt: [...] tout ce qui fait dire au monde qui dirige, domine, écrit dans les journaux, . (77).

Der vorwiegend vaterorientierte Erzählabschnitt von La place endet mit Beschreibung seines Lebensabends als einer sich unendlich wiederholenden Gleichförmigkeit. 4.3 Das Vater-Tochter-Verhältnis 4.3.1 Bruch durch den Aufstieg der Tochter 59 Der dritte Teil der Kerngeschichte konzentriert sich auf die Erlebnisweise der Tochter, die ihrerseits die Probleme des Klassenwechsels (des Bildungsaufstiegs) erfährt, aber als lebendiges Beispiel der Mittelschicht dem Vater entgegentritt. Er ähnelt in seiner ersten Hälfte deutlich den Schilderungen der Vorwerke. Die veränderte Perspektive wird erneut durch eine Photographiebeschreibung zu Beginn des Erzählabschnitts illustriert, die die Ich-Erzählerin als sechszehnjähriges Mädchen zeigt, das sich als Gegensatz zu seinem Vater versteht: «Je sais toutefois paraître à mon avantage» (78) und auf die sinnbildlich nur noch der Schatten des Vaters fällt. 4.3.1.1 Aufstiegsbedingte Ablösung der Tochter 60 Der weitere Textverlauf baut diese Gegensätzlichkeit weiter aus: Im Gegensatz zum Vater arbeitet die Tochter viel und gerne für die Schule, liest «echte» Literatur, in der sie die Sprache ihrer Seele wiederzufinden glaubt, hört «gute» Musik, ist ironisch und lehnt die Ideen und Seinsweisen ihres Milieus ab: «L'univers pour moi s'est retourné.» (79). Das fürsorgliche Verhalten des Vaters ermöglichte der Tochter einen besseren Lebensweg als es ihm durch das Verhalten seiner Eltern vergönnt war, woraus ihm aber tragischerweise eine weitere Form von Abwertung erwächst. Obwohl der Distanzierungsprozeß der Tochter symptomatisch in 59 60

Dritter Teil der Kerngeschichte. Zehnte Episode.

195

die Zeit der Pubertät fällt, die per definitionem die Zeit der Ablösung von den Eltern und der Ich-Findung ist, zeichnet sich ihre Entwicklung: «J'émigre doucement vers le monde petit-bourgeois.» (79) durch eine gleichzeitige Abwertung des Vaters aus: «Mon père est entré dans la catégorie des gens simples ou modestes ou braves gens.» (80). Der soziale Aufstieg der Tochter in eine definitiv andere Klasse läßt ihr Verhältnis fortan von einer absoluten Unvereinbarkeit bestimmt sein. Während die rückblickende Tochter auf der väterlichen Seite Angst und Häme vermutet: «Et toujours la peur ou PEUT-ÊTRE LE DÉSIR que je n'y arrive pas.» (80), sieht sie auf ihrer Seite Überheblichkeit: «Je pensais qu'il ne pouvait plus rien pour moi.» (83) und verteilt die Schuldzuweisung somit ausgewogener im Vergleich zu den Vorgängerwerken. Ihr weiteres Zusammensein ist von völliger Kommunikations- und Verständnislosigkeit geprägt und auf das gemeinsame, aber stumme Einnehmen der Mahlzeiten reduziert; so wie die Tochter jegliches Verständnis für die Seinsweise ihres Herkunftmilieus verloren hat: Je lui faisais des remarques sur sa façon de manger ou de parler. J'aurais eu honte de lui reprocher de ne pas pouvoir m'envoyer en vacances, j'étais sûre qu'il était légitime de vouloir le faire changer de manières. (82)

ist sie dem väterlichen Milieu suspekt geworden: Devant la famille, les clients, de la gêne, presque de la honte que je ne gagne pas encore ma vie à dix-sept ans, [...] Il craignait qu'on ne me prenne pour une paresseuse et lui pour un crâneur [...] Travailler, c'était seulement travailler de ses mains. (81).

Die Bewertung dieser Situation: «Il aurait peut-être préféré avoir une autre fille.» (82), zeigt die neue Erzähldimension von La place; das Leid, das die erzählende Tochter empfindet, ist noch immer das ihrer Vorgängerinnen, doch wird es hier für die väterliche Dimension angedeutet. Dies ermöglicht dem Leser auf eine tiefgreifendere Weise das Leid und das Schuldbewußtsein der Erzählerin nachzuvollziehen, als es die Selbstzerfleischung von Les armoires vides konnte, ohne daß dazu die Schuldthematik ausdrücklich verbalisiert werden mußte. Der Klassenwechsel zerstört die Familie, da er das Lebensgefühl der Betroffenen nachhaltig negativ bestimmt: «J'écris peut-être parce qu'on n'avait plus rien à se dire.» (84). Noch sechzehn Jahre nach dem Tod des Vaters fühlt sich die Erzählerin und abstrakte Autorin verpflichtet, dem Vater jene Ehre zu erweisen, die sie ihm seit ihrer Pubertät verweigert hatte. Während der pubertäre Elternhaß ein natürliches Symptom der entwicklungspsychologischen Ablösung bezeichnet, 61 wird er bei jugend61

Daß derlei elternhassende Phantasien entwicklungspsychologisch bedingt sind und sich unabhängig von einer innerfamiliären Klassendistanz einstellen, zeigt das folgende Zitat: «Gleich den meisten Pubertierenden wünschte auch ich mir andere Eltern als ich hatte, um mich von ihnen lösen zu können. Ich wünschte mir proletarische Eltern.» (Thomas Mitscherlich in: Väter unser, 1988, p. 153). Wissenschaftlich gestützt wird dies durch die Überlegungen von Siegmund

196

liehen Aufsteigern von der klassenspezifischen Fortentwicklung überlagert (cf. die diesbezüglich sehr ausführlichen Schilderungen von Les armoires vides), deren Auseinanderhalten erst der erwachsenen Erzählerin auf einer abstrakten Ebene gelingt. Dies macht die neue Dimension der Erzählerin von La place aus. Dennoch kann auch die nachträgliche Ursachenklärung das Schuldgefühl nicht aufheben, die Klassenwechslerin leidet selbst nach Abschluß ihres entwicklungsbedingten Ablösungsprozesses am klassenspezifischen Zwiespalt. D a sich weder die Klassendifferenz noch die daraus resultierende Beziehungsstörung noch das hieraus entspringende Schuldbewußtsein verlieren, kann sich auch im Erwachsenenalter kein neues, «klassenfreies» Eltern-Kind-Verhältnis einstellen. Dies verdeutlichen die nachfolgenden Episoden, die zeitlich und inhaltlich über die Vorgängerwerke hinausweisen. 4.3.1.2 Gegensätzliche Entwicklungen. 62 Die Familie als Opfer des «Klassenkampfs» Der völligen Entfremdung von Tochter und Eltern, die mit der räumlichen Entfernung der Tochter (Studium) offenkundig wird, versuchen beide passiv durch Verklärung (89) und aktiv durch Briefkontakt in einer geradezu symbolhaften Kompromißsprache 63 (cf. écriture plate, 3.2.4) entgegenzuwirken. Dessen ungeachtet, so zeigen es die Schilderungen auf Freud in seinem Aufsatz Der Familienroman der Neurotiker von 1909 (in: GW, Bd. 7, p. 227-231). Demnach ist die Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern eine der notwendigsten und zugleich schmerzlichsten Leistungen, da für das Kind die Eltern lange Zeit die einzige Autorität und Quelle allen Glaubens darstellten und erst mit seiner zunehmenden intellektuellen Entwicklung, durch den Vergleich mit anderen Eltern, die ihnen vom Kind «zugeschriebene Unvergleichlichkeit und Einzigkeit» (228) verlieren. In dieser Situation würden dann Ereignisse, die beim Kind Unzufriedenheit auslösten, zum Anlaß genommen, mit der Kritik an den Eltern einzusetzen. Dabei werde die gewonnene Kenntnis, daß andere Eltern in mancher Hinsicht vorzuziehen seien, gegen die eigenen Eltern eingesetzt. Das Kind tröste sich dann oftmals mit der Geschichte, nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein, die es in der Regel durch sozial Höherstehende ersetzt (229). Diese Gemütsregungen seien aber keineswegs Anzeichen von «Treulosigkeit oder Undankbarkeit» (231), sondern «nur der Ausdruck der Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ist. Er wendet sich vom Vater, den er jetzt erkennt, zurück zu dem, an den er in früheren Kinderjahren geglaubt hat, und die Phantasie ist eigentlich nur der Ausdruck des Bedauerns, daß diese glückliche Zeit entschwunden ist.» (321) 62 63

Elfte Episode. Während die Mutter nicht geübt war, sich schriftlich auszudrücken, wählte die Erzählerin eine ihr fremde Sprache: «Je leur répondais aussi dans le ton du constat. Ils auraient ressenti toute recherche de style comme une manière de les tenir à distance.» (89, 90). 197

anklagende Weise, entwickeln sie sich diametral auseinander: Während die Tochter sich persönlich entfaltet (Studium und Auslandsaufenthalt) und scheinbar mühelos aufsteigt, 64 resigniert der alternde Vater über seine gesellschaftliche Position und verlegt seine letzte Hoffnung auf den Lebensabend: «profiter un peu de l'existence» (90), während sie am Puls der Zeit lebt, imitiert er Zeiterscheinungen, als sie schon wieder aus der Mode kommen: Mon père avait enfin sa façade en crépi blanc, ses rampes de néon, déjà les cafetiers qui avaient du flair revenaient au colombage normand [...] (84),

glauben die Eltern endlich, «un dépit de boissons convenable» (85) zu führen, als sich der Stadtteil zu proletarisieren beginnt. Schließlich annuliert die Zeit die Aufstiegsleistungen des Vaters, so daß er mit 65 Jahren gar an den Verkauf des commerce denkt. Die gegenseitige Toleranz, die Eltern und Tochter trotz ihrer Unterschiedlichkeit zu wahren suchen, wird jedoch von den jeweiligen Schichtmitgliedern unterlaufen, so daß sich Eltern und Tochter gezwungen fühlen, die Lebensweisen des anderen im eigenen Milieu zu verteidigen. Während das elterliche Milieu nicht die Chance sieht, die in der Bildung liegt, da selbige nicht mit ihrem Arbeits- und Leidensbegriff übereinstimmt: «Toujours cerné par l'envie et la jalousie, cela peut être de plus clair dans sa condition.» (92), verachtet das bürgerliche Milieu die Menschen der Unterschicht in toto, wie der Text auf bedrückende Weise darlegt, wenn das Zusammentreffen der studentischen Freundinnen, «sans préjugés qui affirmaient (93).

Obwohl die Tochter um die Herzensgüte ihres Vaters weiß, kommt sie nicht umhin, sich aufgrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten und ihrer individuellen Verflechtung des Vaters ob seines Unterschichtsverhaltens zu schämen, wie der direkte Anschluß des väterlichen Satzes belegt: «Un jour avec un regard fier: .» (13), sondern versöhnlich wahrgenommen: «[...], elle a dit doucement: , brutale, inflexible. (84)

Daß tatsächlich im sexuellen Bereich der Schlüssel zur Interpretation ihrer Beziehung liegt, zeigen im Einklang mit den beiden Frühwerken und Une femme die wenigen Stellen in «Je ne suis...», die das Bild der «bösen Mutter» evozieren. Neben der mütterlichen Lebensphilosophie «il faut faire son devoir dans la vie» (82) und ihrer Gewalttätigkeit (44) ist es ihre Sexualauffassung: «[...] le sexe était le mal absolu. La réalité?» (82, cf. auch 46), die die schreibende Tochter einen gereizten Tonfall anschlagen lassen. Ferner stehen auffälligerweise alle sexuellen Äußerungen in Bezug zur Mutter und werden in einem abstoßenden Kontext erwähnt: Souvenir d'elle [...], gestes impudiques, cette étrange promiscuité de femmes qu'elle m'imposait dans mon enfance, qui m'a fait horreur plus tard. (84/85) und: Je vais aux toilettes, le sol est plein d'urine, collant. Rapprochement obligatoire avec la scène du matin, chez A. Je ne sais rien de sa sexualité à elle. (86/87).

252

Deshalb können die enttabuisierenden Evokationen (Fäkalien, Blut, Urin) neben einer Rückwendung (zur Beschreibungsweise der ersten Werke) auch als eine Art Kompensationsmechanismus interpretiert werden, vermittels dem die durch die Mutter sexuell gehemmte Tochter eine von ihr unzensierbare Möglichkeit wahrnimmt, «Verbotenes» zu tun bzw. sich von ihrer manipulierten Phantasie zu befreien, zumal auch ihre Sexualität durch den Verfall der Mutter wiedererweckt wurde: C'est par cela, la maladie de ma mère, puis la rencontre de A., que j'ai renoué avec l'humanité, la chair, la douleur. (49) und: J'ai besoin d'érotisme à cause du corps de ma mère, de sa vie. (58).

Die neue Problemlosigkeit des ehemals so konfliktären Bereich der innerfamiliären Klassendifferenz25 und ihre vergleichsweise unproblematische Akzeptanz der mütterlichen Krankheit unterstützen die These, daß die dunkle Seite ihres Verhältnisses im Bereich der Sexualität als konkrete und symbolische Abwendung des Kindes von der Mutter zu suchen sind (cf. 6.2). 6.2 Mutter-Tochter-Verhältnis: Fesseln der Liebe 26 [...] elle se penche et elle m'embrasse les cheveux. Survivre à ce geste, cet amour, ma mère, ma mère. (97)

Die komplementäre Darstellungsweise von Mutter- und Selbstbild, welche den Vater völlig ausspart,27 zeigt das ungleichgewichtige Verhältnis einer mächtigen, lebensspendenden Mutter und einer schuldbewußt empfangenden Tochter, das trotzdem auf gegenseitiger Abhängigkeit basiert. Denn neben der offensichtlichen Identifikation der Tochter mit der Mutter: Je suis . (23) und: Impression terrible de dédoublement, je suis moi et eile. (23) und: De l'identification. (36) und: Mon sexe est blanc et j'ai l'impression que c'est aussi le sexe de ma mère, le même. Oser creuser cela. (54).28 25

26

27

28

Exakt wie in Une femme nimmt auch die schreibende Tochter von «Je ne suis ...» die eigene schichtspezifische Zerrissenheit nicht mehr wahr: «La peur des pauvres que j'ai oubliée.» (24), so daß sie das schichttypische Selbstverständnis der Mutter - bis auf ihren bekannten Haß auf die Mittelschichtsfrauen als Gegenteil zur Mutter (80) - unbeteiligt beschreiben kann als lebenslanges Ringen um Respekt (46) und Würde (76), welches sie selbst in ihrer Demenz nicht losläßt: «employée dans une ferme» (19), «Les hantises de toute sa vie.» (23), «Elle revit toujours ses peurs. L'aliénation ne l'a jamais quittée [...].» (36), «Ses obsessions: le travail, l'alcool (refoulé), les choses horribles, drames, etc.» (76). In Anlehnung an den Titel Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht von Jessica Benjamin. Frankfurt, Fischer, 1993. Der Vater wird insgesamt nur viermal, sehr beiläufig erwähnt: «[...] mais elle ne parle jamais de mon père.» (50), im Zusammenhang mit der scène terrible (56), als Bewunderer seiner Tochter als Preisträgerin des Prix Renaudot (51) und als Symbolisierung des Todes (62). Cf. Traumbeschreibung von Une femme, p. 104.

253

wird auch die Identifikation der Mutter mit der Tochter deutlich: [...] elle me dit: (82) und: L'infirmière m'a dit qu'elle parlait toujours de moi, seulement de moi. Culpabilité. Je remarque aussi qu'elle se prend souvent pour moi. (42).

Dies legt die Vermutung nahe, daß die Mutter aus egoistischen Gründen die Abhängigkeit der Tochter anlegte und aufrechterhielt, zumal die Autorin im Anschluß an diese Überlegung offenbart, sich als Variabel «Kind» instrumentalisiert zu fühlen: «Je suis née parce que ma soeur est morte, je l'ai remplacée. Je n'ai donc pas de moi.» (42). Obgleich diese Zusammenhänge schon in Les armoires vides, aber vor allem in Ce qu'ils disent ou rien erörtert werden, wo dies als Problem des mangelnden, in den sozialen Unterschieden gründenden Selbstwertgefühls der Mutter anklang, welches sich als Delegation ihres Aufstiegswunsches an die Tochter äußerte, 29 scheinen sie unter Einfluß der zunehmenden Glorifizierung der Mutter in den darauffolgenden Werken verblaßt zu sein. Deshalb kann das Ich von «Je ne suis ...» verwundert über die als neu erlebte Erkenntnis reagieren (64). Ihre Beziehung basiert offensichtlich auf einer entwicklungspsychologisch nicht erfolgten Ablösung 30 der Tochter, da sie diese als konträr zu den mütterlichen Bedürfnissen erlebt haben muß. Hierdurch muß es zu einer Aufspaltung in ein gutes Ich (konform mit den mütterlichen Ansprüchen) und ein böses Ich (Wunsch nach Selbständigkeit) gekommen sein, wobei letzteres durch permanente Schuldgefühle unterdrückt wurde: «» (76). Ihr Verbot, unglücklich zu sein: 33 « (26), brachte die Tochter dazu, Unzufriedenheit und Abweichung von den mütterlichen Vorstellungen als verwerflich zu empfinden: «» (55), weil sie damit das Lebensziel «glückliches Kind» der Mutter zerstört hätte. 34 Aufgrund der völlig verschiedenen Lebensumstände von Mutter und Tochter (Wirtschaftskrise der 20er und 30er Jahre und Zweiter Weltkrieg mütterlicherseits, Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung auf seiten der Tochter) führen die mütterlichen Lebensvorstellungen die Tochter unvermeidlich in einen Zwiespalt. Die auch zeitgeschichtlich begründete Aufopferung der Mutter, für die sie eine äquivalente Gegenleistung erwartete: J'ai envie de pleurer en voyant cette demande d'amour qu'elle a envers moi, qui ne sera jamais plus satisfaite (je l'ai tant aimée dans mon enfance). (32),

kann die Tochter per definitionem nicht erfüllen (cf. 32, 83, 92), so daß sie ihre Liebe zur Mutter zwangsläufig defizitär einschätzt (97) und ihre Versuche, sich rational von den Schuldgefühlen zu befreien, wie in Une femme scheitern müssen: «Mais la garder avec moi était cesser de vivre. Elle ou moi.» (45). Da zudem die Mutter auch während ihrer Krankheitsphase immer wieder den Wunsch äußert, bei ihr leben zu wollen (69, 92), sie in Anwesenheit der Tochter sichtbar auflebt (63), Besuche ihr als Beleg für Liebe und Achtung gelten (67), die Tochter aber nur durchschnittlich dreimal im Monat kommt, kann sich das schreibende Ich von den immer wieder aufkeimenden Schuldgefühlen nicht befreien: 32

33

34

Sie vergleicht ihre beiden großen Lieben, zu A. (1984) und Claude (1958, Sées), mit der Liebe zur Mutter (107), obwohl die sonntäglichen Mittagsschläfchen, die in jedem Werk als Zeichen ihrer Verbundenheit erwähnt werden, zuvor in Frage gestellt wurden (26), so daß dieser Widerspruch einmal mehr Anlaß gibt, eine Glorifizierungstendenz der Tochter zu vermuten. Das wird auch in Ce qu'ils disent ou rien illustriert und in Une femme angedeutet. Alice Miller: Das verbannte Wissen. Frankfurt, Suhrkamp, 1988. Cf. synoptischer Vergleich von Les armoires vides und Ce qu'ils disent ou rien.

255

Jamais je n'ai éprouvé autant de culpabilité, il me semblait que c'était moi qui l'avais conduite dans cet état. (61) und: Mais je ne l'ai pas assez secourue, elle a traversé seule. (73) und: J'ai besoin aussi qu'elle soit vivante. (52) und: J'ai eu tout ce temps pour me réconcilier avec elle mais je n'en ai pas fait assez. (98).

Um der Last der Schuldgefühle zu entgehen, drückt das Ich sie stellenweise negativ in Form von Haß oder positiv in Form von Identifikationsgedanken aus, wobei es die negative Variante nur auf eine symbolische (unbewußte) Weise zu äußern vermag. So lassen sich zum Beispiel seine Überlegungen, die Kleider der Mutter schon zu ihren Lebzeiten verkaufen oder verschenken zu können, als eine metaphorische Ausweisung der Mutter aus seinem Leben lesen, um sich nicht selbst zu verlieren, wie es die Verkleidung mit der mütterlichen Garderobe nahelegt (74). Ähnlich verhält es sich mit den Überlegungen zur Abtreibung, die in diesem Zusammenhang die Ablehnung eines Mutter-Tochter-Verhältnisses ausdrükken: «La haine et l'amour. Je n'ai jamais pu lui dire mon avortement.» (103). Der Wunsch der Autorin, darin keine Abgrenzung zu sehen: «Mais cela n'a plus d'importance.» (103) wird mehrfach konterkariert: durch die dreifache Wiederholung der Abtreibung (20,102,103), die Beschäftigung mit der Frage, ob der Kinderwunsch ein Todeswunsch sei (52) und durch die Deutung der Geburt als Bild mütterlichen Opferns, während das mütterliche Geben gleichzeitig als ängstlicher Wunsch, geliebt zu werden, interpretiert wird. Doch bleiben diese Abgrenzungsversuche wie schon in der Jugendzeit rein symbolischer Natur, da die Tochter weder die Kleider der Mutter verkauft (60, 77) noch ihrer Mutter von der Abtreibung Mitteilung macht. Angesichts des Todes und der Unlösbarkeit ihrer Abhängigkeitsstruktur wählt sie (wie in Une femme) den Weg der positiven Umdeutung, um ihre Selbstaufgabe vor sich selbst zu verschleiern, indem sie die Mutter wahrhaftig zur Demeterfigur erhebt: «Elle est le temps, pour moi. Elle me pousse aussi vers la mort.» (74), welche göttinnengleich Anfang und Ende ihres Lebens setzt: «Entre ma vie et ma mort je n'ai plus qu'elle en démente.» (89), die schlechterdings das Leben symbolisiert: «Elle était la vie.» (99). Die Verhaftung in der kindlichen Tochterrolle: «Impression que rien ne s'est passé depuis ma petite enfance, [...].» (90) offenbart sich ferner in ihren Ehrerweisungen an die Mutter (70, 91/ 92!) und in ihrer Angst vor Selbständigkeit, wenn sie die Entblößung 35 des mütterlichen Geschlechts betrauert (20, 30 und 98, 99). Dies ist auch textlich die letzte Beschreibung der lebendigen Mutter. Schließlich kehrt

35

Cf. Analyse von Une femme, Punkt 4.3.4. Ihre Deutung der Entblößung als Verlust der Scham und somit der Menschenwürde (20) erinnert zudem an die Geburtsschilderung aus La femme gelée und ihr eigenes Romanschaffen als zunehmende Entblößung.

256

die Mutter entsprechend dem Wunsch der Tochter «tatsächlich» in ihr Leben zurück:36 Souvent, je rêve d'elle, telle qu'elle était avant sa maladie. Elle est vivante mais elle a été morte. Quand je me réveille, pendant une minute, je suis sûre qu'elle vit réellement sous cette double forme, morte et vivante à la fois, comme ces personnages de la mythologie grecque qui ont franchi deux fois le fleuve des morts. (14, Stellungnahme der Autorin von 1997)

Dieses Bild unterstützt zusammen mit ihrer Selbstcharakterisierung «Je suis dans la disjonction» (106, 107),37 ihres Abhängigkeitsverhältnisses und der Sexualität als eine ihr Verhältnis belastende Komponente die Interpretation ihrer Beziehung als eine moderne Demeter-Persephone Darstellung. Nicht die Mutter, sondern die Tochter ist noch immer nicht der Nacht ihrer Abhängigkeit entstiegen.

7 Der andere Literaturbegriff: Schreiben über die Mutter als Selbstzweck «Je ne suis ...» weist das literarische Schaffen der Autorin als Zeugnis ihrer Abhängigkeit von der Mutter aus, als ein Mittel, um in der Welt der Mutter leben (92), in ihre Rolle schlüpfen, mit ihr verschmelzen zu können: «pour retenir la vie» (104). Ihr Tod hat die Bedenken der Autorin, ein Werk über die Mutter zu schreiben,38 aufgelöst: Je me demande si je pourrais faire un livre sur elle comme La place. Il n'y avait pas de réelle distance entre nous. D e l'identification. (35/36).

Wie schon in Une femme oder in La place in Bezug auf den Vater soll ihre Literatur eine Art Wiedergutmachungsgeschenk für die Mutter darstellen: Elle aimait donner, plus que recevoir. [...] Est-ce qu'écrire, et ce que j'écris, n'est pas une façon de donner. (78/79).

Da jedoch bezweifelt werden darf, daß die Mutter die ihr gewidmeten Werke Une femme und «Je ne suis ...» positiv aufgenommen hätte, sie überdies posthum veröffentlicht wurden, bringt gerade diese ausdrückliche Mutterbezogenheit den egozentrischen Charakter der Ernauxschen Schriften erneut ans Licht:

36 37 38

Wie in Une femme als «ombre blanche» (89). Dieses wird in Une femme verallgemeinert und ausgebreitet. Mutter und Schreiben sind eindeutig miteinander verknüpft; lähmt der Tod anfänglich Lesen und Schreiben, will die Tochter bald darauf ihre Trauer im Schreiben ermüden (99), obwohl sie sich kein Buch über die Mutter vorstellen kann (100) und bereut, schon vor ihrem Tod in Le Figaro über sie geschrieben zu haben, als ob alle Vorgängerwerke dies nicht getan hätten!

257

J'ai partout cherché l'amour de ma mère dans le monde. Ce n'est pas de la littérature ce que j'écris. Je vois la différence avec les livres que j'ai faits, ou plutôt non, car je ne sais pas en faire qui ne soient pas cela, ce désir de sauver, de comprendre, mais sauver d'abord. (103)

Obwohl die Autorin am Ende von «Je ne suis ...» ihre ursprünglichen Gedanken über die Schrift (75) als Suche nach einer befreienden Erkenntnis wieder aufnimmt: Dans l'état où je suis, je pourrais encore, je le sens. (103) und: Attendre de m'être évadée de ces jours. Mais ce sont eux la vérité, bien que je ne sache pas laquelle. (104),

wird weder in Une femme noch in La honte eine derartige «Wahrheit» offenbar (mit Ausnahme der Erkenntnis ihres zwiespältigen und ungelösten Mutterbilds), so daß sich erneut die Vermutung aufdrängt, es könnte der Autorin weniger um die Entdeckung einer «Wahrheit» als vielmehr um die Beschäftigung mit der Mutter als solche gehen. 39 Denn warum sonst sollte sie sich die per se unlösbare Aufgabe stellen, den Widerspruch von Leben und Tod durch die Schrift aufzuheben, wenn nicht, um sich durch das vorsehbare Scheitern dieses Vorhabens die Mutter als Muse weiterhin zu sichern. Schreiben über die Mutter als Lebenszweck, Lebenssinn. Auf diese Weise kann die Autorin dann der Mutter jene Ehre erweisen, die sie so sehr anstrebt, wenn, neben den Auslassungen relativierender Beschreibungen, die Mutter für die Zeit der Lektüre auch in den Mittelpunkt des Leserlebens rückt.

39

Denn sie verwirft die Lektüre des Krankenhaus-Tagebuchs (103, 104, 106) ebenso wie die Fortführung ihres bereits begonnenen Buchprojekts und sucht diese Wahrheit in einem neuen Schreibbeginn (Une femme).

258

La honte. Die programmatische Selbstzerstörung

1 Synoptische Werkeinleitung «Mon père a voulu tuer ma mère un dimanche de juin, au début de l'après-midi.» (13), so romanesk und vielversprechend beginnt das vorerst letzte Werk der Autorin, um dann mit längst bekannten Beschreibungen der familiären Situation, der école libre, dem Leiden an den sozialen Differenzen und einer Reihe von zugleich offensichtlichen und widersprüchlichen Aussagen über Erzählmotivation und Erzählabsicht zu enttäuschen. Schließlich sind auch hier die wichtigen Größen des Ernauxschen Schreibens vereint: Neben der Thematik der Klassenbarrieren treten die Komponenten honte, 1 Sexualität und die Fragen nach Erinnerungsfähigkeit und Schreibmotivation erneut in Erscheinung. Wie schon in den Vorwerken versucht das schreibende Ich, sich im Vergangenen zu finden, wie dort findet es nur ein negatives Erbe, wird der Text zum Ausdruck ihres Lebensgrunds, zum Angriff auf die Schule und sich selbst. Wie «Je ne suis ...», deren gemeinsame Veröffentlichung nicht ohne Bedeutung zu sein scheint, enthält auch La honte (1997) eine offizielle und eine unterschwellige Botschaft. Was mit der Veröffentlichung von «Je ne suis ...» begonnen wurde, setzt La honte inhaltlich fort, steigert es noch: Die Autorin von La honte «beschreibt» nicht mehr nur die selbstzerstörerischen Gefühle und Gedanken des erzählten Ichs, sondern setzt sie geradewegs in die Tat um; La honte ist das zweite programmatische Werk der Autorin, das einer Selbstzerstörung. Neben der ausbleibenden Umsetzung seiner expliziten, konzeptuellen Erläuterung, wirkt La honte auch aufgrund der Tatsache unglaubwürdig, daß seit Une femme das Problem des Klassenwechsels bei Annie Ernaux als überwunden gelten konnte, nun aber erneut in voller Breite erörtert wird, so wie schon Une femme die MutterTochter-Problematik erschöpfend bearbeitet zu haben schien und «Je ne suis ...» seine Aussage noch weiter treiben konnte. Doch so schemenhaft die mütterliche Ikone durch den in La honte wiederauferstandenen Vater 2 bedroht wird, so leblos und unwirklich erscheint das Werk insgesamt, als würde es einzig durch die Idee der honte zusammengehalten. Wie im Erstlingswerk Les armoires vides wird in La honte die Frage nach der

1

2

Da das französische «honte» die deutschen Lexeme «Schmach», «Schande» und «Scham» beinhaltet, wird der französiche Begriff verwendet. Über den Vater könne nie anderes berichtet werden, als das, was La place ausdrückte, so äußerte sich noch die abstrakte Autorin von Une femme (73).

259

Entstehung der honte gestellt und wie dort mit der sozialen Differenz in Zusammenhang gebracht. War die honte als Lebensgefühl auch in allen anderen Werken präsent, wird sie hier nun programmatisch zum Lebensund Schreibgrund erhoben, der auch die Zukunft bestimmen wird, La honte zeigt die Unauslöschlichkeit der Demütigung. 3

2 Fiktion - Diktion: Rückkehr zur Verschlüsselung und Fiktion Auffällig ist, daß La honte die Identität seines Ichs nicht eindeutig preisgibt, obwohl es zusammen mit dem autobiographischsten und intertextuellsten Werk «Je ne suis ...» herausgegeben wird. Dieser sichtbare Antagonismus verweist zusammen mit den folgenden Ambiguitäten des Textes auf eine inhaltlich bedingte Zurücknahme des autobiographischen Charakters (cf. 4). Zunächst kann das erzählende Ich schon auf der vierten Seite des Erzähltextes, nach der Schilderung der «Szene» (= der Tötungsversuch des Vaters), als das schreibende Ich identifiziert werden: «J'écris la scène pour la première fois.» (16), welches sich zugleich als das «schriftstellerische» Ich zu erkennen gibt: Jusqu'à aujourd'hui il me semblait impossible de le faire, même dans un journal intime. (16) oder: [...] je suis en train de commencer un livre [...]. (30).

Seine Gegenwart sind die Jahre 1995 und 1996 (Anspielung auf einen text-in-progress); es stellt sich selbst im Jahre 19524 dar: «Je suis Annie D.» (42), womit es mit den biographischen Daten Annie Ernaux' übereinstimmt. 5 Dennoch ist es kein erzähltes Ich im engeren Sinne, so wie auch La honte keine Geschichte im eigentlichen Sinne ist (cf. 3). Schon hier nämlich kollidiert die Frage nach der Identität des Ichs mit der Frage nach der Gattungszugehörigkeit von La honte und seiner Aussageabsicht, da das schreibende Ich seine Erinnerungsfähigkeit und die darin liegende identitätskonstituierende Kraft mehrfach in Zweifel zieht (cf. 4.5): Certitude que . (25) und: Mais la femme que je suis en 95 est incapable de se replacer dans la fille de 52 [...]. (37) und: Il n'y a pas de vraie mémoire de soi. (37).

Das heißt, obwohl die Namensnennung zusammen mit den unzähligen Parallelen zu den übrigen Familienromanen auf Annie Duchesne als er3

4 5

Das literarische Schaffen der abstrakten Autorin scheint offenbar nicht wie zum Beispiel dasjenige von Niki de Saint Phalle die Kraft zu haben, die zerstörerische Lebensschande zu besiegen. Will man diesen Umstand auf die reale Autorin beziehen, könnte man ihn in Zusammenhang mit ihrer im Interview gemachten Äußerung setzen, daß ihre Literatur sie nicht verändert. Die erste Nennung erfolgt auf der dritten Seite der Erzählung, p. 15. 1952 = 12 Jahre alt; 1995-95 = 5 5 - 5 6 Jahre alt.

260

zähltes Ich und Annie Ernaux als schreibendes Ich hinweisen, irritieren meines Erachtens bewußt eine Reihe von Aussagen diese Annahme, weshalb bei La honte erneut lediglich von einer abstrakten Autorin und einem erzählten Ich namens Annie D. ausgegangen werden kann. Den ersten Zweifel weckt sogleich die Unglaubwürdigkeit der «Szene» im intertextuellen, gesamtwerklichen Zusammenhang, welcher durch die Textteile 2 und 3 deutlich evoziert wird (cf. 3.1, 3.2 und 4.2). Die zweideutigen Aussagen der abstrakten Autorin, die die «Szene» abschließen, unterstützen diese Fragwürdigkeit: Je n'ai retenu, en fait, que l'atmosphère, [...]. Je n'ai aucun souvenir précis [...]. (17) und: [...] les mots que j'ai employés pour la décrire me paraissent étrangers, presque incongrus. Elle est devenue une scène pour les autres. (17) oder: Je retrouvais partout la scène d'un drame, qui n'avait pas eu lieu. (20).

Zweitens gehen die Angaben von La honte zwar größtenteils mit den Vorgängerwerken konform (so zum Beispiel der Tod des Vaters im Juni 1967, p. 20), doch unterlaufen auch einige Angaben den bisherigen intertextuellen Konsens (beispielsweise die Zerstörung der Brille durch die Mutter, siehe Analyse von «Je ne suis ...» Punkt 4.2 und La honte Punkt 4.1 Fußnote 18). Verwirrend ist drittens, daß diese Zusatzinformationen hinsichtlich des inhaltlichen Geschehens unnötig, gar aufgesetzt wirken und sie in keinem vorherigen Werk erwähnt wurden, obwohl ihre Wichtigkeit ausdrücklich betont wird. 6 Viertens verwundert die außergewöhnliche Erinnerungsgenauigkeit an die Ereignisse im Sommer 1952, die sich im zwölften Lebensjahr des schreibenden Ichs zugetragen haben sollen, besonders im Hinblick auf die dazu im Widerspruch stehende Behauptung des schreibenden Ichs, sich nicht in die damalige Zeit zurückversetzen zu können, während es ferner gekünstelt unglaubwürdige Detailgenauigkeiten rechtfertigt (117), aber Datenfixiertheit zuvor noch als romanesk (25) bezeichnet hat. Ähnlich ambivalent gestaltet sich fünftens die Verschlüsselung der Ortsangabe Y. (erste Nennung p. 33), die das Ich erst zehn Seiten später damit erklärt, daß es seine Herkunft «namenlos» sieht (43), aber dann sechs Seiten genauester Stadtbeschreibung folgen (4348), die eine Identifikation eindeutig möglich machen. Ebenso irritierend verhalten sich eine Reihe von Bemerkungen, in denen das schreibende Ich einen geradezu wortzauberischen Glauben offenbart, wenn es von einer an den Namen gebundenen Identifizierung spricht, «Des zones sombres, où toute identification est impossible parce que j'ai perdu les noms.» (92), dabei ehemalige Schulkameradinnen benennt (Brigitte, Françoise, Denise), deren Name sich mit Ich-Erzählerinnen oder deren Schulkameradinnen aus den Vorwerken decken, überdies kontextlos den 6

Zum Beispiel behauptet die abstrakte Autorin bei der Verfertigung eines früheren Werks über den Vater unentwegt an die in La honte zum ersten Mal beschriebene gemeinsame Reise nach Lourdes gedacht zu haben (126).

261

Namen Françoise Renout oder Renault (98) erwähnt, der ein phonetisches Anagramm von Ernaux darstellt 7 und gleichzeitig darauf hinweist, gerne Namen erfunden zu haben (99/100). Dies zusammengenommen mit der Überlegung der abstrakten Autorin: «Est-ce que le réel est alors le possible?» (106) legt deutlich nahe, daß der Text eine hundertprozentige Garantie für die Authentizität der Schilderungen ablehnt, um gleichermaßen die Spur eines autobiographischen wie die eines romanesken 8 Pakts zu legen. Die Gründe hierfür liegen in der inhaltlichen Aussage von La honte begründet.

3 Linguistische Textanalyse: Essai mit vorgetäuschter Erzählstruktur 3.1 Makrostruktur Der Text unterteilt sich wie alle früheren Texte der Autorin durch eine unterschiedliche Anzahl von Leerzeilen, die mehr oder minder zusammenhängende thematische Einheiten bilden. Die Berücksichtigung der beiden höchsten Gliederungsebenen - die von mir als «Teile» bezeichneten Erzählabschnitte, die sich durch den Beginn auf einer neuen Seite auszeichnen, und die von drei Leerzeilen umrahmten Textabschnitte, die ich «Kapitel» nenne, - reichen aus, um den Text strukturell zu erfassen. Denn die untergeordneten Textsequenzen, die sich durch eine oder zwei Leerzeilen voneinander absetzen, sind einerseits thematisch zu detailliert und ihre Abfolge andererseits so klar, daß sie ohne weiteren strukturellen Nutzen sind und deshalb der Bauplan lediglich die beiden höchsten Gliederungsebenen wiedergibt. Diskursanalytisch gesprochen unterteilt sich La honte zudem in drei Erzählformen, die den Text ihrerseits untergliedern: Erstens in die als «Geschichte» zu bezeichnenden Erzählabschnitte, die von der «Szene» handeln (Teile 1 und 4), zweitens in Abschnitte, die als «Bericht» kategorisiert werden können (Teil 2 und 3) und drittens in die sogenannten Autorinnenreflexionen. Die Ähnlichkeit zu den früheren Konstruktionen aus Binnen- und Rahmengeschichte ist sicherlich kein Zufall. Der «Berichtteil» grenzt sich inhaltlich (allgemeine Beschreibung der Lebensweise), formal (im von der abstrakten Autorin so benannten «autoethnologischen» Stil verfaßt, p. 38) und durch eine «definitorische Umrahmung» vom übrigen Textgefüge ab: 7

8

Dies liegt aufgrund der zweifachen Wiederholung des Namens nahe, da [r]-[e]-[n]-[o] durch die Umstellung der ersten beiden Laute [r] und [e] = [e]-[r]-[n]-[o] ergibt. Dies war nicht bewußt intendiert, wie die Autorin im Interview sagte. Der romaneske Pakt wird hier wesentlich deutlicher als bei La place und Une femme angedeutet.

262

Ce faisant, je vise peut-être à dissoudre la scène indicible de mes douze ans dans la généralité des lois et du langage. (38) und: J'ai mis au jour les codes et les règles des cercles où j'étais enfermée.. J'ai répertorié les langages qui me traversaient [...]. (108).

Ferner unterstreichen Ausdrucksweisen wie «Je reconstruirai» (71), «énoncer et décrire» (97), «En déplayant» (90), «J'inventorie» (95), die durch Kursivschrift oder Anführungszeichen hervorgehobene Sprache der Herkunft oder inhaltliche Auflistungen (75), die teilweise visuell dargestellt werden, indem jeder Stichpunkt numeriert (49), durch eine eigene Zeile (59) oder durch einen separaten Absatz ohne Satzabschlußzeichen wiedergegeben wird (cf. 56, 57, 68, 103), den dokumentarischen Charakter dieser Textteile. Die «Autorinnenkommentare» sind unsystematisch gekennzeichnet und beschäftigen sich entweder mit Schreibvorgang, Schreibziel und Schreibmotivation oder stellen das jeweilige Reflexionsergebnis der Autorin zu den vorausgegangenen Textabschnitten dar. Sie sind einerseits durch Klammer ausgewiesen, 9 aber nicht alle umklammerten Textteile sind Autorinnenreflexionen (75), - in der Mehrheit handelt es sich um simple Erläuterungen der vorangegangenen Gedanken, - und nicht alle Autorinnenreflexionen sind in Klammern gesetzt. 10 Ebenso werden die Klammer-Autorinnenreflexionen nur teilweise durch einen separaten Absatz vom Fließtext abgesetzt (25), finden sich auf den Seiten 90 und 91 zwei Klammerabsätze hintereinander geschaltet, können innerhalb einer Klammer weitere Klammern auftauchen (91/92, 99/100, 103/104), erstreckt sich der Klammertext gar über mehrere durch Leerzeilen voneinander abgesetzte Absätze. Diese mehrdeutige Verwendungsweise der Klammern und die Tatsache, daß die Notwendigkeit der meisten Autorinnenreflexionen überhaupt als strittig bezeichnet werden kann, wie eine Klammer-Autorinnenreflexion selbst bemerkt: (Sans doute n'est-il pas nécessaire de noter tout cela, mais je ne peux commencer à écrire réellement sans tâcher de voir clair dans les conditions de mon écriture.) (38/39),

läßt auf eine bewußte Absicht schließen, nämlich die, den Leser verwirren und verärgern zu wollen, zumal der Text ferner über Fußnoten verfügt (15, 76, 106), die ihrerseits nicht immer notwendig erscheinen und die sich überdies nicht prinzipiell von den Erklärungen vieler Klammertexte oder gar dem Fließtext selbst unterscheiden lassen. (Deshalb finden sich die Autorinnenreflexionen nicht im Bauplan vermerkt.) Damit deutet sich eine Grenzverwischung von «Erzähltext», Autorinnenreflexion und Fußnote an, die letztlich auch für die als «Geschichte» bezeichneten Textabschnitte gilt, da diese keinen plot im eigentlichen Sinne enthalten 9 10

Zum Beispiel: 16, 30/31, 38, 49, 67/70, 86, 90/91. Cf. zum Beispiel den Textabschnitt auf Seite 70, der dem Klammerabsatz folgt.

263

und somit tendenziell dem «Bericht» zugeordnet werden müßten, der wiederum als eine Sonderform der Autorinnenreflexion bezeichnet werden kann. Folglich zeichnet sich La honte nicht nur als ein Text mit einer diktionalen und fiktionalen Doppeldeutigkeit aus, sondern ebenfalls als einer, dessen Textsorte nicht eindeutig bestimmt werden kann, die sich aber eher im berichtenden denn im erzählenden Bereich ansiedelt. Tatsächlich werden nur wenige Teile von La honte erzählt (die «Szene» und die Lourdesfahrt), weist sowohl die Suche nach der Bedeutung der Szene im engeren Sinne (Teile von Teil 4) und im sozio-kulturellen Kontext (Teil 2 und 3), als auch die Offenlegung der Zielvorstellung (Teile von Teil 1), manche Klammerreflexionen und die Konklusion (letzter Teil von Teil 4) einen essayistischen Charakter auf. Die Untersuchungen nach Labov und van Dijk bestätigen schließlich dieses Ergebnis, da die von ihnen eruierten Textkonstituenten einer Erzählung bei La honte nicht auszumachen sind. 3.2 Bauplan Widmung Motto: Die Sprache als Existenz, nicht als Wahrheit Teil 1:

Geschichte: Auslöser, Gegenstand und Erkenntnisinteresse der Erzählung 1. Kapitel: Die Szene und die Suche nach ihrem Sinn 2. Kapitel: Die beispielhaft unsinnige Suche (Archiv) 3. Kapitel: Realität, Erinnerung, Identität

13-39 13-31 31-36 36-39

Bericht: Teil 2: Die erste Sozialisation: l'univers de Y. Teil 3: Die zweite Sozialisation: l'univers catholique 1. Kapitel: Der Verhaltenskodex 2. Kapitel: Soziale Stellung und persönliche Wertmaßstäbe 3. Kapitel: Das (fehlende) soziale Netz, mutterfixiert

40-70

. .

71 - 1 0 7 71-86 86-96 96-107

Geschichte: Teil 4:

Die Konklusion 108-133 1. Kapitel: Die Szene als Initiation in ein Leben in Schande . . 108- 11 2. Kapitel: Die Fortsetzung oder Wahrnehmung der Schande 11 11-133

Der Text bezieht sich in seiner Gesamtheit auf ein Ereignis aus dem Jahre 1952, auf den Zeitraum von Juni bis August, 12 weshalb er überwiegend in den Zeiten der Vergangenheit geschrieben ist (Imparfait, Plusqueparfait, 11

12

Eine weitere dreizeilige Unterteilung auf Seite 120 wird dabei nicht berücksichtigt. Dieser wird von zwei Photographiebeschreibungen umrahmt.

264

Passé Composé), aber auch Präsens und Futur aufweist, wenn er sich auf die Gegenwart des schreibenden Ichs bezieht. Das Ereignis wird zu Beginn des Textes geschildert, die Suche nach seinem Sinn wird als Anlaß der Niederschrift ausgegeben (Teil 1). Nach einem langen Informationsstrom (Teil 2 und Teil 3: Schilderung der damaligen Lebensumstände, unspektakuläre, ermüdende Wiederholung der längst bekannten Ernauxschen Kindheitsgeschichte, cf. 4.3 Fußnote 24), dessen Bedeutung für das Erkenntnisinteresse nicht deutlich wird, obwohl er mehr als die Hälfte des Textes ausmacht, 1 3 führt Teil 4, welcher sich wie Teil 1 mit den eigentlichen «Themen» des Werks beschäftigt (Bedeutung der «Szene», der honte, Funktion von Sprache, Reise nach Lourdes), zur Konklusion, die im Grunde direkt im Anschluß an Teil 1 hätte gezogen werden können. Der von der abstrakten Autorin als «autoethnologisch» bezeichnete Stil (38) der Teile 2 und 3, den ein neutral-konstatierender Tonfall 14 und große Detailgenauigkeit kennzeichnet, unterstreicht deren fehlende inhaltliche Einbettung in die «Geschichte», läßt ihre fehlende Relevanz für die in Teil 1 gestellte Frage besonders hervortreten. La honte ist außerdem der zweite Text, in dem die Notwendigkeit einer neuen Perspektive ausdrücklich formuliert wird und sie zum zweiten Mal ausbleibt: Ne pas me contenter non plus de lever et transcrire les images du souvenir mais traiter celles-ci commes des documents qui s'éclaireront en les soumettant à des approches différentes. Etre en somme ethnologue de moi-même. (38).

In dieser offensichtlichen Diskrepanz, die selbst schon eine Wiederholung von «Je ne suis...» darstellt, kann eine «programmatische Schlechtigkeit» des Textes vermutet werden. 3.3 Diskurs Die These der «programmatischen Schlechtigkeit» wird durch den wenig überzeugenden, weil immer noch «entblößenden» Blick von La honte unterstützt, der in diesem textsorten-stilistischen Zusammenhang (ethnologisch, berichtend, resümierend) unglaubwürdig wirkt. Denn das Ich von 1952 ist keine substanzielle, erzählte Figur, deren Gedanken und Gefühle der Leser sukzessiv kennenlernt, sondern im Gegenteil ein als soziologische Variable aufbereitetes Beispiel. Deshalb wirkt ihre «schamlose» Weltsicht, 15 trotz der inhaltlichen Anknüpfung an die Ich-Erzählerinnen 13

14

15

Teil 2 und 3 machen 67 Seiten (von Seite 40 bis Seite 107) von insgesamt 121 Textseiten aus (der Text beginnt auf Seite 13 und endet auf Seite 133). Das schreibende Ich nähert sich auf dieselbe indirekte Weise sich selbst, wie es die abstrakte Autorin in La place bezüglich des Vaters und in Une femme bezüglich der Mutter getan hat, als läge inzwischen auch die eigene Kindheit in einer anderen Epoche. Zum Beispiel die Blamage durch die Mutter, die in ihrem urinbefleckten Nachthemd vor dem Ausflugsbus der Schule erschienen sei: «[...] dans une chemise de nuit froissée et tachée (on s'essuyait avec, après avoir uriné).» (110)

265

der Vorwerke, genauso aufgesetzt wie ihr damit einhergehendes Leidenspathos, ihre unterschwellige Sexfixiertheit, 16 «Regelmanie» (93, 94) und bekannte Schwarzseherei. 17 Der Erzählduktus erweckt den Eindruck von Gefangenschaft, als wäre es der Autorin unmöglich, eine andere Beschreibungsform als diese im doppelten Sinne ursprüngliche Form zu finden, mit der sie sowohl an die Beschreibungsweise des ersten Romans als auch an die ihrer Herkunft anknüpft: Dans les récits, l'atrocité surgissait de façon naturelle, voire nécessaire, comme pour mettre en garde contre un malheur [...]. (64).

Und tatsächlich bestätigt die Autorin diese Insuffizienz quasi selbst: Il me semble que je cherche toujours à écrire dans cette langue matérielle d'alors et non avec des mots et une syntaxe qui ne me sont pas venus, qui ne me seraient pas venus alors. Je ne connaîtrai jamais l'enchantement des métaphores, la jubilation du style. [...] Il n'y avait presque pas de mots pour exprimer les sentiments. (69,70),

und entschuldigt damit indirekt die zusammenhangslose, unemotionale Beschreibungsweise der Teile 2 und 3.

4 Inhaltsanalyse: Die Logik der Schande 4.1 Die «Szene» Der Text La honte setzt mit der Beschreibung eines väterlichen Tötungsversuchs an der Mutter ein, in dem Moment, in dem bedeutsamerweise die Tochter von der Mutter zur Hilfe gerufen wird. Nicht nur dem Leser, sondern auch den Beteiligten selbst erscheint die Szene offenbar derart unwirklich, daß ihr anschließender, gemeinsamer Sonntagsausflug direkt in die Normalität des Lebens zurückführt. Obwohl das Kind in der darauffolgenden Zeit psychisch leidet und in der Angst lebt, die Szene könnte sich wiederholen, was nicht geschieht, wird nie mehr mit ihm darüber gesprochen. Und tatsächlich verweist bis auf «Je ne suis ...», wo der Hinweis auf die Szene wie eine bewußte Ankündigung von La honte klingt, keines der vorherigen Werke auf dieses Ereignis, 18 was bei der 16 17

18

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