Dürers Melencolia 1. Eien quellen- und typengeschichtliche Untersuchung


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Dürers Melencolia 1. Eien quellen- und typengeschichtliche Untersuchung

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STUDIEN DER BIBLIOTHEK WARBURG HERAUSGEGEBEN VON FRITZ SAXL n • FANOFSKY-SAXL DÜRERS ’MELENCOLIA • I’

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B. G. TEUBNER. LEIPZIG-BERLIN - 1923 1

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ERWIN PANOFSKY / FRITZ SAXL DÜRERS ’MELENCOLIA • I’ EINE QUELLEN- UND TYPEN­ GESCHICHTLICHE UNTERSUCHUNG \

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B. G. TEUBNER-LEIPZIG-BERLIN • 1923

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INHALT Seite

Zum Geleite Einleitung

IX I

Das Altertum

Der Saturn Die Melancholie (Aristoteles)

3 15

Das Mittelalter.

Die Melancholie Der Saturn . .

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25

Die Florentiner Renaissance. Dante Ficino

28 32

Dürer. Der Kupferstich „Melencolia I" und Ficino . Astrologische Quellen und Bildtradition . . . Heinrich von Gent

49 54

* I. Anhang. II. Anhang. III. Anhang. IV. Anhang. V. Anhang. VI. Anhang. VII. Anhang. hundert

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*

Die Satumtexte des Abu Ma'sar und des Ibn Esra 77 Die Satumvorstellung des Abu Ma'sar und ihre antiken Quellen . 81 Das Melancholieproblem des Aristoteles 93 Ausgewählte Kapitel aus Marsiglio Ficinos „Libri de vita triplici“. 104 Die Entwicklung der Planetenkinderdarstellung 121 Der Polyeder des Melancholiestichs 136 Die nachdürerischen Melancholiedarstellungen bis zum XVII. Jahr­

Verzeichnis der Abbildungen Personen- und Ortsverzeichnis

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155 157

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„Les sages d'autrefois, qui valaient bien ceux-ci, Crurent — et c'est un point encor mal ^clairci — Lire au ciel les bonheurs ainsi que les desastres, Et que chaque äme £tait liee ä l’un des astres. (On a beaucoup nulle, sans penser, que souvent Le nre est ridicule autant que decevant, Cette explication du mystere nocturne.) Or ceux-lä, qui sont nes sous le signe Saturne, Fauve planete, chere aux n^cromanciens, Ont entre tous, d’apres les grimoires anciens, Bonne part de malheur et bonne part de bile. L'imagination, inqui&te et debile, Vient rendre nul en eux l’effort de la Raison. Dans leurs veines, le sang, subtile comme un poison, Brülant comme une lave, et rare, coule et roule En devorant leur triste ideal qui s’^croule. Tels les saturniens doivent souffrir et tels Mourir, — en admettant, que nous soyons mortels —, Leur plan de vie etant dessin^ ligne ä ligne Par la logique d’une influence maligne." Paul Verlaine.

ZUM GELEITE Die folgende Arbeit gründet sich in gewissem Sinne auf Karl Giehlows Abhandlung „Dürers Stich ,Melencolia P und der maximilianische Humanistenkreis“ und führt sie zu Ende. Als der Unterzeichnete 1915 aus Giehlows literarischem Nachlaß die „Hieroglyphenkunde “ herausgab, versprach er auch, die Buchaus­ gabe der „Melancholie“ bald nachfolgen zu lassen. Seither sind acht Jahre verstrichen. Die Buchausgabe, von der bereits neun Bogen (144 Seiten) in der Auflage gedruckt vorlagen und für die auch schon sämtliche Klischees vorhanden waren, war nur scheinbar vollständig. Mit dem anscheinend niemals formulierten Schluß, der sich aus dem letzten (X.) Kapitel: „Die hieroglyphische Symbolik der,MelencoliaI* “ hätte ergeben müssen, war Giehlow selbst, wie er mir wiederholt un­ zweideutig erklärt hat, nicht einverstanden. Daher war er auch vom Jahre 1904 an, das als Datum auf dem Titelblatt der Buchausgabe steht, bis zuletzt nicht zu bewegen, die Auflage zu Ende drucken zu lassen. Zu einer Umarbeitung, die sich auch auf einen beträchtlichen Teil des fertigen Druckes hätte erstrecken müssen, konnte er sich aber ebensowenig entschließen. Wollte man daher nach Giehlows Ableben die „Melancholie“ in Buchform herausgeben und dies einigermaßen in seinem Sinne tun, so mußte man sich an eine .Neubearbeitung Neubearbeitung wagen, und das um so mehr, als mittlerweile die Forschung ja nicht stillgestanden hatte. Dank der freundlichen Vermittlung Friedrich Dörnhöffers fand sich die hierzu geeignete Persönlichkeit in Herrn Professor A. Warburg, der aber leider durch mannigfache Umstände an der geplanten Neu­ herausgabe verhindert wurde. Inzwischen hatten, ausgehend einerseits von den 1903/04 veröffent­ lichten Forschungen Giehlows, andererseits von den seit Giehlows Tode neuerschlossenen astrologischen Quellen, die Herren Dr. Panofsky und Dr. Saxl eine Arbeit über die „Melancholie“ fertiggestellt, die sie ur­ sprünglich auf Anregung des seither verstorbenen Professors Max Dvorak in dem von diesem begründeten „Jahrbuch für Kunstge-

X' Zum Geleite schichte4’ zu veröffentlichen dachten. Unter diesen Umständen traf ich mit den genannten Herren die Abmachung, daß sie an Stelle War­ burgs die Neuherausgabe des Giehlowschen Buches in der Weise vor­ nehmen sollten, daß sie dem, soweit er vorlag, unverändert abzu­ druckenden Giehlowschen Text ihre neue Arbeit als Ergänzung und Abschluß nachfolgen ließen. Diese Absicht wurde jedoch durch die unvorhergesehene Tatsache vereitelt, daß man in der Wiener Staats­ druckerei, wo seit 1904 die Auflage der Buchausgabe der „Melan­ cholie“ eingelagert war, diese während des Umsturzes irrtümlich und ohne Wissen der „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“, in deren Verlag seinerzeit die „Melancholie“ hätte erscheinen sollen, als Maku­ latur hatte einstampfen lassen. Da sich nun sieben von den in der Auflage gedruckten Kapiteln mit den entsprechenden 1903 und 1904 in den „Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ ver­ öffentlichten vollständig decken und das, was neu hinzugekommen ist, zum Teil, wie bereits angedeutet, nicht richtig ist, zum Teil aber von den Herren Saxl und Panofsky, denen ich auch den handschrift­ lichen Nachlaß Giehlows zur Verfügung stellte, noch nachträglich unter jedesmaligem Hinweis auf Giehlows Prioritätsrechte in ihre neue Ar­ beit einverflochten werden konnte, so erübrigte sich ein kostspieliger Neudruck. Wohl aber konnten in die vorliegende Abhandlung von den für die Buchausgabe bereits vorhandenen 64 Klischees 40 herüber­ genommen werden, von denen 30 gegenüber den in den „Mitteilungen“ veröffentlichten neu sind. 15 wurden nach den von den Hamburger Herren gelieferten Photographien in der Wiener Staatsdruckerei neu angefertigt, die auch sämtliche Klischees samt den Titelunterschriften gedruckt und das Papier dafür beigestellt hat. Auf diese Weise hat die Staatsdruckerei die eigenmächtige Vernichtung der Auflage, nach der sich freilich seit 1915 niemand mehr eigens erkundigt hatte, wie­ der gutzumachen versucht. 13 weitere Klischees wurden auf Rech­ nung der Bibliothek Warburg in Hamburg angefertigt, die auch — von der Bereitstellung ihres reichen wissenschaftlichen Materials ab­ gesehen — die Kosten für die Drucklegung des textlichen Teiles ge­ tragen hat. Die Buchausgabe der „Melancholie“ unterschied sich textlich in folgendem von der seinerzeit abschnittweise in den „Mitteilungen“ veröffentlichten Abhandlung: durch die Widmung „Seiner Schwester Luise und seinem Schwager Richard Werth, ordentlichem Professor der Medizin an der Universität Kiel“, (seither verstorben), „zur Feier ihrer Silbernen Hochzeit in Dankbarkeit “, durch eine ausführliche In­ haltsübersicht, durch ein Vorwort und durch die neuen Kapitel VIII:

Zum Geleite

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„Pirckheimers Tätigkeit an der hieroglyphischen Ausschmückung des kaiserlichen ,Triumphes* “, IX: ..Der Anteil Pirckheimers am Entwürfe der ,Melencolia* “ und X: „Die hieroglyphische Symbolik der ,Melencolia I“* und schließlich durch die drei Anhänge: „Konrad Peutingers Gutachten über eine Herkulesmünze, für Kaiser Maximilian 1. im Frühjahr 1514 verfaßt“, „Philipp Melanchthons Abhandlung über die vier Temperamente im Commentarius de anima (Vitebergae ex officina Petri Seitz anno 1540, pag. 115 ss.)“ und ,JDie Perspektive des auf dem Stiche der ,Melencolia I* befindlichen Polyeders“ [ge­ schrieben von Professor George Niemann (+)]. Im Vorwort spricht Giehlow über den Werdegang seiner dem Dürerstich gewidmeten Forschungen. Er hatte in den von Pirckheimer übersetzten und von Dürer illustrierten Hieroglyphika des Horapollo die Hauptquelle für die Symbolik der Ehrenpforte entdeckt. Die Ver­ mutung, daß Dürers rätselhafter Stich „Melencolia I“ mit der Wieder­ belebung des ägyptischen Altertums und insbesondere seiner hiero­ glyphischen Schrift Zusammenhänge, lag nahe. Die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Deutung des Stiches wuchs, als sich später nach­ weisen ließ, daß die Nürnberger Humanisten für die hieroglyphische Ausschmückung der Ehrenpforte auch die damals dem Chaeremon zugeschriebenen Hieroglyphen in Francesco Colonnas Hypnerotomachie benutzt haben und sich so der Kreis der zur Deutung heranzuziehenden Ideogramme vergrößert hatte. Freilich stand damals schon wie auch später die Vieldeutigkeit der einzelnen Sinnbilder hindernd im Wege. Weiter ließ sich feststellen, daß zur Zeit der Entstehung des Stiches den Kaiser und seine gelehrten Berater die Frage nach dem Wesen der Melancholie besonders beschäftigt hat. Ihre Ansichten wurden von Marsilio Ficinos Abhandlung über das Leben beherrscht. Nun­ mehr konnten die beiden Fragen beantwortet werden, ob der Stich eine Folge von Temperamenten eröffne und ob seinen Einzelheiten ein wohlüberlegter Sinn beizumessen sei. Der Stich gewann so durch die Erkenntnis, daß er gegenständlich mehr von Pirckheimer als von Dürer ersonnen ist, und durch seine Beziehung zum Kaiser eine seinem künstlerischen Werte kaum nachstehende historische Bedeutung. Diese Ergebnisse sollten zunächst in einer Arbeit, die den Titel führte: „Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance, besonders der Ehrenpforte Kaisers Maximilian I.‘ und für das Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Ah. Kaiserhauses bestimmt war, (tatsächlich aber erst nach Giehlows Tode er­ schienen ist) verwertet werden. Aber die irrigen Deutungen, die der Stich gerade damals wieder erfuhr und die von der richtigen, au

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der Komplexionenlehre fußenden Deutung, die bereits Josef Heller ge­ funden, wenn auch ungenügend begründet hatte, abwichen, ließen Giehlow davon abstehen. Überdies erwies es sich als notwendig, auch auf den Kreis der in Dürers Tagen herrschenden naturphilosophischen Vorstellungen mit ihren verwickelten astrologischen Streitfragen näher einzugehen, wodurch der Rahmen der Jahrbuchsabhandlung gesprengt worden wäre. So entschloß sich Giehlow, eine eigene Arbeit über die für die Deutung von Dürers „Melencolia I“ maßgebenden medi­ zinisch-astrologischen Anschauungen von Kaiser Maximilians Huma­ nisten in den „Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ zu veröffentlichen. Die Untersuchungen über die Deutung der Hieroglyphen des Dürerstiches selbst hob er sich für die Buchaus­ gabe auf. Da ihn aber endlich, wie gesagt, ihr in dem Buche nieder­ gelegtes Ergebnis selbst nicht befriedigte, so konnte er sich trotz allem Drängen der Freunde zur Herausgabe des Buches zeitlebens nicht entschließen. Nun aber erscheint in dem vorliegenden Bande eine Arbeit, die wieder den Titel „Dürers ,Melencolia I‘ “ führt und, stößt sie auch jenen Teil von Giehlows Forschungsergebnissen, die ihm selbst nicht Genüge taten, um, doch aus seiner grundlegenden Vorarbeit hervor­ gewachsen ist. Ich selber glaube, daß diese Art der Vollendung seines Werkes durchaus nach seinem Sinne ist, und hoffe, daß diese meine Meinung auch von den an der wissenschaftlichen Arbeit des Dahin­ gegangenen anteilnehmenden Freunden geteilt werden wird. Eben erst erschien Ludwig Volkmanns Abhandlung „Bilderschrift der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen“. Sie ist in dankbarer Anerkennung der von Gieh­ lows Arbeiten ausgehenden Anregungen seinen Manen gewidmet. Auch dieses Buch hier, aus Forschungen Giehlows hervorgegangen, sie ab­ schließend und von ihm gesammeltes Material verwendend, möchte nicht versäumen, sein Andenken zu ehren. Es bringt daher im folgen­ den auch einen kurzen Abriß seines Lebens (einen schönen Nachruf hat, freilich an entlegener Stelle, in der Reichenberger „Zeitschrift des Nordböhmischen Gewerbemuseums“, 1913 sein Freund Direktor Ernst Schwedeler-Meyer veröffentlicht) und ein Verzeichnis seiner ge­ druckten Arbeiten. Johann Karl Friedrich Giehlow wurde am 25. Mai 1863 in Oppeln geboren. In Kiel, wo sein Vater Theodor bereits 1879 a^s Oberstaats­ anwalt gestorben ist, besuchte er das Gymnasium und nach der Ma­ tura im Jahre 1882 widmete er sich in München dem Studium der Rechte und der Staatswissenschaft, aber nebenher auch schon damals

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der Kunstgeschichte. In den Jahren 1883 und 1884 studierte er an der Berliner Universität. Nach Vollendung der juristischen Studien trat er in Berlin in den Staatsdienst, worin er bis zum Regierungs­ assessor aufrückte. Als ihn aber aufs neue und immer stärker die Beschäftigung mit der Kunstgeschichte anzog, nahm er Urlaub, was ihm, dem wohlhabenden Manne, nicht schwer fiel, und studierte an den Universitäten von Berlin und Wien Kunstgeschichte. Dort waren Hermann Grimm, Adolph Goldschmidt und Karl Frey seine Lehrer, hier beschäftigte er sich in Franz Wickhoffs Seminar zum ersten Male mit dem Gebetbuch Kaiser Maximilians I. 1898 ward er in Berlin auf Grund seiner Dissertation „Kritische Darstellung der Forschungen über die Entstehungsgeschichte des Gebetbuches Kaiser Maximi­ lians I.“ zum Doktor promoviert. Valerian v. Loga (•}•)• und Jaro Springer (f) waren seine Opponenten, gegen die er folgende drei Thesen zu verteidigen hatte: 1. Kaiser Maximilian verfolgte mit seiner Gebetbuchausgabe weniger ästhetische als dynastische Zwecke. 2. Das Hieroglyphikon des Horapolio ist eine Quelle für die Allegorie der deutschen Frührenaissance. 3. Der Anonymus M. A. des Gebetbuches ist identisch mit Maler Jörg Breu. In Berlin verkehrte Giehlow als Studiosus iuris in den Familien Heinrich Treitschkes und Herman Grimms. Unter den Kunsthisto­ rikern waren Loga und Springer seine besten Freunde, unter den Künst­ lern, in deren Kreisen er gleichfalls heimisch war, stand ihm Walter Leistikow (f) am nächsten. Seit 1898 hielt er sich, abgesehen von Reisen, die ihn an alle Kunststätten Europas führten, am meisten in Wien auf. An diese Stadt fühlte er sich nicht nur durch die „Maximi­ lianen“ und die anderen Schätze der Kunst und Wissenschaft, die sie birgt, durch einen gleichgestimmten Freundeskreis, der sich haupt­ sächlich aus Schülern Franz Wickhoffs zusammensetzte, sondern vor allem durch den heiter und anmutig sinnlichen Reiz ihrer Lebens­ führung gefesselt, der so häufig gerade auf den verschlosseneren, schwerfälligeren Norddeutschen eine unwiderstehliche Anziehungs­ kraft ausübt. Er selbst war das wunderbarste Gemisch, das man sich nur vorstellen kann, und vereinigte in sich fröhlichen, bisweilen über die Stränge schlagenden Lebensgenuß mit strengster wissenschaft­ licher Selbstzucht; zu zähester Ausdauer gesellten sich in ihm „ju­ ristischer“ Scharfsinn, Gründlichkeit, Genauigkeit und unbestechliche Wahrheitsliebe. Von einer Wiener Kunstanstalt ließ er ja auch die Faksimiledruc e nach den Blättern von Maximilians Gebetbuch herstellen, eine Ver­ öffentlichung, die ihn trotz den staatlichen Unterstützungen ein kleines

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Vermögen gekostet hat. Die Art, wie er die Herstellung der Repro­ duktionen überwachte, ist vorbildlich zu nennen und bietet ein seltenes Beispiel dafür, wie sich, sollen derlei Aufgaben einwandfrei gelöst werden, wissenschaftliche Sorgfalt und künstlerischer Blick gegen­ seitig helfen müssen. Giehlows künstlerische Begabung ging auf die Familie seiner Mut­ ter Luise Saltzmann zurück, die aus einem begüterten Danziger Kauf­ mannshaus stammte. Eine unverheiratete Tante, Marie Saltzmann, die bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf dem damals diesen gehöri­ gen Klostergut Oliva bei Danzig wohnte und sich selber in den bilden­ den Künsten dilettierend betätigte, übte auf seine künstlerische Nei­ gung und Veranlagung nachhaltigen Einfluß aus. Er hat ihrem An­ denken seine monumentale Gebetbuchausgabe gewidmet. Im Hause der Großeltern Saltzmann gab es auch eine schöne Sammlung von Kupferstichen Chodowieckis, mit dem seine Urgroßmutter sogar ver­ wandt gewesen sein soll. Giehlow selbst besaß ein starkes Zeichentalent. Er starb am 3. März 1913 auf einer Reise, die ihn über Paris nach London, wo er in Campbell Dodgson einen lieben Freund wußte, hätte führen sollen, in einem Sanatorium, der Villa Moliere, zu Auteuil an einem Herzschlag, als ihn unerwartet ein altes Übel, ein hartnäckiger Gelenksrheumatismus, befallen hatte. Er war mit Studien über die Nürnberger Künstlerfamilie Glockenton beschäftigt. Der Titel dieser neuen Abhandlung, die aber über die Sammlung von Rohmaterial nicht hinausgediehen ist, sollte lauten: „Das Gebetbuch Albrecht Dürers in der Hand der Illuministen.“ Im Druck erschienen sind von Karl Giehlow folgende Arbeiten: Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Gebetbuches Kaisers Maxi­ milian I. Im Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Ah. Kaiserhauses, Wien 1899, XX. Bd., S. 30 ff. Poliziano und Dürer. In den Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, Wien 1902, S.25f. Urkundenexegese zur Ehrenpforte Maximilians I. In den Beiträgen ‘zur Kunstgeschichte, Franz Wickhoff gewidmet, Wien 1903, S.giff. Dürers Stich „Melencolia I“ und der maximilianische Humanisten­ kreis. In den Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, Wien 1903, S.29ff., und 1904, S.6ff., und S. 57 ff. Kaiser Maximilians I. Gebetbuch mit Zeichnungen von Albrecht Dürer und anderen Künstlern. Faksimiledruck der Kunstanstalt Albert Berger in Wien. Mit Unterstützung des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht in Wien und des Königlichen Ministeriums der geist-

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liehen. Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin heraus­ gegeben. Wien 1907. Ein Bucheinband nach Dürer. In der Zeitschrift des Nordböhmi­ schen Gewerbemuseums, Reichenberg 1907, Neue Folge, II. Jahrg., S. 1 ff. Dürers Entwürfe für das Triumphrelief Kaiser Maximilians I. im Louvre. Eine Studie zur Kunstgeschichte des Triumphzuges. Im Jb. d. kh. Slgn. d. Ah. Khs., Wien 1910, XXIX. Bd., S. 14 ff. Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Re­ naissance, besonders der Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. Aus dem Nachlaß herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Arpad Weixlgärtner. Im Jb. d. kh. Slgn. d. Ah. Khs., Wien 1915, XXXII.Bd., S.iff. Wien, am Tage der zehnten Wiederkehr von Karl Giehlows Todestag.

ARP AD WELXLGARTNER

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EINLEITUNG

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Der Kupferstich „Melencolia I“ — dem künstlerischen Gefühl so unmittelbar verständlich — gibt der historischen Betrachtung Rätsel auf, um deren Lösung sich die Wissenschaft jahrzehntelang bemüht hat. Die merkwürdige Inschrift, das Zahlenquadrat, der große Block, dasganze-Dur-cheinander sch einbar heterogener Gegenständerdie-doch durchlrgendeinen"gemeinsamen Sinn -verbunden, sein müssen, all das verlangt nach einer „Deutung“, verlangt — wenn diese Deutung etwas anderes sein soll als die mehr oder minder scharfsinnige, mehr oder minder gelungene Auflösung eines Bilderrätsels — nach einer entwicklungsgeschichtlichen Erklärung, die die Voraussetzungen der Dürerischen Konzeption — und dann von hier aus deren Einzigartigkeit — ins Licht zu stellen versucht. Die Verfasser maßen sich weder in der einen noch in der anderen Hinsicht an, das Problem der „Melencolia I“ „gelöst“ zu haben; das wird, zum mindesten, was die „Deutung“ be­ trifft, kaum eher möglich sein, als nicht der Zufall ein Programmkon­ zept von der Hand Pirckheimers oder eines anderen humanistischen Beraters des Künstlers zutage gebracht hat. Sie haben auch ihre Aufgabe nicht so sehr darin erblickt, für jedes einzelne Symbol eine präzise und womöglich neuartige Auflösung zu finden, als vielmehr darin, die große Linie, deren Endpunkt oder zum mindesten Höhepunkt durch Dürers Kunstwerk bezeichnet wird, in einiger Klarheit hervor­ treten zu lassen. Und gerne bekennen sie, daß sie dabei nichts anderes getan haben, als die von zwei großen Gelehrten — Giehlow und War­ burg — gewiesenen und großenteils geebneten Wege um ein Stück weiter zu verfolgen, als es den Pfadfindern selber notwendig oder möglich erschien.1) Ein besonderer Dank gebührt Herrn Regierungsi) Es sind hier — von den zu Unrecht fast vergessenen „Dürerstudien“ Allihns (1871) abgesehen — vor allem zu nennen: Karl Giehlow, Dürers Kupferstich Melencolia I und der Humanistenkreis Maximilians I. ... in Mitteil. d. Ges. für vervielfält. Kunst 1903/1904. Ein nicht zum Abschluß gelangtes, noch umfäng­ licheres Werk des gleichen Autors konnte, soweit es vorliegt, von den Verfassern in den Aushängebogen benutzt werden. fVgL darüber das Geleitwort zur vorheStudien der Bibliothek Warburg, 2. Heft: Pauofsky-Saxl

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Einleitung

rat Weixlgärtner, der den Verfassern den Nachlaß Karl G-iehlows in liberalster Weise zur Verfügung stellte, in mühevollen Verhandlungen die im Geleitwort näher gekennzeichnete Beteiligung der Österrei­ chischen Staatsdruckerei an ihrer Veröffentlichung erwirkte und den Druck der Tafeln mit größter Sorgfalt überwachte. genden Studie von A. Weixlgärtner.) — A. Warburg, „Im Zeichen des Saturn“. Vortrag in der Berliner religionswiss. Vereinigung (Bericht in der Voss. Zeitg. v. 18. Juni 1918); derselbe, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Abh. d. Heidelb. Akad. d. W’iss. 1920, besonders p. 58 ff.). Franz Boll, Die Lebensalter (Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum — auch als Sonder­ druck — XXXI, 1913. besonders p. 125 ff.); derselbe, Sternglaube und Stern­ deutung („Aus Natur und Geisteswelt“, Bd. 638) 1918, besonders p. 44ff. Die übrige, fast unübersehbare Melancholie-Literatur (die ältere ist bei Giehlow in aus­ reichender Vollständigkeit aufgeführt) ziehen wir nur insoweit heran, als wir positiv oder negativ zu bestimmten Ergebnissen einzelner Forscher Stellung zu nehmen haben.

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DAS ALTERTUM DER SATURN Das Temperament Melancholie — und daß wir Dürers Stich zu­ nächst als Temperamentsbild zu betrachten haben, geht schon aus der Bezeichnung „I" hervor, die eben auf die drei andern hindeutet1) — ist eine jener vier „Komplexionen“, wie sie durch das Vorwalten des einen oder andern der vier „Grundsäfte“ oder „Humores“ bestimmt werden. Im Phlegmatiker etwa ist dem „normalen“ Mischungsverhält­ nis gegenüber der Schleim vorherrschend, im Choleriker die gelbe Galle, und im Melancholiker die schwarze. — In dem Sinn, wie sie uns

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noch heute geläufig sind, d. h. als Bezeichnungen für vier bestimmte psychophysische Grundtypen oder „Charaktere“, scheinen die vier Temperamentsnamen erst bei den Arabern des IX. und X. Jahrhun­ derts fixiert worden zu sein. Aber zum mindesten die Voraussetzungen dieser Fixierung lagen schon in der späten Antike bereit, die die Lehre von jenen vier Grundsäften vollkommen ausgestaltet und dieselben bereits zu den „rfjc tpuxnc in Beziehung gesetzt hatte.2) Damit war der Begriff der „Komplexion“ im wesentlichen festgestellt, und wenn die Bezeichnungen der vier Temperamente erst durch die arabische Gelehrsamkeit auf eine feste und endgültige Formel gebracht worden

x i) Vgl. Giehlow a. a. O. 1904, p. 66 ff. Die neuerdings vertretene Auflösung des „Melencolia I“ in „Melancholia jacet“ = ,,die Schwermut liegt am Boden" (Mitt. d. Reichsbundes dtsch. Technik 1919, Nr. 47, 6. Dez.) bedarf u. E. ebenso­ wenig der Widerlegung wie die ältere in „Melancholia i“ = „Geh’ fort, Melan­ cholie.’“. Eher wäre noch der von K. Borinski (Die Antike in Poetik und Kunst­ theorie, 1914, P- 165 u. 296!.) gemachte Vorschlag diskutabel, die „Melen­ colia 1“ als „natürliche" Melancholie im Gegensatz zur „krankhaften“ aufzufassen, allein diese Formen der Melancholie sind niemals als „erste“ und „zweite“ be­ zeichnet worden (geschweige denn, daß die von B. eingeführten lateinischen Aus­ drücke melancholia prima“ bzw. „secunda“ irgendwo belegt werden könnten), und davon abgesehen scheint uns die in Dürers Darstellung hervortretende Auf­ fassung des melancholischen Temperaments zu vielseitig und universell, als daß durch ein SO einseitig-medizinisches Einteilungsprinzip bestimmt sein konnte. 2 Galen, «pi Kpdceiuv, XV, 97. i*

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Das Altertu»;

sind3), so hat die letztere hier wie so oft nichts anderes getan, als griechische Weisheit zugleich zu bewahren und zu systematisieren. — Ganz ebenso dem Ursprung nach schon spätantik, wenngleich der For­ mulierung nach erst mittelalterlich, ist nun auch der Gedanke, daß jede dieser vier Komplexionen einem bestimmten Planeten zugeordnet oder unterworfen sei — dem Planeten nämlich, der seiner Natur nach dem betreffenden Humor „entspricht“ und den Erzeugungsort desselben „beherrscht“. Dem Jupiter etwa gehört das warme und feuchte Blut, weil er selbst als warm und feucht betrachtet wird, und dementspre­ chend die Leber, in der nach Ansicht der damaligen Physiologie das Blut erzeugt wird, er ist also der Planet der Sanguiniker mit ihrem leichtlebig-freundlichen, „jovialen“ Charakter; dem hitzig-trockenen Mars gehört aus entsprechenden Gründen die gelbe Galle und damit der Choleriker, und die mit dem schweren Element der Erde vergli­ chene kalt-trockene schwarze Galle, die Quelle und Signatur der Me­ lancholie, als deren Erzeugungsort die Milz galt, gehört dem gleich­ falls finsteren, schweren und trockenen, kalten Saturn2) — dem lang­ samsten und höchsten der Planeten, dem Dämon der Erdentiefe und der Schätze, des Greisenalters und des Todes. Saturn ist also der Planet der Melancholiker, wie er der Planet der Ackerbauer und Totengräber ist; noch heute nennen die Englän­ der den melancholisch-düsteren Charakter „satumine“, und von den Ergebnissen der bisherigen Forschung ist dies das wichtigste und un­ umstößlichste, daß für Dürer die Aufgabe, ein melancholisches Bild zu gestalten, gleichbedeutend war mit der Aufgabe, ein saturn in isches zu schaffen.3) Wie sah nun aber diese Saturn-Vorstellung des Mittelalters aus, wie ist sie zustande gekommen und in welcher Gestalt gelangte sie zu Dürer? In der astrologischen Hauptquelle des Mittelalters, der großen Ein­ leitung des Abü Ma'sar, die im IX. Jahrhundert verfaßt wurde und seit dem XII. in zwei lateinischen Übersetzungen vorlag, heißt es folgen­ dermaßen: „Was den Saturn anbetrifft, so ist seine Natur (oder: natürliche Be-

1) Vgl. von Wageningen, in Mneniosyne. nov. ser. XLVI. 1, 1918. p. 374H. Dort wird das Verdienst, die vier Temperamente erstmalig auf eine Formel ge­ bracht zu haben, für Johannitius (Honain b. Ishaq) in Anspruch genommen. 2) Vgl. hierzu Roscher in Ausführl. Lexikon d. griech. und röm. Mythol. III. col. 2518 fr., s. v. ,,Planeten“. Auch die entsprechenden Zuordnungen bei Abu Mafsar und seinen Nachfolgern (vgl. Anhang I) basieren, wie sogleich zu zeigen sein wird, durchaus auf den Anschauungen der spätantiken Astrologie und Phy­ siologie. 3) Giehlow, a. a. O. 1904, p. 67.

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Der Saturn 5 schaffenheit) kalt, trocken, bitter, schwarz, dunkel, sehr rauh. Oft aber ist sie kalt, feucht, schwer und hat einen stinkenden Wind. Er (d. h. der Sa­ turn oder der unter ihm geborene Mensch) ißt viel und ist treu in der Liebe (oder: Freundschaft). Er bezeichnet die Werke (Arbeiten) der Feuchtigkeit, des Pflügens und der Landwirtschaft, die Besitzer der Landgüter, das Gedeihen der Ländereien, Bautätigkeit, Wasser und Flüsse, Schätzung der Sachen und Teilung der Ländereien, Menge des Besitzes (oder: Geldes) und der Landgüter in ihren Händen, Geschenke (vielleicht statt JusSJI zu lesen: dann = Magerkeit!) und große Armut, Wohnstätten und Seereise, lange Abwesenheit von der Heimat und weite, schlimme Reisen, auf Täuschung, Schlechtigkeit, geheimen Haß, List, Ränke, Täuschung, Verrat, Schaden, Traurigkeit, Einsam­ keit, Menschenscheu, Hochmut und tyrannisches Wesen, Stolz, An­ maßung und Prahlerei, diejenigen, welche sich die Menschen dienstbar machen (und die Herrschaft lenken), jederlei Anwendung von Bösem, Gewalt, Vergewaltigung und Zorn, diejenigen, welche (einander?) be­ kämpfen, Fesseln, Gefängnis, Unterpfand und Fußfesselung, auf Wahr­ haftigkeit, Langsamkeit und Bedächtigkeit, Verständnis, Erfahrung, Blick (d. b. Rücksichtnahme?) und Bedürfnis (vielleicht statt loi !L

zu lesen: dann Rücksichtnahme auf das Be­ dürfnis!), vieles Nachdenken, Fernsein des Sprechens, Beharrlichkeit und Festhalten an einem Weg (Verfahren). Er wird nicht leicht zornig; wenn er aber zornig wird, kann er sich nicht beherrschen. Er wünscht niemandem etwas Gutes. Ferner weist er hin auf die Scheiche und die schwerfälligen (gewichtigen?) Leute, auf Furcht, Schicksalsschläge, Sor­ gen pnd Trauer, auf Trübsal (lies: statt des unsinnigen: jölx404 genann sein kann (s0 auch Rathe, a. a. O.). Es sind nur daa"nVältere kalendarische Texte unerweitert abgeschneben.

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und einem Manne in Gelehrtentracht mit einem diesmal ganz unver­ kennbar wiedergegebenen Zirkel.1) (Abb. 26.) Noch deutlicher reden die Texte: „Saturnus der Planet sendet uns die Geister, die uns lern ent geometria“ ist in der zuletzt genannten Handschrift zu lesen2), und in einem Kalender, der gerade ein Jahr näch der Ent­ stehung des Dürerstiches in Nürnberg gedruckt wurde, heißt es: „Er bezaichet aus den Künsten die Geometrei.“3) Das alte scholastische System (am klarsten und schönsten in Dantes „Gastmahl“ ausgebildet), wonach die sieben Planeten mit den sieben freien Künsten in der Weise zusammengestellt wurden, daß dem Saturn die Astronomie zukam4), hatte sich also, spätestens im 15. Jahrhun­ dert, in dem Sinn verschoben, daß er zum Herrscher der Geometrie ernannt worden war, die früher anderen Planeten — Merkur, Mars oder Jupiter — zugeordnet erschien. Warum das geschah, vermag vielleicht ein Blick in die beiden, dem Abendland zugänglichen Über­

setzungen des Abu Ma'sar zu lehren. Denn in diesen war die im Urtext 1) Handschrift in Wolfenbüttel, Hauber a. a. O. Tafel XVI, Abb. 22. In derselben Handschrift findet sich eine (bei Hauber, a. a. O., Taf. VII wieder­ gegebene) Darstellung, wo jedem Planeten die ihm entsprechende Kunst zugeord­ net ist: dem Saturn gehört die „geometria“. 2) Wolfenbütteier Handschrift, fol. 90v. 3) Leonhard Reynmann, Natiuitet-Kalender, Nürnberg. 1515, Fol. DIIv: „Saturnus der höchst oberst planet ist mannisch, bös, kalt vnd trucken, ain veind des lebens vnd der Natur, ain bedeuter der münich, ainsiedel. claussner, der ser alten leut. Melancolici, hefner, ziegler, ledergerber, Schwartzferber, permenter, der ackerleut, klayber, badreyber, Schlot- vnd winckelfeger vnd alles schnöden volcks, die mit stinckenden wässerigen vnsaubern dingen vmgehen. Er bezaichet aus den Künsten die Geometrei; die alten köstlichen vesten Ding vnd werck der Stete vesst vnd hewser. . . .“ (Bemerkenswert noch hier das Nachleben der spätantiken Bestimmungen: von der Zuordnung der Mönche — cxn.ua povaxixov — und der Eigenschaft der Lebensfeindschart — Saturn der Totengott’ — bis zu dem Widerspruch, daß er von Natur „trocken“ sein soll und trotzdem die Leute bezeichnet, die mit „wässerigen“ Dingen umgehen.) Auch in Giehlows hinter­ lassenen Notizen ist diese Stelle bereits angemerkt. 4) Vgl. hierzu J. v. Schlosser, Jahrb. d. Kunstsamml. d. allerh. Kaiser­ hauses, XVII, 1896, besonders p. 47 ff., wo die einschlägigen Beispiele aus Kunst und Literatur fast vollständig zusammengestellt sind. Daß dem Saturn die Astro­ nomie entspreche, wird bei Dante (Convito II, 14 ff.) damit begründet, daß sie die ,.höchste“ und „sicherste“ Wissenschaft sei. Auch diese Auffassung war dem Nor­ den natürlich nicht unbekannt (vgl. den bekannten Planetentisch Martin Schaffners in Cassel), und man ist sicherlich berechtigt, den Regenbogen und den Ko­ meten des Dürerstiches als einen Hinweis auf die Astronomie (und die damals mit ihr aufs innigste verbundene Meteorologie) zu interpretieren, die ja als auchmathematische Wissenschaften ohnehin mit den von der Geometrie abgeleiteten Tätigkeiten durchaus zusammengehören. Ganz ähnliche Kombinationen von Regen­ bogen und Gestirnen findet man denn auch in der Tat in den meteorologischen Traktaten der Zeit (vgl. etwa Denkmäler mittelalt. Meteorologie, Neudrucke, ed. Hellmann, 15, 1906, p. 267, aus Gregor Reisch, Margarita philosophica.)

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ziemlich allgemeine Angabe: „er bedeutet die Schätzung (oder Bestim­ mung) der Dinge“ dahin präzisiert worden, daß es das eine Mal heißt: „Quantitates sive mensuras rerum“, das andere Mal aber „rerum dimensio et pondus“.1) So bot sich um so leichter eine Handhabe, dem alten Erdgott, dem von vornherein die „Teilung der Ländereien“, also die Erdmessung im eigentlichen, praktischen Sinne zukam, nunmehr auch die Geometrie in ihrer übertragenen, theoretischen Bedeutung zuzuweisen.5)

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Damit dürfte die Frage nach der Bedeutung der Dürerischen Tätig­ keitssymbole einigermaßen beantwortet sein. Wenn schon das allge­ meine Stoffgebiet, aus dem sie gewählt sind, durch den Saturn bestimmt wurde, so auch das ordnende Prinzip, nach dem sie gewählt sind: sie veranschaulichen diejenigen Saturnberufe, denen die Geome­ trie, die Kunst des Messens, zugrunde liegt. Der Zirkel in der Hand der Melancholie — selbst wie wir sahen, ein Attribut des Saturn — symbolisiert gewissermaßen die geistige Einheit in der Mannigfal­ tigkeit der um sie verstreut liegenden Dinge. Daß Dürer wirklich so empfand, das wissen wir von ihm selber: in der Einleitung zur „Unter­ weisung der Messung“, die ihn gerade damals beschäftigte8), heißt es: „Demnach hoff ich, dies mein Führnehmen und Unterweisung werde kein Verständiger tadelen, dieweil es aus einer guten Meinung und allen Kunstbegierigen zu Güt geschieht und auch nicht allein den Ma­ leren, sonder Goldschmieden, Bildhauer en, Steinmetzen, Schrei­ neren, und allen den, so sich des Maß gebrauchen, dienstlich

1) Vgl. die im I. Anhang zusammengestelhen Texte. Was die mytholo­ gische Ableitung der >,pondus“-Bestimmung betrifft, so darf auf den sehr merk­ würdigen Bericht des Varro hingewiesen werden (de ling. lat. V, 183), wonach sich im Saturntempel, als Hinweis auf dessen Bedeutung als Schatzhaus, eine Wage befand: „per trutinam solvi solitum. Vestigium etiam nunc manet in aede Saturni, quod ea etiam nunc propter pensuram trutinam habet positam“ (abgedr. bei Roscher, Lexikon, s. v. Saturnus, p. 430f.). 2) Bemerkenswert ist es, daß in einer nach astrologischen Gesichtspunkten angelegten Stadt, die in dem persischen Buche „Dabistan“ beschrieben wird, u. a. die ..Mathematiker, Wahrsager und Sternkundigen“ rings um den Tempel des Saturn gewohnt haben sollen, und daß in dem Tempel selber „Wissen­ schaften fortgepflanzt und gelehrt wurden“ (vgl. Scheik Mohamed Fanis Dabistän, übers von Francis Gladwin und F. v. Dalberg, Bamberg und Würzburg, 1817, p -2) — Auch in Giulio Camillos „Idea del Teatro“ (Florenz 1550, p. 45 f-) erscheint die Geometrie" (Erdmessung) mit „Geographie“ (Erdbeschrei,,„a Agrikultur" (Erdbebauung) zusammengestellt und dem Saturn unterworfen : sif sollen alle drei, zusammen mit der „Kosmographie“, in der

„Saturn-Hohle zur datierten Entwurf für einen der perspekti­ vische.' Apparate des 4- Buchs; Dresdner Skizzenbuch (ed. R. Bruck, .905), i

Tafel 135.

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sein mag.“1) Er sah also in der Tat alle die auf seinem Stich symbo­ lisierten Tätigkeiten als angewandte Geometrie2), und es mag uns zur Bestätigung dienen, wenn er in einem Entwurf zu der genannten Einleitung „Hobel und Dreh werk“ genau so zusammen nennt, wie auf dem Stich der Hobel und die gedrechselte Kugel3) zusammen lie­ gen.4) „Rerum dimensio et pondus,“ — auch die Wage ist dadurch erklärt, und nicht minder die Uhr, die ja die Zeit mißt, wie der Zir­ kel den Raum.5) Und wenn der Zirkel im Verein mit dem Schreib1) Lange u. Fuhse. Dürers schriftl. Nachlaß. 1893. P- 181. 30 Ob auch der Beruf des Goldschmiedes durch den Tiegel und die dazugehörige Kohlen­ zange angedeutet sei (vgl. etwa Schongauers Stich der streitenden Lehrbuben B.91 oder Jost Ammann, Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden. Frankfurt, 1560 — Neudruck München. 1896 — fol H 2r). ist schwer zu entscheiden: von Giehlow werden diese Dinge unter Berufung auf den in Abb. 23 wiedergegebenen Holzschnitt auf die Alchemie bezogen (auch die in H. H. Behams Stich figu­ rierenden Flaschen könnten für diese Auslegung geltend gemacht werden), und die eine Deutung hat ebensoviel für und gegen sich als die andere. Denn wenn der Beruf des Goldschmieds zwar mit der Geometrie in Verbindung steht, aber nicht eigentlich zum Saturn gehört, so kann die Alchemie als schwarze oder ma­ gische Kunst (vgl. etwa Abu Ma’sar und Ficino. d. v. tr. III, 2. zit. im IV. An­ hang) zwar ohne weiteres mit dem Saturn in Verbindung gebracht werden, hat aber nichts mit der Geometrie zu tun. 2) Umgekehrt gehört ganz folgerichtig der Richtwinkel ebensowohl wie zum Geometer und Astronomen (vgl. etwa Jost Ammann, a. a. O., fol. E 1 r) auch zum gewöhnlichen Schrcinermeister (vgl. z. B. A. Schramm, der Bilderschmuck der Frühdrucke, II. 1920 — Günther Zainer — Nr. 737) und vollends der Bau­ meister darf von sich sagen: ..Ich kann pawen und wohl messen. Drum will ich Euklides nicht vergessen.“ (Vers um 1500, zit. in Giehlows unveröffentlichter Arbeit.) 3) Ob die Kugel daneben mit Rücksicht auf Ficinos Vergleichung des Denkens mit einer Bewegung ,,a circumferentia in centrum“ als ,.Denksymbol“ der Melancholie aufgefaßt werden kann erscheint uns zweifelhaft. Vgl. oben p. 51. Anm. 2. 4) Lange-Fuhse. p. 268.12: ..Will dorneben anzeigen, waraus die Zierd des Hobels oder Drehwerks, das ist durch die Gereden oder Runden, gemacht werd.“ 5) Bei Macrobius, Sat. I. 8 wird die Zeit geradezu definiert als ,,certa di­ mensio, quae ex coeli conversione colligitur". Nicht zu entscheiden wagen wir die Frage, ob die Glocke als Tageszeitenglocke mit der Uhr zusammenzubeziehen ist (so Giehlow, a.a.O. 1904, p. 65), oder ob ihr eine selbständige Symbolbedeutung innewohnt. In diesem Falle könnte man sie als einen Hinweis auf die Neigung zur Einsamkeit und zum Anachoretentum auffassen, wie sie schon bei Vettius Valens (cxn.ua povaxtKÖv) und in der Folge fast durchweg dem saturninischcn Melancho­ liker zugeschrieben wird: das ,.Eremitenglöckchen“ ist ja ein ständiges Attribut des hl. Antonius, in dem das Mönchtum seinen Stammvater verehrte, und noch in Picinellis ,,Mundus Symbolicus“ (Köln, 1687. XIV, Kap. 3. Nr. 23) bedeutet eine Glocke die ..Einsamkeit“ (Solitudo), und daher, wie es in merkwürdigem Anklang an die Charakteristiken des Melancholikers heißt, die „anima a rebus matcriatibus, terrenis et diaboticis remota“. — Daß die Glocke, wie öfters behauptet wurde, die Musik symbolisiere, ist unwahrscheinlich. Denn abgesehen davon, daß diese schon

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zeug die reine Geometrie repräsentiert1), und die Handwerkssymbole die angewandte, so bedeutet der polyedrische Block (von seiner

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an und für sich durch eine solche Zug- (nicht Schlag-!) Glocke doch in recht unge­ eigneter Gestalt repräsentiert wäre, würde ein Musikinstrument in diesem Zusammen­ hang nur als Andeutung eines antimelancholischen Gegenmittels (und nicht etwa als Tätigkeitssymbol) gedeutet werden können, denn Saturn seinem eigenen Wesen nach ist schweigsam und widermusikalisch, und wenn Ficino neben der „venerischen“ Musik eine „jovialische“, „solare“ und merkurialische“ annimmt, so kennt er doch keine eigentlich „saturninische“-.— höchstens, daß dem Saturn gelegentlich die „weinerlichen Töne und Gesänge“ zugeordnet werden (Fi­ cino, d. v. tr. III, 1 1). Wenn aber Dürer die ..Musik als Gegenmittel“ hätte sym­ bolisieren wollen, so würde er als ihr Symbol wohl unzweifelhaft die traditionelle und in den Quellen stets erwähnte „Cithara“ gewählt haben. 1) über das Schreibzeug ist außerordentlich viel diskutiert worden. Zwar daß es wirklich ein Schreibzeug ist. darf gegenüber der gänzlich abwegigen An­ sicht von Endres, der es für einen Kreisel erklärt und demzufolge darin ein Be­ weisstück für einen Zusammenhang des Dürerstichs mit Nicolaus Cusanus sieht, als ausgemacht gelten, nachdem M. Honecker (a. a. O. col. 323) unter Berufung auf Giehlow in anderen Dürerischen Darstellungen ganz analoge Schreibgeräte nachgewiesen hat (auch die wunderliche Holzschnittkopie der „Melencolia I“ auf demTitelblatt des bei Egenolff in Frankfurt 1545 — nicht erst 1549 — gedructen „New-Formular“ Buchs — vgl. Volbehr, Mitt. d. Germ. Nat. Mus. 1887-1 889, p. 1 58, unsere Abb. 59 — zeigt Tintenfaß und Federhülse ganz deutlich). Allein es bleibt die Frage zu beantworten, was dieses Schreibzeug im Zusammenhang des Ganzen „bedeutet“. Da hat nun (wenn wir die nicht haltbare Ansicht Paul Webers, wonach es „die Dialektik“ symbolisiere, von vornherein beiseitelassen) Giehlow die Mei­ nung vertreten, daß es als eine Hieroglyphe aufzufassen sei, die — dem in der Tat gerade damals von Dürer illustrierten Werk des Horapollon entlehnt — die „heiligen Schriften (oder Schrift z e i c h e n ?) der Ägypter“ bedeute (a. a. O. I9°4- P- 7öf.). Ja, Giehlow hat, obgleich er selbst außer dem Schreibzeug nur noch deR Hund mit den Hieroglyphen des Horapollon in Verbindung zu bringen vermochte, keinen Anstand genommen, den ganzen Stich für eine nur dem maximilianischen Humanistenkreise verständliche „hieroglyphisch geschriebene Ur­ kunde“ zu erklären. W’ir müssen bekennen, daß wir dem großen Forscher hierin nicht zu folgen vermögen. Denn abgesehen davon, daß es auch Giehlow, trotz der genauesten Bekanntschaft mit dem Horapollon und der an ihn sich anschließenden Renaissanceliteratur, nicht hat gelingen wollen, den Sinn jener „Urkunde“ auf hieroglyphischem Wege zu enträtseln, sind gegen seine Deutung auch im einzelnen Einwände geltend zu machen. 1. Die Hieroglyphe für die „sacrae literae Aegyptiorum“ (vgl. Jahrb. d. Kunstsamml. d. Allerh. Kaiserhauses, XXXII, 1915, p. 195) heißt gar nicht „Schreibzeug“ oder „Tintenfaß“ allein, sondern „Tintenfaß, Schreibrohr und Sieb“, und der begleitende Text legt auf den letzteren Be­ standteil mindestens den gleichen Wert, wie auf die beiden ersteren: „Aegypciacas ostendentes litteras sacrasve aut finem, atramentum et cribrum ealamumque effigiant. Litteras equidem, quoniam apud Aegypcios omnia scripta cum his perficiantur. Calamo etenim ac nulla alia re scribunt. Cribrum vero, quoniam cri­ brum principale vas conficiendi panis ex calamis .fieri soleat. Ostendunt itaque, □uemadmodum omnis, cui victus suppeditat, litteras discere potest, qui vero illo caret alia arte utatur, necesse est. Quam ob rem disciplina apud eos ,sbo‘ voca' d interpretari potest victus abundantia. Sacras vero litteras, quoniam criur, quo mortem discernit“ — Es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, Vl a Hem es auf eine hieroglyphische Transskription bestimmter Begriffe daß jeman , jen bej Horapollon überlieferten Zeichen so willkürlich geangekommen Wirburg. Hoft P^of.kyS.n 5 Studien der

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Eigenschaft als Steinmetzen-Symbol ganz abgesehen) die darstel­ lende — er ist, hier ebenso wie auf sehr vielen andern Darstellungen des Jahrhunderts, ein Probestück und ein Emblem der geometrisch fundierten Optik1), insonderheit der Perspektive. ; Eine saturninische Meßkunst also, — das ist der stoffliche In• halt des Dürerblattes.2) — Die Mathematik ist „die“ Wissenschaft der Epoche, und sie ist die Wissenschaft Dürers. Wie einer seiner Freunde,

wohl Pirckheimer, gesagt hat, daß die „Maß“ bei Gott selbst so hoch geachtet sei, daß er „alle Geschöpft in Zahl, Gewicht und Maß be­ schaffen hab5),“ so hat Dürer, in offenbar bewußter Anlehnung an das schaltet und gerade den charakteristischsten Bestandteil der betreffenden Hiero­ glyphe fortgelassen hätte. 2. Demgegenüber begegnet das Tintenfaß — wie ja im Grunde nur natürlich — auch auf solchen Darstellungen, die einen mit mathe­ matischen oder astronomischen Untersuchungen beschäftigten Forscher zum Ge­ genstand haben, dagegen nicht in der mindesten Beziehung zu den Hieroglyphen stehen. So auf dem bekannten Neapler Porträt des Luca Pacioli (Abb. u. a. bei Venturi, Storia dell’arte Italiana VII, 2, Fig. 98) oder auf dem Titelholz­ schnitt der 1494 zu Venedig erschienenen Ausgabe des Astrolabium planum des Joh. Engel (Angelus). Das Schreibzeug hat dort (und wir stehen nicht an, ein Gleiches auch für Dürers Kupferstich vorauszusetzen) keine andere Bedeutung als die des Gelehrten Werkzeuges kclt* iEoxnv, das ja der wissenschaftlich arbei­ tende Mathematiker nicht minder benötigt, als irgendein anderer ,,Schriftsteller“. Wir bringen den Venezianer Holzschnitt — in der bei Ratdolt 1485 erschienenen Erstausgabe des Astrolabium planum ist eine entsprechende Darstellung nicht vorhanden — hier zur Wiedergabe (Abb. 27), weil er — gerade in der Zeit von Dürers erstem Venezianer Aufenthalt veröffentlicht — dem Kupferstich „Melencolia I“ auch in formaler Hinsicht merkwürdig ähnlich ist: er zeigt (im Gegensinn) ein ähnliches Verhältnis der Figur zur Bildfläche und »dadurch eine ähnliche Gesamtkomposition, und eine analoge Verteilung der einzelnen Dinge im Raum; sogar die Kopfwendung mit der Überschneidung des einen Auges durch den Profilkontur berührt verwandt. Ob Dürer den Holzschnitt wirk­ lich gekannt hat, wagen wir nicht zu entscheiden — er könnte ihm höchstens eine Art von linearem Schema für seinen Kupferstich geliefert haben —, und jeden­ falls besteht zwischen den beiden Darstellungen insofern ein ganz wesentlicher Unterschied, als die einzelnen mathematischen und technischen Instrumente dort reale Werkzeuge, hier aber symbolische Attribute der Hauptgestalt sind. 1) Vgl. z. B. den Titelholzschnitt zu Petrus Apianus’ „Instrument-Buch (Ingolstadt, 1533, Abb. bei Baumgarten, Zeitschr. f. bild. K. N. F. XIII, »902, p. I23f.). Ferner desselben „Inscriptiones sacrosanctae vetustatis“, Ingolstadt, 1 534» Initial Fol. Air, sowie besonders den Flötnerschen Titelholzschnitt zu Vitellios „TTepi önriKTjc“ (Nürnberg, 1535), wiederverwendet in Rivius’ „Vitruvius teutsch“ von 1548 (Fol. CXCVIIIv), unsere Abb. 28. Daß die Konstruktion ganzer halbregelmäßiger Polyeder in der Renaissance eines der Hauptprobleme, wenn nicht das Hauptproblem, der darstellenden Geometrie bildete, bedarf keiner besonderen Hervorhebung; vgl. namentlich Dürers eigene „Vnderweysung der Messung *. 2) In Eobanus Hesses oben zit. Schrift ,,de conservanda valetudine“ ist der Melancholiker (fol. 121 r, unsere Abb.-48) als mathematisch arbeitender Gelehrter dargestellt, der ausschließlich durch eben diese Arbeit als Melancho­ liker gekennzeichnet ist. * 3) Lange-Fuhse, p. 285,9, vermutlich um oder kurz vor 1512.

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gleiche platonisierende Bibelwort (sap. Sal. XL 20)J), von sich selber den stolzen Satz geschrieben: „Und will aus Maß, Zahl und Gewicht

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mein Fürnehmen anfohen.“*) Diese seine erhabene Auffassung von der Mathematik (unter der er für seine Person ja nur die Geometrie ver­ stand) hat er in seinem Stich gewissermaßen zur Einheit gebracht mit der erhabenen Auffassung Ficinos von der Melancholie — die alte Ver­ bindung des Saturn mit der „Geometria“ gleichsam sub specie des neuen Geniebegriffs sanktionierend. Das Mittelalter hatte zur Illustra­ tion eben jener Bibelstelle Gottvater mit dem Zirkel in der Hand als Weltenbaumeister gebildet8) — die Renaissance macht aus dem Zirkel das Symbol des schöpferisch genialen Menschengeistes.

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]) „Omnia in mensura ct numero et pondere disposuisti“ Das Buch Sapientia ist vermutlich in der ersten Hälfte des I. Jahr. n. Chr. entstanden. Plato­ nische Parallelen: Staat 602 d, namentlich aber Philebos 55 d: ,,Oiov iracurv rrou texvüJv äv nc äpiOprjTiKfjv xujpiaj Kai ucTprjTiKiqv Kai CTaTiKrjv, ibe €iroc elneiv cpaüXov to KaTaXemöpevov eKacTqc äv tItvoito.“ 2) Lange-Fuhse p. 316.24. Vermutlich (vgl. die Bemerkungen der Heraus­ geber p. 315) nicht wesentlich später als 1512/13 niedergeschrieben. 3) Auf der ersten Miniatur der in mehreren Exemplaren erhaltenen „Bible moralisee“ aus der ersten Hälfte des XIII. Jahrh. (Abb. des ersten Wiener Exemplars — cod. lat. 1779 — bei Michel. Histoire de l’art. II, 1; des Oxforder Exemplars in der Ausgabe von Laborde, 1911, PI. I, unsere Abb. 29). Der Text zu dem betreffenden Bilde des zweiten Wiener Exemplars (cod. 2554), auf dem Gottvater stehend dargestellt ist, lautet: „Ici crie Dex Ciel et terre soleil et lune et toz elemenz.“ Die Darstellung des die Welt mit dem Zirkel einteilenden Gott­ vaters bezeichnet also den Schöpfungsakt in seiner Totalität — was damit übereinstimmt, daß die einzelnen Tagewerke in den „Bibles moralisees“ stets noch einmal in besonderen Darstellungen wiedergegeben werden. Von weiteren Verbild­ lichungen dieses Gedankens seien genannt: a) 3 Darstellungen Gottvaters mit dem Zirkel, Abb. bei Laborde, les manuscrits de la Cite de Dieu, Paris, 1909, PI. VI. b) Das — neuerdings höchst unbegründeterweise mit indischen Darstellungen in Verbindung gebrachte — Fresko des Piero di Puccio im Camposanto zu Pisa, darstellend Gottvater mit Kosmos, daneben Wage und Zirkel, darunter ein Sonett mit dem bezeichnenden Anfang: „Voi ehe avvisate questa dipintura Di Dio pietoso sommo Creatore Lo quäl fe tutte cose con amore Pesate numerate ed in mensura...“

c) Die (bisher nicht deutbare) Darstellung in einem Kanonbogen eines jetzt im Provinzialmuseum zu Hannover bewahrten Evangeliars aus Winchester (Anfang jj Tahrh., Abb. bei Graeven in Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachsen, 1901, S *»94 unsere Abb^. 30): die Hand Gottvaters, aus Wolken herablangend, hält eine" Wage und einen Zirkel; daß dieser letztere, vom Miniator offenbar schon nicht mehr ganz verstanden, weder eine Schere noch ein „Gerät, das die Schreiber zum t ■ • benutzten“, darstellen kann, bedarf bei der Kenntnis des Zusammen?n’ Wner Erörterung: die etwas ungewöhnliche Form, bei der der eine Arm -ung A« Celeak hinaus verlängert erscheint, erklärt sich daraus, daß diese scheinüber das Gelen Wahrheit den Griff des Zirkels darstellt; so auch in zahlbare Verlängerung' n en des Mittelalters, wie beispielsweise in den zitierten

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Damit ist das Temperamentsbild das erstemal — zum wenigsten im Norden1)— erhoben in die Sphäre des Symbolischen: früher war es der „Melancholicus“, der dargestellt wurde, oder die „Melancholica“, — jetzt ist es die „Melancholia". Schon diese Benennung ist ja über­ aus bezeichnend: durch den abstrakt und allgemein gefaßten Titel wird nicht mehr der konkrete Repräsentant eines bestimmten Tempe­ ramentes bezeichnet, sondern ein vieldeutiges Etwas, das zugleich als melancholische Veranlagung, als melancholische Erkrankung und i als melancholische Stimmung verstanden werden kann2): die Gestalt, i nicht ohne Absicht als eine geflügelte dargestellt, ist keine Person, I sondern eine Personifikation, und wenn früher der Melancholiker sub specie der Planetenkindschaft dem Holzarbeiter oder Steinmetz gleich­ geordnet war, so sind jetzt die Berufssymbole nur .Attribute der Melan­ cholie, aus deren erfinderischer und scharfsinniger Natur all jene letzt­ lich mathematischen „Künste“ hervorgehen. Für die 3 anderen „Tem­ peramente“ wäre, wenn ihre Darstellung sich hätte verwirklichen sol­ len, ein analoger Titel gar nicht zu finden gewesen, und in der Tat hat ein Künstler wie Virgilius Solis, der, unter Anlehnung an Dürers Stich, die ganze Folge der 4 Komplexionen veröffentlicht hat, der Blättern der „Bibles moralisees" und bei der „Geometria“ im Hortus Deliciarum (Abb. bequem bei G. Dehio, Gesch. d. dtsch. Kunst, I, 1919, Abb. 339)- d) Der Titelholzschnitt zu den in Brescia 1493 und Venedig 1496 erschienenen Ausgaben der Philosophia naturalis des Albertus Magnus (Abb. bei Prince d'Essling. Les livres ä figures venitiennes, I, 2, 1908, p. 291): in der Mitte der Kosmos, darüber links die Wage, in der Mitte die Zahlen von 1 —10, rechts der Zirkel, darunter links ein Gefäß als Maß für Flüssigkeiten (zu dieser Deutung zu vergleichen die analoge Darstellung bei Rabanus Maurus — ,.de mensuris“ —, Tafel CXXH der Montecassinesischen Ausgabe von 1896), rechts Winkelmaß und Maßstab. 1) Über die „malanconia" des Mantegna und die „mölancholie“ im ReneRoman vgl. den VII. Anhang. 2) Die vieldiskutierte Frage, ob Dürer das „Temperament" Melancholie oder die melancholische „Stimmung" habe darstellen wollen, scheint uns durch seine künstlerische Tat als solche gegenstandslos zu werden. Es leidet zwar keinen Zweifel, daß er, seiner historischen Stellung entsprechend, nur von der Temperaments- bzw. Krankheitsvorstellung seinen Ausgang nehmen konnte, und daß — mit Allihn zu reden — solche Temperamente zunächst und unmittelbar nicht „poetische Gegenstände“, sondern „praktische Einteilungsgründe", nicht „Stimmungen", sondern „Menschenklassen“ darstellen. — allein wie wir ihn über­ all das sachlich geforderte Einzelmotiv im Sinne subjektiver Stimmungswirkung umbilden sahen, so können wir sagen, daß er auch ganz allgemein die objektiven Ausformungen geistiger Zustände, wie sie durch die Temperamentsbegriffe for­ muliert werden, in eine Sphäre des Subjektiven und Stimmungsmäßigen hinein­ gezogen hat — dasjenige, was sich auf literarischem Gebiet bei Petrarca und Ficino angebahnt hatte, nunmehr auch bildkünstlerisch zum Ausdruck bringend. Gerade von hier aus wird die Bedeutung des Dürerischen Kupferstiches vielleicht am deutlichsten.

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Konzinnität halber wieder auf die Bezeichnung „Melancholicus“ zu­ rückgreifen müssen.1) \ Wie um diese neue, vom Natürlichen ins Geistige, vom Besonde- , ren ins Allgemeine erhobene Auffassung noch zu unterstreichen, gibt ! Dürer der geflügelten Frau zwei Gegenbilder, die ihr — in kindlicher |

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und tierischer Sphäre — zugleich entsprechend und kontrastie- j rend zur Seite treten: den Hund und den Putto. Der Hund (auch ! ältere Darstellungen gaben den Temperaments Vertretern gelegentlich / ein ihrem Wesen adäquates Begleittier, vgl. Abb. 16 und 21) galt in der Zeit Dürers als melancholisches Geschöpf, auch er begabter als andere Tiere, auch er Anfällen des Irreseins ausgesetzt — die besten Hunde sind nach Piero Valeriano die, „qui faciem melancholicam prae se ferunt“.2) Das tut er hier wahrlich, abgemagert, in sich zusammenge­ krochen, in einem hoffnungslos traurigen Dämmerzustand: auch hier macht Dürers Künstlerschaft das thematisch geforderte oder wenig­ stens legitimierte Symbol zum Träger eines ganz besonderen Aus­ druckswertes.3) Und wenn das Tier gewissermaßen an der psychischen J) Abb. 49—52.) Ebenso der Autor der kleinen Wolfegger Zeich­ nungsfolge, Abb. 53 56. Umgekehrt wird da, wo die Bezeichnung „Melancholia“ beibehalten wird, ganz folgerichtig die I fortgelassen, so auf Behams Kupferstich B. 144 (Abb. 58), auf Ammanns Holzschnitt (Wapen vnd Stammbuch, Frankfurt, 1 5^9» Neudruck München, 1893, fol. L 1 r, Abb. 60), auf der oben p. 65, Anm. I, erwähnten Kopie in Egenolffs „New Formular“ Buch, auf Cranachs und Matthias Gerungs Bildern (Abb. 62 — 65) und auf den Arbeiten der Monogrammisten AC und FB (Abb. 57 und 61). Vgl. hierzu die Ausführungen des VII. Anhangs. 2) Vgl- Giehlow, a. a. O. 1904, p. 72. „Der Hund muß wie der tief den­ kende Mensch einer einzigen Sache nachhängen, sie aufspüren, und kann — wie jener dem Wahnsinn — bei einer Entartung der Milzsäfte der Tollwut verfallen. Umgekehrt muß der Gelehrte dem Hunde gleich »viel denken, bellen und einer einzigen Sache nachjagen*“. Damit stimmt überein, wenn es schon bei Isidorus heißt: „Nihil autem sagacius canibus, plus enim sensus ceteris animalibus haben!“ (Etymol. XII, 2,25), und wenn das Mittelalter den Hund als „Jäger der Ge­ danken“ bezeichnet und ihn als Attribut der Dialektik beigesellt (Zitate bei Endres, a. a.O. Vgl. dazu die dem Dürerstich auch sonst vergleichbare Darstel­ lung des „Typus Logice“ in Gregor Reischs „Margarita philosophica“, wo der das „Problema“ symbolisierende Hase von einem die „Veritas“ versinnbildlichenden Hunde gehetzt wird.) Daneben macht Giehlow darauf aufmerksam, daß der Hund in Horapollons Hieroglyphika als Zeichen für die Milz genannt wird, die ja be­ kanntlich dem Saturn unterworfen ist und bei der Erzeugung des humor melancholicus eine besonders wichtige Rolle spielt. Es soll keineswegs abgeleugnet wer­ den daß auch die Erinnerung hieran bei Dürer oder seinen Beratern für die Anbringung des Hundes bestimmend gewesen sein -kann. Das würde aber natür­ lich noch nicht dazu berechtigen, auch das Tintenfaß aus dem Horapollon zu inter^erhweige denn die ganze Darstellung „hieroglyphisch“ lesen zu wollen, pretteren, g „fnbeispiel wäre etwa das behaglich zusammengerollte Hünd, a hl Hieronymus zu vergleichen, das sich - als solches em auch früher chen des hl. Hl tarstück der stillen Gelehrtenstube (vgl. etwa das Darm­ öfter begegnendes Petrarca, Abb. bequem bei J. v. Schlosser, Obenta-

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7° _______________________________Dürer Stimmung der Hauptfigur Anteil hat, so das Kind — das sich zu ihr etwa so verhält wie die Putten der Bellinesken Allegorien zu den entspre­ chenden Hauptfiguren, und das vielleicht nicht ohne eine vage Erin­ nerung an die sechzehn „fanciulli“ auf dem verlorenen Melancholie­ bild Mantegnas hier angebracht wurde — an ihrer intellektuellen Tätigkeit: fast in derselben Stellung wie die Frau sitzt der Putto da, auch er schon ein Denker im kleinen; noch aber weiß er nichts von tatenloser Depression, mit kindlichem Ernst in seine wissenschaftliche Arbeit vertieft. Daß wir berechtigt sind, diese Begleitfiguren mehr im Sinne einer gleichsam persönlichen Relation, als im Sinne einer bestimmten Sach­ bedeutung zu interpretieren, beweist die Vorstudie.1) Da ist der Putto noch stehend gezeichnet und statt mit einer Schreibtafel mit Lot und Sextanten beschäftigt, — beschäftigt aber mit der gleichen intensiven Hingabe an seine Tätigkeit wie auf dem Stich. Wenn Dürer später darauf verzichtet hat, die A rt dieser Beschäftigung eindeutig zu kenn­ zeichnen2), dagegen die innere Beziehung zwischen der Frau und dem Kind durch den Parallelismus der Stellungen klarer hervorhob, so müs­ sen wir uns mit der Konstatierung begnügen, daß eben nur ein all­ gemeines, ein „Beschäftigtsein schlechthin“ zum Ausdruck gebracht worden ist, ein Beschäftigtsein', das mit der tatenlosen Schwermut der Frau nachdrücklich kontrastiert; und doch ist das, was sich in so ver­ schiedener Auswirkung kundgibt, im letzten Grunde ein und dasselbe: die Melancholie des geistigen Menschen, die dumpfe Trübsal und reine Schaffensfreude in gleicher Weise in sich einschließt. lienische Trecentisten, Bibi. d. Kunstgesch. Bd. 6. Tafel ii) — der das Ganze be­ herrschenden „Stimmung“ genau so einfügt wie der magere Jagdhund der Stim­ mung des Melancholie-Stichs. 1) Dürer-Society XII, l. Ist es ein Zufall, wenn der Monogrammist AC dem Putto seiner „Melancholie“ (Abb. 57) wieder den Sextanten zurückgibt? Vgl. dar­ über unten p. 144. 2) Es ist wegen der Haltung der Schreibtafel nicht einmal auszumachen, ob der Putto Ziffern oder Buchstaben schreibt. (Parallelen ließen sich für beides namhaft machen, vgl. einerseits die „Grammatica“ bei Weber, a. a. O. p. 58, und andererseits die Algebra auf dem Titelblatt zu Joannis Fernelii Ambianatis Monalospherium, Paris 1526.) Als Bildtypus betrachtet, gehört der Putto mit seinem Schreibtäfelchen zu denjenigen Motiven, die aus den M e rku rdarstellungen der Planetenkinderfolgen übernommen sind (vgl. besonders das entzückende Blatt im Wolfegger Hausbuch, Lippmann a. a. O. D.VI), ebenso die Uhr sowie ein Teil der Handwerksinstrumente (z. B. Hammer und Kohlenzange). Siehe darüber oben p. 36, Anm. 3.

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HEINRICH VON GENT Man hat gegen die Auffassung der Dürerschen Melancholie als einer Darstellung des schöpferisch genialen Menschen den Einwand gemacht, daß hier doch nicht ein Zustand höchster Produktivität, son­ dern ein Zustand „völliger Apathie“ und „durchdringenden Unbehagens“ veranschaulicht sei1); und zweifellos kann man von Dürers Blatt den Eindruck empfangen, daß bei dieser Frau tatsächlich die Melancholie „überhand genommen“2) habe, daß sie als eine,-mit Ficino zu reden, „Saturnia vel contemplatione nimium occupata, vel cura pressa“ sich

darstelles): in eine.tiefe, ursachlose Schwermut versunken, in der die Lust zu irgendwelchem Tun in einem Gefühl von Zweck- und Sinn­ losigkeit dieses Tuns zu ersterben scheint — „evadit tristis, omnium pertaesa“, wie es bei Paracelsus einmal heißt.4) Allein im Grunde ist der hier vorausgesetzte Gegensatz gar nicht vorhanden: denn gerade das ist ja das Charakteristische der melancholischen „Genialität“, daß innerhalb ihrer zwischen Trübsinn und schöpferischer Erwecktheit gar nicht zu trennen ist, insofern diese beiden seelischen Zustände nichts anderes als die extremen Erscheinungsformen einer einzigen seelischen Anlage darstellen, und es gehört zu der Größe des Dürerschen Kunst­ werkes, daß er es verstanden hat, die scheinbar nicht zu vereinenden

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1) H. Wölfflin, a. a. O. 2) Lange-Fuhse, p. 283, 26 (vgl. Wölfflin 1. c.): „Das Sechst, ob sich der Jung zu viel übte, do van ihm die Melecoley überhand mocht nehmen, daß er durch kurwelig Saitenspiel zu lehren dovon gezogen werd zu Ergetzlichkeit seins Geblüts.“ Der Ausdruck „überhandnehmen“ entstammt unverkennbar der (auf das aristotelische „(mepßaXÄeiv“ zurückgehenden) Terminologie der medizinischen Lite­ ratur — wie denn überhaupt diese ganze, anscheinend zwischen 1507 und 1512 skizzierte „Diätetik des Malerknaben“ (Lange-Fuhse, p. 283,13 bis 284,19) sich durchaus auf den Bahnen der traditionell-medizinischen Anschauungen bewegt, und, was insbesondere die Auffassung vom Wesen der Melancholie angeht, den An­ sichten eines Constantinus Africanus viel näher steht als denen der Florentiner Neoplatoniker: wenn Dürers Darlegung, wie Giehlow will, und wie es schon in Anbetracht der ganzen Fragestellung recht wahrscheinlich ist, in der Tat bereits durch Ficinos „libri de vita triplici“ angeregt ist, so hat sich Dürer damals aus Ficinos Schrift (von der ja nur die beiden ersten, vergleichsweise „me­ dizinischen“ Bücher in deutscher Übersetzung vorlagen) zunächst nur das zu eigen gemacht, was mit den landläufigen Anschauungen über­ ein kam: gerade die Empfehlung des musikalischen Heilverfahrens ist ja, wie oben gezeigt, ein völlig traditionelles Element innerhalb der libri de Vita. Um so bezeichnender, daß er dann später im Kupferstich (im Gegensatz zu dem der deutschen Ficinoübersetzung beigegebenen HolzschnittI) auf jegliche Andeutung der musikalischen Erheiterung verzichtete. v tr II 16, zitiert oben p. 45, Anm. 3) DO D 173’ Melancholie est morbus hominem mvadens, ut nolens 4) A.olens'evädal tristis, omnium pertaesus, variisque speculationibus abripiatur ad

moerorem et ploratum: ploratum.

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Dürei

psychologischen Gegensätze dennoch zu einer künstlerischen Einheit zusammenzuschließen. Er hat nicht eine bestimmte Erschei­ nungsform der Melancholie dargestellt, sondern ihr Wesen — ihr Wesen, dessen letzte Bestimmung in eben der „Polarität“ beschlossen liegt, die auch für den Saturn charakteristisch ist. Darüber hinaus aber läßt sich nun feststellen, daß gerade die hohe Begabung für mathematisches Denken in einen besonders innigen Bezug zur melancholischen Verdüsterung gebracht wurde. Luther hat

einmal halb scherzhaft gesagt: „Die Artzney macht Krancke, die Mathematic trawrige, und die Theology Sündhaffte Leut“1), undPico della Mirandola hat einen sehr ernsthaften Ausspruch des großen Scholasti­ kers Heinrich von Gent hervorgezogen2), in dem der Zusammen­ hang zwischen Melancholie und mathematischer Genialität ausführlich und höcht tiefsinnig erörtert wird: es gibt zwei Arten von Menschen, heißt es da; das eine sind die rein metaphysisch gerichteten Geister, deren Denken von allen anschaulichen Bedingungen befreit ist, und die daher auch solche Ideen, wie die eines extramundanen „Nichts“ oder einer intramundanen „Existenz ohne Körper“ (z. B. eines Engels) unmittelbar erfassen können.’ 'Das andere aber sind diejenigen, die eine Vorstellung nur denken können, wenn die Einbildungskraft dieses Denken begleitet, d. h. wenn sie das Vorgestellte räumlich anzu­ schauen vermögen: „Ihr Intellekt kann nicht hinaus über die Grenze ihrer Anschauung, ... sondern was immer sie denken, ist etwas Räum­ liches (Quantum), oder besitzt doch einen Ort im Raume wie der Punkt. Daher sind solcheLeute melancholisch und werden die besten Mathematiker, aber die schlechtesten Metaphysiker, denn sie vermögen es nicht, ihren Geist empor zu spannen über die räumliche Vorstellung, auf der die Mathematik beruht.3) 1) Zitat u. a. bei Ahrens, a. a. O. p. 301. 2) Apologia, de descensu Christi ad inferos disputatio. Opera I, p. 133. 3) Henricus de Gandavo, Quodlibeta, Paris 1518, Fol. XXXIV r (Quodl. II, Quaest. 9): „Qui ergo non possunt angelum intelligere secundum rationem substantiac suae. . . . sunt illi, de quibus dicit Commentator super secundum meta* physicae: in quibus virtus imaginativa dominatur super virtutem cognitivam. Et ideo, ut dicit. videmus istos non credere demonstrationibus, nisi imaginatio concomitet eas. Non enim possunt credere plenum non esse aut vacuum aut tempus extra mundum. Neque possunt credere hic esse entia non corporea, neque in loco neque in tempore. Primum non possunt credere, quod imaginatio eorum non stat in quantitate finita; et ideo mathematicae imaginationes et quod est extra coelum, videntur eis infinita. — Secundum non possunt credere, quia intellectus eorurn non potest transcendere imaginatio nem ... et non stat nisi super magnitudinem aut habens situm et positionern in magnitudine. Propter quod, sicut non possunt credere nec concipere extra naturam universi, hoc est extra mundum, nihil esse — neque locum neque tempus neque plenum neque vacuum — ....

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— Es läßt sich nicht mit Gewißheit behaupten, daß Dürer mit dieser Anschauung wirklich bekannt war — obgleich Picos Apologie den deutschen Humanisten nachweislich wohl vertraut gewesen ist.1) Aber jedenfalls führt jener Gedanke des Heinrich von Gent — der über das Physiologische und Astrologische gewissermaßen ins Transzen­ dental-Psychologische hinausführt (indem er die melancholische Veranlagung weder aus körperlichen Beschaffenheiten noch aus ok­ kulten Einflüssen der Sterne, sondern aus der besonderen Lagerung der menschlichen Erkenntniskräfte als solcher zu begreifen sucht) — jedenfalls führt jener Gedanke tief hinein in das, was wir als den Sinn desDürerschen Stiches empfinden dürfen: das tragische Geschick eines Menschengeistes, der sich kraft seiner eigenen inneren Gesetz­ lichkeit in Schranken eingeschlossen sieht, die er nicht überfliegen kann und die er dennoch überfliegen möchte, — schwermütig grübelnd in dem Gefühl einer unheilbaren inneren Insuffizienz. Insofern ist die „Melancholie“ in der Tat ein Gegenbild zum „Hieronymus“, dem sic non possunt credere neque concipere hic (hoc est inter res et de numero rerum universi, qui sunt in universo) esse aliqua incorporea, quae in sua natura et essentia carerent omni ratione magnitudinis et situs sive positionis in magnitudine. Sed quiequid cogitant, quantum est aut situm habens in quanto (ut punctus). Unde tales melancholici sunt, et optimi fiunt mathematici, sed pessimi metaphysici, quia non possunt intelligentiam suam extendere ultra situm et magnitudinem, in quibus fundantur mathematicalia.“ Der entsprechende Passus bei Pico lautet folgender­ maßen: ,,Qui ergo non possunt angelum intelligere secundum rationem substantiae suae, ut unitatem absque ratione puncti, sunt illi de quibus dicit commentator super secundum Metaphysicae, in quibus virtus imaginativa dominatur super virtutem cogitativam, et ideo, ut dicit, videmus istos non credere demonstrationibus, nisi imaginado eos comitatur, et quiequid cogitant, quantum est aut situm habens in quanto ut punctus, unde tales melancholici sunt, et optimi fiunt mathematici, sed sunt naturales inepti. Haec Henricus ad verbum. Ex quibus sequitur, quod secundum Henricum iste Magister sit male dispositus ad Studium philosophiae naturalis, peius ad Studium Metaphysicae, pessime ad Studium Theologiae, quae etiam est de abstractionibus: relinquitur ei solum aptitudo ad Mathematica . . .“ Der „Commentator super secundum Metaphysicae“ (11, A £äcittujv, Kap. III) ist natürlich Averroes, der in der Tat wörtlich von denen spricht: „in quibus virtusima­ ginativa dominatur super virtutem cogitativam, et ideo videmus istos non credere demonstrationibus, nisi imaginatio concomitet eos, non enim possunt credere“ usw. bis „incorporea“. (In der uns zugänglichen kommenrierten Aristotelesausgabe von j-^2 Venedig — Bd. VIII, fol. XVII r.) Allein diese Aussage bezieht sich bei^ Averroes gar nicht auf die Mathematiker, sondern auf solche, die, um etwas zu glauben quaerunt testimonium Versificatoris“, und von Melancholie ist überhannt keine Rede (nur daß es heißt, einige würden traurig über einen „sermo p r ♦ c“ weil sie ihn nicht behalten und verarbeiten könnten). Das Wesent•“ ■=“' ■“

betrachten^ ^ Apo]ogje war z. B. sowohl in der Bibliothek Hartmann Schedels vorhanden. als in demjenigen Conrad Peutingers t------- (Vgl. S. König, Peutingerstudien, 1914, p. 65.)

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________________________________ Dürer

die metaphysisch-religiöse Spekulation eine Befriedigung gewährt, wie sie die rational-mathematische niemals gewähren kann1), — und inso­ fern ist sie auch ein geistiges Selbstporträt Dürers, der die drei andern Komplexionen vielleicht nur um deswillen nicht dargestellt hat, weil er sich nicht mit ihnen identifizieren konnte; denn wie Dürer ein mathematischer Künstler war, so ist er auch — wir wissen es durch Melanchthons Wort über die „melancholia generosissima Dureri“ — ein melancholischer gewesen.2) Auch ihm ist die divinatorische Begeisterung des melancholischen Genies nicht fremd gewesen, die nur aus „oberen Eingießungen“ verstanden werden kann3), und die den zur Kunst „genaturten “ Menschen dazu befähigt, „alle Tag viel neuer Gestalt der Menschen und andrer Creaturen auszugießen und zu machen, das man vor nit gesehen noch ein Ander gedacht hätt“4) — auch er hat unter den „gewaltigen Depressionen“ gelitten, die das Melancholieproblem des Aristoteles beschreibt. Und gerade an der Mathematik — der er die Arbeit eines halben Lebens gewidmet hat — hat er die bittere Erfahrung machen müssen, daß selbst sie (oder vielmehr gerade sie) das Denken niemals bis zum Absoluten 1) Daß man bei diesem Gegensatz — der ja gerade bei Pico sehr klar und mit deutlichster Zuspitzung auf die Theologie zum Ausdruck kommt — nicht etwa an ein „Pendant“-Verhältnis im äußerlichen Sinne zu denken hat. zeigte Weixlgärtner (Mitt. d. Ges. f. vervielfält. Kunst. 1901, p. 47 ff.). Noch weniger darf man mit Wustmann (Zeitschr. f. bild. K.N.F.XXII, 191 1, p. 116) annehmen, daß der von der Decke herabhangende Flaschenkürbis auf dem Hieronymus-Stich ursprünglich zur Aufnahme der Inschrift: „Melencolia II“ bestimmt gewesen sei. 2) Vgl. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung. 1. c. Ganz unabhängig von der tatsächlichen Feststellung hat übrigens schon M. J. Friedländer bei Gelegenheit einer vorsichtigen und schönen Charakteristik des Kupferstichs Melencolia I die Frage aufgeworfen, ob Dürer nicht am Ende selber Melancholiker gewesen sei. (Albrecht Dürer — Deutsche Meister, 1921, p. 146ff.). ~ 3) Lange-Fuhse, p. 297, 18 (von 1512; ferner ganz ähnlich Lange-Fuhse, p. 310,9 und 313,17 von 1513): „Zu der Kunst, recht zu malen, ist schwer zu kummen. Dorum wer sich darzu nit geschickt findt, der untersteh’ sich der nicht. Dann es will kummen van den oberen Eingießungen.“ 4) Lange-Fuhse, p. 218,16 (aus der 1528 gedruckten Proportionslehre); ganz ähnlich Lange-Fuhse, p. 356, 14 (Entwurf um 1523); die Vorstufe dieser Formulierung bildet der bekannte Satz von 1512 (Lange-Fuhse, p. 298,1, ganz ähnlich, noch etwas früher, Lange-Fuhse, p. 295,13): „Dann ein guter Maier ist inwendig voller Figur, und obs müglich wär, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen, dovan Plato schreibt, allweg etwas Neues durch die Werk auszugießen.“ Ist es ein Zufall, wenn sowohl der Satz von den „oberen Ein­ gießungen“ (dies schon von Giehlow, a. a. O. p. 68 angemerkt) als auch der Satz von der „Originalität“ des stets Neues und noch nicht Dagewesenes erdenkenden Genies an ein und dieselbe Stelle aus Ficinos Charakteristik des saturninischen Melancholikers anklingen: ,,Unde divinis influxibus oraculisque ex alto repletus nova quaedam. inusitataque semper excogitat?“ (D. v. tr. I, 6, zitiert oben p. 36, Anm. 3.) Vgl. hierüber auch Giehlow, a. a. O. 1904. p. 68.

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führen kann — bis zu dem. Absoluten, darunter er, der Künstler der Renaissance, vor allem die absolute Schönheit verstand: berauscht von der Aussicht in das „neue Königreich“ der Kunsttheorie, die ihm die Mitteilungen Jacopo de Barbaris eröffneten, glaubte der Dreißigjährige, die eine, große Schönheit mit Zirkel und Richtscheit bestimmen zu können — allein der Vierzigjährige hat sich der Ein­ sicht nicht zu verschließen vermocht, daß diese Hoffnung ihn getrogen hatte.1) Und nun sind es gerade die dem Kupferstich „Melencolia I“ unmittelbar vorangehenden Jahre gewesen, in denen diese neue Ein­ sicht zu völliger Klarheit gereift ist und ihre erste begriffliche For­ mulierung gefunden hat: um 1512 hat Dürer den berühmten Satz ge­ schrieben: „Was aber die Schönheit sei, das weiß ich nit“2), und in dem gleichen Entwürfe heißt es: „Dann es lebt auch kein Mensch’ auf Erd, der sagen noch anzeigen kann, wie die schönest Gestalt des Men­ schen möcht sein. Niemands weiß das, dann Gott, die Schon zu urtheilen.“8) Vor einer solchen Erkenntnis mußte auch der Glaube an die Macht der Mathematik sich beugen: „Und soviel die Geometria an trifft,“ schreibt Dürer etwa zehn Jahre später, „mag man etlich Ding beweisen, daß sie wahr sind, — etlich Ding muß man aber bei der Meinung und Urtheil der Menschen bleiben lassen“4); und seine Skepsis hat jetzt einen solchen Grad erreicht, daß nicht einmal mehr die ^Annäherung an die höchste Schönheit ihm möglich erscheint: „Dann ich glaub, daß kein Mensch leb’, der das Schönste in einer kleinen Creatur müg bedenken, do es sein End möcht haben, ich geschweig dann in eim Menschen. ... Es steigt nit ins Menschen Gmüt, Aber Gott weiß Sölchs, und wem ers offenbarn wollt, der weßt es auch.... Aber ich weiß nit anzuzeigen ein sunder 1) Über diese Wandlung in Dürers Kunstanschauung vgl. vor allem Lud­ wig Justi, Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albr. Dürers, 1902, p. 21 ff.; derselbe in Repertorium XXVIII, 1905, p. 368ff. Ferner E. Panofsky, Dürers Kunsttheorie 19*5» P- 113- namentlich aber p. 127ff. 2) Lange-Fuhse, p. 288,27. Dürers Nichtwissen bezieht sich natürlich nicht auf das, was die Schönheit (ihrem Begriffe nach) sei, sondern auf das was d i e Schönheit (ihren anschaulichen, insonderheit proportio­ nalen Bestimmungen nach) sei (so auch Wölfflin, a. a. O., p. 349). Das geht schon aus der Fortsetzung hervor: „Idoch will ich hie die Schönheit also für mich nehmen- was zu den menschlichen Zeiten van dem meinsten Theil schön geachtt werd des soll wir uns fleissen zu machen.“ Der Satz: „was aber die Schön. . ’ • d wejß ich nit“ kommt also seinem Inhalt nach den weiter unten zitierten Formulierungen Lange-Fuhse 222,7 bz«r. 359, . 6 gleich . t ae Fuhse p 290,21. Fast wörtlich identisch in einem 1512 datier4) Lange-Fuhse, p-3^3» 5-

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Maß, welches zum Hübschesten mocht nahen.“1) — Wenn dann zum Schluß die ehrfürchtige Liebe zur Mathematik noch einmal einen ganz starken und beinahe rührenden Ausdruck findet, so ist es also die in ihre Grenzen zurückverwiesene, die resignierende Mathematik, der diese Huldigung dargebracht wird, und dem Satze „welches aber durch die Geometria sein Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben; denn da ist man gefangen. . .geht ein anderer Satz voraus, den man sich fast als Unterschrift des Kupfer­ stichs „Melencolia I“ zu denken vermöchte: „dann die Lügen ist in unsrer Erkanntnuß, und steckt die Finsternuß so hart in uns, daß auch unser Nachtappen fehlt.“2) So scheint denn, unbeschadet aller Zusammenhänge mit der Astro­ logie und der Medizin, mit Marsiglio Ficino und den Planetenkinder­ bildern, doch auch die Empfindung derer gerechtfertigt, die in dem Kupferstich „Melencolia I“ etwas anderes sehen möchten, als ein, wenn auch noch so sehr veredeltes, Temperaments- oder Krankheitsbild: ein Selbstbekenntnis und einen Ausdruck faustischen „Nichtwissenkönnens“. Es ist das Antlitz des alten Saturn, das uns anblickt, allein wir haben ein Recht, darin auch Dürers Züge wiederzuerkennen.

1) Lange-Fuhse, p. 359,3. In der gedruckten Proportionslehre heißt es dann: „Das gib ich nach, daß Einer ein hübschers Bild mach . . . dann der Ander. Aber nit bis zu dem Ende, daß es nit noch hübscher möcht sein. Dann Solchs steigt nit in des Menschen Gemüt. Aber Gott weiß Solichs allein, wem ers offenbarte, der weßt es auch. Die Wahrheit hält allein innen, welch der Men­ schen schönste Gestalt und Maß kinnte sein und kein andre ... In solichem Irr­ tum, den wir jetz zumal bei uns haben, weiß ich nit statthaft zu beschreiben end­ lich, was Maß sich zu der rechten Hübsche nachnen möcht“ (Lange-Fuhse, p. 221, 30).

2) Lange-Fuhse. p. 222, 25 (aus der gedruckten Proportionslehre). Im Hinblick auf einen solchen Satz erscheint es kaum gerechtfertigt, das faustische „Und sehe, daß wir nichts wissen können“ als einen Ausdruck spezifisch „moder­ ner“ Empfindung zu betrachten (so Wölfflin, a. a. O. p. 239).

I. ANHANG

DIE SATURNTEXTE DES ABU MA‘SAR UND DES IBN ESRA1)




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A. Der Abu Ma'sar-Text in der Übersetzung des Her­ rn annus Dalmata (aus „Introductorium in astronomiam Albumasaris abalachi octo continens lebros partiales“, Ven. 1506, p. 106): „Saturnus quidem natura frigidus, siccus, nonnunquam accidentaliter humidus, obscurus, asper, gravis. fetidus, vorax, tenax; multe cogitationis firmeque memorie, s:bi magni alijs parvi, eius est agricultura, habitatio terrarum et aquarum, rerum dimensio et pondus, fundi partitio, multaquae interdum possessio, tum et manu altum2) pars artificiorum ut cementarii, fossores, carpentarii atque id genus, tum summa et egestas, navigia, longa via et difficilis, longum cxilium, etiam provisus difficultatum et periculorum incursus, tum fraudes, hequitia, doli proditio, noxa facinora, abhominatio, solitudo, deliberatio quoque et intellectus, sermo certus et amicitia stabilis, longa providentia, tum et regum consules omnisque malitia, iniquitas ct violentia, captivitas, cathene, compedes, carceres, damnatio, instantia, pertinatia, perfidia, difficilis ira nec tarnen effrenis omnisque boni odium et invidia. Tum metus, angustia, dolor, penitentia, passiones, dubitatio. Error, involucrum3), labor, pena, lesio, funera, luctusque funebrii, orphani, vidui et orbi, hereditates resque antique. Tum senex, patres, avi, proavi eiusque partis parentes. Tum servi, mancipia, mercenarii, eunuchi, vulgus atque hominum genus infame, steriles; ignavum, detractium; corporis partes auris dextra et spien omneque melancolie genus. Tum malefici fures, fossoresque monumentorum et spoliatores omneque magice omnisque maleficii Studium, postremo longa cogi-

) Den Saturntext der ,,Lauteren Brüder“ findet man in deutscher Übersetzunr bei H. Ritter, a. a. O., wiedergegeben. ? Das manu altum“ ist ohne Zweifel verlesen oder verschrieben aus „ma, " die Übersetzung des Johannes Hispalensis: „magisteria quae manuatitim t'B1* nibus °PerantUir*vOlucrum“ wahrscheinlich zu lesen: „involuciones“ (vgl. bei Joh.

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1. Anhang

tatio, rarus sermo, altus secretorum intellectus, occulta profundorum atque inexhausta sapientia.“

B. Der Abu Ma'sar-Text in der Übersetzung des Jo­ hannes Hispalensis (aus Cod. lat. Mon. 374, saec. XIV, fol. 65 r): „Saturni igitur natura est frigida sicca melancolica tenebrosa gravis asperitatis et fortassis erit frigida humida fetidi odoris. Et ipse est multe comestionis et nature dilectionis. Et significat opera humiditatis et cultus terrae et auctores magisteriorum et populationem terrarum. Edificia quoque et aquas atque flumina. Et quantitates sive mensuras rerum ad divisiones terrarum, habundantiam quoque et multitudinem substantie. Et magisteria que manibus operantur et avaritiam et paupertateni maximam ac pauperes. Et significat naves in mari et peregrinationem longamque prolixam ac malam, et calliditatem. Invidiam et ingenia et seducciones. Et audaciam in periculis atque impedimentum et recreationeni. Et singularitatem et paucitatem societatis hominum et superbiam et magnanimitatem et simulationem, atque jactantiam et hominum subiectionem. Dispositores quoque regni et omnis operis qui fit in ira et cum malo et iniuriis atque iracundia. Cellatores vinctionem et carcerem. Veritatem quoque in verbis et dilacionem et speciositatem (?). Et intellectum atque experimenta et Studium in calliditate et multitudinem cognitionis ac profunditatem consilii. Et adhaerentiam unius operis. Non facile irascitur et cum iratus fuerit, non poterit dominari animo suo. Nemini bonum optat et significat senes et ponderosos homines et gravitates ac timorem, moerores ac tristitias et involucionem animi et fraudem et afflictionem et distractionem atque amissionem. Mortuos quoque et reliquias mortuorum luctum quoque et orfanitatem et res antiquitatis, avos et patres et fratres maiores, servosque et mulieres1) et homines qui vituperantur et latrones et eos qui effodiunt sepulchra et qui furantur indumenta mortuorum. Et aptatores coriorum et eos qui vituperantur homines. Significat et viles homines atque spadones et significat prolixitatem cogitationis et paucitatem locitionis, et scientiam secretorum, et nemo seit quid sit in animo suo nec patet alicui. Sapiens [patet]2) in omni re profunda. Significat paupertatem substantie.“ 3)

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1) Statt „milites“, was etwa dem „Reitknechte“ entsprechen könnte? 2) Das Wort „patet“ vom Korrektor gestrichen. 3) Im allgemeinen erweist sich die Übersetzung des Joh. Hispalensis als die dem arabischen Urtext — wenigstens so. wie er im Leidensis überliefert ist — bei weitem entsprechendere. Beide Texte interpolieren anscheinend die Melan­ choliebestimmung, wobei aber anzumerken ist, daß Joh. Hispalensis (im Gegen-

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Die Saturn texte des Abu Ma'sar und des Ibn Esra

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C. Der Textdes Ibn Esra1) aus: Abrahe Auenaris Judei Astrologi peritissimi in re iudiciali opera: ab excellentissimo Philosophö Petro de Abano post accuratam castigationem in latinum traducta (Ven. 1507.) fol. XVIIIv sq. „Capitulum quartum in natura septem planetarum et earum potestate et in omni eo quod significant. Et hie incipiam in expositione Saturni, quoniam aliis altior est. In orbe nanque septimo existit a terra. Saturnus est frigidus et siccus, masculinus in fortuna. Et ipse denotat dissipationem, destructionem, mortem, planctum, dolorem, contristationem, lamentationem, conclamationem atque res antiquas. Eius quidem pars est anime hominis cogitationis vis. Suum quoque est clima primum. Et haec est Indorum regio. De hominibus eius pars sunt Mauri, ludei, Alfalbarbace et communiter omnes terre laboratores, naute et corii preparatores, latrinarum purgatores, servi vilipensi, fures puteorum ac fovearum fossores et mortuorum sepulturas expoliantes. Ipse quoque metallorum terre tenet plumbum nigrum, ferrum rubiginosoim, lapides negros, omnem nigrum marmor lapidem trahentem omnemque lapidem ponderosum et nigrum. De locis vero possidet concavitates, putrefactiones, puteos et loca carceris atque omnem locum obscurum inhabitatum et cimiteriorum loca. De anitnalibus elephantes, camelos et etiam asinos et omne animal magnum turpe, velut sunt porci, ursi, symie, canes nigri et aetti similiter nigri. Eius siquidem avium sunt omnes corpore magne quarum cossa existunt longa, ut strutio, aquila, rahien id est ardea et omnis avis, cuius pertinens est garritus, corvus, nicticorax et avis quelibet, cuius color niger existit. Terre siquidem serpientis eius existunt pulices, cimices, musce, mures et omne serpiens dissipativ um et fetidum intra terram existens. Eius vero est arboruni pars omnis glandium et gallarum arbor pigmentumque „balot“ dictum, cormes id est corbicula, et quelibet arbor spinosa nociva, fructu carens et lentes atque panicum. Eius quidem medicinarum maneries sunt alsabarh, id est aloes, et alhaliget et alkalileg et almaleg et que gerunt similitudinem prunorum ex India portatorum et omnis arboris fructus, in quo mortis passio in existit, et quelibet res amara, velut absinthium et omnino germinans nigrum. Eius quoque natura est frigida et sicca, et sapor eius est stipticus lingue constrictivus et qui minime suavitatis sapor existit: et eius odor est fetidus. Eiusque piginentorum maneries

auch bei den anderen Planeten die ihnen entsprechende satz zu Henn. Dalmata) und zwar stets an derselben Stelle gleich am Anfang. Komplexion angibt, ;ist, wie schon Borges erkannte, wahrscheinlich eine j) Das Werk Ibn Esras i im Salone zu Padua. der Quellen der Darstellungen

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I. Anhang. Die ' Satumlexte des Abu Ma'sai und des Ibn Esra

sunt alkasat, id est kida et cassuralhose, que sunt ligqi corcices et aselika et almia, id est nathalis. Pannorum siquidem sclavina et pannus laneus, tapetum omnisque pannus densus. Et hominis nature vel moris ipsius pars est meditatio, verborum paucitas, calliditas, mors, solitarium fore et extraneum ab aliis hominum, ipseque conatur illos vincere et ut extorsionem agat atque discordiam, firmus in suo verbo, longe cogitationis, sapiens in consciliis (!) et dei obsequio, subtractor puerorum. Cum duritia ambulans, timorosus et dubitans. Et omnino ei deceptio inest fixa. Cuius quidem utilitas est modica, nocumentum vero grande. Eius quoque est terram colere et navigare, metalla suffodere, reposita querere ac fodere lucrarique ex rebus mortuorum et in omni eo, quod est annosum. Et eius artificiiirri est omne laboriosum plurimum et valoris modici omnesque operationes vilipense, ut lapides incidere et puteos purgare atque omne artificium sordidum. Et ipse denotat patres et avos acmortuos, fletum, Sequestrationen!, mutationem, paupertatem, infirmitatem, vias longinquas periculis expositas. Et in nullis rebus eius adest utilitas. Et si in hominis natura presignator extiterit, quod eius est nature, omne bonum exhibebit. . . . Et eius de corpore hominis pars sunt ossa, spien, aurisque dextra locusque superfluitatum atque colera nigra. Et eius sunt infirmitates, rabies, fatuitas, tremor et iterum separatio et etiam omnimodi ictericie, lepra, podagra omnisque egritudo chronica atque omnis frigida et sicca ab illis causata. Suaque annorum pars est decrepita etas et vite finis. De partibus autem mundi oriens. De visibilibus color eius est niger et pulverulentus. De diebus vero sabbatum. Et ex noctibus illa, que diem mercurii antecedit. De horis vero eius est prima atque octava. Litterarum quidem ipsius sunt pe, videlicet p, et haim, videlicet y, atque sein, videlicet ss. Sunt et aliqui dicentes itidem etiam nun. Figurarum vero hee due (fehlen im Druck). Annorum autem maximi ipsius sunt 25, 6; maiores 57; mediocres 43 et dimidius; minores vero 30. Anni quoque partitionis firdarie dicte sunt 11. Eiusque corporis vigor est 9 gradus ante ac tantundem posterius.“

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