Drei Gestalten aus dem modernen Katholizismus: Möhler, Diepenbrock, Döllinger 9783486753479, 9783486753462


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German Pages 192 [200] Year 1926

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Möhler
Melchior von Diepenbrock
Döllinger (1799—1890)
Verzeichnis der Personennamen
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Drei Gestalten aus dem modernen Katholizismus: Möhler, Diepenbrock, Döllinger
 9783486753479, 9783486753462

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FRITZ VIGENER

DREI GESTALTEN AUS DEM MODERNEN KATHOLIZISMUS MÖHLER/DIEPENBROCK DÖLLINGER

MÜNCHEN UND BERLIN 1926 DRUCK U N D VERLAG VON R. OLDENBOURG

B E I H E F T 7 DER H I S T O R I S C H E N Z E I T S C H R I F T

Alle Rechte, einschließlich der Übersetzung, vorbehalten

Nacß dem WiiTen des Verfaffers f o f fdiefe,feine fetzte Arßeit zugeeignet iverden

UNSERN F R E U N D E N in tiefer Dankbarkeit für äffe Treue. Mögen tönen die ,Drei Geftaften'zum Gedenkßfatt werden an denfrüß Vollendeten! Jfi doch unendficß vief Hineingearbeitet von feinem eigenen feinen Wefen, ift es dod> das fetzte Aufßadiern gewefen der Tfamme, die ißm anvertraut war unddie erfofrüß an diegroße Li&tquelfe ßat zurückgehen miijfen Sopßie Vigener

Vorwort. Der Verfasser dieser Aufsätze war Inhaber des Gießener Lehrstuhles für Mittelalterliche Geschichte und starb 45 jährig am 2. Mai 1925. Er war in schönster aufsteigender Entwicklung, als ihn eine tückische Krankheit, deren Keim er sich im Kriege zugezogen hatte, dahinraffte. Kurz vorher, 1924, war sein großes Werk über Bischof Ketteier erschienen, imponierend als gelehrte Leistung durch peinlichste Forschung und Tiefe des Urteils, ergreifend aber auch als menschliches Dokument. Denn ein früherer Katholik, der seine einstige Kirche nicht haßte, sondern historisch gerecht und groß zu begreifen vermochte und über allem historischen Begreifen die eigene warme, ja leidenschaftliche Teilnahme nicht unterdrücken konnte und wollte, sprach hier sich über einen der mächtigsten Repräsentanten des modernen deutschen Katholizismus aus. Persönlich noch stärker reizten ihn die drei Erscheinungen dieses Katholizismus, die in diesen Aufsätzen behandelt sind. Denn hier waren noch innerlichere und feinere Vorgänge der Seele und ihrer Auseinandersetzung mit geschichtlichen Mächten zu schildern, als in dem mehr nach außen gewandten Leben des streitenden Kirchenfürsten. Das gibt diesen drei Aufsätzen ihren besonderen Reiz. Die geistesgeschichtlichen Probleme, die hier behandelt werden, waren für den Verfasser eigene Lebensprobleme, und unter der strengen Sachlichkeit schimmert sein eigenes Herzblut. So sind sie entsprungen aus jener Wechselwirkung von Objektivität und lebendiger, aber gebändigter Subjektivität, auf der alle höhere geschichtliche Leistung beruht. Noch auf dem Krankenbette hat der Verfasser an diesen Aufsätzen gearbeitet mit derselben heroischen Gesinnung, die er als Soldat im Kriege betätigt hatte. Der Aufsatz über Döllinger ist nicht ganz zum Abschluß gelangt, aber das wesentliche über ihn ist zum Ausdruck gekommen. B e r l i n - D a h l e m , 2. Aug. 1926.

Friedrich Meinecke.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Möhler Diepenbrock Döllinger

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Möhler. Wird der Name Möhler genannt, so taucht vor denen, die nur eine allgemeine Vorstellung von diesem katholischen Theologen gewonnen haben, aber auch vor jedem Kenner der Werke und der geschichtlichen Stellung Möhlers über alles andere hinweg die »Symbolik« empor. An dieses berühmte Buch vom Jahre 1832 denken, heißt sich einer groß gefaßten und kraftvoll durchgeführten katholischen Auseinandersetzung mit dem Protestantismus erinnern. Einen geistesmächtigen Angriff auf die protestantische Kirche — so hat Karl H a s e mit Recht Möhlers Symbolik genannt. Ein »geistesmächtiger« Angriff aber wird immer mehr sein als lediglich Bekämpfung des Gegners. Möhlers Symbolik ist allerdings stärker vom Geiste des Kampfes angetrieben, als das Wort »Symbolik« vermuten läßt mit seinem gedämpften Klange und dem gemessenen Sinne einer sachlichen Darstellung der konfessionellen Lehrbegriffe auf der Grundlage der »Symbole«, der anerkannten Bekenntnisschriften. Gezügelter, also wirksamer Kampfgeist erfüllt diese Symbolik. Aber schon darum, weil Möhler den Protestantismus überwinden wollte mit den Kräften und den Mitteln des Katholizismus, mußte er dem Sinn der Symbolik sein Recht lassen und also auch das dogmatische System, die Lehranschauungen seiner Kirche entwickeln, der katholischen Kirche, der dieses Buch als Verteidigungs-, als Eroberungsschrift gewidmet war. Ist Möhlers Symbolik bedeutend im Polemischen und doch nicht lediglich polemisch bedeutend, so hat das Buch als solches schon ein Recht darauf, in seinen sachlichen und persönlichen Voraussetzungen betrachtet zu werden: es handelt sich um ein bei aller ausgesprochenen und unausgesprochenen Ehrfurcht vor der objektiven Kirchensatzung und bei bereitwilliger Aufnahme fremder Anregungen doch ganz persönliches Buch, ein Buch, wie es nur einmal und nur von diesem Manne geschrieben werden konnte; und diese Schrift zeigt zugleich — obwohl sich dem kirchlichen Enthusiasmus kirchliche Berechnung gesellt und obwohl sie oberflächlicher Betrachtung vollkommen ausgeglichen scheinen mag — so viel widerspruchsvoll Lebendiges in sich, daß der Leser Beiheft d. H. Z. 7.

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der Symbolik den Symboliker selbst suchen wird. Die Symbolik ist Möhlers Hauptwerk, ganz ohne Frage. Sie hat ihn vor dritthalb Menschenaltern weltberühmt gemacht; auf ihr zum guten Teile ruhte die Wirkung des Mannes in seiner Zeit, auf ihr ganz überwiegend ruht seine dauernde Nachwirkung. Aber weder Möhlers Stellung in der Geschichte der katholischen Theologie und Kirche und in der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, noch gar seine persönliche Art kann man aus der Symbolik allein erkennen. Daß es hier an Widerspruchsvollem nicht fehlt, daß ihre verschiedenen Auflagen sogar einzelne sachliche Unterschiede von Belang aufweisen, das allein schon deutet auf Entwicklung, auf Überwindung innerer Widerstände, auf Auseinandersetzungen mit Gedanken und Gewalten innerhalb und außerhalb der Kirche. Aber das Katholische selbst ist für diesen reichen und reifen, diesen gläubigen und zugleich kritischen Geist ein Problem gewesen : ein Gegenstand nicht zwar der zweifelnden und zersetzenden, aber der liebevoll forschenden und behutsam erobernden Kritik. Allen theologischen und das heißt überhaupt allen Schriften Möhlers merkt man es an, daß er nicht lediglich Theolog und als Theolog nicht lediglich Kirchenmann war. Sein geistiger Mutterboden ist der Katholizismus, aber der deutsche Katholizismus der ersten Jahrzehnte nach der Säkularisation, ein Katholizismus, der ein gutes Stück wesentlich katholischer, doch nicht einfach kirchlich bestimmter Gedanken aus der deutschen Romantik und einiges Wenige selbst aus den Geistesgaben des klassischen deutschen Humanismus in sich aufgenommen hatte. Möhlers theologischer Ausgangspunkt und beharrende kritische Grundlage ruht in dem Forschungsboden, in der geistigkirchlichen Grundanschauung der württembergischen wissenschaftlichen Theologenschule, einer katholischen Theologie, die mit Aufklärungsgedanken gerungen hatte, nicht ohne sich von ihnen segnen zu lassen, die das Dogma nirgends preisgab oder umdeutete, aber die Entwicklung des Dogmas im Sinne einer Entfaltung des Offenbarten doch nicht leugnen wollte und vor allem den Zwang des Dogmas streng auf das unmittelbare Gebiet des Dogmatischen zu beschränken suchte, eine katholische Theologie zugleich, die sich gegen eine auf anderen geistigen Voraussetzungen ruhende Wissenschaft nicht ängstlich abschloß, die Gedanken und Leistungen deutscher Philosophie und protestantischer Theologie nicht einfach mit kirchlicher Verdammung abwies, sondern in ernsthafter Auseinandersetzung auch für die eigene Erkenntnis fruchtbar zu machen suchte, für eine Erkenntnis nun freilich, deren unverrückbar feste kirchliche Schranken auch



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von diesen Tübinger Theologen nur im Sturme ursprünglicher wissenschaftlicher Begeisterung gelegentlich verkannt und überrannt worden sind. Möhler ist, wie wir noch sehen werden, der katholischen Tübinger Schule ganz zugehörig. Er hat sie auf die Höhe ihrer Selbstdarstellung und ihrer Wirkung geführt. Er hat den wissenschaftlichen Sinn dieser Schule geschätzt, wie man nur etwas schätzen kann, woran man innerlich Anteil hat. Aber Möhler war es auch, der sie in dem Sinne vollendete, daß er ihre Theologie mehr und mehr löste von den Zugriffen deutschkirchlicher, philosophisch-idealistischer, protestantisch-theologischer Mächte, daß er den kirchenstrengen Geist aus dem Gewoge dieser Kräfte reiner heraushob, entschlossen, die verjüngenden Wirkungen des geistigen Stahlbades gegen die gewährenden und doch eben fremden Gewalten selbst arbeiten zu lassen, immer freilich auch in dem stillen, schließlich fast widerwilligen Bewußtsein einer Verpflichtung gegen deutsche Philosophie und protestantische Theologie. Das W ü r t t e m b e r g des 18. Jahrhunderts stand durch zwei Menschenalter hin (1733 bis 1797) unter katholischen Herzögen, aber es blieb ein lutherisches Land. Nur in Stuttgart und Ludwigsburg durfte katholischer Gottesdienst gehalten werden. Außerhalb des Hofes gab es keinen Katholizismus von Bedeutung, in der Umgebung des Herzogs aber lebten im späteren 18. Jahrhundert katholische Prediger und Theologen, die sich willig der Aufklärung hingaben und etwa gar, wie der Hofprediger Benedikt Maria Werkmeister, so weit vom katholischen Lehrbegriffe abrückten, daß sie die Unfehlbarkeit der Kirche selbst bestritten. Der katholische Hof des protestantischen Landes rückte mit solchen Erscheinungen nicht aus der Reihe der katholischen weltlichen und geistlichen Staaten. Die politischen Absichten und kirchenpolitischen Ideen des Josephinismus und Febronianismus, des Regentenberufs auch zu zwangsmäßiger »Aufklärung« und des vor allem bischöflich begründeten Anspruchs auf die kirchliche Verwerfung unbeschränkter päpstlicher Universalgewalt in der Kirche, diese kirchenpolitischen Gedanken wirkten allenthalben tief auch in das theologische Gebiet hinein, das zugleich von Innen her angegriffen war durch philosophische Grundsätze und überkonfessionelle Bildungsideale. Der alte katholische Scholastizismus, der noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts über die Besonderheiten der verschiedenen 1 *

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Schulen hinweg durch die wesenhafte Einheit der Methode zusammengehalten wurde, mußte im späteren 18. Jahrhundert an den bedeutendsten katholischen Bildungsstätten bescheiden zurücktreten. Die strenge katholische Moraltheologie etwa wurde bedroht durch philosophische Moralsysteme, denen mehr oder minder starke katholisch-theologische Beigaben ein einigermaßen kirchliches Antlitz verschaffen sollten. Die katholische Theologie überhaupt erscheint gerade in den Werken, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Vordergrund schoben, berührt von der deutschen Philosophie. Theologen, die sich gegen philosophische Lehrsysteme wandten, suchten diese im Geiste und mit den Mitteln nicht der alten scholastischen Theologie, sondern der modernen Philosophie zu bekämpfen. So stellten sich etwa katholisch-theologische Gegner Kants auf den Boden der Wölfischen Schule. Benedikt Stattler in Ingolstadt wünschte, den Kritizismus Kants nicht kirchlich zu verdammen, sondern philosophisch zu widerlegen; er wollte, wie er in seiner (nun doch wohl nicht philosophischen) Überheblichkeit meinte, die »unausstehlichen Ungereimtheiten« der Kantischen Philosophie hell aufdecken »für jeden gesunden Menschenverstand, und für jeden auch nur ersten Anfänger im ordentlichen Selbstdenken«. Katholisch-rationalistische Denkweise, eine mit den Lehrgedanken und mit der Lehrhaftigkeit der Aufklärung versetzte katholische Apologetik wirft sich auch der widerkirchlichen Philosophie entgegen, aber diese Aufklärungsapologetik selbst hat zu viel von der fremden Methode, von den unkirchlich-philosophischen Ideen aufgenommen, um noch wahrhaft als kirchliche Apologetik erscheinen zu können. Derart bereitete der deutsche Katholizismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts theologisch den Zusammenbruch vor, den er zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner politischen Macht und seinen kirchlichen Organisationen erleben sollte. Die S ä k u l a r i s a t i o n bezeichnet das Ende der alten deutschen Reichskirche. Nicht nur die geistliche Staatenwelt verschwand. Mit den kirchlichen Staaten wurde auch die kirchlich-bischöfliche Ordnung zerstört oder doch aufs schwerste erschüttert. Die noch nach dem Wiener Kongreß erneuerten Versuche einer kirchlichen Neuordnung für ganz Deutschland scheiterten, wie so oft in der deutschen Geschichte Einheits- und Machtgedanken, an dem Zusammengehen des deutschen politischen Partikularismus und des römischen kirchlichen Universalismus. Es waren das keine gleichgesinnten und gleichmächtigen Genossen, die deutschen Regierungen und die römische Kurie, und der Argwohn, wenn nicht die Feindseligkeit war schon in dem Augenblick auf beiden



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Seiten lebendig, als die Regierungen einzeln oder in Gruppen sich mit Rom über die neuen Bistümer verständigten. Das Gemeinsame lag lediglich in der Abwehr des Gedankens einer gesamtdeutschen einheitlichen Kirchenordnung, die der Selbstherrlichkeit des Einzelstaates wie der kirchlichen Herrschaft des Papstes gefährlich werden konnte. Die deutschen Staatsregierungen, insbesondere die württembergische, die badische und die anderen, deren katholische Untertanen in der Oberrheinischen Kirchenprovinz zusammengefaßt waren, beugten sich nicht einfach den kurialen Ansprüchen, weder den kirchenpolitischen noch den kulturpolitischen. Die katholischen »Landeskirchen«, die durch weltlich-bürokratische Überwachung den unmittelbaren Zugriffen und der regelmäßigen, stetigen Einwirkung der römisch-kirchlichen Zentralgewalt entzogen waren, konnten so auch von den theologischen Ausstrahlungen Roms kaum erreicht werden. Der Staat übte das Recht der Überwachung aller' »Religionsgesellschaften« im Lande, also auch der katholischen Kirche, das Recht der Leitung des Erziehungswesens überhaupt, also auch des geistlichen. Die württembergische Verfassung von 1819 verbürgte den drei christlichen Konfessionen zwar freie öffentliche Religionsübung und anerkannte die Selbständigkeit der Kirchen in inneren Angelegenheiten, aber dem König verblieb das oberste Schutzund Aufsichtsrecht auch über die katholische Kirche seines Landes, und tatsächlich griff die Regierung tief in die kirchlichen Verhältnisse ein, z. B. selbst in die Gottesdienstordnung; gerade in Württemberg kümmerte man sich fürsorglich gar um Stola und Cingulum. Die württembergische Regierungsbehörde für Kirchensachen (»Kirchenrat«) schloß auch katholische Geistliche in sich, freilich kamen sie vorerst noch aus der geistig führenden Aufklärungsschicht. In Ellwangen, in der alten Stadt der fürstlichen Pröpste, wo das neue Königreich Württemberg zwei Jahre lang den Sitz seiner Oberlandesregierung gehabt hatte, errichtete die Regierung (1812) auf eigene Faust ein württembergisches Generalvikariat; der Generalvikar Fürst Hohenlohe, Augsburger Weihbischof, wurde erst im Frühjahr 1816 vom Papste durch Ernennung zum apostolischen Vikar anerkannt. Anderthalb Jahre später wurde das Generalvikariat von Ellwangen nach Rottenburg verlegt; das Vorspiel der Errichtung des Bistums Rottenburg, die im Jahre 1821 im Verbände der Oberrheinischen Kirchenprovinz vollzogen wurde. Die künftigen katholischen Priester im Königreich Württemberg wurden seit dem Jahre 1812 gleichfalls in Ellwangen wissen-



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schaftlich ausgebildet. Diese katholische Lehranstalt, durch die volltönendeBezeichnung»Friedrichsuniversität« mehr gedrückt als gehoben, ward nicht vom radikalen Rationalismus beherrscht, wohl aber umlagerten nachwirkende Gedanken der Aufklärung mildernd den theologischen Lehrbetrieb, und Kirchengeschichte wie Kirchenrecht wurden im Geiste des Febronianismus vorgetragen; im März 1817 beschwerte sich sogar der Papst in aller Form bei der Regierung über die unkirchliche Sinnesart einzelner Professoren. Aber eben in diesem Jahre 1817 ging es mit der neu-württembergischen geistlichen Herrlichkeit Ellwangens zu Ende: die »Friedrichsuniversität« erlosch, die theologische Lehranstalt wurde, auch in ihrem persönlichen Bestände nicht unverändert, nach T ü b i n g e n verlegt, sie wurde als katholisch-theologische Fakultät in die alte lutherische, nunmehr überkonfessionelle Landesuniversität eingefügt. Dem berühmten evangelischen Stifte stand fortan als katholisches staatliches Konvikt das Wilhelmsstift zur Seite: mit der strengen Hausordnung, mit dem Lehr- oder besser Lernbetriebe, mit seinen Repetenten, von denen nicht wenige — in ihrer Reihe als erster eben Möhler — sich zu hervorragenden Gelehrten entwickelten. Neben der zweiten protestantischen »Tübinger Schule«, deren Haupt Ferdinand Christian Baur war, pflegt man mit berechtigtem Rühmen die erste katholische »Tübinger Schule« zu nennen, die von Möhler nicht zwar begründet, aber in glanzvollem Aufstiege rasch emporgeführt wurde. Sie steht wissenschaftlich in einigem Abstände von der protestantischen Schwester, sie gehört gleichsam in einen anderen Höhenzug hinein, dort aber stellt sie den Gipfelberg dar. Dieses Bild will genau genommen sein. Die Tübinger katholische Fakultät erhebt sich über die anderen katholisch-theologischen Lehrstätten hinweg, aber nicht als einsam aus flacher Ebene aufragende Höhe. Manche von den anderen sind ihr sehr nahe gekommen, und einzelne Theologen der Wiener, der Landshuter, der Amberger Schule, haben den Tübingern, auch dem jungen Möhler, wesentliche Anregungen gegeben. Aber in keiner anderen katholisch-theologischen Gemeinschaft stellt sich die kirchlich zugleich und wissenschaftlich bewußte deutsche katholische Theologie in den ersten Jahrzehnten nach den Befreiungskriegen reiner und wirkungsvoller dar als in dieser Tübinger Schule, und keine andere hat in gleicher Weise katholischtheologische Gelehrsamkeit und Forschung wieder in die Welt hineingetragen — in die Welt mehr als in die Kirche.



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Worin zeigen sich nun die Wesenszüge dieser Tübinger Schule ? Wichtig ist vor allem die Abwendung von jedem Radikalismus der Aufklärung: die Grundtatsachen der christlichen Offenbarung blieben gesichert vor rationalistischen Angriffen; diese Theologen neigten überhaupt nicht dazu, im Widerspruche mit dem Dogma Lehrmeinungen aufzustellen oder sich irgendeinem philosophischen System hinzugeben, das in Grundlagen, Inhalt oder Folgerungen nicht vereinbar war mit der Kirchenlehre. Sie bemühten sich, die kirchliche Tradition wieder rein im kirchlichen Sinne zu fassen, sie herauszuheben aus den am Ü b e r l i e f e r t e n nagenden Fluten der Aufklärung. Aber sie haben sich darum nun doch nicht, weder in ihrem Kirchenbegriffe noch in ihrer Kirchenpolitik, einfach den immer fester und anspruchsvoller hervortretenden römischen Anschauungen verschrieben. Rom forderte, obwohl es den Staaten tatsächlich selbst Zugeständnisse machen mußte, Verwerfung aller staatskirchlichen Gedanken; den Tübingern aber galten die kirchenpolitischen Ansprüche ihrer Regierung zum großen Teile als berechtigt. In Rom erwartete man von kirchentreuen Theologen ein Bekenntnis zu den kurialistischen Kirchenbegriffen, insbesondere zu den Lehren über Universalepiskopat und Infallibilität des Papstes, zu der Lehre also von der allgemeinen, höchsten, unabhängigen, auf sich selbst gestellten bischöflichen Gewalt des Papstes in der ganzen Kirche und von seiner lehramtlichen Unfehlbarkeit; diese deutschen Theologen aber, denen jede rationalistische Anzweiflung des kirchlichen Grundgedankens von der unfehlbaren allgemeinen Kirche, von dem in der Einheit des Episkopats und des Primats beruhenden unfehlbaren Lehramte fremd war, sie wiesen jene römisch-unbischöflichen Doktrinen bewußt und bestimmt ab. Im Kirchenstaate, im Reiche des Papstes, wo nach dem Zusammenbruch der Revolutionsjähre die politische und kirchliche Reaktion sich rasch eingerichtet hatte, gestützt auf den wiederhergestellten Jesuitenorden, wurde alle Theologie in Schrift und Wort streng überwacht, und die Kurie wünschte auch sonst allenthalben nur den theologischen Scholastizismus gepflegt zu sehen; in der Tübinger katholischen Fakultät aber, wie an den meisten katholischen Bildungsstätten Deutschlands, war man stolz auf die besondere deutsche Uberlieferung, suchte man nach Möglichkeit die katholische Theologie in Fühlung zu halten mit der deutschen Geistesarbeit überhaupt. Diese freieren geistigen Beziehungen der deutschen Theologie brachten allerdings mancherlei kirchliche Schwierigkeiten mit sich. Auseinandersetzungen zwischen den Forderungen der



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Wissenschaft und denen der Kirche führten nicht selten zum Auseinandergehen beider; das aber mußte überall da, wo es sich um eine ernste Frage handelte, den Sieg der Kirche bedeuten, denn auch die Theologen der Tübinger Schule hielten eine widerkirchliche Theologie für ein Ding der Unmöglichkeit. Innerhalb der äußersten, der unverrückbaren kirchlichen Schranken aber begehrten sie allerdings geistige Bewegungsfreiheit; sie suchten bei gläubig-katholischer Grundstimmung das wissenschaftliche Verantwortungsgefühl lebendig zu halten. Das zeigt sich in den theologischen Hauptwerken der Schule und zeigt sich in der hervorragenden Zeitschrift der Fakultät, in der bereits im Jahre 1819 eröffneten, heute noch bestehenden Theologischen Quartalschrift. Die ersten Hefte dieses wissenschaftlichen Blattes standen auch kirchenpolitischen Darstellungen offen; in den Jahren, da das Schicksal der deutschen Kirche noch nicht entschieden war, konnten hier nationalkirchliche Gedanken Wessenbergs ausgesprochen werden. In Fragen der kirchlichen Verfassung so wenig wie der kirchlichen Glaubenslehre begünstigte die Quartalschrift einen widerpäpstlichen Radikalismus, wohl aber hat sie je und je den päpstlichen Absolutismus in Kirchenverwaltung und Glaubensbestimmung verworfen. Diese neue Tübinger Fakultät war der geistige Nährboden des Theologen Möhler und wurde nach wenigen Jahren seine Wirkungsstätte. Möhler ist Württemberger, doch nicht Schwabe, und auch Württemberger wurde er erst mit 15 Jahren. Auf fränkischem Siedlungsboden, im nördlichsten Teile des späteren Königreichs Württemberg, im Gebiete der Deutschordensherrschaft Mergentheim, die erst 1809 an Württemberg kam, wurde er im Jahre 1796 geboren. Seine Heimat ist Igersheim an der Tauber, ein altes Pfarrdorf von 800 Einwohnern, dreiviertel Stunden entfernt von der schönen Ordenshauptstadt Mergentheim. Der Vater, Bäcker und Wirt, zugleich Schultheiß dieser katholischen Gemeinde, die auf ihren guten Ruf mit frommer Strenge hielt, wollte den Sohn für das eigene Gewerbe erziehen. Durch seine Arbeitsenergie wußte sich Johann Adam Möhler den Weg ins Gymnasium und zur Universität zu bahnen. Er hat zuerst in Ellwangen studiert, dann siedelte er mit der Fakultät nach Tübingen über. Er lebte sich bewußt und willig in den Geist der Tübinger Theologengemeinschaft ein. Von seinen Lehrern, denen er so bald schon als selbständiger Mitlehrender zur Seite stehen sollte, wirkten Drey und Hirscher am stärksten auf ihn.



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Hirscher (1788 bis 1865, seit 1837 in Freiburg) wurde bei Einrichtung der Tübinger Fakultät neu berufen, Drey (1777 bis 1853) hatte schon in Ellwangen gelehrt. Der Apologet Sebastian D r e y ist mit seinem wissenschaftlichen Hauptwerke erst im Todesjahre Möhlers hervorgetreten, nicht ohne selbst von seinem Schüler gelernt zu haben. Aber Möhler wird zu der für ihn so wichtigen Beschäftigung mit der protestantischen Theologie zuerst durch Drey hingeführt worden sein; Dreys »Einleitung in das Studium der Theologie« (1819) verrät die Einwirkung Schleiermachers; sie erklärt es, wenn er damals die Apologetik nicht als eine untersuchende und verteidigende Darlegung der Göttlichkeit des Christentums der katholischen Kirche begriff, sondern als allgemeine Religionsphilosophie, die dann freilich auch nicht die apologetischen Absichten und polemischen Kräfte entwickeln konnte, wie sie Möhlers Symbolik und später auch Dreys eigene Apologetik offenbaren sollten. In Dreys Entwicklung zeigten sich auch Anregungen des Sailerschen Kreises wirksam. J . B. H i r s c h e r aber war noch mächtiger ergriffen worden von Sailers seelenvollem praktischen Christentum und durfte sich dem baierischen Priesterführer verwandt fühlen in seiner freien, doch bewußt katholischen Geistesart, in seiner kirchentreuen, aber weitherzigen Frömmigkeit. Hirscher, nur acht Jahre älter als Möhler, in Freiburg im Geiste maßvoller Aufklärung theologisch geschult, war als junger Vikar durch einen der seelsorgerisch tätigen Lieblingsschüler Sailers in den Geist Sailerscher Frömmigkeit eingeführt worden; am Ellwanger Seminar wirkte er als Repetent, in Tübingen erhielt er die Professur für Moral- und Pastoraltheologie, die in Ellwangen jener pfarrherrliche Jünger Sailers innegehabt hatte. Möhlers wissenschaftliche Anfänge lassen erkennen, daß er von Drey und von Hirscher gelernt hat. Aber er ist bald über beide hinausgewachsen. Man darf sagen, daß er Züge der geistigen Art beider in sich vereinigt. Er ist ein scharfer wissenschaftlicher Kopf wie Drey und eine sinnig religiöse Natur wie Hirscher. Möhler hat immerdar zugleich als Gelehrter und als Mann der Kirche geschrieben : der Theolog in ihm kommt mit dem Priester nicht in Streit, denn Möhler lebt in einer inneren Einheit von Priestertum und Theologie, die keinen Zwiespalt kennt oder die ersten kleinen Reibungen zwischen gelehrtem und geistlichem Empfinden kirchlich überwindet. Auch er hat seine theologischen Entwicklungsstufen durchgemacht. Aber er mag unrömische Anschauungen vertreten (und er hat sie vertreten !), Anschauungen,



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die, wenn nicht dem katholischen Dogma, so doch römischen Folgerungen aus dem Dogma, halbdogmatischen römischen Lehren oder auch überkommenen Vorschriften über Disziplin oder Kultus widersprechen: niemals doch, seitdem er als theologischer Lehrer wirkte, hat er sich dem kirchlichen Dogma selbst widersetzt, niemals wollte er auch nur in seinem spekulativen Gedanken über das Dogma hinwegschreiten. Er gehörte nicht zu denen, die philosophisch verehren, was sie theologisch verdammen oder theologisch lehren, was sie kirchlich nicht verantworten wollen. Das ist ein wesentlicher Zug seiner theologisch-wissenschaftlichen und seiner kirchlich-menschlichen Persönlichkeit. In ihm kam auch nicht ein Keim auf von jener nützlichen, aber würdelosen Lehre von der doppelten Wahrheit. Möhler war, obwohl der Schüler bedeutender Theologen, seiner Ausbildung nach noch mehr klassischer Philolog als Theolog. Er hatte nicht nur die stramme Schulung im Lateinischen erhalten, die damals in Württemberg zur selbstverständlichen Voraussetzung geisteswissenschaftlicher Studien gehörte: er war auch in die griechische Sprache und Literatur tief eingedrungen; so gerade hat er sich, freilich unbewußt, auf seine künftigen theologischen Forschungen trefflich vorbereitet. Von der Präparandenanstalt am Tübinger Wilhelmsstift, die ihn zur Gymnasiallehrertätigkeit führen zu sollen schien, wurde er nach wenigen Monaten, Anfang 1821, in die Repetentenstelle für Kirchengeschichte berufen; im nächsten Jahr wurde er als Privatdozent zugelassen oder vielmehr (man muß den guten Blick seiner theologischen Lehrer rühmen) recht eigentlich berufen mit einem Lehrauftrage zur Kirchengeschichte. Er hat sich nun erst aus dem literarisch noch nicht bewährten theologischen Philologen—fast alle württembergischen Philologen gingen damals aus den theologischen Kreisen hervor — zum Theologen schlechthin entwickelt. Am Eingang aber der Dozententätigkeit dieses großen Bekämpfers des kirchlichen und theologischen Protestantismus finden wir die protestantische Theologie; auch sie stand Pate bei diesem katholischen Theologen, der freilich auch alle protestantischen Bildungselemente nur immer katholisch verwerten wollte in immer leidenschaftlicher werdender Hingabe an die ausschließenden Kirchengedanken des Katholizismus. Ein freundlich nachwirkender Gedanke vergangener Zeiten hat die Fakultät und die württembergische Regierung angetrieben, den werdenden Dozenten hinauszusenden zu einer Lernreise an berühmte Stätten theologischer Gelehrsamkeit, und zwar vor



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allem auch protestantisch theologischer Gelehrsamkeit. Die freie Bildungsreise der Aufklärungszeit erscheint hier in theologischer Umformung. Möhler besuchte das katholische Würzburg, das nun freilich aufgehört hatte, die Universität der Aufklärung zu sein, wo indessen der einstige Führer des maßvollen katholischen Rationalismus, Franz Oberthür, zwar längst nicht mehr lehrte, aber, noch immer beweglich der Erinnerung und der Arbeit lebte; im Jahre 1821 erst hatte er seine große »Idea biblica ecclesie Dei« mit dem sechsten Bande abgeschlossen. Die biblische Idee vom Reiche Gottes, die Oberthür mit rationalistisch-irenischen Erziehungsgedanken durchsetzte, wurde auch von Drey und nicht anders von seinem Schüler Möhler als Zentralidee der Dogmatik begriffen; aber die freie Haltung, wie sie der Würzburger hier der kirchlichen Tradition gegenüber zeigte, liegt den Tübingern fern. Nach dem theologischen Würzburg hin hatte Möhler schon vorher seine Beziehungen. Das Neue und Wichtigste seiner wissenschaftlichen Reise ist nicht hier zu suchen, überhaupt nicht an den katholischen Haltepunkten seiner Reise, denn hier konnten nur längst gegebene Einwirkungen verstärkt werden, vielmehr im protestantischen Norden, wo er mehrere theologische Fakultäten näher kennenlernte, namentlich die Göttinger und die Berliner. An Gottlieb Jakob Planck in Göttingen, dem Begründer der Dogmengeschichte des Protestantismus und der Symbolik der christlichen Konfessionen, bewunderte er vor allem die Geschicklichkeit in der Bewältigung der kirchengeschichtlichen Stoffmassen. »Diese Vorlesungen, so berichtete er seiner Fakultät, lassen mich wissen, was dazu gehört, die Kirchengeschichte gut zu geben; ich halte das für den größten Gewinn.« Die Unparteilichkeit, die er bei den Göttingern zu rühmen wußte, fand er auch bei den Berlinern. Marheineke mit seinem Lebenswerk über die Symbolik ganz unmittelbar der protestantische Vorgänger des künftigen katholischen Symbolikers, nicht anders als Schleiermacher und Neander fesselten ihn insbesondere auch durch die Bereitwilligkeit zur Anerkennung der Verdienste des Katholizismus. Am mächtigsten hat Neander mit seiner religiösen Stimmung, seinem geschichtlichen Sinne, seiner gemütvollen Auffassung der Persönlichkeiten den nur um sieben Jahre jüngeren katholischen Priester angezogen, der ihm auch persönlich nahekam. Bei Planck hatte Möhler nach der Methode gesehen und pädagogische Belehrung gefunden; jetzt aber fühlte er die unmittelbare Einwirkung auf seine eigenen wissenschaftlichen Gedanken und kirchengeschichtlichen Arbeitspläne. »Hier, so schrieb er begeistert, ist reges, inniges, tiefes.



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echt wissenschaftliches Leben und Treiben; die Wissenschaft zeigt sich hier in ihrem eigentlichen Wesen: sie umfaßt Denken und Leben. Ich bewundere Planck; aber was ist Planck gegen Neander? Planck schwimmt auf der Oberfläche, Neander erfaßt alles in der tiefsten Tiefe! « Auch in Berlin (das er, der Württemberger, übrigens vorurteilsfrei auch als Stadt zu schätzen lernte) blieb Möhler nur drei Wochen, aber seine aufnahmefähige Natur holte sich aus dem theologischen Berlin heraus, was sie nur immer verarbeiten konnte. Er lebte noch in der duldungsbereiten Stimmung abgemilderter Aufklärung, zugleich in dem freien Enthusiasmus erwachender Wissenschaftlichkeit. So viel jedenfalls ist gewiß: er hat in Berlin wesentliche sachliche Anregung erhalten, »sachlich« freilich nur in Beziehung auf den Gegenstand und die methodische Behandlung, nicht auf die innerste Anschauung der Dinge. Denn auf katholisch-kirchlichem Boden gründet Möhlers wissenschaftliche Arbeit von Anfang an. Nur muß man sich auch hier daran erinnern, daß der Kirchengedanke, der in den 20 er Jahren die geistig-wissenschaftliche Oberschicht des deutschen Katholizismus beherrschte, eben nicht der eindeutige vatikanische Katholizismus war, noch auch nur der weit stärker von kirchenpolitischen Trieben erfüllte Katholizismus der letzten vorvatikanischen Generation. Deutsche katholische Theologen beanspruchten und übten damals das Recht, die dogmatischen Grenzgebiete, die kirchliche Praxis und vor allem das Geschichtliche wenigstens soweit frei zu erkunden und auszudeuten, wie es sich mit dem katholischen Dogma und den festen katholischen Grundbegriffen vertrug. Von dem althergebrachten kirchlichen Lehr- und Mahnwort »In necessariis unüas, in diibiis libertas, in omnibus Caritas« hat das Mittelstück, hat die Freiheit im dogmatisch Unentschiedenen während des 19. Jahrhunderts immer mehr Boden preisgeben müssen. Das Theologengeschlecht in der Zeit der ersten Tübinger Schule konnte die libertas in dubiis zunächst fast ungestört genießen. Noch mehr. Die geistigen Führer des damaligen deutschen Katholizismus durften, ohne etwa durch eine bischöfliche Stellung zur Mitbestimmung der Kirchenordnung und zur Kirchenverwaltung berufen zu sein, mit Gedanken zur Reform des Kirchenlebens, des kirchlichen Kultus und der Disziplin hervortreten. Theologen an deutschen Universitäten veröffentlichten Reformschriften; sie suchten mit dem lebendigen Worte, mit Broschüren, mit Büchern auf die Gläubigen und über deren unmaßgebliche Gemeinschaft hinweg auf die Kirchenleitung einzuwirken. Diese Theologenbemühungen sind in dem Jahrzehnt nach dem Be-



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freiungskriege, da es sich um die Neuordnung der deutschen Kirche handelte, besonders stark hervorgetreten, in den folgenden Jahren nie ganz untergegangen, durch die deutschkatholische Bewegung und das Jahr 1848 von neuem angetrieben worden, schließlich in den kirchlich denkenden Kreisen mit dem zentralistisch gerichteten vatikanischen Konzil in der Hauptsache verschwunden und erst seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in bescheidenem Ausmaße und in gut kirchlichen Bahnen wieder aufgelebt. Möhler hat als junger Lehrer und Gelehrter kirchliche Reformgedanken aufgenommen mit jener gläubigen Glut, die sein ganzes Schaffen erwärmte. E s sind guten teils Leitgedanken seines Lehrers Hirscher, die auf Sailersche Anregungen zurückgehen. Der junge Möhler hat sie verfochten, nicht um der Welt Zugeständnisse zu machen, nicht um einer fremdbürtigen Aufklärung den Zugang in seine Kirche zu bereiten: er wollte vielmehr seiner Kirche nur einen neuen Weg in die Welt erschließen, einen neuen Weg zur tieferen Erfassung der Gläubigen, zur Eroberung der Ungläubigen oder dem Kirchenleben Entfremdeten. Gewiß, es sind tatsächlich Forderungen der Aufklärung, wenn Möhler (wie auch Hirscher) für die deutsche Liturgie oder für die Gewährung des Laienkelchs eintrat, aber diese Forderungen entspringen nicht mehr rationalistischen Erwägungen, wie etwa bei Werkmeister, sondern zuletzt einem ursprünglichen kirchlichen Empfinden. Neben diesem kirchlichen Empfinden aber steht statt der abstrakt-vernunftmäßigen vielmehr die gegenständlich-geschichtliche Begründung. Das Verlangen nach dem Laienkelch hat Möhler mit besonderem Nachdruck aus der Geschichte der Kirche zu rechtfertigen gesucht: er hielt den Verteidigern des geltenden kirchlichen Brauches der Kommunion unter einer Gestalt die Tatsache entgegen, daß Jahrhunderte hindurch den Gläubigen das Abendmahl unter zwei Gestalten gereicht wurde. Der junge Möhler hat in seinem leidenschaftlichen Wahrheitsdrange einmal sogar ein Grundstück der katholischen Lehre von der Messe angegriffen. Inmitten einer quellenmäßigen Untersuchung »Karl der Große und seine Bischöfe« ließ sich Möhler von seiner heftigen Abneigung gegen die Privatmesse, die priesterliche Einzelmesse ohne Teilnahme der Gläubigen, über die Grenzen der Kirchenlehre hinaustreiben. Freilich auch hier und gerade hier geschah es, aus seiner ernsten Auffassung katholischer Gemeinschaft heraus. Aber es ist doch so, als wollte sein Katholizismus sich abwenden von dem Katholizismus der katholischen Kirche.



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Diese wichtigen Bekenntnisse Möhlers in der Theologischen Quartalschrift von 1824 sind von dem Benediktinerpater Gams in der ersten umfassenden Darstellung über Möhler geflissentlich beiseite gelassen und auch von den späteren mehr kritischen und unbefangenen Forschern nicht beachtet worden. Möhler teilt die folgende Satzung einer karolingischen Synode mit: »Kein Presbyter allein kann nach unserer Überzeugung die Messe recht lesen. Wie soll er denn sagen: der Herr sei mit euch, oder: empor die Herzen, und vieles andere dergleichen, wenn niemand dabei ist?« Möhler fühlt sich in seinem kirchlichen Gemeinschaftsempfinden geradezu beglückt darüber, wie »einfach, schön und bündig« hier die Privatmessen widerlegt seien. Er meint, der »Unfug« solcher Messen habe sich nur erheben können, weil man die wahre Bedeutung, das innerste Sein und Wesen der heiligen Handlung vergaß und die Messe allmählich ansah als »einen absoluten Opferakt, der nur vollbracht werden dürfe, um eine gewisse Wirkung hervorzubringen.« Auch ihm gilt allerdings die Messe als wahres Opfer: Christus in der Eucharistie ist das wahre und wirkliche Opfer für die Menschen; durch die Einrichtung der Privatmesse aber sieht er der Messe einen solchen objektiven Wert gegeben, wie ihn das Opfer Christi am Kreuze hatte oder eigentlich noch einen objektiveren. Dadurch sei die heilige Handlung, die eine Vereinigung aller Christen unter sich und mit Christus symbolisieren und, weil Symbol und Wesen hier eins sind, bewirken solle, in einen eigentlichen Akt der Selbstsucht und der Absonderung ausgeartet. Hier glaubt man sich an einen kritischen Punkt der Entwicklung Möhlers gestellt. In der Tat drohte hier der Bruch mit der Kirchenlehre. Aber nur für einen Augenblick. Der kritische Punkt war rasch überwunden. Man hat Möhler geradezu zum Bahnbrecher des späteren Modernismus machen wollen. Mit Unrecht. Hier aber, in den Betrachtungen über die Messe wird man allerdings eine Stimmungsverwandtschaft zwischen Möhler und dem Modernismus erkennen. Es ist bemerkenswert, daß ein deutscher Gelehrter, der den Weg vom katholischen Modernismus zur protestantischen Theologie und Kirche gegangen ist, die Privatmesse ähnlich beurteilt wie der junge Möhler, nur daß er sie zugleich in religionsgeschichtliche Zusammenhänge einordnet. Friedrich Heiler nämlich sagt in seinem Buche über den Katholizismus gelegentlich einmal: »Die vulgäre Frömmigkeit betrachtete das Meßopfer als ein bestimmten Einzelzwecken dienendes Opfer im antiken Sinne des Wortes. Diese unterchristliche Vorstellung hat das Auf-



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kommen der Privatmessen wenn nicht bedingt, so doch stark befördert.« Heiler verweist dabei auf mittelalterlich-kirchliche »Opposition der geläuterten Frömmigkeit gegen diesen Rückfall in das primitive Opferritual.« Den Einspruch Möhlers aber kennt er nicht, so gern er sich sonst wohl einmal auf Möhler beruft. Nun ist es allerdings auch bei diesem einen Vorstoße geblieben, der zudem nach dem damaligen Brauche der Quartalschrift ohne Namensnennung geschah. Es war der ursprüngliche Ausbruch eines persönlich freien katholischen Empfindens, das Möhler mehr und mehr kirchlich zu bändigen lernte. Seine Vorstellungen über die Grundfragen der kirchlichen Verfassung zeigen bei manchen Wandlungen doch in dem Entscheidenden feste Beharrlichkeit. E i n e Jugendidee hat er auch hier rasch preisgegeben. In den kirchenrechtlichen Vorlesungen seiner ersten Dozentenzeit lehrte er, offenbar durch Drey und Hirscher angeregt, lediglich das Priestertum als unmittelbar gottgegebene Einrichtung verstehen, führte er nur das priesterliche, nicht das bischöfliche Amt unmittelbar auf Christus zurück. Wissenschaftliches Erkennen und priesterliches Empfinden scheinen dabei einträchtig in ihm zusammengearbeitet zu haben. Sie wirkten auch später nach, aber der episkopalistische Kirchengedanke ist fortan nicht mehr durch einen solchen Presbyterianismus eingeengt worden. Der Gedanke aber der bischöflichen Verfassung der Kirche ist in dem Sinne, daß in der Einheit der Bischöfe mit dem Papste, nicht aber im Papste allein die höchste Kirchengewalt sich darstelle, Möhlers unveräußerlicher Besitz geblieben. Stets und unbedingt hat er den Papalismus verworfen, der diese im überkommenen Dogma gegebene bischöfliche Auffassung bedrohte und ein Menschenalter später tatsächlich zurückdrängen sollte. Ein Unterschied besteht allerdings auch hier zwischen dem jungen und dem späteren Möhler, aber es bedeutete nur eine Verstärkung der Wirkungskraft des kirchlich-papsttreuen Bischofsgedankens gegenüber dem absolutistisch überspannten Papstgedanken, wenn Möhler gewisse, dem Konziliarismus des 15. Jahrhunderts entlehnte radikale Züge in seinem Bilde von der gottgeordneten Verfassung der Kirche nachträglich tilgte. Der junge Möhler bezeichnete (1823) das Episkopalsystem vom historischen Standpunkte als »eine über allen Zweifel erhabene Tatsache, in »urrechtlicher« Beziehung aber als einen »Inbegriff unveräußerlicher Ansprüche, gegen die keine Verjährung geltend gemacht werden kann.« Das Episkopalsystem für eine bloße Schulmeinung erklären, würde die Zerstörung des Wesens des Katholizismus bedeuten. Ihm war nun Episkopalismus damals



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nicht lediglich Wahrung des feststehenden bischöflichen Anteils an Kirchenleitung und Glaubensentscheidung. E r machte vielmehr dem Konziliarismus Zugeständnisse. Nicht daß er ausdrücklich und in aller Form die Uberordnung des Konzils über den Papst gelehrt, also den päpstlich verurteilten zweiten der vier Gallikanischen Artikel von 1682 wieder aufgenommen hätte. Aber er verwarf doch die in Rom als verpflichtend, als selbstverständlich geltende Lehre, daß der Papst von Amts wegen das Recht habe, die allgemeinen Konzilien zu berufen und zu leiten und ihre Beschlüsse zu bestätigen; nach seiner Anschauung wird ein Konzilsbeschluß überhaupt nicht erst durch päpstliche Zustimmung giltig. Diese konziliaristische Zutat zu seinem kirchlichen Episkopalismus hat Möhler bald abgestreift. Seine kirchliche Gesinnung als solche ist durch derartige Gedanken über die kirchliche Verfassung übrigens nicht einen Augenblick erschüttert worden. Möhler war auch in den Anfangsjahren seiner akademischen Wirksamkeit kirchlich bewußt und mit leidenschaftlicher Innigkeit dem Katholizismus hingegeben. Er trat gegen die Lehre von päpstlicher Unfehlbarkeit und päpstlicher Alleinherrschaft in der Kirche auf, aber er zeigte zugleich sein treues Bekenntnis zu dem segenvollen päpstlichen Primat und seine Bereitschaft zur Abwehr protestantischer Lehren und Ansprüche. Schon kündet sich z. B. im Jahre 1825 in der Besprechung eines Buches des von ihm verehrten Neander ganz leise der Kampfgedanke der »Symbolik« an, wie bereits 1823 in der ersten Veröffentlichung, die die Theologische Quartalschrift von ihm brachte, der Satz, schon aus der reinen und notwendigen Idee eines Mittelpunktes für die Einheit der Kirche ergebe sich der Primat, hindeutet auf einen Hauptgedanken und selbst den Titel seines ersten Buches. Mit ähnlicher Vorliebe, wie sie etwa den Kenner Rankes immer wieder zu der »Geschichte der romanischen und germanischen Völker« hintreibt, wird, bei allem Gefühl für den Abstand zwischen dem Historiker und dem Theologen, der Kenner der Schriften und der Persönlichkeit Möhlers das Buch über »Die E i n h e i t in der K i r c h e « zur Hand nehmen: er sieht die Schranken des Jugendwerkes, aber er empfindet auch den zarten Reiz dieser Unreife, die etwas von der reinen Stimmung der erwachenden Frühe an sich trägt. Dieses Buch über die Einheit in der Kirche beschränkt sich seinem Gegenstande nach auf die drei ersten christlichen Jahrfiunderte. »Im Geiste der Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte« soll »das Prinzip des Katholizismus« behandelt werden.



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Aber eben doch »das« Prinzip des Katholizismus. Damit wird schon in dem Titel des Buches, der zeitlichen Begrenzung zum Trotze, über die historische Aufgabe hinweg auf das Allgemeine, auf das Grundsätzliche, auf den dogmatischen Begriff von Kirche und Katholizismus, auf das Wesen der Kirche überhaupt hingewiesen. Darin liegt denn auch der besondere Sinn und Wert dieses Werkes von 1825. Wir hier brauchen nicht des näheren nach der Bedeutung des Buches für die patristische Forschung zu fragen. Auch wer an eine Darstellung über die patristische Literatur nicht gerade mit Franz Overbecks Forderungen herantritt, wird gewiß weder von dem Erstlingswerke Möhlers noch von seinen gehaltvollen Vorlesungen über Patristik — sie sind von nicht eben zurückhaltender und zarter Hand im Jahre 1840 herausgegeben worden — behaupten wollen, daß sie die Forschung entscheidend beeinflußt hätten. Möhler hat auch hier unzweifelhafte Verdienste um die Wissenschaft; man wird sie auch anerkannt finden in der gelehrten Literatur, zwar nicht in dem berühmten Aufsatz »Über die Anfänge der patristischen Literatur«, den Overbeck im Jahre 1882 der Historischen Zeitschrift schrieb, wohl aber etwa in Harnacks Dogmengeschichte. Wir hier sehen indessen nur nach Möhlers Anschauung von der Kirche. Auch die Leser von damals, so gut sie sich in dem gelehrten und anziehenden Buche über kirchliche Verfassungsgedanken und Glaubensvorstellungen der Kirchenväter, etwa des Tertullian und Irenäus, des Orígenes und des Cyprian, unterrichten konnten, auch sie sahen hinter der Frühkirche die Kirche der späteren und der eigenen Zeit: sie erlebten in der Darlegung der Vätermeinungen über Offenbarung, über Schrift und Tradition, über Kirchenlehre und Kirchenverfassung, Priestertum, Bischoftum, Papsttum — sie erlebten in der ganzen bewegten Darstellung, in diesem von gedämpfter Leidenschaft des Glaubens und des Wissens erregten Buche nicht lediglich die um anderthalb Jahrtausende zurückliegenden Meinungskämpfe spekulativer oder gelehrt forschender oder politisch-diplomatischer Kirchenväter: es waren zugleich Meinungen und Gegensätze, offene und verborgene, die das kirchliche Lehren und Leben des Tages erst leise noch, aber mit wachsender Kraft durchzogen. Ein gelehrtes Buch und doch zugleich ein Bekenntnisbuch! Möhler selbst nannte in vertrautem Briefe diese Schrift das Bild seines innersten und eigentlichsten Seins, die getreue Darstellung seiner Anschauungen von Christentum, Christus und Kirche. Das Buch will von der gelehrten Forschung zu dem lebendigen Sein der katholischen Kirche hinführen, und die »Reflexionen« hat Möhler von vornBeiheft d. H. Z. 7.

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herein von der zeitlichen Beschränkung ausgenommen. »Reflexionen« aber knüpfen allenthalben an die geschichtliche Darstellung an, sie werden zur Einheit mit ihr, und in dieser Einheit eben liegt das Bekenntnismäßige des Buches. Wesentlich ist nun schon die mehr religiöse als kirchliche Grundstimmung des Buches. Sie war gewiß mit den Empfindungen und Worten der Kirchenväter fast von selbst gegeben: aber das Bedeutungsvolle eben ist, daß das Frühkirchliche, man möchte sagen Halbkirchliche, durch diesen Theologen des 19. Jahrhunderts nicht schlechthin hochkirchlich genommen, nicht papstkirchlich umgedeutet oder gar timgestaltet wird. Wir werden sehen, daß es an Ansätzen zur Umdeutung nicht fehlt. Aber Möhler setzt hier doch das Christentum als Glaube und religiöse Empfindung über das Christentum als Rechtsordnung und Verfassungsgemeinschaft. Was ihn zu den Kirchenvätern hinzieht, ist ihr Bewußtsein von der unmittelbar das Leben ergreifenden göttlichen Kraft, die die christliche Erkenntnis bedinge. Er sucht nicht die Kirche als Satzung, die Kirche als Rechtsgemeinschaft, er sucht die Kirche als Glaubensgemeinschaft zu fassen, recht in dem Sinne des Wortes, daß die Gläubigen den Körper Christi bilden. Die Glaubenskraft, der innere Glaube ist das letzte christliche Lebensprinzip dieser patristisclien Glaubensansicht Möhlers. Aber diese Glaubenskraft ist ihm nicht individuell gebunden, vielmehr sind durch sie die Gläubigen verbunden: die wahre Lehre ist der wahre Ausdruck des inneren Glaubens, und diese Lehre kann nur durch die Gesamtheit bestimmt werden. Man muß aber wohl beachten: nicht die gerade im Augenblick bestehende Gemeinschaft der Gläubigen allein ist es, von der der einzelne Christ erfährt, was die wahre Lehre ist: es gehört dazu auch die Gesamtheit aller früheren Gläubigen bis zu den Aposteln hinauf. So weiß Möhler nun doch — und damit lenkt er an einem entscheidenden Punkte seine aus den Quellen genährte Spekulation hinüber zu dem festen Boden der Kirchenlehre — , so weiß er auf dem Wege über den inneren Glauben des einzelnen Christen die bestimmende Glaubensmacht einzuführen, die beharrende Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche. Die Frage nach der Lehre Christi ist ihm die Frage: was ist »immer« in der »Kirche« von den Aposteln an gelehrt worden, eine Frage, die für ihn nichts historisch Problematisches hat und nicht kritisch zergliedert oder begründet zu werden braucht, eine Frage vielmehr, die sich ihm von selbst beantwortet: dehn die Kirchenlehre ist eben die allgemeine, immerwährende Überlieferung. Man denkt wohl an



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die, namentlich im 19. Jahrhundert und insbesondere in der Zeit des vatikanischen Konzils bis zum Überdruß gebrauchte Formel des Vincenz von Lerinum aus dem Jahre 434: das sollen wir festhalten, was allenthalben, was immer, was von allen geglaubt worden ist; das nämlich ist das wahrhaft und eigentlich Katholische. So ist die Kirche zugleich und die Tradition gegeben, und der Glaube, der zunächst lediglich als heilige Liebe des Christen erschien, wird in der äußeren Erscheinung Lehrsatzung und Kirchenverkündung. Die »christliche Liebe« auch ist doch nur ein Stück Kirche und soll selbst die Kirche als solche stützen. Liebe und Wahrheit sind nicht verschiedene Dinge, der Geist der Liebe und der Wahrheit ist Eins. In der Trennung, und das heißt Entgöttlichung beider, liegt das Wesen der Häresie. Die Häretiker setzen an Stelle der einfachen katholischen Frage nach der tatsächlichen Lehrverkündigung der Kirche die Frage: was läßt sich als Christentum denken; sie meinen, für sich, losgelöst von der Kirchengemeinschaft Christentum und Christus am sichersten ergreifen zu können. Der Häretiker beansprucht eine Untersuchungsfreiheit, die der Katholik — nach Möhlers gedanklich und zugleich historisch kühn verkürzter patristisch-kirchlicher Anschauung — als eine niedere Untersuchungsfreiheit, als die Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum weit unter sich zurückläßt. Die gefährliche Frage nach den Grenzen des Glaubens ist nicht estellt, und die bedenkliche Erwägung über Art und Inhalt der Iberlieferung, die Frage insbesondere nach der Heiligen Schrift fwird nicht wissenschaftlich, sondern kirchlich beantwortet oder

vielmehr überwunden. Die Zweifel über die Zugehörigkeit der überlieferten Schriften zu dem Kreise der apostolischen, der »göttlichen« Schriften werden kirchlich verscheucht: gerade die Schwierigkeiten in der Absonderung und der Auslegung der Schriften liefern dem Theologen Möhler, der hier immer auch zurückhaltender Apologet ist, nur »einen einleuchtenden Beweis von der Wahrheit«, »wie mißlich es um die Sache des Christentums stünde, wenn es einzig auf Schrift und dadurch auf kritische und hermeneutische Prinzipien gegründet wäre.« Nicht nur neben der Schrift, sondern v o r ihr besteht in der katholischen Kirche eine T r a d i t i o n : Tradition und Schrift gehören schlechthin zusammen; nicht in der Bibel, sondern durch die katholische Kirche ist der Begriff einer positiven Religion erst festgehalten; gerade weil und nur deshalb weil das Christentum nicht auf die Schrift gebaut ist, konnte die Schrift gerettet werden, und die historisch-grammatische Auslegung der Schrift erhält erst durch den Geist der Kirche den Schlußstein. 2»



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Alle Erkenntnis der religiösen Wahrheiten wird durch die Offenbarung gewährt — das ist nach Möhler die Lehre der alten Kirche. Auch hier also wird die Kirche als Lehrmacht von Anbeginn an vorausgesetzt. Damit will er das Glaubenserlebnis, die persönliche Religiosität nicht zerstört oder nur gestört wissen. Er erklärt einmal: »Das Christentum besteht nicht in Ausdrücken, Formeln und Redensarten, es ist ein inneres Leben, eine heilige Kraft, und alle Lehrbegriffe und Dogmen haben nur insofern einen Wert, als sie das Innere ausdrücken, welches mithin als vorhanden vorausgesetzt wird.« Er wagt sogar das Wort: »Die Gemeinschaft, das Wesen der katholischen Kirche, ist ein unaussprechliches Gefühl, Begriffe reichen hier nicht hin.« Diese Worte scheinen etwas vom Geiste Schleiermachers in sich zu tragen, von dem Möhler tatsächlich gelernt, gegen den er sich freilich auch kritisch gewandt hat. Man möchte meinen, dieses Bekenntnis vom gefühlsmäßigen Wesen der Kirchengemeinschaft müßte die Zurückleitung der kirchlichen Rechtsordnung auf Gott verbieten. Möhler aber ist vielmehr von der Notwendigkeit durchdrungen, die Keime mindestens der kirchlichen Verfassung auf göttliche Anordnung zurückzuführen. Freilich zeigt sich auch in der Betrachtung der kirchlichen Verfassungsbildungen eine gewisse Freiheit des kirchlichen und Unbefangenheit des geschichtlichen Standpunktes, soweit das kirchliche Gefühl die Bewegung gestattet. Jedenfalls: für ihn steht zwar der katholische Kirchenbegriff, die gottgeordnete sichtbare Kirche, fest, nicht aber der römische Verfassungsbegriff, nicht die römische Anschauung von der absolutistischen Regierungsgewalt und lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes. Er schließt sein Werk geradezu mit einer Absage an den Papalismus. Er scheut sich nicht, Protestantismus und Papalismus nebeneinander abzulehnen. Es versteht sich: er verwirft die Reformation, die ihren Standpunkt außerhalb der katholischen Kirche nahm, die, in der Absicht die Kirche zu reformieren, die Einheit des kirchlichen Lebens zerriß. Aber er verurteilt es zugleich entschieden, daß man auf katholischer Seite »großenteils steif auf den Ansichten« beharre, »die sich im Mittelalter noch, in und unter ganz anderen Umständen entwickelt hatten.« Und er stellt schließlich Protestantismus und Papalismus als die »beiden Parteien« hin, denen der innere Charakter der Kirchenverfassung unklar sei, er stellt beide nicht geradezu auf eine Linie, er findet diese Unklarheit bei der »getrennten« Partei »größtenteils« bei weitem mehr als bei der »steif mittelalterlichen«: aber die mildere Beurteilung dieser, also der papalistischen Anschauung erklärt



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sich doch nicht zuletzt aus der Meinung, sie habe in Deutschland kaum noch Anhänger in dem Sinne, daß die mittelalterliche Verfassung mit ihrer beherrschenden Papstgewalt für alle Zeiten notwendig sei. Das war für den Augenblick richtig geurteilt, aber für eine nahe Zukunft sollte es nicht mehr zutreffen. Schon bevor Möhler sich anschickte, sein Buch zu schreiben, war immerhin (1822) das Buch »Vom Papste«, worin Joseph de Maistre den Papst als den absoluten und unfehlbaren Herrn der Kirche feierte, auch in deutscher Übersetzung erschienen. Allerdings wurden diese Anschauungen wie von den Tübinger Theologen so von den meisten anderen scharf abgewiesen oder schweigend übergangen. Möhler hat den französischen Literaten, dessen gewandte, mit dem Schein der Wissenschaftlichkeit umkleidete Papsthymnen in der Theologischen Quartalschrift sofort als alberne Deklamationen eines Laien zurückgewiesen worden waren, überhaupt nicht erwähnt. Aber als in Deutschland die Schrift »Die Einheit der Kirche« ihren Weg suchte und fand, im Frühjahr 1826, wurde der römische Kamaldulensermönch Cappellari Kardinal, dann auch Leiter der Propaganda. Und dieser Mönchskardinal, ein längst bewährter theologischer Vorkämpfer der römischen Lehre von dem Universalepiskopat und der Unfehlbarkeit des Papstes, hat dann wenige Jahre später als Papst Gregor X V I . (1831 bis 1846) begonnen, jener »steifen« Doktrin auch in Deutschland die Wege zu ebnen. Möhler selbst hat kaum noch die ersten Vorbereitungen für den Siegeszug des Papalismus erlebt, aber seine »Symbolik« sollte, obwohl sie sich der kurialistischen Doktrin als solcher verschloß, doch ein wenig schon das Wehen des neuen Geistes verraten. Welches war nun der Kirchenbegriff, der kirchliche Verfassungsgedanke, den Möhler selbst in der Schrift von 1825 vortrug? Möhler eröffnet seine Darlegungen über die Kirchenverfassung mit einer nicht juristisch verfassungsmäßigen, sondern wesentlich geistig-religiös gehaltenen Begriffsbestimmung der Kirche. »Der Begriff der Kirche«, sagt er, »wird einseitig bestimmt, wenn man sie eine Anstalt nennt oder einen Verein, gestiftet zur Erhaltung und Fortpflanzung des christlichen Glaubens; sie ist vielmehr ein Erzeugnis dieses Glaubens, eine Wirkung der in den Gläubigen durch den Heiligen Geist lebendigen Liebe.« Aber diese Gemeinschaft bleibt ihm doch keine innere, und der Gedanke einer unsichtbaren von Christus gestifteten Kirche gilt ihm geradezu als widerchristlich. Mit Worten, die nun doch eine frühe Einwirkung Hegels verraten möchten, bezeichnet er die Kirche als



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die äußere Produktion einer inneren bildenden Kraft, als den Körper «eines sich selbst schaffenden Geistes. Diese Objektivierung des Christentums ist ihm aber geschichtlich gegeben in der bischöflichen Gemeinde. Deren Entstehung ist ihm kein Problem der Forschung. Er spricht nicht von allmählicher Ausbildung der bischöflich-monarchischen Gemeindeverfassung. Er konstruiert die urbischöfliche Verfassung, die bischöfliche Urgemeinde. Diese Urgemeinde entspringt aus der christlichen Liebe. Ohne Gemeinschaft konnten die Christen die Liebe im Leben nicht darstellen; die »sogleich«gegebene Gemeindebildung durch das bischöfliche Amt schuf eben diese Voraussetzung christlichen Gemeinschaftslebens. Die Tradition — sie galt ihm als »schlechthin notwendig, um die Identität des höheren Bewußtseins der Kirche durch alle Momente ihres Daseins nachzuweisen« —, die fortlaufende Überlieferung soll schon als solche auch die Ursprünglichkeit des Lehramtes erweisen; sie war ohne dieses Lehramt gar nicht zu denken, der Episkopat ist mit dem Christentum durch Christus selbst gegeben als die für das Dasein des Christentums unentbehrliche apostolische Institution. Möhler berührt wohl einmal schüchtern die geschichtlichen Spuren der vorbischöflichen Gemeindeverfassung: er bemerkt, der Bischof des dritten Jahrhunderts habe nichts getan, nicht einmal etwas Erhebliches tun dürfen, ohne die Presbyter seiner Kirche, »seinen Senat.« Aber seine frühere Idee von der göttlichen Stiftung allein des Priestertums ist versunken. Er kennt und anerkennt keine vorbischöfliche Gemeinde. Wenn etwa Hieronymus am Ausgang des vierten Jahrhunderts davon spricht, daß die Gemeinde zuerst nicht durch einen Bischof, sondern eben durch die Presbytergemeinschaft geleitet worden sei, so schiebt Möhler derartige Zeugnisse etwas unwirsch beiseite. Er will sich seine große Auffassung von der kirchlichen Einheit der bischöflichen Verfassung nicht trüben lassen. Dieser zur Einheit der Anschauung drängende Theolog, den man mit Recht einen der Begründer der historischen Schule der katholischen Theologie nennt, hat hier die Geschichte durch die »Idee« totgelegt. Es ist ein leidenschaftlich festgehaltenes Kernstück seines Kirchenbegriffs, ein persönliches Dogma gleichsam, daß der Bischof der von den Aposteln gesetzte Führer der Gemeinde ist, daß (was für ihn nur ein anderer Ausdruck seiner Grundanschauung war), daß eine innere Notwendigkeit zur Bewahrung des christlichen Charakters den Bischof als bewußten Mittelpunkt aller bildete. Möhlers feinfühliger und schmiegsamer Geist versperrte sich allerdings auch hier nicht spröde dem Gedanken der Ent-

— 23 — wicklung: nur faßt er ihn nicht historisch-kritisch noch überhaupt verstandesmäßig, vielmehr mit einer gefühlsmäßigen Scheu vor geheiligtem Dunkel apostolischen Christentums. »In der ältesten Kirche ist der Bischof selbst noch wie verborgen unter den übrigen Gläubigen, bewußtlos schloß sich alles an ihn an; die Apostel gaben ihn, und man wußte gleichsam nicht, daß man ihn habe; es ist ein Verhältnis, wie des Kindes zu seinen Eltern, welches sich instinktartig an sie anschließt: bewußtlose Einheit des Lebens der Gläubigen«. Möhler selbst konnte es darum auch nicht als Widerspruch empfinden, wenn ihm der Bischof der ersten christlichen Jahrhunderte als die anschaulich gewordene Vereinigung der Gläubigen an einem bestimmten Orte und zugleich als die Manifestation und der lebendige Zentralpunkt der nach Einigung strebenden Christengesinnung galt. Aber man muß eben diese beiden Sätze nebeneinander halten, um das Ringen nach Gestaltung, um Möhlers unausgeglichenes Drängen nach Erkenntnis zugleich und nach widerspruchsloser Hingabe an die Kirchenlehre zu erfassen. Die manchem Aufklärungstheologen geläufige Vorstellung von der rechtsbestimmenden Gewalt der Gesamtheit der Gläubigen taucht bei Möhler nicht mehr auf. Er sagt mit Cyprian von Karthago: Die Kirche, die Kirchengemeinde ist im Bischof und der Bischof in der Kirche. Der Bischof handelt nicht aus Auftrag des Volkes, sein Amt ist göttlichen Ursprungs. Der Bischof ist der apostolische Mittelpunkt der Gemeindeeinheit, die bischöflichen Gemeinden sind die Träger der Tradition. Die christliche Gemeinschaft selbst sucht Möhler — mit gemütvoll frommer Empfindung immer wieder die kritische Behandlung patristischer Zeugnisse durchbrechend oder umhüllend — zu begreifen als ein fortgesetztes Wunder des göttlichen Geistes, einen Beweis seines steten, unmittelbaren Einwirkens — das Erschütterndste, so meint er, für alle, die für das Große und Erhabene empfänglich sind. Als die eigentlich gestaltende und tragende Kraft soll im Sinne Möhlers nicht die Kirchenverfassung als solche angesehen werden. Sie ist nur die verkörperte christliche Liebe. In einer seelenvollen Erfassung christlichen Glaubenslebens ruft dieser Gelehrte, der zuletzt doch nur der fromme Katholik sein möchte: »Die Kirche selbst ist die real gewordene Versöhnung der Menschen durch Christus mit Gott, die eben deswegen durch Christus mit sich selbst versöhnt, und durch die Liebe in ihm wie eine Einheit mit ihm, so eine Einheit unter sich selbst sind, und eben deswegen darstellen. Das ist das innere Leben der katholischen Kirche; der Episkopat, die Verfassung der Kirche ist nur die äußere Dar-

— 24 — Stellung jenes Wesens nicht dieses selbst; auf diese Unterscheidung muß immer gedrungen werden. Die äußere Einheit im Episkopat ist eine Ausströmung jener innern. Wie man aber öfters die Moral als eine Rechtslehre schon darstellte, so freilich gewöhnlich auch das Episkopat; auf diese Weise aber kann es nicht begriffen werden.« Dieser Enthusiasmus ist echt, aber er streitet mit dem lebendigen Leben der Kirche, auch wie Möhler es begreift. Er selbst hat ja den Episkopat zugleich als Rechtsverfassung genommen. Und das Buch, das die Bischöfe als apostolisch gegebene Leiter der Gemeinden erscheinen läßt, stellt mit einer ähnlich gefällig vereinfachenden Konstruktion die Notwendigkeit wie die geschichtliche Entstehung des Metropolitanverbandes dar. Diesem Verbände spricht Möhler die höhere Aufgabe zu, die schon in der christlichen Liebe ursprünglich gegebene Verbindung der Gläubigen überhaupt, über die Grenzen auch dieser erzbischöflichen Verbände hinweg zu vermitteln. Schließlich ist auch die Krönung des Episkopats, der Primat, für Möhler nicht einfach ein freies, großes und notwendiges Ausströmen christlicher Liebe, sondern ein gegenständlicher Abschluß kirchlicher Rechtsverfassung. Es ist ein schönes Beispiel des freien Erkenntnis- und ehrlichen Bekenntnisdranges dieses jungen Theologen, wenn er das Kapitel über den Primat durch folgende Sätze eröffnet: »Ob der Primat einer Kirche zur Eigentümlichkeit der katholischen Kirche gehöre, war mir sehr lange zweifelhaft; ja ich war entschieden, es zu verneinen; denn die organische Verbindung aller Teile zu einem Ganzen, welche die Idee der katholischen Kirche schlechthin erheischet und sie selbst ist, schien durch die Einheit des Episkopats, wie es bisher entwickelt wurde, völlig erreicht; auf der anderen Seite ist es augenfällig, daß die Geschichte der drei ersten Jahrhunderte sehr karg ist an Stoff, der allen Zweifel geradezu unmöglich machte. Allein eine freiere, tiefere Betrachtung des biblischen Petrus und der Geschichte, ein lebendiges Eindringen in den Organismus der Kirche erzeugte in mir mit Notwendigkeit seine Idee.« Die »Idee« des Primats also! Gewiß ist der wissenschaftliche Zweifel auch hier schließlich kirchlich gelöst. Wichtig bleibt aber, daß Möhler nicht, wie jeder römisch strenge Dogmatiker hätte tun müssen, den Primat sogleich als die unmittelbar von Gott geordnete Leitung der allgemeinen Kirche faßte oder gar die unmittelbare bischöfliche Gewalt des Petrus und seiner Nachfolger in der allgemeinen Kirche lehrte. Aus seiner Grundanschauung heraus ergibt sich ihm als freie und doch notwendige Erkenntnis die »Idee« des Primats. Nicht ein

— 25 — Papstdogma entwickelt er, sondern »die historische Konstruktion« dieser Primatidee. Für die Begründung dieser Konstruktion zieht er nun neben der patristischen Überlieferung die bisher. hintangesetzte Bibel heran. Auch Möhler wurde hier mitbestimmt durch die übliche kirchliche Ausdeutung der Petrusstellen, wurde in der Stille überhaupt angetrieben durch die Überlieferungsmacht der lebendigen Papstkirche seiner Tage. Aber es ist für die richtige Erkenntnis Möhlers und seiner wirksamen Lehranschauungen wesentlich, die Grenzen dieser römisch-gegenwartskirchlichen Einwirkungen festzustellen. Im ganzen und in wichtigen Einzelbeobachtungen bleibt er auch hier seiner persönlichen Art treu. Er übernimmt nicht einfach die römische Auffassung. Den Grund des Kirchenbaues, dabei beharrt er, bilden die Apostel überhaupt. Daß in den Petrusstellen etwas Eigentümliches von Petrus ausgesagt werde, daß sie insgesamt ein bedeutendes Gewicht bekämen, gibt er zu, ohne diese Meinung rein kritisch zu prüfen. Aber er erklärt doch, daß durch solche Stellen der Primat des Petrus nicht geradezu begründet werden könne. Und vor allem, auch hier zeigt sich bei Möhler zuletzt stärker als jeder kirchliche Beweisversuch die »Idee« der Kirche: sie aber ist bischöflich; in der Gesamtheit der Bischöfe liegt die Einheit aller einzelnen Glieder der Kirche. Aber Möhler »sucht« zugleich, das Ganze als Wiedergabe des Typus der Einzelbildungen anschauend, er »sucht« den »persongewordenen Reflex dieser Einheit.« Er ist es zufrieden, diesen »Zentralpunkt des Ganzen« nicht als bloßes Menschenwerk betrachten zu müssen, weil sich dessen Grundzüge in der Geschichte Jesu und der Apostel »vorgezeichnet« finden. Möhler sieht also einen bloß andeutenden Umriß da, wo die römische Auffassung ein festgefügtes körperhaftes Gebilde gesehen wissen wollte. Nicht die von Christus vollzogene Einsetzung einer vollkommenen Primatgewalt lehrt Möhler, sondern lediglich die geschichtliche Entwicklung des Primats. »Der Primat, wie jede Eigentümlichkeit des Christentums, ist nicht als toter Begriff, sondern als Leben und aus dem Leben hervorgehend zu betrachten.« Da der Primat für Möhler der persongewordene Reflex der Einheit der ganzen Kirche ist, so konnte nach seiner Anschauung ein Primat sich erst entfalten, als die Einheit der Kirche selbst sich durchgesetzt, selbst alle durchdrungen hatte. Er wendet sich, ohne sie zu nennen, tatsächlich so gut gegen die kirchlichen Verfechter des römischen Primatbegnffs wie gegen die kritischen Gegner der Primatlehre überhaupt, wenn er sagt, nach dem Gesetze einer wahren Entwicklung sei es un-



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möglich, vor jener Zeit, da die Einheit der Kirche mit vollständigem Bewußtsein hervortrete, vor der Zeit Cyprians, also vor der Mitte des dritten Jahrhunderts etwa unwidersprechliche historische Beweise für einen päpstlichen Primat zu verlangen. Damit ist die kirchlich herkömmliche »historische« Begründung des Primats der »Nachfolger Petri« nicht nur beiseitegeschoben sondern selbst in ihrer Grundlage gefährdet. Gewiß bleibt in der »Idee« ein Gemeinsames zwischen ihm und den anderen; denn auch für Möhler ist die »Idee« des Primates, weil sie den Keim des geschichtlich werdenden Primats in sich birgt, Gewährleistung einer göttlichen Begründung des Papsttums. Aber was die erdenfeste römische Kirche darüber hinaus für sich forderte, den strengen Begriff »Nachfolger Petri«, den papalen Rechtsbegriff von der ewig gleichen Primatgewalt, die römische Vorstellung, für die in den biblischen Petrusworten die förmliche Stiftung des Papsttums mit seiner ganzen Lehrgewalt lag, für die Petrus Papst und jeder Papst ein neuer Petrus war, — diese Gedanken wird man bei Möhler vergebens suchen. Nur die vorgebildete Einheit der Kirche findet er mit Cyprian in Petrus, im Stuhle Petri noch im dritten Jahrhundert nur das lebendige Bild der bischöflichen Einheit. Möhler hat, auch hier im Einklang mit den älteren Tübingern, den kirchlichen Einheitsgedanken als Ausgleich gefaßt, als Ausgleich der einander entgegengesetzten, an und für sich den Zusammenhalt bedrohenden Gedanken: des Rechts des einzelnen und des Rechts der Gesamtheit der Gläubigen, des Rechts der Bischöfe u n d des Papstes. So konnte er das Kapitel über den Primat nicht anders abschließen als mit dem Bekenntnis zu diesem ausgleichenden Einheitsgedanken. In diesem Bekenntnis wird zugleich der monarchische Absolutismus des Papstes abgewiesen. »Zwei Extreme im kirchlichen Leben sind aber möglich und beide heißen Egoismus, sie sind: wenn ein J e d e r , oder wenn E i n e r alles sein will; im letzten Falle wird das Band der Einheit so eng, und die Liebe so warm, daß man sich des Erstickens nicht erwehren kann; im erstem fällt alles so auseinander, und es wird so kalt, daß man erfriert; der eine Egoismus erzeugt den anderen; es muß aber weder Einer noch Jeder alles sein wollen; alles können nur Alle sein, und die Einheit Aller nur ein Ganzes. Das ist die Idee der katholischen Kirche.« Für die katholische Kirchengeschichtsschreibung hat Möhlers Buch die Bedeutung einer der frühesten kirchen- und dogmen-

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geschichtlichen Einzeluntersuchungen großen Stils. Daß sie zugleich, ja man darf sagen vor allem, mehr ist als eine dogmengeschichtliche Monographie, hat uns die Betrachtung dieses Bekenntnisbuches gezeigt. Auch die Wirkung des Buches auf die katholische Theologie ruht mehr in seinen seelenvollen Kirchengedanken als im wissenschaftlichen Ertrage. Scholastisch und kurialistisch gerichteten oder auch nur zum Papalismus hinneigenden Theologen erschien dieses unscholastische und unkurialistische Buch anstößig; die anderen aber konnten sich an seiner kirchlichen Stimmung und zarten Geistigkeit begeistern. Auch durch die stärker auf Wirkung berechnete stärker wirkende »Symbolik« wurde Möhlers Erstlingswerk nicht ganz verdrängt; fünf Jahre nach seinem Tode erschien eine zweite Ausgabe, 1855 eine französische, 1858 eine italienische Übersetzung. Bei der Abfassung dieses Buches stand hinter dem Gelehrten immerdar der priesterliche Kirchenmann, der die rationalistisch bewegten schwankenden Anschauungen von Christentum, Christus und Kirche, wie sie auch ihm überkommen waren, überwinden wollte und in dem Studium der Patristik ein »lebendiges, frisches, volles Christentum« entdeckt zu haben meinte oder es doch in seinem Innern werden fühlte. Möhler, der sich seiner Kirche, ihren Gnadenmitteln und ihrer Seelenführung mit glühender Liebe hingab, trug freilich mehr die eigene tief geschaute »Idee« dieser Kirche in sich als das getreue Abbild der wirklichen Kirche in ihrer Machtgestaltung mit der immer stärker anwachsenden Papstherrschaft und ihrer immer derber ins Leben eingreifenden Politik. Die Gefahren der Papalisierung und der Politisierung hat Möhler indessen keineswegs übersehen. Vielmehr wollte der Katholik Möhler der vordringenden papalistischen Strömung den Damm entgegengesetzt wissen, den der Theolog Möhler in der katholischen Einheitsidee der alten Kirche gefunden hatte. Er wollte an der alten Kirche zeigen, wie die katholische Kirche in ihrem Grunde und Wesen überhaupt sei und sein müsse. Wer die Ansicht habe, so meinte er, daß die Kirche jemals eine andere gewesen sei oder sein oder werden könne, könne keine Geschichte schreiben. Und doch liegt das Gegensätzliche in seiner Auffassung, das Widerspruchsvolle gerade darin, daß er die Kirche als »Idee« zugleich und als Wirklichkeit faßte, daß er die Kirche für unveränderlich nahm und doch ihre Entwicklung betrachtete, daß er in ihrer Verfassung insbesondere Wandlungen beobachtete, die ihm freilich nur als Entfaltung des göttlich »Vorgezeichneten« erschienen, deren Feststellung aber jene eindeutige kirchliche Bestimmtheit ausschloß, wie die römisch strengen Theologen sie forderten.



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E r selbst meinte, durch die Geschichte erst zum Bewußtsein gebracht zu haben, was er ohne klares Bewußtsein schon in sich trug. Eben daraus aber erklärte er (in einer etwas zagen Anerkennung der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit 1) auch »Das Schweben und die Möglichkeit des sich selbst Widersprechens.« Ein Tübinger katholischer Theolog unserer Tage, der sich um die Aufhellung der Entwicklung in der kirchlichen Grundanschauung Möhlers verdient gemacht hat, meinte die zweite Schrift Möhlers zu dieser ersten recht in Gegensatz stellen zu müssen: Möhlers Buch über A t h a n a s i u s bezeichne einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte Möhlers und diese Wendung sei eben gerade in den Betrachtungen über Papsttum und Primat zu erkennen. In Wahrheit aber zeigt das zweibändige Werk » A t h a n a s i u s der Große und die Kirche seiner Zeit, besonders im Kampfe mit dem Arianismus« (1827) keine andere kirchliche Grundanschauung und (was bei einer Natur von der Art Möhlers nicht unwesentlich ist) keine andere kirchliche Grundstimmung als das Buch von 1825, läßt insbesondere nirgends erkennen, daß die für Möhlers Kirchenbegriff und ganze Geistesart bezeichnende scharf bestimmte Ansicht der bischöflichen Verfassung der Kirche, jene gemäßigt episkopalistische Auffassung der allgemeinen Kirche verschoben oder gar zerstört sei. Das Athanasiusbuch steht nicht im Gegensatze zu dem Einheitsbuch, schließt sich vielmehr innerlich wie äußerlich an dieses an, und beide sind durch die Einheit einer nicht starren, aber festen Persönlichkeit miteinander verbunden. Die Unterschiede sind durch die Sache bedingt. E s ist eben etwas anderes, von einem Kirchenlehrer und Kirchenpolitiker des vierten Jahrhunderts zu sprechen, als von den Kirchenvätern der vorangehenden Generationen. E s ist auch natürlich, daß in einem Buche über Athanasius von den römischen Bischöfen und ihrer Stellung in der allgemeinen Kirche mehr die Rede ist als in der Darstellung der vorausgehenden Zeit. Aber man darf doch nicht sagen, daß jetzt erst »die providentielle Bedeutung der Hierarchie und des römischen Primates« »voll in sein Bewußtsein« getreten sei: der kirchliche Einheitsbegriff, die Idee der bischöflichen Einheit und der Krönung des Episkopats im Primat ist vielmehr gerade der kirchlich-verfassungsmäßige Kerngedanke des ersten Werkes. Die bestimmtere Frage nach dem Rechtsverhältnis zwischen Episkopat und Papat, zwischen der Gesamtheit der Bischöfe und dem römischen Bischof, zwischen Konzil und Papst, diese Frage berührt das Athanasiusbuch nicht: hier allein aber konnte und mußte eine Entwicklung der Anschau-

— 29 — ungen Möhlers im Sinne einer Annäherung an die römische Auffassung erwartet werden, und hier sollte sich eine solche Entwicklung in der Tat später zeigen. Was die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit angeht, so verrät sich dort, wo die geschichtliche Betrachtung über Athanasius leise die römische Lehrmeinung berührt, die abweisende Haltung, die Möhler immerdar behauptet hat. Für die Erkenntnis der Geistesart Möhlers bietet auch diese biographische Monographie wertvolle Aufschlüsse. Daß uns überhaupt in einer derartigen gelehrten Untersuchung das Persönliche immer wieder entgegentritt, ist schon bezeichnend für Möhlers Wesen. Man fühlt stark Möhlers romantische Neigung zu dem durch Persönlichkeit und Schicksal ausgezeichneten Bischof Athanasius. Er bekennt seine »tiefe Sehnsucht«, »den großen Mann genauer kennenzulernen.« Er entdeckt für sich diesen Kirchenlehrer, um dann, selbst beglückt, »die in ihm verborgenen Schätze christlicher Weisheit und Erkenntnis zutage« zu fördern. Möhlers romantisch-individualisierende Betrachtung ist aber stets auch kirchlich fest. In seiner kirchlichen Empfindung lösen sich auch die protestantischen Anregungen auf, die von Neander ausgingen. Der historische Sinn fehlt ihm nicht, aber er ordnet sich seinem religiösen Empfinden, seinem kirchlichen Gefühle unter. Ihm gilt etwa die Lehre vqn der Dreieinigkeit schon im ersten Jahrhundert als eine »allgemeine konstante Lehre der Kirche«, obwohl doch nicht einmal die Vorfrage, wo denn diese allgemeine Lehre »der Kirche« im ersten Jahrhundert zu finden sei, wissenschaftlich beantwortet ist. Seine Betrachtung der ersten Jahrhunderte will vom Kirchenglauben streng die spekulativen Erörterungen einzelner trennen. »Was geglaubt werden soll, ist Überlieferung, und in dieser stimmen alle miteinander überein. Wie der Glaube aber mit Vernunftideen in Übereinstimmung gesetzt werden könne, geht den Kirchenglauben nichts an. Fehler und Einseitigkeiten in diesen Versuchen können nichts gegen die allgemeine Kirchenlehre beweisen: ja selbst aus den fehlerhaften Konstruktionen und Demonstrationen leuchtet diese klar hindurch.« Möhlers unbedingte Apologie der letzten Grundlagen des Kirchenglaubens wird nicht zur unbedingten Apologie der Kirchenväter. »Der Glaube an Vater, Sohn und Geist als einen Gott«, findet sich überall; aber nicht nur die spekulative und biblische Begründung ist nicht gelungen, sondern er ist auch noch nicht als Verstandesbegriff klar gedacht. »Nicht im Glauben, meint er, treffen wir etwas Schwankendes an, sondern im Begriffe von diesem Glauben, in der menschlichen Reflexion über den-

— 30 — selben.« Er ist überhaupt der Überzeugung, daß die Lehre von der Trinität durch keine Spekulation zu begreifen sei. Mit derartigen Erwägungen gerade hält er den Glauben selbst in seiner festen Bahn. Eine fromme Glut erfüllt dieses Buch. Gelegentlich sengt sie die Kritik hinweg, immer aber mußte sie in den katholischen Lesern, für die Möhler in erster Linie schreibt, eine ähnlich fromme Stimmung wecken, wie sie ihn beherrscht. Athanasius, dessen Persönlichkeit wieder aufleben soll, erscheint ganz unmittelbar als Apologet des Katholizismus, als siegreicher Bekämpfer der arianischen Ketzerei, als Werber für die katholische Kirche, deren »Festigkeit und wesentliche Unveränderlichkeit« sich diesem Bischöfe mitgeteilt habe: »eingewurzelt mit seinem ganzen Sein in die Kirche und ihre ganze Vergangenheit und verwachsen mit ihr, wurde er ihr treues Abbild.« Athanasius wird zuletzt immer wieder als der Heilige genommen: der machtbewußte, stark auch im politischen Kampfboden wurzelnde Mann der Welt wird aufgezehrt durch den frommen Kirchenmann. Die ganze Betrachtung ist in Frömmigkeitsstimmung eingetaucht, und auch Athanasius selbst erscheint nicht so eindrucksvoll in der Gestalt des dogmatischen Kirchenlehrers als in der des gemütvollen, glaubensstarken, verinnerlichten Nachfolgers Christi. Und die Lehre der Arianer erscheint zwar gewiß zunächst dogmatisch als eine Christologie, die das kirchliche Christusdogma bedroht, zugleich aber als eine Vernichtung der frommen Ehrfurcht vor dem Erlöser, als Zerstörung der Unschuld, der Unbefangenheit, des innigen, gemütvollen religiösen Lebens. Die religiöse Stimmung ist etwas Wesentliches auch in diesem Buche, das doch zugleich durch den Ernst und die Energie der Forschung Eindruck macht. Um die Wirkung Möhlers zu verstehen, die kirchliche Wirkung auch seiner gelehrten Bücher, muß man diese gemütsmäßige Erfassung alles Geschichtlichen, die liebevolle innerliche Hingabe an Kirchenlehre und Kirchenleben beobachten. Der Arianismus ist ihm nicht eine Erscheinung dogmatischer Spekulation, die er mit kühler Wissenschaftlichkeit untersucht: ein leidenschaftlich bewegtes Gemüt treibt den Forscher und den Darsteller. Die Arianer verurteilt er nicht lediglich deshalb, weil die katholische Kirche eine andere Christuslehre vorträgt und die arianische verworfen hat; der Christus der Arianer ist ihm überhaupt ein Rätsel »ohne Halt im Gefühl, ohne Stütze in der Vernunft, ohne die Autorität der Überlieferung.« Der Arianismus erscheint ihm wie ein Sakrileg: »Der Charakter des Arianismus ist Trennung der Welt von Gott«; ist ihm das

— 31 — zunächst nur eine philosophisch-theologische Idee, so wird es ihm doch sogleich zu einer Tatsache des religiösen Lebens: den Arianern fehlt die unmittelbare und tief liegende Verbindung mit Gott. Eine Auffassung übrigens, die von Grund aus hinweist auf die Beurteilung, die in der »Symbolik« gelegentlich dem Protestantismus zuteil werden sollte. Wir forschen nicht danach, was sich von Möhlers Darlegungen über Athanasius und die Arianer behauptet hat und aufrechterhalten läßt: von der gelehrten Arbeit ist das Buch überholt, als Geistesoffenbarung eines glaubenstiefen Katholiken von hervorragender Begabung lebt es weiter und nicht zuletzt darum, weil es zugleich mit der Macht des Gemüts geschaffen worden ist. In der gefühlsmäßigen Erfassung geschichtlicher Erscheinungen hat Möhler ein Gemeinsames wie mit seinem protestantischen Vorbilde Neander, so mit jenem großen Vertreter katholischpraktischer Theologie, der flüssige Gedanken und Grundsätze der Aufklärung in sich aufgenommen und mit den festen Metallbarren der katholischen Kirchenlehre zu verschmelzen gesucht hat. Es ist recht von innen her zu begreifen, daß Sailer, der aufhellende und erwärmende Kirchenlehrer der älteren Generation, sich von diesem Buche des gedankenreichen und gemütvollen Lehrers der jüngeren Generation angezogen fühlte: in persönlicher Begegnung lernte der Bischof diesen »jungen, geistreichen, anmutigen Mann voll priesterlicher Haltung und Würde« schätzen. Übrigens sind alle unbefangenen Urteilsfähigen, die Möhler kennenlernten, durch seine Persönlichkeit gefesselt worden; schon seine äußere Erscheinung war gewinnend; ein hochgewachsener schlanker Mann mit dunklem, seelenvollem, tiefem Auge. Dem Buche des Athanasius aber meinte Sailer »Geistesfreiheit und Orthodoxie« zugleich nachrühmen zu dürfen. Das war es in der Tat, was diesem Tübinger Theologen als weltlichgeistlicher Zielgedanke vor dem Auge stand: die Einfügung des Menschlich-Geistigen überhaupt in das Göttlich-Kirchliche, die Ausgleichung von Wissenschaft und Kirchenlehre, die Überwindung des Zwiespältigen im Geistesleben durch den alles beherrschenden, aber nicht unterdrückenden Katholizismus. Ein solcher Ausgleich freilich war leichter kirchlich zu konstruieren als kirchlich zu erleben. Auch Möhler hat an den Spannungenzwischen Ideal und Wirklichkeit schwer getragen; er mußte an ihnen um so schmerzlicher leiden, als sie nicht lediglich von außen, durch die Ansprüche der Wissenschaft auf der einen, der Kirche auf der anderen Seite, ihm auferlegt waren, vielmehr aus seiner natürlichen Anlage selbst hervorgingen, also in seinem eigenen.

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Innern erst überwunden oder gebändigt sein wollten. Aber das ist gewiß: der religiös-kirchliche Drang nach Überwindung alles dessen, was in seiner eigenen Seele und von außen her dem kirchlichen Gedanken entgegenwuchtete, erhob sich immer mächtiger in ihm. Wenn die ersten Schriften und Vorlesungen, namentlich die kirchenrechtlichen, noch überkommene Aufklärungsvorstellungen von geistiger Bewegungsfreiheit im Reiche des Kirchlichen verraten, so beanspruchten mit jeder neuen geschichtlichen oder systematischen Betrachtung Möhlers die strenger römischgemeinkirchlichen Begriffe immer mehr ihr Recht, will Möhler selbst ihnen immer mehr Rechte einräumen. Die Grenze freilich, die den absolutistischen Papalismus von dem romtreuen Episkopalismus trennt, hat er niemals nach der papalistischen Seite hin überschritten; das wird sich uns auch bei der Betrachtung des vollendetsten Möhlerischen Bekenntnisses zur einheitlichen Kirchlichkeit, bei der Symbolik, noch zeigen. Die Richtung auf die Symbolik ist in einzelnen Bemerkungen schon des jungen Möhler zu erkennen, seit dem »Athanasius« zeigt sich deutlicher der Weg zu diesem Buche der kirchlichen Belehrung und polemischen Auseinandersetzung. Wir sahen, wie das zeitliche Vorrücken von der Frühpatristik zu den athanasianisch-arianischen Kämpfen, nicht zwar ein neues Gestalten, wohl aber ein weiteres Entfalten der kirchlichen Vorstellungen Möhlers bezeichnet. Die erste eindringliche Beschäftigung mit der Scholastik führte diesen Historiker mit den systematischen Neigungen, diesen Theologen mit dem starken kirchlichen Gegenwartsbewußtsein wiederum ein Stück vorwärts in dem Ausbau oder in der Darlegung seiner kirchlichen Gesamtanschauung. Jene wesentlich durch kirchliche Rücksichten bestimmte, durch römische Vorschriften bald auch in Deutschland stark geförderte völlige Hingabe an die Scholastik des Neuthomismus blieb der Tübinger Schule freilich fremd; wohl aber zeigte sie eine ausgesprochene wissenschaftliche Hinneigung zur Scholastik und Respekt vor der altscholastischen Methode. Die einzige Darstellung zur Geschichte der Scholastik, die Möhler außerhalb seiner Vorlesungen gegeben hat, ist wiederum auch als Zeugnis seiner Entwicklung von Wert. Dieser große Aufsatz über Anselm von Canterbury (1827/28) offenbart, sobald man nur aus den historischen Darlegungen die Bekenntnisse Möhlers herausliest oder herauslöst, in überraschender Weise die Gedankengrundlage und im Keime vielfach auch die Gedankenentwicklung der »Symbolik« von 1832. Auch nach rückwärts hat diese Anselmbiographie, die zugleich die reli-



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giösen, kirchlichen, wissenschaftlichen Zustände im elften und beginnenden zwölften Jahrhundert überhaupt aufhellen möchte, ihre Verbindung: das persönliche Verhältnis zu dem Helden war kennzeichnend schon für das Buch über Athanasius, das auch mehr sein wollte und war als lediglich Lebensbeschreibung. Die warm getönte Darstellung und ihre anmutige Belebung durch die Empfindungen des Biographen erinnern wohl auch an die Art, wie Graf Friedrich Stolberg nach seinem Übertritt zum Katholizismus die »Geschichte der Religion Jesu Christi« behandelte; übrigens war Stolberg, dem die gelehrte Durchbildung und die wissenschaftliche Kunst Möhlers fehlten, in der Feststellung des Religiösen außerhalb des Katholizismus, etwa bei Luther, unbefangener als Möhler. Das ganz Persönliche bleibt allerdings immer deutlich, auch in der Darstellung, die eine unmittelbare Verbindung zu schaffen sucht zwischen dem Schriftsteller und dem Leser; immer verrät sich zugleich — hier wie sonst — die persönlich ausgeprägte humanistische Neigung zu allgemein menschlicher Betrachtung, zur Beziehung des einzelnen auf das Allgemeine. So findet man, um nur ein Beispiel zu geben, mitten in einer kleinen Einzeluntersuchung über Hieronymus und Augustinus den Satz: »Einen Fehler eingestehen, heißt nichts anderes, als einen Beweis ablegen, daß man heute weiser sei als gestern.« Für den, der Möhlers geschichtliche Stellung erkennen möchte, bleibt an dem Aufsatz über Anselm das Wichtigste doch das Vorwärtsweisende, die Symbolik-Gedanken und -Methoden. Auch die Methoden. Man kann an dieser Abhandlung nicht übersehen, mit welcher Gewandtheit hier eine geschulte Dialektik arbeitet und auch in den Dienst kirchlich-apologetischer Zwecke gestellt wird. Der energische Versuch einer Überwindung alles Rationalismus tritt in einzelnen allgemeinen Sätzen deutlich hervor, so etwa in einer einfach bestimmten Erklärung über die kirchlich gefaßte Einheitlichkeit von Erkennen und Wollen im Menschen: »Wie das wahre geistige Leben des Menschen im reinen Erkennen und reinen Wollen zugleich besteht, und nicht gesagt werden darf, daß dieses um jenes oder jenes um dieses willen geübt werden müsse; so kann auch nicht gesagt werden, daß das Christentum nur das Eine von beiden wolle.« Noch bestimmter zeigt sich Möhlers Abwendung von den Aufklärungsideen darin, daß er meint, der Gegensatz des Rationalismus und Supernaturalismus, der auf einem niedrigeren Stande des christlichen Lebens und Denkens als eine Spitzfindigkeit und Subtilität erscheinen könne, sei auf dem eigensten christlichen Gebiete der dürftigste und armseligste Streit, der eigentlich nur die Frage Beiheft d. H. Z. 7.

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— 34 — bedeute, ob das Christentum Christentum sei oder nicht, der einen Zweifel verrate zwischen Entscheidung für das Christentum und Verwerfung des Christentums. Möhlers weitherzige Kunst des Verstehens weiß auch diesen niedrigsten Standpunkt zu fassen, »wo alle geistige Tätigkeit mit dem Abwehren eines völlig unchristlichen Sinnens und Denkens beschäftigt ist; wo es sich noch um einen bloß formalen Supernaturalismus handelt, d. h. um die nackte Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung, die man supernatural nennt; größtenteils aber noch gar nicht um den wirklichen Inhalt einer solchen«: er beschreibt mit freundlicher Sorgfalt diese Auffassung, aber er fordert ihre Überwindung. Auch darin erkennt er — den gegen die Scholastik erhobenen Vorwurf der Spitzfindigkeit abweisend — das Große, das christlich, kirchlich Große der Scholastiker, daß sie, mitten im Christentum stehend, sich mit dem Gegensatz von Rationalismus und Supernaturalismus, mit diesen »armseligen Fragen unserer Zeit« gar nicht beschäftigten. Diese Apologie der Scholastik ist einseitig und künstlich unter einem bestimmten Gegenwartsblickpunkt aufgebaut. Aber sie kennzeichnet Möhlers Auffassung. Er möchte die Scholastik verteidigen, u. a. auch, ohne tiefer einzudringen, gegenüber der Anschauung Hirschers (»einer sehr ehrwürdigen geistigen Richtimg«), die dem Christentum eine nur praktische Tendenz zuschreibt; er wollte dabei allen Rationalismus, der dem Kirchlichen zusetzen könnte, verwerfen, ohne doch das Rationalistische auch der Scholastik selbst recht zu würdigen. Er sah eben mit der Scholastik, so wie er sie faßte, das wahrhaft Rationale als das Christliche an und das Christliche als rational. Der Rationalismus des 18. Jahrhunderts ist ihm jetzt schlechthin etwas dem Christentum Fremdes, unchristlich und unvernünftig zugleich; hier, so meinte er, mußte das Evangelitim vor der sogenannten Vernunft weichen, wurde die positive Theologie durch die natürliche verdrängt, und nur so sind in diesem Rationalismus Vernunft und Evangelium wieder Eins geworden, daß beide verlorengingen. Das am stärksten hervortretende rationale theologische System des damaligen deutschen Katholizismus, den Hermesianismus, hat Möhler zwar nicht scharf bekämpft, — er meinte sogar viel Gutes darin anerkennen zu dürfen, — aber die einseitig vernunftmäßige Begründung der katholischen Lehre lehnte er ab; eben jene »höhere Behandlung« der Theologie, wie er sie sich auf der Grundlage kirchlicher Einheit von Vernunft und Offenbarung geschaffen hatte, bot ihm der Hermesianismus nicht dar. Seine Abneigung gegen allen Rationalismus spricht aber selbst aus seinen Be-



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merkungen über den ontologischen Gottesbeweis, die nicht zwar das wissenschaftlich Fördernde, aber wieder etwas Charakteristisches an seiner Abhandlung über Anselm darstellen. Er läßt Anselms Verteidigung gegen den scholastischen »Empiristen« Gaunilo gern gelten, er läßt sich auch Hegels Bemerkungen wider Kants Kritik des ontologischen Beweises nicht entgehen: sie erscheinen ihm ganz richtig. Aber er spricht doch mehr im eigenen Geiste als im Geiste Anselms, wenn er dessen Gottesbeweis gar nicht als Beweis im strengen Sinne gefaßt wissen will. Wohl durfte er sagen, es handle sich da um »ein wissenschaftliches Orientieren, ein Sich-Zurechtfinden in der g e g l a u b t e n Wahrheit«, er verkennt indessen den Anspruch des Rationalen selbst, das Eigenrecht des »Beweises«. Möhlers stark gefühlsmäßiger Überwindung des Rationalismus war es allerdings gemäß, das Wort auszusprechen: »Der Gedanke, Gott beweisen zu wollen, scheint überhaupt nur in einer Zeit möglich zu sein, die mit sich selbst im höchsten Grade entzweit ist.« Das entscheidende kirchlich Gemeinsame, das er in der eigenen Seele so stark fühlte, wie er es bei Anselm fand, das kirchlich Grundlegende für Vernunft und Glauben zugleich war ihm doch die Einheit von christlicher Religion und wahrer Philosophie, die Einheit auch von Kirchenlehre und Evangelium: die Kirche ist ihm das lebendige objektivierte Evangelium. Es ist hier und auch sonst wohl noch die S p r a c h e der »Einheit in der Kirche«, aber die G e d a n k e n selbst sind strenger, sind fester kirchlich gefesselt. Die früheren ernsthaften Anwandlungen von deutsch-kirchlichen Reformgedanken, die Forderung deutscher Messe zumal, hatte Möhler jetzt überwunden, wie er überhaupt seit Ausgang der zwanziger Jahre von der Betrachtungsweise seines verehrten Lehrers Hirscher stärker abrückte. Dogmatische und praktische Lehren der radikaleren katholischen Aufklärung, die ihn als Problem mindestens früher beschäftigt hatten, wurden jetzt mit aller Schärfe von ihm bekämpft. Mit dem »Katholik«, dem kirchlich strengeren, wissenschaftlich engeren mittelrheinischen Gegenstück der Tübinger »Quartalschrift«, hatte Möhler keine nahe geistige Fühlung, obwohl er dort sein Erstlingswerk gern durch Görres, der damals in Beziehungen zu dem »Katholik« stand, besprochen gesehen hätte. Aber diese, namentlich vom kirchenstrengen Pfarrklerus des deutschen Südwestens geschätzte Zeitschrift war ihm mit ihrer stärkeren praktischen Richtung eben der rechte Ort für seine Abwehr der geistlichen und weltlichen Zölibatsgegner in Baden, denen es an Anhängern auch in Württemberg nicht fehlte. Hier freilich konnte ihm Hirscher wieder Vorbild sein, der seit dem Jahre 3»

— 36 — 1820 immer wieder die kirchliche Auffassung der priesterlichen Ehelosigkeit verfochten hatte. Möhlers »Beleuchtung« der Freiburger Professorendenkschrift für die Aufhebung des Zölibats ist aber über die eine bestimmte Frage der Zulässigkeit der Priesterehe hinaus von Bedeutung als bestimmter und grundsätzlicher Ausdruck der innerlich schon um Jahre zurückreichenden Auseinandersetzung mit der katholischen Aufklärung überhaupt. Hier legte er ein Herzensbekenntnis ab zu den kirchlichen Einrichtungen, die — wie die priesterliche Ehelosigkeit — durch »die alte innig-gläubige Zeit« hervorgebracht worden waren: er verteidigt sie gegen den »verfolgungssüchtigen Geist« jener radikalen katholischen Aufklärung, die unter dem Einflüsse protestantischrationalistischer Angriffe auf die Grundlehren des Christentums, selber gegen diese eine rohe Gleichgültigkeit offenbarten. Indem er sich bemüht, den inneren Zusammenhang aufzudecken zwischen den katholischen Aufklärungstheorien und der praktischen Feindseligkeit gegen kirchliche Einrichtungen von der Art des Zölibats, indem er diese unpriesterliche Anschauung auf die unkirchliche zurückleitet, indem er in der radikalen Aufklärung selbst, in diesem kirchlichen Geistesschaderi den Ursprung der geistlichen Schäden sucht, gibt er an einem besonders wichtigen Beispiele die Nutzanwendung, die notwendigen Folgerungen aus seiner kirchlichen Grundanschauung von der Einheit der wahrhaften Philosophie und des Kirchlichen. Werkmeister, der einflußreichste katholische Aufklärungstheolog Württembergs, gilt ihm überhaupt nicht mehr als ein Vertreter katholischer Aufklärung, sondern als völlig außerhalb des kirchlichen Glaubens stehend; gerade bei diesem ehemaligen Benediktiner meint er den Zusammenhang des Kampfes gegen die kirchliche Lehre und des Kampfes gegen die kirchliche Disziplin unmittelbar beobachten zu können. Die Bekämpfung des Zölibats sieht er mit Notwendigkeit hervorsteigen aus der naturalistischen Verdunkelung der Kirchenlehre, aus der Preisgabe der katholischen Gnadenlehre, der kirchlichen Hauptlehre, daß dem Menschen durch Christi Verdienst die lebendige Verbindung mit Gott wiedererworben sei, daß in allem menschlich Guten sich das stetige Einwirken Gottes offenbare. Nach seiner Überzeugung ist das Verständnis des Zölibats, der völligen, aufopfernden Hingabe an ein Leben und Wirken für die Kirche, allen denen unmöglich, die, wie Werkmeister, das einzigartige Wesen der Kirche verkennen, die Untrüglichkeit der Kirche leugnen und damit ihren Ursprung von Christus und ihren ewigen Bestand und den kirchlichen Glauben preisgeben, daß nur in der Kirche das Heil der Seelen zu



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finden und wo außerhalb der Kirche noch Rettung ist, auch diese nur ihrem Dasein zu verdanken sei. Man erkennt in den letzten Worten die leichte Milderung des ausschließenden Satzes »Extra ecclesiam nulla salus«, aber die bestimmte Anschauung von der allein seligmachenden unfehlbaren Kirche bleibt doch bestehen. Die Aufklärungsgedanken, die den festen Kern des katholischen Kirchendogmas oder wesentliche Vorschriften der kirchlichen Disziplin anrühren und aufzulösen drohen, sie werden mit kirchlichem Bewußtsein überwunden. So wird hier die Grundbestimmung der Symbolik vorweg genommen (wie sich in jenem Satze von 1829 über die kirchliche Gnadenlehre ein Hauptstück des Buches von 1832 ankündigt). Allenthalben kann man in Möhlers Äußerungen aus diesen Jahren, stärker als in den Anfängen seiner Lehrtätigkeit, stärker also auch als in seinem Buche über die »Einheit« den apologetischen Drang erkennen, Wunsch und Absicht, den Geist der Kirchlichkeit streng religiöser Kirchlichkeit (was keineswegs bedeutet: streng römische Kirchenauffassung) auszubreiten. Die erobernde zugleich und verteidigende Darstellung der katholischen Lehrbegriffe, die kritische und polemische Behandlung des Protestantismus und alles Unkirchlichen bezeichnet dann geradezu den Inhalt der »Symbolik«. Döllinger hat in Vorlesungen, noch zu Anfang der sechziger Jahre Möhler den Begründer einer Wissenschaft der Symbolik genannt. Das ist eine irreführende Bemerkung. Möhler hat nur als erster unter den katholischen Theologen des 19. Jahrhunderts die vergleichende Konfessionskunde oder die vergleichende Darstellung wenigstens des Katholizismus und Protestantismus im großen Zusammenhange gegeben — als »Symbolik.« Er hat aber den Namen und im wissenschaftlichen Sinne auch die Sache der deutschen protestantischen Theologie entlehnt. Die protestantischen Theologen, die Möhlers Buch sofort auf den Plan rief, — neben dem »Symboliker« Marheineke selbst vor allem Möhlers Tübinger Kollege Ferdinand Christian Baur und der damals in Bonn wirkende große Systematiker Karl Immanuel Nitzsch —, sie haben diese Befolgung des protestantischen Vorbildes mit verwunderter Anerkennung des Entschlusses und mit enttäuschter Mißbilligung des Wesentlichsten der Ausführung, überhaupt nicht ganz ohne das Gefühl der Empörung über einen peinlichen Übergriff vermerkt. Baur spricht es in der Einleitung seiner Gegenschrift sogar aus: »die überraschende Er-



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scheinung, der Idee einer Symbolik, wie sie bisher in der protestantischen Kirche aufgefaßt worden ist, nun auch in der katholischen Kirche Eingang gestattet zu sehen«, nötige zu der Annahme, daß hier »entweder ein sehr bedeutender Schritt zu einer wesentlichen Umänderung des katholischen Systems geschehen, oder dagegen der Name Symbolik auf eine Weise gebraucht ist, die uns nicht berechtigt, den bloßen Namen für die Sache selbst zu halten.« Gewiß durfte Baur feststellen, daß Möhler zwar den Begriff der Symbolik in dem der protestantischen Theologie geläufigen Sinne gebrauche, daß aber die Aufgabe tatsächlich nicht gelöst werde im Sinne der von Möhler selbst anerkannten Auffassung, wonach die Symbolik die dogmatischen Gegensätze der verschiedenen, durch die kirchlichen Revolutionen des 16. Jahrhunderts nebeneinandergestellten, christlichen Religionsparteien aus ihren öffentlichen Bekenntnisschriften wissenschaftlich darzustellen habe. Baur erklärt sich aber auch in berechtigten Erwartungen enttäuscht, weil Möhler bei der Auffassung und Beurteilung des protestantischen Lehrbegriffs das reine, durch keine einseitige und engherzige kirchliche Ansicht getrübte wissenschaftliche Interesse nicht festzuhalten vermocht habe. Damit stellt sich Baur indessen auf einen Standpunkt, der überhaupt nicht kirchlich gebundenen oder beeinflußten Forschung, den er bei Möhler nicht voraussetzen durfte, auch wenn Möhler selbst gelegentlich diesen Standpunkt für sich in Anspruch genommen haben sollte. Man wird eher sagen müssen, Möhler zeige im großen und allgemeinen so viel Wissenschaftlichkeit, wie ein dogmenfester katholischer Theolog, ein ehrlich an seiner Kirche festhaltender Katholik überhaupt in solchen Fragen des Dogmas wird aufbringen können. Denn es ist allerdings so, was Baur wiederum mit Entrüstung vermerkt: für Möhler stehen Katholizismus und Protestantismus schließlich einander wie Wahrheit und Irrtum gegenüber. Man durfte dem katholischen Theologen Möhler eine andere Grundanschauung billigerweise gar nicht zutrauen. Übrigens hat Baur selbst, inmitten der Einleitung seiner großen Gegenschrift, freilich im Widerspruch mit seinen vorangehenden Bemerkungen anerkannt, Möhler gestehe in bezug auf die Bildung des protestantischen Dogmas sogar weit mehr zu, als man von ihm erwarten sollte, indem er den Protestantismus aus der Entgegensetzung gegen unleugbar viel Schlechtes und Fehlerhaftes in der Kirche entstehen lasse. Es wird, denke ich, für die wissenschaftliche Beurteilung der »Symbolik« Möhlers, und das heißt doch für das Verständnis der Möglichkeit ihrer Entstehung und der Notwendigkeit ihrer



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Artung förderlich sein, wenn diese Vorbemerkungen nochmals erinnert haben an die festen Voraussetzungen und unlösbaren kirchlichen Bindungen des Katholizismus. Planck und Marheineke haben persönlich und durch ihre Schriften auf Möhler eingewirkt. Der Gedanke aber, daß die Erneuerung des einige Jahrzehnte zuvor fast eingeschlummerten Streites der Konfessionen als Folge des wiedererwachenden religiösen Lebens zu gelten habe, war dem jungen Möhler ohnedies vertraut. Weil die Unterscheidung im Glauben sich auf Überzeugung gründen solle, erklärte er (auch darin übrigens mit den protestantischen Symbolikern sich berührend) die Verteidigung der eigenen Auffassung für Pflicht, als Pflicht aber auch die persönliche Verträglichkeit. Wenn er Verständigung und endliche Versöhnung als den Zweck seiner Auseinandersetzung ansah, so hat er in seiner Frühzeit, da er auch das Protestantische noch freier aufnahm, die katholischen Folgerungen aus diesem Worte »Versöhnung« zwar nicht in aller Form gezogen. Daß er aber auch damals die strenge katholische Auffassung fest in der Seele trug, die Überzeugung also, daß der »Ausgleich« nur die allgemeine Rückkehr zum Katholizismus bedeuten könne, ist gewiß. Schon in der Zeit seiner Studienreise von 1823 sah er es als ein Heraustreten aus Geisteserschlaffung und religiös-kirchlichem Ersterben an, wenn hüben und drüben die Kräfte des Selbstbewußtseins und des dogmatischen Widerstreits sich regten. Bei seiner Geistesart konnte die Vorstellung in ihm nicht mehr untergehen, daß er selbst auch berufen sei, diese heilsamen Kräfte zu beleben, mit einer Darstellung der Unterscheidungslehren der christlichen Bekenntnisse dem eigenen Bekenntnis und (dahin ging sein Anspruch wenigstens) dem richtigen Verständnis auch der anderen zu dienen. Man darf danach die innere Beschäftigung mit dem, was fast ein Jahrzehnt später die »Symbolik« bot, bis in die Zeit der Anfänge selbständiger theologischer Arbeit Möhlers zurückleiten, man darf die Idee der Symbolik ihrer seeüschen Wurzel nach eine Jugendidee Möhlers nennen. Der Weg der Idee von innen nach außen ist nicht genau zu erkennen. Aber einmal zeigt er sich doch bereits im Jahre nach der Veröffentlichung des Erstlingsbuches, in der umfassenden Besprechung, die Möhler (1826) der Quartalschrift seiner Fakultät über die »Symbolik« des damals in Erlangen wirkenden Leipziger Theologen Benedikt Winer geschrieben hat. Drei oder vier Jahre später las er (Ende 1828 zum ordentlichen Professor ernannt) zum ersten Male seine dreistündige Vorlesung über Symbolik.

— 40 — Er selbst bemerkt, daß sein Buch aus Vorlesungen entstand, und er verschweigt nicht, daß er mit diesen Vorlesungen bewußt ein protestantisches Universitätsherkommen auf katholisches Gebiet verpflanzt habe. Er holt Protestantisches — protestantischwissenschaftliche Methode und gelegentlich auch einmal etwas von protestantischer Anschauung — auf den katholischen Boden hinüber, um von da aus den Protestantismus wieder zu bekämpfen. Schon als Möhler sein Buch über die »Einheit in der Kirche« schrieb, war er sich bewußt, in der nachtridentinischen Kirche zu leben, von ihrem Geist umweht, von ihren Geboten abhängig zu sein. Dennoch bleibt es für Wesen und Entwicklung dieses Mannes bezeichnend, daß er zuerst von den frühchristlichen Zeiten, von den ersten Kirchenvätern aus eine geistige Verbindung mit der gegenwärtigen Erscheinung der katholischen Kirche schuf, daß er die Lebensluft der alten Kirche einatmete und hinüberzutragen suchte in die lebendige Kirche, der er dienen wollte. Immer gibt ihm der geschichtliche Gegenstand Antrieb zur Gedankenentwicklung über das Gegenwärtige, und es bleibt denn auch von sachlicher Bedeutung, ob er von diesem oder von jenem Augenblicke kirchlicher Vergangenheit seinen Ausgang nimmt. Wenn das Voranschreiten von der Patristik zur Scholastik nicht zwar eine Umwandlung, aber eine weitere Entfaltung der kirchlichen Anschauungen Möhlers bezeichnet, so durfte man die Vollendung dieser Entfaltung von der »Symbolik« schon darum erwarten, weil hier der Gegenstand der Betrachtung nicht die Kirche in einem bestimmten Zeitpunkte sondern die Kirche schlechthin sein soll, die Kirche, die nach katholischer Auffassung in ihrer Idee ewig und unverändert, auch als Erscheinung in ihrem Wesen beharrt und nur in ihrer geschichtlichen Entwicklung die einzelnen Kräfte erst allmählich ausgestaltet. Dabei ist doch für die »Symbolik« eine geschichtliche Bindung kirchlich gegeben: in dem Tridentinum liegt die symbolische Grundschrift vor. Die streng kirchliche Interpretation aber durch die nachtridentinischen Theologen, insbesondere Bellarmino, die zwangvoll wirksam war, ohne im strengen Sinne authentisch zu sein, diese dogmatische Theologenarbeit hat Möhler nicht so sehr berücksichtigt, wie sie es beanspruchen konnte und wie vor allem Rom es wünschen mußte. In seiner Darstellung des Protestantismus aber zieht Möhler gern gelegentliche Äußerungen Luthers und anderer Reformatoren als beweiskräftig heran. Er erhebt die einzelnen Reformationsschriften, womöglich gar polemische, gleichsam zu symbolischen Kundgebungen. Das war ebensosehr wie jene Enthaltsamkeit in der Heranziehung nach-

— 41 — tridentinischer Dogmatiker tatsächlich eine Erleichterung des Angriffs sowohl wie der Verteidigung. Das haben die protestantischen Theologen, wie Baur und Nitzsch, in ihrem Abwehrkampfe begreiflicherweise nicht übersehen. Bemerkenswerter aber ist, daß ein katholischer Theolog, der Sympathische1), aber freilich nicht eben bedeutende Bonner Kirchenhistoriker Bernhard Joseph Hilgers für seine »Symbolische Theologie« von 1841 ausgesprochenermaßen »im Unterschiede von Möhler nur die Symbole der betreffenden Konfessionen« als Quellen benutzte, die Privatschriften der Theologen aber nur zur Erläuterung heranzog. Bei Möhlers »Symbolik« ist noch ein anderes von vornherein zu beachten: Möhler idealisiert seine Kirche. Er faßt sie manchmal so wenig im Geschichtlichen, daß er sie auch als geschichtliche Erscheinung über alle gemeine Wirklichkeit hinaushebt; selbst aus den Fesseln des Tridentinums wird sie dort wohl herausgelöst, wo ihr untridentinisches, ihr vortridentinisches Bild sich reiner darbietet, Die Kirche wird von dem Möhler der »Symbolik« aus der Idee der Einheit heraus auch als E r s c h e i n u n g einheitlich genommen; er schaut die nachtridentinische Kirche in Eins mit der vortridentinischen, der vorreformatorischen, der vorscholastischen. Möhler läßt gelegentlich Tridentinisches oder Hochmittelalterliches als ewig Gemeinkatholisches erscheinen, trägt aber wohl auch einmal einen nicht rein kirchlich-katholischen Gedanken in eine kirchliche Lehre hinein. Das ist sogleich von Gegnern Möhlers erkannt worden. Und auch Leopold Ranke z. B. hat es später an ihm getadelt.2) Möhler wußte durch seinen Grundgedanken von der selbsttätigen Entwicklung des Dogmas und der Verfassung Widersprüche und Gegensätze aufzulösen, aber sein Verfahren erklärt sich letztlich wiederum aus seiner ganzen Geistesart, aus seiner zugleich verstandesmäßigen und kirchlich-gefühlsmäßigen Neigung zur Vereinheitlichung und Vereinfachung. Man darf schließlich auch die praktischen Absichten der »Symbolik« nicht vergessen. Wie sie hervorging aus Vorlesungen für katholische Theologen (Vorlesungen freilich, die auch protestantische Theologen gern hörten!), so ist sie als Buch zunächst für die werdenden und die wirkenden Priester bestimmt. Sie soll *) Vgl. Anton Springer, Aus meinem Leben (1892) S. 2 1 1 u . 2 1 4 ; im übrigen A D. B. 12, S. 4 1 2 f. 2 ) Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. 16. Vortrag. 2. Anm.

— 42 — vor allem den Seelsorgern zur Hand sein, um ihnen die Unterrichtung der Gläubigen in den Unterscheidungslehren zu erleichtern; auch von der Predigt über die katholische Glaubenslehre verspricht sich Möhler eine lebendigere, eingreifendere Wirkung, wenn der Prediger für sich die katholischen Glaubenslehren auch in dem Gegensatze zu den anderen Bekenntnissen studiert hat. Möhlers »Symbolik« ist also seiner wesentlichen Absicht nach nicht ein rein wissenschaftliches Werk im strengen Sinne, sondern ein Buch, das für die kirchliche Auseinandersetzung mit unkirchlicher Wirklichkeit von Nutzen sein soll. Auch hier sieht er den Vorsprung bei den Protestanten; sie beschämen durch ihren ausgebildeten Unterricht über die konfessionellen Lehrverschiedenheiten die Katholiken, sie allein auch haben seit Jahrzehnten wissenschaftliche Darstellungen, Lehr- und Handbücher der Symbolik dargeboten. Im praktischen und im wissenschaftlichen Gebiete zugleich möchte Möhler dem Mangel auf katholischer Seite abhelfen. Aber dieses Buch mit den seelsorgerischen Gedanken der Erziehung von Priestern und Gläubigern will zugleich ein Werk der Forschung, eine ernste Gelehrtenarbeit sein. Möhler möchte — und das ist echt wissenschaftlich gedacht — mit seiner umfassenden Gesamtdarstellung auch der weiteren Einzelforschung, deren Lücken er empfindet, Anregung geben. Damit ist eine Höhe des wissenschaftlichen Standpunktes eingenommen, die über die Haltung landläufiger apologetischer Darstellungen hinausweist. Niemand, der dieses Buch kennt, wird sagen dürfen, daß die wissenschaftliche Betrachtung, die im Vorwort angekündigt wird, in dem Buche selbst nicht zu finden sei. Aber sie kann den ganzen Inhalt des Werkes nicht bestimmen und sie wird immer wieder bedroht, ja verdrängt durch den kirchlichen Gedanken, der begehrlich und mächtig neben ihr steht. Aus dem kirchlichen Antriebe zu seinem Buche hat Möhler kein Hehl gemacht. Er spricht es geradezu aus, die Wiederbelebung des orthodoxem Luthertums in Deutschland, insbesondere dessen von oben geförderter Machtaufschwung in Preußen habe ihn zuerst darauf gebracht, aus den Vorlesungen ein Buch zu machen. Er weiß allerdings auch diesem Bedürfnis nach katholischer Auseinandersetzung mit dem bekenntnisfesten Protestantismus, nicht ganz ohne Gewaltsamkeit, eine gewisse geistige, fast wissenschaftliche Weihe zu geben: er sieht die Einseitigkeiten des rationalistischen und des orthodoxen Protestantismus ausgeglichen und versöhnt — nicht etwa in der Idee evangelischer Freiheit, vielmehr in der katholischen Glaubenslehre; der Katholik sei mit dem einen



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ebenso verwandt wie mit dem andern und können darum beide begreifen, weil sein System die Einheit von beiden sei. Wegen dieser inneren, in seinem Dogma gegründeten Verwandtschaft mit beiden stehe der Katholizismus höher als beide und übersehe beide. Damit wird der kirchlich gefährliche Satz von der inneren Verwandtschaft wieder kirchlich gerechtfertigt. Vor allem aber darf man in diesen einleitenden Auseinandersetzungen Möhlers den Zusammenhang mit dem letzten irdisch-kirchlichen Gedanken auch dieser polemischen Symbolik nicht übersehen, und das ist der Gedanke der künftigen Glaubenseinheit. Von der protestantischen Orthodoxie war für den Katholizismus keine Gefahr zu besorgen, vielmehr gab das Erstarken protestantischer Rechtgläubigkeit die Hoffnung auf Gewinn, mindestens auf einzelne wertvolle Eroberungen für die katholische Kirche. Die Konvertitengeschichte des 19. Jahrhunderts beweist die Berechtigung eines solchen Gedankens: die meisten Übertritte zum Katholizismus sind aus den Kreisen der Orthodoxie hervorgegangen. Möhler selbst war nun wahrlich keine Natur, die sich, etwa in der Art, wie bald nachher Alban Stolz, in der Kunst der Seeleneroberung, in einer geschmeidigen Technik der Konvertitenbehandlung hätte bewähren können. Aber da, wo seine Belehrung von einem suchenden Protestanten einmal angerufen wurde, hat er sie doch mit den Kräften einer feinen Dialektik, einer geschickten geschichtlichen Betrachtung, einer sanft eindringenden Beschwörung arbeiten lassen; es bleibt freilich selbst da, wo er es mit scharf zugreifender Polemik versucht, noch etwas von würdevoller Geistigkeit. In jedem Falle aber: auch aus der »Symbolik« Möhlers muß man den Ruf nach Einem Hirten und Einer Herde heraushören, wenn man sie ganz in ihrer Absicht und ihren Wirkungsgedanken verstehen will. Möhler bekannte sich zu der Meinung, durch die schärfste und rückhaltloseste Bezeichnung der Gegensätze dem Frieden dienen zu können, und er sah (wiederum sich grundsätzlich über die Tagespolemik erhebend) einen Gewinn in der Förderung der Überzeugung, »daß innere Interessen durch den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus verteidigt« werden. Aber er erblickte doch auch in der Mattigkeit des Glaubens einen Glauben der Heiden, er erklärte, »wo man nun so vielfach nicht glaubt, ist auch an eine Vereinigung im Glauben nicht zu denken«, und er sieht in der herrschenden Gleichgültigkeit eher den Weg zu einer Vereinigung im Unglauben als zu einer Glaubenseinigung gebahnt. Damit allerdings wird ganz unmittelbar deutlich, daß er sich von der Stärkung des katholischen Bewußtseins gerade — und sie war



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das wesentlichste Ziel seines Buches — eine Verbesserung auch der Aussichten einer Glaubenseinigung versprach, eine Förderung des Planes, der, so sagt er mit deutlicher Erwartung, »die göttliche Vorsehung bei Zulassung so schweren Zerwürfnisses im Auge hatte.« Das ganze Buch ward ihm schließlich ein Werkzeug der Verherrlichung des Heilandes — und d. h. doch auch seiner Kirche. Möhlers »Symbolik« — in der fünften, der letzten von ihm selbst noch bearbeiteten Auflage 40 Bogen stark — behandelt in dem ersten, umfangreicheren und wichtigeren der beiden Bücher die dogmatischen Gegensätze der Katholiken, Lutheraner und Reformierten, in dem zweiten die kleineren protestantischen Sekten. Er stellt jeweils die katholischen und die protestantischen Lehren einander gegenüber: die Lehren von der ursprünglichen Gerechtigkeit des paradiesischen Menschen, von dem Ursprünge des Bösen, von der Erbsünde, von der Rechtfertigung, von den Sakramenten, von der Kirche. Möhler will als Protestantismus zunächst und vor allem die alte Lehre des Luthertums und der Reformierten fassen. Aber er betrachtet Mennoniten, Quäker, Methodisten, Swedenborgianer als »weitere Expositionen des ursprünglichen Protestantismus«, die dessen »Prinzipien« zum Teil nur erst recht konsequent durchgeführt und auf die Spitze gestellt hätten. Die Arminianer mit ihrem abgemilderten Kalvinismus und auch die antitrinitarischen Sozinianer behandelt er gleichfalls, weil sie das andere Extrem, das einseitige verstandesmäßige Extrem des ursprünglichen Protestantismus seien. Dabei nennt er selbst die sozinianische Auffassung des Christentums eine der altprotestantischen geradezu entgegengesetzte, aber mit ironischer, eher schon höhnischer Verbeugung vor dem protestantischen Freiheitsgedanken, erklärt er, es wäre nicht löblich, wenn im Namen der Protestanten eine Intoleranz ausgeübt und von ihm den Sozinianern die Freude versagt werden sollte, in einer S c h r i f t wenigstens ihre alte Sehnsucht nach Vereinigung mit der protestantischen Kirche erfüllt zu sehen; die Protestanten selbst hätten ja die Rationalisten nicht aus ihrer Gemeinschaft entfernt, und vor allem werde »ja einem jeden, der nur die katholische Kirche verläßt, der also nur aufgehört hat, Katholik zu sein, er mag sonst glauben oder nicht glauben, was nur immer zu glauben oder nicht zu glauben möglich ist, sollte er auch noch tief unter den Sozinianern stehen, die protestantische Kirche mit Freuden geöffnet«. Dem freien Protestantismus innerhalb der protestantischen Kirche selbst aber läßt Möhler, weil er hier das Symbol vermißt, diese Weitherzigkeit nicht zugute kommen,

— 45 — obwohl der Zusammenhang mit dem alten Protestantismus wahrlich doch auch hier, die Auswertung der protestantischen Grundgedanken vielleicht hier vor allem gegeben ist. Die Einsicht in protestantisch Wesenhaftes fehlt diesem klugen Beobachter nicht. Er verkennt das Persönlichkeitsrecht im Protestantismus keineswegs, es wird in seinen Händen sogar überspannt: das ganze ursprüngliche System der Protestanten ist ihm nur ein zur Allgemeinheit erhobenes Individuelles. Daß er dabei die Dinge viel zu einfach nimmt, zeigt sein Satz: »Das Gemeinsame der Protestanten könne jetzt nur noch in abstrakten Formeln bestehen, die auch sehr vielen Nichtchristen genehm sein müssen«; er wagt gar, er, der Feine hier wie öfters gröblich zugreifend, über den Protestantismus der neueren Zeit überhaupt das Wort: »da ein jeder sich als Christus benahm, fiel der wahre Christ, das eigentlich Anstößige für die Welt, notwendig hinweg; da ein jeder sich selbst erlöste, gab es keinen gemeinsamen Erlöser mehr.« Den liberalen Protestantismus will Möhler nicht symbolisch betrachten. Aber er faßt ihn doch scharf ins Auge, nicht zuletzt i h n möchte er treffen. Dem gesamten Rationalismus vor allem gilt Möhlers umgekehrte Liebe; in dem bekenntnistreuen Protestantismus, so heftig die »Symbolik« ihm gelegentlich zusetzt, sah er zuviel Katholisches noch, als daß er ihn lediglich hätte verdammen können und nicht vielmehr zugleich als mögliche Durchgangsstätte zur katholischen Kirche hätte betrachten sollen. Das alles entspricht eben jenem letzten kirchlichen Gedanken der »Symbolik«, dem frommen, glühenden Wunsche, das Herrliche und Unvergleichliche, die Einzigkeit und Wahrheit der katholischen Kirche mit e r o b e r n d e r Ü b e r z e u g u n g s k r a f t darzutun. Dem Polemischen, Apologetischen, selbst Missionarischen dieses Buches bleibt allerdings ein Wissenschaftliches gesellt. Nicht selten tritt die polemische Absicht, tritt selbst der apologetische Gedanke in den Hintergrund, und der wissenschaftliche Sinn dieses Gelehrten von umfassender Bildung kann sich hier und da ungestört entfalten, bis dann freilich rasch genug mit dem ausschließenden katholischen Kirchenbegriff auch die kirchliche Kampfkraft wieder mächtig hervorbricht, meist, doch nicht immer weise gezügelt. Man gewinnt mitunter den Eindruck, daß dieser Mann von zarter Empfindsamkeit in der eigenen Seele den Kampf erst durchzukämpfen hatte zwischen den wissenschaftlichen Ansprüchen, den menschlich-persönlichen Rücksichten und den kirchlichen Forderungen, denen nun doch der Sieg gewiß sein mußte.

— 46 — Den Spuren dieses Ringens zu folgen, überhaupt dem Aul und Ab, dem Hin und Wider kritisch-wissenschaftlicher, polemisch ^-konfessioneller, kirchlich-apologetischer Betrachtungen durch das Buch hin genau nachzugehen, ist eine Aufgabe, die jeder gelöst haben muß, der über diese bei allem Glanz der Darstellung nicht immer ganz leicht zugängliche »Symbolik« urteilen will. Diese vielfach reizvollen Wege der stillen Untersuchung an diesem Orte nachzuzeichnen, ist unmöglich. Aber man kann der im Großen genommen zugleich gemütvollen und verstandesmäßig fest gefügten Darstellung Möhlers nicht gerecht werden — weder in dem Sinne, wie Möhler selbst sich ein Verständnis wünschen mochte, noch in dem Sinne strenger geschichtlicher Forschung —, wenn man nicht an einzelnen Hauptpunkten die geistige Haltung und das wissenschaftliche Verfahren Möhlers beobachtet und dabei zugleich seine ganze geistig-religiöse Wesensart zu erkennen sucht, jene von ihm mit einem Wirklichkeit schaffenden Glauben in der Idee der katholischen Kirche geschauten höheren Einheit von verstandesmäßiger Erkenntnis und religiösem Erlebnis, von Wissen und Glauben, von wahrer Wissenschaft und katholischer Kirchenlehre. Möhler hat schon im Jahre 1826 einmal ausgesprochen: »daß sich die wahre Philosophie mit der katholischen Kirche nicht nur vertrage, sondern eines mit ihr sei, das wissen die wissenschaftlich gebildeten Katholiken.« Als das Innerste des dogmatischen Zwiespaltes zwischen Katholizismus und Protestantismus faßt auch Möhler die Lehre von der Sünde und der Versöhnung. Er greift sie als das Hauptstück heraus. Er stellt sie sogar den Betrachtungen über die Erkenntnisquellen der christlichen Lehre und über den grundsätzlich und methodisch wichtigen Gegensatz zwischen protestantischem Schriftprinzip und katholischer Traditionslehre voran; er behandelt diesen Widerstreit und überhaupt die Gegensätze in der Lehre von der Kirche erst im fünften, vorletzten Kapitel des ersten Buches. Nitzsch urteilte, diese Anordnungsweise sei ganz dazu geeignet, den Protestantismus von vornherein unverständlich zu machen; der in seiner Kritik leidenschaftlichere, in seinem kirchlich protestantischen Empfinden aber weitherzigere Baur meinte dagegen, durch diese unmethodische und unsystematische Anordnung habe Möhler weit mehr das katholische als das protestantische System in Nachteil gesetzt, und nur das tadelte er scharf, daß Möhler nun auch die eigene Anordnung nicht streng festhielt und der Sündenlehre wieder die Lehre von dem Urstande des Menschen voranstellte. Für unsere auf das Wesentliche gerichtete Betrachtung ist an diesem ersten Kapitel

— 47 — der »Symbolik« das Wichtigste, daß Möhler von der kirchlichanthropologischen Grundlage aus die kirchliche Gnadenlehre begründet, daß er hier und bei Betrachtung der protestantischen Lehre schon auf den katholisch-protestantischen Gegensatz in der Lehre von der Sünde, von der Erbsünde hinweist. Bemerkenswert auch, daß hier sogleich, namentlich bei Erörterung der verschiedenartigen protestantischen Anschauungen von der Willensfreiheit, die Polemik hervortritt, der die geschickte Apologetik in der Behandlung katholischer Lehren entspricht. Es mag hier auch ein für allemal festgestellt sein, daß die Zusätze und Änderungen der zweiten und dritten und der fünften Auflage der »Symbolik« nicht unbedeutend sind, und daß dieser Zuwachs sich gutenteils als Zuwachs des Polemischen erweist; nicht zuletzt durch die protestantische Gegenpolemik ist Möhlers Stimmung stärker aufgereizt worden. Immerhin: das Verwerfungswort von der tiefen, mit keinem Namen hinlänglich zu bezeichnenden Verkehrtheit der Reformation, auch das hochmütige Aburteilen über die »Sinn- und Verstandlosigkeit des protestantischen Lehrbegriffs« findet man schon in der ersten Ausgabe, und sogleich auch wurde Luther etwa die Verdrängung des wahrhaft Christlichen durch das Individuelle vorgeworfen. Übrigens stehen die fünf Auflagen der »Symbolik«, die Möhler selbst bearbeitet hat, zeitlich so dicht zusammen — nur sechs Jahre liegen zwischen der ersten und der fünften —, daß man sich der Einfachheit halber an das Werk in seiner endgiltigen Gestidt halten kann, wie es heute noch gedruckt und gelesen wird. Im Mittelpunkte der Möhlerschen Darstellung der Lehrgegensätze stehen die Lehren von der Erbsünde und von der Rechtfertigung: das Kapitel über Rechtfertigung, über Glauben und gute Werke ist weitaus das umfangreichste und für die eigentlichen Aufgaben der Symbolik, wie Möhler sie faßt, das wichtigste; im übrigen kann der Abschnitt über die Lehre von der Kirche eine besondere Beachtung beanspruchen, und für die Erkenntnis des Möhlerschen Begriffs von der Verfassung und Lehrgewalt der Kirche ist er natürlich die Hauptquelle. Der katholischen Lehre von der Erbsünde rühmt Möhler höchste Einfachheit nach; es sei, wie in der Kirchenlehre überhaupt, die Einfachheit des klaren Verstandes. Die protestantische Sündenlehre erscheint in Möhlers Darstellung gleichfalls von großer Einfachheit, aber es ist die Einfachheit des Unverständigen, ja geradezu des Sinnlosen. Im Zusammenhang mit der reformatorischen Willenslehre erscheint ihm die protestantische Auffassung der

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Erbsünde »beinahe nach allen Seiten hin ohne Sinn und Verstand«, «in Urteil, das durch den Einschub »man verzeihe den Ausdruck« gewiß nicht eingeschränkt wird. Mit dem lutherischen Begriffe der Erbsünde, mit der Lehre, daß der natürlichen Vernunft als solcher die Fähigkeit fehlt für die Erfassung des Göttlichen, sieht Möhler das auf die göttlichen Dinge gerichtete Erkenntnisund Willensvermögen und damit überhaupt »die vernünftige Anlage« dem bloß natürlichen Menschen abgesprochen. Er möchte nicht moralisch aburteilen über den Ursprung dieser protestantischen Anschauung, aber er will sie doch nicht nur als unvernünftig, als unbegreiflich, sondern zugleich als unreligiös erscheinen lassen. Er erklärt die Gesinnung, aus der dieses protestantische Lehrstück stamme, zwar für sehr löblich: sie sei »offenbar aus einem tiefen Gefühle des menschlichen Elendes, der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Erlösungsbedürftigkeit des Menschengeschlechts hervorgegangen, und will dieses Gefühl rege erhalten.« Aber •dieser Zweck wird nach Möhlers Urteil von diesem Dogma nur dort erreicht, »wo die Macht des Gedankens nicht aufkommt, und dem Drange dunkler Gefühle ohne klares Bewußtsein nachgegeben wird«. Für Möhler ist es etwas von Grund auf Feststehendes, daß der protestantische Lehrbegriff hier nicht weniger bedeutet als »die gewaltsame, schon allem vernünftigen, noch mehr aber dem christlich-erleuchteten Denken so tief widersprechende Vertilgung eines natürlichen geistigen Vermögens, und zwar seines religiös-moralischen, jenes ihn allein und wahrhaft vor den Tieren auszeichnenden Vorzugs.« Er findet, daß Luther hier dem Manichäismus verfällt — wie denn die »Symbolik« bei Betrachtung der Rechtfertigungslehre auch die besondere Verwandtschaft des Protestantismus mit dem Gnostizismus feststellt —, er bezieht darum auch die Bemerkung der sogenannten Ersten Helvetischen Konfession, daß die Manichäer dem Menschen jede Betätigungskraft abgesprochen hätten, geradezu auf die lutherische Vorstellung und vermerkt mit Befriedigung, hier werde »die lutherische Ansicht, daß der gefallene Mensch nicht einmal mehr das Willens- und Erkenntnisvermögen für das Reich Gottes besitze, gerade für manichäisch erklärt«, und in der Verwahrung dieser Confessio Helvetica gegen die Lehre von der Gleichheit aller Sünden will er ein gesundes Gefühl verehren, »eine erfreuliche Ahnung der tiefen, mit keinem Worte hinlänglich zu bezeichnenden Verirrung, von welcher die Reformation ausging«. Diese wesentlichen Proben zeigen das rücksichtslose Zugreifen Möhlers, lassen ahnen, daß dieser kluge Kopf in der Einzelkritik manches zu bieten hatte, jedenfalls dem Gegner viel

— 49 — zu schaffen machen mußte. Aber schon hier zeigt sich auch die Trübung des Urteils durch den kirchlichen Kampfgeist. Die Darstellung der Gegensätze in der Lehre von der Rechtfertigung läßt noch deutlicher erkennen, daß Möhler seine »Symbolik« als Verteidiger seiner Kirche geschrieben hat. Der Glaubenskämpfer nimmt dem Forscher, dem Gelehrten, ohne daß dieser sich dessen ganz bewußt wird, nicht nur die Feder aus der Hand, sondern selbst die Gedanken aus dem Kopfe. Der Zweifel an der Wahrhaftigkeit Möhlers, wie er bei Baur gelegentlich deutlich durchblickt, wäre ein Erklärungsversuch, der nur die Bequemlichkeit, die plumpe Bequemlichkeit für sich hätte. Wir können Ähnliches beobachten bei einem viel weniger fein organisierten Geiste, bei Johannes Janssen. In der Behandlung der Rechtfertigungslehre hat Möhler auf sein apologetisches Ziel sogleich selbst hingedeutet. Er möchte den Anspruch der Reformatoren, die katholische Betrachtungsweise hier verbessert zu haben, in seiner Nichtigkeit nachweisen. Seine (wie fast immer) geschickte und eindrucksvolle Darstellung sucht an der tridentinisch-katholischen Rechtfertigungslehre vor allem das beruhigende und, möchte man sagen, glatte Zusammenwirken der menschenfreundlichen Gottheit und des der Gottheit frei hingegebenen Menschen hervortreten zu lassen. Auch hier fehlt es ihm nicht an Kritik gegenüber der katholischen Theologie. »In der katholischen Kirche«, so sagt er, »bewegen sich stets die mannigfaltigsten, die tiefsinnigsten und spekulativsten Theorien über die göttliche Vorherbestimmung und ihr Verhältnis zur menschlichen Freiheit neben manchen sehr flachen und nichtssagenden Ansichten hierüber.« Aber die Entscheidung zwischen den verschiedenen Lehren ist auch ihm natürlich keine freie wissenschaftliche Aufgabe. Auch hier wird die theologische Frage kirchlich erledigt«. In Beziehung auf die Lehre ist es nach seiner förmlichen und feierlichen Erklärung »ausschließende Aufgabe der Theologen, mit Demut aufzusuchen, was die Kirchenlehre religiös-sittlich Erregerides und Belebendes umfaßt, indem die Wahrheit und Objektivität derselben den aus ihr entwickelten praktischen Momenten gleichfalls den Charakter der Wahrheit und Objektivität mitteilt«. Damit ist übrigens ein bindender Grundsatz vorgetragen, zu dem bisher gerade die Tübinger Schule sich nicht bekannt hatte und den auch Möhler mindestens nicht in allen möglichen Folgerungen angewandt wissen wollte, denn aus jenem Grundsatze heraus hätte sich mit gelindem Zwange etwa auch die Notwendigkeit der Unterwerfung unter die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit entwickeln Beiheft d. H. Z. 7.

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— 50 — lassen. Möhler bringt die katholische Kirchenlehre in einheitlich geschautem Bilde, das menschliche Natur und göttliche Gnade in lebendigem Zusammenwirken erscheinen läßt und den schönsten Ausgleich des Subjektiven und Objektiven zeigt. Der Gegensatz der Betrachtungsweise zugleich und der Empfindung, der Möhlers Behandlung des protestantischen Lehrbegriffs von der des katholischen trennt, ist leicht zu erkennen. Man braucht nur sein Urteil zu lesen, die protestantische Rechtfertigungslehre sei zu äußerlich. Das ist allerdings ein Vorurteil im eigentlichen Sinne des Wortes. Der katholische Kritiker weist die protestantische Rechtfertigungslehre ab, ohne sie erst von innen her betrachtet zu haben. Schon die Erkenntnisgrundlage Möhlers ist hier viel zu schmal. Er hält sich an einzelne Sätze der Augsburger Konfession und der Konkordienformel und verwertet einzelne Worte Luthers, ohne zu versuchen, durch abwägendes Zusammenhalten mit entscheidend wichtigen Aussprüchen in ihren rechten Sinn einzudringen. Und bei der Darstellung der reformierten Lehre von dem Verhältnis der Gnade zur Freiheit wird man den Mangel an freiem Verständnisse für die einseitigeinheitliche Größe der Grundauffassung Calvins gewiß nicht ausgeglichen finden durch den Satz: »Es ist kaum glaublich, zu welchen wahrhaft gotteslästerlichen Wendungen sich Calvin noch versteht, um seiner Lehre einen Schein von Festigkeit zu verleihen, und sich gegen Einwürfe sicher zu stellen.« Man kann freilich derartigen verständnislosen und herben Aussprüchen manches Wort gegenüberstellen, in dem das Gerechtigkeitsgefühl einer zarten Natur oder auch das wissenschaftliche Verantwortungsbewußtsein des Gelehrten sich spiegelt. Der Abschnitt über die protestantische Ansicht vom Glauben etwa wird abgeschlossen durch den Satz: »Das Wahre aber, an das sich auch diese protestantische Lehre angeschlossen hat, darf indeß doch nicht mißkannt werden; es besteht in dem Individualisieren der evangelischen Wahrheiten, in der Hinweisung auf die Notwendigkeit persönlicher Anwendung derselben und der Beziehung der göttlichen Verheißungen auf uns selbst, so daß wir sie nicht bloß ins Unbestimmte und Andere betreffend gesagt wähnen.« Aber dieser Gedanke ist tatsächlich nur so obenhin an den Schluß gestellt, statt daß sich Möhler in die Tiefe der protestantischen Rechtfertigungslehre hätte führen lassen. Möhler sagt wohl auch in der Darstellung der Rechtfertigungslehre selbst: »Es wäre im höchsten Grade ungerecht, wenn nun nicht auch noch ausgeführt würde, daß nach dem lutherischen Systeme an die vertrauensvoll aufgenommene Erklärung der Sündenver-



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gebung auch die Verklärung des sündigen Menschen, die sittliche Verwandlung, die Heiligung sich anschließen müsse.« Aber wie eng die Wirkungsgrenzen dieses guten Vorsatzes sind, kann kein kritischer Leser der »Symbolik« verkennen. Schon was Möhler dieser, für sich genommen so ernsthaften und gerechten Erklärung vorangehen, mehr noch, was er ihr folgen läßt, lehrt uns diese Grenzen sehen. E s hat im späteren 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert auch nicht an protestantischen Theologen und Philosophen gefehlt, die teils die überkommenen Vor Stellungen von dem religiösen Werte der Rechtfertigungslehre, teils die Meinung von ihrer geschichtlichen Bedeutung bekämpften. Man braucht nur an den berühmten Vorstoß von Paul d e L a g a r d e z u denken. Karl H o l l dürfte indessen in seinem Vortrage von 1905, »Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus «, nicht nur von neuem die ursprüngliche Rechtfertigungslehre Luthers in ihrer ganzen Wucht aufgedeckt, sondern zugleich auch gezeigt haben, daß der Rechtfertigungsgedanke über alle geschichtlichen Abwandlungen hin sein Leben bewahrt hat, und es ist wohl nicht rein aus äußerlichen Umständen zu erklären, wenn Holl gerade in unseren Tagen seine Schrift von neuem hat herausgeben können. Daß sich die lutherische Rechtfertigungslehre dem Verständnis nicht ganz leicht erschließt, ist gewiß; das ist gerade auch aus Holls eindringender Studie zu erkennen. Aus dem Schuldbewußtsein, das den Verkehr mit Gott unmöglich macht, erhebt Gott den Menschen, der sich selbst in seiner Unwürdigkeit erkennt, der Reue darüber empfindet, sich dem guten Gott versagt zu haben, der nun durch die von Gott frei gewährte Vergebung die Gottesgemeinschaft und damit die wahre Sittlichkeit gewinnt; Christus, der durch Erduldung seiner Leiden als einer göttlichen Strafe Gott mit der Menschheit versöhnt hat, erwirkt im Gläubigen die neue Gerechtigkeit: die persönliche Gewißheit des Gläubigen ruht also auf dem Gnadenwillen Gottes. Derart gibt sich die Rechtfertigung im Erlebnis des Menschen. Der Erfolg ist das Heiligwerden des Menschen: der Mensch strebt nach diesem Ziel und er hofft darauf, es zu erreichen, kann aber sich selbst nicht so weit erkennen, um hier je Gewißheit gewinnen zu können; diese ist nur bei Gott, der als Allmächtiger den Menschen zu einem wirklich Gerechten umschafft. Die Meinung von den Unklarheiten in Luthers Rechtfertigungslehren ist, das hat Holl festgestellt, dadurch entstanden, daß man die beiden Betrachtungsweisen Luthers ineinander gewirrt hat: die Betrachtung von oben her (Handeln Gottes) 4*

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und die von unten her (Erlebnis des Menschen). Aber sicherlich ist dieses strenge Auseinanderhalten nicht ganz leicht und sicherlich darf es auch, will man die einheitliche Anschauung der Rechtfertigungslehre gewinnen, nicht das letzte sein. Schon aus diesem Grunde sollte man nicht einfach auf Übelwollen und beabsichtigtes Nichtverstehen schließen, wenn der Katholik Möhler trotz seiner Vertrautheit mit protestantischer Theologie die lutherische Rechtfertigungslehre nicht rein und nicht richtig erfaßt hat. Man muß hier um so zurückhaltender sein, als protestantische Theologen, mit denen sich Möhler beschäftigt hat, selbst nicht das Rechte zu sehen vermochten, als insbesondere Schleiermachers Rechtfertigungslehre sich nicht mit der reformatorischen deckt. Die reine alte lutherische Rechtfertigungslehre kannten sie alle überhaupt nicht mehr, sondern lediglich die Umformung durch Melanchthon, wie sie in der Confessio Augustana und in der Apologie vorlag; hier aber war eben nur noch das Erlebnis des Menschen (nicht mehr die göttliche Satzung) geblieben, hier erschien die Rechtfertigungslehre nur noch als Trost des Menschen, als Beruhigungsmittel für das Gewissen. Möhler faßt Luther, Melanchthon und spätere protestantische Theologen in eins zusammen, untersucht aber Luthers ursprüngliche Lehre nicht mit der Sorgsamkeit, die ihn zu der richtigen Erkenntnis dieser Lehre hätte führen können. Das ist aber eben das gleiche Versäumnis, das sich protestantische Theologen zuschulden kommen ließen, und wäre diesen gewiß eher vorzuhalten als ihm. Es war, sehe ich recht, erst wieder F. Chr. Baur, der — und zwar gerade in der Auseinandersetzung mit Möhler — den protestantischen Rechtfertigungsbegriff in seiner Tiefe auffaßte. Holl ist in seinem Büchlein auf diesen Streit zwischen dem katholischen und dem protestantischen Theologen nicht eingegangen. Aber man findet bei Baur schon ein wesentliches Stück der Einsicht, die Holl wieder und eindringlicher eröffnet hat. »Der protestantische Lehrbegriff«, sagt Baur, »faßt zwar die Rechtfertigung in ihrer äußersten Spitze als einen außerhalb des Menschen erfolgenden, gleichsam gerichtlichen Akt Gottes auf, aber es ist dies nur die objektive Seite derselben, von welcher die notwendig dazu gehörende subjektive noch unterschieden werden muß.« Möhler, der sonst gern selbst einzelne Aussprüche Luthers hervorzieht, hat sich um die Erkenntnis der alten lutherischen Rechtfertigungslehre nicht bemüht. Die durch Melanchthon abgewandelte Lehre aber setzt sich tatsächlich ähnlichen Vorwürfen aus, wie Möhler sie erhebt. Mitunter berührt sich die Kritik,

— 53 — wie sie heute Holl an Melanchthons Lehre übt, ganz nahe mit Möhlers Kritik. Aber Holl zieht die echte lutherische Lehre wieder hervor, Möhler übersieht sie. Daraus auch erklären sich Möhlers abweisende Urteile, die sich gelegentlich bis zum hochmütigen Verdammen steigern. Er findet eben in der ganzen »Verirrung« des Protestantismus (und er denkt dabei gerade an Luther) immer wieder die »Verwechslung der objektiv vollbrachten Versöhnung mit ihrer subjektiven Aneignung.« Da Möhler niemals in die Tiefe des lutherischen Rechtfertigungsgedankens eingedrungen ist und auch die landläufige Rechtfertigungslehre nur nach ihren schwachen oder unscharf entwickelten Seiten hin näher betrachtete, so konnte er freilich bei seiner polemischen Grundstimmung mit dem «Scheine von Überlegenheit zu solchen Sätzen kommen, wie sie am Schlüsse seiner Würdigung der protestantischen Glaubensansicht stehen: »Nach protestantischer Weise dürfte man nur einen Jeden fragen, was er von sich selbst meine, und er müßte schon in seinem Leben als ein Heiliger betrachtet werden... Ich glaube, daß es mir in der Nähe eines Menschen, der seiner Seligkeit ohne alle Umstände gewiß zu sein erklärte, im höchsten Grade unheimlich würde, und des Gedankens, daß etwas Diabolisches dabei unterlaufe, wüßte ich mich wahrscheinlich nicht zu erwehren«. Und in seiner Verteidigungschrift gegen Baur stellt er es überhaupt als abschließende Gewißheit hin, die Rechtfertigung im protestantischen Sinne sei »ein äußerer gerichtlicher, kein dem Menschen eigener, ihm innerliche Gerechtigkeit setzender, sondern nur die Gerechtigkeit Christi durch den Glauben auf den Menschen äußerlich übertragender Akt Gottes, und das Verhältnis, in welches der Mensch durch die Rechtfertigung zu Christus tritt, ist nur ein äußerliches.« Hier ist die Rechtfertigungslehre allerdings entstellt, hier ist Wesenhaftes übersehen, und selbst die eine, die objektive Seite, nach der Möhler allein blickt, nicht unbefangen und genau betrachtet. Baur empört sich gewiß allzusehr über Möhlers »falsche Behauptungen«, die immer mehr, so meint er, den Charakter einer absichtlichen Entstellung der Wahrheit annähmen. Aber er hat doch Recht, wenn er erklärt, Möhlers durchaus falsche Darstellung habe ihren Grund in der völligen Ignorierung des rechtfertigenden Glaubens an der Stelle des Systems, wo notwendig von ihm die Rede sein müsse. Möhler macht sich die Auseinandersetzung mit der protestantischen Rechtfertigungslehre zu leicht. Nicht, daß es im Einzelnen an guter Beobachtung fehlt; aber da

— 54 — er seine Beobachtung nur auf Einzelnes richtet, kommt er zu Verzeichnungen und Verzerrungen. In seine kritische Beurteilung des Protestantismus mischt sich auch da, wo sie nur wissenschaftlich sein möchte, eine konfessionell-moralische Beurteilung. Seine aus der Bibel doch nicht leicht zu begründende Verteidigung der kirchlichen Fegfeuerlehre wird ihm zum Anlaß, die innere Rechtfertigung als etwas allein katholisches erscheinen zu lassen, zu der die »allerdings mühevolle« Gesetzeserfüllung notwendig gehöre; dem Protestantismus aber hält er vor, mit der Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung etwas Unbiblisches und Widerspruchvolles zu lehren. Er fällt schließlich wie ein oberster Richter das Endurteil: »So trösten beide Konfessionen, aber je in ganz entgegengesetzter Weise, die eine in Harmonie mit der heiligen Schrift, die überall die Möglichkeit der Gesetzeserfüllung voraussetzt, die andere im auffallendsten Widerspruche mit derselben; die eine mit Beibehaltung der ganzen Strenge des Sittengesetzes, die andere mit schwerer Verletzung desselben; die eine in Harmonie mit dem freien und sich nur stufenweise entwickelnden Geiste, der den aufgenommenen göttlichen Samen nur mit heiligem Ernst und unter großer Anstrengung allmählich ausgebären und zur reifen Frucht auswirken kann, die andere ohne Berücksichtigung der ewigen Gesetze des menschlichen Geistes und mit schwer verschuldeter Beförderung eines sittlichen Leichtsinnes.« Von hier aus kommt Möhler — das empfahl sich schon aus polemischen Rücksichten — auf den konfessionellen Gegensatz in der Auffassung des ganzen Christentums: eine Betrachtung freilich, die ihrer aufs Ganze gerichteten Absicht zum Trotze derart am Einzelnen haftet und in der Behandlung des Einzelnen mit ausgewählten Stellen der Reformatoren, insbesondere Luthers derart arbeitet, daß eine wahre Anschauung der protestantischen Christentumsauffassung gar nicht gewonnen werden kann. Die Erreichung des apologetischen Zieles, die Katholiken selbst im katholischen Sinne aufzuklären und zu festigen, wird man allerdings auch hier vortrefflich vorbereitet finden. Will Möhler zeigen, »daß der Katholizismus das gesamte Christentum und die nächsten Zwecke der Ankunft des Erlösers wesentlich anders auffasse, als der Protestantismus«, so soll das »anders« zugleich das »allein richtig« bedeuten. In der katholisch gefaßten Rechtfertigung allein ist ihm das göttliche Gnadengeschenk gegeben, die heiligende Kraft, die der lebendigen Verbindung mit Christus entströmt; nur in ihr sind Gesetz und Gnade eins geworden: Sündenvergebung und Heiligung sind im katholischen Dogma ein und dasselbe. Dem ist dann das düstere protestan-



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tische Gegenbild mit raschen Strichen gegenübergestellt: die Reformatoren mißkannten das Wesen der Liebe; sie konnten sich nicht zur Höhe des Katholizismus mit seiner Idee der Liebe des ganzen und ungeteilten Christus erheben. Die Katholiken mußten sich der protestantischen Vorstellung von Glaube und Rechtfertigung schlechterdings entgegensetzen, wenn sie die Idee von der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes retten, wenn sie die menschliche Freiheit behaupten, die Würde des Sittengesetzes sichern, den wahren Begriff von Sünde und Sündenschuld befestigen, und die Erlösung in Christo nicht in eine Torheit verwandeln lassen wollten.« Damit wird vollkommen deutlich, daß für Möhler die protestantische Rechtfertigungslehre die Verneinung alles wahren Christentums darstellt, daß die protestantische Glaubenslehre überhaupt in ihrem Wesen unchristlich ist. Möhler spricht das auch geradezu aus und er meint, die Reformatoren nur durch die Annahme persönlich entlasten zu können, daß sie sich selbst nicht verstanden hätten, daß sie nicht begriffen hätten, wohin notwendig ihre Lehren führten. So sucht er mitleidsvoll die Reformatoren moralisch zu rechtfertigen, indem er sie intellektuell belastet. Aber auch die moralische Belastung fehlt nicht. In oberflächlicher Betrachtung und verzeichneter Darstellung lutherischer Gedanken über gesetzlichen Gehorsam kommt Möhler zu der Behauptung, Luther lehre einen wesentlichen und inneren Gegensatz zwischen Religiosität undMoralität; er meint überhaupt, die spekulative Idee der protestantischen Rechtfertigungslehre damit aufgedeckt zu haben, daß er sagt, das Sündengefühl verschwinde hier im Glauben und »daher verwandelte sich die vernichtete moralische Freiheit in die Freiheit vom Sittengesetz, welches sich bloß auf die zeitlich beschränkte, erscheinende Welt beziehe, hingegen auf das ewige, über Zeit und Raum Erhabene keine Anwendung zulasse.« Nun sagt Möhler allerdings sogleich danach in der »Zusammenfassung des Wahren und Irrigen in der bisher behandelten protestantischen Glaubenslehre«: »Das religiöse Element wird niemand im Protestantismus vermissen, der nur den Begriff von der göttlichen Vorsehung zurückruft, welchen Luther und Melanchthon im Beginne der Reformation sich bildeten, Calvin aber bis an sein Ende verteidigt hat.« Man bemerkt indessen auch hier in den Worten selber schon den Vorbehalt und erinnert sich der starken Einschränkung oder vielmehr schon Aufhebung, die in allem Vorangehenden diesem künstlichen Urteil bereitet ist, noch ehe es förmlich ausgesprochen ward. Es ist auch weniger



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eine einleuchtende geschichtliche Beobachtung, ein Enthüllen innerer Beziehungen, als vielmehr eine, nicht ohne gewandte Willkür durchgeführte Nebeneinanderstellung einzelner und nicht einmal gleich gerichteter Züge, wenn nun Möhler das ganze große Kapitel von der Rechtfertigungslehre durch Bemerkungen über die Verwandtschaft des Protestantismus mit dem Gnostizismus abschließt. Schon vorher wird in der »Symbolik« einmal das Wort hingeworfen, Luther würde, wenn in ihm das Bedürfnis nach einer allseitigen Vollendung und ganz konsequenten Entwicklung sich in einem höheren Grade ausgebildet hätte, bis zur Idee eines bloß gerechten Demiurgos der Gnostiker fortgeschritten sein. Sogar in seinem Erstlingswerke ist die Verbindungslinie vom Gnostizismus zum Protestantismus bereits gezogen. Allerdings muß man beachten, daß Möhler die (heute längst preisgegebene) Meinung vertrat, daß die Gnosis aus dem Christentum ganz unmittelbar hervorgegangen sei »und zwar aus einem praktischen Drange, so daß sie erst im Verlaufe ihrer Geschichte eine spekulative Richtung angenommen habe.« Zu diesem Ergebnis war er in seinem »Versuch über den Ursprung des Gnostizismus gekommen, den er in dem Jahre vor dem Erscheinen der .Symbolik' geschrieben hatte«. Die »Symbolik« sucht auch hier wieder wissenschaftliche Forschung polemisch auszubeuten. Denn der polemische Gedanke ist vorherrschend, wenn es in der »Symbolik« heißt, keine religiöse Erscheinung biete mehr Ähnlichkeit mit dem System der Reformatoren dar als der Gnostizismus. Ein Vergleichspunkt soll in dem Gefühle der Sündhaftigkeit des Menschen und der Welt liegen. Das durfte sich der Protestantismus wohl gefallen lassen. Aber hier gerade sagt Möhler, die Reformatoren hätten den Gnostizismus unter einer milderen Form wieder aufgenommen. Was sonßt als Lob erscheinen mochte, wird hier natürlich ein schwerer Vorwurf. Dieses Sündengefühl selbst nennt Möhler denn auch sogleich »allerdings fromm, aber verworren und krankhaft.« Überhaupt offenbaren die Seiten über den Vergleich zwischen Gnostizismus und Protestantismus von neuem, daß diesem gedankenreichen Gelehrten das Verständnis für den Sinn der protestantischen Rechtfertigungslehre versagt blieb. Möhler läßt wohl an der protestantischen Lehre gelten, was er bereitwillig der gnostischen zugesteht: sie könne zum Guten führen. Aber er schafft durch das Wort, sie könne ebenso leicht auch die entgegengesetzteste praktische Folge haben, nicht etwa bloß einen Ausgleich, der alles im Gleichgewicht ließe, er sieht vielmehr den



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Mißbrauch als notwendig an, weil die Lehre selbst irrig sei; nur der Zufall könne es bringen, daß sie jemand zum Heil gereiche. Die protestantische Lehre wird also nur von einem neuen Punkte aus verdammt, und man braucht nicht erst das Spottwort über Luthers »asketische Übungen« zu lesen, daß wie in dem ganzen Rechtfertigungskapitel, so in diesem seinem Schlußteile der Drang nach warnender Belehrung über das Verderbliche der protestantischen Grundanschauung stärker wirkt als der Drang nach unbefangener Erkenntnis. Nicht dieses Streben nach Erkenntnis — obwohl sich Wirkungen geschichtlicher Erkenntnis (man muß das immer wieder aussprechen) gelegentlich zeigen —, nicht der Erkenntnistrieb, sondern das befriedigte Gefühl, auch in der Entwicklung protestantischer Prinzipien deren Nichtigkeit beobachten, den Protestantismus an seinen Früchten erkennen zu können, das ist es, was ihm auch bei den Schlußsätzen dieses wichtigsten Kapitels seines Werkes beherrschen mußte, bei Sätzen, denen der unbefangene Historiker ein gutes Maß von Berechtigung gewiß nicht absprechen wird, bei denen aber auch die nachhelfende Dialektik deutlich erkennbar ist. »Oft haben wir,« sagt Möhler, »in unsern Tagen die sogenannten orthodoxen protestantischen Theologen bewundert, wenn gerade sie sich neueren philosophischen und theologischen Systemen entgegensetzten, welche nur eine konsequente Durchführung der Prinzipien der Reformation enthielten. So wenig kannte die protestantische Orthodoxie sich selbst! Bei allen Abweichungen in Einzelheiten ist mir Schleiermacher der einzige echte Jünger der Reformation.« Möhlers Darstellung der Gegensätze in der Lehre von den Sakramenten hat die zeitgenössischen Gegner Möhlers nicht weniger beschäftigt als seine Behandlung der Rechtfertigungslehre. Baur zumal und Nitzsch haben sich mit dem, was Möhler über die Sakramentslehren der christlichen Bekenntnisse vorträgt, scharfsinnig und auch scharf auseinandergesetzt, insbesondere auch mit der katholischen Lehre von dem opus operatum, der Lehre, daß das Sakrament ex opere operato gnadenbringend wirke durch die objektive, nicht von der menschlichen Geisteshaltung vermittelten, sondern im Sakramente selbst gegebenen göttlichen Kraft. Für uns hier handelt es sich um Möhler und nicht um die dogmatischen Fragen als solche. Möhler hat auch hier, vornehmlich wohl von dem Gedanken angetrieben, in der Eucharistie das Allerheiligste der katholischen Kirche und das gefühlsmäßig Heiligste auch des einzelnen Katholiken verteidigen zu müssen,

— 58 — sofort den Angriff vorgetragen und auch hier sucht er, eine Angriffswaffe aus dem Kampf um die Rechtfertigungslehre wieder aufnehmend, den Protestantismus moralisch mattzusetzen. In der Würdigung der protestantischen Begründung des protestantischen Glaubensbegriffs hatte Möhler den Protestanten vorgehalten, ihre Rechtfertigungslehre bedeute Verbannung der Sittlichkeit, und er ist nicht vor dem Bekenntnis zurückgeschreckt: »Bei dem Studium der Reformatoren ist uns oft ganz unwillkürlich der Gedanke entgegengekommen, als hegten sie die Ansicht, es sei etwas äußerst Gefährliches, wirklich gut zu sein.« Jetzt, bei Betrachtung der lutherischen Sakramentenlehre, stellte er die Verbindung her zwischen der lutherischen Rechtfertigungslehre und der im Beginn der Reformation ausgesprochenen Verwerfung der katholischen Sakramentslehre; er fühlt sich zugleich, wie dort so auch hier, berufen, sein Urteilen zum Verurteilen zu machen. Durch jenes Verhalten der Reformatoren wurde, so sagt er, »vor allem die Mitteilung wirklich heiligender Kräfte mittels der Sakramente in den Hintergrund, ja wohl auch ganz und gar in Abrede gestellt, gleich als fürchteten sich die Reformatoren geheiligt zu werden.« Möhlers polemischer Eifer leitet Luthers »ursprüngliche Ansicht« von den Sakramenten einfach genug »aus leichtsinnigem Oppositionsgeiste und Mangel an ernster Überlegung« ab und er findet, daß auch »die bald wieder eingetretene Berichtigung« die üblen Folgen der ursprünglichen Ansicht Luthers nicht hintangehalten hätte. Ihm scheinen nach der protestantischen Rechtfertigungslehre die Gläubigen um ihrer eigenen Sicherheit willen — um ja nicht übermütig zu werden oder in Selbstruhm zu verfallen — genötigt, »immerhin einen tüchtigen Kern des Bösen in sich zu bewahren«, und er erkennt in der lutherischen Sakramentslehre das protestantische Verzweifeln »an der Möglichkeit, das Irdische vom Himmlischen ganz durchdringen zu lassen.« Dieser Auffassung entspricht denn auch das, was die »Symbolik« von der protestantischen Bußlehre zu sagen hat. Das Letzte und Wichtigste hat Möhler in dem Satze niedergelegt: »Die Protestanten setzen die Gewissensschrecken als die einzige Bedingung, für die von Christo Jesu erwiesenen Wohltaten empfänglich zu werden, voraus.« Auch hier wieder ist der Zusammenhang mit der Möhlerschen Ausdeutung der protestantischen Rechtfertigungslehre klar. Neuerdings hat Max Scheler in einem Buche »Vom Ewigen im Menschen« die Sätze geschrieben: »Luther und Calvin setzen das Wesen der Kontrition selber in die ,Terrores conscienciae', in jene Angst vor der Hölle, die sich nach



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Einsicht in die fehlende Kraft des Menschen, das Gesetz zu erfüllen, einstelle. Dieser Schreck ist Luther« für den seine eigene Sündenlast und sein notwendiges Ungenügen vor dem Gesetze Gottes fühlenden Menschen das einzige treibende Motiv, sich durch den Glauben an Jesu sühnendes Blut und der durch dieses Blut bewirkten Genugtuung und Barmherzigkeit Gottes der Rechtfertigung zu versichern.« Scheler meint weiter, nach reformatorischer Auffassung bedeute göttliche Sündenvergebung nicht Auslöschung der Schuldqualität und darauf folgende Heiligung, sondern nur Nachlassung der Strafe und die Annahme, daß Gott auf die Sünde nicht mehr sehe. Karl Holl bemerkt zu dieser einseitigen und falschen Betrachtung: »Ein derartiges Zerrbild haben sich bisher nicht einmal katholische Bestreiter untersten Rangs geleistet.« Darin irrt sich nun doch der ausgezeichnete Forscher. Diese Auffassung des katholischen Philosophen, dessen Stärke gewiß nicht in der Kenntnis protestantischer Dogmatik und Dogmengeschichte liegt, geht auf keinen geringeren als Möhler zurück und wird wohl, was schon nach den oben wiedergegebenen Worten Möhlers wahrscheinlich ist, unmittelbar durch die »Symbolik« eingegeben sein. Die »Symbolik« hat eben nicht zuletzt auch da, wo sie den Gegner mißversteht oder mißdeutet, wo sie die protestantische Anschauung einseitig übertreibt oder verzerrt, ihre kirchliche Wirkung gefunden. Daß aber auch dieser große Apologet sich nicht freihält von der Manier der kleinen Apologeten, Quellenzeugnisse auszudeuten und über die Grenzen w i s s e n s c h a f t l i c h e r Berechtigung hinaus auszubeuten, das hat sich uns schon gezeigt. Auch Möhlers Darstellung der Lehre von der Kirche ist eingetaucht in den Geist der Apologetik und Polemik. Es streitet offenbar die polemische Freude siegreich mit dem Sinn für die geschichtliche Erkenntnis, wenn er, wie um das letzte Verständnis zu erschließen (das er doch so vielmehr versperrte!) über Luther bemerkt: »Hätte sich die katholische Kirche zur Anerkennung seiner Lehre verstanden, er seinerseits würde auch sie fortwährend anerkannt haben, gewiß, was ihn betrifft, so fand er kein Hindernis, zwei sich so ganz widersprechende Dinge, als da waren sein Dogma und die k a t h o l i s c h e Kirche, zu vereinigen, und was ihm schon oft gelungen war, zwei sich innerlich entgegengesetzte Dinge als ein friedliches Paar zusammenzugeben, würde er auch hier versucht haben.« Man mag mit Baur in dem Kapitel über die Rechtfertigungslehre und zwar in den Sätzen über Rechtfertigung und Gesetzes-



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erfüllung, in jenen Worten über die schwere Verletzung des Sittengesetzes durch den Protestantismus billig den Kulminationspunkt der Polemik Möhlers sehen, jedenfalls hier zuerst die breite Hochfläche dieser Polemik erreicht finden : dennoch wird man die Verdrängung der in Möhler selbst immer noch weiter lebenden geschichtlichen Anschauung durch die apologetische Betrachtung und polemische Beurteilung nirgends unmittelbarer beobachten können als in dem Kapitel über die Lehre von der Kirche, in dem Schlußstücke des umfassenden Paragraphen über die Kirche in katholischer Betrachtungsweise. Hier erkennt man an der zunächst ganz unbefangen gegebenen Feststellung, d a ß oft genug Priester, Bischöfe und Päpste gewissenlos und unverantwortlich gehandelt hätten, sofort den polemischen Unterbau, der das von Möhler allen Katholiken abgeforderte und von ihm selbst gewährte »Geständnis« derartiger kirchlicher Ärgernisse in Wahrheit nur zu einem neuen Triumph katholischer Selbstgewißheit, zu einer neuen Demütigung protestantischer Glaubensanschauung machen soll. In dem Dasein des Protestantismus selbst sieht er den unwiderleglichen Beweis der kirchlichen Vernachlässigungssünden des 15. Jahrhunderts.» Wahrlich nicht gering mußte die Unwissenheit gewesen sein, welche ein Glaubenssystem, wie das der Reformatoren annehmlich finden konnte: die Größe des Elendes also, welches damals die Kirche niederhielt, können die Protestanten kühn an der Größe der Verirrung messen lehren, in welche sie selbst eingegangen sind.« Hier fällt das Einbiegen, man darf wohl sagen, das Hinüberspringen aus der geschichtlichen Betrachtung in die apologetischpolemische propaganda fidei besonders stark in die Augen. Man ist überrascht, daß Möhler gerade in jener Meinung über den Ursprung des Protestantismus die Stelle sieht, wo sich einst Katholiken und Protestanten in großen Massen die Hände reichen werden. Er verlangt, daß beide Teile bekennen, gefehlt zu haben, aber es bleibt uns nicht erst Zeit, zu fragen, ob er an eine gleichgeartete Schuld denkt, an einen überparteiischen Richter, eine ausgleichende Sühne: denn als das Bekenntnis b e i d e r verlangt er sofort den Ruf »nur die Kirche ist's, die nicht fehlen kann«, »nur sie ist unbefleckt auf Erden.« Und seinen Satz »An dies offene Bekenntnis der gemeinsamen Schuld wird das Versöhnungsfest sich anschließen« kann niemand versucht sein mißzuverstehen: ein Versöhnungsfest kann es erst, kann es nur geben, wenn die Gefolgsleute des Reformators, der da lieber als Vater gebieten, denn als Sohn gehorchen wollte, es wieder gelernt haben, der ewigen und nie irrenden Kirche unterwürfig zu sein, wenn sie zu ihr reuig



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zurückgekehrt sind. So ist das freundliche Wort der Versöhnung seinem notwendigen kirchlichen Sinne nach doch nur ein Gebot der Unterwerfung. Und es ist die rechte Vorbereitung auf dieses kirchliche Versöhnungsfest (das Versöhnung mit der katholischen Kirche nur bedeuten kann), wenn seiner Ankündigung recht wie eine unmittelbare Wegeweisung die dogmatisch-dialektische Belehrung über die Lehr-, Erziehungs- und glaubensrichterliche Gewalt der Kirche folgt, die Belehrung über die kirchliche Tradition, die Beschwichtigung jedes Zweifels über das Verhältnis von Bibel und Tradition durch den zwingenden zugleich und befreienden Grundsatz »Schaue die Schrift im kirchlichen Geiste an, und sie wirft ein Bild, das ihr vollkommen gleicht, in dich.« So bergen sich allenthalben in Möhlers »Symbolik«, nein: so springen lockend und fordernd, bannend und abweisend aus ihr hervor die Kräfte der Apologetik und der Polemik. Ohne diese ursprüngliche kirchliche Werbekraft hätte Möhlers »Symbolik« niemals kirchliche Geltung gewinnen können: denn ihre eigentlich geistigen oder besonderen wissenschaftlichen Vorzüge hätten ihr gewiß nicht die kirchlichen Kanäle geöffnet; sie führten vielmehr zu kirchlichen Bedenken, die selbst durch jene kirchlichen Verdienste nicht ganz beschwichtigt werden konnten. Dabei braucht man nicht allzu viel Gewicht zu legen auf seine gelegentlichen verständnisvollen Bemerkungen und freundlichen Urteile über Begründer und führende Geister des Protestantismus wie auch über Protestantisches selbst. Derartiges ist auch sonst, damals und später, bei kirchenstrengen Katholischen zu finden, insbesondere in Deutschland, kaum allerdings in Rom, von wo noch im 20. Jahrhundert die Borromäusenzyklika ausging, die den Reformatoren die Bezeichnung »hochfahrende und empörerische Menschen« anhängt und auf sie die Paulusworte anwendet: »Feinde des Kreuzes Christi..., ihr Gott ist der Bauch.« Ähnlich steht es mit Möhlers Bemerkungen über die protestantische Theologie, von der er in jungen Jahren willig gelernt hatte. Gelegentlich konnten hier wohl Möhlers Urteile jeden Kurialisten befriedigen, so etwa, wenn er einmal sagt: »In der neueren Zeit haben sich Schleiermacher, Twesten und Sack als echte Protestanten dadurch erwiesen, daß sie das sittliche und religiöse Element gleichfalls über alle Gebühr von einander trennten, die ersteren jedoch mehr als der letztere.« Aber im ganzen waren Möhlers kritische Auseinandersetzungen mit Marheineke, Neander, Schleiermacher und anderen protestantischen Theologen für römische Begriffe noch zu wenig durch das Gefühl für die Notwendigkeit kirchlicher Verdammungssprüche, noch viel zu sehr



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durch wissenschaftliche Rücksichten bestimmt. Denn der streng römischen Auffassung ist eine wissenschaftliche Behandlung der Anschauungen, die kirchlich verdammt oder auch nur verdächtig sind, nicht gemäß, und der Neuscholastizismus hat sich alles in allem höchst gewissenhaft an die römische Vorschrift gehalten. Man sehe etwa, daß noch in unseren Tagen ein katholischer Gelehrter wie P. B a t i f f o l in dem Buche L'Eglise naissante et le catholicisme sagen konnte, Christian Pesch (also ein deutscher Jesuit) sei wohl der erste und einzige scholastische Theolog, der die Aufstellungen von Ritsehl, Harnack und Hasch erwähne und sich mit ihnen auseinandersetze. Also auch da doch, in der Behandlung protestantischer Anschauungen und protestantischer Forschung wird Möhler und mit ihm die ganze historische Schule der katholischen Theologie durch einen Abgrund von der streng römischen Theologie getrennt. Aber das Wichtigste bleibt doch die Frage, wie sich der Möhler der »Symbolik« zur römischen Kirchenauffassung selbst verhält, vor allem zu dem noch nicht dogmatisierten, aber nach römischer Forderung die Gläubigen verpflichtenden papalen Verfassungsbegriff. Man braucht das Mißverständnis nicht mehr zu bekämpfen, als habe der Möhler der »Symbolik«, mag er seine Kirche im einzelnen noch so oft idealisiert darstellen, sich selbst auch eine ideale Kirche konstruiert, die in seinem Geiste an die Stelle der verfassungsmäßig bestimmten römisch-katholischen Gegenwartskirche hätte treten sollen. Möhlers Begeisterung gilt der lebendigen Kirche, wie sie war, also der Papstkirche. E r verteidigt mit den Mitteln der Dialektik, der geschichtlichen Betrachtung und der religiösen Begeisterung die Notwendigkeit und die Gegebenheit der sichtbaren Kirche gegen die protestantische Lehre von der unsichtbaren Kirche. Für ihn liegt der letzte Grund der Sichtbarkeit der Kirche in der Menschwerdung des göttlichen Wortes. In der Kirche stellt sich der Heiland dar: »wie in Christo Göttliches und Menschliches wohl zu unterscheiden, aber auch beides zur Einheit verbunden ist, so wird er auch in ungeteilter Ganzheit in der Kirche fortgesetzt.« Ist die Kirche — und das heißt »die objektiv gewordene christliche Religion« (man hört den Nachklang älterer Gedanken Möhlers) —, ist die Kirche das Gestalt gewordene Wort Christi, ist sein Wort nicht ablösbar von der Kirche, so ist damit die katholische Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche gegeben: aus dem Begriff der Kirche leitet denn auch Möhler unmittelbar ihre Unverirrbarkeit her. Und sie greift weit,

— 63 — die fordernde und segnende Macht der unfehlbaren Kirche! Sie ist schlechthin »die« Vermittlerin des Christentums. Ihre Autorität vermittelt »alles, was in der c h r i s t l i c h e n Religion auf A u k t o r i t ä t b e r u h t u n d A u k t o r i t ä t i s t , d. h. die c h r i s t liche Religion s e l b s t : so d a ß uns C h r i s t u s selbst n u r i n s o f e r n die A u k t o r i t ä t b l e i b t , als uns die K i r c h e A u k t o r i t ä t ist.« Diese bestimmte Bindung läßt auch jetzt noch einem so reichen Geiste wie Möhler Freiheit genug, • die persönliche Kirchenbetrachtung selbständiger großer Kirchenlehrer zu würdigen, wie es sich namentlich zeigt in dem Urteile, daß die Ideen des Augustinus an Kraft des Gemüts und an Kraft der Gedanken bei weitem das Herrlichste enthielten, was nach den Zeiten der Apostel über die Kirche geschrieben worden sei. In Möhler selbst erscheint ja die Kirchenidee immer wieder auch belebt von seiner Seelenstimmung. Dennoch will er sie fest und streng nach der Kirchenlehre fassen und gefaßt wissen. Die Notwendigkeit der Kirche gerade, für die Welt überhaupt wie für den einzelnen, bemüht er sich in geschickter und eindrucksvoller Darstellung darzutun. Auch in dem Abschnitte, der »Wahres und Falsches in Luthers Lehre von der Kirche« zu sondern sucht, soll die Betrachtung des lutherischen Begriffs von der Kirche doch wieder nur dazu führen, die Erkenntnis von der Unentbehrlichkeit der unfehlbaren Kirche zu festigen. Gewiß ist selbst hier, auf dem Wege zu einem neuen Bekenntnis von der Ausschließlichkeit der katholischen Kirche, wieder ein überraschend starker Ansatz zu unbefangener Einordnung der Reformatoren in die christlich-religiöse Bewegung zu beobachten. »In ununterbrochener Fruchtbarkeit«, so heißt es, »erweckt der Herr aus der Fülle seiner Kraft Männer, durch die er Licht und stets frisches Leben über seine Anstalt ausgießt.« Indessen Möhler fährt doch sogleich fort: »aber eben, weil sie als die Seinigen nach Menschenweise nicht untrüglich erkannt werden können, auch nicht erkannt werden sollen, um kein Menschenvertrauen zu befördern, und die Seinigen nach keinem Menschen, heiße er Athanasius oder Arius, Augustinus, Luther oder Calvin, benennen zu lassen, sind wir von ihm an seine Anstalt gewiesen, in der die Wahrheit nicht untergehen kann, weil er, die Wahrheit und das Leben selbst, nie in ihr stirbt.« Schließlich wird doch auch die Darstellung der protestantischen Sekten, die als solche von Möhler nicht selten mit einer gewissen Zuneigung betrachtet werden, zur Apologie des Katholizismus und zur Polemik gegen den Protestantismus benutzt: gerade hier finden sich flach-polemische Apologetenbetrachtungen

— 64 — in liebenswürdiger oder wenigstens freundlich-ironischer Form. Aber Möhlers Bemerkungen über die protestantische Anschauung von der Bibel als der alleinigen christlichen Wahrheitsquelle z. B. sind doch so ernsthaft, daß ein moderner kritischer Theologe wie Paul Wernle gerade auf diesen Einspruch die werdenden protestantischen Theologen nachdrücklich hinweist. Die Entwicklung der Schrift zur Kirchenlehre hat Möhler besonders sorgsam im Sinne der katholischen Kirche darzustellen gesucht, wie sich seine Kunst der Problembehandlung überhaupt nicht zuletzt offenbart, wo die Kirchenlehren oder deren Grundlagen das unbefangene Denken zum Widerspruch herausfordern. Wo eine außerkirchlich-kritische Betrachtung einen nicht widerspruchslosen Entwicklungsgang, eine W-andlung im Sachlichen feststellt, sucht Möhler nur den durch die Abwehr der Angriffe und Entstellung nachapostolischer Gegner geforderten Übergang apostolischer Ausdrücke in andere. Und gerade die Erscheinung, »daß die tiefere Bewußtwerdung der ewig Einen und unveränderlichen christlichen Wahrheit an Streit und Kampf, an eine Geschichte geknüpft ist«, beweist ihm nur von neuem die Notwendigkeit einer sichtbaren lebendigen Autorität. Er sucht von allen Seiten her den kirchlichen Begriff der dogmatischen Tradition und kirchlichen Bibelauslegung zu sichern. Unverkennbar, daß auch hier das Kirchenbewußtsein mit dem stillen, für den Gläubigen fast unmerklichen, aber auch unvermeidlichen Drucke seiner Macht die kritische Gedankenentwicklung aus der Bahn drängt oder sie absperrt. Hier geht diese groß angelegte Natur sogar weiter, als selbst nach dem Gesetze strenger Kirchlichkeit geboten war. Denn es heißt doch in gläubiger Kirchlichkeit und frommer Kühnheit ernste Fragen der Forschung zu einem Nichts zu machen, wenn Möhler verfügt: »So geistlos es ist, einen anderen als formellen Unterschied zwischen der Lehre Jesu und der der Apostel zu finden, ebenso gedankenlos ist es, wenn zwischen der späteren und ursprünglichen Tradition ein anderer Gegensatz erkannt wird.« Und bei Behandlung der Frage über das Verhältnis von kirchlicher Schriftauslegung und freier Forschung erklärt er: der Katholik habe »die freie Uberzeugung, daß die Kirche eine göttliche, von einem höheren Beistande gehaltene Anstalt sei, welcher sie in alle Wahrheit führt, daß daher keine von ihr verworfene Lehre in der Schrift enthalten sei, daß das kirchliche Dogma vielmehr durchaus mit dieser übereinstimme, wenn auch manche Einzelheit nicht wörtlich in ihr vorgetragen werde.« Die allzu große wissenschaftliche Bescheidenheit und die allzu anspruchsvolle kirchliche Zwangsmäßigkeit

— 65 — treten hier überdeutlich zutage. Aber das ist gerade für unsere Erkenntnis des Wesens der Möhlerschen »Symbolik« wichtig, daß hier, wo die Wissenschaft sich mit dem Kirchlichen auseinandersetzen muß, zuletzt nicht die Erkenntnismittel der Wissenschaft maßgebend bleiben, sondern eben die unfehlbaren Entscheidungen der Kirche. Man braucht sich nicht erst neuester päpstlicher Entscheidungen über das Bibelstudium zu erinnern, um zu bemerken, daß Möhler hier die strenge katholisch-kirchliche Anschauung vertritt. Seine Kirche selbst aber faßt er mit gläubiger Inbrunst und kirchlichem Enthusiasmus als die große Gemeinschaft der Millionen Katholiken des Erdballs, der Gläubigen, die in ganz persönlicher Frömmigkeit und doch in gottgegebener kirchlicher Gemeinschaft vereinigt sind. Im katholischen Weltgefühle begeistert er sich zu den Worten: »Nichts Schöneres schwebt der Einbildungskraft des Katholiken vor, und nichts spricht seine Gefühle wohltuender an, als die Vorstellung der harmonischen Ineinanderbewegung zahlloser Geister, welche zerstreut auf dem ganzen Erdboden, frei in sich und ermächtigt, in jegliche Abweichung nach der rechten und linken Seite hin einzugehen, dennoch und zwar mit Bewahrung ihrer verschiedenen Eigentümlichkeiten Einen großen Bruderbund zu gegenseitiger Lebensförderung bilden, Eine Idee darstellend, die der Versöhnung der Menschen mit Gott, welche eben deshalb auch unter sich versöhnt und Eins geworden sind.« Ein solches gefühlsmäßiges Bekenntnis allein gibt uns noch keine Vorstellung von Möhlers Ansicht der Kirchenverfassung. Aber daß allenthalben in der »Symbolik« lediglich von der unfehlbarenKirche gesprochen wird, wo j ede kurialistischeKirchenbetrachtung auch das unfehlbare Papsttum hereingezogen hätte, das allein ist allerdings doch schon ein Beweis für Möhlers unkurialistische Kirchenbetrachtung. Möhler verwirft den Papalismus indessen nicht bloß durch Stillschweigen. Jenem enthusiastischen Bekenntnis zur Kirchengemeinschaft gehen schon Bemerkungen voraus, die die römische Doktrin deutlich abweisen, besonders die Erklärung, daß keinem einzelnen als solchem die Unverirrlichkeit zukomme — Möhler hat aber der Hierarchie auch einen eigenen Paragraphen der »Symbolik« gewidmet — wenige, doch wichtige Seiten. Er sieht in der Hierarchie wieder eine Form, eine sehr sprechende Form der Grundanschauung von der Kirche als einer göttlich-menschlichen Anstalt. Die sogenannte apostolische Sukzession der Bischöfe, »eine von Christus, dem Ausgangspunkte, beginnende, in ununterbrochener Reihenfolge fortdauernde kirchliche Ordination«, gilt ihm als Erfordernis der Sichtbarkeit Beiheft d . H . Z. 7.

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und der damit verbundenen Stetigkeit der Kirche, in dieser ununterbrochenen bischöflichen Reihenfolge sieht er ein besonderes äußeres Merkmal der wahren Kirche. So wird die dogmatische Folgerung aus einem Dogma zugleich als geschichtliche Tatsache genommen; die Auffassungen Möhlers, die sich nicht so einfach gegeben hatten, kritische wie gefühlsmäßige Auffassungen des Jugendwerkes sind verkirchlicht, und die bescheidenen spekulativen Gedanken, die Möhlers »Symbolik« der Hierarchie widmet, dienen nur noch dazu, die »göttliche Institution« des Episkopats und vor allem des Primats als notwendig nachzuweisen, »welche unbeholfene, formlose, zu keiner Gesamtaktion zu vereinigende Masse müßte nicht die über alle Reiche der Erde, über alle Weltteile verbreitete katholische Kirche sein, wenn sie kein Haupt hätte, keinen obersten Bischof, verehrt von allen!« Das Dasein eines Kirchenhauptes mit anerkannten Rechten und Pflichten gilt ihm auch als unentbehrliche Voraussetzung der kirchlichen Autorität in Glaubenssachen. Hier ist der Punkt, wo sich die Auffassung der »Symbolik« der päpstlichen Auffassung vom Papsttum so weit zu nähern scheint, daß man im nächsten Augenblick ein Zusammenfließen beider erwarten könnte. Zu diesem Zusammenfließen aber ist es eben nicht gekommen. Hier hat Möhler selbst in bewußter Arbeit einen festen Damm aufgerichtet. Nicht nur, daß er die päpstlichen Rechte schlechterdings nur für rein kirchliche Angelegenheiten gelten lassen will. Er kennt und anerkennt auch im innerkirchlichen Gebiete keine absolutistische Papstherrschaft. So scharf episkopalistisch wie ehedem spricht er sich allerdings nicht mehr aus. Der Episkopalismus und das Papalsystem sind ihm geschichtliche Erscheinungen, die sich in ihren Einseitigkeiten aus bestimmten Zeitverhältnissen erklären lassen; im übrigen »bildeten sie für das kirchliche Leben sehr wohltätige Gegensätze, so daß durch ihre Gegeneinanderbewegung sowohl die eigentümliche, freie Entvldcklung der Teile bewahrt, als auch die Verbindung derselben zu einem unteilbaren und lebendigen Ganzen festgehalten wurde«. Die Ansicht von der Unterordnung des Papstes unter das allgemeine Konzil erscheint dem Möhler der .Symbolik' als »eine Einseitigkeit, welche, folgerichtig durchgeführt, die Kirche mit Vernichtung bedrohte.« Er meint freilich, diese schroffe Ansicht könne als bereits verschollen betrachtet werden. Noch nicht ein Jahrzehnt zuvor war Möhler selbst dem Konziliarismus weit entgegengekommen. Jetzt aber konnte der Konziliarismus in der Tat keinen kirchenstrengen Verteidiger mehr aufweisen, während die kurialistische Papstdoktrin, die noch in dem Buche



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von der »Einheit in der Kirche« als eine für Deutschland erledigte Sache hingestellt worden war, mächtig vorwärtsdrang. Jetzt war Cappellari, jener Kamaldulensermönch, Papst, und dieser Gregor XVI. ließ sein altes Mönchsbuch über den »Triumph des Heiligen Stuhles«, diese Propagandaschrift des päpstlichen Absolutismus in der Kirche, in demselben Jahre, da Möhlers »Symbolik« erschien, von neuem veröffentlichen und sogleich auch eine deutsche Übersetzung vorbereiten. Möhler aber hat sich durch diese vom Papste begünstigte papalistische Bewegung nicht bestimmen lassen. Keine der neuen Auflagen der »Symbolik« benutzte er, um dem Lieblingsgedanken des Papstes, um der Doktrin von dem Universalepiskopat und der lehramtlichen Unfehlbarkeit des römischen Bischofs zu huldigen. Nicht den päpstlichen Entscheidungen, sondern lediglich den »dogmatischen Bestimmungen des (mit der allgemeinen Mitte vereinigten) Episkopates« schreibt er die Untrüglichkeit zu und er begründet sie damit, daß der Episkopat die allgemeine Kirche repräsentiere, und eine von ihm falsch aufgefaßte Glaubenslehre das Ganze dem Irrtum preisgeben würde. So spiegelte diese »Symbolik« auch noch in der letzten Bearbeitung die katholischen Grundlehren wieder, ohne an dem Punkte, wo Rom die Verschmelzung von kirchlichem Dogma und papalistischer Doktrin vollzogen, die Doktrin wie ein Dogma behandelt zu sehen wünschte, über die Grenzen des alten Kirchendogmas hinaus ein Zugeständnis zu machen. Der hervorragendste deutsche Theolög der Zeit Gregors XVI. ging mit stiller Abweisung über die Schriftstellerei und über die Papstbegriffe des regierenden römischen Bischofs hinweg. Das ist eine bedeutungsvolle Tatsache. Möhler blieb dabei in Gemeinschaft mit fast allen zeitgenössischen deutschen Theologen von Namen. Nur zaghaft wagte einer oder der andere unter ihnen der kurialistischen Lehre von dem Universalepiskopat und der Unfehlbarkeit des Papstes halbe Zugeständnisse zu machen: die ersten bedeutenderen Verfechter der kurialistischen Doktrin im damaligen Deutschland waren Kanonisten, Juristen, gut kirchliche Laien wie der Bonner Kirchenrechtslehrer Ferdinand Walter, vor allem aber kircheneifrige Konvertiten, wie der Jurist George Phillips. Möhler aber hat das in der »Symbolik« verweigerte Zugeständnis an den Papalismus auch in seinen Vorlesungen nicht nachgeholt: weder in Tübingen, noch zuletzt in München. Die Hunderte, die bei ihm hörten — es kamen nicht nur katholische Theologen zu dem gefeierten Lehrer —, wie die Tausende, die 5*



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seine »Symbolik« lasen, konnten, soweit sie als Katholiken sich einen Begriff von der Verfassung ihrer Kirche zu bilden suchten, bei Möhler nur die zwar papsttreue, aber nicht papalistische, sondern von Grund auf gemeinbischöfliche Anschauung der Kirche finden. Auch von hier aus ist es zu verstehen, daß die deutschen Bischöfe der Zeit Pius'IX., die fast alle stolz darauf waren, sich als geistige Schüler Möhlers fühlen zu dürfen, in ihrer großen Mehrzahl auf dem Vatikanischen Konzile zu den entschlossenen Widersachern der Dogmatisierung jener papalistischen Doktrin gehörten: unter ihnen Karl Josef H e f e l e , ein Zögling der älteren, das Haupt der jüngeren Tübinger Schule, der im Sommer 1869, am Vorabend des Konzils, zum Bischof von Rottenburg erwählt worden war; unter ihnen auch ein Mann, dem jeder Anflug von Gelehrtenhaftigkeit und selbst von strenger Wissenschaft fehlte, ein Mann von so scharfer Kirchlichkeit und kirchenpolitischer Weitläufigkeit wie der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von K e t t e i e r . Ketteier, der ganz in kirchlichen Bischofsgedanken lebte und bei frommer Papsttreue doch den papalistischen Kirchenbegriff leidenschaftlich abwies, hatte von früh an und immer wieder mit Möhler sich beschäftigt, seiner Art nach freilich vor allem darauf ausgehend, die a p o l o g e t i s c h e n Gedanken und die p o l e m i s c h e n Kräfte der »Symbolik« in sich aufzunehmen. Darin liegt nun überhaupt für die Dauer die Bedeutung der »Symbolik« Möhlers, daß sie eine groß angelegte Apologie des Katholizismus, eine kräftig eingreifende Polemik wider den Protestantismus bot. Was von dem bischöflichen Kirchengedanken in der »Symbolik« weiterlebte, drängte sich nicht anspruchsvoll vor und gehörte seit der Verkündigung des Papstdogmas vom Juli 1870 der kirchlichen Vergangenheit an. Als katholisches Bekenntnisbuch hohen Stils, als kirchliches Erbauungsbuch wissenschaftlichen Gepräges aber lebt und wirkt die »Symbolik« noch heute weiter; vor zwei Jahren ist der mächtige Band von neuem herausgegeben worden. In der polemischen Apologetik gerade arbeiten die wissenschaftliche Kraft, die geistige Beweglichkeit, die schriftstellerische Kunst Möhlers zusammen. Der kritische Leser der »Symbolik« Möhlers wird sich mehr als einmal fragen, ob der klüglich berechnende Advokat spricht oder der leidenschaftlich gläubige Bekenner, aber man wird immer wieder geneigt sein, den Zweifel zu überwinden im Sinne der größeren und geistigen Auffassung dieses Mannes, der nicht in kühler Verachtung der eigenen Erkenntnis, sondern in dem leidenschaftlichen Enthusias-

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mus der religiösen Hingabe an seine Kirche das eigene wissenschaftliche Empfinden trübt. Den zeitgenössischen Gegnern freilich schien der Theolog Möhler im Apologeten unterzugehen; Ferdinand Christian B a u r hat seinen Zweifel an der Wahrheitsliebe Möhlers nicht erst zweifelhaft gelassen, und auch Karl Immanuel Nitzsch macht kein Geheimnis daraus, daß er bei Möhler gerade die Verschuldung findet gegen den Geist der Symbolik als solcher, gegen diese »ihrer Natur nach rechtschaffene und treue Wissenschaft.« Namentlich Baurs Gegenschrift, ein umfassendes Werk, in der zweiten Auflage umfangreicher noch als die »Symbolik«, eine Darstellung, die große Gelehrsamkeit, Scharfsinn und Dialektik wirken läßt, ist zugleich von einer starken polemischen Kraft erfüllt. Allerdings, dieses Buch Baurs (»Der Gegensatz des Katholizismus und Protestantismus nach den Prinzipien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe. Mit besonderer Rücksicht auf Herrn Dr. Möhlers Symbolik«), das schon im Herbst 1833 erschien, hat erst in der zweiten Auflage (1836) die Polemik sehr schroff werden lassen, und diese Verschärfung erklärt sich aus Möhlers nicht eben gelinder Antwort an seinen Gegner (»Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen den Katholiken und Protestanten. Eine Verteidigung meiner Symbolik gegen die Kritik des Herrn Professors Dr. Baur in Tübingen« (1834; zweite Auflage 1835). Es kommt für uns hier nicht darauf an, in diese Polemik einzudringen oder auch nur die einzelnen Schriften und Abhandlungen zu nennen, die von hüben und drüben ausgesandt wurden; eine Antwort, die auch in der literarischen Form der »Symbolik« ebenbürtig, ja überlegen war, nur freilich sich nicht lediglich als unmittelbare Entgegnung auf Möhlers Buch darbot, ist erst drei Jahrzehnte später in Karl H a s e s »Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche« ans Licht gekommen. Die Tatsache aber, daß sofort und später protestantische Gelehrte ersten Ranges sich mit Möhlers »Symbolik« im ganzen und im einzelnen auseinandersetzten, sie unter Aufbietung aller Kräfte bekämpften, sie zu widerlegen und in ihren Schranken erkennen zu lehren suchten, diese Tatsache bezeugt vielleicht mehr als alles andere den Eindruck dieses Buches. Die geistige Oberschicht der Katholiken auch mochte in Möhler so etwas wie den katholischen Schleiermacher sehen: auch gebildete Verächter der Religion zwar werden durch Möhlers »Symbolik« gewiß nicht leicht bekehrt worden sein, wohl aber konnte dieses Buch viele, in denen katholisches Gemeinschaftsempfinden erkaltet war, wieder mit dem katholischen Kirchengedanken erfüllen und zu



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bewußter Teilnahme am Kirchenleben zurückführen. Die katholischen Theologen, die katholischen Gebildeten überhaupt aber fühlten sich durch dieses glanzvolle Buch vor allem geistig gerechtfertigt und gehoben. Durften sie nun nicht stolz jedem Protestanten gegenüber ihren Möhler nennen ? Und war ihnen nicht Möhler mehr als dem in wissenschaftliche und kirchliche Gruppen zerteilten Protestantismus irgendeiner seiner Theologen sein konnte ? Diese »Symbolik« war überhaupt den gebildeten Katholiken gerade etwas anderes als ein bloß wissenschaftliches Buch: kein anderes theologisches Werk jener Tage, mochte es immer kirchlich noch strenger und römisch bestimmter sein, war tiefer mit seinem ganzen Wesen in den kirchlichen Geist eingetaucht; auch die gemütsmäßigen Kräfte des Katholizismus suchte diese gelehrte Symbolik in wissenschaftliche Formen zu bannen, theologisch zu fassen und also kirchlich zu verwerten. Es gab vor Möhler und vor der Begründung der Tübinger Schule katholisch-theologische Arbeiten von Rang, die sich weder dem Scholastizismus noch der Aufklärung verschrieben hatten. Und unter den theologischen Arbeiten vor der »Symbolik« waren nicht wenige (man darf dabei auch Möhlers eigene ältere Schriften nicht vergessen), die auch literarisch etwas bedeuteten; aber sie blieben in ihrer Wirkung fast völlig auf den engen Kreis der Lehrer und Jünger der Theologie beschränkt. Die »Symbolik« Möhlers aber war ein Buch, das die gelehrte und, soweit sie für derartige Dinge überhaupt Sinn hatte, auch die ungelehrte Welt erregte. Ein theologisches Buch, das auch untheologische Geister fesselte, ein Buch des Angriffs und der Verteidigung, der Belehrung und der Werbung, ein Buch voll eigenwüchsiger polemischer Kraft. Als Meister der positiven Polemik steht Möhler über allen katholischen Theologen Deutschlands. Man muß schon um mehr als zwei Jahrhunderte zurückgreifen, will man einen Apologeten und Polemiker größeren Stiles finden. Was der Jesuit Robert B e l l a r m i n o im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert für den nachtridentinischen Katholizismus überhaupt, das ist Möhler im 19. Jahrhundert für den vorvatikanischen deutschen Katholizismus gewesen: auch Möhler hat den großen Kardinal mit Ehrerbietung genannt und gelegentlich als Helfer angerufen. Wenn das mit einer gewissen Zurückhaltung, jedenfalls nicht mit voller Hingabe geschah, so erklärt sich das einmal daraus, daß Bellarmino einer der Vorkämpfer auch jenes papalistischen Kirchengedankens gewesen ist, von dem Möhler nichts wissen wollte. Es ist aber auch gerade aus höheren apologetischen Rücksichten zu erklären.



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Mit seinen apologetischen Zielen und polemischen Zügen rückt Möhlers »Symbolik«, dieses Buch, das keine Zugeständnisse an papalistische Gedanken kennt, doch den Papalisten, den entschiedenen Vorkämpfern der römischen Anschauungen von kirchlicher Verfassung und Glaubensbestimmung nahe. Durch die scharfe und oft ironische, wahrlich nicht immer gerechte und tiefdringende Kritik, die Möhlers »Symbolik« an dem Protestantismus übt, wurden die strengen Vertreter römischer Auffassung wieder und wieder versöhnt, wenn Möhler sie etwa durch ein unbefangenes Wort wissenschaftlicher Erkenntnis oder persönlicher Anerkennung für den Protestantismus, durch eine Äußerung des Tadels oder ein Zeichen der Zurückhaltung gegenüber Erscheinungen des kirchlichen Katholizismus verstimmt hatte. Möhler suchte seine Darlegungen über die einzelnen Fragen der Glaubensgegensätze gewiß mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit wissenschaftlich zu begründen, aber es bleiben wissenschaftliche Erörterungen einer geistigen Persönlichkeit, die in ihrem ganzen Wesen kirchlich gerichtet war und auch das Wissenschaftliche von dem kirchlichen Empfinden nicht loslösen konnte, noch wollte. Als Apologet stand er über anderen Apologeten, aber nicht im inneren Gegensatze zu ihnen: auch er reihte sich in die kirchliche Kampffront gegen den Protestantismus ein. Der zart empfindende und feingeistige Mann, der nichts von der rabies theologica in sich zu tragen schien, und den derben Kampf des Tages als solchen gewiß nicht suchte, wurde nun doch durch seine von ursprünglichem Eifer eingegebenen Zugriffe und seine vereinzelten polemischen Fehlgriffe gegenüber dem Protestantismus sogar in jene ganz persönliche Fehde mit Baur verstrickt, die ihm bald das heimatliche Tübingen verleidete. Den Übergang nach München erleichterten ihm allerdings auch die persönlichen Bemühungen Döllingers. Döllinger war damals das theologische Haupt des Münchener Görreskreises, an Gelehrsamkeit dem Tübinger ebenbürtig, an wissenschaftlichen Sinn, wie erst die Zukunft ganz zeigen sollte, ihm überlegen, an kirchlichem Eifer damals dem andern voraus. In dem Professoren- und Literatenkreise tun Görres fand Möhler eine angriffslustige Kirchlichkeit, die selbst ihm, dem bewährten Apologeten, fremd war und blieb: er beobachtete erstaunt und ein wenig ängstlich diesen betonten Kampfeifer, der sich seit dem Ausbruche des Kölner Kirchenstreites in unermüdlichen Angriffen auf Preußen und Protestantismus ausgoß. Auch Möhler aber sah in der Gefangensetzung des Kölner Erzbischofs durch die preußische Regierung, in der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms III. überhaupt eine wesentliche



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Ungerechtigkeit gegenüber der Kirche. E r liebte nicht die Leidenschaftlichkeit der Leute um Görres, er hätte auch nie eine Streitschrift, wie den Görresschen Athanasius schreiben können, aber er hat doch das förmliche theologische Gutachten mitunterzeichnet, das diesem Buche beigegeben war, und er selbst schrieb, schon auf den Tod erkrankt, als letzte Abhandlung seine Bemerkungen »Über die neueste Bekämpfung der katholischen Kirche.« Vor allem aber, er mußte sich sagen, daß in dem Athanasiuskampfe gegen protestantischen Geist und protestantischen Staat die Kräfte seines eigenen Lebenswerkes wirkten, freilich eben aus der Stille der »Symbolik« in den kirchenpolitischen Tagesstreit hineingezogen und schon darum verstärkt und vergröbert. Möhlers bleibende Bedeutung für den deutschen Katholizismus liegt nicht in seiner wissenschaftlichen Kraft. E r war als Gelehrter eine große Natur, aber er ist nicht zur vollen Entfaltung seiner Forscherkraft gekommen, noch hat er eine große Forscherschule geschaffen; seine bedeutenden Schüler Kuhn und Staudenmaier gingen rasch eigene Wege, Hefele ist nicht entscheidenderweise durch Möhler bestimmt worden und überdies bei aller Gelehrsamkeit den anderen an geistiger Selbständigkeit nicht ebenbürtig. Möhlers Wirkung wurde da am stärksten und nachhaltigsten, wo sein Wissen sich in den Dienst seiner Kirchlichkeit stellte. Es erscheint wie ein sinnbildlicher Ausdruck des Aufgehens der ganzen Forscherkraft Möhlers in dem geistigen Kirchendienst, daß die gegen Baur gerichteten »Neuen Untersuchungen«, diese leidenschaftliche Verteidigung und Verbreiterung der »Symbolik«, Möhlers letztes Werk darstellen. Wenn er zuletzt noch mit einer groß gedachten Geschichte des Mönchtums beschäftigt war, so läßt die Art, wie er diese Aufgabe stimmungsmäßig anfaßte, die immer stärker wirkende Verkirchlichung seiner Anschauungen erkennen. Von der geistig reichen, aber auch kirchlich zwangvollen apologetischen und polemischen Kraft der »Symbolik« jedenfalls gehen die Nachwirkungen Möhlers aus. Wenn in dem Buche die Hingabe an die Kirche nicht Hingabe an die papale Kirchenauffassung ist, so hat das Buch, wie wir sahen, mit dieser Haltung zwar für einen Kreis deutscher Kirchenmänner eine geschichtliche Sendung erfüllt, aber doch nur für das Menschenalter, das zwischen den Anfängen Gregors X V I . und den Hauptbeschlüssen des Vatikanischen Konzils liegt. Das Buch aber atmete auch da, wo es nicht die vorgeschriebenen römischen Bahnen wandelte, so ganz den Geist katholischer Kirchlichkeit, daß es nicht mit Gefahren drohte, die irgendwie neben seinen kirchlichen Segenskräften,



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neben seiner Kraft des Bewahrens und Eroberns hätten in Frage kommen können. Noch heute legt man wohl denen, die sich zur katholischen Kirche hinwenden wollen, gerne dieses Buch in die Hand. Um ein Beispiel nur zu geben, so sagt der hallische Geschichtsprofessor Albert v. Ruville, der vor dreizehn Jahren, bereits in der Mitte der Fünfzig stehend, übertrat, in seiner Bekehrungsgeschichte, daß die letzte Entscheidung durch die Lektüre von Möhlers »Symbolik« gegeben worden sei, die ihm eine Verwandte empfahl: dieses Buch löste ihm die letzten Zweifel, und zwar in einer Weise, wie er es nicht erwartet hatte; durch Möhler lernte er die katholische Lehre vom Altarsakrament gläubig erfassen — und mit deren Annahme fühlte er sich mit einem Male »in der Seele Katholik«. Das sind Wirkungen der »Symbolik«, wie Möhler selbst sie sich wünschen mußte. Möhler wird verkannt, wenn man ihn zum Modernisten vor dem Modernismus oder gar zum Altkatholiken vor dem Altkatholizismus macht. Seine Abneigung gegen jene römische Papstdoktrin, die ein Menschenalter später zum Dogma erhoben wurde, ruhte in der Tiefe seiner Kirchenanschauung; aber so war es bei vielen deutschen Theologen und deutschen Bischöfen, die dann doch kirchentreu auf die eigene Überzeugung zugunsten der kirchlichen Satzung verzichteten, zugunsten der Kirchensatzung, die ja von der nach altüberkommener Glaubenslehre zum Urteil berufenen Allgemeinen Synode gegeben wurde. Ein Theolog, der im Jahre 1838 starb, war tatsächlich nur der Doktrin, nicht dem Dogma von dem unfehlbaren Papste gegenübergestellt, also frei in seiner Entscheidung. Wenn aber Johannes F r i e d r i c h , der seine kirchengeschichtliche Erkenntnis auch gegen die kirchliche Entscheidung treulich behauptete und Altkatholik wurde, das Wort spricht: »Der glänzende Name Möhler gehört nicht in das vatikanische Lager«, so ist das ein willkürliches, ein irreführendes Urteil. Die ganze Art, wie Möhler den Katholizismus immer mehr als religiöses Erlebnis zugleich und als kirchliche Satzung faßte, macht es dem Historiker zur Pflicht, gegen diese zwangsmäßige Loslösung Möhlers von der nachvatikanischen katholischen Kirche Einspruch zu erheben. Möhler hat das Vaticanum nicht erlebt: aber er hätte zwar wohl zu den geistigen Widersachern des werdenden, nie zu den kirchlichen Widersachern des vollendeten Dogmas gehört. Es heißt, diesen von Grund auf kirchlichen Mann, der bei all seinem beweglich über allzu enge Kirchlichkeit in deutsches Geistesleben hinausgreifenden Sinne doch eben entschlossen römisch-katholisch dachte, in seinem Wesen mißverstehen, wenn man ihm die Tren-

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Heinrich v. Treitschke, dessen »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« oft genug auch in kirchengeschichtliche Zusammenhänge tiefer hineinführt als manchem seiner eilfertigen Kritiker deutlich geworden ist, hat mit Recht die — wie er sagt — wohlmeinenden und gemäßigten Theologen der ersten Tübinger Schule nicht in innerlichem Gegensatze, sondern in innerlicher Verbindung mit dem Kampfkatholizismus der vatikanischen Kirche gesehen; er hat richtig bei dem jungen Möhler schon — der gilt auch ihm als der geistvollste unter den schwäbischen Theologen, als »ein tief religiöser, edler Mann« — das starke konfessionelle Bewußtsein und den widerprotestantischen Zug erkannt. Möhler ist nicht nur geistig beweglichen Katholiken seiner Tage ein Befreier aus Fesseln der Aufklärung geworden: indem er mit biegsamer Festigkeit gewandt die Wege des Protestantismus nachzugehen und schwache Stellen herauszugreifen und mit einer kirchlich gesegneten dialektischen Kunst zu behandeln weiß, indem er insbesondere alles Katholische in das Licht einer seelenvollen Gläubigkeit und einer veredelnden Geistigkeit stellt, wird er mit seiner »Symbolik« ein Lehrer gerade der anspruchsvolleren Katholiken der nachvatikanischen Zeit. Mit und trotz ihrer dogmatischen Mängel, mit und wegen ihrer Idealisierung des Katholizismus, ihrer Verzeichnung des Protestantismus ist die »Symbolik« Möhlers noch heute nach nahezu einem Jahrhundert ein Grundbuch gebildeter deutscher Katholiken. Damit ist des Buches, damit Möhlers stärkste bleibende Bedeutung bezeichnet.

Melchior von Diepenbrock. Kommt man von Möhler zu Diepenbrock, so wird man in dem Wesenhaften ihrer religiös-kirchlichen Haltung einen verwandten Zug entdecken. Die polemischen Kräfte des einen bleiben allerdings dem andern fremd, sonst aber darf man wohl Diepenbrock ein bischöfliches Seitenstück zu dem Theologen Möhler nennen. Hier wie dort beobachten wir die wachsende Verkirchlichung einer freieren und weiter ausgreifenden Gedankenwelt, die feste und entschlossene Einordnung der Persönlichkeit in die kirchliche Gemeinschaft; aber, das erkennen wir zugleich, es beharren im Persönlichen, bewußt gepflegt oder unbewußt weitergetragen, Elemente der freieren Anschauung, es wirken die ursprünglichen Mächte des Gemüts neben den fesselnden Vorschriften der Kirche: sie berühren auch in der Seele Diepenbrocks nicht den Kern des Kirchlichen, das Wesen des Dogmatischen, aber sie mildern doch auch nicht lediglich die Formen der Äußerung kirchlicher Überzeugungen, sie leiten vielmehr einen Schimmer von Geistigkeit und Güte in die Auffassung des Kirchlichen, des Dogmatischen selbst. Diepenbrock behauptete als Bischof grundsätzlich die bischöflichen Rechte, dem absolutistischen Staate gegenüber, wie er seit dem Jahre 1848 mit den neuen Freiheitsansprüchen bei dem protestantischen König und dann in dem preußischen Verfassungsstaate durchzudringen suchte: aber er setzte die geistigen, moralischen und politischen Kräfte der Kirche nicht gegen den Staat ein, sondern nach Möglichkeit für ihn; Diepenbrock machte der deutschen Theologie kein Zugeständnis auf Kosten einer wesentlichen Lehre seiner Kirche, aber er, der Sinnige, ließ sinniger Spekulation die Freiheit, er trat der gelehrten Forschung nicht mit peinlicher Strenge entgegen und wurde den Gelehrten selbst ein freundlicher bischöflicher Gönner; für Diepenbrock war bereitwillige bischöfliche Unterordnung unter den Papst Gesetz für Denken und Handeln, aber er neigte nicht dazu, Papsttum und Kurie miteinander zu verwechseln, so wenig er die altüberkommene dogmatisch gesicherte Idee der bischöflichen Grundverfassung



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der im Papste geeinten Kirche sich zerstören ließ durch die immer begehrlicher hervortretende Doktrin von dem Universalepiskopat und der Unfehlbarkeit des Papstes. In alledem lebte ein unzerstörbares Stück vom Geiste Sailers weiter. Wenn für die Tübinger Theologen Sailer nur eine geistigkirchliche Erscheinung neben anderen war und bei weitem nicht mehr die stärkste: so ist im Leben Diepenbrocks Sailer die bestimmende, die in der Tiefe beharrende Persönlichkeitsmacht geblieben. Für Möhler war die Begegnung mit Sailer Episode, für Diepenbrock wurde sie Schicksal. Diepenbrock entstammt einem westfälischen Geschlechte, dessen Adelszeichen der Vater abgelegt hatte. Im westlichen Zipfel des Münsterlandes, in Bocholt, eine Meile nur von der niederländischen (geldrischen) Grenze, wurde er am 6. Januar 1798 geboren und dem Dreikönigstage zu Ehren Melchior genannt. Er wuchs im großen Geschwisterkreise auf, ein sinniges Kind, das andächtig den frommen Erzählungen der Mutter lauschte; aber bald ein selbstwilliger Knabe voll frischer Freude an der Natur, am Wandern, von unbändigem Freiheitsdrang und Kraftgefühl. Man bringt ihn in die Zucht eines pädagogisch bewährten Pfarrers, aber Diepenbrocks tollkühne Knabenstreiche drohen den Erzieher um seinen Ruhm zu bringen: er sendet den wilden Zögling zurück. Man übergibt ihn einem Knabeninstitut bei Münster: aber die aus Frankreich vertriebenen Priester, die diese Erziehungsanstedt leiten, müssen vor dem westfälischen Wildling die Waffen strecken. Im Militärlyzeum zu Bonn — es ist das französisch gemachte Bonn — scheint er besser zu Hause: aber auch hier will er sich bald nicht mehr dem Zwange fügen. Mit halber Schulbildung dürftig genug ausgestattet, hat er dann doch die Zeit, da er in der heimatlichen Domänenverwaltung friedlich tätig war, zur Beschäftigung mit den Sprachen und überhaupt zu ernsten Studien benutzt: alles mehr gelegentlich und nach Neigung, nichts systematisch betreibend, aber dank seiner Begabung mit glücklichem Erfolge. Der Befreiungskrieg riß ihn aus dieser Bahn heraus. Der Siebzehnjährige, der einige Jahre zuvor die napoleonische Militärschule nur flüchtig besucht hatte, verdankte es mehr seiner Persönlichkeit als seiner militärischen Erziehung, wenn er sogleich als Leutnant, zuerst bei einem Landwehrbataillon, dann bei einem Linienregiment eintreten konnte. Im Feldzug von 1815 kämpfte er noch ein wenig mit. Im friedensmäßigen Dienste aber war der aufrichtige und gutmütige, doch eigenwillige und jähzornige junge Leutnant bald genug nach schwerem Verstoße gegen den Soldatengehorsam zur Aufgabe der Militärlauf-



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bahn gezwungen. Wochenlang zwischen Selbstmord- und Auswanderungsgedanken schwankend, ist er schließlich mehr gleichmütig als entschlossen oder gar reuevoll, im Sommer 1816, zur väterlichen Scholle zurückgekehrt. Der junge Diepenbrock hatte das katholische Kirchentum nicht förmlich preisgegeben. Aber ihn erfüllte unbefangene Weltfreude, das betonte Kirchenwesen widerstrebte ihm, ja er hielt sich Jahre hindurch von den Sakramenten fern. Da trat S a i l e r in sein Dasein, Sailer, der seelsorgerische bairische Professor, ein Bildner der Geister und der Herzen, der als Theologieprofessor in Landshut persönlich und durch seine Schriften weithin im katholischen Deutschland die Gebildeten in dem Banne seiner milden Kirchlichkeit hielt. Klemens Brentano vermittelte auf einem Diepenbrockschen Gute im Herbste 1818 die Bekanntschaft des stolzen, spröden, trutzigen, zornmütigen Diepenbrock mit dem gütigen, heiteren, frommen »Vater Sailer.« Nun wurde der Zwanzigjährige aus dem ländlichen Dahinleben, das mehr der Jagd als der Gutswirtschaft galt und nicht allzusehr vom Geistigen berührt war, herausgezogen. Das kräftige Herzenschristentum, die frohe Frömmigkeit, die unaufdringliche Kirchlichkeit Sailers entsprach dem noch verhüllten wahren Wesen Diepenbrocks mehr als die sprunghafte, widerspruchsvolle, willkürlich-phantastische :Art Brentanos, der, als oft gesehener Gastfreund des Diepenbrockschen Hauses, gern zur Selbstüberwindung, Kasteiung und Weltflucht mahnte und doch wohl selbst von seiner Askese den Widerschein vergangener Weltlust nicht zu verbannen wußte. Immerhin, es war Brentano, der mit seinen fast überpriesterlichen Gedanken von der Hoheit des Priestertums und seiner Visionsstimmung den Widerstreit zwischen Welt und Kirche in dem jungen Diepenbrock nach der priesterlichen Seite hin entscheiden half. Sailer hielt sich ruhig zurück, als sein junger Freund in Landshut die Staatswirtschaft, nicht die kirchlichen Wissenschaften studierte. Sobald Diepenbrock sich für den Weg zum Priestertum entschieden hatte, suchte er den engsten Anschluß an Sailer. Die entscheidende theologische und insbesondere geistliche Erziehung erhielt Diepenbrock in Regensburg. Er hatte dabei weniger den Lehrern des dortigen Seminars zu danken als dem greisen Sailer selbst, der seit Oktober 1821 Regensburger Domkapitular war. Sailers Einfluß wuchs, als er im nächsten Jahr Dompropst, Weihbischof und Koadjutor des Bischofs von Regensburg wurde, nachdem es König Ludwig gelungen war, dem der Nuntiatur und der Kurie verdächtigen Manne »die Hügel in München und die Berge in Rom« zu ebnen. Sailer hatte Sinn für

— 79 — den Reiz der geistreichen, von Glaubenseifer, Menschenliebe und Kulturgefühl zugleich angetriebenen Persönlichkeit Diepenbrocks, auch für die Heiterkeit, die helle Fröhlichkeit des doch sinnigen und gedankenvollen jungen Mannes. Nach der Priesterweihe, Ende des Jahres 1823, wurde Diepenbrock der Hausgenosse Sailers und damit vollends dessen Schützling, Vertrauter, nächster Freund. Sailer hat die tiefe, edle, leidenschaftliche Natur seines westfälischen Jüngers in zarter Neigung und feinem Verständnis wundervoll klar erfaßt. »Wen er mit seinem halben Herzen liebt, der besitzt einen größeren Schatz an Liebe, als wenn ihm hundert andere mit ihrem ganzen Gefühlsvermögen anhängen. Und seine Fehler, sie sind leicht zu erkennen, denn sie liegen auf der Oberfläche einer tiefen, reichen Natur: diese allzurasche, oft so unvorsichtige Handlungsweise, diese gewaltige Erregbarkeit, diese Zornesflammen, welche so leicht auflodern und oft so schwer verletzen, — in diesen Fehlern selbst, wie sehr sie auch zu beklagen sind, liegt durch die Art, wie er sie erkennt, bekämpft und bereut, manchmal eine Erhabenheit, zu der es gar viele Menschen nicht mit ihren Tugenden bringen.« Und ein anderes Wort Sailers über Diepenbrocks »heiße« Natur: »Wenn er sein Roß reitet mit Zaum und Zügel, ist er unter allen Menschen, welche mir auf meinem langen Lebenswege begegneten, der Erste und Edelste; aber freilich, wenn das Roß ihn reitet, dann wirft er alles nieder.« Sailer hat durch seinen religiösen Sinn, durch seine geistige Persönlichkeit die Seele des leidenschaftlichen jungen Priesters gestalten helfen. Sailers Größe liegt ja überhaupt in seiner religiösen, seiner erzieherischen Kraft mehr als in der wissenschaftlichen. Vollends auf Diepenbrock hat nicht so der zeitweilige Professor Sailer gewirkt mit seinem Sinne für wissenschaftliche Arbeit, als vielmehr der beharrende Priester. Selbst Sailers wissenschaftliche Persönlichkeit barg etWEIS von Priesterlichkeit. Darum gerade hat nun auch mit dem geistlichen Erzieher Sailer zugleich der Gelehrte auf Diepenbrock gewirkt. Daß Sailer, der Prediger christlicher Liebe und Duldung zugleich und maßvoller katholischer Bestimmtheit, ein Gelehrter auch war, ein Gelehrter, der in jungen Jahren manche Gedanken der Aufklärung übernommen und, soweit sie sich mit dem Katholizismus vertrugen, kirchlich verarbeitet hatte, daß Sailer bis zuletzt literarisch tätig und interessiert blieb, das mußte seinem freundschaftlichen Verkehr mit Diepenbrock auch theologischen Inhalt geben. Es wurde für den künftigen Bischof Diepenbrock, obwohl er theologisch nie hervorgetreten ist, und, wie noch der greise Döllinger klagte, einen



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gewissen Dilettantismus in Theologie, Geschichte und kanonischem Rechte verriet, doch wichtig genug, daß er auch theologisch ein Schüler Sailers war. Ganz flüchtig wenigstens muß darum Sailers theologische und kirchliche Stellung berührt werden. S a i l e r , 1751 in Oberbayern geboren, war seit drei Jahren Jesuitennovize, als der Orden im Juli 1773 aufgehoben wurde. Als Professor in Ingolstadt und dann namentlich in Dillingen, überwand er die jesuitisch-scholastische Überlieferung durch seine persönlich-sinnige, weitherzige und doch kirchlich-gläubige Auffassung der Moral- und Pastoraltheologie. Von den Exjesuiten als Aufklärer verdächtigt, mußte er nach zehnjähriger Lehrtätigkeit in Dillingen, 1794, seinen Platz räumen. Fünf Jahre später rief ihn eine aufklärungsstolze Münchener Regierung wieder nach Ingolstadt. An dieser baierischen Landesuniversität, die bereits im Jahre 1800 nach Landshut verlegt wurde, übte er eine ähnlich starke Wirkung aus wie in Dillingen; er wollte mehr als bloß theologisch unterrichten, er wollte ein geistlicher Führer, ein christlicher Erzieher sein. Auch in seinem Greisenalter als Domherr zu Regensburg und schließlich als Bischof hat Sailer durch seine Schriften, seine Briefe und vor allem durch seine Persönlichkeit den Geist einer auf kirchlichem Grunde sich frei und weit erhebenden Frömmigkeit bewährt. Er war als Gelehrter nicht scharf und bestimmt, nicht streng methodisch, aber in seinen Schriften wie in seinem lebendigen Worte von einem gewinnenden Reichtum der Anschauung und einer gemütvollen Tiefe der Auffassung: er wollte auch mit seinen theologischen Werken, seinen moral- und pastoraltheologischen Darstellungen die Leser vor allem seelisch bestimmen und religiös erbauen. Seine Theologie hatte nichts mehr gemein mit dem erstarrten Scholastizismus, dessen Mangel an geschichtlicher Anschauung, dessen übertreibendes Hervorkehren der Formen ihm widerstrebten. Aber auch dem Rationalismus entwand er sich. Dem Drange eifriger Aufklärungskleriker, der zur Geistesspielerei schon wurde, der aufgeklärten Liebhaberei, in der Kirche vom kategorischen Imperativ oder von der moralischen Weltordnung und von der höchsten Einheit alles Seins und Erkennens zu reden, dieser Kanzelphilosophie begegnete er nur mit sarkastischem Spotte; er wollte Seelsorge und Predigt biblisch und kirchlich, nicht philosophisch begründet sehen. Sailer kannte die deutsche Philosophie und er lernte von ihr, aber er hielt sie von dem Innersten der Theologie und des Kirchlichen fern: sein Lehrer Stattler hatte den philosophisch einseitigen »Anti-Kant« geschrieben; Sailer selbst sah in Kants



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Kritizismus einen Widerspruch zur Offenbarung, zur katholischen Kirchenlehre. Aber auch darin berührte er sich mit Stattler, daß er schroffe konfessionelle Polemik verschmähte, daß er überhaupt die Gegensätze der christlichen Konfessionen nicht auf Kosten des Gemeinsamen und des Gemeinschaftsbewußtseins hervortreten ließ, vielmehr das Gefühl für das überkonfessionell Christliche im Dogmatischen und im Religiösen bewußt pflegte. Man darf auch hier eine Wirkung der Aufklärung sehen: sie schuf die Voraussetzung solcher freundlichen Annäherung. Vor allem aber zeigt sich hier doch die Abwendung von dem Radikalismus der Aufklärung, der auch dem katholischen Kirchentum und der katholischen Kirchenlehre mit philosophischen Gedanken das kirchlich Besondere, das dogmatisch Bestimmte überhaupt zu nehmen suchte. Dem Übergreifen dieses Radikalismus auf das katholische Gebiet hat Sailer gewehrt: seine Duldsamkeit, seine Neigung zur Zusammenarbeit mit den protestantischen Christgläubigen soll der Bewahrung des Christlichen dienen, und die konfessionellen Gegensätze sollen zwar christlich ertragen und in ihren Wirkungen abgemildert, nicht aber in einem unkonfessionellen Sinne ausgeglichen werden. Wie andere katholische Apologeten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, hat Sailer schon als Professor in Dillingen und in seiner späteren Zeit eben aus dem Gefühle der Notwendigkeit gemeinsamer christlicher Abwehr des Freidenkertums und des radikalen Rationalismus gläubig-protestantische Schriftsteller in eine Reihe gesetzt mit den katholischen, also gerade aus dem christlichen Verteidigungsgedanken heraus literarische Toleranz geübt. Diese freie und doch feste Weitherzigkeit, diese religiös gegründete, nicht unkonfessionelle, noch weniger aber eng konfessionelle Christlichkeit gehört zu dem geistigen Wesen Sailers. Der Naturphilosoph Heinrich S t e f f e n s , freilich ein Altlutheraner, hat, in Erinnerung an sein Zusammensein mit Sailer im Jahre 1817, Worte niedergeschrieben, die däs gemeinchristliche Empfinden hüben und drüben gut festhalten: »Was mich zum Katholiken machte, wenn ich mit ihm sprach, machte ihn in meinen Augen zum Protestanten, und niemals trat mir die Einheit des Christentums in allen seinen Formen inniger und tiefer entgegen. « Sailer hat bewußt die konfessionellen Gegensätze in Wort und Schrift möglichst wenig hervortreten lassen, er wünschte eine Zurückdrängung der Polemik, eine Zügelung der Apologetik, ein Bekenntnis zum religiösen Gemeinbesitz der Christen ohne Preisgabe, aber auch ohne leidenschaftliche oder herausfordernde B e i h e f t d . H . Z . 7.

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Betonung des besonderen Katholischen, ein schlichtes Festhalten an der hierarchischen Ordnung seiner Kirche, aber keinen Hierokratismus, eine gehorsame Hingabe an die päpstliche Oberleitung der Kirche, aber keinen Papalismus und keine papalistische Propaganda; ihm war es Herzensbedürfnis, die Empfänglichkeit für die kirchlichen Glaubensschätze, den Sinn für die kirchlichen Morallehren zu beleben. Der Priester und Theolog, der Schriftsteller und der Prediger, der Professor, der Bischof Sailer war kein Mann der katholischen Propaganda aber ganz und gar ein Mann des katholischen Glaubens. Zuerst und zuletzt wollte er ein katholischer Lehrer der christlichen Liebe und des christlichen Lebens sein. Aber auch er hat das mit dem katholischen Kirchenbegriffe gegebene Starre und Ausschließende nicht verkennen können noch auch beseitigen wollen. In seiner warmen Religiosität steckt das feste Stück Kirchlichkeit, das von aller katholischen Frömmigkeit unabtrennbar ist. Friedrich Heinrich Jacobi nannte ihn wohl den Philosophen Gottes, kirchlichen Zeitgenossen aber erschien er mit Grund wie ein deutscher F6nelon. Der junge Diepenbrock hat einmal im Herbst 1825 dem protestantischen Frankfurter Freunde Passavant, der gleichfalls einst Sailers Hörer gewesen war, begeistert von der geistigen Gemeinschaft der Heiligen, das Wort geschrieben: »O daß sie einmal ans helle Licht träte, diese heilige Gemeinschaft! dann würde die ganze Welt bekehrt!« Das ist im Geiste Sailers empfunden und gesprochen. Ganz persönlich aber wandte Diepenbrock auf seinen Lehrer und Meister, der ihm im persönlichen Umgange viel geistreicher und genialer als in seinen Schriften erschien, das Wort an, das Piaton den Aristides zu Sokrates sagen läßt: »ich machte jedesmal Fortschritte, wenn ich bei dir war, noch größere, wenn ich dich zugleich ansah, wenn du redetest.« Diepenbrock fühlte sich diesem wunderbar gütigen Manne im Herzen verbunden: ihm verdankte er, wenn er den Weg zum tätigen Katholizismus wiedergefunden hatte; es war nicht der Weg der wissenschaftlichen Belehrung und Erkenntnis, sondern der Weg über die Kräfte des Gemüts und der Gesinnung. Ihm war, wie er dem Freunde Passavant bekannte, die Liebe, die Freundschaft Sailers der Wegbahner zur völligen Sinnes- und Lebensänderung, er hatte in Vater Sailers freundlich liebem Antlitze den »wegweisenden Stern aus dem Heidenlande zum Heilande, zur Krippe in Bethlehem gefunden«. Aber überhaupt die Geistesart Sailers, dessen bischöflicher Kirchenbegriff, theologische und kirchenpolitische Meinungen haben entscheidend auf Diepenbrock eingewirkt. Nichts Fremdes.



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wurde so in sein Wesen hineingepreßt. Er war von Grund auf dem Meister seelenverwandt. Auch in seiner Natur lag die Fähigkeit des liebevollen Mitfühlens und der Drang zum Helfen, lag zugleich die Neigung zur frommen Beschaulichkeit, der sinnige Zug; nur waren alle sanften Gaben des Herzens noch umtost von der Leidenschaftlichkeit einer ursprünglich-eigenwilligen Natur, die allmählich Sailer erst aus dem Bewußtsein der Seelengemeinschaft heraus mit zarter Festigkeit zu zügeln wußte. Der junge Diepenbrock fühlte sich geborgen bei dem greisen Freunde, dessen Hausgenosse er seit der Priesterweihe (Dezember 1823) sein durfte; ihm war es köstlich, »in der liebenden Seele eines edlen Menschen sein ganzes Ich lebend aufbewahrt zu wissen, und noch mehr in der Seele eines betenden, fürbittenden Freundes.« Diepenbrock brauchte mit der eigenen Herzensstimmung nur hinabzutauchen in die Geistesgeschichte des Katholizismus, und er mußte bei den großen Mystikern auf mitklingende Seelenschwingungen stoßen. Er konnte im Kreise Sailers, nicht gefesselt durch feste Seelsorgeaufgaben, ein Seelsorger nicht zuletzt für das eigene Selbst, der frommen Erbauung, den Studien und den Freunden leben. Er bewährte sich in der Übersetzung fremder Mystiker wie in der Auswahl deutscher religiöser Dichtung als feinfühliger Kenner. Er übersetzte z. B. einzelne Lieder der Teresa von Jesu, der beschaulichen, mystisch verzückten und zugleich kirchenstrengen kastilischen Nonne, die zweihundert Jahre zuvor an demselben Tage wie Ignatius von Loyola heilig gesprochen Worden war, und er wußte Romanzen und Lieder des Johannes vom Kreuz, des priesterlichen Freundes der Teresa, wirkungsvoll nachzubilden; dieses und anderes Fremde vereinte mit Heimischem sein »Geistlicher Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichtergärten.« Der deutschen Mystik des Mittelalters hat er ernsthafter noch gehuldigt. In mühsamer Arbeit gab er gleichfalls noch zu Sailers Lebzeiten nach Handschriften und Drucken, doch in neudeutscher Form die Schriften des Heinrich Seuse heraus. Diepenbrocks bescheidener Vorbericht über die Texte und die knappe Übersicht über Seuses Leben werden freilich fast erdrückt durch die anspruchsvolle Einleitung, in der Josef Görres schon manches von dem vorwegnahm, was etliche Jahre später seine große (wohl seit einem Menschenalter von keinem Sterblichen ganz gelesene!) »Christliche Mystik« darbot. Diepenbrock schrieb unter Sailers Augen und nach dem Tode des Meisters auch eigene Gedichte nieder, in abgeklärterer romantischer Stimmung, nicht mit bedeutender dichterischer Kunst, aber mit ursprünglichen Gefühlen und nicht ohne gelegent6*



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lieh sein starkes deutsches Empfinden frei hervorbrechen zu lassen. Im Jahre 1836 dichtete er zwei Sonette »An die deutsche Sprache«: Das zweite, leidenschaftlichere, lautet: An die d e u t s c h e S p r a c h e oder R e i n - d e u t s c h und der R h e i n d e u t s c h .

Ein Urquell strömst du durch die deutschen Stämme, Aus grauer Vorwelt klüft'gem Urgesteine, An Fülle, Kraft und Tiefe gleich dem Rheine Wie der, nichts duldend, das die Strömung hemme. Wie den der Franzmann jüngst zur Pferdeschwemme, Wollt' er auch knechtend trüben Dich, du Reine; Doch eure Wogen, brandend im Vereine Spien aus den Fremdling an die Felsendämme. O bleibet keusch und deutsch, ihr beiden Ströme! Der Eine deutschen Landes blanker Riegel Der Andere deutscher Sippe strenge Fehme, Beide des fränz'sehen Übermuthes Zügel Daß keiner fremdem Joch sich je bequeme, Bleibt deutschen Geists und deutschen Himmels Spiegel Damals, im Jahre 1836, hatte Diepenbrock, der schon zu Lebzeiten Sailers (im Mai 1832 war Sailer gestorben) alsbald nach dessen Berufung auf den Regensburger Bischofsstuhl, ins Regensburger Domkapitel aufgenommen worden war, die erste Stelle im Kapitel inne. Vereint mit dem Bischof Schwäbl, einem unmittelbaren Schüler und Gesinnungsverwandten Sailers, hielt der Domdekan Diepenbrock die Überlieferungen seines Meisters bewußt und bestimmt aufrecht. Schon Sailer hatte jederzeit und allenthalben in der Nähe und in der Ferne, insbesondere in München und Rom, seine kirchlichen Widersacher. Seit dem Jahre 1825 namentlich, da Ludwig I., der sich geistig selbstherrlich zugleich und kirchlich gefügig zeigen konnte, den baierischen Königsthron bestiegen hatte, wagte sich der Katholizismus der Propaganda ziemlich unbekümmert hervor, obwohl Ludwig selbst als Schüler Sailers gelten wollte und konnte und nicht anders der Leiter des Kirchen- und Unterrichtswesens Eduard v. Schenk, der als junger S tudent in Landshut unter dem Eindruck der Persönlichkeit Sailers den Protestantismus innerlich, bald darauf auch äußerlich abgeschworen hatte und als Minister mit dem Bischof in lebhaftem Briefaustausche blieb. Diepenbrock suchte den Kampf so wenig wie früher Sailer. Aber Diepenbrock war doch nicht so sanft und milde wie sein Lehrer. Mit seinen gefeierten Kanzelreden wollte er kirchliche Frömmigkeit im Sinne Sailers wecken, aber er



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scheute sich nicht, auch die neue kirchliche und kirchenpolitische Kampfstimmung würdevoll zu geißeln. Die »Hirten und Priester christlicher Völker« beschwor er, sich weder herrschsüchtig in die Dinge dieser Welt zu mischen noch mit gekrümmtem Rücken auf ihren Wegen zu schleichen. Lebendige Beispiele der einen wie der anderen Art gab es ringsum im Lande. Die eigentliche Gefahr für den Frieden der Konfessionen und für den Frieden innerhalb des deutschen Katholizismus selbst aber lernte Diepenbrock in dem Eifer der geistlichen Herrschsüchtigen erkennen. Der Kirchenkampf, der sich aus dem Zusammenstoß zwischen der preußischen Regierung und dem Kölner Erzbischof Clemens August v. Droste-Vischering seit dem Spätjahr 1837 entwickelte, hat gerade in Bayern den lautesten Widerhall geweckt: jedenfalls konnte sich die kriegerische Stimmung der Kirchenmänner hier frei entfalten, ja sie wurde von oben begünstigt. Die Leute um Görres und ihre neuen Historisch-politischen Blätter glühten von Kampflust gegen das protestantische Preußen und den Protestantismus als solchen. Hier und sonst im Lande hörte man eine leidenschaftliche Sprache über Luther und Luthertum, die, wie sich an Döllinger zeigte, auch den wissenschaftlichen Theologen nicht fremd blieb. Recht wie zur Abwehr der Historisch-politischen Blätter und ihrer schreibenden, redenden Gefolgsleute predigte Diepenbrock Frieden und Duldung. Aber es blieb nicht bei dem stillen Gegensatze zwischen den Erben der Sailerschen Frömmigkeit und den Vorkämpfern der neuen Kirchlichkeit. Der noch jugendliche Münchener Hofprediger Anton Eberhard überbot in rohen Kanzelhetzreden alle andern: einem Hymnus auf katholische Ehebegriffe setzte er Gassenausdrücke über protestantische entgegen, er sprach von der »gemeinen Denkweise der Reformatoren«, nannte Luther und die protestantischen Geistlichen elende Betrüger. Derartige sogenannte Predigten, die er in die Hofkirche, freilich die baierische Hofkirche St. Michael hineinrief, ließ er mit geringen Änderungen drucken, und er ging, während er die Protestanten in widerlicher Weise beschimpfte, in der Halbvergottung der Priester bis zu der Verkündigung: »Sie sind, soweit sie Priester sind, mit Christus gleichsam Eine Person; so weit sie aber Menschen sind, insoferne sind sie der mystische sichtbare Leib des unsichtbaren Christus, die sichtbare heiligende und lehrende Kirche des Herrn.« Dieser hoheitsbewußte Priester aber und seine Mitkämpfer scheuten sich nicht, den Bischof Schwäbl, der nach Weisung des wahrlich kircheneifrigeri Münchener Hofes vertraulich zum Frieden mahnte und vor maßlosem Kirchenkampfe warnte, mit plumper



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Dreistigkeit anzugreifen. Als der dahinsiechende Bischof wenige Wochen später gestorben war (Juli 1841), ließ Diepenbrock die Gedächtnisrede auf ihn zur Anklage gegen jene Münchener werden und rief zum konfessionellen Frieden, zur Duldung im Geiste Sailers: auch er als Katholik dem Gedanken künftiger Einigung auf katholischem Boden gläubig hingegeben, aber eben auch als Katholik davon durchdrungen, daß der Hauch der Leidenschaft dem Worte der Wahrheit die überzeugende Kraft raube, daß nur durch Verständigung Einigung möglich werde. Für den Kreis der Münchener Polemiker war Diepenbrock jetzt wie ein Geächteter. Er selbst gab sich keiner Täuschung hin, daß die jetzt in München herrschende Partei über ganz Baiern, also auch über Regensburg den Druck ihrer Macht ausbreiten werde. König Ludwig trug denn auch nicht dem jetzt 45 jährigen Diepenbrock, der doch schon vor zehn Jahren der frommen Sailerschen Art als ein Bischof nach dem Herzen Gottes gegolten hatte, den Regensburger Stuhl an, und schon in der Wahl der Person des neuen Bischofs mußte er das wachsende Einverständnis des Königs mit der scharfen Richtung erkennen. Bischof Riedel war für Diepenbrock ein Kandidat der »Partei«; stand er auch persönlich über dem Fanatismus anderer, so konnte ein Jünger Sailers doch einen solchen Bischof kaum ertragen. Zwei Jahre blieb Diepenbrock Generalvikar, dann zog er sich von den Geschäften und von der lauten Kirchlichkeit des neuen Kurses zurück. Ein »Eremit«, wie er selbst wohl meinte, aber doch einer, der die Verbindung mit der Welt nicht preisgab. Die gebende und nehmende Freundschaft war ihm Bedürfnis des Herzens und des Geistes; im Gespräch, im Briefwechsel mit seelenverwandten Freunden hat er, der niemals als theologischer oder kirchenpolitischer Schriftsteller hervorgetreten ist, seine Anschauungen über Welt und Kirche entwickelt, unbefangener noch und oft auch bestimmter als in seinen Predigten und später in seinen Hirtenbriefen. In seinem Herzen blieb die schlichte Frömmigkeit Sailers die stärkste Macht, und alle kirchlichen Weltgedanken auch suchte er im Geiste des Meisters zu prüfen; noch als Breslauer Bischof fragte er sich bei wichtigen Dingen, wie wohl Sailer sie beurteilen und behandeln würde. Gerade als Jünger Sailers mußte dei Domherr und später der Bischof Diepenbrock den Zwiespalt zwischen den Forderungen der kirchlichen Hierarchie, der kirchlichen Verwaltung und den Bedürfnissen persönlicher Frömmigkeit schmerzlich empfinden; er sah, wie da das religiöse Leben »nur zu leicht in eine äußere Geschäftigkeit, in die Rührigkeit eines Kriegslagers« aufgehe. Er gehörte zu denen, die eine kirch-

— 87 — liehe Erneuerung wünschten, eine, versteht sich, immer katholisch gedachte »lebendige Umgestaltung der kirchlichen Verhältnisse«; aber er sah zu Anfang der vierziger Jahre, da er selbst in Regensburg unter dem Fanatismus zu leiden hatte, die Zeit für eine Umgestaltung wieder in größere Ferne gerückt, sah durch die Hitze der Parteikämpfer alles in die Extreme hinausgetrieben. Solche Bekenntnisse legte er dem ihm von Sailers Tagen her vertrauten, in religiöser Grundstimmung nahe verbundenen protestantischen Freunde P a s s a v a n t ab. Sein Herz aber erschloß sich nach Sailers Tod am meisten noch seinen begabten, frommen Freundinnen C h a r l o t t e v . N e u m a y e r und E m i l i e L i n d e r . Die Briefe an beide, an die aus Basel stammende Malerin Linder, die im Dezember 1843 in München zum Katholizismus übertrat, und insbesondere an Charlotte v. Neumayer, offenbaren die bewegte geistige Art des Mannes, sein ursprüngliches persönliches Empfinden, seine Güte. Charlotte v. Neumayer hatte ihn bereits 1824 im Kreise Sailers kennengelernt; ihr erschien dieser seelenvoll schöne Westfale mit seiner hohen ritterlichen Gestalt und seinem schwärmerischen, leidenschaftlichen und zugleich ernsten Wesen wie ein neuer St. Georg. Sie hat überhaupt über Diepenbrocks Persönlichkeit ein ganz aus der Nähe, man möchte sagen aus seiner Seele geschautes Bild gegeben, die anmutigste, liebevollste und auch im Kleinen beweglichste Schilderung, die je einem deutschen Bischöfe von weiblicher Hand gewidmet worden ist. Diepenbrocks Nachfolger auf dem Breslauer Bischofssitze, Heinrich Förster, hat viel von diesen feinsinnigen Erinnerungen in sein »Lebensbild« Diepenbrocks aufgenommen; noch ausgiebiger und zugleich treuer sind sie verwertet worden von Josef Hubert R e i n k e n s , der im Jahre 1850 auf Diepenbrocks besonderen Wunsch Privatdozent der Theologie in Breslau geworden war und ein Menschenalter später, 1881, als altkatholischer Bischof die umfassende Biographie seines Gönners schrieb, ein schönes, stimmungsvolles Buch, dessen Enthusiasmus man als echt, dessen Färbung durch die persönlichen kirchlichen Meinungen des Verfassers man freilich hier und dort als störend empfindet. In den kirchlich erregten Zeiten nach dem Tode des Bischofs Schwäbl, im Januar 1842, schrieb Diepenbrock einmal an Passavant, wer sich der schroffen kirchlichen Richtung nicht anschließe, werde verdächtigt und dadurch um die Möglichkeit eines reinen Wirkens gebracht. Solche Worte lassen erkennen, daß sich Diepenbrock in dieser Zeit, da er unter einem anders gearteten, kirchlich anders gerichteten Bischöfe gleichsam mattgesetzt war, tatsächlich



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doch mächtig sehnte nach kirchlicher Betätigung. Zunächst freilich blieb es bei der literarischen Tätigkeit. Er beschäftigte sich wie seit alters mit spanischen Romantikern vergangener Tage, er beschäftigte sich nun auch mit dem vlämischen Romantiker seiner Tage: er übersetzte drei Jugendnovellen des Hendrik Conscience, den etliche Jahre zuvor »Der Löwe von Flandern« berühmt gemacht hatte. Als dann diese kleine Novellenreihe in Diepenbrocks Übersetzung 1845 als Buch erschien, als »Vlämisches Stilleben«, da war es mit seinem eigenen Stilleben nun freilich zu Ende. Im Januar 1845 hatte das Breslauer Domkapitel, dem eigenen Wunsche und dem Winke der preußischen Regierung folgend, ihn zum Bischof gewählt. Eine kirchliche Verwendung Diepenbrocks in Preußen hatte Friedrich Wilhelm IV. schon einige Jahre zuvor ernstlich erwogen. Im Spätjahr 1840 kam Radowitz, der vertraute katholische Freund des Königs, nach Baiern, um festzustellen, ob Diepenbrock für Köln zu gewinnen sei, als Koadjutor des für die Dauer vom Amte ferngehaltenen Droste-Vischering. Der preußisch-westfälische Jünger Sailers konnte als der rechte Mann gelten zur Erfüllung der besonderen Erwartungen einer Regierung, die sich bemühte, den Kölner Kirchenstreit auszugleichen und vergessen zu machen. Der Plan der Berufung Diepenbrocks wurde auch von einzelnen einflußreichen Kirchenmännern unterstützt, so von dem Salzburger Erzbischof Fürsten Friedrich Schwarzenberg. Der Plan ist aber, nicht etwa an Diepenbrocks Zurückhaltung, die unschwer hätte überwunden werden können, sondern an geistlicher Gegenarbeit gescheitert. Anderthalb Jahre später war Bischof Geissei von Speier Koadjutor in Köln und damit der Form nach der zukünftige, der Sache nach der gegenwärtige Erzbischof von Köln. Man mag darüber nachsinnen, was es bedeutet haben würde, wenn statt dem scharf kirchlichen und doch geschmeidigen Diplomaten Geissei ein Mann wie Diepenbrock auf den wichtigsten Platz in der katholischen Kirche Deutschlands gekommen wäre. Gewiß muß man sich daran erinnern, daß die römische Kurie auch hinter und über Diepenbrock gestanden hätte und daß er niemals sich gegen Rom aufsässig gezeigt haben würde; aber mit Diepenbrocks edler Persönlichkeit wäre ein anderer, ein freierer und vornehmerer Geist, eine persönlich und sachlich gelindere geistliche Regierung, ein bei aller bestimmter Kirchlichkeit von Grund auf staatsfreundlicheres Kirchenregiment in die bedeutendste deutsche Kirchenprovinz eingezogen. Geissei empfand den tiefen Gegensatz zwischen seinem und Diepenbrocks Wesen. Er versprach sich kirchlich nicht viel von dem milden Jünger Sailers,



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der zwar das Mainzer Seminar einst etliche Monate lang besucht hatte, aber für diese den jungen Geissei ganz bestimmende Schule Liebermanns keinen Sinn hatte. Friedrich Wilhelm IV. hätte den westfälischen Regensburger Domherrn gern wenigstens als Dompropst in Köln gehabt. Aber weder fühlte sich Diepenbrock, dem Geisseis Kirchenregiment widerstrebte, nach Köln hingezogen, noch wollte Geissei eine Persönlichkeit von der Art des Sailer neben sich sehen, denn er wünschte lediglich Leute von geschäftlicher Tüchtigkeit und kirchlicher Eindeutigkeit. Das Breslauer Domkapitel aber hatte schon im Sommer 1841 an Diepenbrock gedacht, als es sich darum handelte, den Fürstbischof Grafen Sedlnitzky zu ersetzen, der 1835 einmütig gewählt worden, aber fünf Jahre später wegen seiner milden Praxis bei der kirchlichen Einsegnung gemischter Ehen, überhaupt wegen einer allzu freundlich-weitherzigen bischöflichen Haltung zum Verzichte genötigt war. Damals wurde indessen nach dem Wunsche der Regierung ein 77jähriger schlesischer Geistlicher Bischof, und erst nach dessen Tode konnte das Domkapitel, im Jahre 1845, den jetzt vom königlichen Wahlkommissar unmittelbar empfohlenen Diepenbrock zum Bischof wählen. Diepenbrock zeigte sich auch nach der Wahl noch sehr zurückhaltend. Man erkennt gewiß seine wahre Stimmung in den Worten an Emilie Linder, »das Ganze sei seinem Geiste und Herzen so totfremd, als ginge es einen Dritten an.« E r schien sogar zur Ablehnung entschlossen. »Hätte man mich,«soschrieb er an Charlotte v. Neumayer, »als Soldaten der Linie einfach hinkommandiert, dann wäre ich gegangen; als Volontär hinzugehen, erschien mir im gewissenhaften Überblick meiner Munition als eine Vermessenheit.« Als nun Friedrich Wilhelm IV. eingriff und der Wahlkommissar v. Duesberg, der Leiter der katholischen Abteilung, nach Regensburg kam, da erklärte Diepenbrock, er werde nur einer Aufforderung des Papstes folgen. Obwohl der Schüler Sailers in römischen Kreisen nicht immer und nicht allzusehr geschätzt wurde, mußte auch Diepenbrock diese päpstliche Aufforderung mit Gewißheit erwarten, und sie lag tatsächlich bereits Anfang März 1845 vor. Man muß in diesem Verhalten Diepenbrocks doch wohl eine Abweisung staatskirchlicher Gedanken suchen, jedenfalls aber den Wunsch, eine staatskirchliche Ausbeutung seiner Erhebung unmöglich zu machen. Man sollte ihn ansehen und er bezeichnete sich selbst als den »Mann des Papstes.« Aber Diepenbrock fühlte sich zugleich, was die meisten anderen Bischöfe, Geissei insbesondere, niemals getan haben, auch als der Mann des Königs. Nach einer Familienüberlieferung soll er allerdings bei der Eidesleistung in Berlin die ihm



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vorgelegte Eidesformel zurückgewiesen und eine Abänderung erreicht haben. In seinen sehr ausführlichen Briefen ist davon indessen nicht die Rede. Das aber steht fest, daß er dem König erklärt hat: »Mit Freude schwöre ich, wie vor 31 Jahren als Offizier den preußischen Fahneneid, so nun als Bischof in das Vaterland zurückkehrend den Untertaneneid.« Das Wort läßt ihm, der das Bischofsamt in strenger Kirchlichkeit auffaßte, doch wie den Lehensmann des Königs erscheinen. Die militärischen Erinnerungen aber, die hier hervordringen, blieben diesem Geistlichen überhaupt stets lebendig. Als er einige Monate vor der Bischofswahl mit einem ehemaligen Kriegs- und Garnisonskameraden, einem ausgedienten Unteroffizier zusammentraf, da meinte er: »Mir ist dieses ehrliche alte Soldatenhaupt mit einer unter allen Narben und Schwielen fünfzigjähriger Feldzüge rein und weich bewahrten Seele ein lieberer Umgang als der charakterlose Schliff hohler Weltbildung.« Und in seinem ersten Bischofsjahre erfreute er den greisen Feldmarschall Graf Zieten, seinen Kommandeur aus dem Feldzuge in Frankreich, durch die militärische Meldung »E. E., der Sekondeleutnant Diepenbrock meldet sich als Fürstbischof von Breslau.« »Fürstbischof« der Titel, der heute noch besteht, hatte damals seinen guten Sinn. Der Breslauer Bischof, der zu den preußischen und zugleich zu den österreichischen Bischöfen gehörte, hatte im österreichischen Teile seines kirchlichen Sprengeis tatsächlich auch ein weltliches Territorium, ein Fürstentum; erst im Jahre 1848 erlosch die Fürstenherrschaft als solche, ging die fürstliche Gerichtsbarkeit des Bischofs an den österreichischen Staat über. Es war ein schönes Gebiet von 900 Geviertkilometern mit dem prächtigen Schloß Johannesberg, mit insgesamt etwa 70000 Bewohnern, das Ganze ein großer Verwaltungsbetrieb, eine fürstliche Herrschaft mit 177 tätigen und 93 im Ruhestand lebenden Angestellten. Das Bistum Breslau selbst umfaßte ein Gebiet größer als ganz Baiern und zählte etwa eineinhalb Millionen Seelen; es war keiner Kirchenprovinz zugeteilt, sondern unterstand (und untersteht) unmittelbar dem päpstlichen Stuhle. Diese größte deutsche, ja abendländische Diözese war damals innerlich stark zerrissen. In den zwanziger Jahren schon hatte hier eine radikale kirchliche Reformbewegung Kleriker und Laien ergriffen. Priester, wie Anton Theiner, führten jahrelang in Wort und Schrift den Kampf gegen den Priesterzölibat. Theiner hat das, was er in seinem Buche von 1826 über »Die erzwungene Ehelosigkeit bei den Geistlichen und ihre Folgen « auseinandersetzte, auch vom Katheder nicht fern gehalten. Er verlor allerdings 1830



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seine Professur für Kirchenrecht und Pastoraltheologie. Aber die radikalen Gedanken lebten in einem Teile des Klerus weiter. Überhaupt genoß weder die Hauptmasse der schlesischen Geistlichkeit noch die Breslauer katholische Fakultät bei den Strengkirchlichen den besten Ruf. Unter den Breslauer Theologen war in der Zeit der Erwählung Diepenbrocks noch der Geist lebendig, den aus der Bonner Fakultät soeben Geissei mit seinem von Rom angefachten, von Berlin begünstigten geistlichen Eifer ausgetrieben hatte. An Diepenbrocks Bischofssitz hatten sich behauptet und behaupteten sich weiterhin Anhänger des Hermesianismus und Freunde der Lehre Anton Günthers. Georg Hermes (1775 bis 1831), der zuerst an seiner heimatlichen Universität Münster, seit 1819 in Bonn als Professor der Dogmatik wirkte, hatte, angeregt, aber keineswegs innerlich ergriffen durch Kant und Fichte, eine vernunftmäßige Grundlegung des Dogmas zu geben gesucht, ohne an das Dogma selbst rühren zu wollen oder in der eigenen Strenggläubigkeit je erschüttert zu werden. Erst nach seinem Tode, 1835, wurden seine Schriften durch Gregor X V I . verurteilt. Auch die Breslauer Anhänger seiner Lehre, wie der aus dem Rheinlande stammende Dogmatiker Baltzer, unterwarfen sich dem päpstlichen Spruch. Ihre geistige Umwandlung aber konnte nicht erzwungen werden. Nur dass etwa Baltzer sich von Hermes, dem er doch noch etwas wie die erste wissenschaftliche Liebe bewahrte, mehr und mehr zu Günther hin entwickelte. Anton G ü n t h e r (1783 bis 1863), aus dem deutschen Siedlungsgebiete Böhmens stammend, ein philosophisch, theologisch, juristisch gebildeter Geistlicher, wirkte seit Ausgang der zwanziger Jahre durch seine Schriften, seine Lehre von Wien aus weithin auf eine Anzahl begabter Theologen. Dieser philosophische Priester, der selbst niemals Professor werden sollte, sah doch bald an einem halben Dutzend theologischer Fakultäten Anhänger seiner Lehre: in Breslau neben Baltzer seit 1850 Hubert Reinkens, der sich auf den Wunsch Diepenbrocks für Kirchengeschichte habilitiert hatte. Diepenbrock nahm persönlich Anteil an dem kirchlichen Schicksal Günthers und der Güntherschen Lehre. Er verschrieb sich nicht diesem System, das scharfe Logik mit spielerischer Phantasie wunderlich verquickte, dieser spekulativen Dogmatik, die, gedankenmäßig stark bestimmt durch Descartes und die deutsche Philosophie seit Kant, nun die Kirchenlehren über die Schöpfung, über Geist und Natur, über Erbsünde, Erlösung, Rechtfertigung umflutete. Aber Diepenbrock hegte Hochachtung vor der Selbständigkeit grübelnden Nachdenkens und freier



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Spekulation, dürch die Günther wohl von bestimmten kirchlichen Anschauungen, nie aber von seiner katholischen Überzeugung hinweggeführt wurde. Als der erste große kirchliche Angriff gegen Günther begann, war wiederum die Kölner erzbischöfliche Kurie die Hochburg der Eiferer, und auf den Erzbischof Geissei vor allem durften sich die deutschen Gegner des frommgläubigen, aber geistig selbständigen Theologen stützen. Diepenbrock aber fand hier nichts zu verdächtigen und zu verfolgen. Er vermochte in der Güntherschen Richtung unkirchlichen Geist nicht zu finden und er liebte noch von Sailers Zeiten her jeden ernsten wissenschaftlichen Sinn, der nicht offen gegen die Kirche verstieß. Im Hochsommer 1852 hat er, schon schwer erkrankt, der kirchlichen Eingabe zugunsten Günthers zugestimmt, er regte sogar bei dem Prager Kardinal-Erzbischof Schwarzenberg an, eine kurze Darstellung der Lehre Günthers nach Rom mitzusenden, um »allen den wissenschaftlichen Umtrieben ein für allemal zu begegnen.« Es war ihm, der in geistigem und wissenschaftlichem Empfinden zugleich und in persönlichem Mitgefühl für Günthers Recht warb, noch eine letzte Beruhigung, daß man ihm aus Rom die Zusicherung gab, in dieser Sache nur im Einvernehmen mit ihm vorzugehen. Man sieht, der Bischof (und damals auch Kardinal) Diepenbrock wollte, ganz anders als der Kardinal-Erzbischof von Köln, der Forschung der theologischen Spekulation möglichst viel Bewegungsfreiheit lassen und er suchte zugleich seine bischöfliche Selbständigkeit auch Rom gegenüber zu wahren. Er wollte auch sonst sein Bischofsrecht durch die geistliche Obergewalt so wenig wie durch die Staatsgewalt beugen lassen. Er mußte die bittere Erfahrung machen, daß noch an der römischen Kurie seiner Tage gelegentlich mehr weltlich berechnete als kirchlich empfundene Gedanken in das Kirchliche eingriffen. Aber er hat seine kirchlichkatholische Auffassung auch da verfochten, wo Rom ihre Verleugnung wünschte. Diepenbrock war noch nicht zwei Jahre Bischof, als das Haupt des katholischen Adels in Schlesien, Fürst Hatzfeld, der Bruder der Freundin Lassalles, sich von seiner protestantischen Frau protestantisch scheiden ließ, um sich mit einer anderen protestantisch trauen zu lassen. Diepenbrock hatte den Fürsten, durch den er selbst feierlich in Breslau eingeführt worden war, vergebens zurückzuhalten gesucht. Nach der neuen Eheschließung exkommunizierte er ihn sofort. Er wollte im Kirchlichen ein aristokratisches Sonderrecht nicht gelten lassen. Aber er vergaß, daß die Kurie nach alter Überlieferung sich gegebenenfalls bereit zu zeigen vermag, aus persönlichen oder poli-

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tischen Gründen von den strengen kirchlichen Forderungen abzugehen. Rom selbst hatte Hatzfelds erste Ehe für gültig erklärt; jetzt sollte nachträglich der kirchliche Nichtigkeitsprozeß eröffnet werden. Ein Kurienkardinal forderte Diepenbrocks Zustimmung. Dieser deutsche Bischof, dieser Zögling Sailers aber antwortete, eher werde er sein Bistum in die Hände des Papstes zurückgeben; er wolle nicht mithelfen, die Ehre der katholischen Kirche und das Ansehen des päpstlichen Stuhles vor ganz Deutschland in den Kot zu treten und die durch seine Exkommunikationssentenz widerlegte Meinung zu erhärten, daß man in Rom durch Geld alles erlangen könne. Als man dann dennoch zwei römische Abbati über Berlin hin zu ihm sandte, hat er in ehrlicher Empörung seine Meinung deutlich ausgesprochen. Freilich mußte er diesen unerbetenen römischen Sendlingen, die seine Berichte für den Papst mitnahmen, auch noch ein ansehnliches Reisegeld auszahlen, was ihm, der zum Wohltuen stets bereit, aber haushälterisch veranlagt war, noch einen besonderen Verdruß bereitete. Immerhin : sein entschlossener Einspruch gegen den hinter seinem Rücken eingefädelten Handel drang doch durch; erst als fünf Jahre nach Diepenbrocks Tode Hatzfelds erste Frau gestorben war, hat Diepenbrocks Nachfolger die Ehe, die länger als ein Jahrzehnt im Widerspruch mit dem Kirchengesetze bestanden hatte, auch kirchlich eingesegnet. Das Verhalten Diepenbrocks aber — das gewiß einen besonders erfreulichen Mut und aufrechten Sinn auch der Kurie gegenüber beweist und allein schon zur Bekräftigung des Döllingerschen Wortes von dem deutschen Ritter ohne Furcht und Tadel ausreichen würde — entsprach doch nur der in allen wichtigen Fragen stets bewährten überzeugungsvollen Strenge seiner kirchlichen Auffassung. Diepenbrock hat keinen Anspruch darauf, ein liberaler Bischof zu heißen, und er selbst zu allerletzt hätte je diesen Anspruch erhoben. Seine feingeistige, gebildete, gütige, vornehme Persönlichkeit war es, die seiner strengen Kirchlichkeit und festen Bischöflichkeit den freundlichen Schimmer der Milde verlieh. Er hat sich als menschenfreundlicher Priester auch persönlich um seine Diözese gemüht. Das erfolgreiche Ankämpfen gegen die in Oberschlesien, gerade auch bei der unteren katholischen Bevölkerung fürchterlich hausende Branntweinpest ist ein Verdienst des schlesischen Klerus; den Kampf im großen aufgenommen zu haben, bleibt Diepenbrocks besonderes Verdienst. Sein menschliches Mitgefühl und den Beruf zur praktischen Sozialpolitik des Helfens und Besserns hat er in der Verwaltung der großen bischöf-



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liehen Besitzungen und immer wieder in der Not des Einzelnen bewährt; wo es sich um Sein oder Nichtsein des Nächsten handelte, auch des bereuenden Schuldigen, da setzte er sich persönlich für den Geringsten ein, wie er etwa für einen Domglöckner, der in der Leidenschaft zum Mörder geworden war, oder für eine verzweifelnde Kindesmörderin mit groß gedachten und rührenden Briefen an Friedrich Wilhelm IV. die Aussetzung der Todesstrafe erbat und erlangte. Diepenbrocks bischöfliches Regiment überhaupt konnte freilich nicht so persönlich, so bischöflich seelsorgerisch sein, wie etwa das Kettelers in der kleinen Mainzer Diözese. Auch Diepenbrock kam wohl einmal zur Firmung in eine Stadt, wo seit Menschengedenken kein Bischof gesehen worden war. Aber zu allen oder auch nur den meisten Pfarreien der riesigen Diözese vermochte er doch nicht vorzudringen, und ein sonst nicht überstrenger Kritiker des Allverehrten, ein Mitglied des Domkapitels, meinte sogar, daß hier weniger geschehe, als möglich und erwünscht sei. Der Bischof, der in unruhigen Zeiten berufen wurde und in unruhigere hineinkam, hatte vor allem Aufgaben zu erfüllen, wie ein geistlicher kommandierender General; er durfte nicht allzu weit aus den Schranken seiner gebietenden Stellung herausgehen und mußte es verstehen, sich durch andere richtig vertreten zu lassen. Er blieb dabei zuletzt doch eben der Bestimmende. Er griff nicht in den hergebrachten Gang der Diözesanverwaltung ein, aber man erkennt doch wieder das Persönliche in dem Bischöflichen, wenn man sieht, daß er seinen geistlichen Geheimsekretär aus Regensburg mitbrachte und daß dessen Nachfolger wieder ein Baier war; Diepenbrock wollte ein lebendiges Stück Regensburger Vergangenheit um sich haben und doch wohl auch einen Geistlichen, der den schlesischen Personen und Parteiungen unbefangen gegenüberstand. Die Jesuiten zog Diepenbrock seit Herbst 1851 zu Volksmissionen heran, aber er gab ihnen die Weisung, sich jeder Polemik zu enthalten und das Politische nicht zu berühren. Er begrüßte die geistlichen Erfolge der Väter, er nahm sich ihrer nachdrücklich an gegen protestantische Angriffe; sein Kirchenregiment indessen blieb frei von jesuitischer Einwirkung. Seine eigene strenge Kirchlichkeit aber und seine starke bischöfliche Hand zu zeigen, hatte er bereits in den ersten Anfängen seines Episkopats den zwingenden Anlaß. Die Zeit der Berufung Diepenbrocks nach Breslau war die Zeit der ersten verheißungsvollen Erfolge des D e u t s c h k a t h o l i zismus. Gerade weil diese Bewegung von Anfang an einen

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E r meinte: »Da ist kein Hauch wahrer Religiosität; nur burschikoses, rationalistisches, radikales Lärmschlagen.« Er erkannte, daß der Rationalismus hier das Religiöse und vollends das Christliche-Dogmatische aufsaugen müsse; die dünne Hülle des Christlichen werde jeden Augenblick durchbrochen, und sie werde bald, so durfte er mit Recht spotten, von dem fortschreitenden Lichtgeiste in alle vier Winde zerstreut werden. Aber er mußte sich, sobald er die Dinge aus der nächsten Nähe kennenlernte, doch auch sagen, daß nur ein radikales kirchliches Durchgreifen die allen Unsicheren und Lauen und vielen Enthusiasten drohende Gefahr werde bannen können. Er hat denn auch die vor seiner Ankunft vom Domkapitel eröffnete Bekämpfung des Deutschkatholizismus mit dem Gewichte seines bischöflichen Namens und seiner ganzen Persönlichkeit durchgeführt. Die Exkommunikation zuerst einiger Führer, dann aller Anhänger der Sekte im Herbst 1845 machte ein Weitergreifen der Bewegung auf kirchlich empfindende Katholiken unmöglich und rief viele, sogleich z. B. zur Befriedigung, nein: frommen Beruhigung Diepenbrocks, zwei Prediger als reuige Büßer zur katholischen Kirche zurück. So hat Diepenbrock die Neuerungsgedanken, die sich auf katholischem Boden bildeten, aber sofort über die katholischen Grenzen hinauswuchsen, mit raschem Griffe abgewiesen. Er war auch gegen Eigenwilligkeiten innerhalb der Kirche nicht nachsichtig; katholische Lehrer, die nicht die kirchlichen Wege gehen wollten, bekamen das gelegentlich zu fühlen. Soweit sich dieser katholisch-widerkatholische Radikalismus mit dem politischen berührte, tauchte er im Jahre 1848 in demokratischen Parteigebilden wieder auf. Aus den kirchlichen Reformbestrebungen in Schlesien, die seit den zwanziger Jahren nicht mehr zur Ruhe gekommen und im Deutschkatholizismus am wirkungsvollsten hervorgetreten waren, erklärt es sich auch gutenteils, wenn unter den schlesischen Katholiken der politische Radikalismus im Jahre 1848 Boden gewann. Dennoch gelang es im katholischen Oberschlesien, Massen von Katholiken im kirchlichen Sinne für die Wahlen in die deutsche und in die preußische Nationalversammlung einheitlich zusammenzufassen. Nicht daß sich in Frankfurt und in Berlin eine politisch-klerikale Partei im Sinne des späteren Zentrums aufgetan hätte. Das wäre damals namentlich im deutschen Parlamente bei der alles mitreißenden Macht des national-politischen und freiheitlichen Gedankens kaum möglich gewesen. Wohl aber schlössen sich allenthalben geistliche und weltliche Führer der Katholiken zusammen zur Aufstellung streng kirchlicher Wahlmänner (in Preußen und in den



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meisten deutschen Staaten war auch die Wahl für die Paulskirche indirekt) und streng kirchlicher Kandidaten; so sollte die Vertretung der kirchlichen Anliegen in der deutschen Nationalversammlung und in Berlin gesichert werden. Diepenbrock hielt sich von den Wahlkämpfen, überhaupt von der lauten politischen Bewegung zurück. Er gehörte nicht zu den Parteipolitikern. Die enge Verbindung zwischen Staatlichem und Kirchlichem führte aber auch ihn in die Politik hinein. Er hatte sich schon vor den Märztagen gelegentlich zur Wehr gesetzt wider bürokratische Härten der gerade gegenüber ihm, dem bischöflichen Freunde Friedrich Wilhelms IV. sonst rücksichtsvollen preußischen Regierung. Die Märzereignisse erschütterten ihn, der ganz und gar monarchisch gesinnt war und selbst für den Patriarchalismus nicht wenig übrig hatte. Auch er freilich konnte sich, wie alle strengen Katholiken, bei einer letzten christlichen Erklärung der politischen Geschehnisse beruhigen: »Gott hat die Hoffärtigen gedemütigt, das ist die kurze Moral; und die Völker können dieselbe Erfahrung machen, wenn sie sich nicht selbst demütigen vor dem Herrn.« So schrieb er am 22. April 1848 an Charlotte v. Neumayer. Aber ihm fehlte doch jener bei vielen Klerikalen so scharf hervortretende Drang zu ganz einseitiger kirchlicher Ausdeutung und Ausbeutung der Umwälzung Er hielt keine Revolutionspredigten, sondern rief zur Ruhe auf, zur Besonnenheit, zur Mäßigung, zur Treue. In einem Hirtenbriefe vom 28. März 1848 verurteilte er scharf Faustrecht und Selbsthilfe, die er ringsum am Werke sah. Vor allem: er blickte auch jetzt nicht nur nach Rom, nicht nur nach dem Kirchlichen. Er verkannte nicht, daß in Baiern und anderwärts ein sprunghafter und willkürlicher Halbdespotismus viel gesündigt hatte. Er war auch nach seiner Übersiedlung nach Breslau der klerikalen Regierung in Baiern, in dem Lande, das er am besten kennen und wie seine zweite Heimat lieben gelernt hatte, ein strenger Richter geblieben. Er spottete über den Minister Abel, diesen »baierischen Kirchenvater« und nach Abels Sturz noch sprach er von dessen »kirchlichem und bürokratischem Paschatum.« Daß aber diese einflußreichen baierischen Ultramontanen der sogenannten Spanierin Lola Montez durch königliche Willkür geopfert wurden, empörte ihn. Kaum ein anderer hatte ein besseres Recht als Diepenbrock, über das Münchener Dirnenschauspiel zu Gericht z u sitzen: denn er wagte, dem selbstherrlichen König Ludwig Briefe mit strengen persönlichen und kirchlichen Mahnungen z u schreiben, Briefe voll Würde, denen eine langsame Wirkung denn auch nicht versagt war, Diepenbrock warnte auch vor Beiheft d . H. Z. 7.

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"Überspannung des baierischen Partikularismus. Mitte August 1848, als sich deutsche Einzelstaäten wieder auf ihre eigenen Ansprüche besannen, mahnte er in einem verspäteten Glückwunschschreiben zur Thronbesteigung Maximilians II. zum Maßhalten, damit nicht über der beabsichtigten Erhaltung des Sonderlebens das Gesamtleben zugrunde gehe. Im Revolutionsfrühling war sein ursprüngliches Nationalgefühl, ein p o l i t i s c h e s Nationalgefühl auch, mächtig in ihm aufgewogt. Er sah mit Entsetzen, wie die beschränkte politische Einsicht eines eifervollen Radikalismus auf Bürgerkrieg und Franzosenbündnis hindrängte. »Mir ist« — so schrieb er in jenem Briefe an Charlotte v. Neumayer vom 22. April — »bange um Deutschland. Der kaum emanzipierte Michel kriegt Schläge an allen Seiten und Ecken, und schlägt in seinem Freiheitsrausche auf sich selber los«. Man hat diesen Bischof ganz unpolitisch genannt. So unpolitisch war er jedenfalls nicht, daß er sich keine feste Meinung über Deutschlands Gegenwart und Zukunft gebildet hätte. Er war, wie fast alle kirchlichen Katholiken jener Tage, schon aus kirchlichen Erwägungen heraus, zugleich in überkommenen alten Reichsgedanken großdeutsch gesinnt. Auch ihm, der des Kaisers wie des Königs Untertan war, stand als der höchste innerdeutsche politische Gedanke das große Deutschland unter dem katholischen Habsburger vor der Seele. Friedrich Wilhelms Ablehnung der Paulskirchenkrone im April 1849 erschien ihm weise und edelmütig. Er schrieb dem königlichen Freunde in seiner bildhaften Sprache: »Die Zauberer Ägyptens hofften diesmal glücklicheren Erfolg als vor 3000 Jahren; der Kaiserstab, den sie vor E. Majestät niederlegten, sollte als Schlange diesmal den Königsstab auffressen.... Ist es Gottes Wille zu Deutschlands Heil, so werden auf den deutschen Fürstenstühlen auch die Stimmen der alten Kurfürsten wieder laut werden; E. Majestät werden dann ein freudiges Ja, und Gott sein Amen- sprechen; und Österreichs Kaiser wird dann auch E. Majestät die treue Bruderhand reichen. Fata viam invenient.« Man sieht: zu seinen überkommenen Reichsgedanken, zu seinen reichsständischen romantischen Anschauungen gehörte auch die Vorstellung, daß der König von Preußen nicht aufgehört habe, Kurfürst von Brandenburg zu sein, Kurfürst unter einem habsburgischen Kaiser. Darum mußte Diepenbrock aufatmen, als im November 1850 die Unionspolitik des von ihm persönlich hochgeschätzten Generals Radowitz zerbrach und Preußen nach Olmütz ging. Er war beglückt über den Rückzug des Königs, beglückt, wie er diesem selbst am 8. Dezember 1850 schrieb.



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»als Deutscher, daß nicht mein Vaterland anstatt geeinigt zu werden, von seinen eigenen Söhnen zerrissen und in Brand gesteckt werde, als Christ..., als Bischof..., aber auch als Preuße, daß die ehrenreichen preußischen Waffen keine Siege erfechten, über welche sich Mazzini und Konsorten freuen, die schon jetzt wie die Aasgeier frohlockend krächzen, hoffend, daß sie am Ende den Hauptanteil haben an der Cuvée, wenn der preußische Adler Edelwild erlegt haben würde.« Ein bestimmtes preußisches Staatsgefühl aber fehlte diesem Bischöfe weder damals noch vorher und nachher. Er fühlte sich zunächst allerdings als Untertan, als Vasall des Königs. Aber er zeigte sich immer bereit, den Staat Friedrich Wilhelms IV. zu verteidigen gegen oberflächliche und gehässige klerikale Kritik, mochte sie aus Baiern, aus Westfalen oder woher immer kommen. Er wollte eben das Eigenrecht des preußischen Staates gewahrt wissen, freilich nur im konservativen Reichssinne, wie auch Friedrich Wilhelm selbst etwa es im Jahre 1848 faßte, nicht im Sinnes einer großpreußischen Machtentwicklung oder einer preußischen Vorherrschaft in Deutschland; das Großpreußentum war ihm so wenig nach dem Sinne wie das, was er und andere das »Stockpreußentum« nannten. Diepenbrocks persönliche Beziehungen zum König wurden seit dem Révolutionsjähre nur noch herzlicher, und dem Staate, dessen Verfassung der Kirche grundsätzliche Zugeständnisse von höchstem Werte machte, der ihr die freie Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten überließ, fühlte sich Diepenbrock gerade auch kirchlich enger verbunden. Aber wir sahen schon, wie doch all sein preußisches Empfinden in dem großdeutschen eingebettet war. Seine gemeindeutschen politischen Gedanken in Verbindung mit den kirchlichen Erwägungen haben ihn in den F r ü h l i n g s t a g e n des J a h r e s 1848 sogar unter die Paulskirchen-Politiker geführt. Als Vertreter des Wahlkreises Oppeln ging der Breslauer Bischof Mitte Mai nach Frankfurt in die deutsche Nationalversammlung, unlustig genug, hauptsächlich auf das dringende Zureden seines Domkapitels. Vom politischen Kampfe hielt er sich auch jetzt fern, und als er nach wenigen Wochen schwer erkrankte, war es mit seiner Abgeordnetentätigkeit zu Ende, noch nicht freilich mit seinem Einfluß auf die Besprechung der parla-» mentarischen Kirchenfragen. Er fühlte sich von Anfang an unbehaglich in der Paulskirche, am falschen Orte ; wie Eulen unter Raben, Krähen und Elstern, meinte er, seien die drei anderen Bischöfe und er in diesem Parlament. Er war kein gewiegter, kühl rechnender Diplomat vom Schlage des Kölner Erzbischofs 7*



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G e i s s e i , der in jeder Lage sich zurechtfand und jede Lage auszunutzen wußte. E r wollte auch kein politischer Organisator des Klerus und der Laien sein, wie wiederum Geissei. Aber er war doch nichts weniger als gleichgültig für die besonderen Aufgaben der kirchlich-katholischen Abgeordneten. Der Frankfurter Entwurf der Verfassung des kommenden deutschen Reiches berührte im einzelnen die Kirche ganz unmittelbar; hier waren Kirchen- und Schulfragen bei liberalem Entgegenkommen doch begreiflicherweise nicht gerade im katholischen Sinne behandelt. Wie in Berlin, so in Frankfurt sollten die zahlreichen kirchlichkatholischen Abgeordneten hier ergänzend oder mildernd hier abwehrend einzugreifen suchen, sollten mit Berufung auf die Freiheit die kirchlich gefaßte Freiheit der katholischen Kirche fordern. Das war ja der besondere Sinn der geheimen und öffentlichen kirchlichen Wahlpropaganda, wie sie in Preußen namentlich durch Geissei im großen, im kleinen aber allenthalben durchgeführt worden war. Um die katholischen Gedanken in den deutschen Kirchenfragen mit möglichstem Nachdruck auch parlamentarisch vertreten zu können, schlössen sich fast alle kirchenstrengen katholischen Mitglieder der deutschen Nationalversammlung, ihrer fünfzig und mehr, außerhalb des Parlaments, aber für die Parlamentsarbeit zu einer Vereinigung zusammen. Diepenbrock, gemeinsam mit Radowitz, jenem Freunde Friedrich Wilhelms IV., der ihn acht Jahre zuvor für Köln hatte werben sollen, rief jetzt diese katholische Beratungsgemeinschaft ins Leben. Die Mitglieder dieses katholischen Vereins waren auf die verschiedenen politischen Gruppen der Rechten und der Mitte verteilt oder gehörten, wie Diepenbrock selbst und die meisten übrigen Geistlichen und auch einzelne Laien, keinem politischen Klub an. Dieser katholische Verein sollte alles Politische fernhalten, wollte sich nur mit dem beschäftigen, was unmittelbar mit den Kirchenfragen zusammenhing; es war eine eigens für die Behandlung der Kirchenfragen geschaffene Vereinigung katholischer Parlamentarier, die politisch verschiedene Wege gingen. Eine, man darf sagen, vorbildliche Lösung der schwierigen Aufgabe, kirchliche Ansprüche auf politischem Kampffelde geltend zu machen, ohne die Bewegungsfreiheit stärker zu binden, als eben durch das Kirchliche geboten ist. Eine Lösung, die vielleicht gerade darum, weil sie auch Unkirchlichen vorbildlich scheinen kann, keine dauernde Geltung gewinnen sollte. Aus den Beratungen dieses von Diepenbrock gegründeten, von Radowitz geleiteten katholischen Vereins .gingen die Abänderungs- und Zusatzanträge zu



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dem Verfassungsentwurf hervor, die in der Forderung gipfelten, daß die Religionsgesellschaften als solche unabhängig von der Staatsgewalt sein und ihre Angelegenheiten selbst ordnen und verwalten sollten. Das waren Forderungen, wie sie auch Diepenbrocks festem Kirchenbewußtsein entsprachen. Die Beschränkung der Tätigkeit des katholischen Vereins auf die Kirchensachen aber war seiner religiös gestimmten Natur ganz besonders gemäß; ihm blieb jede Neigung zur Gründung einer politisch-klerikalen Parlamentspartei fremd. Er hat freilich der Paulskirche den Rücken zugekehrt, ehe selbst die preußenfeindlichen politischen Heißsporne unter seinen kirchlichen Freunden den Gedanken einer derartigen Parteibildung ernstlich erwogen. Ende August 1848 kam Diepenbrock aus dem Bade Soden, wo er noch Besprechungen seiner katholischen Parlamentsgenossen unter Teilnahme des päpstlichen Nuntius veranstaltet hatte, in sein Bistum zurück. Es war der endgültige Abschied von der Politik der Nationalversammlung, nicht aber von der Politik überhaupt. Er, der Jünger Sailers mit seiner unzerstörbar beschaulichen Grundstimmung, sehnte sich wahrlich nicht nach der Politik, aber die Politik forderte ihn, die gegenwärtige Politik seines Heimatstaates. Dieser Bischof scheute sich nicht, im Herbste des Revolutionsjahres die Politik des Ministeriums Brandenburg offen mit dem Gewichte bischöflichen Ansehens zu vertreten. Als die von der Regierung vertagte preußische Nationalversammlung Mitte November die Steuerverweigerung beschloß, erließ Diepenbrock sofort einen Hirtenbrief gegen die Steuerverweigerung und damit gegen die vorherrschende Volksstimmung, und das in einem Augenblicke, da, wie Diepenbrock mit berechtigtem Selbstgefühle an Charlotte v. Neumayer schrieb, der Magistrat und sogar der Oberpräsident unter dem Terrorismus der bewaffneten Demagogen die Steuerverweigerung schon angenommen und proklamiert hatten. Gewiß, auch das ist geistliche Politik! Jedenfalls aber darf sie nicht darum, weil sie mit der Regierungspolitik zusammenging, für weniger berechtigt gelten als geistliche Politik überhaupt. Es war eine politische Mahnung auf kirchlicher Grundlage; die Pflicht des Gehorsams gegen den König und insbesondere die Pflicht weiterer Steuerzahlung erklärte er als eine unzweifelhafte heilige Gewissenspflicht für jeden katholischen Christen, da der König nicht aufgehört habe, der rechtmäßige König, die von Gott gesetzte Obrigkeit zu sein. Durch Verbreitung dieser bischöflichen Mahnung oder vielmehr: der Mahnung dieses Bischofs vermochten protestantische Steuereinnehmer in vor-



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wiegend protestantischen schlesischen Landkreisen das zu erreichen, was das Gebot der Regierung nicht erwirkt hatte, die Regierung selbst ließ den Hirtenbrief zu Tausenden in der Provinz verbreiten, und Friedrich Wilhelm persönlich schrieb dem Bischof einen Dankbrief, beglückt über die »wunderbare Wirkung«, die das Hirtenschreiben auf Katholiken und Evangelische gehabt habe. Also ein Sieg Diepenbrocks zugunsten der Staatsmacht, mehr aber noch zu Nutzen des Ansehens der Kirche bei der Staatsmacht und im Lande bei allen konservativ Denkenden. E s war freilich »der« preußische Hirtenbrief. Diepenbrock hielt das, was er tat für einfache Pflichterfüllung, für notwendig gegeben mit seinem Treueide, ja sogar — für ihn besonders bezeichnend! — mit seinem kirchlichen Versprechen, die Wahrheit furchtlos zu verkünden. Die anderen Bischöfe schwiegen, — der Erzbischof Geissei, obwohl er von preußisch gesinnten Katholiken gedrängt wurde. Diepenbrock ging als Freund der gesetzlichen Ordnung, als persönlicher Freund des Königs noch weiter: er ermahnte im Beginn des Jahres 1849 seine Diözesanen zur Gewissenhaftigkeit bei den Wahlen. Er selbst blieb nicht frei von der Sorge, daß ein zu starker Wahlsieg der Regierung den »steifen Bürokraten« wieder zu ihrer alten Macht verhelfen könne. Dennoch wirkte er mit seinen kirchlichen Mitteln nachdrücklich für die Regierung: er schrieb seinen Pfarrern für den Tag vor der Wahl ein Bittamt vor und er selbst hielt einen derartigen Gottesdienst im Breslauer Dome ab. Allerdings brachten die Wahlen nicht den Sieg der Regierungssache: in Schlesien fielen sie immerhin leidlich aus, ungünstiger am Rhein und in Westfalen, wo Diepenbrock einen üblen Geist und das Aufleben der alten, jetzt doch unberechtigten Antipathie gegen das Prcußcntum glaubte feststellen zu müssen. Diese politische Haltung Diepenbrocks hat natürlich nicht wenig dazu beigetragen, sein auf gegenseitiger persönlicher Sympathie ruhendes Vertrauensverhältnis zu Friedrich Wilhelm IV. zu festigen. Denn des Königs Verhältnis zu diesem Bischöfe war allerdings — das zeigt auch der geistig bewegte Briefwechsel beider — das eines persönüchen freundschaftlichen Vertrauens, wie es sich zwischen dem König und dem Kölner Erzbischof, der schon zu Beginn der Regierung Friedrich Wilhelms in den preußischen Staat gekommen war, sich niemals ausgebildet hat, noch hätte ausbilden können. Geissei und Diepenbrock wurden gleichzeitig, im Herbst 1850, Kardinäle der römischen Kirche; die Stelle des preußischen Armeebischofs aber erhielt Diepenbrock als Zeichen, daß der König das Gefühl hege, auf ihn sich verlassen zu können.



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Es wäre nun freilich irrig, wollte man meinen, das persönliche Verhältnis Diepenbrocks zu Friedrich Wilhelm, den er auch im Verfassungsstaate noch ganz unmittelbar als seinen königlichen Herrn und Gebieter ansah, dieses Treuverhältnis hätte den Bischof in seinem kirchenpolitischen Verhalten gegenüber der preußischen Regierung etwa irgendwie gebunden: es hat ihm tatsächlich auch kirchlich nur genützt. Seine grundsätzliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche war ganz und gar die kirchlich-katholische, und er war nicht der Mann, seine kirchlichen Grundsätze preiszugeben. Die deutschen Bischöfe, als deren tätigster Führer auch hier Erzbischof Geissei von Köln erscheint, benutzten die günstige Lage im Jahre 1848 zu gemeinsamem Auftreten und gemeinsamen Forderungen gegenüber den Regierungen. Diepenbrock hat an der großen Würzburger Bischofsversammlung vom Herbst 1848 nicht persönlich teilgenommen; er ließ sich durch seinen vertrauten Domherrn Heinrich Förster, den späteren Fürstbischof, vertreten. Aber er hat doch an der ersten Vorbereitung dieser Tagung wesentlichen Anteil und wenn er auch jetzt, anders als die leidenschaftlichen Kirchenpolitiker, vor allem an die Kräftigung des inneren Lebens der Kirche dachte, so lag es ihm doch fern, in der Vertretung kirchlicher Ansprüche gegen den Staat von der Bischofsgemeinschaft irgendwie abzurücken; im Gegenteil, er war von Grund auf einverstanden mit den Würzburger Beschlüssen, die dem Staatskirchenrecht das kanonische Recht entgegenstellten und für die Kirche innerhalb des Staatsverbandes die vollste Freiheit und Selbständigkeit begehrten. Der Unterschied zwischen Geissei und Diepenbrock ist nicht darin gegeben, daß der Kölner Erzbischof (wie der erste altkatholische deutsche Bischof in seiner Biographie Diepenbrocks urteilt) »dem Staate in der Stunde seiner Ratlosigkeit soviel Rechte als möglich zu entreißen« suchte: denn die Gewinnung dieser Rechte wünschte auch Diepenbrock; und die preußische Verfassung war ihm so sehr wie etwa dem jüngeren und begehrlicheren Ketteier doch eben vor allem wegen ihrer günstigen Kirchenparagraphen wertvoll, und er hatte sich bemüht, den kirchlich-bischöflichen Einfluß bei der endgültigen Gestaltung der Verfassung in Berlin unmittelbar wirken zu lassen. Das Eigentümliche Diepenbrocks liegt vielmehr darin, daß er anders als der glatte und kühle Kirchendiplomat Geissei die politischen Vorgänge mit einem freilich großdeutsch begrenzten, preußischen Staatsgefühle und in persönlicher Verehrung Friedrich Wilhelm IV. beurteilte und daß er sich redlich mühte, nach dem Maße kirch-

— 104 — licher Möglichkeiten auch dem Staate als solchem und nicht lediglich dem Staate als dem Helfer der Kirche zu dienen. Noch mitten in einem heftigen, selbst in die Presse übergreifenden Prinzipienstreite mit dem Kultusminister v. Ladenberg (1850) konnte Diepenbrock den Gedanken an die Unannehmlichkeiten dieses Kampfes auch für Staat und Regierung nicht loswerden; seiner vertrauten Schwester schrieb er, an der Sache freue ihn das nicht, »daß die Demagogen sich darüber freuen«, und es war ihm eine Beruhigung, daß der Ausgang, der »die Ehre und Rechte der Kirche« vollkommen befriedigte, zugleich die Regierung »aus der Klemme« befreite. Aber auch Diepenbrock vermochte doch den kirchlichen Sieg über den weltlichen Staat mit geistlicher Freude zu genießen, und in jener Streitsache selbst war er schlechthin der Sieger, den sogar die Kurie eigens beglückwünschen ließ. Es handelte sich um ein Verbot für die Anstaltsgeistlichen, den Eid auf die Verfassung zu leisten, ohne die Rechte der Kirche ausdrücklich vorzubehalten. Diepenbrock setzte seinen Standpunkt durch, ja er konnte sein anfängliches Zugeständnis, daß die von ihm ernannten, geistlichen Schulinspektoren wenigstens den bedingten Eid leisten dürften, wieder zurücknehmen. Die bedingungslose Eidesleistung wurde auch den Breslauer Theologieprofessoren mit Erfolg kirchlich untersagt. Diepenbrock verstand es also wahrlich nicht schlecht, kirchliche Rechte und Ansprüche zu vertreten. Mußte er das in Preußen gegen den Kultusminister tun, so konnte er sich in Österreich vielmehr geradezu auf den ausdrücklichen Wunsch des Kultusministers stützen: Freilich war das der klerikal-feudale Graf Leo Thun. Wie entschieden Diepenbrock persönlich das alte Staatskirchenrecht, den überkommenen, jetzt freilich auch von der Regierung preisgegebenen österreichischen Josephismus verwarf, hatte er kurz vor der Berufung des Grafen Thun in stiller Arbeit und vor aller Öffentlichkeit erkennen lassen Auf der großen, mehr als sieben Wochen währenden Wiener Versammlung des österreichischen Episkopats zeigte er sich, wie er selbst bekannte, als »Haupt-Oppositionsmann gegen das alte josephinische System«, und er durfte sich sagen lassen, er »habe ein etwas fremdartiges frisches Element und Ferment in die träge einförmige Masse gebracht«. Ein etwas übertreibendes Wort, denn manche dieser österreichischen Bischöfe, wie etwa der Kardinal Schwarzenberg und vor allem der Fürstbischof Rauscher von Seckau, der künftige Wiener Erzbischof, gehörten gewiß nicht zur trägen Masse. Aber es bezeichnet doch den großen Eindruck der Persönlichkeit



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Diepenbrocks, daß er, der Preuße, den Hirtenbrief verfaßte, den diese in Wien vereinigten 35 österreichischen Bischöfe an die Gläubigen ergehen ließen. Wie die Denkschrift dieser österreichischen Bischöfe, so verkündet dieser Hirtenbrief das freie Recht der Kirche, und inmitten der religiösen Bekenntnisse und Ermahnungen, die der frommen Seele dieses Bischofs entströmten, erhebt sich der kirchliche Anspruch auf die Geltung des kanonischen Rechts, und auch Diepenbrock denkt kanonisch, denkt bischöflich genug, um etwa die kirchliche Leitung des Schulwesens zu den notwendigen kirchlichen Förderungen zu rechnen. Ihm persönlich aber durfte es auch wie eine diplomatische, eine politische Rechtfertigung seiner Wiener Kundgebung erscheinen, wenn Friedrich Wilhelm IV. sie begrüßte als ein würdiges, heilsames und kräftiges Wort, wie es der Zeit nottue. Nicht lediglich, aber doch wesentlich darum, weil er durch die persönliche Meinung des Königs gedeckt ward, konnte Diepenbrock in Preußen so kräftig und erfolgreich im kirchlichen Sinne auftreten. Auch er ließ das Wort »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen« mit allen kirchlichen Folgerungen gelten. In einem Hirtenbriefe vom November 1849 erklärte er, gewiß wiederum zugleich zu christlicher Bescheidenheit und Mäßigung mahnend, doch fest und klar, die Katholiken würden, wenn alte oder neue Gesetze ihnen etwas wider Gottes Willen auferlegen sollten, offen den Machthabern sagen: dies ist uns nicht erlaubt! In einem Briefe aber, den er etliche Wochen später als Geleite einiger kritischen Bemerkungen zu der revidierten preußischen Verfassung dem König schickte, hat er seine Grundanschauung nochmals aufgedeckt, mit der eigenen Stimmung zugleich die des Königs und den Zusammenklang bezeichnend: »Das Vertrauen meines Klerus und der Gläubigen.... beruht auf der Überzeugung, daß ich ebenso mannhaft für das Recht der Kirche wie für das des Thrones einstehen werde. Und fürwahr, täte ich es nicht, ich wäre gewiß auch in den Augen meines Königs ein schlechter Bischof, ein stummer Hund nach dem Propheten.« Und Diepenbrock hat, nach dem Jahre 1848, auch die Frage der K l e r i k e r e r z i e h u n g mit jener bischöflichen Strenge aufgefaßt, die dem Staate keinen Anteil mehr lassen wollte an der Ausbildung der Priester. Am 1. Mai 1851 eröffnete der Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel Freiherr v. Ketteier gegen das förmliche, wenn schon nicht öffentliche Verbot der Darmstädter Regierung seine bischöfliche Lehranstalt am Mainzer Priesterseminar und nahm damit der staatlichen katholisch-theologischen



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Fakultät in Gießen ihre Hörer. Wenige Tage, nachdem dieser glänzende Bischofssieg über den Staat unter dem lauten oder stillen Jubel der ganzen geistlichen Welt errungen worden war, schrieb Diepenbrock in einem Nachtrage zu seinem im November 1848 aufgesetzten Testament: »Als das dringendste Zeitbedürfnis erkenne ich die Erweiterung des Klerikal-Diözesan-Seminars zu einer den ganzen Kursus der Theologie zunächst, und dann auch ein seminarium puerorum umfassenden geistlichen Erziehungs- und Bildungs-Anstalt... Sollte ich noch länger leben, so werde ich die Verwirklichung dieses Zweckes selbst nach Möglichkeit anstreben. Sonst wird mein Amtsnachfolger . . . sich diese Verwirklichung. . . zur heiligen Aufgabe zu machen, hiermit dringend von mir gebeten und beauftragt.« So hatte Diepenbrock in der Frage der geistlichen Erziehung unmittelbar und bereitwillig gelernt von dem kraftvoll bewußt gegen Staatsansprüche und Weltgedanken ankämpfenden jüngeren Mitbischof. Als Ketteier noch Berliner Propst war und dem Breslauer Fürstbischof kirchlich unterstand, hegte Diepenbrock ein wenig Sorge vor dem temperamentvollen Kircheneifer seines Landsmannes. Der wirkungsvolle Zusammenschluß des österreichischen Episkopats, die ersten Vorstöße der Bischöfe Baierns und der Oberrheinischen Kirchenprovinz gegen das überkommene Staatskirchenrecht, der große tatsächliche Erfolg vor allem des noch nicht vierzigjährigen Bischofs Ketteier, das alles zeigte ihm, daß sich den kirchlichen Ansprüchen eine freiere Bahn eröffne. Jetzt mochte ihm unter seinen Erinnerungen an Sailer die eine wie ein bedeutungsvoller Mahnruf erscheinen, daß dieser sein milder greiser Freund als Regensburger Bischof in dem damaligen Streit mit dem Staate, in der Frage der gemischten Ehen den strengen Standpunkt der Kirche vertreten hatte, und er mußte sich sagen, daß fortan immer mehr auch ein Bischof im Geiste Sailers dem Bekenntnisse zur betenden Priesterlichkeit das Bekenntnis zur kämpfenden Bischöflichkeit werde gesellen müssen. Der Mainzer Bischof, der vom Geiste Sailers nicht mehr bestimmt wurde, aber mit gutem Rechte als ein Muster der Frömmigkeit zugleich und der hierarchischen Bewußtheit galt, erschien jetzt dem bischöflichen Schüler Sailers als der rechte Bischof der neuen Art und der Mann der Zukunft; er wünschte sich Ketteier als den Nachfolger, dem er die Erfüllung jener bischöflichen Aufgaben zudachte, die er selbst nun nicht mehr lösen konnte. In einem Gespräche aber mit dem Domherrn Förster, der tatsächlich sein Nachfolger werden sollte (der Berliner Regierung war der fast von dem ganzen Breslauer Domkapitel gewünschte Ketteier



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nicht genehm), während seiner letzten Krankheit (im Januar 1853 ist Diepenbrock erst 55 Jahre alt, gestorben) hat er noch einmal den kirchenpolitischen Grundgedanken ausgesprochen, der auch in seinen Briefen an Friedrich Wilhelm IV. wirkend hinter den Worten steht: die wahre Überwindung der Revolution in Europa ist unmöglich, wenn »das Eine, was nottut«, vergessen wird; die freie Kirche allein ist berufen .zu dem Siege über die Mächte des Umsturzes. »Die freie Kirche« — das war das Ideal aller Kirchenstrengen, wo immer sie geistig wurzeln mochten. Auch Diepenbrock, Sailers schwärmerischer Jünger, hatte sich hineinfinden müssen und willig hineingefunden in die festen Formen der katholischen Kirche. Er fügte sich den Forderungen der Hierarchie, der er dienend und gebietend zugleich angehörte. Gewiß: in einer einförmiger werdenden Kirchenwelt hat dieser Bischof das feingeprägte Bild seiner Persönlichkeit bewahrt. Auch im Kirchlichen behauptete er auf dem freigegebenen Räume sein Eigenrecht. Geistlicher Hochmut und hierarchische Herrschsucht blieben ihm fremd. Aber auch in seinem kirchlichen Wollen und bischöflichen Handeln erkennt man die allen wahrhaft kirchlich gesinnten Trägern der Kirchengewalt gemeinsamen, die ewig beharrenden Züge des Katholizismus, der im Glauben an seinen Ursprung, seine Aufgaben und sein letztes Ziel sich erhaben fühlt über alles Erdenhafte und dennoch oder gerade darum sich für berufen hält, die Fragen auch dieser Welt zu entscheiden.

Döllinger (1799—1890). Ein kirchliches Gelehrtenleben, das auf der letzten Wegestrecke hineingezogen wurde in die von edlen und kleinen Leidenschaften angetriebenen Kämpfe innerhalb der katholischen Kirche und zwischen dieser Kirche und der Welt. Ein Leben, überreich an fruchtbarer wissenschaftlich-theologischer und kirchlichkirchenpolitischer Arbeit: ein Leben, das begann, als das alte deutsche Reich dem Ansturm der Revolution noch nicht erlegen war, und erst zwei Jahrzehnte nach der Begründung des neuen Reiches endete. Dieses Leben, im großen genommen ein deutsches. Gelehrtendasein, entbehrt doch nicht der dramatischen Spannung, und der große dramatische Wendepunkt, der durch das Vatikanische Konzil bezeichnet wird, springt jedem in die Augen. Auch eine geschichtliche Betrachtung, die sich durch den Streit der Parteien nicht gebunden fühlt, wird hingezogen, läßt sich bewußt hinleiten auf den Augenblick, da der Historiker Döllinger den Kirchenmann überwand. Aber der geschichtlichen Betrachtung wird es deutlicher sein, daß der Kampf von 1869/70 auch in Döllingers eigener Seele schon länger vorbereitet war, daß aber dieser Kampf nicht zu einem glatten Siege neuer und dem Katholizismus wesensfremder Gedanken über das alte Katholische führte, daß dieses vielmehr in seinem Wesen sich behauptete, freilich unter tatsächlicher Loslösung von der Kirche, die auch Döllinger vorher als Herrin und Hüterin des Katholizismus anerkannt hatte. Bleiben also wesentlich katholische Gedanken für die Dauer das Bestimmende in Döllingers geistiger Art, so muß schon darum dieses Katholische als solches in Döllingers kirchlich-katholischer Zeit genau beobachtet werden. Die Betrachtung seines Lebens darf also nicht einfach unter die Gesichtspunkte gestellt werden, die sich aus seinem Bruche mit der römisch-katholischen Kirche ergeben. Derartige Gedanken dürfen sich nicht vordrängen. Das bodenständige und massive Kirchlich-Katholische in dem früheren Döllinger will beobachtet sein, beobachtet auch in der Wirkung auf Döllingers wissenschaftliche Arbeit, und der Einfluß der kirchlichen Absichten muß wenigstens an dem Hauptwerke



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•der früheren Jahre, an der Reformationsgeschichte auch im einzelnen festgestellt werden. Josef Ignaz Döllinger ist in einem hochgebildeten katholischen Elternhause aufgewachsen; aber die Familie war katholisch im Sinne der freier denkenden Deutschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der geistigen Freunde maßvoller Aufklärung: der Knabe mußte der Mutter selbst Zschokkes »Stunden der Andacht« vorlesen, und man war sehr erregt und dem Klerus gram, als dieses protestantische Buch bald als Werk des Satans verdammt wurde. Mit dem nicht gerade kirchlich-katholisch denkenden Vater, dem hervorragenden Physiologen und Anatomen, der nach Aufhebung der Universität Bamberg in Würzburg wirkte, teilte der Sohn den historischen Sinn, Verständnis für die Geisteswissenschaften zugleich und die Naturwissenschaften, die kühle Klarheit des Urteilens und die Neigung zum Sarkasmus. Den Studenten, der in Würzburg allerlei Philosophisch-Philologisches und dann erst Theologie betrieb, bildeten die Bücher mehr als die Lehrer. E s mag die Stimmung der nachvatikanischen Zeit mitwirken, aber etwas Ursprüngliches muß doch in seinen späten kritischen oder bissigen Bemerkungen über seine Studienzeit liegen, etwa in seinem Spott über »die schlichten Albernheiten«, die er in Hörsälen zu vernehmen meinte. Zur Theologie trieb ihn ohne Frage auch kirchlich-religiöses Empfinden. Was ihn zu diesem Studium hinführte, wird gewiß nicht ganz richtig gekennzeichnet durch die abweisende Ausschließlichkeit seines späten Wortes: »Mir war die Theologie (oder die auf Theologie gegründete Wissenschaft überhaupt) der Zweck, und die Wahl des Standes nur das Mittel.« Sein stark protestantisch empfindender fränkischer Freund Graf August Platen allerdings meinte, obwohl er an Döllingers Hinneigung zu Friedrich Schlegel und anderen dem Dichter verhaßten Romantikern Anstoß nahm, den Theologiestudenten Döllinger sehr aufgeklärt, sehr tolerant nennen zu dürfen. Aber wir erfahren von Döllinger selbst, daß die Würzburger katholische Gegenarbeit gegen das Reformationsfest von 1 8 1 7 ihm Eindruck machte, und daß er aus Luthers Altersschrift über das Papsttum, die man damals zur abschreckenden Aufklärung über den Reformator den katholischen Theologen in die Hände gab, tatsächlich für sich den Gedanken herausholte, den Kampf gegen den angeblich dahinsiechenden Protestantismus bis zum siegreichen Ende durchzuführen. Auch wies er sehr bewußt, mit starkem kirchlichem Gefühle den Aufklärungsgeist von sich, der in den kirchengeschichtlichen Vorträgen seiner Lehrer herrschte, und stark kritische



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oder gar skeptische Urteile über das Papsttum, über die Jesuiten, über kirchliche Einrichtungen aller Art waren nicht nach seinem Sinne. Der werdende Gelehrte suchte sich noch ohne strenge Wahl, aber in einem echten Forscherdrange über alte und neue Darstellungen hinweg aus den Quellen selbst eine kirchengeschichtliche Anschauung zu bilden. Er hat etwa das Riesenwerk des Cäsar Baronius ganz durchgearbeitet, diese quellenmäßigen Annales ecclesiastici, die von dem Kardinal der Gegenreformation freilich als Kampfwerk gegen die protestantischen Magdeburger Centurien gedacht und angelegt waren; wissenschaftliche Leistung und polemische Absicht verbanden sich auch hier, und das gerade entsprach Döllingers eigener Stimmung. Zuerst und zuletzt war er auch jetzt Theolog, ein Theolog, der geistlich, priesterlich genug empfand, um sich recht eigentlich zu sehnen nach der Aufnahme in das Bamberger geistliche Seminar. Nach dem Ende der Seminarzeit aber wirkte der akademische Sinn, der nach Döllingers spätem Wort ihn überhaupt zur Theologie geführt hätte, noch so wenig bestimmend auf ihn, daß er sich nichts wünschte als eine Landpfarrei: allerdings, dem rückblickenden Bekenntnis nach, nicht lediglich aus seelsorgerischem Triebe, vielmehr ganz wesentlich in dem Gedanken an wissenschaftliches Studium, mehr freilich an aufnehmendes, als an selbständig gestaltendes Arbeiten. Er hat als Kaplan denn auch vor allem seine Sprachstudien fortgesetzt, allein und mit Platen zusammen Sanskrit getrieben. Sein Vater aber brachte es dahin, daß der junge Geistliche nach einem Jahre schon die Seelsorgerstelle mit der Professur für Kirchengeschichte und Kirchenrecht am Lyzeum zu Aschaffenburg vertauschen mußte (Herbst 1823) — »mußte«, denn er selbst (das hat er später wieder und wieder erzählt) dachte gar nicht daran, sich von der freundlichen fränkischen Pfarrei zu trennen. In A s c h a f f e n b u r g erst tauchten eigene wissenschaftliche Pläne in Döllingers Geist auf. E r wollte z. B. eine theologische Enzyklopädie ins Leben rufen, bezeichnenderweise in Verbindung mit dem Mainzer Kreise, d. h. mit den Theologen, die sich schroffer als die meisten süddeutschen theologischen Schulen von der. Aufklärung abkehrten und dem Papalismus zwar noch nicht völlig hingegeben, aber freundlich zugewandt waren. Er persönlich allerdings fühlte sich vor allem durch Möhlers Buch über »Die Einheit in der Kirche« auf tiefste angeregt, noch stärker dann durch die Theosophie Franz Baaders. Aber man darf in dem jungen Theologen nicht den kühlen, überlegenen Gelehrten suchen wollen;



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es sollte noch ein Menschenalter währen, bis sich Döllinger aus der hergebrachten und nun gerade auch durch Möhler bald neu belebten Apologetenstimmung herausfand. Der Aschaffenburger Professor fühlte sich als Verteidiger der Wahrheit »der guten Sache«; er kannte keinen erhabeneren Beruf »als den, mündlich und schriftlich dazu beizutragen, daß die Wahrheit und Alleingültigkeit der katholischen Religion immer mehr erkannt, und besonders der Vorwurf der Veränderlichkeit im Glauben, der ihr von protestantischen Theologen so oft gemacht wird« abgewiesen werde. Kirchengeschichte und Patristik waren es, die ihm den wissenschaftlichen Boden für diese außerwissenschaftlichen Absichten bieten sollten. In solchem Geiste schrieb er sein Erstlingswerk über die Eucharistie, das als gelehrte Untersuchung Eindruck machte. Anderthalb Jahre später, im Herbst 1827, wurde er zum außerordentlichen Professor an der neu eingerichteten Universität München ernannt, obwohl ein so einflußreicher und maßvoller Mann wie der Bischof Sailer dem begabten jungen Gelehrten, der ihm für ausnehmend selbstbewußt, ja hoffärtig und eitel galt, lieber noch die Probezeit der Privatdozentenschaft auferlegt gesehen hätte. Auch in München dachte Döllinger vor allem daran, daß der »gut gesinnten Partei« das Übergewicht gesichert bleibe, und etwa die Berufung des immer mehr zum Katholizismus der Propaganda sich hinwendenden Josef Görres betrachtete er zuerst und zuletzt als Sieg der eigenen Partei. Gewiß zeigte seine akademische Antrittsrede »Uber die Ausbreitung des Christentums«, daß er in die Überlieferung der frühchristlichen Zeit schon früh eingedrungen war. Aber er stand doch, und das ist das Wichtigere, ganz fest bei dem Ansprüche, daß jegliche Wissenschaft ihren bestimmenden, ihren letzten Sinn erst durch die Theologie erhalte, daß sie theologisch begründet und theologisch gekrönt werden müsse. Er gab dem mittelalterlichen Worte, wonach die weltliche Wissenschaft die Magd der geistlichen sein soll, nur äußerlich eine gefälligere Abwandlung. Dieser gelehrte und wissenschaftlich begabte Theolog war ein eifervoller Kirchenpolitiker. Jede Kritik an seiner Kirche empfand er zugleich als persönlichen Schmerz. Wo die Kritik so scharf in das Kirchenleben einschnitt, wie in dem Theinerschen Kampfe gegen den Zölibat, neigte er zu der entschlossensten Abwehr. Er bewegte sich in hierarchischen Gedankengängen. E r erwog wohl, was die deutschen Bischöfe sein und was sie tun müßten, um die Macht des kirchlichen Gedankens wirksamer in die Welt hineinzubringen. In Übereinstimmung mit dem ihm befreundeten Straßburger Professor und künftigen Bischof



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Andreas Räß, einem der tätigsten Kleriker aus dem Mainzer Kreise klagte er (Mai 1826) über die pusillanimité des deutschen Klerus; sah er einen Grund für diese Entscheidung in dem Mangel an Entgegenkommen bei Regierungen und Beamtenschaft, so schob er doch der Zurückhaltung dem Stillsitzen und Schweigen des Episkopats die Hauptschuld zu, und meinte er wiederum in vertrautem Briefe an Räß geradezu mit dem Blick auf Baiern zu Ende des Jahres 1828 : »Bei den Bischöfen fehlt es vornehmlich an der sc notwendigen engeren Verbindung; jeder steht isoliert und kümmert sich nicht um den anderen — doch es fehlt noch gar viel; diese Hierarchen sind wohl, bis auf ein paar rühmliche Ausnahmen haut spiritu sancto zu ihrem Posten gekommen.« Auch bischöfliche Gedanken über die allgemeine Kirche beschäftigten ihn. Die Zeitschrift der Münchener Kirchenstrengen, die im Frühjahr 1828 durch den Görreskreis übernommene »Eos«, die unter den besonderen Einfluß Döllingers kam, hat hierin ähnliche Anschauungen vertreten, wie man sie bei Möhler findet, nur mit stärkerer Wendung zum Papste hin. Im Jahre 1829 z. B. wurde hier erklärt: »Das richtige und wohlgeordnete Verhältnis