Doktor Claudius: Eine wahre Geschichte [Reprint 2020 ed.] 9783112375747, 9783112375730


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German Pages 376 [390] Year 1892

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Doktor Claudius: Eine wahre Geschichte [Reprint 2020 ed.]
 9783112375747, 9783112375730

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Doktor Claudius Eine wahre Geschichte von

F. Marion Crawford.

Autorisirte Uebersetzung von

Th. Höpfner.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer.

1892.

Erstes Kapitel. „Ich glaube, ich werde alt!" sagte der Doktor, indem er seinen geradlehnigen Holzstuhl vom Tisch zurückschob und von seinen Büchern aufblickte, um aus seinem kleinen Fenster Hinauszuschauen. „Ja, ich bin wirklich schon recht alt!" sagte er wieder und trommelte zerstreut mit dem Federhalter aus der Armlehne des Stuhles. Aber die Finger, welche die Feder hielten, waren weder mager noch welk, und die Hand zitterte nicht bei der halb unwillkürlichen Bewegung. Das lange blonde Haar hing dicht um den kräftigen Kopf und die breiten Schultern waren gerade und wohlgesormt. Was auch Dr. Claudius von sich sagen mochte, — alt sah er nicht aus. Und doch sagte er sich, daß er es wäre, und am Ende mußte er es doch wissen. Seit Monaten sagte er sich Tag für Tag, daß dieses den Unterschied ausmachte zwischen seinem Leben und dem seiner Genossen — insofern er deren hatte — zwischen ihnen und seinen Gedanken, ihrer und seiner Art und Weise. Mehr und mehr hatte sich in letzter Zeit diese durch Einsamkeit und allzueifrige Nachtarbeit erzeugte Einbildung seiner Phantasie bemächtigt, und als er sein Gesicht dem Abendscheine zuwandte, hätte ein zu­ fälliger Beobachter ihm allenfalls beistimmen können. Sein 1*

4 Gesicht war blaß, und die große Adlernase scharf gezeichnet. Ueberdies stand das wirre Haar und der ungepflegte Bart in sonderbarem Gegensatze zu dem saubern breiten Kragen und dem schlichten schwarzen Hausrock. Die lang gewohnte Sauberkeit im Anzuge überdauerte jegliche kleine persönliche Eitelkeit. Er stand auf, warf die Feder ungeduldig auf den Tisch, ging an das kleine Fenster und schaute hinaus. Seine Schultern überragten die Fensteröffnung zu beiden Seiten, als er seinen blonden Kopf in den Abendfonnen­ schein hinausstreckte; Meister Simpelmayer, der Schuh­ macher gegenüber, blickte auf, und als er sah, daß der Herr Doktor seine Abendportion Neckarwind einsog, legte er den Pfriemen nieder und ging zu seinem Vesperbrod, einem Maaß kühlen Bieres und einer Bretzel. Denn der Herr Doktor war ein Mann von regelmäßigen Gewohn­ heiten und erschien immer zur selben Stunde am Fenster, im Regen wie im Sonnenschein, und wenn Simpelmayer die abgetragenen Schuhe ausbefserte, die ihm von Zeit zu Zeit herübergeschickt wurden, so wußte er, daß der blonde Gelehrte nicht vor Sonnenuntergang herüberkommen und fragen würde, ob sie fertig wären. An diesem Abend aber hatte er nichts für den Herrn Doktor auSzubeffern, und so füllte sich der kleine krumme Schuster seine Pfeife, schob seine Schürze zurecht und humpelte gemächlich nach der Kneipe an der Ecke, wo er und seines Gleichen sich ihren Schoppen und ihre Pfeife schmecken ließen, ohne daß die lustigen Streiche der Studenten sie dabei störten. Aber der Doktor blieb am Fenster und gönnte Meister Sim­ pelmayer weder Blick noch Gruß. Er dachte just nicht an Schuhe und Schuhmacher, und doch sah er so aus, als ob er recht ernstlich über etwas nachdächte. Das

5 konnte er auch wohl, denn er hatte ernste Sachen gelesen. Die Wände seines kleinen Zimmers waren mit Büchern bedeckt und auf dem Tische stand ein kleines Gestell für solche, die er bei seiner Arbeit zur Hand haben mußte. Ein seltenes Exemplar des Sextus Empiricus, mit griechischem und lateinischem Text, lag aufgeschlagen auf einem Lese­ pult an einer Seite des Tisches, daneben viele Papiere mit mathematischen Figuren, seltsamen Gleichungen und algebraischen Formeln bedeckt. Abgegriffene Bände von mathematischen Werken in englischer, deutscher und fran­ zösischer Sprache lagen herum, an verschiedenen Stellen aufgeschlagen, auch stand bet ein geborstener alter Teller halb voll Tabacksasche und Cigarettenstümpfchen. Die sonstige Einrichtung war einfach und spärlich: ein sauberes Feldbett, ein Stiefelknecht, ein runder Spiegel von etwa vier Zoll im Durchmesser; ein zinnerner Kübel und ein eiserner Waschtisch; ein zerpaukter alter Schläger, mit zerschliffenen Bändern am Griff hing über dem eisernen Ofen, und das war Alles, was das Zimmer außer den Büchern, dem Arbeitstisch und Stuhl enthielt. Es wäre unmöglich, sich einfacher einzurichten, und doch war Alles rein und sauber und trug ein gewisses individuelles Gepräge. Wahr­ scheinlich gab es in Heidelberg hunderte von Studirzimmern, die nicht mehr Schmuck oder Luxus aufzuweisen hatten als dieses und doch sah keines so aus wie dies. Das Zimmer eines Gelehrten wird mit der Zeit ein Spiegelbild seiner selbst; es ist eine Art Nebelbild, in dem gewisse Bücher und Gegenstände allmählich verschwinden, während seine Ansichten sich fester gestalten, und während er nur noch Werke ansammelt, die ihn wirklich interessiren, statt derer, welche er während seiner Universitätsstudien benutzen mußte. Man sagt im menschlichen Körper ver-

6 ändere sich jeder Knochentheil und jede Faser binnen sieben Jahren — so schaut sich der Studirende eines Tages

um und bemerkt, daß kaum ein Buch oder eine Schrift von der ganzen Maffe übrig ist, mit der er sich in den Monaten vor seinem Examen oder seiner Disputation

beschäftigt hatte.

Sobald ein Mann seine Laufbahn in

vollem Ernst begonnen hat, merkt er bald, daß alle Bücher

und sonstigen Dinge, die er nicht bei seiner Arbeit braucht, sich in staubigen Ecken oder auf den unzugänglichen obersten Brettern seiner Bücherregale verkriechen, wenn sie nicht, falls er sehr arm ist, zum Antiquar wandern. kann sich nicht durch Ballast

Er

ehindern lassen.

Nun hatte Dr. Claudius manche Wandlung in seinem Denken und seinen Lebensgewohnheiten durchgemacht, seit er vor zehn Jahren nach Heidelberg kam; nie aber hatte

er seine Wohnung gewechselt, denn er liebte sein Dachfensterchen und die durch keine Besuche gestörte Ruhe, welche ihm seine drei Treppen sicherten. Das Feldbett in der Ecke war das erste, auf dem er nach seinem ersten Duell gelegen hatte, mit einem Eisbeutel auf dem Kopfe

und seinem Busenfreund mit einer langen Pfeife neben sich. An diesem Tische hatte er die erste Carricatur von Herrn Profeffor Winkelnase gezeichnet, die eingerahmt und in seiner Corps-Kneipe aufgehängt worden war; an dem­ selben Tische hatte er die Thesen zu seiner Promotion ge­ schrieben und hier hatte er auch die Notizen zu seiner ersten Vorlesung aufgesetzt. Profeffor Winkelnase war todt; keiner

seiner Corpsbrüder war mehr in Heidelberg, aber er hing an dem alten Zimmer. Die gelehrten Doktoren, mit denen er Abends, wenn er aus seiner Einsamkeit heraustrat, sein Glas Wein oder Bier trank, wunderten sich über seine Lebensweise;

denn nach süddeutschen

Begriffen war Dr.

7 Claudius nicht arm. Er hatte zunächst ein mäßiges Pri­ vateinkommen und dann brachten ihm seine Vorlesungen etwas ein, sodaß er sich ein Paar Parterrezimmer miethen und ganz nach seinem Behagen hätte.einrichten können. Aber niemand versuchte es, über Dr. Claudius ins Klare zu kommen. Er war eine Zierde für die Universität, wo Kräfte ersten Ranges selten sind, — denn Heidelberg ist nicht ein Sitz hervorragender Gelehrsamkeit, und keiner zer­ brach sich den Kopf darüber, weshalb er nicht in sein Vaterland zurückkehrte, nachdem er den Titel Dr. phil. er­ worben hatte. Wenn er aber sein ganzes Leben in Heidelberg zubringen wollte, so war es freilich hohe Zeit für ihn zu heirathen und ein ordentliches Phisisterleben anzufangen, — das hatte wenigstens Dr. Wiener seit einem Jahre jeden Abend beim zweiten Schoppen zu Dr. Wurst gesägt. Aber Claudius heirathete nicht; er ließ nicht ein Mal seine blauen Augen auf dem schwarzäugigen Fräulein Wiener oder auf dem rothwangigen Fräulein Wurst ruhen. Gelegentlich nahm er wohl eine Einladung zum Kaffee bei einem seiner College» an, aber er sprach wenig und benahm sich sehr ruhig. Vor zehn Jahren freilich, als sein blondes Haar und seine hohe schlanke Gestalt die Schwärmerei aller Bürgermädchen in der Hirschgasse und in der Lang­ gaffe waren, war er wild genug gewesen, doch mit den Jahren und fortgesetztem Studium waren die Hauptzüge seines Wesens hervorgetreten, ein gleichmäßig ruhiges Be­ nehmen, regelmäßige Gewohnheiten und eine gewisse Abge­ messenheit in Gang und Bewegung, die zu seiner hoch­ ragenden Gestalt und hünenhaften Kraft wohl paßte. Er war durchaus selbständig in seiner ganzen Art und Weise, ohne eine Spur von der Arroganz, wie sie Leuten anhastet, deren Selbständigkeit nur eine gemachte ist und immerfort

8 betont wird, um dem zu erwartenden Widerspruche Anderer zuvorzukommen. Dr. Claudius war von Geburt ein Schwede und hatte seine erste Bildung in seinem Vaterland empfangen; als es ihm, im Alter von zwanzig Jahren frei stand, zu gehen wohin er wollte, war er nach Heidelberg gewandert, um dort das ideale Studentenleben zu genießen, von dem er in seiner nordischen Heimath so viel gelesen hatte. — Ta­ lentvoll, jung und selbständig, machte er sich wenig aus den nationalen Feindseligkeiten zwischen Skandinavcn und Deutschen, und wie alle Ausländer, die sich verständig be­ tragen, wurde er von den enthusiastischen Studenten mit offenen Armen ausgenommen, sie sahen in ihm den Typus des Gothen, den Prototypus der teutonischen Racen, und als sie merkten, wie schnell er Säbel und Schläger hand­ haben lernte, und daß er, als echter Sohn Odins, das große Trinkhorn mit Braunbier auf einen Zug leeren konnte und sie durch den Schaum auf seinem blonden Barte anlachte, da wurde, er für sie die Verkörperung des Studenten, wie er sein soll. Aber von alledem war jetzt nur noch wenig übrig geblieben; obgleich die kräftige Ge­ stalt in ihren männlichen Formen stärker und sehniger, und der blonde Bart lang und kraus geworden und das Haar so voll wie je war, so war doch die Frische der Jugend dahin; und Dr. Claudius bog sich aus dem Fenster und sog den Hauch vom Fluß her ein und sagte sich, der wäre nicht so frisch wie früher, und daß er, trotz seiner dreißig Sommer, alt, sehr alt würde! und darum mochte er auch nicht mehr länger als eine halbe Stunde des Abends mit Dr. Wiener und Dr. Wurst zubringen. Es war in der That ein unnatürliches Leben für einen Mann in seiner Vollkraft, voll Phantasie und Talent

9 und Schönheitssinn. Aber er war auf die Bahn philoso­ phischer Studien gerathen welche früher oder später so viele begabte Geister absorbiren und zwar, in neun Fällen unter zehn, nur um sie brach zu legen. Als brillanter Mathematiker hatte er ohne Schwierigkeit seinen Doktor gemacht, und seine These hatte sogar einiges Auf­ sehen erregt. Von der höheren Spekulation der modernen Mathematik zum Studium der Philosophie ist nur ein Schritt, und Claudius hatte sich in das weite Meer der Kant, Spinoza und Hegel gestürzt, ohne vielleicht recht zu bedenken, was er that, bis er sich gezwungen sah, sortzufahren, oder sich für geschlagen und überwunden zu erklären. Das wollte er nicht, und so studirte er immer weiter, bis er sich, vor etwa sechs Monaten, eines schönen Tages fragte, wohin denn das Alles führen sollte? weshalb er jahrelang so eifrig an all diesen Sachen gearbeitet hatte? ob das alte freie Leben und der frische fröhliche Genuß nicht am Ende besser gewesen wäre, als dieses mitter­ nächtige Forschen in den Gedanken Anderer, die, was sie auch als gesprochenes Wort gewesen sein mochten, in den Büchern nie recht klar zu sein schienen? Wäre es nicht besser, die ganze Geschichte aufzugeben und in seine nordische Heimath zurückzukehren? Da würde er Abenteuer genug finden und könnte bei dem frischen Leben auf den norwegischen Fischereien oder auf einem ab­ gelegenen schwedischen Landgute neue Jugendkraft ein­ athmen. Aber er konnte sich nicht entschließen fortzuziehen und einzugestehen, daß er vergebens gearbeitet habe. Und doch sagte er sich, es sei vergebens, als er auf den schnellen Fluß hinausblickte. Hatte er durch das Studium der Philosophie irgend welchen Vortheil für sein Denken oder sein Thun gewonnen? In seinem Unmuth sagte er: nein!

10 er wäre praktischen Lebensfragen weit besser entgegen­ getreten, so lange er sich nur mit den exakten Wissenschaften befaßt hätte, als jetzt, wo er von all diesen nebligen Visionen und paradoxen Speculationen übersättigt wäre. Lebens­ fragen — aber gab es die denn für ihn? Er hatte sein Leben aufs einfachste geordnet. Sein kleines Kapital war sicher angelegt, und viermal im Jahr empfing er die Zinsen davon. Er besaß keine andern Habseligkeiten, als die in seinem Zimmer geborgenen. Er hatte keine Schulden; ja er war nicht ein Mal ein ordentlicher Professor und durch kein festes Band an seine ksniversität gebunden. Mit einem Worte, er war vollständig frei und ohne Fessel. Wozu? Durch die Macht der Gewohnheit studirte er weiter; aber er hatte schon lange keine Freude mehr daran. — Wann hatte er wohl zuletzt gelacht? Vermuthlich nicht seit seiner Fußreise ins baierische Hochland, wo er einen witzigen Journalisten aus Berlin getroffen hatte und mit ihm einige Tage gewandert war. An diesem Abend war er müder als gewöhnlich. Er dachte beinahe daran, fortzureisen, wenn ihm nur ein Ort einfiele, wo das Leben interessanter sein könnte! Er hatte keine Verwandten außer einem Onkel, der nach Amerika ausgewandert war, und der ihm zwei Mal im Jahre schrieb, mit dem für den ächten Nordländer characteristischen festen Entschluß, seine Familienbeziehungen aufrecht zu er­ halten. An diesen Onkel schrieb er auch regelmäßig in bestimmten Zwischenräumen und erzählte ihm von seinem ruhigen Gelehrtenleben. Er wußte, daß dieser einzige Verwandte in New Nork ein Geschäft habe, und aus den regelmäßigen Anerbietungen, ihn zu unterstützen, die jeder Brief brachte, fchloß er, daß derselbe in guten Verhältnissen sein müsse. Das war aber auch Alles. An diesem Abend

11 fiel ihm der Onkel ein. Die Firma war Barker und Lindstrand. Wer mochte wohl dieser Herr Barker sein? Uebrigens war es ja bald Johanni, da konnte er den halb­ jährlichen Brief jeden Tag erwarten. Er würde ihm zwar nicht besonders interessant sein, wenn er käme, aber das Gefühl war ihm angenehm, doch nicht so ganz verlassen auf dieser Welt zu sein. Da kam der Briefträger in seiner gewohnten behag­ lichen Weise die Straße einhergeschlendert, er plauderte mit dem Gastwirth an der Ecke und mit dem Klempner zwei Häuser weiter und dann, richtig, dann stand er vor Clau­ dius' Thür still. Der Bote blickte auf, und da er den Doctor am Fenster sah, hielt er ein großes Couvert empor. „Ein Brief an Sie, Herr Doktor!" rief er und seine rothe Nase glänzte im Abendschein für des Doktors Auge in starker Verkürzung. „Gleich", erwiderte Claudius, und der blonde Kopf verschwand vom Fenster; sein Besitzer kam herunter und öffnete die Thür. Während er die Treppe emporstieg, wendete Claudius den großen versiegelten Briefumschlag hin und her und fragte sich, was er wohl enthalten könnte. Er trug den Post­ stempel „New Jork", aber die Handschrift war groß mit runden geschnörkelten Zügen, nicht im mindesten den kritzlichen Hieroglyphen seines alten Onkels ähnlich. In der Ecke stand der Name einer ihm unbekannten Firma, und oben war der Brief mit einer langen Reihe Postmarken beklebt, denn er war dick und schwer. Claudius ging also in sein Zimmer und setzte sich aufs Fensterbrett, um zu sehen, was die Herren Screw und Scratch in Pinestreet in New Aork eigentlich von dem Dr. phil. Claudius in Heidelberg wollten.

12 Seine Neugier verwandelte sich bald in außerordent^ Uches Erstaunen. Der erste Theil des Briefes enthielt die formelle Anzeige von dem plötzlichen Tode des Herrn Gustav Lindstrand, in Firma Barker und Lindstrand in New Aork. Claudius legte den Brief hin und feufzte. Sein einziger Verwandter war ihm nicht viel gewesen. Er konnte sich nicht einmal auf des alten Herrn Aussehen besinnen, aber der regelmäßige Briefwechsel hatte ihm ein Gefühl von Anhänglichkeit gegeben, das Bewußtsein, doch nicht ganz allein zu stehen. Nun stand er ganz allein. Er hatte keinen Verwandten mehr auf der Welt. Jetzt wollte er noch den andern Theil des Briefes lesen. Er schlug das

Blatt um. „Wir legen eine Abschrift des Testamentes zu Ihrer Einsicht bei", schrieb der Rechtsanwalt weiter; „Sie werden daraus ersehen, daß Herr Screw von unserer Firma in Gemeinschaft mit Herrn Silas B. Barker zum Testaments­ vollstrecker ernannt worden ist, und wir erwarten Ihre fernern Weisungen. In Anbetracht des großen Ver­ mögens -------------- " Claudius blickte auf und stierte aus dem Fenster, dann las er weiter — „- welches Ihnen durch besagtes Testament Ihres Onkels, des verstorbenen Herrn Gustav Lindstrand, zusäüt, wäre es wünschenswerth, wenn Sie, so bald es Ihnen paßt, auf einige Zeit hieher kommen könnten." Jetzt schien es Claudius an der Zeit, das Testament selbst anzusehen. Er entfaltete das sehr kurz gefaßte Doku­ ment und machte sich mit dem Inhalt desselben bekannt. Es waren einige Legate für alte Dienstboten und für ein Paar andre Personen, vermuthlich Freunde des Ver­ storbenen, ausgesetzt. Alles andre war „meinem Neffen,

13 dem Sohn meiner Schwester, Claudius, Privatdocent an der Universität Heidelberg, im Großherzogthum Baden, Dmtschland," vermacht. Und es stellte sich heraus, daß der Ueberschuß, nach Abzug sämmtlicher Legate und aus­ stehenden Forderungen, sich auf ungefähr anderthalb Mil­ lionen Dollars belaufen würde. Claudius las die Papiere noch einmal aufmerksam durch, ohne die geringste Aufregung zu verrathen. Dann steckte er sie wieder in den Umschlag, öffnete einen kleinen eisernen Geldschrank, der auf einem Brett des Bücherge­ stells stand, und schloß das Testament, den Brief, die uotarische Vollmacht, alles miteinander ein. Danu reckte er seufzend seine langen Glieder, rollte sich eine dicke Ciga­ rette, zündete sie an und setzte sich aus seinen Lehnstuhl, um nachzudenken. Die Schatten senkten sich tiefer, und der Tabaksrauch hob sich weiß von der Dunkelheit im Zimmer ab. Die Nachricht, welche er soeben erhalten hatte, würde manche Menschen außer sich gebracht haben, und sicherlich würden die meisten Leute in große Aufregung gerathen, wenn sie plötzlich ungeheuern Reichthum von einer Seite her erhielten, wo sie nicht einmal dessen Vorhanden­ sein geahnt hatten. Ueberdies war des alten Lindstrands Testament ganz klar und einfach; es enthielt keine launen­ haften Bedingungen inbezug auf heirathen oder nicht heirathen, oder die Verpflichtung, den Namen des Erblassers anzunehmen, kurz nichts, was dem Erben den geringsten Zwang auferlegte. Aber Claudius empfand kein Gefühl der Freude, weil er so plötzlich alleiniger Herr über andert­ halb Millionen geworden war. Nicht als ob er thöricht genug gewesen wäre, das Geld zu verachten oder auch nur sich den Schein zu geben, als ob er es thäte, wie manche Leute es thun. Er würde

14 den Verlust seines eignen kleinen Vermögens schmerzlich empfunden haben und würde sehr ungern um Geld, statt aus reiner Lust an der Sache selbst gearbeitet haben. Aber für seine bescheidenen Bedürfnisse hatte er genug und hatte immer genug gehabt. Er bewunderte schöne Sachen sehr, aber er wünschte nicht, sie zu besitzen; es genügte ihm, sie anzuschauen und eine Erinnerung davon mit fort zu tragen. Er liebte Bücher, aber er machte sich nichts aus seltenen Ausgaben, so lange billige in Leipzig zu haben waren. Jene alte Ausgabe vom Sextus Empiricus hatte er gekauft, weil er keine gewöhnliche bekommen konnte, und jetzt, da er sie durchgelesen hatte, lag ihm nichts daran, sie zu behalten. Natürlich stand viel Gutes darin, aber das Beste hatte er ausgezogen, und nun beabsichtigte er, den Band an den ersten besten Liebhaber zu verkaufen, — nicht weil er das Geld brauchte, sondern weil ihm das Buch im Wege war; ließe er erst die Sachen sich anhäufen, so würde er sich bald nicht mehr in seiner engen Klause umdrehen können. So lehnte er sich denn in seinen tiefen Sessel zurück und zerbrach sich den Kopf darüber, was in aller Welt er wohl mit all dem Gelde anfangen sollte. Er könnte Reisen machen. Ja, aber er reiste lieber, um sich die Dinge anzuschauen, als um von Ort zu Ort zu kommen. Er. würde lieber den größten Theil des Weges zu Fuße machen. Die einzige Art wie er möglicherweise solchem Einkommen entsprechend leben könnte, bedingte, daß er seine ganze Lebensweise änderte — ein Haus in irgend einer großen Stadt, Pferde, Dienerschaft, und wohl gar eine Frau — Claudius lachte zum ersten Male seit Monaten, ein lautes homerisches Gelächter — ja das alles würde ihm helfen, sein Geld loszuwerden. Aber solch ein Leben — nein — rein unmöglich. Er war dessen über-

15 bnissig, ehe er es noch begonnen hatte, wie würde ihm da nach einem Monat zu Muthe sein? Die Frage trat ihm im Dunkeln wie eine ungelöste Gleichung entgegen, die ihn schwarz auf weiß anstarrte, oder wie eine unbeendete Schachpartie, wenn man nach fünf oder sechs Stunden Spielens endlich zu Bette geht. Irgend etwas mußte er beschließen, denn es lag in seiner Natur, immer zu einem Entschluß zu kommen, ehe er eine Sache fallen ließ. Indessen hatte ihn die ganze Geschichte so wenig aufgeregt, daß er trotz seines Onkels Tode und trotz seiner anderthalb Millionen hungrig und durstig war. Er strich ein Zündholz an, zündete seine Studirlampe an und nahm seinen Rock, Hut und Stock. Dann stand er still. Er hatte keine Lust am heutigen Abend mit Dr. Wiener und Dr. Wurst zusammenzutreffen; er wollte sich lieber selbst etwas zu essen und zu trinken holen und dann Ruhe haben. Also hing er einen schweren Steinkrug über den Arm, schrob die Lampe herunter, um Oel zu sparen, ging die Treppe hinab und auf die Straße. Er ging nach dem kleinen Wirthshaus au der Ecke, und während der dicke alte Wirth den Krug mit dem besten Markgräfler füllte, suchte er sich selbst ein Paar geräucherte Würste von dem Stapel auf dem Ladentisch aus, wickelte sie nebst einem halben Dutzend Bretzel ein und steckte das Packet in seine weite Tasche. Dann nahm er dem Wirth den Krug ab, bezahlte einen halben Gulden für die Eßwaaren und den Wein, und ging nach Hause, um sie in der Einsamkeit zu verzehren. — Das war sein gewöhnliches Abendbrod. So hatte er es seit zehn Jahren gehalten, wenn er nicht zur Geselligkeit aufgelegt war. „Aber ich glaube, es ist unpassend," sagte er zu sich, „daß ich, ein Millionär, mir selbst mein Abendbrod hole."

16 Dann lachte er wieder laut auf, mitten in der belebten Straße, denn es war warm und die Leute saßen vor der Thür; Simpelmayer, der Schuhmacher, und Blech, der Spängler, und all die übrigen, jeder mit seinen Kindern und einem Schoppen Bier. Als der Doktor lachte, lachten die kleinen Jungen ebenfalls, und Blech sagte zu Simpel­ mayer, der Herr Doktor mässe das große Loos in der Hamburger Lotterie gewonnen haben, denn so hätte er ihn seit drei Jahren nicht lachen hören. „Freilich," erwiderte der Schuhmacher, „aber vor zehn Jahren pflegte er laut genug zu lachen. Ich kann mich darauf besinnen, wie er hier zuerst eingezogen war und seine Corpsbrüder ihn eingeschlossen- hatten und spottend auf der Gasse standen. Da kletterte er am Holzwerk her­ unter, stieg auf das Schild des Barbiers und sprang auf die Straße und lachte dabei in einem fort, obgleich den andern der Athem still stand, vor Furcht, er könnte sich den Hals brechen. Ja, der war ein richtiger Student; aber jetzt hat er sich verändert, — das viele Studiren, lieber Blech, das viele Studiren." Und damit sah der alte Mann Claudius nach, wie er unter dem dunklen Thorweg ver­ schwand. Der Doktor stieg seine drei Treppen mit gleichmäßigen Schritten empor, schraubte die Lampe in die Höhe und aß behaglich seine Bretzel und Würstchen. Dann nahm er den großen Steinkrug zur Hand, als wäre es ein Wein­ glas, setzte ihn an den Mund und trank einen langen Zug

daraus. Das Ergebniß seiner durch den beruhigenden Einfluß des Abendessens unterstützten Ueberlegungen ließ sich vor­ aussehen. Erstens sagte er flch, daß die ganze Frage eine mythische wäre. Niemand könnte von ihm verlangen, daß

17 er von seinem Gelde Gebrauch mache, wenn es ihm nicht selbst beliebte. Er könnte das Kapital ohne eigne Mühe­ waltung sich ansammeln lassen; und wozu brauchte er über­ haupt Jemanden etwas von der Erbschaft zu erzählen? Er könnte doch sein bisheriges Leben fortführen, ohne daß es irgend einen Menschen etwas anginge. Ueberdies würde es ein ganz neues Gefühl für ihn sein, als einfacher Ge­ lehrter zu leben und doch dabei zu wissen, daß er eine große Macht besäße, die er sozusagen beiseite gestellt habe, durch welche er aber, sobald er wollte, in jedem beliebigen Augenblick das ganze Land in Erstaunen setzen könnte. Allerdings, ein ganz neues Gefühl, und in Anbetracht der Wichtigkeit der Frage, wie er über sein Einkommen verfügen solle, könnte er sich wohl ein halbes Jahr Zeit zur Ueberlegung gönnen. Er könnte nach wie vor auf die Universität gehen und sein Abendbrod ungestört mit Dr. Wiener und mit Dr. Wurst essen, ohne ein Gegenstand allgemeinen Interesses zu sein; dazu würde er aber sofort werden, wenn es bekannt würde, daß er, ein einfacher Privatdocent, mit feinem schlichten schwarzen Rock und mehrfach ausgebefferten Stiefeln der reichste Mann im Großherzogthum Baden wäre. So seltsam diese Gedanken in den Augen von Welt­ menschen erscheinen mögen, waren sie doch nur das, was sich von einem Manne von seinem Bildungsgang und Cha­ rakter erwarten ließ. Er hatte freilich einige Reisen gemacht, war auch in jüngern Jahren in Gesellschaft gegangen; denn der Heidelberger Student tanzt gern und aus manchen der flotten jungen Burschen werden schneidige Offiziere in den vornehmsten Regimentern des besten Heeres der Welt. Er war einige Wochen in Paris, Wien und Rom gewesen, und da er aus einer guten nordischen Familie stammte, Crawford, Doktor Claudius.

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18 hatte er Empfehlungen durch die diplomatischen Vertreter seines Landes erhalten. Seine auffallende Persönlichkeit hatte stets Aufmerksamkeit erregt, und wenn er gewollt, hätte er überall eingeführt werden können. Allein er hatte sich aus der Gesellschaft und ihrem Leben und Treiben nur eben so viel gemacht, um dann und wann etwas davon sehen zu wollen, und er glaubte, er habe es auf den ersten Blick verstanden — nämlich, daß es lauter Schein und falscher Glanz, Eitelkeit der Eitelkeiten wäre. Natürlich gab es hierfür einen triftigen Grund. In seinen kurzen Wanderungen durch die Welt der Orden und blauen Bänder und kosmopolitischen Uniformen war er nie einer Frau begegnet, die ihn interessirte. Er hegte für das Weib im abstrakten Sinne eine heilige Ehrfurcht, aber er war noch keiner begegnet, der er als dem Typus der von ihm verehrten idealen Weiblichkeit hätte huldigen können. Viel­ leicht erwartete er zu viel, vielleicht urtheilte er zu sehr nach kleinen, wirklich unbedeutenden Aeußerlichkeiten. Da kein Mann der Gegenwart oder Vergangenheit je eine Frau fünf Minuten lang verstanden hat, war er nicht zu tadeln. Mit Frauen ists ähnlich wie mit der Religion, man muß sie aus Treu und Glauben nehmen, oder sich ohne sie behelfen. Ueberdies hatte Dr. Claudius keine rechte Schätzung für den Werth des Geldes; theils weil er sich nie etwas aus dem gemacht hatte, was sich dafür kaufen läßt, und folglich nie die Macht des Geldes als Kaufpreis geprüft hatte, theils weil er nie mit Leuten zusammengelebt hatte, die viel ausgaben. Er verstand nichts von Geschäften, hatte nie gespielt, und begriff nicht, daß die Verbindung von beiden von Jntereffe sein könnte. Im Vergleich zu den Fragen, welche ihn in letzter Zeit beschäftigt hatten,

19 schien es ihm eben so gleichgiltig, ob ein Mensch reich oder arm sei, wie ob er blondes oder dunkles Haar hätte. Und wenn er sich ernstlich gefragt, ob selbst die großen Probleme, welche den Geist der erhabensten Denker beschäftigt hatten, zu irgend einem wichtigen Ergebniß führten, war es nicht wahrscheinlich, daß er über eine so triviale Sache wie die Frage von Pfund, Schilling und Pence lange nach­ denken würde. Ehe er zu Bette ging, nahm er also einen Bogen Papier und einen Briefumschlag heraus — er kaufte jedes Jahr nur ein Packet Briefumschläge, wenn er seine Neu­ jahrskarten an die andern Doktoren der Universität schickte — und schrieb einen kurzen Brief an die Herren Screw und Scratch in Pine Street, New Aork. Er bescheinigte den Empfang ihres Schreibens, beklagte den Tod seines einzigen Verwandten und bat, daß sie sein Geld für ihn verwalten möchten, da er vorläufig keinen Gebrauch dafür hätte. Er wolle, sagte er, fürs erste keine Vollmacht aus­ stellen, denn da es keine Eile habe, könnten sie ihn ja, so oft sie wollten, mittelst eines Briefes oder eines Telegramms um Rath fragen. Als die Herren Screw und Scratch dieses Schreiben lasen, machten sie große Augen vor Ver­ wunderung, was für eine Art von Mensch dieser Dr. phil. Claudius wohl sein möge, und das bekamen sie nicht so bald heraus. Claudius aber löschte seine Lampe aus, als er seinen Bries unterschrieben und gesiegelt hatte, und schlief den Schlaf des Starken und Gerechten, ungestört durch den Besitz eines Vermögens oder irgend welcher Be­ denken wegen seiner Zukunft. Vor Empfang dieses Briefes hatte er ernstlich daran gedacht, von Heidelberg fortzugehen. Jetzt da ihm das Fortgehen beinahe aufgezwungen wurde, fand er es nicht

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20 wünschenswerth. Als Profeffor wollte er leben und sterben. Was könnte verächtlicher sein, dachte er, als den Fortschritt des Denkens und das Ringen nach Wiffen aufzugeben, um in behaglicher Muße zu leben und auf Mittel zu finnen, so viel Geld los zu werden? Damit streckte er seine langen Glieder auf dem schmalen Feldbett aus und war in fünf Minuten eingeschlafen.

Zweites Kapitel. Als Claudius bei Tagesanbruch erwachte, war es ihm, als habe er geträumt. Sein Erstes war, den eisernen Kasten zu öffnen und das Testament nochmals durchzu­ lesen. Dann dachte er, daß sein Entschluß, die Erbschaft geheim zu halten, ein weiser wäre, und daß er fürs erste dabei bleiben wollte. Darauf ging er aus, ließ sich von einem Notar die Aechtheit feiner Unterschrift in dem bewußten Briefe bescheinigen, gab denselben auf die Post und kehrte zu seinen Büchern zurück. Aber das Wetter war sehr heiß, die Sonne brannte auf das Dach über seinem Haupte, so daß er nach einigen Stunden das Studiren aufgab und hinausging, um draußen Kühle zu suchen. Seine Schritte wandten sich natürlich dem hochragenden Schlosse zu, wo er leichten Luftzug und vie.l Schatten finden konnte, und als er an dem alten berühmten Wirthshaus zum faulen Pelz beim Ausstieg vorüber kam, kehrte er ein und genoß einen Trunk kühlen Bieres und eine Bretzel; das nennt man in Deutschland einen Frühschoppen, und der Gebrauch ist eben so allgemein wie der „frühe Thee" in den Tropen vor Sonnenaufgang, oder der Wermuth bei den Italienern

20 wünschenswerth. Als Profeffor wollte er leben und sterben. Was könnte verächtlicher sein, dachte er, als den Fortschritt des Denkens und das Ringen nach Wiffen aufzugeben, um in behaglicher Muße zu leben und auf Mittel zu finnen, so viel Geld los zu werden? Damit streckte er seine langen Glieder auf dem schmalen Feldbett aus und war in fünf Minuten eingeschlafen.

Zweites Kapitel. Als Claudius bei Tagesanbruch erwachte, war es ihm, als habe er geträumt. Sein Erstes war, den eisernen Kasten zu öffnen und das Testament nochmals durchzu­ lesen. Dann dachte er, daß sein Entschluß, die Erbschaft geheim zu halten, ein weiser wäre, und daß er fürs erste dabei bleiben wollte. Darauf ging er aus, ließ sich von einem Notar die Aechtheit feiner Unterschrift in dem bewußten Briefe bescheinigen, gab denselben auf die Post und kehrte zu seinen Büchern zurück. Aber das Wetter war sehr heiß, die Sonne brannte auf das Dach über seinem Haupte, so daß er nach einigen Stunden das Studiren aufgab und hinausging, um draußen Kühle zu suchen. Seine Schritte wandten sich natürlich dem hochragenden Schlosse zu, wo er leichten Luftzug und vie.l Schatten finden konnte, und als er an dem alten berühmten Wirthshaus zum faulen Pelz beim Ausstieg vorüber kam, kehrte er ein und genoß einen Trunk kühlen Bieres und eine Bretzel; das nennt man in Deutschland einen Frühschoppen, und der Gebrauch ist eben so allgemein wie der „frühe Thee" in den Tropen vor Sonnenaufgang, oder der Wermuth bei den Italienern

21 vor ihrer Abendmahlzeit. Nachdem er den Sommergöttem dieses Trankopfer dargebracht hatte, stieg der Doktor lang­ sam den Hügel empor und trat in das Bereich des Schlosses ein. Freilich war hier ein frischer Luftzug in den Ruinen und Ueberfluß an Schatten, wo man sich hinstrecken und den ganzen Sommertag hindurch lesen konnte; man brauchte nur von Zeit zu Zeit je nach dem Stand der Sonne am glühenden Himmel den Platz zu wechseln. Claudius streckte sich in der Nähe des großen verfal­ lenen Thurms im Schatten einer Mauer hin, zog ein Buch hervor und fing an zu lesen. Aber das Buch fesselte ihn nicht, bald ließ er es fallen und überließ sich seinen Ge­ danken. Der leichte Wind bewegte die breiten grünen Blätter über ihm und glühend brannte die Sonne am Rande des schattigen Platzes; aber da drüben waren noch mehr Bäume und mehr Schatten. Kleine Heimchen und Fliegen und alle Arten von summenden Geschöpfen schwirr­ ten melodisch durch die warme Luft; die Vöglein zwitscherten lässig dann und wann wie in gelegentlicher Zwiesprach, zum hüpfen oder fliegen war es zu heiß; und eine kleine Eidechse lag auf der Mauer betäubt und matt von der Mittagsgluth. Der genius loci kühlte sich gewiß in der Verborgenheit einer köstlichen Höhle unter den Ruinen, und der Zwerg Perkso, in Sang und Trinkspruch berühmt, hatte es an jenem Tage am besten dort unten im Keller am großen Faß. Aber Claudius war von zäher Natur, ihn kümmerte weder Hitze noch Kälte; nur wenn eine große Bremse ihm um die Nase summte, schwang er seinen breitkrempigen Hut, um den Quälgeist fortzujagen, und sagte sich, daß selbst in Deutschland der Sommer seine Nachtheile habe, obschon sicherlich in Schweden während der zwei heißen

22 Monate mehr Mücken und Fliegen und bösartiges Gethier herumflöge. Im Ganzen war es ihm recht behaglich unter den Ruinen an diesem Junitage, obschon er sich doch ei­ gentlich überlegen mußte, wohin seine Sommerreise ihn in diesem Jahr führen würde. Ja, das sollte er wohl thun. Wohin sollte er wohl gehen? Da war der Schwarzwald, aber den kannte er durch und durch; Böhmen — da war er gewesen, die Schweiz; das Engadin — ja er wollte wieder nach Pontrefina gehen und sehen, wie es sich in den sechs Jahren, seit er nicht da gewesen, verändert habe. Damals war es ein entzückender Ort, so verschieden wie möglich von St. Moritz. Nur Gelehrte und Künstler, und gelegentlich ein rüstiger englischer Bergsteiger, pflegten nach Pontrefina zu kommen, während ein halb Dutzend Meilen weiter in St. Moritz ganz Europa fich versammelte. Dahin wollte er gehen, wenn er überhaupt irgendwo hinginge, mit dem Tornister aus dem Rücken und einem dicken Stock in der Hand und einigen Gulden in der Tasche, und ver­ gnügt sein, wenn er noch irgend wie Genußfähigkeit in fich hätte. „Es ist abgeschmackt", sagte Claudius zu sich, „ich bin kaum dreißig Jahr alt, stark wie ein Stier, habe eben mehr Geld geerbt, als ich zu verwenden weiß, und mir ist zu Muthe wie einem alten Krüppel von neunzig, der nichts mehr hat, wofür er leben kann. Es muß krankhafte Einbil­ dung sein oder ein Leberleiden, oder sonst etwas dergleichen." Aber es war weder die Leber, noch die Einbildung, es war ihm wirklich ganz schlecht zu Muthe. Des Schrei­ bens und des Lesens müde, müde des Hörens, des Sehens und Sprechens, und doch mit einer Konstitution gesegnet, die ihn noch sechzig Jahre durchs Leben zu tragen verhieß. — Er versuchte die Sache zu ergründen. Könnte es

23 möglicherweise davon kommen, daß er in einem fremden Lande lebte, für dessen Bewohner er nur eine eingebildete Symphathie hatte! Keiner ist freilich so wie unsre Lands­ leute, und zwischen Skandinaviern und allen andern Völkern ist allerdings eine große Kluft. Aber es schien Claudius, als liebte er die Deutschen und ihre Art und Weise, und das that er wirklich; aber zeigt uns die Erfahrung nicht jeden Tag, daß die Leute, welche wir bewundern und so­ gar lieben, nicht nothwendigerweise diejenigen sind, für welche wir die meiste Sympathie haben oder mit denen zu leben für uns am besten ist? Für ihn wäre es beffer gewesen, unter seinen Nordländern zu leben; das fiel ihm aber nicht ein, und so beschloß er morgen oder übermorgen nach dem Engadin aufzubrechen. Als der Doktor diesen Entschluß gefaßt hatte, richtete er sich auf, zog eine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie und zündete sie an. Die Flamme des Schwefelhölzchens brannte weiß und durchsichtig in der Mittagsgluth, und der Dampf kräuselte sich träge, als er an diesem unschönen Instrument des Genuffes paffte. Ehe er aber seine Pfeife halb ausgeraucht hatte, hörte er Schritte auf dem Fußpfade. Er blickte unwillMrlich auf und sah eine Dame — nein zwei Damen, langsam aus ihn zukommen. Außer dem Umstande, daß es für Fremde eine ungewöhnliche Stunde war, das Schloß zu besuchen — denn Fremde waren sie augenscheinlich —, war nichts Ungewöhnliches in ihrer Erscheinung; und Claudius stand bloß auf und ging langsam weiter, nicht um ihnen aus dem Wege zu gehen, sondern weil er zu wohlerzogen war, um dicht am Wege fitzen zu bleiben, wenn eine Dame vor­ überging, da er sich aber einmal erhoben hatte, konnte er nicht gut stehen bleiben. So ging er weiter, bis er an

24 dem gesprengten Thurm stand, und als er sah, daß er, wenn er hinabkletterte, einen bessern Ruheplatz mit einer schönen Aussicht erreichen könnte, ließ er sich behende auf einen Mauervorsprung hinunter und rauchte mit philoso­ phischem Gleichmuth seine Pfeife weiter. Bald daraus hörte er über sich Stimmen, oder vielmehr eine Stimme, denn eine der Sprechenden beschränkte ihre Rede aus Ja und Nein, während die andre begeistert und fast wie in einem Selbstgespräch über die Gegend redete. Es war eine tiefe Stimme, die männlich geklungen hätte, wäre sie im geringsten hart gewesen, das aber war sie nicht, sie war nur stark, voll und weich, eine Frauen­ stimme mit dem Wohlklange begabt, der Interesse erweckt, wo sonst seins zu sein scheint. Es giebt eine gewiffe Art von Frauenstimmen, die auf ganz besondre Weise zu vibriren scheinen. Sei es nun, daß unter gewiffen Berhältniffen der Stimmorgane harmonische Töne entstehen wie auf einem Saiteninstrument oder einer Orgelpfeife, sei es, daß das Geheimniß tiefer liegt nnd von den zarten Schwingungen neu gebildeter Tonwellen abhängt, an welche unser Ohr nicht gewöhnt ist, — wer kanns entscheiden? Und doch giebt es Stimmen, welche vom ersten Augenblick an einen eigenthümlichen Eindruck auf uns machen, wie nichts andres auf der Welt. Nicht daß wir uns darum nothwendigerweise für den Besitzer der Stimme interesfiren, der uns für immer gleichgültig bleiben mag, denn der Zauber liegt nur in dem Ton, welcher die Macht zu haben scheint, fortzudauern und im Echo unsrer Erinnerungen wiederzuhallen. Selten, nur sehr selten haben ihn Sänger, und selbst wenn ihre Kraft beschränkt ist, hat ihr Gesang dann einen eigenthümlichen Klang, der sich unserm Ge­ dächtniß unauslöschlich einprägt.

25 Solch eine Stimme war es, die Claudius hörte, als er etwa zehn Fuß tiefer auf seinem Mauervorsprung lag und dem poetischen Gedankenerguß der Dame über Heidel­ berg und der Landschaft zu ihren Füßen zuhörte. Er rührte sich nicht, denn er war überzeugt, daß sie ihn nicht gesehen hatte, und nahm an, daß sie in einigen Minuten wieder fortgehen werde. Indessen sollte er doch gesehen werden. Sie schwieg und war scheinbar in Gedanken ver­ loren; plötzlich aber ertönte ein kleiner Schrei. „0 mon Dien!" und ein zierlicher mit Spitzen über­ zogener Sonnenschirm fiel über den Rand, schlug an der Stelle auf, wo Claudius lag, und stürzte gerade in die Tiefe der Ruine, noch etwa zwanzig Fuß hinab. „Wie unangenehm!" sagte die klangvolle Stimme oben, „ich kann ihn niemals wieder bekommen; hier sind keine Gärtner oder sonst Leute in der Nähe." „Erlauben Sie mir, gnädige Frau," sagte Claudius, indem er so weit vortrat, als er es wagen konnte, und em­ porschaute, um die schöne, in schwarz und weiß gekleidete Frau einen Augenblick ansehen zu können, die dem unglück­ seligen Sonnenschirm hilflos nachstarrte. „Beunruhigen Sie sich nicht gnädige Frau; ich hole ihn Ihnen im Augenblick." Damit begann er hinabzuklettern. Die schöne Unbekannte protestirte — Monsieur solle sich nicht bemühen, Monsieur würde sich den Hals brechen, enfin, es wäre sehr gefällig von Monsieur sich in einen so schrecklichen Abgrund zu wagen u. s. w. Aber als Mon­ sieur erst einmal in diese dunklen Augen geblickt, kletterte er standhaft bis in die Tiefe und hatte den verlornen Sonnenschirm erfaßt, ehe die höflichen Abmahnungen auf­ gehört hatten. Der Aufstieg ging rasch von statten, und

26 er stand oben, mit dem Hute in der Hand, um den Gegen­ stand seines Suchens der rechtmäßigen Besitzerin zurückzugcben. Auf seinem Antlitz war keine Spur von Verlegen­ heit; und er schaute der fremden Dame kühn in die Augen, während er sich verneigte. Sie konnte ihm nicht genug danken, und würde dem schönen herkulischen jungen Mann, der scheinbar zu ihrem Beistand aus dem Boden hervor­ gesprungen war, wahrscheinlich gern noch länger gedankt haben, aber als Claudius sie mit einem langen Blicke an­ geschaut hatte, entgegnete er einfach: „II n’y a pas de quoi, Madame,“ verneigte sich tief und ging davon. Vielleicht lag ein Schimmer von Neugierde in seinen Augen; er hätte gern gewußt, wer die Dame war, die eine Krone und ein großes M. auf dem Elfenbeinstock ihres Sonnen­ schirms etngeschnitzt trug. Jndeffen kam er zu dem Schluffe, daß er sich nicht darum kümmere, und so- schlenderte er den Pfad hinab und zerbrach sich den Kopf, wo er sich wohl ausstrecken könnte, wenn Fremde um diese Jahreszeit und zu den heißesten Stunden des Tages das Schloß heimsuchten. „Morgen will ich fort von hier", sagte er, „und sehen, ob ich ich es in Pontreflna uicht besser finde." Er hatte einen andern Theil des Schlosses erreicht, setzte sich und nahm wieder seine Pfeise vor, der Störungen beschieden zu sein schienen. Die Dame mit dem Sonnenschirm hatte trotz seiner scheinbaren Gleichgiltigkeit einen Eindruck auf Claudius ge­ macht. Selten pflegte er damals überhaupt eine Dame anzu­ sehen, und heute hatte er diese eine nicht nur angesehen, son­ dern mußte sich eingestehen, daß er es gern wieder thun würde. Wenn er die Frauen während der letzten Jahre grundsätzlich gemieden hätte, würde er nicht zugegeben haben, daß er diese

27 auch nur für einen Augenblick wiederzusehen wünschte, aber Grundsätze hatten hiermit nichts zu thun. Es war seine eigne Wahl gewesen, das war alles, und wenn es ihm wieder einfallen sollte, sich dem schönen Geschlecht zu nähern, so würde er das als ein Zeichen wiederkehrender Jugend ansehen und ohne Widerstand nachgeben. Aber im vor­ liegenden Falle — „Ach was!" dachte der bescheidene Privatdozent, „sie ist gewiß eine große Dame! Wie sollte ich zu ihrer Bekanntschaft kommen? Aha, da hätte ich bei­ nahe vergeffen, daß ich jetzt ein Millionär bin. Ich brauche nur anzuklopfen, so wird mir aufgethan." Er lächelte, und mit dem Bewußtsein, daß er thun und lasten könne was er wolle, schwand für eine Weile die unbestimmte Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit der schönen Fremden. Dann that es ihm leid, daß dies Gefühl veschwunden war, denn so lange er es empfand, hatte er sich sagen können, daß er im Grunde garnicht alt wäre, sondern noch jung — sogar so jung, daß er noch nie verliebt gewesen. Als eine Folge seines Wunsches, diesen Schimmer von Gefühl wieder zn haben, kehrte es wirklich zurück, aber diesmal künstlich, der Kritik gewärtig. Er wollte eine Weile das schöne Bild betrachten, welches Macht hatte, seine müde Seele für einen Augenblick aus dem Meer der Gleichgiltigkeit Herauszureißen, in welches sie versunken war. Gaudius streckte sich ins Gras hin und legte ein Bein über das andre. Dann versuchte er sich die Gesichts­ züge der Dame zurückzurufen, welche seine Gedanken be­ schäftigte. Sie war jedenfalls sehr schön. Er konnte sich einiger Einzelheiten erinnern. Ihre Haut war etwas bräunlich, dunkler um die Augen herum, und die Augen selbst waren von feurigem Braun und ihr Haar war tiefschwarz. Das war alles, was er sich von ihr erinnern

28 konnte — außer ihrer Stimme. Ach ja! selbst bei seinem ruhigen Leben hatte er genug schöne Frauen gesehen, aber niemals hatte er eine solche Stimme gehört. Es giebt Töne, die man nie vergißt; wie z. B. das herrlich tönende Geschrei der Trompeterschwäne in Island, wenn sie früh Morgens hoch oben in den Lüften hinfliegen, oder den sanften musikalischen Klang des frischen Eises auf dem Fluffe, wenn es unter dem Schwünge der stählernen Schlitt­ schuhe wiederhallt. Claudius versuchte den Ton jener Stimme mit etwas schon früher Gehörtem zu vergleichen, aber vergebens. Südländer und Orientalen verlieben sich beim ersten Anblick in einer Weise, die der nüchterne Nordländer nicht verstehen kann: ein Gesicht in der Menge, ein Blick, ein Niederschlagen der Wimpern, und es ist fertig. Der Same der Leidenschaft ist gesät und wächst in einem Tage zu überwältigender Macht empor. Aber mit dem nordischen Herzen ist es ein ganz ander Ding. Das spielt mit sei­ ner Liebe wie die Katze mit der Maus; nur mit dem Unterschiede, daß die Maus immer größer wird, wie die in dem morgenländischen Märchen, welche fortwährend ihre Gestalt veränderte, bis sie zuletzt ein Tiger wurde und der Weise an seine eigne Sicherheit denken mußte. Wenn ein Italiener oder Orientale verliebt ist, so ist er darüber nie im Zweifel; aber ein Engländer kann zehn Jahre mit einer Frau umgehen, bis es ihm eines schönen Tages klar wird, daß er sie liebt und wahrscheinlich schon lange geliebt hat. Dann verändert sich sein ganzes Wesen und er kann sich leicht sehr unangenehm machen, wenn die Dame ihn nicht auch liebt — und Frauen find im Innern ihres Herzens selten darüber im Zweifel, ob fie lieben oder nicht.

29 Das Herz des kühlen Nordländers ist ein merkwürdi­ ges Räthsel. Es läßt sich bei seinem ersten Erwachen nur einem sehr späten Frühling vergleichen. Erstens hat die vorhergegangene Abwesenheit von irgend etwas der Liebe Aehnlichem einen starren und etwas rauhen Skeptizismus inbezug auf das Existiren einer Leidenschaft überhaupt, erzeugt. Der junge Boreas lacht höhnisch bei der bloßen Erwähnung einer ernsten Neigung und spottet über eine Heirath aus Liebe. Er findet junge Mädchen und Frauen sehr amüsant; seine Eitelkeit macht ihn, in der Einbildung natürlich, zum herzlosen Helden manchen Abenteuers, und wenn er, was häufig der Fall, kein vollkommener Gentle­ man ist, so wird er sich keine Skrupel daraus machen, sich allerlei Geschichten auszudenken, wie er nur mit ge­ nauer Noth der Rache eines eifersüchtigen Gatten oder er­ zürnten Vaters entgangen sei, wobei er, wie er sagt, beinahe sein Leben verloren hätte, und zwar gewöhnlich bei der Verfolgung einer Dame von makellosem Rufe, die er kaum kannte, und solche Geschichten wird er dann weitererzählen — natürlich nur seinem Busenfreunde unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Man bringe ihn aber für eine Stunde mit dieser Dame zusammen, gebe ihm die beste Gelegenheit, seine Werbung zu betreiben, und kein Lämm­ chen könnte harmloser sein. Er hat noch nicht Blut ge­ kostet, obschon er oft seine Lippen leckt und so redet, als hätte ers schon gethan. Gewöhnlich macht ihn ein Zufall zum erstenmal ver­ liebt. Er begegnet seinem Geschick, — sei sie groß oder klein, braun oder blond, das ist ganz gleich — auf einem Landsitze oder auf der Reife. Eine ganze Weile unterhält ihn ihre Gesellschaft bloß und hilft ihm die Zeit vertreiben; denn Boreas langweilt sich leicht, und die Zeit ist sein

30 schrecklicher Feind. Allmälig begreift er, daß die Betref­ fende für sein Wohlbefinden eine Nothwendigkeit ist, und er thut Alles, um. sie bei jeder Gelegenheit für fich in Beschlag zu nehmen. Dann gesteht er fich endlich ein, daß er fich etwas aus ihr macht, und verliert etwas von der Inkrustation seiner Eitelkeit. Er fühlt fich minder sicher und seine Freunde bemerken, daß er nicht mehr von seinen angeblichen Erfolgen spricht. Sehr, sehr langsam erwacht sein wahres Herz und alles, was männlich, ernst und edel in seinem Wesen ist, kommt unbewußt zum Vor­ schein. Nun weiß er, daß er liebt, und weil seine Liebe sich so langsam entwickelt hat, ist sie darum nicht matt und unvollkommen, wenn sie erst einmal da ist. Indessen sind Engländer selten heroische Liebhaber außer in ihren Romanen. Gewöhnlich giebt es für sie einen kleinen Seitenpfad der Vorsicht, eine Hinterthür be­ rechnender Ueberlegung, durch welche sie noch im geeigneten Augenblick entschlüpfen können, um dann die ganze Sache zu vergeffen. Claudius war kein Engländer sondern ein Skandinavier, und in so fern von dem oben geschilderten jungen Mann mit lebhafter Einbildungskraft sehr verschieden, als er eine große Ehrfurcht vor Frauen und Frauenliebe hatte, aber nur in der Theorie, die Praxis war ihm noch fremd. Der Klafie von Frauen, mit denen er in seiner Studentenzeit zusammenkam, war er bald überdrüssig geworden — es waren meistens die Töchter von achtbaren Heidelberger Philistern, mehr oder minder hübsch nach süddeutscher Art; und die schönen Weltdamen, welche er auf seinen Reisen erschaut, schienen ihm nie genug wie wirkliche Wesen, um sich ihnen zu nähern. Er hatte sich nie klar gemacht, daß seine Persönlichkeit, in Verbindung mit seinen tadellosen

31 Manieren, ihn bald zu einem Liebling der sogenannten Gesellschaft gemacht haben würde, wenn er sich um ihre Gunst beworben hätte. Bei alledem war diese vorübergehende Schwärmerei für die dunkeläugige Dame aus dem Schloß doch etwas sehr Unbestimmtes. Vielleicht beobachtete Dr. Claudius seinen Zustand zu genau und war zu froh darüber, daß irgend etwas noch jugendliche Regungen in ihm erwecken konnte, nachdem das Bewußtsein des Altwerdens ihn kurz zuvor so bedrückt hatte. Ein Mann ist nicht alt, sagte er zu sich, so lange er noch lieben kann, — und er liebte, — nun also, so lange er noch lieben kann, das Uebrige möge auf sich beruhen. Allmälig neigte sich die Sonne am westlichen Hügel, er rüttelte sich empor aus seinen Träumen, steckte sein Buch ein und ging heimwärts. Sein Tag war nicht auf viel herausgekommen, dachte er, er wollte den Abend in ernstem Studiren hinbringen und vor Nacht nicht mehr träumen. Aber heute Abend wollte er gesellig fein und sein Abendbrod — was übrigens, wie ihm eben erst einfiel auch zugleich sein Mittagessen sein würde — in Gesellschaft seiner Kollegen in ihrer Lieblingskneipe ein­ nehmen. Und morgen wollte er ganz bestimmt nach dem Engadin abreisen. Aber morgen kam, und der Herr Doktor schaute wie gewöhnlich aus dem Fenster und reiste weder nach Pontrefina noch sonst wo hin, eben so wenig den folgenden Tag. Wohl aber ging er Tag für Tag in dieser heißen Woche mit Buch und Pfeife nach dem Schloß hinauf, lag dort und las und rauchte und sagte zu sich: „Morgen reise ich ganz bestimmt." Es war beinahe rührend, wie Claudius Tag für Tag den Ort wieder aufsuchte, wo er ein vor­ übergehendes Gefühl von Jugend und Lebenslust empfunden

32 hatte, wo er zu seiner Ueberraschung entdeckt hatte, daß er noch voll Kraft und Leben und fröhlicher Hoffnung wäre, während er sich schon für so alt gehalten hatte. Wenn er so unter den Ruiuen lag, rief er sich das Erlebniß wieder zurück, und die Fremde nahm allmälig seine Seele ein, wie es etwa eine listige Zauberin gekonnt hätte; seinen Gedanken gab sie Gestalt, bis sie an ihr hafteten in bren­ nendem Verlangen. Er glaubte nicht ernstlich daran, ihr wieder im Schlöffe zu begegnen, denn er wußte wohl, daß sie nur ein Zugvogel sei; einen Augenblick an jenem heißen Tage hatte sie hier verweilt, um einen Ort zu be­ suchen, der ihr im Geiste längst vertraut war. Wie ein ächter Jünger der Philosophie versuchte er nicht, sich sein eignes Verhalten zu erklären, noch das Für und Wider seiner täglichen Besuche auf dem Schloß festzustellen. So ging die Woche hin und dann noch eine, und eines Tages, spät am Nachmittag, ging Claudius den Berg hinab und in sein Zimmer am Fluß, um dort noch eine Stunde zuzubringen, ehe er zum Abendbrod ausginge. Es war ein schöner Abend, er ließ die Thür nach dem Vorplatz halboffen, damit die frische Luft durchs Zimmer zöge, während er am Fenster» saß. Aus reiner Gewohnheit hatte er ein Buch zur Hand genommen, aber er las nicht. Das Geräusch der Straße, wo kleine Mädchen und Knaben mit einander vor den Häusern spielten, drang angenehm an sein Ohr. Eigentlich erschien ihm alles ganz fern, durch viel größere Entfernung getrennt, als die drei Treppen zwischen den spielenden Kindern und dem einsamen Nest der Gelehrsamkeit oben, wo er saß, ausmachten, und Dr. Clau­ dius war mit seinen Gedanken unendlich weit fort von des Schuhmachers Haus und des Spänglers Gretel und ihrer achtjährigen Liebeständelei. Claudius spielte mit

seinen Phantnfiegebilden, liebliche Gebilde gaukelte der Rauch ihm vor — dunkle Augen und schwarzes Haar, — und dann wurde er unrnhig^und er kam zu dem trocknen Schluß zurück, daß er alt sei, und daß dies eigentlich recht absurd wäre. „Ach, was würde ich nicht darum geben, wenn ich es genießen könnte, wenn ich vom Augenblicke wünschen könnte, daß er verweilen möge!" Er seufzte und lehnte sich in seinen hohen Stuhl zurück. Die Thür knarrte leise; er wähnte im Abendwind. Sie knarrte wieder, er wendete den Kopf um und sein Blick blieb starr auf die Oeffnung der Thür geheftet. Ein Paar schöne dunkle Augen sahen ihn fest und forschend an, als sie den seinen begegneten, schob sich ein glänzend schwarzer Kopf durch die Thür und schritt langsam durchs Zimmer und legte mit fragendem Blick den Kops aus des Doktors Schooß. Claudius liebte Thiere und streichelte das zutrauliche Geschöpf, indem er sich fragte, wem es wohl gehören möge und ob die Erscheinung des Hundes das Nahen eines Besuchs ankündigte. Aber der Hund war keiner von denen, die er dem Ansehen nach von den Heidelberger Straßen her kannte, jene prachtvollen Lieblingsthiere der Studenten, welche die Professoren ebensogut kennen wie jeder Ein­ wohner einer deutschen Universitätsstadt. Der Doktor streichelte den schönen Kopf und horchte auf Schritte von der Treppe her. Bald hörte er ein bedeutsames Stolpern, wie von Jemandem, der mit dem engen und dunklen Auf­ gang nicht vertraut wäre, und einen Augenblick darauf stand ein juunger Mann in der Thür, geblendet durch den Abendsonnenglanz, der ihm entgegenfluthete. „Wohnt Dr. Claudius hier?" fragte der Fremde mit Heller scharfer, aber gebildet klingender Stimme. Crawford, Doktor Claudius.

3

34 „Ich bin Dr. Claudius", sagte der Insasse des alten Stuhles und erhob sich höflich. „Bitte mein Herr, nehmen Sie Platz", und damit bot er den Stuhl seinem Gast, der mitten ins Zimmer getreten war. Es war ein junger Mann, nach der neuesten engli­ schen Mode gekleidet. Vermuthlich war er sehr mager, wenigstens nach Gesicht und Händen zu urtheilen, aber er war vorzüglich „zurechtgemacht". Er nahm den Hut ab und zeigte eine mäßig große Stirn, über der das Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt war. Obgleich er an­ scheinend nicht robust war, trug er doch einen Schnurrbart, der einem Kosaken Ehre gemacht hätte, seine Augen waren klein, grau und dichtaneinanderstehend, er hatte eine unge­ sunde Gesichtsfarbe, sehr kleine Füße und knochige Hände. Er nahm den angebotenen Stuhl, und Claudius setzte sich aufs Bett, welches in dem Heinen Zimmer keineswegs fo weit abstand, nm die Unterhaltung auf die Entfernung hin fchwierig zu machen. „Dr. Claudius?" wiederholte der Fremde und der Doktor nickte ernst. „Dr. Claudius, der Neffe des ver­ storbenen Herrn Gnstav Lindstrand in New Jork?" „Derselbe, mein Herr. Darf ich fragen, welchem glücklichen Znfall ich es verdanke-------- " „Ach so! natürlich!" nnterbrach ihn der andre. „Ich bin Herr Silas B. Barker junior ans New Jork, und mein Vater war ihres Onkels Compagnon." „Wirklich?" sagte Claudius, indem er aufstand und auf ihn zutrat; „bann müssen wir uns noch einmal die Hand schütteln", und sein Gesicht nahm einen freundlichen Ausdruck au. Er hielt nicht viel von ersten Eindrücken und war bereit jedwedem Freunde seines Onkels, wenn er auch noch so abstoßend aussähe, freundlichen Willkommen

35 zu bieten. Herr Barker war nicht geradezu abstoßend; er war allerdings nicht schön, aber es war etwas Thatkräftiges in seiner Erscheinung, das nicht unangenehm wirkte. Clau­ dius fühlte indessen sofort, daß der Amerikaner zu einer Menschenklasse gehörte, die ihm bis jetzt gänzlich unbekannt war. Sie schüttelten sich aber herzlich die Hand, und der Doktor setzte sich wieder. „Ist es schon lange her, seit Sie die Nachricht erhalten haben, Herr Professor?" fragte Herr Barker, mit transat­ lantischer Schnelligkeit, Titel zu gebrauchen. „Ich erfuhr meines Onkels Tod vor ungefähr drei Wochen — oder nicht ganz so lang." „Ja so, und die Nachricht vom Testament — haben Sie die auch erhalten?" „Gewiß", sagte der Doktor, „zu gleicher Zeit." „Nun", sagte der Amerikaner, „gedenken Sie hier wohnen zu bleiben?" Claudius sah seinen Besuch an. Er kannte noch nicht die überseeische Neugier und fand die Frage etwas sonder­ bar. Jndesien dachte er, Herrn Barkers Vater könnte viel­ leicht ein moralisches Recht haben, zu wiflen, was der Erbe seines frühern Partners mit seinem Gelde anfangen wolle, und so beantwortete er die Frage kategorisch. „Ich war, wie Sie sich denken können, durch die Nach­ richt, daß ich ein großes Vermögen geerbt hätte, sehr über­ rascht. Aber bei Ihren Lebensgewohnheiten", — dabei blickte der Doktor auf Barkers tadellosen Anzug — „werden Sie kaum begreifen, daß ein so großer Reichthum mir keine ungemischte Freude macht." Claudius setzte dann auseinander, wie wenig er sich aus den Dingen mache, die ihm sein Geld verschaffen könne, und erklärte seine Absicht, fürs erste seine bisherige

3'

36 Lebensweise fortzusetzen.

Herr Silas

B. Barker

junior

aus New Jork riß seine kleinen Augen immer weiter aus, während der Doktor ihm seine Ansichten darlegte. „Ich denke, Sie müßten sich zu Tode langweilen", sagte

er gerade heraus. „Langeweile, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, giebt es nicht für Jemanden, dessen Leben der Wissenschaft gewidmet ist. andre Sache.

Bewußtsein

Etwas dementsprechendes ist freilich eine Ich fühle mich mitunter bedrückt durch das tiefer Unzufriedenheit mit dem, was ich

treibe —" „Das sollt' ich meinen!" platzte Herr Barker heraus,

nahm sich aber zusammen und setzte hinzu: „Verzeihen Sie,

mißverstehen Sie mich nicht! Ich kann ein Sehen wie das Ihre kaum begreifen. Ich könnte nie Professor werden!" Claudius hielt diesen Ausspruch für vollkommen richtig. Herr Barker sah nicht im mindesten wie ein Professor aus. Der Doktor wollte aber höflich sein. „Sind Sie eben erst angekommen? Haben Sie die Sehenswürdigkeiten der Stadt angeschaut?" „Ich kam gestern Abend von Baden-Baden — hin schon früher hier gewesen. Sie sollten lieber mit mir-in mein Hotel kommen und mit mir speisen. Zuerst aber wollen wir irgendwo hinsahren, um uns abzukühlen."

Claudius zog seinen besten Rock an und bürstete sein Haar, indem er sich bei Herrn Barker wegen dieses Mangels an Förmlichkeit entschuldigte. Herr Barker beobachtete ihn und dachte, der würde in New Jork Aufsehen machen.

„Wir könnten aufs Schloß fahren", sagte der Ameri­ kaner, als sie im Wagen saßen. Also fuhren sie aufs Schloß,

ließen den Wagen am Eingang halten und schlenderten langsam einher, bis sie an den gesprengten Thurm kamen.

37 „ Wenn sie Dynamit gebraucht hätten", sagte Barker, „so wäre das ganze Ding bis über den Flutz geflogen." „Es wäre dann nachher nicht so malerisch gewesen", sagte Claudius. „Aber seiner Zeit von größerer Wirkung." Claudius dachte an die brünette Dame und ihren Sonnenschirm, und wie er vor wenig Wochen da hiuuntergeklettert. — Um sich selbst zu beweisen, daß er sich nichts daraus mache, erzählte er seinem Begleiter den Vorfall so lebhaft wie möglich. Seine Schilderung der Dame war so lebendig, daß Herr Barker die Augen verdrehte und den Mund verzog, so daß zwei scharfe Linien sein Gesicht durch­ furchten, von der Nase ab unter dem dicken Schnurrbart herab bis zum Kinn. „Mir ist so, als hätte ich die irgendwo gesehen", sagte er. „Wo?" fragte Claudius rasch. „Ich dachte mir wohl, daß er sich verrathen würde", war des Amerikaners scharfsinniger Gedanke; indeflen er­ widerte er ganz gelassen: „Ich weiß wirklich nicht recht. Wahrscheinlich irre ich mich. Es war ein romantischer Gedanke! Laden Sie mich zur Hochzeit ein, Professor." „Zu welcher Hochzeit?" „Nun, wenn Sie das bezaubernde Wesen mit dem Sonnenschirm heirathen." Claudius sah Herrn Barker erstaunt an. „Geht das bei Ihnen zu Lande so schnell? „Ach ich scherzte nur", entgegnete der Amerikaner. „Aber selbstverständlich können Sie ja heirathen wen Sie wollen, und warum nicht die brünette Dame? Ich an

Ihrer Stelle würde doch die Eingebornen in Erstaunen setzen, ehe ich fortreifte. Sie könnten zum Beispiel dieses Schloß kaufen und ein Hotel daraus machen." „Schauderhaft!" rief Claudius. „Nicht schlimmer als die Schweiz zu einem Hotel machen, die doch eine ältere und interessantere Merkwürdig­ keit ist als das Heidelberger Schloß. „Epigrammatisch, doch nicht treffend, Herr Barker." „Das sind Epigramme und Sprichwörter gewöhnlich nicht." „Ich denke, Sprichwörter doch nur dann nicht, wenn sie unüberlegt angewandt werden", meinte Claudins. „Kann sein! Das Leben ist zu kurz, um die Zeit mit Waffen zu vergeuden, die nur auf besondere und alt­ modische Weise losgehen. Wenn ich schieße, will ich treffen." So gingen sie zu Tisch. Claudius sand, daß er in der Gesellschaft seines neuen Gefährten fröhlicher wurde, als er seit lange gewesen war. Er hätte nicht sagen können, ob Barker ihm gefiele oder interessirte, aber er fühlte, daß irgendwo irgend etwas existirte, — was, das konnte er nicht sagen, — das Herr Barker durch und durch verstände, und wobei er sehr zu seinem Vortheil erscheinen würde. Er fühlte, daß der Amerikaner, wie oberflächlich und unkünstlerisch er auch sein mochte, doch kein Narr wäre. Es war an ihm etwas Scharfes, Schneidiges, das auf einen Charakter schließen ließ, der auf andre Einfluß haben könne, und der das Leben hart und verwegen angreife. Sie speisten so gut als das in einem nicht gastrono­ mischen Lande möglich war, und Herr Barker holte eine besonders feine Sorte Cigarren hervor, ohne welche er, wie er bemerkte, nie auf Reisen ging. Es waren dicke braune Havannas und sie schmeckten Claudius.

39 „Wir wollen nach Baden-Baden gehen", sagte Barker, seine Cigarre rauchend, die unter seinem ungeheurn Schnurr­ bart hervorragte, wie eine Kanone aus der Schießscharte eines altfränkischen Königsschlosses. „Wenn ich harmlose Erholung von meiner Arbeit suche, so ist das nicht eben der Ort, den ich mir zur Zer­ streuung wählen würde", erwiderte Claudius. „Die Gegend ist herrlich, aber die Leute sind abscheulich." „Da stimme ich Ihnen bei; aber es ist doch ein netter Ort. Man kann ja zum Zeitvertreib immer spielen." «Ich spiele nie Hazard, und übrigens ist jetzt keine Spielbank in Baden." „Aus Grundsatz oder Neigung, Professor?" „Ich muß wohl zugeben, aus Grundsatz. Ich spielte als Student mitunter; aber ich mag nichts dem Zufall überlassen. Ich würde es bei keiner andern Sache thun." „Nun, wahrscheinlich haben Sie recht; aber Ihnen entgeht eine tüchtige gesunde Aufregung. Sie haben nie das Vergnügen erfahren, keine tausend N. P. oder Wabash zu haben, wenn Hausse war. „Ich fürchte, ich verstehe das Gleichniß nicht, Herr Barker." „Nicht? Nun das ist nicht zu verwundern. Wenn Sie je nach New Jork kommen, werden Sie sich vielleicht für die Effektenbörse interessiren." „Ach so — darauf spielten Sie an? Ja, ich habe etwas über Ihre Art der Geschäftsführung gelesen, aber ein solches Studium schlägt nicht in mein Fach. Warum wählen Sie Baden und nicht lieber einen -ruhigern Ort?" »Ich glaube, ich liebe Menschengewühl. Ueberdies habe ich dort einige Bekannte. Aber ich möchte mit Ihnen reisen, und wenn Sie zu Baden-Baden keine Lust haben,

40 können wir auch wo anders hingehen.

Ich denket wir

müssen näher miteinander bekannt werden, und vielleicht bringe ich Sie doch noch dazu, mit mir nach New Aork zu kommen." Claudius schwieg und blies eine große Rauchwolke vor sich hin. Was für einen Reisegefährte würde Barker für ihn abgeben? Konnte man sich einen größern Gegen­ satz zu seinem Wesen denken? Und doch fühlte er, daß er Barker gern beobachten möchte. Ohne zu wissen weshalb, fühlte er sich zu ihm hingezogen, und er hatte die Ahnung, daß der Amerikaner ihn aus seinem ruhigen Leben Heraus­ reißen und in eine ganz andre Sphäre bringen würde. Herr Barker seinerseits hatte den Instinkt eines Barnum. Er hatte ein Geschöpf gefunden, das Anlagen zu einem ungeheuern „Löwen" in sich hatte, und da er es gefunden, wollte er es einfangen und ausstellen, und sich dann immer rühmen, daß er den schönen, reichen und hochbe­ gabten Dr. Claudius aus einer Dachkammer in Heidelberg hervorgeholt habe. Was für eine Geschichte könnte er nächstes Jahr erzählen, wenn Claudius, gut gekleidet und geschoren, die Schönheit der Saison heirathete, oder mit seinem Wagen durch die Allee von New Aork führe, oder sonst irgend etwas von den amüsanten Dingen thäte, die Amerikaner im Frühling und Sommer so gern thun! Herr Barker bestand darauf, Claudius nach seiner Wohnung zurückzufahren, obwohl es ein Weg von kaum fünf Minuten war, und preßte dem Doktor das Versprechen ab, daß er ihn am nächsten Vormittag zu einem ächten deutschen Frühstück im -Faulen Pelz mitnehmen werde, und daß sie dann am Nachmittag irgendwo Hinreisen wollten. Claudius sagte, er hätte einen sehr angenehmen Abend verlebt, und ging aus sein Zimmer, wo er einen sehr ge-

41 lehrten Artikel über die Theorie des Strudels von Professor

Helmholtz las, an dem er sich versucht fühlte, etwas auszu­ da er sich selbst ein wenig mit transzendentaler Geometrie beschäftigt hatte, und dann ging er ruhig zu setzen,

Bett.

Drittes Kapitel. Claudius sagte seinem alten Wirth — seinem Philister, wie er ihn zu nennen pflegte — daß er für etwa einen Monat auf seine gewöhnliche Fußreise ginge. Er packte

ein Buch und wenige Sachen in seinen Reisesack und stieß mit Barker zusammen. In seiner Einfachheit fand Clau­ dius nichts Unpassendes darin, daß er, ein schlichter Ge­ lehrter, mit dem übertrieben elegant gekleideten New Iorker reifte, und dieser war zu sehr Weltmann, um sich um den Anzug seines Reisegefährte» zu kümmern. Seine Absicht war, daß der Doktor binnen kurzem der geschickten Hand eines englischen Schneiders anvertraut werden sollte, und er that

ein Gelübde, daß das lange blonde Haar abgeschnitten werden müsse. Allein diese Einzelheiten entsprangen seinem

Instinkt als „Aussteller"; was ihn persönlich anbetraf, so würde er eben so gern mit Claudius gereift fein, wenn er Er wußte, daß Claudius ein sehr reicher Mann war und achtete fürs sich auch wie ein Schuhputzer angezogen hätte.

Erste seine Excentricität.

Um die von

ihm beabsichtigte

Verwandlung des standesgemäßen und halbcynischen An­ zugs in den Glanz eines modernen Stutzers zu bewerk­

stelligen, rechnete Barker auf einen mächtigern Einfluß als

den feinigen.

Der einzige Punkt,

über den er ganz ins

41 lehrten Artikel über die Theorie des Strudels von Professor

Helmholtz las, an dem er sich versucht fühlte, etwas auszu­ da er sich selbst ein wenig mit transzendentaler Geometrie beschäftigt hatte, und dann ging er ruhig zu setzen,

Bett.

Drittes Kapitel. Claudius sagte seinem alten Wirth — seinem Philister, wie er ihn zu nennen pflegte — daß er für etwa einen Monat auf seine gewöhnliche Fußreise ginge. Er packte

ein Buch und wenige Sachen in seinen Reisesack und stieß mit Barker zusammen. In seiner Einfachheit fand Clau­ dius nichts Unpassendes darin, daß er, ein schlichter Ge­ lehrter, mit dem übertrieben elegant gekleideten New Iorker reifte, und dieser war zu sehr Weltmann, um sich um den Anzug seines Reisegefährte» zu kümmern. Seine Absicht war, daß der Doktor binnen kurzem der geschickten Hand eines englischen Schneiders anvertraut werden sollte, und er that

ein Gelübde, daß das lange blonde Haar abgeschnitten werden müsse. Allein diese Einzelheiten entsprangen seinem

Instinkt als „Aussteller"; was ihn persönlich anbetraf, so würde er eben so gern mit Claudius gereift fein, wenn er Er wußte, daß Claudius ein sehr reicher Mann war und achtete fürs sich auch wie ein Schuhputzer angezogen hätte.

Erste seine Excentricität.

Um die von

ihm beabsichtigte

Verwandlung des standesgemäßen und halbcynischen An­ zugs in den Glanz eines modernen Stutzers zu bewerk­

stelligen, rechnete Barker auf einen mächtigern Einfluß als

den feinigen.

Der einzige Punkt,

über den er ganz ins

42 Klare gekommen, war, daß Claudius mit ihm nach Ame­ rika reisen und dort großes Aufsehen machen müsse. „Ich bin neugierig, ob wir sie treffen werden", sagte Herr Barker nachdenklich, als sie im Zuge saßen. „Wen?" fragte Claudius, der sich vorgenommen hatte, seines Begleiters Neckereien nicht zu verstehen. Aber Herr Barker hatte seinen Pfeil abgeschossen und antwortete gewandt: „Sagte ich etwas? Ich muß mit mir selbst gesprochen haben." Claudius war indessen nicht so sicher; aber die An­ spielung hatte ihre Wirkung gethan, da sie dem unbe­ stimmten Gang seiner Gedanken begegnete und ihnen eine Richtung gab. Er fing jetzt selbst an, darüber zu grübeln, ob wohl eine Wahrscheinlichkeit für ihn vorhanden wäre, die Dame zu treffen, an die er so viel gedacht hatte, und bald setzte er sich in Gedanken ein Gespräch zusammen, das bei ihrer ersten Wiederbegegnung stattfinden sollte, in­ dem er solche Kleinigkeiten wie die Wahrscheinlichkeit, die etwaige Vorstellung und andere Förmlichkeiten mit der Leichtigkeit übersprang, die einem an wissenschaftliche Spe­ kulation gewöhnten Geist eigen ist. „Die Gegend ist schön, nicht wahr?" bemerkte Clau­ dius als sie sich Baden-Baden näherten. „O ja! für Europa! Wir machen das besser in Amerika!" „Wie das?" „Drehscheiben! Man kann die Felsen umdrehen und von der anderen Seite besehen." Claudius lachte ein wenig, aber Barker lächelte nicht einmal. Er schien damit beschäftigt, eine Erfindung zu ersinnen, wodurch man Landschaften sortrollen könnte. In Wirklichkeit dachte er an ein Menu für das Mittagessen,

43

wobei sein Freund satt werden und er nicht verhungern könnte. Denn Herr Barker war sehr eigen im Essen und daran gewöhnt, jeden Tag üppig zu speisen, während der Doktor, wie er bemerkt hatte, gern Würstchen und Sauer­ kraut aß. Aber er wußte, daß ein so entarteter Geschmack nicht lange den Reizen und dem einschmeichelnden Hyper­ sensualismus von Delmonico widerstehen würde, wenn er den Doktor nur erst so weit hätte. Nachdem das Geschäft des Mittagessens vorüber war, versprach Herr Barker in einer Stunde wiederzukommen und rückte aus, um die ihm bekannte „Brittische Aristo­ kratie" aufzusuchen. Die Brittische Aristokratie trank ganz allein ihren Kaffee in dem besten Kaffeehause und begrüßte Herrn Barkers Kommen mit dem größten Interesse, denn sie waren gleichgesinnte Seelen. „Wie gehts, Herzog?" „Danke, ganz gut. Wo sind sie gewesen? „O überall. Ich suche Sie eben." „So?" sagte die Aristokratie in fragendem Tone. „Ja; ich wünsche, daß Sie mich einer Ihrer Bekannten vorstellen." „Gern! Wem?" „Sie hat schwarze Augen und dunkles Haar, dunkeln Teint, mittelgroß, schöne Gestalt, trägt einen Sonnenschirm mit Elfenbeinstock, darauf ein großes M. und eine Krone" Herr Barker wartete auf einen verständnißvollen Blick vonseiten des Engländers. „Sicher, daß sie hier ist?" fragte dieser. „Kanns nicht beschwören. Sie ist vor etwa drei Wochen in Heidelberg gesehen worden, wo sie die Gegend bewunderte und ihren Schirm fallen liefe." „O! Ach ja. Kommen Sie!" und die Brittische Aristo-

44 kratie steckte die Rose im Knopfloch zurecht und ging vor­ an. Der Herzog marschirte mit langen Schritten, aber Herr Barker ging zierlich wie Agag. „Hören Sie, Barker, es ist übrigens eine Lands­ männin von Ihnen, an einen Russen verheirathet, sie heißt Margarethe." „War es eine glückliche Heirath?" fragte der Ameri­ kaner und nahm die Cigarre aus dem Munde. „Außerordentlich. Der Mann fiel bei Plewna, hinter­ ließ ihr viel Groschen." Sie erreichten ihr Ziel. Die Gräfin war zu Hause. Sie freute sich, die Bekanntschaft des Herrn zu machen, und als sie hörte, daß er er ein Amerikaner und also ihr Landsmann wäre, war sie entzückt. Sie unterhielten sich angenehm. Nach etwa zwanzig Minuten erinnerte sich der der Aristokrat, daß er eine Verabredung habe, und ent­ fernte sich, aber Herr Barker blieb. Er benutzte seinen Vortheil eigentlich zu sehr, aber es fehlte ihm nicht an Dreistigkeit. „Also auch Sie, Gräfin, sind diesen Sommer in Heidelberg gewesen?" „Za, vor etwa drei Wochen. Ich liebe die alte Stadt sehr." „Wirklich entzückend," sagte Barker, „das Schloß, der alte Thurm, zur Hälfte in die Luft gesprengt in dem schmählichen Kriege —" „Ach, da begegnete mir so etwas Komisches!" rief die Gräfin Margarethe, indem sie harmlos in die Falle ging. „Ich stand mit Fräulein Skeat gerade am Rande, — wie Sie wissen, ist das meine Gesellschafterin — und ließ meinen Sonnenschirm fallen und der stürzte polternd in die Tiefe; plötzlich stand da wie aus den Wolken gefallen - "

45 „Ein deutscher Professor, sieben oder acht Fuß groß, der dem Sonnenschirm nachsprang und wieder in die Höhe kletterte und sich verbeugte und Sie Ihrem Erstaunen überließ. Wollten Sie das nicht sagen, Gräfin?" „Ich glaube, Sic sind ein Medium", sagte die Gräfin, indem fie Barker verwundert ansah. „Aber vielleicht rathen Sie nur so! Können Sie mir sagen, wie jener deutsche Professor aussah?" „Gewiß. Er hatte langes blondes Haar und einen Bart wie Rip van Winkle") und große weiße Hände; im Ganzen genommen war er eine der auffallendsten Erschei­ nungen, die Ihnen je vorgekommen." „Es ist klar, daß Sie ihn kennen, Herr Barker, und daß er Ihnen die Geschichte erzählt hat. Aber wie Sie wissen können, daß ich —" „Kombination und die Schilderung meines Freundes." „Aber wie kommen Sie zu einer vertrauten Bekannt­ schaft mit deutschen Professoren, Herr Barker? Sind Sie gelehrt oder etwas derart?" „Er war bisher ein deutscher Professor. Jetzt ist er eine Seltsamkeit — ohne Zweck; besitzt Millionen und wohnt in einer Heidelberger Dachstnbe und wünscht, daß er wieder arm wäre." „Was für ein interessanter Mensch! Bitte, erzählen Sie weiter." Barker erzählte von Claudius, soviel er selbst wußte. „Zu reizend!" ries die Gräfin Margarethe und schaute gedankenvoll aus dem Fenster. „Gräfin," sagte der Amerikaner, „wenn ich auch nur *) In Washington Irving s gleichnmniger Erzählung. Anmerk. d. Ueberk.

46 seit vierundzwanzig Stunden die Ehre Ihrer Bekanntschaft hätte, so würde ich es wagen, Sie um Erlaubniß zu bitten, meinen Freund vorstellen zu dürfen. So aber Herr Barker hielt inne. „So aber will ich Ihnen ungebeten die Erlaubniß geben", sagte die Gräfin ruhig, noch immer aus dem Fenster schauend. „Ich bin noch Amerikanerin genug, um zu wissen, daß Ihr Name eine Bürgschaft für Jeden ist, den Sie vorstellen." „Sie find sehr gütig", sagte Barker bescheiden. In der That war der Name Barker in Verbindung mit Unter­ nehmungen in New Aork ehrenvoll bekannt. Die Barkers waren zwar nicht Holländer, aber sie hatten demnächst den höchsten Anspruch auf Ansehen, insofern als ihr Ahnherr in Salem im Staate Maffachusetts gelebt hatte. Bringen Sie ihn am Vormittag", sagte die Gräfin nach kurzem Besinnen. „Etwa um zwei Uhr?" „Ach nein! Etwa um elf. Ich liebe frühe Stunden. Ich stehe bei Tagesanbruch auf." „Erlauben Sie mir, Ihnen im Namen meines Freun­ des wie in meinem eignen zu danken!" sagte Herr Barker und verneigte sich tief über die Hand der brünetten Dame, indem er sich von ihr verabschiedete. „Sehr erfreut, Sie gesehen zu haben. Heutzutage ist es angenehm, einen zivilisirten Landsmann kennen zu lernen." „Das ist nichts im Vergleich zu dem Vorzüge, einer liebenswürdigen Landsmännin zu begegnen", erwiderte Herr Barker und schlüpfte aus dem Zimmer. Die brünette Dame stand einen Augenblick still und sah die Thür an, durch welche ihr Besuch verschwunden war.

47 Es war unterdessen beinahe neun Uhr geworden, sie klin­ gelte nach Licht und sank in einen niedrigen Stuhl, wäh­ rend der Diener es hereinbrachte. Die Kerzen flackerten in dem leichten Abendwinde, der durchs Zimmer wehte, und da sie keine Lust zum Lesen hatte, ließ die Gräfin Fräulein Skeat rufen. „Wie klein ist doch die Welt!" so fing Margarethe das Gespräch an. Fräulein Skeat setzte sich an den Tisch. Sie war mager und gelb, mit vorstehenden Knochen. Sie trug eine in Gold gefaßte Brille und war gut gekleidet, einfach schwarz, mit einer weißen Krause um ihren langen sehnigen Hals. Sie war sehr häßlich, hatte aber ein gewiffes Ge­ präge würdiger Eleganz, und ihr Gesicht sah zutrauener­ weckend und nicht unfreundlich aus. „Bezieht sich das auf einen besondern Fall!" fragte sie, da sie sah, daß die Gräfin erwartete, sie sollte etwas sagen. „Besinnen Sie sich daraus, wie ich in Heidelberg meinen Schirm fallen ließ?" „Ganz genau", erwiederte Fräulein Skeat. „Und auch auf den Mann, der ihn aufhob, der aus­ sah wie Niemann im Lohengrin?" „Freilich, es muß ein Professor gewesen sein. Ich erinnere mich seiner sehr gut." „Ein Bekannter von mir brachte heute einen Bekannten hierher, und der Betreffende selbst wird morgen kommen." „Wie heißt er?" fragte die Gesellschafterin. „Ich weiß nicht, aber Herr Barker sagt, er sei sehr romantisch. Er ist sehr reich, und doch wohnt er in einer Dachkammer in. Heidelberg und wünscht, er wäre arm." „Sind Sie ganz sicher, daß er bei Sinnen ist, liebe Gräfin?"

48 Margarethe sah Fräulein Skeat freundlich an. Die arme Dame! Einst war sie reich gewesen und hatte nicht in einer Dachkammer gewohnt. Geld bedeutete für sie Freiheit und Unabhängigkeit. Nicht als ob sie sich bei Margarethe unglücklich fühlte, die immer gütig und rück­ sichtsvoll gegen sie war und sie schätzte wie eine Freundin; aber sie hätte lieber aus freier Wahl als nothgedrungen mit Margarethe zusammen gelebt, denn sie war aus einer guten schottischen Familie und sehr stolz. „O ja!" antwortete die Gräfin. „Er ist sehr gelehrt, ein Philosoph, und wird Ihnen gewiß gefallen. Wenn er zivilisirt ist, wollen wir ihn zn Tisch einladen." „Zedensfalls!" sagte Fräulein Skeat eifrig. Sie hatte gern Verkehr mit gescheuten Leuten, und die Gräfin hatte sich in letzter Zeit einem Anfall von Menschenscheu hinge­ geben. Fränlein Skeat nahm den neusten Roman von Turgenjew, zur Hand und mit einem Papiermesser bewaffnet, fing sie an der Gräfin vorzulesen. Es war schon spät als Barker Claudius damit be­ schäftigt fand, Gleichungen auf einen Briefbogen zu kritzeln. Der Doktor sah seinen Bekannten freundlich an. Es war ihm faftj so, als habe er seine Gegenwart vermißt, aber das Gefühl war zu neu, als daß er hätte daran glauben können. „Haben Sie Ihre Bekannten getroffen?" fragte er, „Ja, durch einen glücklichen Zufall. Gewöhnlich trifft man die unrechten Leute!" „Cynismus paßt nicht zu Ihrem Charakter, Herr Barker." „Nein, ich kann Cyniker nicht leiden. Gewöhnlich ists Ziererei und in jedem Fall ists Unsinn. Aber ich denke, die unrechten Leute haben es an sich, immer im unrechten

49 Augenblick zu erscheinen." Nach einer Pause, während welcher Herr Barker eine Cigarre anzündete und seine dünnen Beine und zierlichen Füße auf einen vor ihm stehenden Stuhl ausftreckte, fuhr er fort:

„Professor, haben Sie eine starke und festgewurzelte Abneigung gegen den Umgang mit Frauen?"

Als Barker ihm mit dieser Frage geradezu auf den Leib rückte, legte der Doktor sein Stück Papier in sein Buch, trommelte mit dem Bleistift auf dem Tisch und dachte einen Augenblick nach. Barker rauchte in regel­ mäßigen Zügen.

„Nein", sagte Claudius endlich, „ganz gewiß nicht. Einer Frau verdankt der Mann sein Leben, und einer Frau sollte er sein Glück verdanken. Ohne die Frauen wäre jede Civilisation unmöglich, und der Verfall der Gesell­ schaft gewiß." „Oh!" rief Herr Barker aus. „Zch verehre die Frauen im abstrakten und konkreten Sinne. Ich achte ihre Mission, und ich schätze die Gaben des Himmels, welche sie zur Erfüllung derselben befähigen." „Ah!" rief Herr Barker. „Zch denke, in der ganzen Schöpfung läßt sich nichts dem Weibe vergleichen, selbst nicht der Mann. Sie werden natürlich sagen, daß ich ein Schwärmer bin, aber ich glaube, daß Hingebung und Verehrung für das Weib die höchste Pflicht des Mannes ist, gleich nach der Anbetung und Verehrung des höchsten Wesens, das alle Völker insgemein Gott nennen".

„Danke, das genügt," sagte Herr Barker, „ich bin völlig befriedigt durch Ihre Anbetung und will nicht nach ihrem Namen fragen." Crawford, Doktor Claudius.

4

50 „Sie hat keinen Namen, und hat alle Namen", fuhr Claudius ernst fort. „Sie ist ein Ideal". „Ja mein schwacher Geist begreift, daß sie nichts an­ deres sein kann. Aber ich hatte kein Glaubensbekenntniß verlangt. Ich fragte nur, ob Ihnen Damengesellschaft un­ angenehm wäre, denn ich wollte Sie gern einigen meiner hiesigen Bekannten vorstellen". „Ach so!" sagte Claudius, indem er sich in den Stuhl zurücklehnte und die Lampe anstarrte. Barker schwieg. Der Doktor war in Verlegenheit. Er dachte, es würde unhöflich sein, Barkers Vorschlag abzulehnen. An­ drerseits trotz Betheurungen seiner Verehrung für das schöne Geschlecht, war er sich wohl bewußt, daß feine erhabenen Begriffe von den Frauen im allgemeinen in den letzten Jahren stärker geworden waren, seit er weniger mit ihnen in Berührung gekommen war. Für ihn war das eine schöne Theorie, der Erguß einer in sich selbst zu­ rückgedrängten ritterlichen NaKrr, doch nicht auf einer genauen Kenntniß des weiblichen Charakters beruhend und noch viel weniger auf persönlicher Erfahrung in der Liebe. Die Höflichkeit trug den Sieg davon und er antwortete: „Wenn Ihnen wirklich daran gelegen ist, mich Ihren Freunden vorzustellen, so werde ich natürlich —" „Ach, versteht sich, nur wenn es Ihnen angenehm ist. Wenn das Gegentheil der Fall ist —" fiel der höfliche Herr Barker ein. „Nein, das nicht! Nicht gerade unangenehm. Nur ists ziemlich lange her, seit ich den Vorzug gehabt habe, mich mit Damen zu unterhalten, und überdies, wenns nun einmal so kommt — ich bin hier als Fußreisender und sehe nicht besonders präsentabel aus". „Darüber machen Sie sich keine Gedanken. Da Sie

51 einwilligen", fuhr Barker schnell fort, alles für ausgemacht annehmend, „darf ich Ihnen sagen, daß die betreffende Dame den Wunsch ausgesprochen hat, Sie kennen zu lernen, und daß ich nicht anders konnte, als ihr versprechen, Sie wenn irgend möglich zu ihr zu bringen. Was Ihr Aus­ sehen anbetrifft, so kommt es darauf garnicht an. Wenn es Ihnen nicht unbequem wäre, könnten Sie sich vielleicht das Haar schneiden lassen. Nehmen Sie es mir nicht übel, Professor, aber durch nichts macht man so sehr den Ein­ druck eines gutgekleideten Mannes als durch einen wohlsrifirten Kopf." „O gewiß, wenn Sie meinen, will ich mir das Haar abschneiden lassen, es wird bald wieder wachsen." Herr Barker lächelte hinter dem Schutz seines Schnurr­ barts. „Ja", dachte er, „aber es soll nicht!" „Dann", sagte er laut, „wollen wir um elf hingehen." Claudius zerbrach sich den Kopf, wer die Dame sein könnte, die ihn kennen lernen wollte, aber er mochte nicht fragen. Barker würde sich gleich einbilden, daß er an die brünette Dame dächte. Freilich stand es bei ihm in Gedanken fest, daß sie es sein müsse, und er baute Luft­ schlösser und dachte sich Gespräche mit ihr aus. Barker beobachtete ihn und errieth wahrscheinlich seine Gedanken; aber er wollte sich nicht die geplante Ueberraschung ver­ derben, und da er fürchtete, Claudius könnte eine verfäng­ liche Frage stellen, ging er zu Bett und überließ den Dok­ tor seinen Betrachtungen. Am Morgen lauerte er seinem Freunde auf, der früh in den Wald gegangen war. Er glaubte, daß ein neuer Angriff nöthig sein würde, ehe das blonde Haar zum Opfer fiele, und stand auf den Stufen vor dem Gasthofe aufs feinste in Grau gekleidet, mit glänzenden Lackstiefeln. Im

4*

52 Knopfloch trug er eine weiße Rose und sein großer schwar­ zer Hund lag ihm zu Füßen; er hatte sich wirklich endlich eingefunden, denn das Thier trieb sich gern herum oder zog die plebejische Gesellschaft von Barkers Diener vor. Der sorgfältige Anzug des Amerikaners bildete einen selt­ samen Gegensatz zu seinem bleichen Gesicht und der knochi­ gen Hand, die auf der Säule ruhte. Er war jung, aber er sah an diesem Morgen nicht so aus. Bald zwinkerte er mit den Augen und veränderte erwartungsvoll seine Stellung, denn er sah die hohe Gestalt von Claudius die übrigen Spaziergänger um eines Hauptes Länge über­ ragend; und merkwürdig zu berichten: sein langes blondes Haar war fort, der lange Bart sorgfältig beschnitten und geglättet, und der Doktor trug einen neuen grauen Hut. „Wenn er sich die Stiefel wichsen läßt und eine Rose ins Knopfloch steckt, kann er pasfiren. Was für ein ele­ ganter Mensch wird er sein, wenn er ordentlich angezogen ist!" dachte Herr Barker, indem er seinen Freund ansah. „Wie Sie sehen, habe ich Ihren Rath befolgt", sagte Claudius ihm die Hand reichend. „Thun Sie das immer, und Sie werden Ruhm ern­ ten!" sagte der andre vergnügt. „So sehen Sie wie ein Kronprinz aus. Wirklich kolossal!" „Ich glaube, ich bin ziemlich groß", sagte Claudius wie entschuldigend, denn er verstand den amerikanischen Ausdruck nicht richtig. Aber Herr Barker gab keine weitere Erklärung, denn er hatte andre Dinge im Kopf. „Wir müssen bald gehen. Verzeihen Sie meine Frei­ müthigkeit, Professor, aber Sie könnten sich die Stiefel wichsen lassen. An der Hintertreppe ist ein kleiner Bengel, der es thun kann." „Natürlich", sagte Claudius und verschwand im Hause.

53 Ein kleiner Mann, der eben herauskam, drehte sich um und sah ihm durch die Lorgnette nach. Dann grüßte er Herrn Barker. „Entschuldigen Sie, mein Herr, redete er ihn an, „wenn ich mir eine Frage erlaube, können Sie mir vielleicht den Namen jenes Herrn nennen, besten Erscheinung mich in Erstaunen setzt, und besten große Gestalt die Gegend von Baden-Baden verdunkelt?" „Ja," sagte er nachdenklich, „Seine Königliche Hoheit ist wirklich sehr groß", und während der andre sich sam­ melte, um noch eine Frage zu thun, ging Barker langsam fort und trat an einen Blumenladen. Als Claudius wiederkam, wartete sein Freund schon auf ihn und steckte ihn mit eigner Hand eine große kost­ bare Blume ins Knopfloch. Herr Barker beschaute sein Werk, — den beschornen Kopf, den neuen Hut, die blanken Stiefel und die Rose, — mit einer so zufriedenen Miene, wie etwa Barnum seinen Jumbo, als er ihn glücklich in New Aork ans Land gebracht hatte. Dann rief er eine Droschke und sie fuhren ab.

Vierte« Kapitel. Der sommerliche Duft von Rosen strömte aus dem kleinen Garten süß in die hohen Fenster des Wohnzim­ mers der Gräfin, als Claudius und Barker eintraten. Das Zimmer trug ein Gepräge luxuriöser Wohnlichkeit, welches den Amerikaner augenscheinlich anheimelte, denn er rieb sich wohlgefällig die Hände und berührte leise einige Gegenstände, während sie auf die Dame des Hauses warteten.

53 Ein kleiner Mann, der eben herauskam, drehte sich um und sah ihm durch die Lorgnette nach. Dann grüßte er Herrn Barker. „Entschuldigen Sie, mein Herr, redete er ihn an, „wenn ich mir eine Frage erlaube, können Sie mir vielleicht den Namen jenes Herrn nennen, besten Erscheinung mich in Erstaunen setzt, und besten große Gestalt die Gegend von Baden-Baden verdunkelt?" „Ja," sagte er nachdenklich, „Seine Königliche Hoheit ist wirklich sehr groß", und während der andre sich sam­ melte, um noch eine Frage zu thun, ging Barker langsam fort und trat an einen Blumenladen. Als Claudius wiederkam, wartete sein Freund schon auf ihn und steckte ihn mit eigner Hand eine große kost­ bare Blume ins Knopfloch. Herr Barker beschaute sein Werk, — den beschornen Kopf, den neuen Hut, die blanken Stiefel und die Rose, — mit einer so zufriedenen Miene, wie etwa Barnum seinen Jumbo, als er ihn glücklich in New Aork ans Land gebracht hatte. Dann rief er eine Droschke und sie fuhren ab.

Vierte« Kapitel. Der sommerliche Duft von Rosen strömte aus dem kleinen Garten süß in die hohen Fenster des Wohnzim­ mers der Gräfin, als Claudius und Barker eintraten. Das Zimmer trug ein Gepräge luxuriöser Wohnlichkeit, welches den Amerikaner augenscheinlich anheimelte, denn er rieb sich wohlgefällig die Hände und berührte leise einige Gegenstände, während sie auf die Dame des Hauses warteten.

54 Claudius schaute auf den Tisch und nahm ein Buch zur Hand, mit der eigenthümlichen Gewohnheit der Gelehrten, die sich nie verliert. Es war ein Band englischer Gedichte und in einem Augenblick hatte er sich darin verlieft, so wie er dastand, Hut und Buch in derselben Hand, ohne weiter an Gräfinnen, Besuche und Förmlichkeiten zu denken. Ein rauschendes Kleid — Schritte auf dem Gartenpfade — und beide Herren wendeten sich gleichzeitg nach der offnen Glasthür. Claudius ließ den in Pergament gebunde­ nen Dichter beinahe fallen und war sichtlich überrascht, als er die Dame aus Heidelberg wiedererkannte, — die Frau, welche wie durch Zauberkunst über seine Gedanken Gewalt bekommen hatte, so daß er schlafend und wachend von ihr träumte und an sie dachte. Gräfin Margarethe mit den dunklen Augen, in zartes Weiß gekleidet, ein kleines Spitzentuch über ihr volles Haar geworfen, kam leichten Schrittes die Stufen hinauf ins Zimmer. „Guten Morgen, Herr Barker, es freut mich, daß Sie gekommen find", sagte sie, indem sie ihm nach der herz­ lichen transatlantischen Sitte freundlich die Hand reichte. „Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Freund, Professor Claudius, vorzustellen", sagte Barker, — Claudius verneigte sich tief. Der erste Schritt war gethan, er gewann seine ruhige Haltung wieder, was er auch empfinden mochte. „Herr Barker schmeichelt mir, gnädige Frau", sagte er ruhig. „Ich bin kein Professor, sondern nur Privat-Dozent." „Gelehrte Sachen liegen mir zu fern, als daß ich solchen Unterschied machen sollte", sagte die Gräfin. „Da aber ein günstiges Geschick Sie in das Bereich meiner Unwissenheit gebracht hat, lasien Sie mich Ihnen noch einmal für den mir neulich in Heidelberg erwiesenen Dienst danken."

55 Claudius verbeugte sich und murmelte etwas Uuverständliches. „Oder haben Sie nicht bemerkt, daß ich die Heldin mit dem Sonnenschirm am gesprengten Thurm war?" fragte Margarethe lächelnd, indem sie sich auf einen niedrigen Sessel niederließ und ihre Besucher einlud ihrem Beispiel zu folgen. Barker wählte sich einen bequemen Stuhl und rückte die Kissen zurecht, ehe er sich zur Ruhe setzte, Claudius nahm einen harten geschnitzten Stuhl und saß aufrecht der Gräfin gegenüber. „Verzeihen Sie", sagte er, „ich habe Sie wohl er­ kannt. Aber es ist immer eine Ueberraschung, wenn ein Traum zur Wirklichkeit wird." — Die Gräfin blickte Clau­ dius fragend an, vielleicht hatte sie nicht erwartet, daß er der Mann wäre, eine Bekanntschaft mit einem Kompliment zu eröffnen. Indessen erwiderte sie nichts und er fuhr fort: „Finden Sie das nicht auch?" „Der bärtige Einsiedler ist kein Tropf!" dachte Barker. „Er weiß, wo Luchs Bier holt." „Ach, ich habe selten Träume", sagte die Gräfin, „und wenn ich welche habe, verwirklichen sie sich nicht. Ich bin eine Person, die es mit Thatsachen hält." „Was thut die Sache, wenn Sie die Person sind?" fuhr Claudius im Wortgeplänkel fort. „Kolossal!" dachte Barker, schlug ein Bein über das andre und fing an aufzuhorchen. „Bedeutet das etwas oder ists nur eine hübsche Redens­ art?" fragte die Dame, welche wahrnahm, daß Claudius selbst sich kühn in eine kritische Lage gebracht hatte. Von seiner Antwort würde es wahrscheinlich abhängen, ob sie ihn für intelligent oder banal hielte. Es ist leicht para­ doxe Fragen zu stellen die ein Kompliment enthalten, aber

56 es ist keine leichte Aufgabe sie selbst beantworten zu müssen. Claudius dachte nicht daran Effekt zu machen, er stand unter dem Zauber der brünetten Dame und ihre eigen­ thümliche tiefe Stimme entzückte ihn; so sagte er, was ihm eben einfiel. „Ja", sagte er, „es giebt Leute, deren Leben für sie selbst eine Thatsache sein mag, — wer weiß? — die aber für das Leben andrer doch ein Traum sind." „Allerliebst!" lächelte die Gräfin, „sprechen Sie immer so, Professor Claudius?" „Ich habe oft gedacht," fiel Barker mit seiner schrillen Stimme ein, „daß ich gern eines andern Lebens Traum sein möchte. Es ist mir aber nicht geglückt." Die beiden andern lachten. Er sah nicht danach aus, als ob er einem sehnsuchtsvollen Herzen in seinen liebes­ kranken Träumen erscheinen werde. „Ich wünsche, es wäre anders!" sagte Claudius nachdenklich. „Und ich", setzte der Amerikaner hinzu, „möchte auf den Untergang alles Unerreichbaren trinken." „Entweder stimme ich Ihnen nicht bei, Herr Barker", sagte die Gräfin, „oder ich glaube, daß nichts unerreichbar ist." „Ich bitte Sie, gütigst das letztere zu glauben", ant­ wortete er höflich. „Kommen Sie, ich will Ihnen meinen Garten zeigen", sagte sie, „ich pflege ihn sorgsam, wenn ich hier bin." Sie stand still und entfernte einige welke Blätter von einem Rosenstrauch, um ihre Sorgfalt zu beweisen. „Leben Sie gewöhnlich hier?" fragte Claudius, der noch völlig unbekannt mit dem Namen und Titel, der Nationalität und Lebensweise der Gräfin war, denn Barker hatte ihn aus unbekannteu Gründen darüber im Dunkeln gelaffen.

57 Vielleicht dachte sich die Gräfin das, denn sie gab in kurzen Worten ziemlich viel Auskunft. „Als mein Mann, Graf Alexis, noch lebte, wohnten wir viel in Rußland. Aber ich bin eine Amerikanerin, Herrn Barkers Landsmännin und mache von Zeit zu Zeit eine Reife in mein Geburtsland. Indessen liebe ich diesen Ort zur Sommerzeit und richte es so ein, dann hier zu sein. Dies ist meine Freundin, Fräulein Skeat, die bei mir lebt." Fräulein Skeat war mit einer Zeitung und mehreren Büchern unter einem Baum gestrandet. Ihre blanken Backenknochen und Fingerknöchel schimmerten im Schatten gelb. Neben ihr stand ein langer Rohrstuhl, auf dem eine seidne Decke und eine Handarbeit übereinander geworfen lagen, wie sie die Gräfin gelassen hatte, als sie hineinging, um ihren Besuch zu empfangen. Fräulein Skeat stand auf, als die Gesellschaft sich näherte. Die Gräfin stellte die Herren vor, welche sich verneigten, und alle setzten sich, Herr Barker aus die Bank neben die alte Jungfer und Claudius aufs Gras zu Margarethens Füßen. Es war um die Mittagsstunde, aber ein leichter Wind wehte über Gras und Blumen. Das Gespräch theilte sich bald zwischen den beiden Paaren. „Ich würde zuerst nicht vermuthet haben, daß Sie von lebhafter Phantasie seien, Doktor Claudius", sagte die Gräfin. „Ich habe jahrelang geträumt", sagte er. „Ich bin Mathematiker, und seit kurzem bin ich auch ein wenig Philosoph geworden, soweit man das durch Lesen werden kann. Keine andern Zweige der Wiffenschaft erfordern so­ viel Phantasie wie Mathematik und Philosophie." „Philosophie vielleicht", erwiderte sie, „aber Mathe-

58 matik? Ich dächte, das wäre eine exakte Wissenschaft, in der alles bekannt ist und bei der für Träumereien keiu Raum bleibt." „Ich vermuthe, das ist die allgemeine Ansicht. Aber glauben Sie, es erfordere keine Einbildungskraft, eine neue Anwendung des Wissens zu ersinnen, neue Methoden zu erfinden, wenn die alten unzulänglich geworden sind, einen neuen Weg durch das unbestimmte Land jenseit der Grenzen des bekannten zu weisen?" „Gewöhnliche Leute, wie ich, denken bei Mathematik an Messungen, Figuren, Winkel." „Ja", sagte Claudius, „das ist aber ebenso als wenn man die Religion mit ihren praetischen Ergebnissen ver­ wechselte. Wenn die Religion überhaupt wahr ist, würde sie ebenso wahr sein, auch wenn es keine Menschen gäbe und sie folglich keine Beziehung auf das Leben hätte." „Ich verstehe das Wahre hiervon, obschon wir über den Ausdruck verschiedener Ansicht sein mögen. Also — Sie haben jahrelang geträumt und wovon denn?" Die Gräfin sah Claudius ernst an, der dagegen mit leichtem Lächeln zu ihr aufschaute. Sie dachte, er wäre anders wie andre Leute, und er fragte sich, wie er ihr von seinen Träumen erzählen dürfe. „Von allem möglichen", antwortete er, sie noch immer anschauend. „Es waren bittere und süße Träume. Ich habe von des Lebens Herrlichkeit und von der Macht der Geister geträumt, von der Erreichung des größten Wohles für die größte Menge, ich habe an den Fortschritt der Wissenschaft geglaubt und bis hinaus über die Grenzen aller denkbaren Erfahrung, in das Reich des Geheimniß­ vollen und Verborgenen. Ich bin mit Hermos an den Ufern des Nil, mit Gantama über die schlammigen Ebenen

59 des Ganges gewandert. Ich habe mich über die Werke derjenigen geärgert, die alle Geschichte und Religion auf Mythen von der Sonne zurückführen möchten, und ich habe mich bemüht, die Ansichten derjenigen zu ergründen, deren Gedanken tief und deren Herzen edel sind, wennschon ihre Sprache lahm ist. Ich habe von vielen Dingen geträumt, Gräfin, und das Schlimmste ist, ich bin dahin gekommen, meiner Träume müde zu werden und mir zu sagen, daß alles übel ist, — alles außer Einem!" setzte er zögernd hinzu. Dann entstand eine kurze Pause. „Natürlich", sagte Herr Barker zu Fräulein Skeat, „habe ich die höchste Bewunderung für schottisches Helden­ thum. John Grahame of Claverhonse — wer kann Ma­ caulay lesen —" „Ach", unterbrach ihn die alte Dame, „wenn Sie wüßten, was ich bei diesen abscheulichen Verleumdungen empfinde!" „Ich verstehe vollkommen", sagte Barker theilnehmend. Er hatte Fräulein Skeats Schwärmerei entdeckt. Margarethe wendete sich wieder zum Doktor. „Und darf ich ohne Indiskretion fragen, welches der eine Traum ist, den Sie nicht ins Reich der Eitelkeiten verwiesen haben?" „Das Weib;" antwortete Claudius und schwieg dann. Die Gräfin glaubte, der Doktor spräche ironisch, und lachte laut auf, halb belustigt und halb ärgerlich. „Ich meine es im Ernst;" sagte Claudius, indem er einen Grashalm abpflückte und dann um den Finger wickelte. „Wirklich?" fragte sie. „Auf Ehrenwort!" entgegnete er. „Aber Herr Barker hat mir erzählt, Sie lebten wie ein Einsiedler."

60 „Darum eben ist es ein Traum gewesen", sa^te er. „Sie haben mir noch nicht gesagt, wie der Traum beschaffen war. Was für schöne Dinge haben Sie von uns gedacht?" „Ich habe von der Bestimmung der Frau und von Frauenliebe geträumt. Ich habe mir gedacht, daß das Weib und des Weibes Liebe den herrschenden Geist vor­ stellen, sowie der Mann und des Mannes Verstand die Triebkraft in der Welt vorstellen. Ich habe mir Bilder von einem Zeitalter entworfen, in dem echte Ritterlichkeit in Gedanken, Wort und That das einzige nothwendige Gesetz sein sollte, um der Männer Handlungen zu regeln. Nicht die theatralische, in Scene gesetzte Ritterlichkeit des Mittelalters, die in jedem Augenblick in epidemisches Ver­ brechen umschlagen konnte, sondern wahre Ehrfurcht und volles Verständniß für das Recht der Frau aus Ehre und Achtung; ein Zeitalter, in dem man nicht mehr sagen sollte, daß die Liebe nicht nur eine Episode in dem rohen Leben des Mannes sei, während sie für die Frau das Leben selbst ist- Ich habe geträumt, daß das ewig Weibliche des Uni­ versums mir winkte ihm zu folgen." Die Gräfin konnte kein Auge von Claudius verwenden. Nie war ihr ein Mann wie dieser begegnet; wenigstens war ihr noch nie ein Mann vorgekommen, der sich in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft auf ein solches Gespräch ein­ gelassen hätte. Ihre tiefe sanfte Stimme erbebte vor inne­ rer Bewegung als sie ihm antwortetete: „Wenn alle Männer dächten wie Sie, würde die Welt etwas ganz andres sein!" „Und etwas Besseres in mehr als einer Hinsicht", setzte er hinzu. „Und doch nennen Sie selbst es einen Traum", sagte Margarethe gedankenvoll.

61 „Nur Sie, Gräfin, sagen, daß Träume sich nie ver­ wirklichen." „Und hoffen Sie, den Ihren zu verwirklichen?" „Ja — ich hoffe es." Er sah sie mit seinen kühnen blauen Augen an, und ihr schien es, als ob sie funkelten. „Sagen Sie mir", fragte sie, „werden Sie einen Kreuzzug zur Befreiung unsers Geschlechts predigen? Wollen Sie eine große Umwälzung in den sozialen Ver­ hältnissen der Welt zu Wege bringen? Wollen Sie das Piedestal erbauen, welches wir besteigen und von dem wir endlose Reihen anbetender Männer erblicken sollen?"

„Sehen Sie denn nicht, wenn Sie von Ihrem Thron, von diesem Stuhl, aus mich herabblicken, daß ich schon angesangen habe?" antwortete Claudius und that, als ob er die Hände faltete. „Nein", sagte die Gräfin, seine letzten Worte unbe­ achtet laffend; „wenn Sie wirklich die Ueberzeugungen hätten, die Sie zu haben vorgeben, würden Sie sofort be­ ginnen und die Welt in sechs Monaten umwälzen. Was hilft das Träumen? Nicht Träumer machen die Welt< geschichte!"

„Nein, öfter thun das Frauen. Aber sagen Sie mir, Gräfin, billigen Sie meinen Kreuzzug? Habe ich nicht recht? Habe ich Ihre Zustimmung?" Margarethe schwieg. Herrn Barkers Stimme ließ sich vernehmen, er hielt Fräulein Skeat Vortrag. „Zu allen Zeiten", sagte er mit der Miene der Ueber­ zeugung, „ist die Aristokratie eines Landes in Wirklichkeit der Bahnbrecher seines Denkens, seiner Wissenschaft und seiner Aufklärung gewesen. Die bewundernswürdigste Form der Aristokratie ist vielleicht die altehrwürdige Vorherrschaft

62 hervorragender Familien, der schottische Clan, der ebräische Stamm —“ Claudius hörte diese Worte und machte große Augen. Es schien ihm, als ob Barker Unsinn redete. Margarethe lächelte, denn sie kannte ihre Gesellschafterin genau und verstand sofort, daß der Amerikaner ihr Steckenpferd ent­ deckt habe und sich entweder bei ihr in Gunst setzen oder versuchen wollte, sich zu amüfiren, indem er sie veranlaßte, mit ihren Ansichten herauszurücken. „Wie soll es werden, Gräfin?" fragte er. „Soll ich mich waffnen und hinaussegeln, um die Welt zu erobern, und sie gebunden zu Ihren Füßen legen, auf daß sie Ihnen huldige, oder foll ich in mein Thurmgemach zu Heidelberg zurückkehren?" „Ihr Vergleich scheint mir angemessen", sagte Mar­ garethe; „sicherlich waren ihre Stammväter Wikinger." „Das waren sie", erwiderte Claudius, „denn ich bin ein Skandinave. Soll ich ausziehen und zu Ihrem Besten die Welt plündern? Soll ich Ihre Universalität, Ihren Allgemeinbegriff, das Weib, zur Herrschaft über meinen Allgemeinbegriff, den Mann, erheben?" „Ueberiegen Sie, wer dabei gewinnen würde", ent­ gegnete sie lachend. „Ich kann meine Einwilligung nicht gut versagen. Wann wollen Sie anfangen? „Jetzt." „Und wie?" „Wie sollte ich es anders anfangen", sagte er mit lächelndem Gesicht und leuchtenden Augen, „als indem ich zuerst mich selbst bekehrte?" Margarethe war an schöne Worte, im Scherz und Ernst gewöhnt, doch meinte sie, nie hatte sie sie fließender gehört als von dem blondbärtigen Gelehrten.

63 „Und Herr Barker?" fragte sie. „Wollen Sie den auch bekehren?" „Können Sie ihn in diesem Augenblick ausehen, Gräfin, und sagen, daß er dessen wirklich noch bedürfe?" Sie sah das Paar auf der Bank an und lachte wie­ der leise, denn es war augenscheinlich, daß Barker an Fräulein Skeat eine vollständige Eroberung gemacht hatte. Er lenkte das Gespräch von den Stämmen auf die alten Gebräuche der nordamerikanischen Indianer und redete von deren Sitten mit bewundernswürdiger Geläufigkeit. Ein geschulter Zuhörer hätte vielleicht einige auffallende Unge­ nauigkeiten entdecken können, aber Fräulein Skeat hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Wer sollte auch wohl mehr von Indianern wissen, als ein eingeborner Ameri­ kaner, der den Westen bereist hatte? Die Gräfin gab dem Gespräch eine andre Wendung und sprach sehr verständig über Bücher. Sie hatte augen­ scheinlich viel gelesen oder sich von Frläulein Skeat vor­ lesen lassen, und ihr Gedächtniß war gut. Claudius blieb mit seinem klaren Urtheil über die Tagesliteratur nicht zurück, obgleich seine Lektüre meist ernsterer Art gewesen war. Die Zeit verging rasch und als die beiden Herren aufstanden, um sich zu verabschieden, hatte ihr Besuch zwei Stunden gedauert. „Sie werden mir über den Fortgang ihrer Eroberung berichten," sagte die Gräfin zu Claudius, als sie ihm die Hand reichte, welche er nach guter alter deutscher Sitte küßte. „So oft sie es mir erlauben, Gräfin", sagte er. „Ich bin in den Mittagsstunden immer zu Hause; und auch Sie, Herr Barker, warten Sie keine Einladung ab, ehe Sie wiederkommen. Sie sind absolut der einzige gebildete Amerikaner, den ich hier kenne."

64 „Sagen Sie das nicht, Gräfin. Da ist ja noch der Herzog, mit dem ich gestern herkam." „Der ist aber ein Engländer." „Er ist aber auch ein Amerikaner. Er besitzt drüben Bergwerke und Prärien und wandert alle halbe Jahr aus. Das thun Sie jetzt alle. Sie wiffen, die Ratten verlaffen ein untergehendes Schiff, und in England werden sie nächstens die Kommune haben. „O, Herr Barker, wie können Sie das sagen!" ries Fräulein Skeat. „Natürlich scherze ich nur", sagte er zu ihrer Beruhi­ gung. Und damit schieden sie. Herr Barker und Doktor Claudius standen vorn an der Thür, und ersterer zündete eine Cigarre an, während der Wagen vvrfuhr. „Doktor", sagte er, „ich halte Sie für den merkwür­ digsten Mann meiner Bekanntschaft." „Weshalb?" fragte Claudius, indem er einstieg. „Nun, aus mancherlei Gründen. Besonders weil sie jahrelang drei Treppen hoch nach hinten heraus gewohnt und nach Ihrer Aussage kaum ein weibliches Ohr gesehen

haben; dabei benehmen Sie sich aber, als hätten Sie sich Ihr Leben lang im Salon bewegt. Sie sind der am wenigsten schüchterne Mensch, der mir je vorgekommen ist." „Schüchtern?" rief Claudius. „Was für ein drolliger Einfall. Warum sollte ich schüchtern sein?" „Es giebt freilich aus der Welt keine Ursache dazu. Indessen ist es doch sonderbar." Und Herr Barker dachte nach, indem er feine Cigarre im Munde herumdrehte. „Uebrigens", setzte er nach einer Weile hinzu, „haben Sie eine Eroberung gemacht." „Unsinn! Sie können sich dessen schmeicheln!"

65 „Fräulein Skeat?" sagte Barker. „Halt still, mein Herz! —" Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Endlich fing Herr Barker wieder an: „Nun, Profeffor, was werden Sie damit machen?" „Womit?" „Nun mit Ihrer Eroberung. Werden Sie wieder hingchen?" „Wahrscheinlich." Claudius ärgerte fich über den Ton, in welchem sein Gefährte sprach. Er würde den Gedanken verspottet haben, daß er die Gräfin beim ersten Sehen geliebt, dennoch aber stellte sie sein Ideal vor, und er konnte Barkers Neckereien nicht ertragen. Allerdings hatte er ein Recht zu fragen ob, Claudius den Besuch intereffant gefunden hätte. Aber Claudius beschloß, jede Art von Leichtfertigkeit von vornherein zurückzuweisen. Er' konnte dergleichen inbezug auf Frauen überhaupt nicht leiden, aber in Verbindung mit der Gräfin Marga­ rethe war es ihm ganz und gar unerträglich. So ant­ wortete er möglichst kurz — um Herrn Barker zu zeigen, daß es ihm zuwider wäre. Der letztere verstand sofort und zog seine eignen Schlüffe. Ein andres Gespräch fand im Garten der Gräfin statt, nachdem der Besuch fort war. „Nun, Fräulein Skeat", fragte Margarethe, „was sagen Sie zu unsern neuen Bekannten? —" „Ich denke, Herr Barker ist der netteste Amerikaner, den ich je kennen gelernt habe", sagte Fräulein Skeat. „Er hat sehr gesunde Ansichten über soziale Fragen und seine Kenntniß inbetreff der amerikanischen Indianer ist ganz außerordentlich." „Und der Doktor, was halten Sie von dem?" Crawferd, Doktor Claudius.

5

66 „Er kleidet sich sehr sonderbar", sagte die Gesellschaf­ terin, „aber seine Manieren scheinen tadellos, und er hat aristokratische Hände." „Sein Anzug ist mir nicht ausgefallen, aber er ist schön. Er sieht aus wie ein nordischer Held. Sie wissen, ich sagte gleich den Tag in Heidelberg, daß wir ihm wieder begegnen würden." „Ich glaube, er sieht wirklich sehr gut aus," stimmte Fräulein Skeat bei. „Wollen wir die Herren einmal zu Mittag einladend Ich denke, das könnten wir thun; natürlich ganz einfach, unter uns." „Ich möchte sehr dazu rathen, liebe Gräfin. Sie sollten wirklich ansangen, Leute bei sich zu sehen, und auch öfter Besuche annehmen. Diese Abgeschiedenheit wirkt auf Ihre Stimmung."

„O nein. Ich bin ganz zufrieden — das heißt, so­ weit ich es überhaupt sein kann. Aber wir wollen sie zu Tisch einladen. Wann?" „Morgen ist zu bald. Sagen wir Donnerstag, weil Sie mich fragen", sagte Fräulein Skeat. „Sehr gut. Wollen wir noch ein wenig lesen?" Und Turgenjew wurde wieder vorgenommen. Am späten Nachmittag fuhr der Phaeton der Gräfin mit schwarzen Pferden, schwarzer Livree und schwarzen Kissen um eine Ecke der Promenade. Claudius und Bar­ ker fuhren ihm in einem Miethswagen, von der entgegen­ gesetzten Seite kommend, vorbei. Die vier Personen grüßten einander, die Damen freundlich, die Herren mit höflichem Eifer. Alle vier nahmen Jntereffe an einander und fühlten, daß die nächste Zukunft sie zusammen führen werde. Es war ihnen zu Muthe, als ob sie sich schon lange gekannt

67 hätten, obschon ihre Bekanntschaft doch nur von heute und gestern her datirte. „Ich habe selten etwas Vollendeteres gesehen als diese Equipage", sagte Barker; „sie macht vollständig den Ein­ druck der Trauer; sie könnte nicht besser sein, wenn ein Begräbnißunternehmer in New Nork sie besorgt hätte." „Sind die Begräbnißunternehmer in New Aork so große Künstler?" fragte Claudius. „Ja; die Leute werden dort üppiger begraben. finden Sie den Wagen nicht auch sehr schön?"

Aber

„Jawohl. Mir scheint, Sie wollen mich dahin bringen zu sagen, daß die Gräfin eine sehr schöne Frau sei," er­ widerte Claudius, der Barker zu verstehen anfing. „Wenn Sie darauf hinauswollen, ergebe ich mich ohne Weiteres. Ich finde, sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe."

„Aha! Finden Sie nicht auch, daß Fräulein Skeat eine vortreffliche Folie ist?"

„Eine solche Schönheit bedarf keiner Folie. Die ganze Welt kann ihr zur Folie dienen." „Warten Sie, bis Sie nach Amerika kommen! In New Nork will ich Ihnen ihresgleichen zeigen." „Ich bezweifle es. Was ist Newport?" „Newport ist der erste Badeort unsers herrlichen Landes. Es ist Baden, Homburg, Bigorre und Biarritz in eins verschmolzen. Es ist ein irdisches Paradies, ein Ort mit Vierspännern, Houris, Strandbädern und Nektar und Ambrosia. Ich kann Ihnen doch keinen Begriff da­ von geben. Warten Sie ab, bis Sie hinkommen."

Es ist also ein Sammelplatz für die elegante Gesell­ schaft?" sagte Claudius, nicht im mindesten gerührt durch die begeisterte Beschreibung.

68 „Das freilich vor allen Dingen. Doch wenn Sie wollen, können Sie auch einsam genug dort leben."

„Ich glaube kaum, daß ich mir viel aus Newport machen würde", meinte Claudius. „Nun, mir gefällt es sehr. Mein Vater hat dort ein Landhaus und ich bin so frei, Sie dahin einzuladen, wenn Sie je geneigt sind, so recht das Leben zu genießen."

„Sie find sehr gütig, und wie gesagt, wenn ich je nach Amerika reise, was nach Ihrer Ansicht mit Lebens­ genuß gleichbedeutend zu sein scheint, so werde ich von Ihrer freundlichen Einladung Gebrauch machen." „Das hoffe ich in der That! Tische gehen?"

Wollen wir jetzt zu

Fünftes Kapitel. Am folgenden Tage erhielten Claudius und Barker jeder ein Billet. Diese Zuschriften steckten in viereckigen Couverts von Büttenpapier und waren in großer Damen­ handschrist adressirt. Sie besagten, daß die Gräfin Mar­ garethe fich freuen würde, fie um halb acht Uhr Abends zu Tisch bei sich zu sehen. „Das ist morgen", sagte Barker nachdenklich. Claudius, der im Allgemeinen die Ruhe selbst war, that auf Deutsch die Aeußerung, daß er wünschte, tausend Millionen Scheffel Donnerwetter möchten mit ihm im Augenblick davonfliegen. „Sagten Sie etwas, Profeffor?" fragte Barker sanstmüthig.

68 „Das freilich vor allen Dingen. Doch wenn Sie wollen, können Sie auch einsam genug dort leben."

„Ich glaube kaum, daß ich mir viel aus Newport machen würde", meinte Claudius. „Nun, mir gefällt es sehr. Mein Vater hat dort ein Landhaus und ich bin so frei, Sie dahin einzuladen, wenn Sie je geneigt sind, so recht das Leben zu genießen."

„Sie find sehr gütig, und wie gesagt, wenn ich je nach Amerika reise, was nach Ihrer Ansicht mit Lebens­ genuß gleichbedeutend zu sein scheint, so werde ich von Ihrer freundlichen Einladung Gebrauch machen." „Das hoffe ich in der That! Tische gehen?"

Wollen wir jetzt zu

Fünftes Kapitel. Am folgenden Tage erhielten Claudius und Barker jeder ein Billet. Diese Zuschriften steckten in viereckigen Couverts von Büttenpapier und waren in großer Damen­ handschrist adressirt. Sie besagten, daß die Gräfin Mar­ garethe fich freuen würde, fie um halb acht Uhr Abends zu Tisch bei sich zu sehen. „Das ist morgen", sagte Barker nachdenklich. Claudius, der im Allgemeinen die Ruhe selbst war, that auf Deutsch die Aeußerung, daß er wünschte, tausend Millionen Scheffel Donnerwetter möchten mit ihm im Augenblick davonfliegen. „Sagten Sie etwas, Profeffor?" fragte Barker sanstmüthig.

69 „Ja! Ich fluchte", antwortete Claudius, „und habe eigentlich Lust, gleich noch einmal zu fluchen." „Bitte sehr! Fluchen ist ein Sicherheitsventil für große Geister. Fluchen Sie recht laut, mit aller Macht und Kraft." Claudius trat ans Fenster ihres Wohnzimmers und sah hinaus. „Es ist äußerst peinlich, auf mein Wort",

sagte er. „Was ist peinlich, Professor? Die Einladung?" „Ja, sehr!" „Warum denn? Ich dachte, Sie würden sich darüber freuen." „Das sollt' ich auch, aber es ist ein Hinderniß dabei." „Was denn? Kann ich helfen?" „Nein, das nicht. Ich kann keinen von Ihren Röcken anziehen." „Ach, das ist's!" sagte Barker und ein angenehmes kleines Triumphgefühl gab sich kund, während er sein Kinn vorschob und den kreisförmigen Zug auf seinem Ge­ sichte hervortreten ließ. „Natürlich! Wie dumm von mir! Sie sind als Fußreisender hier und haben keinen Frack. Nun, je eher wir in diesem Fall zum Schneider gehen, desto besser! Ich will klingeln und einen Wagen bestellen!" Das that er und dachte bei sich, er hätte einen Trick gewonnen, indem er den Doktor in eine Lage gebracht, die ihn nöthigte, sich wie ein Christenmensch anzuzichen. „Gehen Sie denn nie zu Fuß?" fragte Claudius und steckte eine Handvoll Cigaretten in die Tasche. „Nein", sagte der Amerikaner, „ich gehe nie. Wenn die allweise Vorsehung den Menschen zu vielem Gehen be­ stimmt hätte, würde er vier Beine haben." Der Schneider versprach auf Ehre, Doktor Claudius

70 — bis zum nächsten Abend präsentabel zu machen. In BadenBaden sind die Schneider daran gewöhnt, auf kurze Vor­ herbestellung zu arbeiten, und der Mann hielt Wort. Unterdessen sagte Barker zu Claudius, wie schade es wäre, daß sie nicht vor dem Diner noch einen Besuch machen könnten. Claudius meinte, in manchen Ländern möge das passend sein, aber in Deutschland, wie Barker bemerkt hätte, keinenfaüs. „Die gesellschaftlichen Gebräuche find so verschieden", sagte Barker. „In Amerika haben wir eine so hübsche Sitte." „Was für eine?" „Blumen zu schicken. — Wir schicken Sie Damen bei der geringsten Veranlassung." „Aber ist die Gräfin nicht auch eine Amerikanerin?" „Ja freilich; aus einer alten Familie aus dem Süden, im Norden ansässig." „In dem Falle", sagte Claudius, „ist genügender Grund vorhanden. Wir wollen sofort Blumen schicken." Und er nahm seinen Hut vom Tisch. Herr Barker dachte: „Mein Preis-Doktor geht drauf los", aber drückte seine Gedanken anders aus. „Das scheint mir eine gute Idee. Ich will einen Wagen bestellen" — „Es sind nur drei Schritt", sagte Claudius, „wir wollen lieber gehen." „Gut, alles Ihnen zu Gefallen!" Claudius hatte in solchen Sachen einen guten Ge­ schmack; die von ihm geschickten Blumen bildeten gerade ein schönes Ganzes, ohne den Eindruck übertriebener Ver­ schwendung zu machen. Wie Barker gesagt hatte: Blumen schicken ist eine

71 hübsche Sitte, eine anmuthige gefällige Mode, die Amerika eigen ist. In keinem andern Lande wird diese Sitte in so ausgedehntem Maße betrieben; in keinem andern Lande wird bei gewissen Gelegenheiten durch Zeitungsanzeigen das Blumenschicken ausdrücklich verbeten. Die Gräfin Marga­ rethe war entzückt, und obschon das arme Fräulein Skeat, die Rosen und Lilien liebte, sich erbot, sie zu ordnen und in Wasser zu stellen, ließ die brünette Dame sie nicht da­ ran rühren. Sie war eifersüchtig auf ihre Schönheit. Claudius dünkte die Zeit lang, obschon er unterdessen mit Barker und der brittischen Aristokratie ein Pferde­ rennen besuchte. Er sah ein Rennen mit an, wollte aber nicht wetten. Der Herzog verlor etwas, und Barker ge­ wann einige Hundert Franken von einem russischen Be­ kannten. Der Herzog trank Curacao und Sodawaffer und Barker trank Champagner, während Claudius unzählige Cigaretten rauchte. Es waren eine Menge brillanter Toi­ letten da, viel Geschrei und eine ganze Versammlung von Pferdeliebhabern war beisammen. „Es sieht nicht aus wie Vewmarket, nicht wahr?" sagte der Herzog. „Eher wie die Pariser Ausstellung, aber ohne Aus­ stellung", meinte Barker. „Haben Sie viele Wettrennen in Amerika?" fragte Claudius. „Nur ein oder zwei", antwortetete Barker, „gewöhn­ lich auf Rädern." „Auf Rädern?" „Ja — Traben. — Alte Mähren vor Einspännern — sehen wie schnell sie eine Meile laufen", erklärte der

Herzog, „wird oft viel Moos dabei verwettet." Endlich kam der Abend und Claudius erschien in Bar-

72 kers Zimmer in vollem Gesellschastsanzuge. Wie Barker sich vorhergedacht hatte, war der Erfolg überraschend. Claudius war ungewöhnlich groß und der enganliegende Anzug zeigte seine athletische Gestalt, während das bleiche, scharfgeschnittene Gesicht in seiner Feinheit einen Gegen­ satz zu den kräftigen Körperformen bildete, wie man ihn selten anderswo findet, als bei den Racen des hohen Nor­ dens oder des äußersten Südens. Die Gräfin empfing sie freundlich und Fräulein Skeat war angeregt. Die Blumen, welche Claudius am Tage zuvor geschickt hatte, standen auf einem Ehrenplatz im Salon. Herr Barker führte natürlich die Gräfin zu Tische, und Fräulein Skeat nahm Claudius' Arm, und wunderte sich im Stillen, daß sie zuerst seine ausfallende Schönheit nicht bemerkt hätte. Sie saßen an einem runden Tisch, auf dem Blumenvasen und eine Krystallschale mit Eis standen. „Verstehen Sie sich auf russische Suppen?" fragte Margarethe den Doktor, indem sie einen Löffel voll seltsam aussehenden Breis in seine Bouillon legte. „Ach", sagte der Doktor, „ich bin kein Gastronom! So sagt wenigstens mein Freund Barker, aber ich habe viel Anpassungsvermögen. Ich werde Ihrem Beispiel fol­ gen und gewiß köstlich speisen." „Fürchten Sie nichts! Sie werden weiter keine sonder­ baren Kosackengerichte bekommen. Mir schmecken einige russische Speisen, aber sie sind so mächtig, daß man sie zuerst essen muß oder garnicht." „Mir scheint es sehr gut, mit etwas Charakteristischem anzufangen", sagte Barker. „Das bestimmt den Plan der Handlung und unterstützt das Gedächtniß."

„Meinen Sie das im allgemeinen oder nur beim Essen?" fragte die Gräfin.

73 ,,£) natürlich im allgemeinen. Ich spreche in der Unterhaltung immer im allgemeinen, z. B. — Denken Sie an den traditionellen Vater auf der englischen Bühne; er weiht sich immer der ewigen Verdammniß, ehe er eine Rede anfängt — und dann weiß man, was man zu er­ warten hat." „Nach dem Grundsatz: zuerst das Schlimmste wissen, ich verstehe", sagte Margarethe. „Wenn man einander versteht", fiel Claudius ein, „ist es immer am besten, sich sofort in medias res zu stürzen." „Ja, Doktor Claudius, das verstehen Sie sehr gut", sagte Margarethe, indem sie sich zu ihm wendete. „Der Doktor versteht gar viele Dinge", sagte Barker in Parenthese. „Sie haben mir noch nicht über den Fortgang des Kreuzzuges berichtet", fuhr die Gräfin fort, „ich muß sogleich alles davon wissen." „Im Geiste habe ich geplant, während mein Körper bei den Leichtfertigkeiten dieser allzu männlichen Welt zu­ gegen gewesen ist", erwiderte der Doktor. — In diesem Augenblick machte Fräulein Skeat auf Herrn Barker einen Angriff mit den nordamerikanischen Indianern, und das Gespräch theilte sich, wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt. Claudius war bei Laune und sprach witzig, halb im Scherz, in der That aber im Ernst, von dem was für ihn die Hauptsache war, und was nach seinem Willen die Hauptsache für die ganze Welt sein sollte. Es war ein eigenthümliches Gespräch, in besten Verlauf er sehr ernst wurde; allein die Gräfin gestattete sich nicht den Luxus, ernst zu sein, obschon sie sich zwingen mußte über seine begeisterte Sprache zu lachen, denn ihm wohnte starke

Lebenskraft inne und etwas von der Gabe, andre mit sich sortzureißen. Aber Margarethen kam es vor, als wolle Claudius ihr den Hof machen und habe dieses interessante Thema zur Eröffnung seines Feldzuges gewählt. Sie konnte ihn nicht für ganz verschieden von andern Männern halten — wenigstens nicht so schnell — nnd ihr Gefühl sagte ihr, daß der blonde Gelehrte sie sehr bewunderte. Als Claudius einen Angenblick über das Gesagte nach­ dachte, wunderte er sich über sich selbst. Er versuchte sich zu besinnen, ob irgend einer dieser Gedanken schon vor einem Monat in seiner Seele festgestanden hätte. Er war sich wohl bewußt, daß seine Hochachtung vor den Frauen int allgemeinen seit Jahren zngenommen hatte, aber er hatte keine Ahnnttg gehabt, wie stark damit auch feine Ueberzeugung geworden, daß diese Hochachtung ein wirk­ sames Element in den gesellschaftlichen Verhältnissen sein müsse. Ohne Zweifel hatte der Doktor sich öfter gefragt, weshalb denn die grauen ein so geringes Gewicht in der Wagschale hätten, weshalb sie so wenig von dem thäten, was sie thun könnten, auch hatte er einiges über das Wirken der Frauen in Amerika gelesen. Aber das war alles unbestimmt, unklar, nebelhaft, während ihm jetzt alles klar und scharf umrissen Vorstand. Er hatte den ersten Schritt aus seinen Träumen herausgethan, indem er ihre Verwirklichung für möglich hielt, und nur Träumer wissen, wie groß dieser Schritt ist. Das erste schwache Aufdämmern des Gedankens „es könnte am Ende doch wahr sein", ist ebenso verschieden von der fernen ungewissen Anschauung eines Gedankens, der nicht verwirklicht werden kann, wie ein Landschaftsbild bei Kerzenlicht besehen von der herr­ lichen Gegend, die es darstellt. Als daher Claudius dieses erwachende Gefühl in sich spürte und vor sich sein Ideal

75 sah, das ihn durch sein bloßes Dasein antrieb, den Kampf zu beginnen, fühlte er, wie das Blut durch seine Adern jagte, seine blauen Augen blitzten und die Worte flossen leicht und sicher von seinen Lippen. Allein er staunte über seine eigne Beredsamkeit, denn noch wußte er nicht, daß der göttliche Funke seinen Geist zu Heller Flamme entzündet hatte; noch verstand er nur halb, was er fühlte. Es ist spät am Tage, von der Liebe zu sprechen. Es ist zu oft von Leuten geschehen, welche sich einreden, daß sie lieben, weil sie es sagen und weil es so eine schöne Sache zu sein scheint. Dichter und Lyriker, gute und schlechte Menschen haben mit dem armen kleinen Liebesgott nach ihrem Belieben geschaltet, und nun ist er so scheu und zurückhaltend geworden, daß er lieber nicht angeredet, noch beschrieben oder im Druck zum Besten profaner Leute dargestellt werden möchte. Er ist karg mit seinen scharfen Pfeilen geworden, und übt sich im Schießen meistens nur mit schweren an der Spitze abgerundeten Bolzen, die ein häßliches braunes Mal hinterlassen, wenn sie treffen, aber kein edles Blut vergießen. Er lauert an entlegenen Orten und schmollt, und springt nur selten auf arglose Jünglinge und Jungfrauen los, wie er es in der guten alten Zeit zu thun pflegte, ehe Darwin und La Rochefoucauld die Schönheit des Körpers und der Seele vernichteten, — oder den Glauben der Menschen an diese Schönheit, was ziem­ lich auf dasselbe herauskommt. Hat uns nicht der eine gelehrt im Engel das Thier zu sehen, und der andre, im Heiligen den Teufel zu entdecken? Und doch nennen wir unsre Geliebten Engel und unsre verstorbenen Eltern Selige, in gemüthlich hergebrachter Weise, so wie wir über unsre Glaubensartikel sprechen. Die einzigen modernen Menschen, welche noch mit wirklichem Erfolg von Liebe sprechen, sind

76 diejenigen, welche in sinnlicher Lust bei dem Gedanken an ihr Fleisch und Blut mit den Lippen schnalzen, weil sie zu blind sind, um die holde Seele zu sehen, die darinnen wohnt, und zu wenig Verstand haben, um zu begreifen, daß Leib und Seele Eins sind. Herr Barker, welcher die Fähigkeit zu haben schien, ein Gespräch zu führen und zugleich einem andern zuzu­ hören, fiel ein, als Claudius schwieg. „Der Professor, Gräfin, ist einer von den seltnen Menschen, welche sich grenzenlosen Enthusiasmus gestatten. Bei aller Achtung vor seiner hohen Gelehrsamkeit, scheint er mir gegenwärtig gegen eine todte Mauer loszurennen. Wir haben etwas von der Frauenfrage in Amerika erlebt. Wir wol­ len ihn mit hinüber nehmen und ihm zeigen, was sie bedeutet." „Lieber Freund", sagte Claudius, „Sie sind einer jener verhärteten Skeptiker, von denen nichts anders zu hoffen ist, als Reue auf dem Todtenbette. Wenn Sie ein­ mal tödtlich getroffen sind und die Wahl zwischen Heirath oder Tod greifbar vor sich sehen, so werden Sie sich natür­ lich für die Ehe entscheiden. Geht es Ihnen dann nach Verdienst, so wird Ihre Frau Sie mit eisernem Szepter beherrschen und zu Ihrem Schaden werden Sie erkennen, daß Ihre Frau Recht hat, ob Sie wollen oder nicht, und daß sie Sie zu gebrauchen versteht." „Dollars und Cents", sagte Barker grimmig, „das ist alles!" „Nein, nicht alles", entgegnete Claudius; „die weise Vorsehung hat Frauen in die Welt gesetzt, welche solchen Sündern wie Sie das Leben recht unbehaglich machen können, und wenn Sie sich nicht bekehren und eine regel­ rechte Verehrung des schönen Geschlechts beginnen, so hoffe ich, daß Sie so eine bekommen."

77 „Danke schön! und wenn ich Buße thue und auf meinen Knieen zu jeder mir bekannten Dame Pilgere, was für ein Schicksal sagen Sie mir dann voraus? Welch end­ losen Segen habe ich dann zu erwarten?" Die Gräfin belustigte dies kleine Wortgefecht, abschon sie Claudius Recht gab. Trotz all seiner übertriebenen Höflichkeit und seiner schönen Redensarten hatte Barker nichts Ritterliches in seinem Charakter. „Sie können die zahlreichen Segnungen nie recht schätzen, ehe Sie zur Frauenverehrung bekehrt sind, mein Freund", sagte Claudius, der Frage ausweichend. „Aber", fügte er hinzu, „vielleicht kann die Gräfin sie Ihnen schildern." Das zu thun war Margarethe nicht gesonnen. Sie wollte nicht ein allgemeines Gespräch auf einem Gebiet, fortführen, welches des Doktors eigenstes zu sein schien besonders da Herr Barker sich geneigt zeigte, über deffen Begeisterung zu lachen. So brachte sie ein andres Thema zur Sprache und fing an, den Amerikaner über das Wett­ rennen am Tage vorher zu befragen. „Ich gehe jetzt natürlich nirgend hin", sagte sie. Das Diner verlief sehr angenehm. Fräulein Skeat wurde von dem intelligenten Herrn Barker sozusagen in der Knickerbocker und Boston Peerage unterrichtet; er ver­ fehlte nicht dabei auf die Vorzüge von Debrett hinzuweisen, der es nicht unterläßt schwarz auf weiß die Rangunter­ schiede anzugeben, welche er zum Heil der Gesellschaft für unerläßlich hält, während die unternehmenden Herausgeber des „Blaubuchs von Boston" und des Adreßbuches von New Nork die Gesellschaft nur nach Straßen eintheilen, sie in so und so viel Qradratfuß zerlegend, mit so und so viel Herzögen, Marquis, Generalen und „Leuten unbe­ kannten Standes." Fräulein Skeat hörte die Abhandlung

78 über die Rechte der Geburt mit gespannter Aufmerksamkeit an, der gelbe Kerzenschein spielte hell auf ihren scharfen Zügen und ihr altes Herz klopfte voll Interesse. Marga­ rethe brachte Claudius auf seine Jugend zu sprechen und hörte mit unendlichem Vergnügen die Erzählungen von dem frischen freien Leben im Norden, das er als Knabe geführt hatte. Der Doktor hatte die Gabe der Rede und trug seine Geschichten mit einer Lebendigkeit vor, die etwas vom Hauch der Seelust an sich hatte. „Ich hoffe, Sie werden mich beide wieder besuchen," sagte die Gräfin, als die beiden Herren sich verabschiedeten; aber sie sah dabei Barker an. Eine halbe Stunde später saßen sie in ihrem Zimmer im Hotel und Barker schlürfte Champagner, während Clau­ dius wie gewöhnlich Cigaretten rauchte. Ebenfalls wie ge­ wöhnlich sprachen sie mit einander, Für zwei Personen, welche die Gabe besaßen ihre Gedanken auszudrücken und deren Ansichten meistens im schärfsten Gegensatz zu ein­ ander standen, war es natürlich, daß sie sich viel zu sagen hatten. Der Eine wußte viel, der andere hatte viel ge­ sehen; beide hatten eher ernste Lebensanschauungen. Barker täuschte sich keinen Augenblick über die Wirklichkeit der Dinge und brachte einen großen Theil seiner Zeit mit Praktischer Anwendung von Mitteln für solche Zwecke zu, die er gerade im Auge hatte; er war oberflächlich in seinem Wiffen, aber gründlich in seinem Handeln. Claudius suchte nach einem greifbaren, sichtbaren Ausdruck einer innern, geistigen Wahrheit, die seinem Gefühl nach vorhanden sein mußte, obschon er wußte, daß er ein Menschenleben mit den vorbereitenden Schritten zur Erreichung dieses Zieles hinbringen könnte. Jetzt aber sprachen sie über die Ehe. „Es ist abscheulich", sagte Claudius, „zu denken, wie

79 in allen civilifirten und uncivilisirten Ländern der Heiratskontrrkt von durchaus materiellem Interesse ist. Das sollte nicht sein — es ist unrecht, von Anfang an." „Ja natürlich, es ist sehr unrecht," antwortete Barker, der immer bereit war, das Vorhandensein, ja sogar die Schönheit eines Ideals zuzugeben, obschon er bei seinem Handeln das Ideal nie auch nur einen Augenblick in Betracht zog. „Natürlich ist es unrecht; aber es geht nicht anders. Die Frage von Dollars und Cents steigt überall bei jedem Geschäft auf, und ich glaube, es ist besser, sie zuerst abzuthun. Einem Franzosen muß man eine Summe baar auszahlen, ehe er die Tochter heirathet." „Ich weiß," sagte Claudius, „und der Gedanke widert mich an!" „Ich achte Ihren Widerwillen, aber so ist die Sache, sie hat den großen Vorzug, daß alles abgemacht und kein weiteres Gerede darüber ist. Bei uns zu Lande ist das Schlimme, daß die Leute aus Liebe heirathen; und wenn sie mit der Liebe fertig sind, müssen sie doch leben, und dann muß Jemand die Rechnungen bezahlen. Nehmen wir an, der Sohn eines reichen Vaters heirathet die Tochter eines reichen Vaters; wenn ihnen die Sache nichts Neues mehr ist, dann beginnen die Rechnungen einzulaufen, und sie bringen den Rest ihres angenehmen Lebens damit zu, sich gegenseitig die Ausgaben zuzuschieben. Wären sie durch einen altmodischen Heirathscontract gebunden, so könnte das nicht vorkommen, denn die Frau wäre verpflichtet, für so und so viel Kleider zu sorgen, und der Mann ihr so und so viel zu essen zu geben, und damit wäre die Sache fertig. Sehen Sie das ein?" „Nein, ich sehe es nicht ein," entgegnete Claudius, „wenn sie einander wirklich liebten —"

80 „Genug!" rief Barker lustig; „wenn Sie die Un­ wandelbarkeit menschlicher Neigungen zur Grundlage Ihrer

Beweisführung nehmen, bin ich fertig." „Dann kommt Ihr Cynismus ins Spiel", sagte der Andre, „und versagt Ihnen das Vergnügen und den Nutzen, ein Ideal anzuschauen und bis zu seiner vollkom­ menen Entwicklung zu verfolgen." „Ist es cynisch, die Dinge anzusehen, wie sie wirk­ lich sind, anstatt wie sie in einer geträumten Welt sein

könnten?" „Wenn Sie sie wirklich ansehen, wie sie sind — nein", sagte Claudius. „Wenn Sie aber von dem Gedanken ausgehen, daß die Dinge, wie sie find, nicht besonders gut find, so werden Sie fie selbst, nach dem Ihnen eigenen Maßstab von Schlechtigkeit messen und zu einem schlechten Ideal kommen, wie ich zu einem guten, und das wird noch weiter von der Wahrheit entfernt und höchst niederschlagenb zu betrachten sein." „Warum?" entgegnete Barker. „Warum sollte es niederschlagend sein, alles so anzusehen wie es ist, oder es wenigstens zu versuchen? Warum sollte meine von Natur fröhliche Stimmung unter der Entdeckung leiden, daß das tausendjährige Reich noch nicht begonnen hat? Die Welt mag schlecht sein, aber so lange sie vorhält, ist es ein lustiger kleiner Ort." «Ihr Fall ist hoffnungslos!" sagte Claudius lachend. „Wenn Sie ein Gewissen und ein wenig Mitgefühl für die Menschheit hätten, müßte Ihnen in einer schlechten Welt unbehaglich zu Muthe sein." „Richtig! Mir ist recht behaglich zu Muthe, weil ich weiß, daß ich gerade eben so bin, wie jeder Andre, und ich möcht's auch fein, ganz gewiß."

81 „Ich bin nicht so gewiß, daß Sie es sind," sagte Claudius nachdenklich. „O natürlich nicht, wie Sie sich die andern denken — mittelalterliche Leute, die sich nach Turnieren sehnen, und herum kriechen, die Frauen anzubeten." „Ich weise die mildere Anklage nicht zurück", ant­ wortete Claudius, „aber ich glaube kaum, daß ich krieche." „Nein, aber die Leute, die Sie sich denken, thun es — die männliche Bevölkerung dieses lustigen Erdballs, wie Sie ihn der Gräfin schildern." „Ich denke, Gräfin Margarethe versteht mich ganz gut." „Ja," sagte Barker, „sie versteht Sie sehr gut!" Er betonte diese Bemerkung nicht besonders und seine Stimme war scharf und eintönig; aber die Wiederholung war so nachdrücklich, daß Claudius seinen Gefährten forschend ansah und schwieg. Barker untersuchte den Pfropfen seiner kleinen Champagnerflasche — gerade noch einen Schluck — und sein Gesicht sagte nichts. „Meinen Sie nicht, Professor", sagte er endlich, „daß Sie mit Ihren Ansichten über Frauenrechte in Amerika interessante Studien machen könnten?" „Gewiß." „Sie könnten ein Buch schreiben." „Das könnte ich," sagte Claudius. „Sie und die Gräfin könnten zusammen ein Buch schreiben." „Scherzen Sie?" „Nein. Was ich Sie Beide heut Abend und neulich, als wir unsern Besuch machten, mit einander reden hörte, würde ein sehr interessantes Buch abgeben, obschon ich mich mit Ihnen Beiden von A bis Z im Widerspruch be­ finde. Es würde aber einen guten Absatz haben." Crawford, Doktor Claudius. 6

82 „Es scheint, Sie sehen die Dinge zu sehr für ausge­ macht an, wenn Sie annehmen, die Gräfin würde zu so einem Unternehmen geneigt sein." Barker sah den Doktor starr an und lächelte. „Meinen Sie wirklich? Glauben Sie, wenn Sie das Werk schreiben wollten, daß sie etwas dagegen haben würde, Ihnen mit ihren Ansichten und ihrer Erfahrung zur Seite zu stehen?" „Mit andern Worten," sagte Claudius, „Sie spielen auf die Möglichkeit einer Reise nach Amerika an, in Ge­ sellschaft der reizenden Frau, bei der Sie mich eingeführt haben." „Sie machen Fortschritte, Doktor, gerade das meinte ich. Wir wollen von Badens Schattenalleen nach den sturmgepeitschten Felsen von Newport übersiedeln. Wir können vor Ende der Saison dort sein. Doch mir fällt ein, Sie meinten, Newport würde Ihnen nicht gefallen. „Ich weiß nicht recht", sagte Claudius. „Glauben Sie, die Gräfin würde Hinreisen?" „Wenn Sie sie eifrig besuchen und ihr die glorreiche Zukunft klar machen, welche Ihrem gemeinsamen litterari­ schen Unternehmen bevorsteht, so würde sie sich wohl dazu bringen lassen." Als Claudius au jenem Abend zu Bette ging, hatte er den Kopf ganz voll von diesem neuen Gedanken, ganz wie Barker es beabsichtigt hatte. Er träumte, er schriebe mit der Gräfin zusammen, reiste mit ihr und spräche mit ihr; und er erwachte mit dem Entschlusse, daß die Sache, wenn irgend möglich zur Ausführung kommen sollte. Wa­ rum nicht? Sie hatte öfters eine Reise in ihr Vaterland gemacht, wie sie ihm selbst erzählt hatte, warnm nicht jetzt wieder? Vielleicht dachte sie selbst schon daran.

83 Dann kam eine Reaktion, er war niedergeschlagen. Er kannte ja nichts von ihren Verhältnissen und ihrer Lebensweise. Eine Frau in ihrer Stellung traf wahrschein­ lich ihre Anordnungen lange im voraus und vertheilte das Jahr an ihre Freunde. Sie würde hier einen Besuch von einer Woche, dort von einem Monat in verschiedenen Gegenden von Europa versprochen haben, und der Ge­ danke, daß sie auf Veranlassung einer Bekanntschaft von zwei Tagen ihre Pläne aufgeben und nach Amerika reisen würde, war unhaltbar. Als er von seinem Morgenspazier­ gang zurückkam, sagte er sich dann wieder: Nichts geht über Versuchen!" er wollte ihr sobald als schicklich nach Tisch einen Besuch machen und wollte dann öfter wieder vorsprechen. Herr Barker war ein Mann, bei dem bedeutende Men­ schenkenntniß recht ansehnlicher angeborner Schlauheit zu Hilfe kam. Er hatte in seinem Urteil über andre und deren Absichten nicht immer recht, aber doch öfter recht als un­ recht. Seine Art, mit den Leuten umzugehen, war für die Majorität berechnet, und er wußte, daß es keine absoluten Ausnahmen von dem allgemeinen Typus der Menschheit gäbe. Sein Maßstab war aber folgerecht etwas niedrig und ihm fehlte jene Sympathie, welche eine höhere Natur die andre besser verstehen läßt, als untergeordnete. Barker verstand mit den Leuten umzugehen, mit welchen er zu­ sammentraf. Claudius hätte einen Helden verstanden, roeutt er je einem solchen begegnet wäre; gegen gewöhnliche Sterbliche benahm er sich nach seinen eigenen bestimmten Regeln, ohne sich um die Grundsätze zu bekümmern, nach denen sie handelten, oder sie verstehen zu wollen. Wenn man den Doktor gefragt hätte, ob er die Gräfin lieble, würde er das entschieden verneint haben. Sie war 6*

84 für ihu die schönste Frau von der Welt, sie stellte ihm sein höchstes Ideal vor und entsprach sicherlich diesem Ideal, dessen war er gewiß, obschon er sie so wenig kannte. Aber sie lieben, dachte der Doktor, wäre doch ganz etwas anders. Was er für Margarethe fühlte, hatte keine Aehnlichkeit mit dem, was er bisher Liebe genannt hatte. Ueberdies, würde er gesagt haben, verliebt man sich denn so plötzlich? Doch nur in Büchern! Da aber niemand solche Frage an ihn richtete, legte er sie sich auch selbst nicht vor, sondern dachte nur sehr viel an sie und erinnerte sich an alles, was sie gesprochen hatte. Er lebte in einer unbekannten Sphäre, aber er fühlte sich glücklich und fragte nicht. Sein Wesen verstand das ihre, und als er anfing, öfters nach dem schönen kleinen Landhause zu gehen, wußte er sehr wohl, daß Barker sich irrte, und daß die brünette Gräfin es sich mehr als einmal überlegen würde, ehe sie sich überreden ließe, nach Amerika zu reisen, oder ein Buch zu schreiben, oder überhaupt irgend etwas mehr für Claudius zu thun, als ihn gern zu sehen und ihm zu zeigen, daß er will­ kommen wäre. Sie würde sofort das Gesprächsthema ge­ wechselt haben, wenn Claudius ihr irgend einen solchen Vorschlag gemacht hätte, das fühlte er instinktiv. Er war den Frauen gegenüber kühn, nie aber überschritt er die Grenze, und seine Art und Weise gestaltete ihm, manches zu sagen, was in Herrn Barkers Munde sehr sonderbar geklungen haben würde. Er flößte den Frauen ein Gefühl von Zuversicht ein, daß sie sich darauf verlassen konnten, er würde sie unter allen Umständen achten und ehren. Die Gräfin war daran gewöhnt, Männer zu ihren Füßen zu sehen, aber sie hatte nie einen ungerecht behan­ delt und wenn hin und wieder mancher den Kopf verloren hatte, war es nicht ihre Schuld. Sie war eine reine

85 Frau und hatte ihren Mann so sehr geliebt wie die meisten andern guten Frauen, aber immer mit dem redlichen Stre­ ben, ihn noch mehr zu lieben; denn sie war sehr jung, als sie sich verheirathete und hielt ihre Liebe für stärker, als sie wirklich war. Sie hatte ihren Mann aufrichtig betrau­ ert, aber die Wunde war geheilt, und da sie eine kräftige Natur, ohne krankhafte Empfindsamkeit war, hatte sie an die Möglichkeit einer Wiederverheirathung gedacht, ohne indessen diesen Gedanken an eine bestimmte Persönlichkeit zu knüpfen. Claudius hatte ihr vom ersten Augenblick an gefallen, und es war etwas Romantisches in ihrer ersten Begegnung auf dem Heidelberger Schloß. Bei näherer Bekanntschaft gefiel er ihr noch besser, obschon seine Be­ wunderung für sie ihr nicht entging, und nach Verlauf von vierzehn Tagen war der Umgang mit ihm ihr zur Gewohnheit geworden. Sie lasen zusammen, gingen zu­ sammen spazieren und einmal nahm sie ihn mit in ihrem schwarzen Phaeton, worauf Barker bemerkte, „es wäre eine kolosfale Geschichte auf Rädern". Da Herr Barker sah, daß sein Gefährte ihm fürs erste sicher wäre, verließ er Baden für einige Zeit und traf mit seinem Herzog in Como zusammen, der dort etwas beson­ ders Anziehendes entdeckt hatte. Der Herzog meinte, Como würde ein ganz erträglicher Ort sein, wenn die Gegend nicht so garstig wäre. „Auf meinem Gut im Westen sieht man Befferes!" setzte er hinzu. Der brittischen Aristokratie gefiel Herr Barker, weil er die Zeit immer auf originelle Weise zu vertreiben wußte, und weil er trotz seines Reichsthums, immer nur in sehr unbestimmten Ausdrücken vom Gelde sprach, wie „Haufen Moos", „ungeheuer viel Seckel" und dergleichen. So be­ schlossen sie, zusammen nach Baden zurückzukehren und tha-

86 ten es auch, und da sie viel über Claudius gesprochen hatten, machten sie der Gräfin gleich am ersten Nachmittag einen Besuch und richtig, da saß der Schwede neben chr im Garten und erklärte ihr Herbert Spencers Schristm. Barker und der Herzog blieben eine halbe Stunde und Claudius wollte mit ihnen gehen, aber Margarethe bestand darauf, das Kapitel zu Ende zu lesen, und so blieb er. „Der ist total verschoffen, Herzog", bemerkte Barker und fing an zu rauchen, sobald er in der Viktoria saß. „Ja es scheint mir auch, bei dem hats eingeschlagen. Nun I guess, nichts Besseres hätte geschehen können." Kraft seiner Befitzungen in Amerika, brachte der Herzog das „I guess“ dann und wann an, wenn keiner von den „greulichen Leuten" in der Nähe war.

„Wiffen Sie was, Herzog," sagte Barber, „wir wollen nach Hause reisen und sie mitnehmen." „Ich kann jetzt noch nicht fort. Nächsten Monat. Im Herbst, wiffen Sie, Pracht der Wälder und all dergleichen." „Glauben Sie, sie werden mitkommen?"

„Weiß nicht," sagte der Herzog, „könnte sie in der Nacht mitnehmen, wenn sie Lust hätten." „Schön. Wir können Karten spielen, während sie im Mondlicht schwärmen." „Aber halt, sie würde nicht ohne eine andere Dame reisen; es käme gleich in alle Zeitungen." „Sie hat eine Gesellschaftsdame," sagte Barker. „Das genügt nicht für den Anstand." „Dann sind wir in Verlegenheit." Es trat eine kurze Pause ein. „Hören Sie mal," sagte der Herzog plötzlich. „Mir füllt eben ein, ich habe irgendwo eine Schwester. Die will

87 Sie ist nie seekrank und ihr Mann ist nach

ich holen. Kamtschatka

oder

an

so

einen

ähnlichen

Ort

geschickt

worden." „Das ist wie gefunden!" sagte Barker; „ich will mit

Claudius sprechen.

Können Sie die Gräfin übernehmen?

Kennen Sie sie schon lange?"

„Ziemlich lange.

Seit ihrer Verheirathung mit dem

armen Alexis." „Gut, dann fordern Sie sie auf."

Damit waren sie

an ihrem Gasthofe angekommen. So machten diese beiden Herren die Sache unter ein­

ander ab. Beide wollte nach Amerika reisen, hatten aber keine Eile, so daß die Aussicht auf eine angenehme Gesell­ schaft, verbunden mit der Freiheit und dem Gefühl des zu Hauseseins, wie man es auf einer Nacht hat, einen großen

Reiz bot.

Barker natürlich fand Interesse und Vergnügen

an seinem Plan,

die Gräfin und Claudius in einander

verliebt zu machen, und die brünette Dame sollte auch in seiner Schaustellung figuriren.

Claudius hätte sich nicht

leicht dazu überzeugen oder überreden lassen, Europa zu verlassen, aber es war kaum zu bezweifeln, daß er der

Gräfin folgen würde, wenn diese zur Reise zu bewegen wäre. Der Herzog andrerseits dachte nur daran eine pas­

sende Gesellschaft zusammenzubringen, welche die Reise so wie so machen wollte, und ihm nach der Landung nicht weiter zur Last fallen würde. Rach zwei oder drei Tagen also besuchte er die Gräfin, um den Feldzug zu eröffnen.

Es war nicht ganz neuer Grund und Boden, waren schon einmal zusammen hinübergefahren.

denn sie Der Her­

zog war nicht besonders geschickt darin, ein Gespräch nach seiner Absicht zu lenken, er fing also sofort an von Amerika zu sprechen, um auf irgend eine Weise ins Ziel zu treffen-

88 „Ich bin seit vorigem Herbst nicht dort gewesen," sagte er, „und ich muß wirklich hin." „Wann werden Sie reisen?" fragte Margarethe. „Ich dachte nächsten Monat. Ich denke, ich werde mit der Nacht gehen." „Es wundert mich, daß Sie das nicht immer thun. Es ist so viel angenehmer, man hat das Gefühl als hätte man sein eigen Haus nicht verlassen." „Die Sache ist die," sagte er und wagte einen kühnen Sprung, „ich will meine Schwester mitnehmen, und möchte gerne eine kleine Gesellschaft beisammen haben. Wollen Sie, Gräfin, und Fräulein Skeat nicht mitkommen?" „Sie find wirklich sehr gütig, Herzog. Ich beabsich­ tigte aber nicht, schon jetzt nach Hause zu reisen." „Es ist lange her, daß Sie nicht dagewesen sind. Nicht seit —" „Ja ich weiß," sagte Margarethe ernst, „und vielleicht eben darum kann ich mich nicht recht dazu entschließen." „Aber wäre es' nicht etwas anders, wenn wir alle zu­ sammen reisten? Würden Sie das nicht viel netter finden?" „Sagten Sie nicht, daß Ihre Schwester mitreisen wollte?" „O ja, sie wird gewiß mitkommen." „Nun," sagte die Gräfin nach kurzem Bedenken, „ich will mich noch nicht entscheiden. Ich brauche mich doch noch nicht zu entschließen, nicht wahr? Dann will ich es mir einige Tage überlegen." „Ich bin gewiß, Sie werden sich entschließen, mit uns zu kommen," sagte der Herzog bittend. „Vielleicht sollte ich reisen, und es ist wirklich so freund­ lich von Ihnen, Sie bieten mir eine so verlockende Gele­ genheit." Sie hatte ein Vorgefühl, als ob sie sich bald

89 auf der Nacht einschiffen würde, obwohl es vor der Hand unwahrscheinlich war, denn wie Claudius richtig errathen, hatte sie viele Besuche versprochen. Wenn ihr an diesem Morgen jemand gesagt hätte, daß sie einen Ausflug nach Amerika machen würde, hätte sie es für unmöglich erklärt. Der Gedanke an die unangenehme Reise, der Greuel mit einer Masse unbekannter Reisender zusammen gewürfelt zu werden, oder noch schlimmer, mit oberflächlichen Bekannten zusammenzutreffen, die sich ihrer Bekanntschaft rühmen möchten, — das alles genügte, auch ohne weitere Gründe, sie von der Reise zurückzuhalten. Aber mit der Reisegesell­ schaft, wie sie der Herzog vorschlug, war es ganz etwas anderes. Er war ein Gentleman, und außerdem ein Pair, und überdies ein alter Freund. Seine Schwester war eine gutmüthige Dame mit beschränkten Ansichten, aber un­ begrenztem Wohlwollen, und überdies war die Nacht ge­ wiß vollkommen in ihrer Art und sie würde der geehrte Gast sein. Aus manchen Gründen that es ihr leid, Baden zu verlassen, Claudius gefiel ihr sehr, und durch ihn hatte sie das Gefühl, ein geistiges Leben zu führen. Aber sie war noch nicht recht im Klaren über ihn. Für sie war er noch immer der stille Gelehrte, den sie in Heidelberg ge­ troffen, und während des letzten Monats hatte sich das Gefühl, welches sie für ihn hegte, mehr in der Richtung geistiger Sympathie als persönlicher Freundschaft entwickelt. Es würde ihr nicht schwerer werden, sich von ihm zu trennen, als ein interessantes Buch halb ausgelesen fortzulegen. Das war aber schon immer etwas und das Gefühl hatte Bedeutung. „Fräulein Skeat," sagte sie, als sie allein waren. Sie sind noch nie in Amerika gewesen?" „Nein, liebe Gräfin, ich bin nie dort gewesen und

90 habe auch bis vor kurzem nie daran gedacht, daß ich gern hingehen würde." „Würden Sie jetzt gern Hinreisen?" rief die alte Dame, „es würde mir das größte Vergnügen machen." „Ich denke daran, nächsten Monat hinzureisen," sagte Margarethe, „und möchte natürlich gern, daß Sie mitkämen. Ist Ihnen eine Seefahrt sehr unangenehm?" „O nein, gar nicht! Ich bin in meiner Jugend viel herumgesegelt, und der Atlantische Ozean kann nicht schlim­ mer sein als die See an unsrer Küste." Fräulein Skeats Zustimmung war für Margarethe wirklich eine Sache von Wichtigkeit, denn die alte Dame war ihr herzlich zugethan, und Margarethe würde ihre treue Gesellschafterin sehr ungern auch nur für kurze Zeit entlassen haben, überdies hätte sie ja ohne eine Gesellschaf­ terin gar nicht reisen können. Das Ende von der Sache war, daß sie schon bei Tische entschlossen war, sich bei all ihren Gastfreunden, die sie erwarteten, zu entschuldigen und des Herzogs Einladung anzunehmen. Es war ja erst für den nächsten Monat und bis dahin konnte sie das Buch beenden, welches sie mit Claudius las. Sie verschob es bis zum folgenden Tage, an den Herzog zu schreiben, da­ mit es doch so aussähe, als ob sie sich die Sache etwas länger überlegt hätte. Aber ihr Entschluß wankte nicht und am Morgen schickte sie ein freundliches Briefchen ab, in dem sie sagte, sie sähe ein, daß ihre Verabredungen ihr doch erlauben würden u. s. w. u. s. w. Als Margarethe Fräulein Skeats sagte, daß sie in einer wunderschönen Jacht mit dem Herzog und seiner Schwester segeln würden, sprühte die Gesellschafterin förm­ lich vor Freude.

91

Sechstes Kapitel. Der Herzog war den Tag über fort und erhielt das Briefchen erst spät am Abend. Er freute sich sehr über ihre Zusage, indessen schienen ihm noch Schwierigkeiten im Wege zu sein, denn natürlich mußte er ihr die Namen der übrigen Gäste mittheilen. Sie würde sich vielleicht besinnen, wenn sie hörte, daß Claudius und Barker von der Partie sein sollten. — Barker war eigentlich der Begleiter, den der Herzog sich wünschte. Er wußte nichts über Claudius, aber es waren ihm genug excentrische Menschen von ver­ schiedenster Art vorgekommen, so daß er sich nicht weiter über ihn wunderte, und da der Doktor augenscheinlich ein Gentleman war, hatte er nichts gegen ihn. Sobald also der Herzog Margarethens Entschluß erfahren hatte, ging er mit ihrem Briefchen aus, um Barker aufzusuchen. Es war spät, aber der Amerikaner war an späte Stunden ge­ wöhnt; sein Freund fand ihn von einer ungeheuern Tabaks­ wolke eingehüllt, wie er seine Nägel mit dem gespannten Jntereffe betrachtete, das bei manchen Leuten Nachdenken bedeutet. „Alles in Ordnung", sagte der Herzog, „sie wird mitreisen." „Was Sie sagen?" rief Barker, nahm die Beine vom Sopha und zog das Gesicht in Falten. „Sehen Sie her! Briefchen — förmliche Zusage und all dergleichen." Und damit reichte er Barker Marga­ rethens Brief. „Nun, das ist glatt gegangen", bemerkte letzterer, „ich dachte Sie würden Schwierigkeiten haben?' „Sie sagte, sie wollte es sich einige Tage überlegen.

92 Ich glaube sie hat denselben Abend geschrieben, als ich bei ihr war. Ganz wie ein Weib." „Nun ich denke, es ist jedenfalls verdammt glücklich", sagte Barker. „Haben Sie ihr gesagt, wer mitkommt?" „Ich habe ihr von meiner Schwester gesagt. Sie und Ihren Freund habe ich noch nicht erwähnt. Natürlich will ich das thun, sobald ich Ihrer beider sicher bin." „Gut", sagte Barker, „Wenns Ihnen recht ist, könnten Sie an den Doktor schreiben. Er würde sich vielleicht be­ denken eine mündliche Einladung anzunehmen. Ist es Ihnen unbequem?" „Nicht im geringsten", erwiderte der Engländer, „geben Sie mir ein Stück Papier und eine Feder, und ich thue es gleich." Also that ers und richtete die Einladung an Herrn Claudius Dr. phil. und Barker schob sie durch die Thür­ spalte in des Doktors Schlafzimmer, damit sie nicht vergeffen würde. Am nächsten Morgen erschien Claudius mit dem Brief des Herzogs in der Hand. „Was bedeutet dies?" fragt er. „Ich kenne ihn kaum, und er fordert mich auf, in seiner Nacht über den Atlan­ tischen Ocean zu fahren. Bitte, erküren Sie mir das." „Behalten Sie Ihr Haar auf dem Kopfe", entgegnete Herr Barker scherzend. „Er hat Sie und mich eingeladen, weil seine Gesellschaft ohne uns nicht vollzählig sein würde." „Und aus wem besteht die Gesellschaft." „Ach, nur eine ganz kleine. In erster Linie seine Schwester, glaube ich. Und dann — fassen Sie sich — Fräulein Skeat reist mit." „Fräulein Skeat?" Claudius glaubte sein Freund wollte ihn zum Besten haben und runzelte die Stirn.

93 Ja, Fräulein Skeat und die Gräfin, oder vielleicht sollte ich sagen, die Gräfin nnd Fräulein Skeat." „Ah", sagte Claudius, „noch sonst jemand?" „Nicht daß ich wüßte. Werden Sie mitkommen?" „Es ist etwas plötzlich", sagte der Doktor nachdenklich." „Sie müssen sich so oder so entscheiden, sonst verderben Sie dem Herzog seinen Plan." „Barker", fragte Clandius ernst, „glauben Sie die Gräfin weiß, wer mitfährt?" „Mein lieber Freund", erwiderte Barker, indem er eine Pfirsich schälte, die er auf eine Gabel gespickt hatte, es ist nicht wahrscheinlich, daß der Herzog eine Dame einladen wird, ohne ihr zu sagen, wer von Herren dabei ist. Be­ ruhigen Sie sich indessen. Ich habe ihre Gewohnheiten beob­ achtet, und in zwei Stunden und dreiundzwanzig Minuten wird Ihr Gemüth in Ruhe sein." „Wie das?" „Es ist jetzt siebenunddreißig Minuten nach neun. Haben Sie es in den letzten Wochen wohl je versäumt, Schlag zwölf bei der Gräfin zu sein?" Claudius schwieg. Es war vollkommen wahr, er ging täglich zur selben Stunde hin, denn wie schon der Anfang dieser Geschichte gezeigt hat, er war ein Mann von regel­ mäßigen Gewohnheiten. Aber es fiel ihm jetzt eben ein, daß die Gräfin nicht von der Partie sprechen würde, wenn sie nicht wüßte, daß er auch dabei sein sollte. Er hatte die Einladung noch nicht angenommen, und der Herzog würde seine Zusage natürlich nicht als etwas Selbstver­ ständliches voraussetzen. Es schien ihm wahrscheinlich, daß er in Ungewißheit verbleiben würde. Wenn er nun zusagte, ohne der Gräfin sicher zu sein, hatte er sich gebunden, sie zu verlassen. Claudius hatte noch viel zu lernen.

94 „An Ihrer Stelle", sagte Barker, „würde ich sofort schreiben und ja sagen. Warum können Sir es nicht jetzt gleich thun?" „Weil ich mich noch nicht entschlossen habe." „Nun, ein Vogel in der Hand ist die Seele des Ge­ schäfts, wie das Sprichwort sagt. Ich für mein Theil habe zugesagt; aber es würde mir leid thun, sie auf dieser Seite des Meeres zurückzulassen." Claudius ging also wie gewöhnlich zur Gräfin, die ihn in ihrem Wohnzimmer erwartete. Er neigte sich über ihre Hand, doch als er sie berührte, schien sie ihm etwas kälter als sonst. Vielleicht bildete er es sich ein, aber ihr ganzes Wesen schien ihm minder herzlich als sonst. Er sagte zu sich selbst: „Sie hat gehört, daß ich mitreise, sie ist verstimmt und freut sich nicht, mich zu sehen." Es war eine unnatürliche Förmlichkeit in ihrer Unterhaltung, die keiner von beiden überwinden konnte, und in wenigen Minuten sahen sie aus, als hätten sie seit Jahren nicht gelächelt. Claudius war durchaus im Irrthum. Margarethe hatte nicht gehört, daß er auch reiste. Sonst würde sie so offen darüber gesprochen haben, wie es in ihrer Natur lag, wenn sie überhaupt sprach. Margarethe hatte die Einladung des Herzogs angenommen und beabsichtigte ihr Wort zu halten, sie hatte keine Ahnung, wer die andern Gäste sein mochten. Sie sah voraus, daß diese Reise ihre Bekanntschaft mit Claudius abbrechen würde und bedauerte das; besonders bedauerte sie, daß sie dem Doktor so ver­ trauten Zutritt und so viele Besuche gestattet hatte. Nicht als ob er es sich zu Nutzen gemacht, daß er auf solchem Fuße empfangen wurde, denn die geringste Spur davon auf feiner Seite würde dem Verhältniß plötzlich ein Ende

95 gemacht haben; er war von Anfang an ein Muster rückfichtsvoller Höflichkeit gewesen. Aber sie kannte die Männer gut genug, um zu wissen, daß diese zarte Huldigung eine aufrichtigere Bewunderung verhüllte, als den zudringlichen Aufmerksamkeiten andrer Männer ihrer Bekanntschaft zu zu Grunde gelegen hatte. Deshalb hatte sie beschlossen, da bis zu ihrer Abreise noch drei Wochen hin waren, nach deren Verlauf sie Claudius wahrscheinlich niemals Wieder­ sehen würde, ihn sanft loszulaffen, damit auf seiner Seite keine zu zärtliche Erinnerungen zurückblieben, und auf ihrer keine Gewissensbisse. Er hatte sie interessirt, sie hatten ein Paar Monate angenehm miteinander verlebt, sie hatte ihn nicht ermuthigt, und er war ohne Seufzer geschieden, so hoffte die Gräfin Margarethe nach Verlauf eines Monats an Claudius zurückzudenken. Und aus Furcht vielleicht etwas zu freundlich gewesen zu sein, fing sie an diesem heißen Morgen an, etwas kälter zu sein, als Claudius, voll Unentschlossenheit, ihr aus ihren gewöhnlichen Platz zum Lesen unter den Bäumen folgte. Hier hatten sie ge­ sessen, als Barker ihn zuerst vorgestellt. Margarethe hatte kein besonderes Gefühl für das Plätzchen unter den Bäumen. Es war ihr nur am bequemsten dort zu sitzen und zu ar­ beiten; das war alles. Für Claudius aber war der runde Rasenplatz der Tempel seiner Seele und Margarethe war ihm Runenweib und Prophetin sowohl wie Göttin. An solchen Orten und bei solchen Frauen hatten seine blonden Ahnen, baararmig und schwertgegürtet, zur Zeit der Noth sich Rath geholt und Begeisterung zum Sang im Frieden. Hier setzten sie sich nieder; sie beschloß, gerecht gegen ihn zu sein, und dachte, das wäre eine leichte Sache, aber er mißverstand sie gründlich. Ohne ein Lächeln machten sie sich ans Lesen. Sie lasen über eine Stunde mit höchstem

96 Ernst, als zufällig das Wort „Freundschaft" in einem Satze vorkam. Claudius hielt einen Augenblick inne und legte seine breite Hand flach auf die aufgefchlagene Seite. „Das ist eines der interessantesten unb am meisten mißverstandenen Wörter in allen Sprachen", sagte er. „Welches Wort?" fragte Margarethe und blickte von ihrer Arbeit auf, der sie sich während des Lesens aufmerk­ sam gewidmet hatte. „Freundschaft." „Bitte, wollen Sie seine Bedeutung besinnen,'' sagte sie. „Ich kann besinnen, was ich darunter verstehe, ober was ich glaube, barunter zu verstehen. Ich kann besinnen, was ein Dutzenb Schriftsteller barunter verstanben haben, aber ich kann nicht sagen, was es wirklich bedeutet, noch weniger, was es am Enbe bebeuten kann." „Sie werben wahrscheinlich am besten erklären können, was Sie selbst bamit meinen;" antwortete Margarethe kühl. „Bitte, wollen Sie anfangen?" „Es scheint mir," hub Claubius an, „baß bie Schwie­ rigkeit in bem Wiberspruch zwischen Theorie unb Thatsache besteht. Natürlich, wie in allen solchen Fällen, wirb bie Theorie aus bem gelbe geschlagen, unb wir tappen im Dunkeln nach einer Erklärung der Thatsache, die wir nicht verstehen. Das ist vielleicht etwas undeutlich?" Claudius hielt inne. „Ja, etwas undeutlich", sagte sie. „Ich will versuchen, es deutlicher auszudrücken. Neh­ men wir zuerst die Thatsache. Niemand wird läugnen, daß im Laufe der Welt bisweilen Freundschaften dagewesen sind, die jede Probe bestanden und bis ans Ende ausge­ dauert haben. Solche Neigungen sind immer Herzenssachen

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gewesen, selbst zwischen Männern. Ich glaube nicht, daß man ein Beispiel von dauernder Freundschaft auf rein geistiger Grundlage anführen könnte. Wahre Freundschaft bedingt die Abwesenheit von Neid, und die Eitelkeit selbst des geringsten Geistes ist viel zu groß, um auf Grund bloßer Gedankenübereinstimmung solch eine Bedingung zu­ zulassen." „Ich sehe keinen Widerspruch, selbst wenn ich Ihre letzte Bemerkung zugebe, die cynisch genug ist." Marga­ rethe sprach gleichgültig, als ob sie nur kritifire. „Aber ich glaube, die meisten Leute verbinden den Gedanken an Freundschaft mit geistiger Sympathie, noch außer dem gewöhnlichen Gernhaben. Sie glauben zum Beispiel, daß ein Mann ein Weib ganz und voll mit der höchsten Liebe lieben könne und zu gleicher Zeit einen Freund haben, mit dem er ganz durch Sympathie ver­ bunden ist." „Und warum nicht?" fragte sie. „Einfach deshalb, weil er nicht zwei Herren dienen kann. Wenn er mit mehr als einem Wesen geistig ver­ bunden ist, so muß er mitunter nicht nur in Widerspruch mit sich selbst gerathen, sondern auch einem zu Gunsten des andern widersprechen, falls sie uneins sind. In solchem Falle ist er nicht mehr in vollkommener Harmonie mit beiden, und entweder muß seine Liebe oder seine Freund­ schaft unvollkommen sein." — Claudius schaute die Gräfin an, um zu sehen, was für einen Eindruck er auf sie ge­ macht hätte. Sie erwiderte seinen Blick nicht. „Mit andern Worten?" lautete ihre Frage. „Mit andern Worten", antwortete er im Tone der Ueberlegung, „Freundschaft ist nur ein Ersatz für Liebe und kann nicht daneben bestehn, wenn Liebhaber und Freund Crarvford, Doktor Claudius. 7

98 nicht ein und dieselbe Person sind. Nein, geistige Freund­ schaft ist etwas Verfehltes, wegen der thatsächlichen Un­ vollkommenheiten der menschlichen Natur. Sie muß also eine Herzenssache sein, wie man die auch besinnen wolle, und kann deshalb ohne unvermeidlichen Widerspruch nicht gleichzeitig mit einer andern Herzenssache bestehen. Wie oft hat die Liebe alte Freunde getrennt und Freundschaft Zwietracht zwischen Liebende gebracht!" „Ich habe diese Behauptung bisher nie gehört", sagte Margarethe, die in der That durch das Ergebniß von des Doktors Rede überrascht war. „Was halten Sie davon?" fragte er. „Ich bin nicht sicher, aber die Frage ist interessant. Ich denke, Sie find etwas unklar darüber, was „eine Herzenssache", wie Sie es nennen, eigentlich ist." „Ich glaube eine Herzenssache ist ein solcher Zustand der Gefühle, bei dem das Herz den Kopf und die Hand­ lungen des Verstandes regiert. Das innerste Wesen der Liebe ist, daß sie völlig sei, ohne Vorbehalt, und keinen Zwang durch die Vernunft gestatte." „Ein gefährlicher Zustand!" „Ja", sagte Claudius. „Wenn das Herz zur Herr­ schaft gelangt, kennt es weder Ruhe noch Erbarmen. Wenn das Herz gut ist, wird das Resultat gut sein, wenn es schlecht ist, wird das Resultat arg sein. Wahre Liebe hat im Leben der Einzelnen und im Leben der Welt unbe­ rechenbar große Wirkungen heworgebracht." „Das glaube ich", sagte Margarethe, „aber Sie er­ klärten die Freundschaft auch für eine Herzenssache, sofern Sie überhanpt daran glauben. Ist wahre Freundschaft ebenso wenig berechnend wie wahre Liebe? Macht sie keinen Vorbehalt und duldet keinen Zwang von der Vernunft?"

99 „Ich denke, wie schon gesagt, daß Freundschaft ein Ersatz für Liebe ist, das zweitbeste in ihrer Art und auch das zweitbeste in ihrer Uneigennützigkeit." „Viele Menschen sagen, Liebe sei die reine Selbstsucht." „Ich weiß das", sagte der Doktor und schwieg, als ob er nachdenke. „Wollen Sie nicht rauchen?" fragte Margarethe mit einem Anflug von Ironie, „es hilft Ihnen vielleicht zur Lösung der Schwierigkeit." „Nein, danke", sagte er, „die Schwierigkeit ist gelöst, und es ist eben gar keine Schwierigkeit. Diejenigen, welche das sagen, wissen nicht, wovon sie sprechen, denn sie haben nie selbst geliebt. Liebe, die des Namens werth ist, ist völlig; und weil sie völlig ist, verlangt sie das Ganze und ist nicht mit weniger zufrieden, ebenso wie es ihr nicht genügt, weniger zu geben als alles, was sie Hai. Die Selbstsucht liegt im alles verlangen und alles haben wollen, während man nur Fetzen und Lumpen als Gegen­ gabe bietet; und wenn man diesen Fehler bei gewöhnlichen Liebesangelegenheiten findet, so findet man ihn zehnfach bei gewöhnlichen Freundschaften. Freundschaft kann heroisch sein, aber Liebe ist göttlich." Fast wider Willen hatte Margarethe sich für das Ge­ spräch erwärmt, obschon sie ihre gezwungene Haltung, die sie zuerst angenommen, beibehalten hatte. Als indeffen Claudius jetzt seine flammenden blauen Augen aus die ihren richtete, begriff sie, daß sie das Gespräch hatte weit genug gehen lassen, und sie staunte, daß er gerade an dem Tage, wo sie recht unnahbar zu sein versuchte, mehr von dem gesagt hatte, was seinem Herzen am nächsten lag, als je zuvor. Sie kannte Ausnahmenaturen wie die seine nicht genug, um zu wissen, daß ein Ruck am Zügel gerade

100 das stolze Blut in Wallung bringt.

Er sprach allerdings

im allgemeinen, sogar argnmentirend, und seine tiefe Stimme war ruhig genug, aber in seinen Augen war ein merkwürdiger Glanz, der sie selbst in der Mittagssonne blendete, und sie sah fort von ihm. „Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen beistimme", sagte sie, „aber Sie machen es sehr klar. Wollen wir weiter lesen?" Es dauerte ein Weilchen, ehe Claudius in dem aufgeschlagenen Buch die Stelle sand, wo er stehen geblieben, und weiter las. Wiederum hatte er sie mißverstanden, denn obgleich er sich nicht erinnerte etwas gesagt zu haben, das er bereute, dünkte es ihm, sie habe das Gespräch etwas plötzlich abgebrochen. Er las weiter und fühlte sich sehr unbehaglich, er sehnte sich nach einer Erklärung, wie sie zwischen bloßen Bekannten unmöglich und zwischen Lieben­ den sehr aufregend ist. Er fühlte auch, daß, wenn er sich je erklärte und ihr sagte, daß er sie liebte, es in einem ähnlichen Augenblick wie der gegenwärtige geschehen würde. Margarethe ließ ihre Handarbeit fallen und lehrite sich in ihren niedrigen Stuhl zurück, indem sie einen langweiligen Baum auf der andern Seite des Gartens anstarrte. Claudius las mit fester Stimme, betonte die Sätze sorg­ fältig und sah nicht vom Buche auf. Als sie endlich inne wurde, wie ruhig er seine Arbeit that, sah sie ihn an, nicht verstohlen, sondern neugierig und nachdenklich. Er sah gut aus, so kräftig und gerade, selbst wie er bequem mit dem Buche in der Hand dasaß und das zitternde Sonnenlicht durch die Blätter auf seinem blonden Bart und seiner weißen Stirn spielte. Sie wußte jetzt recht gut, daß er sie sehr verehrte, und hoffte, ihr Fortgehen werde nicht zu schwer für ihn sein. Gewissermaßen war

101 er für sie immer noch der Professor, der Gelehrte, ruhig, würdevoll, unbekümmert um die Welt, so wie sie ihn zuerst gekannt hatte. Sie konnte sich Claudius nicht als einen reichen und angesehenen Mann denken, der ebenso gut seinen Launen nachgeben könne wie der Herzog selbst — vielleicht noch besser, denn des Herzogs Geldverhältnisse waren die Fabel von ganz Europa und zwar schon seit er mündig geworden. Unterdessen beendete der Doktor das Kapitel, und es trat eine Pause ein. Keiner von beiden sprach, und das Schweigen fing an peinlich zu werden, als ein Diener über den Rasenplatz kam und den Herzog meldete. „Bitten Sie Se. Gnaden in den Garten zu kommen", sagte Margarethe und der Vertreter der Aristokratie kam einen Augenblick darauf mit dem Hute in der Hand über das Gras geschritten. Margarethe reichte ihm die Hand, und Claudius stand auf. Beide fühlten, daß der deus ex machina erschienen wäre und daß die Nachtpartie so­ fort zur Sprache kommen würde. „Ungeheures Glück, Sie beide zu treffen," sagte der Herzog, als er sich gesetzt hatte. „Wir lesen zusammen; es ist so hübsch hier draußen," bemerkte Margarethe, nm doch etwas zu sagen. „Ich bin gekommen, Ihnen für Ihren freundlichen Brief zu danken, Gräfin. Es ist sehr gütig von Ihnen, sich einer solchen Gesellschaft anzuschließen, bei Ihren lite­ rarischen Neigungen und all dergleichen." „Sicherlich, ich habe Ihnen zu danken, Herzog. Aber wann werden wir absegeln?" „Ungefähr am zehnten des nächsten Monats. Paßt Ihnen das?" Margarethe wendete sich an Claudius.

102 „Glauben Sie, daß wir bis zum zehnten unser Buch auslesen können, Doktor Claudius?" „Wenn nicht," fiel der Herzog ein, „so ist kein Grund vorhanden, weshalb Sie es nicht an Bord zu Ende lesen sollten. Wir werden köstliches Wetter haben." „Ach nein!" sagte Margarethe, „wir muffen es vor der Abreise auslesen. Allein könnte ich kein Wort davon ver­ stehen." „Allein?" fragte der Herzog. „Ach so! Ich hab' vergeffen, ich dachte, ich hätte es Ihnen schon gesagt. Ich habe Doktor Claudius gebeten, uns das Vergnügen seiner Gesellschaft zu schenken." „O wirklich!" sagte Margarethe, „das wird sehr nett sein." Sie sah aber nicht so aus, als ob sie das meinte. Ihr Ausdruck war nicht derart, daß der Herzog glauben konnte, es wäre ihr angenehm, noch Claudius, daß sie wünschte, er möchte mitkommen. In Wahrheit war sie aus mehr als einem Grunde verstimmt. Sie dachte, obschon der Herzog ihr alter Freund wäre, hätte er sie doch befra­ gen können, ehe er die Herren einlüde. Sie war ärgerlich aus Claudius, weil er ihr nicht gesagt hatte, daß er mit­ führe, während er doch glaubte, sie wüßte es schon, und das mißfiel ihr. Vor allem aber war sie für den Augen­ blick in Verlegenheit, weil ihr das fo überraschend kam. Ueberdies mußte der Herzog denken, daß Claudius ihr sehr gefiele, und vielleicht hatte er die ganze Partie eingeleitet, um sie zusammenzubringen. Ihr erstes Gefühl war, ihren Entschluß zu ändern und doch nicht zu reisen. Unterdessen war Claudius über diese Wendung der Dinge sehr erstaunt. Margarethe wußte also doch nichts von der an ihn ergangenen Einladung, und ihre Kälte am heutigen Tage mußte einen andern Grund haben. Nun

103 aber da sie davon wußte, sah sie weniger zufrieden aus als je. Sie wollte ihn nicht haben. Der Dottor war in seiner ruhigen Weise ein stolzer Mann, und überdies liebte er, noch nicht hoffnungslos, denn die Liebe ist niemals ganz unwiderruflich, bis sie die Feuerprobe, die Erreichung ihres Zweckes überlebt hat; aber Claudius liebte und war sich deffen bewußt. Folglich empörte sich sein Stolz bei dem Gedanken, sich einzudrängen, wo man ihn nicht haben wollte, und seine Liebe verwehrte ihm, die von ihm angebetete Frau zu verfolgen. Er sagte also zu sich: ich werde nicht reisen. Er hatte ja die Einladung noch nicht angenommen. „Ich wollte heute Nachmittag an Sie schreiben," sagte er, sich zum Herzog wendend. „Da ich aber das Glück habe, Ihnen persönlich für Ihre freundliche Einladung danken zu können, erlauben Sie mir, das jetzt zu thun." „Ich hoffe, Sie kommen mit," sagte der Herzog. „Ich fürchte", antwortete Claudius, „daß ich verhindert sein werde, mich Ihnen anzuschließen, so gerne ich es thäte. Ich bin keineswegs entschloffen, meine Stellung in Heidel­ berg auszugeben." Weder Margarethe noch der Herzog waren im Gering­ sten auf diese Mittheilung vorbereitet. Der Herzog war betroffen bei dem Gedanken, daß irgend ein Sterblicher eine solche Einladung ablehnen könnte. Aus sein Erstau­ nen darüber, daß Margarethe sich nicht freute, den Doktor an Bord zu haben, folgte nun diese Kunde, daß der Doktor nicht mitreisen wollte, und versetzte den armen Mann in die größte Verlegenheit. Er hatte augenscheinlich irgendwo einen Fehler gemacht; aber wo und wie wußte er nicht. „Barker", sagte er bei sich, „ist ein Esel. Er hat mich die ganze Sache einpatschen lasten." Indessen wollte er noch nicht die Flinte ins Korn werfen.

104 „Es thut mir außerordentlich leid das zu hören, Dok­ tor Claudius," sagte er laut, „und ich hoffe, Sie werden sich noch anders besinnen, wenn ich Ihnen auch alle Tage, bis zu unsrer Abfahrt, eine Einladung zuschicken müßte. Sie wissen, man ladet nicht Leute auf seine Nacht ein, außer wenn man sie sehr gern haben möchte, und wir wol­ len Sie gern haben. Es ist eben so, als wenn wir jeman­ den bitten, unser bestes Rennpferd zu reiten; das würde man nicht thun, wenn man's nicht wirklich meinte, aus Furcht, er thäte es doch." Der Herzog hielt selten eine so lange Rede, und Claudius fühlte, daß die Einladung wirklich aufrichtig gemeint wäre. Das war für seinen ver­ wundeten Stolz ein kleines Labsal inmitten seiner Leiden. Er war dankbar und sagte das. Margarethe schwieg und nähte und dachte nach, wie sie sich von der Partie zurück­ ziehen könnte, wenn Claudius sich anders entschlösse und doch reiste, und wie sie sich mit Anstand die Möglichkeit zu reisen frei lassen könnte, falls er zurückbliebe. Sie wollte den Leuten keine Gelegenheit mehr geben, sie mit Doktor Claudius oder irgend einem andern, von drm sie dachten, er gefiele ihr, zusammenzubringen, und fie tadelte sich, daß sie andern auch nur den Schatten einer Idee gegeben hätte, als ob solch gefälliges Zusammenbringen ihr lieb sein könnte. Claudius stand auf, um fortzugehen. Die Stellung war nicht länger haltbar und ihm blieb kein andrer Aus­ weg. Die Gräfin war beim Abschied herzlicher als zuvor, denn trotz ihres Nergers hätte es ihr leid gethan, ihn zu verletzen. Ihr veränderter Ton ließ Claudius zuerst freu­ dig erbeben, dann folgte ein Gefühl noch tieferer Kränkung, weil er sich sagte, sie zeigte wahrscheinlich nur, daß sie sich freue, ihn los zu sein — ein ungeschickter, ächt männlicher

105 Gedanke, den seine Vernunft bald widerlegen mußte. So ging er. Als er fort war, trat ein minutenlanges Schweigen ein, denn Margarethe und der Engländer waren alte Be­ kannte, und es war nicht nöthig, daß sie gleich wieder Kon­ versation machten. Endlich sprach er mit einer gewiffen Verlegenheit. „Ich hätte es Ihnen vorher sagen sollen, daß ich die beiden Herren eingeladen hatte." „Wer ist der andre?" fragte sie, ohne aufzublicken. „Nun, sein Freund Barker." „Ach natürlich! Es wäre aber einfacher gewesen, es mir vorher zu sagen. Es war etwas peinlich, denn Doktor Claudius dachte natürlich, ich wüßte, daß er eingeladen wäre, und wunderte sich, weshalb ich nicht davon spräche. Sehen Sie das ein?" sie schlug die Augen auf, als sie das fragte. „Es war blödsinnig von mir und thut mir sehr leid; bitte, vergeben Sie mir!" „Da er nicht mitkommt, so macht es natürlich nichts aus, und so verzeihe ich Ihnen." Jnanbetracht, daß Barker die Partie vorgeschlagen hatte, daß der Herzog vor allen Barker haben wollte, um ihn unterwegs zu amüsiren, daß Barker Margarethe und Claudius in Vorschlag gebracht und daß endlich die ganze Sache eine abscheuliche Konfusion geworden war, sah der Herzog nicht ein, was er dabei hätte thun sollen. Aber er wußte, es war höflich, reuig zu erscheinen, wenn es er­ wartet wurde, und überdies hatte er Margarethe so gern, daß er hoffte, sie würde mitkommen. Im allgemeinen machte er sich nicht viel aus Damengesellschaft. Er war mehr oder minder verheirathet, wenn er zu Hause war,

106 und das war nie lange nacheinander, und auf Reisen zog er die zwanglosen ergötzlichen Unterhaltungen eines aus­ ländischen Spielzimmers den faden Gesprächen auf den Botschaften oder der Mischung von Snobbery und Philisterthum vor, welche aus der modernen Verschmelzung des all­ mächtigen Dollars mit dem alten Adel entstanden ist. So war er jetzt in Verlegenheit, und seine Idee war, sich allem zu fügen, was die Gräfin sagen möchte, dann aber zu Barker zu gehen und es ihm tüchtig „zu geben", weil er solche Verwicklung verursacht hatte. Allein Mar­ garethe hatte nichts mehr über die Gesellschaft zu sagen und fing an die Reise zu besprechen. Sie brachte in den meisten ihrer Sätze ein vorfichtiges „wenn" an. „Wenn ich mitreise, möchte ich gern Madeira sehen," und „wenn wir uns Ihnen anschließen, müssen Sie gut für Fräulein Skeat sorgen und ihr die beste Kajüte geben" u. s. w. Der Herzog unterließ es, in sie zu dringen oder sie zu fra­ gen, weshalb sie bedingungsweise von ihrem Reiseplan spräche. Endlich ging er fort, nachdem er ihr versprochen hatte, alles Denkbare und Undenkbare zu thun, was sie jetzt oder in Zukunft aus den Tiefen ihres erfinderischen weiblichen Verstandes hervorbringen würde. „Noch eins, Herzog," rief sie ihm nach, als er über den Rasen ging, „darf ich den alten Wladimir mitnehmen, wenn ich reise?" „Wenn Sie reisen," sagte er, einige Schritte zurück­ thuend, „so können Sie, wenn Sie wollen, die ganze kaiser­ liche Garde mitbringen, und ich werde Transportschiffe für diejenigen besorgen, die auf der Jacht nicht Platz haben." „Danke! das war alles!" sagte sie lachend, und der tapfere Pair verschwand im Hause. Kaum war er fort, so ließ Margarethe ihre Arbeit fallen und lehnte sich in ihren

107 langen Stuhl zurück, um nachzudenken. Die schweren Augenlider senkten sich halb über ihre dunkeln Augen und, die Finger ihrer rechten Hand drehten den Ring an ihrer linken langsam herum. Fräulein Skeat saß oben und las Lord Byrons Korsar in ihrer Vorfreude auf die Seereise. Margarethe wußte das nicht, sonst hätte der Gedanke an die eckige, wohlerzogene Schottin, über die frischen Wellen der tiefblauen See dahinspringend, sie zum Lachen gebracht. So aber sah sie ernst aus.

„Es thut mir leid", dachte sie bei sich. „Es war nett von ihm, daß er sagte, er wollte nicht reisen." Unterdessen schritt der Herzog mit seinen langen Beinen fröhlich nach Barkers Hotel. Es war über drei Kilometer bis dahin, und sein rothes Gesicht glänzte in der Augustsonne. Aber die Neigung zum Rennen war stark in ihm, und er erhitzte sich gern unnöthigerweise; überdies war er Barker wirklich gut, und nun wollte er aus ihn lossahren, folglich, sagte er sich, wäre es durchaus nöthig, den Dampf zu unterhalten. Er fand seinen Freund wie gewöhnlich sozusagen als ein Bild trockner Kühle. Herr Barker schien nie heiß zu sein, aber er schien auch nie zu frieren, und wie er in diesem Augenblicke so in einem halbdunklen Zimmer dasaß, in eine Schattirung von zartem Grau gekleidet, mit einem Kragen, der wie frisch­ gebackenes Biscuit aussah, und einen Stapel von New Norker Zeitungen und Briesen neben sich, war er eine Erfrischung für die Augen. „Auf mein Wort, Barker, Sie sehen immer kühl aus", sagte der Herzog, während er sich in einen Lehnstuhl setzte und mit einem Taschentuch über seine Handgelenke fuhr. „Ich möchte wissen, wie Sie das machen!"

108 „Erstens laufe ich nicht auf Mittag wie toll in der Sonne herum. Daran mag es zum Theil liegen." Der Herzog nieste laut, weil er soviel Sonnenschein mit Staub vermischt eingeathmet hatte. „Und dann komme ich nicht in ein kaltes Zimmer und erkälte mich wie Sie. Hier sitze ich in der Einsamkeit und fächele mich mit meinen Zeitungen, während ich die Blätter umschlage." „Sie haben uns mit Ihrer verwünschten Unverfroren­ heit alle gehörig in die Patsche gebracht", sagte der Herzog nach einer Pause, während welcher er alle seine Taschen vergeblich nach einem Cigarrenbehälter durchsucht hatte. Barker hatte ihn beobachtet und schob ihm einen offnen Kasten mit Havannas quer über den Tisch zu. Aber der Herzog hatte sich vorgenommen, verdrießlich zu sein, und nahm keine Notiz von dieser Aufmerksamkeit. Die kreisförmige Furche zog sich um Barkers Mund und schob die untere Kinnlade vor. Es belustigte ihn immer sanguinische Leute ärgerlich zu sehen, sie sehen so unbe­ haglich aus und lasse» sich so ganz gehen. „Wenn Sie nicht rauchen wollen, trinken Sie ein Glas Bier!" schlug er vor; aber Se. Gnaden wurden immer wüthender. „Ich begreife nicht, wie ein anständiger Mensch, wie Sie, Barker, andre in solch unangenehme Lage bringen kann", sagte er. „Ich finde es rein blödsinnig!" „Nennen Sie mich meinethalben einen Esel", sagte Barker ruhig, „aber bitte erklären Sie mir, was Sie meinen. Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten keine Aktien von der Green Swash Mine kaufen, und nun haben Sie es, wie es scheint, doch gethan, weil ich sagte, sie könnte vielleicht einstmals in Gang kommen."

109 „Ich bin heute Vormittag bei der Gräfin gewesen", sagte der Herzog und klopfte sich mit seinem dicken Spa­ zierstock den Staub von den Stiefeln. „Ach so!" sagte Barker, ohne besonderes Interesse zu verrathen, „war sie zu Hause?" „Das sollt' ich meinen", sagte der Herzog. „Sehr zu Hause, und Doktor Claudius war auch da." „O sind Sie eifersüchtig auf Claudius?" Der Herzog gerieth in Zorn. „Barker, Sie sind unerträglich lächerlich." „Herzog, Sie sollten lieber zu Bette gehen!" entgegnete sein Freund. „Sehen Sie, Barker —" „Verschwenden Sie nicht Ihre Lebenskraft", sagte der Amerikaner. „Ich wünschte, ich hätte die Hälfte davon! Es bekümmert mich, Sie so zu sehen. Ich werde Ihnen nun die ganze Geschichte ordentlich und deutlich ausein­ andersetzen, wie ich vermuthe, daß sie sich zugetragen hat, und dann sollen Sie mir sagen, ob ich daran Schuld trage oder nicht, und ob es am Ende etwas so Ernstes ist. Die Gräfin Margarethe wußte nicht, daß Claudius mit­ kommen sollte und sprach nicht von der Reise. Claudius dachte, sie wäre ärgerlich, und als Sie dann kamen und damit herausplatzten, dachte die Gräfin, Sie wollten sich ein Vergnügen daraus machen, sie zu überraschen, und wurde nun wirklich böse. Dann machten die beiden ge­ meinsame Sache und wollten nichts mehr von Ihnen wissen und sagten, Sie könnten zum Teufel gehen, und in diesem Augenblick überlegen sie, ob sie nicht die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre hier bleiben können, und schicken ge­ meinschaftlich ein Telegramm an den Professor Immanuel Spencer oder wie er sonst heißt, er möchte sich beeilen

110 und noch einige Bücher für sie zu lesen fertig bringen. Es ist mir übrigens lieb,- daß Sie nicht die Green Swash Aktien gekauft haben." — Es entstand eine Pause und der Herzog stierte wüthend auf die Cigarrenkiste. „Sind Durchlaucht zufrieden, daß ich alles weiß?" fragte Barker endlich. „Nein ich bin nicht zufrieden, und bin nicht Durch­ laucht. — Sie sagt, sie will reisen und Claudius sagt, er will nicht. Und das ist allein Ihre Schuld." „Es ist ganz bedeutungslos, was er sagt, und ob es meine Schuld ist oder nicht. Wenn Sie sich beeilt hätten und um elf Uhr zu ihr gegangen wären, ehe Claudius kam, so wäre es nicht geschehen. Aber er wird doch mit­ reisen, föchten Sie nichts. Und die Gräfin wird ihn dazu bereden, ohne daß wir etwas in der Sache thun." „Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie gesehen hätten, wie sie die Nachricht von seiner Einladung aus­ nahm", brummte der Herzog. „Wenn Sie mehr mit Frauen umgingen, würden Sie sie besser verstehen", entgegnete der Andere. „Wahrscheinlich." Der Engländer hatte sich beruhigt und entschloß sich endlich, eine von Barkers Cigarren zu nehmen. Als er sie angezündet hatte, sah er seinen Freund an. „Was denken Sie zu thun?" fragte er. „Wenn Sie der Gräfin ein Briefchen schreiben wollen und ihr sagen, es thäte Ihnen leid, daß ein Mißverständniß obgewaltet hätte, und wenn Sie und ich für die zehn Tage die Beiden fich selbst überlaffen, selbst wenn fie uns zu Tische einladet, so werden fie die Sache unter fich abmachen, verlaffen Sie sich darauf. Sie find verliebt, das wiffen Sie recht gut. »Ja, ich glaube es beinahe", sagte der Herzog, als

111 ob er von der Sache nichts verstände. „Ich möchte wohl etwas Curacao und Sodawasser trinken", damit schellte er. „Das ist kein übler Gedanke", sagte er, als er sich erfrischt hatte. „Ich glaube fast, Sie sind nicht so blöd­ sinnig, als ich dachte. „Na", sagte Barker, indem er plötzlich mit dem Accent seines Heimathlandes sprach, „ich bin bei dieser Reise keinesfalls in einem Gefühlsdusel." Der Herzog lachte, er lachte immer über amerikanische Ausdrücke. „I guess so", sagte er dann und versuchte, aber er­ folglos, seinem Freunde nachzuspotten. Dann fuhr er mit seiner natürlichen Stimme fort: „Ich habe einen Einfall!" „Behalten Sie ihn für sich", sagte Barker; „sie sind selten bei Ihnen." „Nein, im Ernst. Wenn wir die Beiden sich selbst überlassen müffen, warum sollen wir denn nicht hinunter­ fahren und die Jacht besehen? „Nicht übel! Sie haben recht, wir könnten herum­ fahren und nachsehen, wie die Nacht aussieht. Wo liegt sie?" »In Nizza." So fuhr der eine hinunter und der andre herum, aber sie fuhren zusammen und besahen die Nacht und machten einen Ausflug nach Monte Carlo und ergötzten sich an dem lieben alten grünen Tisch, den sie in Baden nicht länger haben konnten. Und sie genossen diese kleine Reise, waren mäßig und wohl gekleidet und cynisch aus ihre Art, Claudius aber blieb, wo er war.

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Siebentes Kapitel. Das tägliche Lesen nahm auch nach Barkers Abreise seinen gewöhnlichen Fortgang, allein weder Claudius noch Margarethe sprachen von der Reise. Margarethe war freundlich und schien mitunter im Begriff, in ihre alte Art und Weise zurückzusallen, aber sie nahm sich immer schnell wieder zusammen. Worin die Veränderung eigent­ lich bestand, dürfte schwer zu sagen sein. Claudius wußte, daß der Unterschied leicht zu fühlen, aber unmöglich zu definiren fei. Wie die Tage so dahingingen, wußte er auch, daß sein Leben nicht mehr fein eigen sei; und mit der ritterlichen Hingabe, die in seinem Wesen war, legte er seine Seele ihr zu Füßen, auf daß sie damit thäte, was sie wollte. Aber er wußte, noch sei die Stunde nicht ge­ kommen, da er sich aussprechen würde, und so diente er ihr schweigend, zufrieden damit, daß er den Baum des Lebens in sich wachsen fühlte, der sie einst beide mit seinen schützenden Zweigen überschatten sollte. Sein Dienst war darum nicht minder völlig und hingebend, weil er noch nicht angenommen war. Eines Abends, etwa eine Woche nachdem sie sich selbst überlasten worden, saß Claudius • bei seinem einsamen Abendeffen im Kasino, als ihm ein Brief in großem vier­ eckigen Kouvert von ungeglättetem Papier gebracht wurde; er erkannte die Handschrift. Er zögerte ihn zu öffnen und sah sich in dem halberleuchteten Speisesal um, indem er sich unwillkürlich fragte, ob an all diesen Tischen wohl Einer in diesem Augenblick in solcher Spannung wäre wie er. Er glaubte, wahrscheinlich theile sie ihm mit, daß sie abreise und seiner nicht länger bedürfe. Da dachte er zum

113 ersten Mal seit langer Zeit an sein Vermögen. „Und wenn sie reift," sagte er halblaut, „kann ich ihr nicht nachreisen? Kann Gold nicht alles erkaufen, ausgenommen ihr Herz, und kann ich das nicht selbst gewinnen?" Er faßte Muth und öffnete ruhig den Brief.

„Mein lieber Doktor Claudius!

Da die Zeit zur Abreise heranrückt, möchte ich Sie bitten mir einen Gefallen zu thun, nämlich mir ein Verzeichniß von Büchern auszuschreiben, die ich auf der Reise lesen könnte, d. h. wenn ich auf Ihre Güte als Erklärer dabei rechnen darf. Wenn nicht, dann bitte, schlagen Sie mir einige gute Romane vor.

Aufrichtig die Ihrige —" und dann ihr voller Name als Unterschrift. Das heiße Blut röthete seine Stirn, als Claudius zu Ende gelesen hatte. Er traute seinen Augen nicht, alles im Zimmer schien sich mit ihm herumzudrehen; denn er war sehr ver­ liebt, dieser schwedische Riese. Dann wurde er wieder blaß und ruhig und las das Briefchen noch einmal. Ro­ mane fürwahr! Was wußte er von Romanen? Er wollte sie unumwunden fragen, ob sie seine Gesellschaft auf der Nacht wünschte oder nicht. Er wollte zu ihr sagen: „Soll ich mitkommen? oder soll ich zurückbleiben?" — Claudius hatte noch viel von Barker zu lernen, ehe er Frauen zu behandeln verstand! Schon den Ausdruck „sie behandeln", würde er mit Verachtung zurückgewiesen haben; sie hätten zu befehlen — er zu gehorchen, von behandeln war da keine Rede. Aber in der Einfalt seines Herzens hätte er gern in deutlichen Worten gewußt, was ihre Befehle wären; und das ist manchmal recht schwer, denn Frauen lieben es halb verstanden zu werden, noch ehe sie sprechen, Crawford, Doktor Claudius.

8

114 und der schwerfällige Verstand der Männer versteht sie ost nur halb, nachdem sie gesprochen haben. Ein Brief erfordert eine Antwort und damit mühte Claudius sich lange vergeblich ab. Wenn man viel mehr zu sagen hat als das, wozu man ein Recht hat, und wenn noch dazu erwartet wird, daß man recht wenig sage, ist es sehr schwer, einen guten Brief zu schreiben. Alle möglichen Gedanken kommen und suchen wie von selbst Ausdruck. Ein falsch gebrauchter Plural statt eines Singular, ein Eigenschaftswort im Superlativ, wo der unbestimmte Kom­ parativ hingehörte, der ungeheure Unterschied zwischen „liebe" und „theuerste" der Abgrund zwischen „aufrichtig der Ihrige John Smith," und „der Ihrige I. S." oder „Ihr I." bis der glückliche Zustand erreicht ist, in dem die Unterschrift ganz fortgelafsen wird und jedes Wort das Gepräge des einzigen Wesens trägt, welches überhaupt für den andern auf der Welt ist! Welch eine Thermometerskala der Vertraulichkeit ist in Briefen zu finden, von der eisigen Null des ersten Bekanntwerdens bis zum tosenden Pulfiren glühender Blutwärme? Nach vielen Versuchen gelangte Claudius zur erforderlichen Höhe der Förmlichkeit und be­ gann seinen Brief. „Meine liebe Gräfin Margarethe" und unterzeichnete ihn „Ihr ganz gehorsamer", was in diesem Falle buchstäblich die Wahrheit war; er sagte, daß er die Befehle der Gräfin sofort ausführen und ein Verzeichniß aufschreiben wolle, in welchem nichts fehle, was zu ihrer Unterhaltung beitragen könne. Als er sie am nächsten Morgen besuchte, war er etwas erstaunt über ihre Art und Weise, welche sich mehr der kalten Strenge jenes denkwürdigen Tages der Mißverständniffe näherte als der Ungezwungenheit, welche er nach ihrem Brief erwartet hatte. Natürlich hatte er keinen

115 Grund zur Enttäuschung, er bewies nur seine Unerfahren­ heit. Sie wollte ihr Gewissen beruhigen wegen des von ihr gemachten Zugeständnisses, daß er mitreisen könne. Es war allerdings ein Zugeständniß, aber welche höhere Macht sie dazu getrieben, danach ziemt keinem Neugierigen zu fragen. Vielleicht dachte sie, Claudius würde großen Genuß von der Reise haben, und sagte sich, daß sie kein Recht habe, ihn darum zu bringen. Sie lasen ein Weilchen zusammen, endlich fragte Claudius sie mit Bezug auf eine vorkommende Frage, ob sie wohl ein deutsches Buch lesen möchte, das er für gut hielt. „Sehr gern," antwortete sie. „Uebrigens freut es mich, daß Sie es so haben einrichten können, mit uns zu reisen. Ich glaubte, Ihre eignen Angelegenheiten stünden der Abreise im Wege." Claudius sah sie an und versuchte, ihre Gedanken zu errathen, was ihm nicht gelang. Er hätte zufrieden sein können, aber er war es nicht. Es entstand eine kurze Pause, dann klappte er das Buch zu und sprach. „Gräfin, wünschen Sie, daß ich mitkomme oder nicht?" Margarethe zog ihre dunkeln Augenbrauen in die Höhe. Das hatte er noch nie an ihr gesehen. Aber er hatte auch noch nie in seinem Leben etwas so Ungeschicktes ge­ sagt, dessen war er sich bewußt, sobald die Worte seinen Lippen entflohen, und er erbleichte. Sie sah ihn plötzlich an, ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und um ihre Augen zuckte es, als wolle sie spöttisch antworten. Aber sein Ge­ sicht war zum Erbarmen blaß; sie sah, wie seine Hand zitterte. Weibliches Mitleid bewegte ihre Seele, das Lächeln verschwand, sie sah sanft aus, als sie ein einziges Wort aussprach.

116 „Ja." Es kam aus dem Herzen, und sie konnte es nicht hindern, daß es freundlich klang. „Dann will ich mitreisen," sprach Claudius, ohne recht zu wiffen, was er sagte, denn das Blut strömte rasch in sein Gesicht zurück. „Natürlich wirst Du reisen, das hätte ich Dir längst sagen können!" zwitscherte ein kleiner Dompfaff über ihm auf dem Baume. Etwa vierzehn Tage nach den eben erzählten Begeben­ heiten war das Dampfboot „Streif" fchon zwei Tage aus dem Atlantischen Meer mit einer stattlichen Gesellschaft an Bord. Da waren drei Damen: des Herzogs Schwester, die Gräfin und Fräulein Skeat; die letztere sah äußerst nautisch aus in einem blauen Sergekleid, welches ihr sehr knapp saß wie der Leinenüberzug auf einem Zweirad, wenn es mit der Bahn verschickt wird. Herren waren ebenfalls drei an der Zahl, nämlich der Besitzer der Nacht, Herr Barker und Doktor Claudius. Im Meer sind mancherlei Fische. Manche schwimmen auf der Seite, manche schwimmen gerade, manche kommen empor, um Luft zu schöpfen, und andre bleiben unten. Aehnlich ists mit Leuten, die zur See gehen. Man sehe ein halbes Dutzend Menschen an, die alle mehr oder minder an Meerfahrten gewöhnt find, und jeder wird fich auf verschiedene Art benehmen. Einer wird sich auf Deck festsetzen wie eine Entenmuschel, ein andrer sitzt in der Cajüte und spielt Karten; ein dritter verbringt die Zeit damit, mit der Schiffsmannschaft zu schwatzen, und ein vierter rennt von früh bis spät das Deck auf und ab, um fich einen Appetit zu erjagen, der allen Großthaten see­ männischer Verdauung gewachsen ist. Sind sie nicht alle dem Gedächtniß derer eingeprägt, -welche eine Seereise auf

117 einer Nacht gemacht haben? das

Anschreibebuch

der Deckstuhl und die

unermüdlichen Lesers, der eilige Schritt und funkelnde Auge des fleischfrestenden Passagiers, und

Decken

das

Der kleine Kartenkasten und

der Spieler,

des

die ewige Pfeife des Meerschwätzers, der die Zeit vor sich die Welt zu seinen Füßen sieht,

und

um endlose Reden

zu spinnen. — wer hat sie nicht alle gesehen?

Die Elemente an Bord des Streif waren hinreichend mannichfaltig, um eine angenehme Gesellschaft zu bilden, und als sie zwei Tage auf der Fahrt waren, bei einer leichten Brise, die eben genügte, um die Gaffelsegel zu füllen, und als alles gehörig untergebracht war, hatte jeder

sich

in

das Geleise begeben, was ihm eben paßte.

Da

saßen Barker und der Herzog in dem hübschen Rauchzim­

mer bei offnen Fenstern, ein Spiel Karten vor sich. Dann und wann hielten sie im Spielen ein, um etwas zu plau­ dern, oder der Herzog ging nach oben, sah nach dem Laufe

des Schiffes und machte die Runde, um zu sehen, ob alles in Ordnung und ob auch niemand seekrank wäre. Barker

rücken

rührte

Aber sich selten, höchstens um seinen Stuhl zu

und ein Bein über das andre zu schlagen, damit

er seine zierlichen Patent-Lederschuhe bequemer beschauen

und mit seiner knochigen Hand seine seidenbestrumpften Knöchel streicheln könnte; denn Herr Barker hielt eine Seetoilette,

wie er es nannte, für Ziererei und zog sich

an Bord gerade so an wie zu Lande. Der Herzog dagegen, wie die meisten Engländer thun, wenn sich ihnen die Ge­ legenheit dazu bietet, schwelgte in dem, was er bequeme Kleidung nannte; d. h. kein Stück paßte zu dem andern oder schien in demselben Jahrhundert gemacht zu sein; er trug ein Flanellhemd

und ging gern barfuß,

Damen nicht auf Deck waren,

wenn

die

und er schmückte sein her-

118 zogliches Haupt mit einer rothen Wollmühe — ein Schilling das Stück. Wie vorauszusehen, war Margarethe der Deckpassagier mit ihrem eigenthümlich konstruirten Stuhl, ihren Pelzdecken und ihrem tragbaren Bücherschränkchen, während Fräulein Skeat, die lang und flossig aussah und einen labyrinthischen Plaid zur Schau trug, gewöhnlich in ihrer Nähe in den Luv-Wanten verwickelt zu sehen war. Des Her­ zogs Schwester, Lady Victoria, war keine Schönheit, aber kerngesund; sie machte regelmäßige Runden auf dem Dampf­ schiff, stand dann und wann still, um den grünen Schaum an der Seite aufwirbeln zu fehen und in langen Zügen die salzige Luft mit ihren kräftigen Lungen einzuathmen. Jndeffen aus keinen von der Gesellschaft brachte der Wechsel vom trocknen Lande aufs wogende Waffer er­ sichtlichere Wirkungen hervor als aus Doktor Claudius. Er affektirte nichts Seemännisches in Sprache oder Anzug, aber als der Herzog ihn am ersten Morgen auf Deck kommen sah, war in seiner Erscheinung ein gewiffes Etwas, das den Nachtfahrer veranlaßte, zu Barker zu sagen: „Der ist schon aus See gewesen, davon bin ich über­ zeugt. Es freut mich, daß ich ihn eingeladen habe." „All diese Schweden sind Amphibien," erwiderte Bar­ ker, „sie gehen aufs Wasser wie die Enten. Allein ich glaube nicht, daß er während der letzten zwölf Jahre Salzwaffer gerochen hat." „Jedenfalls sind sie die besten Seeleute," meinte der Herzog. „Ich habe viele unter meinen Matrosen, auch der

Kapitän ist ein Schwede. Ich will Sie bekannt machen." Sie standen aus der Kommandobrücke. — Kapitän Sturleson, mein Freund Herr Barker." Und so wurde der Kapitän allmälig allen an Bord vorgestellt, denn er ge-

119 hörte zum Herzog, und hatte

dessen Jachten geführt, seit

überhaupt welche zu führen waren, d. h. seit etwa zwanzig

Jahren.

Um die Wahrheit zu gestehen, bis auf diese ab­

scheulichen Logarithmen, war der Herzog selbst kein schlechter Schisfsführer, und er hatte einen Blick für Seeleute, daher seine Bemerkung

über

Claudius.

Der

Doktor

kannte

am zweiten Tage jeden Zoll der Jacht und jedes Gesicht der Mannschaft; es amüsirte die Gräfin, seine ge­

schon

legentlichen Bemerkungen in der klaren nordischen Sprache

zu hören,

die wie englisch klang und doch so ganz ver­

schieden davon war.

hatte er allerlei Bücher sie begannen zu lesen in der

Ihren Weisungen gehorsam, für die Reise besorgt,

und

thörichten Voraussetzung, daß sie jetzt, wo sie den ganzen Tag zu ihrer Verfügung hätten, ebensoviel vor sich bringen würden, als damals, wo sie nur ein oder zwei Stunden zu diesem bestimmten Zweck zusammenkamen. Die Folge ihrer unbeschränkten Freiheit war, daß die Unterhaltung an

Stelle des Lesens

trat.

Bisher

hatte

Margarethe

Claudius immer bei dem vorliegenden Gegenstände sestgehalten, ein inneres Gefühl sagte ihr, daß ein so vertrauter Verkehr wie bei seinen bisherigen täglichen Besuchen nur bei einer ganz bestimmt festgehaltenen Beschäftigung fort­ dauern könne, wie sie sie von Anfang an vorgenommcn hatte. Aber der Anblick des freien Decks, die andern

Personen, welche hin- und hergingen, die höchst korrekte Haltung ihrer Gesellschafterin, die in Sicht aber nicht in Hörweite war, diefer ganze Anschein von Oesfentlichkeit, welchen das Leben auf der See ihrem Beisammensein gab,

brachte als nothwendige Folge eine größere Ungezwungen­ heit mit sich. Es schien eine so leichte Sache, einen Dritten ins Gespräch zu ziehen, wenn es zu vertraulich werden

120 sollte. Unvermerkt geriethen Claudius und Margarethe so in Gespräche über Gefühle, über Liebe, Haß und Freund­ schaft und ließen sich tief in solche Erörterungen ein, die so oft in praktischen Versuchen endigen. Claudius hatte wenig gelebt und viel gedacht. Margarethe hatte viel von der Welt gesehen; mit Takt und feinem Gefühl be­ gabt, hatte sie über das Geschehene nachgedacht, da sie das Warum und Wozu der meisten Handlungen durch das reine Licht weiblichen Geistes verstand. Der Doktor stellte Theorien auf, und es interessirte sie, bekannte Thatsachen plötzlich von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus aufgefaßt zu sehen; bald bemühte sie sich Thatsachen anzuführen, die zu seinen Theorien paßten, ein Streben, das leicht zu merkwürdigen, aber nicht immer zu richtigen Resultaten zu führen geeignet ist. Zwischen dem Theoresiren versuchte Claudius sich in kleinen Experimenten. Barker und der Herzog spielten Poker. Natürlich waren die drei Herren oft beisammen —

früh am Morgen, ehe die Damen auf Deck kamen, und spät Abends, wenn sie im Rauchzimmer saßen. Durch dieses tägliche Zusammenkommen waren der Herzog und Claudius bester mit einander bekannt geworden, und der letztere, welcher zwar zurückhaltend, aber durchaus nicht verschlossen war, hatte im Laufe des Gesprächs mehrmals auf feine eigenthümliche Lage und auf den unerwarteten Um­ schwung in seinen Vermögensverhältniffen angespielt. Eines Abends saßen sie wie gewöhnlich um den viereckigen Tisch in dem hell erleuchteten kleinen Gemach, das der Herzog und Barker am meisten liebten. Der vierfache Schlag der Schraube drückte rasch aufs Master und machte sich in eigenthümlichem Vibriren auf dem Schiffe fühlbar, während es in der stillen Nacht dahinfuhr. Der Herzog hatte sich

121 auf einem Heckbalken ausgestreckt, und Claudius aus dem gegenüberliegenden, während Barker an einem Ende des Tisches mit dem Stuhl kippte. Der Herzog war gesprächig in seiner abgerissenen einsilbigen Weise.

Geld.

»Ja- Ich kenne das. Sonderbares Gefühl, Haufen Ging mir gerade so, als ich mündig wurde.

„Es war doch nicht ganz dasselbe," meinte Claudius. „Sie wußten, daß Sie es bekommen würden." „Nein," fiel Barker ein. „Geld besitzen oder es in Aussicht haben, ist inbezug aufs Ausgeben so ziemlich daffelbe. Besonders in England."

„Ich glaube, das Ganze ist eine Täuschung," sagte der Herzog im Tone tiefen Nachdenkens. „Ich hatte nie einen Groschen, ehe ich mündig wurde, und mir scheint, auch nie seitdem." „Alles für Wassermelonen und Feuerwerk an Ihrem einundzwanzigsten Geburtstage ausgegeben, nicht wahr?" meinte Barker. „Jedenfalls irgendwie ausgegeben," entgegnete der Herzog. „Hier aber", fuhr er zu Barker gewendet fort, „ist ein Mensch, der es wirklich hat, der es nie zu bekom­ men erwartete, nun hat ers baar und auf die einzige Art, wie sichs lohnt — durch eines Andern Arbeit bekommen. Fragt sich: was wird Claudius mit seinen Millionen machen?" Erschöpft durch diese Anstrengung zu sprechen, rauchte der Herzog seinen Tabak schweigend und wartete auf eine Antwort. Claudius lachte, sagte aber nichts. „Einerlei weiß ich, was er thun wird. Er wird heirathen," sagte Barker. „Um Gotteswillen, Claudius," sagte der Herzog ernst­ haft, „thun Sie das nicht!"

122 „Ich glaube nicht, daß ich es thun werde," sagte Claudius. „Ich weiß es besser," sagte Barker, „ich bin fest über­ zeugt, eines schönen Tages werde ich es selbst thun, und Sie auch. Glauben Sie, wenn ich eingefangen werde, daß Sie Ihrem Schicksal entgehen können?"

Der Herzog dachte, wenn Barker die Herzogin kennte, so wäre er noch zu retten. „Sie sind kein Lamm, Barker, und vielleicht haben Sie recht. Wer Sie einfängt, kann jeden sangen," sagte er laut. „Nun, ich pflegte früher zu sagen, die Mama wäre noch nicht geboren, die mich festhalten könnte. Aber ich werde alt, meine Nerven sind angegriffen, und eine geheime Ahnung sagt mir, über kurz oder lang werde ich gefangen und den Peinigern überliefert werden."

„Dann sollen Sie mir leid thun," Kein Poker mehr und wenig Tabak!"

sagte der Herzog.

„So schlimm wirds nicht werden; Sie sind ebenso gut verheirathet, wie die meisten Männer, aber das stört nicht die unschuldigen Genüffe Ihrer Mußestunden, soviel ich sehen kann." „Nun ja, sehen Sie, ich bin ziemlich gut angekommen. Die Herzogin ist der häusliche Typus des Engels, liebt Kinder und bric-ä-brac, Geflügel und all dergleichen, giebt sich die größte Mühe mit dem Landsitz —"

„Warum sollte ich nicht auch einen häuslichen Engel heirathen?" „Sie werden aber nicht! Kommt in Amerika nicht vor. Ich weiß, was für eine Art von Frau Sie für Ihr Geld bekommen werden." „Geben Sie mir eine Idee von ihr!" Barker lehnte

123 sich in seinen Stuhl zurück, bis derselbe die Kajütenthür berührte und drehte seine Cigarre im Munde herum. „Natürlich wird sie zu ihrer Zeit Furore machen. Achtzehn oder neunzehn Sommer irdischen Wachsthums und achtzehn oder ueunzehnhundert Jahre Erfahrung und Berechnung in einem frühern Leben." „Danke, das klingt vielversprechend, Claudius, dies soll zu Ihrer Belehrung dienen!" sagte Barker. „Sie werden sie zuerst aus einem Ball sehen, mit einer Wagenlast von Blumensträußen am Arm und über­ all herum. Das wird Ihre erste Bekanntschaft sein. Nach­ her werden Sie sie nicht mehr los." „Nun, das weiß ich," sagte Barker verdrießlich. „Sie wird Sie nach dreimonatlicher Verlobung ohne Be­ sinnen heirathen. Sie wird von Worth ausgestattet werden und Sie von Poole. Die Sache wird großen Eindruck machen. Endlose Hochzeitsgeschenke, ganze Hektare von Blumen. Dann werden Sie auf die Hochzeitsreise gehen und nachher ewig unglücklich sein." „Freut mich, daß Sie zu Ende sind," war Barkers Randbemerkung. „Was mich betrifft," sagte Claudius, „so sind mir die Eigenthümlichkeiten des amerikanischen Lebens natürlich fremd, aber der Herzog scheint mir etwas scharf in seinem Urtheil." Es war dies ein sanfter Protest gegen die Verurtheilung amerikanischer Ehen in Bausch und Bogen, aber Barker und der Herzog lachten, als ob sie einander ver­ stünden, und Claudius hatte nichts weiter zu sagen. Er verglich im Stillen die Aeußerungen dieser beiden Männer, welche zweifellos auf Erfahrung beruhten, mit den Be­ griffen, welche er sich von den Frauen gemacht hatte und

124 welche unleugbar das Ergebniß bloßer Theorie waren. Er stand der alten Schwierigkeit gegenüber, dem scheinbaren Zwiespalt zwischen dem Universalgesetz und der individuellm Thatsache. Andrerseits aber er konnte nicht umhin, einen Vergleich zwischen sich und seinen beiden Gefährten anzu­ stellen. Es lag nicht in seiner Natur, von Andern gering zu denken, aber er fühlte, daß sie aus ganz verschiedenem Stoffe, nicht nur von anderm Volksstamm wären. Er wußte, wie gern er auch in ihrer Gesellschaft sein mochte, daß sie doch nichts mit ihm gemein hatten, und daß nur sein seltsames Geschick ihn Plötzlich in eine Sphäre versetzt hatte, wo derartige Persönlichkeiten die Regel und nicht die Ausnahmen find. Das Gespräch stockte, und Claudius verließ Barker und den Herzog und ging nach seinem Quartier zu. Für den Atlantischen Ocean war es ein warmer Abend, und obschon kein Mondschein war, schienen die Sterne hell, ihr Wiederschein stieg und sank langsam auf den langgezogenen Wogen. Claudius ging aufs Hinterdeck und wollte sich ein Weilchen hinsetzen, ehe er hineinging, als er eine ver­ hüllte weibliche Gestalt an den Heckbord gelehnt und nur wenige Schritte von ihm entfernt erblickte. Trotz des Sternenscheins konnte er sie nicht erkennen. Sie war in Mantel und Schleier dicht verhüllt, als fürchtete sie die Kälte. Da es eine von den drei Damen von der Gesell­ schaft sein mußte, lüftete er seine Mütze, aber aus Furcht, auf des Herzogs Schwester oder schlimmer noch auf Fräu­ lein Skeat gestoßen zu sein, sprach er nicht. Aber es währte nicht lange, während er sich an den Bord lehnte und das Kielwasser des Schiffes beobachtete, so bemerkte die Unbekannte, daß es ein köstlicher Abend sei. Es war Margarethens Stimme, und ihre tiefen musikalischen Töne

125 zitterten auf den steigenden und fallenden Wogen, als hätten sie ein besonderes Leben, einen besondern Pulsschlag in sich. Wußte die brünette Dame, welch ein Zauber in ihren alltäglichen Worten lag? Claudius machte sich nichts daraus, ob der Abend schön wäre oder nicht, kaum aber sagte sie, es wäre ein köstlicher Abend, so klang es ihm, als hätte sie gesagt, sie liebe ihn. „Ich konnte es unten nicht aushalten," sagte sie, „also als die Andern zu Bette gingen, hüllte ich mich ein und kam herauf. Ist es nicht wundervoll?" Claudius trat näher an sie heran. „Ich bin mindestens zwei Stunden im Tabakskollegium des Herzogs eingesperrt gewesen", sagte er, „und bin förm­ lich erstickt." „Wie können Sie in der Luft sitzen? Warum kommen Sie nicht nach oben und rauchen auf Deck?" „O, es war nicht bloß der Tabak, der mich heute Abend erstickte, es waren die Ansichten —" „Was für Ansichten?" fragte Margarethe. „Sie kennen den Herzog schon lange", sagte er, „und haben ein Urtheil über ihn, oder vielmehr Sie wisien ge­ nau, wie er ist. Aber diese beiden Männer sprechen zu hören, ist genug, um einen glauben zu machen, daß es keinen Himmel droben und keine Hölle drunten giebt." Er sprach ziemlich ohne Zusammenhang. „Haben sie Ihre Lieblingstheorien angefochten?" fragte Margarethe und lächelte unter ihrem Schleier. Das aber konnte er nicht sehen, und ihre Stimme klang ziemlich gleichgültig. „Ach, ich weiß nicht recht!" sagte er, als ob er das Gespräch nicht sortführen wollte; und er drehte sich um, so daß er den Ellbogen auf den Heckbord lehnte. So stand

126 er und beugte sich über und blickte nach dem Stern des Schiffes, wie das Licht der Sterne im Waffer tanzte. Es trat eine Pause ein. „Erzählen Sie es mir," sagte Margarethe endlich. „Was soll ich Ihnen erzählen, Gräfin?" fragte Claudius. „Sagen Sie mir, was Ihnen an Ihren Aeußerungen mißfiel." „Das ist schwer zu sagen. Sie sprachen über die Frauen und Heirathen in Amerika; und mir gefällt es nicht, das ist alles." Claudius richtete sich wieder em­ por und wendete sich der Dame zu. Unter ihnen drehte sich die Schraube, als bohre sie sich ärgerlich ihre Bahn durch die langgezogenen ruhigen Wellen. „Barker sagte," fuhr Claudius fort, „er würde wohl eines Tages heirathen — der Pein übergeben werden, wie er sich ausdrückte, und der Herzog spielte den Propheten und entwarf ein Bild von Barkers künftiger Gattin. Das Bild war nicht anziehend." „Fand Herr Barker das auch?" „Ja, er schien die Aussicht auf die Ehe von einem resignirten und melancholischen Standpunkte aus anzu­ sehen. Ich vermuthe, er könnte in seinem Vaterlande hei­ rathen, wen er wollte; nicht wahr?" „Im gewöhnlichen Sinne des Wortes, ja," erwiderte Margarethe. „Was ist der gewöhnliche Sinn?" fragte der Doktor. „Er könnte Schönheit, Reichthum und Stellung hei­ rathen. Das ist die gewöhnliche Bedeutung von „heirathen wen man will". „O, das bedeutet also nicht eine bestimmte, die er haben möchte?"

127 „Durchaus nicht.

Es bedeutet nur, daß von einem

halben Dutzend schöner reicher und gebildeter Mädchen eine

wenigstens ihn sicher wegen seines Vermögens, seiner guten Manieren und seiner Bildung nehmen würde." „Dann würde er also von der einen zur andern gehen, bis er angenommen würde? Eine nette Art, die Sache an­

zufangen,

auf mein Wort!"

Und Claudius athmete die

Nachtluft ärgerlich ein. „O nein",

sagte Margarethe.

„Er wird mit allen

sechsen zusammentreffen, und eine von ihnen wird ihn heiSo wird es zugehen."

rathen.

„Ich kann nicht sagen, brauch

daß ich diesen socialen Ge­

besonders schön finde, höchstens insofern als der

Frau die Wahl bleibt." „Freilich", sagte sie, „der Gebrauch macht keinen An­ spruch auf Schönheit, er ist nur praktisch. Wenn die

Frau mit ihrer Wahl zufrieden ist,

Friede gesichert."

so ist der häusliche

Sie lachte.

„Warum können nicht beide zufrieden sein?

Warum

kann die Wahl nicht gegenseitig sein?"

„Es

würde zu lange dauern,"

sagte sie und lachte

wieder. „Sehr lange?" fragte Claudius und bemühte sich mit fester Stimme zu sprechen, aber sie bebte doch. „Gewöhnlich sehr lange," sagte sie trocken. „Aber warum denn?"

„Weil weder Männer noch Frauen so leicht zu ver­ stehen find, wie ein Kapitel aus einem philosophischen Werke," sagte fie. „Ist nicht das höchste Glück im Leben das beständige liebevolle Studium des einen Wesens, das wir lieben? Ist

nicht jeder Gedanke,

jeder Wunsch dem wir zuvorkommen,

128 ein Triumph, mehr werth dafür zu leben als für alles andere in der weiten Welt?" Er trat dicht neben sie. „Denken Sie nicht auch so?" Sie antwortete nicht. „Ich denke so," sagte er. „Keine Freude ist der gleich, als zu versuchen, die Wünsche einer Frau zu errathen, kein Kummer dem Schmerz gleich, dies nicht zu erreichen, und keine Ehre gleich der Ehre des Erfolges. Es ist eine göttliche Aufgabe für jeden Mann, und die größten haben ste ihrer würdig befunden." Sie schwieg noch immer, und auch er schwieg eine Weile und sah ihr Gesicht von der Seite an, denn sie hatte den Schleier zurückgeschlagen, und ihr zartes Profil hob sich deutlich vom Schaum des Meeres ab. „Gräfin," sagte er endlich, und seine Stimme erbebte stoßweise wie der Wind, „ich möchte die ganze Kraft und Arbeit meines Lebens für die Freude hingeben, das Kleinste zu errathen, was Sie wünschen und es für Sie zu thun!" Seine Hand glitt am Heckbord hin, bis sie die ihrige berührte, aber er erhob die Finger nicht von dem polirten Holze. „Dokter Claudius, Sie würden zu viel hingeben," sagte sie, denn sie stand unter dem Zauber der Stunde und des Ortes, und des Doktors ernster Ton ließ keine lachende Antwort zu. Sie hätte ihn in dem Augenblick in seine Schranken weisen sollen, und kaum hatte sie ge­ sprochen, so fühlte sie das; aber ehe sie wieder sprechen konnte, hatte er die Hand, die er schon berührte, in seine beiden Hände genommen und sah ihr gerade ins Gesicht. „Margarethe, ich liebe Sie von ganzer Seele, von ganzem Herzen und mit all meiner Kraft." Ihre Hand zitterte in der seinen, aber sie konnte sie ihm nicht ent­ ziehen. Ehe sie ihm eine Antwort gegeben, war er vor

129 ihr aufs Knie gesunken und drückte ihre Finger an seine Lippen. „Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie", wieder­ holte er und in diesem Augenblick war seine Stärke wie die Stärke von zehn Männern. „Doktor Claudius", sagte sie endlich mit bebender er regier Stimme. „Das hätten Sie nicht sagen sollen. Es war nicht recht." Sie versuchte ihre Hand loszumachen, aber er stand auf und hielt sie noch fest. „Verzeihen Sie mir", sagte er, „verzeihen Sie mir!" Sein Gesicht war fast blendend weitz. „Die Ewigkeit kann mir dies nicht nehmen — daß ich es Ihnen gesagt habe!" Margarethe sprach kein Wort, sondern zog den Schleier über ihr Haupt und schlüpfte geräuschlos fort, Claudius mit bleichem Gesicht und starren Augen der Betrachtung dessen, was er gethan, überlassend. Und sie ging nach unten und saß in ihrer Kajüte und versuchte, es alles noch einmal zu überdenken. Sie war böse, das fühlte sie sicher. Sie war böse auf Claudius und auch etwas böse auf sich — wenigstens glaubte sie das. Sie sagte, sie hätte sich in dem Mann getäuscht und würde ihm nicht vergeben. Noch dazu auf einer Jacht, in einer Gesellschaft von sechs Personen, wo kein Ausweichen möglich, — es war wirklich unverzeihlich! Er hätte es nicht thun sollen. Dachte er — schmeichelte er sich — daß, wenn sie geahnt hätte, er würde sich gerade so betragen wie alle Andern, sie ihn so behandelt haben würde wie bisher? Bildete er sich ein, daß seine Erklärung ihr schmeicheln würde? Konnte er nicht sehen, daß sie ihn immer als einen Freund betrachten wollte, daß sie glaubte gefunden zu haben, wovon sie so geträumt hatte — eine Freundschaft, die vor aller Leiden­ schaft gefeit wäre? Es war so gewöhnlich, so alltäglich! Crawford, Doktor Claudius. 9

130 Schlimmer als das, denn es hieß, aus den engen Grenzen, durch die sie beide beschränkt waren, grausam Vortheil ziehen. Ueberdies hatte er sich ihre Güte zu Nutze gemacht, um eine Scene herbeizuführen, von der er wußte, daß sie sie überraschen und ihr die Fassung rauben würde. Sie hätte hart und scharf zu ihm sprechen und ihn auf frischer That für sein Vergehen strafen sollen. Was hatte sie statt dessen gethan? Sie hatte nur ganz sanftmüthig gesagt: es wäre nicht recht, und hatte in eiligem Rückzug Sicherheit

gesucht. Sie seufzte müde und fing an die Massen ihres schwarzen Haares zu lösen, das wie nächtliches Dunkel zu feinen Fäden gesponnen schien. Und als sie die dicken Schildpattnadeln herauszog, die es emporhielten, rollte es schwer herunter in weichen dunkeln Fluthen und hüllte sie ein wie ein Gewand. Daun lehnte sie sich zurück und seufzte wieder, und ihre Augen fielen auf ein Buch, das auf der Ecke ihres Ankleidetisches lag, wo sie es vor Tisch hatte liegen lassen. Es war das Buch, welches sie zusam­ men gelesen hatten, und das Buchzeichen bestand aus einem Stückchen weißer Schnur, welche Claudius, nach Seemanns­ art künstlich gedreht und geflochten hatte, um die Stelle zu bezeichnen, wo sie stehen geblieben. Margarethe stand aus, nahm das Buch in die Hand und sah es einen Augen­ blick an, ohne es aufzuschlagen. Dann versteckte sie es und setzte sich wieder. Diese Handlung geschah beinahe unbewußt, und es gefiel ihr nicht, was sie gethan. Wenn sie auch ihm und sich selbst zürnte, so war sie doch ruhig genug, um sich zu fragen, weshalb sie den Anblick des Buches auf dem Tische nicht ertragen könne. Wäre es möglich, daß sie sich aus ihrer Freundschaft mit dem Doktor so viel gemacht hätte, daß deren plötzliches Ende sie nun



131



betrübte? Sie wußte nicht recht — vielleicht doch. So viele Männer hatten ihr den Hof gemacht, noch keiner zuvor war ihr wie ein Freund erschienen. Das oft unterdrückte und hart behandelte zarte Ge­ fühl, welches wir Gewissen nennen, regte sich. War sie gerecht gegen ihn? Nein. Wenn sie sich auch nur so viel aus ihm gemacht hatte, wie jene Handlung bewies, hatte er dann kein Recht, ein Gleiches zu thun? Ja, er hatte das Recht; aber es hatte ihm an Tact gefehlt. Er hätte warten sollen, bis sie gelandet wären. Der arme Mensch! er sah so bleich aus, und seine Hände waren so kalt. Stand er noch dort und spähte nach der Furche des Schif­ fes? Margarethe, bist du ganz sicher, daß du an ihn nie anders gedacht hast als an einen befreundeten Professor, der dich Philosophie lehrte? Und da war eine leise Stimme, die sich nicht zum Schweigen bringen ließ, sondern sagte: Ja, du spielst mit deinen Gefühlen, du machst dir etwas aus ihm, du liebst ihn beinahe. Und für einen Augen­ blick war ein heftiger Kampf in dem tapfern Herzen dieser starken Frau, während sie ihr schwarzes Haar auflöste und bis in die Lippen erbleichte. Sie stand wieder auf, holte das Buch aus seinem Versteck und legte es auf seinen früheren Platz. Nun wußte sie es, und sie neigte ihr Haupt, bis ihre weiße Stirn die Tischplatte berührte, und ihre Hände wurden feucht, als sie ihre Augenlider darauf preßte. „Ich bin sehr schwach", sagte sie laut und fuhr fort sich auszukleiden. „Aber du wirst freundlich gegen ihn sein, Margarethe", sagte das Stimmchen in ihrem Herzen, als sie den Kops aufs Kissen legte. „Es ist doch meine Pflicht, kalt zu sein. Ich liebe ihn nicht", sagte sie, als die Uhr zwölf fchlug.

132 Arme heilige Pflicht! was für eine Verwirrung richtest du in menschlichen Gefühlen an. Claudius war noch auf Deck und fühlte sich grenzen­ los elend, während seine erstarrten Hände den Bord sesthielten. Er wußte es wohl, daß sie zürnte, obschon sie sich

vorwarf, es ihm nicht deutlich genug gezeigt zu haben. Er sagte sich, er hätte sich nicht erklären sollen, und dann lachte er bitter, denn er wußte wohl, daß all seine Kraft die Worte nicht hätte zurückhalten können, weil sie wahr waren, und weil die Wahrheit früher oder später ausge­ sprochen werden muß. Er war jetzt für eine Zeit lang hoffnungslos, aber er täuschte sich nicht über sich selbst. „Ich bin nicht schwach. Ich bin stark, und wenn meine Liebe noch stärker ist, als ich, was beweist das? Ich bin ftoh, daß es so ist, und möchte es nicht anders haben. Nun ist es geschehen und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Es thut mir leid, daß ich heute Abend gesprochen. Ich würde gewartet haben, wenn ich gekonnt hätt«. Aber ich konnte nicht und würde mich verachten, hätte ich es gekonnt. Eine Liebe, die nicht stark genug ist, um den ganzen Menschen zu bezwingen, ist nicht des Namens werth. Ob ich mir wohl schmeichelte, daß sie mich liebte? Nein, sicherlich, das that ich nicht. Ich dachte garnicht daran. Es genügt mir, daß ich sie liebe und lebe und es ihr gesagt habe, nun kann ich alles Leiden tragen, denn sie weiß es. Es wird jetzt wohl sofort beginnen. Sie wird nicht mit mir sprechen. Nein, das nicht, aber sie wird erwarten, daß ich sie nicht anrede. Ich will ihr aus dem Wege gehen; das ist das Wenigste, was ich thun kann. Und ich will versuchen, ihr das Leben an Bord nicht unangenehm zu machen. Ach, meine Geliebte, ich will dich nie wieder verletzen noch erzürnen!" Er sagte

133 sich das immer wieder und fand vielleicht Trost darin. Schlag zwölf kam der schwedische Kapitän heraus und Claudius sah ihn auf die Kommandobrücke gehen, bald aber kam er wieder herunter und ging aufs Hinterdeck. „God afton, Kapitän", sagte Claudius. „Es ist etwas spät, um guten Abend zu sagen, Dok­ tor", erwiderte der Seemann. „So, was ist es an der Zeit?" „Mitternacht." „Nun, dann will ich hineingehen."

„Wenn Sie meinem Rathe folgen wollen", sagte der Kapitän, „so lassen Sie keine Kleinigkeiten hcrumliegen; es giebt noch vor Morgen einen Tanz." „Meinen Sie?" fragte Claudius gleichgültig.

„Aber, Doktor, wo haben Sie die Augen? Wenn Sie wach sind, so sind Sie ein ordentlicher schwedischer See­ mann. Sie haben die schäumenden Wellen am Skager Rak ebenso gut gesehen wie ich." „Manch liebes Mal!" erwiderte der Andre und sah nach der Windseite. Es war richtig, der Wind war nach Nordosten umgeschlagen und eine unruhige kleine Bewegung fing an über den langsam wogenden Ocean hinzuziehen. Ein gerader schwarzer Streif lief unter den Sternen hin, und durch das nächtliche Dunkel sah man das rasche 4lufsprihen, Anschlägen und Zurückprallen weißer Wellen­ häupter, während die aufspringende Brise im Takelwerk ihr Lied sang.

Claudius wendete sich ab und ging hinunter. Er be­ folgte den Rath des Kapitäns, machte all seine Sachen fest und ging zu Bett. Aber er konnte nicht schlafen und sagte sich immer wieder, daß er sie liebte, daß er froh

134 wäre, es ihr gesagt zu haben, und daß er die Folgen dessen, was er an diesem Abend gethan, ans sich nehmen wolle für alle Zeit — ja über alle Zeit hinaus.

Achtes Kapitel. Lady Victoria hatte keine Furcht vor der See, durch­ aus nicht, und wenn ihr Bruder mit ihr gehen wollte, so konnte ihr nichts lieber sein. Vielleicht hätte auch Fräu­ lein Skcat Lust mitzukommen. Schade, daß die arme Margarethe Kopfschmerzen hatte! Sie war nicht einmal beim Frühstück erschienen. Ja, Fräulein Skeat wollte mitkommen, und der Boots­ mann wollte sie mit Matrosenmänteln und Kappen ver­ sehen, und so wollten sie einige Minuten auf Deck gehen. Herr Barker aber bedauerte sehr, daß er einen kleinen An­ fall von Neuralgie hätte, überdies wußte er ja, daß Clau­ dius auf Deck wäre und den Damen von mehr Nutzen sein könnte als er. Herrn Barker fiel es nicht ein, naß zu werden; daß die Gräfin plötzlich Kopfweh bekommen und daß Claudius nicht in ihrer Nähe war, interessirte ihn überdies. Er wollte unten bleiben und seine Beob­ achtungen anstellen. Von dem Herzog geleitet, gingen die kräftige junge Engländerin und die standfeste alte Schottin die Kajütentreppe hinauf und zwar nicht ohne Schwierig­ keit, denn die Voraussagung des Kapitäns war schon ein» getroffen, und der „Streif" bahnte sich durch böses Wetter seinen Weg. Das Deck war naß und schlüpfrig, und der salzige Schaum spritzte um alle Ecken. Der Himmel war blei-

134 wäre, es ihr gesagt zu haben, und daß er die Folgen dessen, was er an diesem Abend gethan, ans sich nehmen wolle für alle Zeit — ja über alle Zeit hinaus.

Achtes Kapitel. Lady Victoria hatte keine Furcht vor der See, durch­ aus nicht, und wenn ihr Bruder mit ihr gehen wollte, so konnte ihr nichts lieber sein. Vielleicht hätte auch Fräu­ lein Skcat Lust mitzukommen. Schade, daß die arme Margarethe Kopfschmerzen hatte! Sie war nicht einmal beim Frühstück erschienen. Ja, Fräulein Skeat wollte mitkommen, und der Boots­ mann wollte sie mit Matrosenmänteln und Kappen ver­ sehen, und so wollten sie einige Minuten auf Deck gehen. Herr Barker aber bedauerte sehr, daß er einen kleinen An­ fall von Neuralgie hätte, überdies wußte er ja, daß Clau­ dius auf Deck wäre und den Damen von mehr Nutzen sein könnte als er. Herrn Barker fiel es nicht ein, naß zu werden; daß die Gräfin plötzlich Kopfweh bekommen und daß Claudius nicht in ihrer Nähe war, interessirte ihn überdies. Er wollte unten bleiben und seine Beob­ achtungen anstellen. Von dem Herzog geleitet, gingen die kräftige junge Engländerin und die standfeste alte Schottin die Kajütentreppe hinauf und zwar nicht ohne Schwierig­ keit, denn die Voraussagung des Kapitäns war schon ein» getroffen, und der „Streif" bahnte sich durch böses Wetter seinen Weg. Das Deck war naß und schlüpfrig, und der salzige Schaum spritzte um alle Ecken. Der Himmel war blei-

135 grau, aber auf den ersten Blick konnte man kaum sagen, ob es regnete oder nicht. Das Gesicht des Herzogs glänzte wie ein nasser rother Apfel in Wind und Wasser, während er seine Schwester nach der Windseite führte und ihr dort einen Platz unter den Wanttauen zurechtmachte. „Hallo! Claudius! Das scheint Ihnen zu gefallen", rief er, als er die hohe Gestalt des Schweden auf der Fallreepstreppe erblickte. Claudius ging auf sie zu, indem er sich an Pinnen, Klampen und Bänken sesthielt. Er sah so blaß aus, daß Lady Victoria erschrak. „Sie sind unwohl, Doktor Claudius. Bitte, bemühen sie sich nicht meinethalben. Mein Bruder wird gleich wiederkommen. Gehen Sie nach unten und erwärmen Sie sich. Sie sehen ganz elend aus." „So? Mir ist durchaus nicht unwohl. Ich liebe solch Wetter." Daniit steckte er der einen Arm durch die Want­ taue, um unter schwierigen Verhältnissen ein Gespräch zu beginnen. Unterdessen holte der Herzog Fräulein Skeat herauf, die unter ihrem getheerten Mantel klapperte, aber nicht die mindeste Angst verrieth, obgleich gerade in dem. Augenblick eine Welle über Bord schlug. „Haltet die Augen offen, hört ihr?" schrie der Herzog den Leuten am Stcuerrade zu; worauf sie lachten und ein wenig rückten, sodaß die Dame durchgehen konnte. „Aufgepaßt!" rief der Herzog noch einmal, als Fräu­ lein Skeat festgemacht war, und wieder drehten die Männer am Rade, sodaß das Flugwaffer wie eine Wolke aufstob. Claudius war beruhigt. Er hatte erwartet, daß Margarethe heraufkommen würde und die Begegnung ge­ fürchtet, da er ihr ja nothgedrungen hätte die Hand reichen müssen, um ihr durchzuhelfen, er segnete im Stillen ihren weisen Entschluß, unten zu bleiben. Die Andern

136 hätten auch dableiben können, dachte er, statt hier oben naß zu werden und ihn in seiner Einsamkeit zu stören, — das Einzige, was ihm heute noch übrig geblieben war. Aber Claudius war nicht der Mann, sich seine Ver­ stimmung über diese Störung anmerken zu lassen, und überdies gefielen ihm die beiden Damen — jede in ihrer Art. Die Engländerin war so enthusiastisch und die Schottin so tapfer, daß er nach wenigen Minuten Bei­ sammenseins sich in Gesellschaft gleichgesinnter Seelen fühlte. Lady Victoria, wie schon erwähnt, war verheirathet, und ihr Mann, der in diplomatischen Diensten stand und Aussicht hatte später ein großes Vermögen und die Pairswürde zu erben, war jetzt auf eine ferne Gesandtschaft verschickt worden. Sie waren erst kurze Zeit verheirathet, aber die junge Frau war geneigt, alles von der besten Seite aufzufassen, und da sie ihn nicht begleiten konnte, versuchte sie, ohne ihn vergnügt zu fein, und dieser Aus­ flug mit ihrem Bruder kam ihr wie gerufen. Herr Barker bewunderte ihre überschüssige Lebenskraft, wie er sich aus­ drückte, und meinte, Leute mit so gesundem Magen hätten es immer gut. Sie war stark und gesund und dazu be­ stimmt, die Mutter vieler kräftiger Söhne zu werden, auch hatte sie die Art von Schönheit, welche eine frische Gesichts­ farbe, glänzende Augen und weiße Zähne ausmachen können. Wenn man sie ansah, hätte man sie für die Tochter eines kräftigen an harte Arbeit gewöhnten Ansied­ lers halten können, daran gewöhnt, von Jugend auf Regen und Schnee kraft ihrer angebornen Stärke zu trotzen. Sie sah nicht nach Herzogen und Herzoginnen aus! Ach! das Geschlecht dieser kräftigen englischen Jünglinge und Mäd­ chen wird immer seltner, und bleichsüchtige, geistig über­ arbeitete Wesen wachsen auf, die nebst ihren Kindern ver-

137 suchen, es mit der geistigen Arbeit von Ausländern mit größern Schädeln größern Inhalts aufzunehmen, und da­ bei vergessen, daß ihre englischen Vorfahren alles durch bloße Körperkraft und durch blutigen Kampf erreichten, und daß sie mit ebenso viel Recht hoffen können, etwas durch Geschick zu erreichen, wie ein Walfisch daran denken könnte, auf dem Seil zu tanzen. Lady Victoria meinte, sie würden besser thun es aufzugeben und den Kampf um geistige Ueberlegenheit zu unterlassen. Die Engländer brachten größere Geister hervor, als die große Masse ihrer Landsleute in Rohheit versunken und zu Elisabeths Zeiten mit Rindfleisch und Bier übersättigt war, als sie je mit ihrer billigen Universitätsbildung hervorbringen werden. Und wozu? Des Fortschrittes wegen. Was ist Fortschritt? Nur die angemessene Anordnung von Ungleichheiten, wie einer ihrer Denker sagt, der am meisten davon weiß und sich ant wenigsten um Theorien kümmert. Was nützt diese „Universalbildung", deren neun Zehntel der Bevölkerung sich wie einem hoffnungslosen Uebel unterwerfen, das ihnen das Brod aus dem Munde nimmt und den Kopf mit Schaum füllt; denn könnten sie nicht auf dem Felde ar­ beiten, statt auf der Schiefertafel zu kritzeln? So wenigstens dachte Lady Victoria. „Sie sehen wie ein Seemann aus", sagte sie zu Claudius. „So ist mir auch zu Muthe und ich denke, ich werde Seemann von Beruf werden", antwortete er. „Es ist so schade", sagte Fräulein Skeat und hielt sich an dem gedrehten Drahtseil fest; „ich möchte es er­ leben, daß Sie ein Pirat werden, Sie und Herr Barker, es würde so romantisch sein!" Die Andern lachten, nicht über den Gedanken, Claudius unter schwarzer Flagge segeln

138 zu sehen, denn er sah an diesem Morgen düster genug aus, um ihm Mordthaten zuzutrauen, — aber das Bild des eleganten, verwöhnten Hern Barker mit Lackschuhen und seinem umständlichen Reiseapparat, als Anführer einer schwarzen Bande schwarzer Schurken, die auf verzweifelte Abenteuer und blutige Thaten ausgehen, war eigenthümlich genug, um erheiternd zu wirken, und so lachten sie laut auf. Sie verstanden Herrn Barker nicht richtig; Fräulein Skeat aber, die ihn in ihrer altjüngferlichen Weise gern mochte hatte vielleicht ein Gefühl, daß der feine Amerikaner ge­ fährlich werden könnte. „Herr Barker würde nie zu einem Seeräuber taugen", sagte Lady Victoria lachend. „Er würde sich immer die Füße naß machen und Anfälle von Neuralgie haben." „Nimm Dich in Acht, Vicky", sagte ihr Bruder, „er könnte Dich hören!" „Und wenn auch? Ich sagte ja nur, er würde nasse Füße bekommen. Das ist nichts Böses, das ist doch klar, daß er an Neuralgie leidet, weil er es selbst sagt." „Na, natürlich", sagte der Herzog, „wenn Du das meinst. Aber er würde sich schnell genug nasse Füße holen, wenn ein genügender Grund dafür vorhanden wäre." „Wenn es ihm lohnt, dann natürlich", meinte Lady Victoria, „daran zweifle ich garnicht." Sie rümpfte die Nase, denn sie mochte Barker nicht besonders leiden, und hatte von den finanziellen Unternehmungen ihres Bruders in Amerika keine hohe Meinung. Es paßte nicht im ge­ ringsten für einen ächten altenglischen Gentleman, immer Aktien und Antheile von Bergwerken und allerlei Papiere mit wunderlichen Namen zu kaufen und zu verkaufen. „Bitte sehr, Vick, wir wollen nicht mehr über Barker sprechen."

139 „Sehr wohl, dann kannst Du vom Wetter sprechen",

sagte sie. „Fa", sagte Claudius, „das fönten wir thun. Es ist heute ein Wetter, über das sich viel sagen ließe." „Ach, ich schwärme für einen Sturm auf der See!" rief Lady Victoria und vergaß Barker ganz und gar in dem köstlichen Gefühl von Salzluft und Freiheit, das man auf Deck eines guten Schiffes bei stürmischer See hat. Sie bog ihr Gesicht vor, um den feinen salzigen Sprüh­ regen mit ihrer Wange aufzufangen. Da schlug gerade etwas Wasser über Bord hinter der Faüreepstreppe, und das Schiff hob und senkte sich der Bewegung einer mäch­ tigen Welle folgend. Das Wasfer lief über das Deck, als jagte es den Speigaten nach, und spülte bis nach der Leeseite hin, wo die Gesellschaft saß, sodaß die Damen bis an die Knöchel naß wurden. Die Herren zogen sich an den Tauen in die Höhe und blieben so hängen, bis das Deck wieder frei war. „Ich hoffe, das Naßwerden schadet Dir nicht", sagte der Herzog zu seiner Schwester; „aber Du solltest lieber unter Schutz gehen, so lange dieses Wetter anhält." „Wenn Sie mir beistehen wollen", sagte Fräulein

Skeat, „so möchte ich wohl hinuntergehen und nach der Gräfin sehen." Claudius machte sie von dem Tauwerk los und führte sie die Treppe hinunter, der Herzog aber blieb bei seiner Schwester, die noch nicht fortwollte. Kaum war Claudius unten, so ward er sich bewußt, wie nahe er Margarethen wäre, die sich vermuthlich in der Damenka­ jüte aufhielt. Er konnte natürlich seine Kajüte erreichen, ohne dieses Heiligthum zu betreten, da er aber noch Fräu­ lein Skeat am Arme hielt, um sie sicher an die Thür zu bringen, konnte er nicht der Versuchung widerstehen, den

140 Kopf hineinzustecken, denn er wußte, sie mußte darin sein. Es war ein geräumiges Wohnzimmer mit großen Psortluken an beiden Enden, das von einer Seite des Schiffes zur andern reichte. Fräulein Skeat ging hinein, und Claudius blickte ihr nach. Da war Margarethe, sie sah aus wie gewöhnlich, ihr Gesicht war von ihm abgewendet, da sie in einem langen Lehnstuhl lag. Sie konnte ihn auf diese Weise nicht sehen und sein Herz schlug mächtig, als er ihr über alles ge­ liebtes Antlitz erblickte. Margarethe redete Fräulein Skeat an, ohne den Kopf umzuwenden, denn sie hatte eine ihrer ewigen Handar­ beiten vor. „Hat es Ihnen gefallen? Wie sind Sie herunter­ gekommen?" „Ich bin so durchgeweht", sagte die Gesellschafterin, indem sie ihre Hüllen ablegte, „und Doktor Claudius —" Mehr hörte der Doktor nicht, denn er zog den Kopf zurück und entfernte sich schnell. Fräulein Skeat hörte auch plötzlich auf zu sprechen, denn bei Nennung seines Namens hatte sie natürlich nach der Thür geblickt, wo er, wie sie glaubte, noch stand, und hatte nur eben seinen Kopf hinter den Vorhängen verschwinden sehen. Marga­ rethe schaute auf und bemerkte Fräulein Skeats Erstaunen. „Nnn, was ists mit Doktor Claudius?" fragte sie. „Ach nichts", antwortete Fräulein Skeat, „sie fragteu mich, wie ich heruntergekommen wäre, und ich wollte eben fügen, Doktor Claudius gab mir den Arm, und dachte, er wäre mit mir hereingekommen." Weder Fräulein Skeat noch Claudius hatten Herrn Barker bemerkt, der hinter einem Heckbalken versteckt saß und sich mit seinen Nägeln und einem Buche unterhielt.

141 Er bemerkte alles: wie der Doktor sein blasses Gesicht und

seinen triefenden Bart durch plötzlich

die Vorhänge steckte

und

bei Nennung seines Namens zurückzog, und wie

Fräulein Skeat verschwieg, daß sie das auch gesehen habe. Er schloß daraus, daß etwas vorgefallen sei, daß Fräulein Skeat darum wisse, und daß sie diskret sei.

Aber was?

darüber zerbrach er sich den Kopf. Claudius würde nicht so aussehcn, wenn nicht etwas schief gegangen wäre, dachte

Barker, wenn aber alles in Ordnung wäre, würde er wohl binnen fünf Minuten wiederkommen. Er hatte ihn beim

Frühstück nicht gesehn. Leise zog er seine Uhr heraus und sie auf sein Buch mit dem Zifferblatt nach

legte

oben.

Dann sprach er mit den beiden Damen über das Wetter hörte Fräulein Skeats begeisterten Bericht über das

und

spritzende Wasser und die allgemeine Schlüpfrigkeit der oberen Regionen an. Nach fünf Minuten steckte er seine wieder

Uhr

ein

selbst versuchen, thun.

und sagte, er wolle es jetzt einmal die frische Luft würde ihm vielleicht gut

So ging er fort, erhielt ein Paar Seestiefel und

einen wafferdichten Mantel, den er mit Abscheu betrachtete

und mit Entschlossenheit anzog.

Er wollte den Herzog

aufsuchen und Claudius sprechen, aber jeden allein. Barker

steckte seinen Kopf vorsichtig

aus der Thür

Hauptkajüte und erblickte den Herzog und seine Schwester. Das hatte er nun nicht gerade gewollt, und der

er würde sich zurückgezogen haben, aber eben in dem Augenblick erschaute ihn Lady Victoria und rief ihm zu, er solle sich nicht fürchten, die See wäre schon viel ruhiger. Barkers Vorsicht hatte aber einen ganz andern Grund ge­

habt: da er nun einmal entdeckt war, machte er gute Miene zum dösen Spiel, kam auf Deck und schlug die Thür hinter sich zu.

Lady Victoria war erstaunt,

ihn so

142 leicht und sicher auf dem schlüpfrigen Deck einherschreiten zu sehen, denn sie dachte, er wäre ein Weichling. Aber Barker war gewandt in vielen Dingen und es gelang ihm sogar, trotz des beträchtlichen Schwankens seinen Matrosen­ hut mit vieler Grazie abzunehmen und sich zu verbeugen. Als ihm erlaubt worden war zu rauchen, zündete er sich eine Cigarre an, steckte eins seiner gestiefelten Beine durch das Eisengitter und setzte sich auf das Bollwerk, wo er, da das Dampfschiff schlingerte, in einer recht gefährlichen Lage zu sein schien. Aber in seinem elastischen Körper schien eine katzcnartige Geschmeidigkeit zu wohnen, kraft deren er sich im Gleichgewicht erhalten konnte. „Ich dachte, es wären noch mehr von der Gesellschaft oben", redete er Lady Victoria an. „Sie scheinen die Sache so recht zu genießen." „Ja", erwiderte sie. „Ich wünschte, ich wäre früher heraufgekommen, die Luft unten ist so drückend." ; „Ich dachte, Sie hätten Neuralgie", sagte Lady Victoria. „Ja, ich hatte allerdings, doch diese Art von Neuralgie kommt und geht ganz plötzlich. Wo ist denn der Riese des Nordens?" „Doktor Claudius? Er ging mit Fräulein Skeat hinunter, und als er wieder herauf kam, sagte er, er wollte nach vorne gehen", antwortete sie. „O, ich sehe ihn", rief Barker. Da geht er oben auf die Kommandobrücke. Mein Himmel! wie groß er aussieht!" „Ja", fiel der Herzog ein, „etwas zu hoch, ein Mast für einen Nordost, nicht wahr? Lieber Ihre Größe, Barker, wenns gilt Toppsegel zu reffen." Der Engländer lachte.

143 Als ich ihn kennen lernte", sagte Barker, „trug er ein Geländer um den Hals, um nicht schwindlig zu werden. Das möchte ich nicht! So, nun will ich auch hinaufgehen und mich ein bischen umsehen." Er verließ seine Gefährten, die über seinen Scherz lachten, glitt leicht vom Geländer herunter und begann seine Wanderung nach der Komman­ dobrücke, die er anscheinend ohne Schwierigkeit vollführte. Als er die kleine Treppe hinaufgeklettert war, winkte er dem Herzog und seiner Schwester zu, die ihm als Antwort ein Kompliment zuschrien; dann redete er Claudius an, der mit gespreizten Beinen, die Hände aufs Geländer ge­ stützt, neben dem Kapitän stand. „Sind Sie es, Barker?" fragte Claudius. „Sie haben sich heute Morgen gut verkleidet." „Claudius", sagte dieser, „was in aller Welt ist los?" Der Kapitän staub auf der andern Seite und konnte sie des Windes wegen nicht hören. „Was soll los sein?" fragte Claudius. Barker kannte seinen Freund jetzt schon genug, um zu missen, daß man bei ihm mit einer direkten Frage weiter käme als mit verschmitztem Ausforschen. „Spielen Sie nicht den Unwissenden!" sagte er. „Sie sehen aus wie ein Gespenst, ganz todteublaß, und als Sie vor einer Viertelstunde Ihren Kopf durch die Vorhänge steckten, dachte ich wirklich, Sie wären ein Geist! Heute Morgen sind Sie noch nicht bei der Gräfin gewesen, während Sie sonst nie fern von ihr waren, seitdem wir die Anker gelichtet. Also — es ist etwas vorgefallen, und wenn ich etwas dabei thun kann, sagen Sie es mir, und ich thue es sofort." Es ist ein erprobtes Manöver, Be­ friedigung der eigenen Neugier zu suchen, indem man Hilfe anbietetet. Aber Claudius bekümmerte sich um der-

144 gleichen nicht; er brauchte nie Hilfe von Andern, und wenn er etwas sagen wollte, so konnte ihn nichts davon abhalten, wollte er es aber nicht, so konnte keine Macht der Welt ihn dazu bringen. „Weil Sie es bemerkt haben, gebe ich es zu; ja es ist etwas vorgefallen, wie Sie sagen, und ich danke Ihnen für Ihr Anerbieten mir zu helfen; mehr aber kann ich Ihnen nicht fügen." „Ich denke, daran thun Sie unklug." „Mag sein!" „Ich könnte Ihnen sehr nützlich sein, denn ich habe angebornen Takt." „Ja."- „Ueberdies wissen Sie ja, ich bin ver­ schwiegen wie das Grab." „Ganz gewiß." „Ich habe Sie überdies bei der Gräfin eingeführt." „Das weiß ich." „Und es sollte mir sehr leid thun, wenn etwas, was ich gethan, üble Folgen haben sollte." „Davon bin ich überzeugt. „Dann mein lieber Freund, müssen Sie mir wirklich etwas mehr Vertrauen schenken und meine Hilfe annehmen," sagte Barker in gekränktem Ton. „Vielleicht sollte ich das", sagte Claudius. „Warum wollen Sie mir denn nicht sagen, was vor­ gefallen ist?" „Weil ich nicht will!" versetzte Claudius und wendete fich scharf gegen Barker, indem er mit einer Miene sprach, vor der das Geländer zu erbeben schien. Er war augen­ scheinlich auf dem Punkte heftig zu werden, und Barker bereute zu spät seinen Versuch ihn auszuforschen. Nun sprach er aus einem andern Ton.

145 „Verzeihen

Sie,

Caudius,

ich wollte Sie nicht be­

leidigen." „Sie haben mich durchaus nicht beleidigt, Barker. Aber bitte, fragen Sie mich nicht mehr." Claudius war

wieder ganz ruhig geworden. „Nein gewiß nicht, mein lieber Freund, es fällt mir

garnicht ein; — und ich denke, ich werde auch sonst Nie­ mandem Rath geben",

setzte er im Stillen hinzu.

war zu dem Schlüsse gekommen,

Er

daß etwas sehr Ernstes

vorliegen müsse, sonst würde Claudius, der nicht leicht auf­ geregt war,

sich nicht so benommen haben.

Er machte

noch einige Bemerkungen über das Wetter, welches aller­ dings noch nicht besser geworden war; und dann gtttt er die Leiter hinab und ging aufs Hinterdeck mit dem Vor­

sätze, der Sache baldmöglichst auf den Grund zu kommen.

Lady Victoria war verschwunden, und ihr Bruder wollte sich eben seine kurze schwarze Pfeife anzünden. „Herzog", fing Barker an, „was zum Teufel ist heute Morgen mit Claudius los?"

„Weiß nicht! Meine Schwester findet es sehr sonderbar."

„Na, wenn Sie nichts wiffen, weiß ich auch nichts, aber ich kanns mir allenfalls denken."

Des Herzogs Zündhölzchen flackerte im spritzenden Schaum und im Winde, und er brannte seine Pfeife an, ehe er antwortete. „Ich wette sechs gegen vier, daß er sie aus jeden Fall heirathet." „So niedrig wette ich nicht auf meine Freunde", sagte Barker tugendhaft, „sonst käme ich Ihnen mit Hun­ derten.

Sie müssen verrückt sein!

Sehen Sie denn nicht,

er hat seine Karten gezeigt und verspielt? Pah! es ist alles

vorbei, so wahr Sie leben." Crawford, Doktor Claudius.

10

146 „So, meinen Sie das?" fragte der andre mit leb­ haftem Jnteresfe. „Sie mögen recht haben, freut mich, daß Sie nicht wetten wollten." „Natürlich ist's so. Der Narr hat an Bord um sie angehalten, und sie hat ihm einen Korb gegeben, und nun mutz er der Wuth der Elemente trotzen, um ihr aus dem Wege zu gehen." „Bei meiner Seele, es sieht danach aus," sagte der Herzog. „Er kann aber nicht mehr lange aus der Brücke bleiben, wenn das so fortgeht." „Sie sollten lieber Ihre Schwester fragen," meinte Barker. „Frauen merken so etwas immer am ersten. Was'sagen Sie zu einem Spielchen? Es ist zu scheuß­ liches Wetter, um auf Deck zu bleiben." Somit gingen sie ins Rauchzimmer und richteten sich mit einem Spiele Karten und einer Cigarrenkiste für den Tag ein. Da Margarethe nicht beim Frühstück erschienen war, welches an Bord spät stattfand und eine kräftige Mahlzeit war, und da die Gesellschaft bis zum Diner keinen andern regelrechten Sammelpunkt zu haben pflegte, denn jeder nahm das zweite Frühstück wie und wann es ihm beliebte, so war es klar, daß die Gräfin und Claudius erst am Abend zusammentreffen würden. Margarethe war aus ver­ schiedenen Gründen, von denen einige definirbar, andre unbestimmt waren, froh darüber. Sie fühlte, daß sie Claudius falsch beurtheilt haben müsse, da die Aeußerung ihres Mißfallens am vorigen Abend genügt hatte, ihn fern zu halten. Wäre er so taktlos, wie sie es zuerst geglaubt, so hätte er sicher bald eine Gelegenheit gesucht, sie allein zu sprechen, und die übrige Gesellschaft war so sehr daran gewöhnt, sie den Vormittag mit einander zubringen zu sehen, daß ihm eine solche Gelegenheit, falls er sie ge-

147 wünscht, nicht gefehlt haben würde. Und wenn er ihre Worte und ihre Art und Weise mißverstanden, wenn er

sie nicht für eine

entschiedene Zurückweisung

angesehen

hätte, würde er ihr gestern Abend, als sie ihn verließ, so­ fort nachgegangen sein. Sie war etwas ängstlich bei dem Gedanken,

wie er sich in Zukunft benehmen würde, bis

jetzt aber war sie mit ihm zufrieden und ging der unver­ meidlichen Begegnung bei Tische mit einem gewissen Ge­ fühl von Sicherheit entgegen.

„Denn", sagte sie, „ich liebe

ihn ja gar nicht, weshalb sollte ich verlegen sein?"

Nicht so wars mit dem armen Claudius; er fühlte, wie ihm

das Blut aus dem Gesicht zum Herzen strömte,

als er in den Salon trat, wo die Gesellschaft sich eben zu

Tische setzte. Das Schiff schwankte sehr, denn die See ging hoch unter dem Nordwestwind, und das Speisen

konnte keine leichte Sache sein.

Er wußte, er mußte neben

ihr sitzen und ihr bei allen unter solchen Verhältnissen vor­

kommenden Schwierigkeiten beistehen.

Beide hätten natür­

lich leicht bemerken können, daß die Blicke der andern vier sie beobachteten, wenn sie das vermuthet hätten.

Claudius

sich zu seiner ganzen Höhe auf und spannte all seine Nerven an, um bei der Begegnung seine Fassung zu

richtete

bewahren. Margarethe gehörte zu den Personen, welche nicht leicht die Farbe wechseln, und als sie sprach, konnte selbst das aufmerksame Ohr von Barker, der ihr gegenüber saß, kaum die geringste Veränderung in ihrem Tone ent­ decken.

„Wie geht es Ihnen, Doktor Claudius?" „Danke, gut.

Es thut mir leid, zu hören, daß Sie

heute Kopfweh hatten.

„Ja,

Ich hoffe, es geht Ihnen beffer."

danke viel besser."

wars vorüber.

Sie setzten sich, und so

Die Unterhaltung kam zuerst nicht recht in 10*

148 Fluß und drehte sich um kleine Scherze über die Schwie­

rigkeit, in einem Winkel von fünsundvierzig Grad zu spei­

sen.

Das Wetter war entschieden viel schlimmer als am

Morgen, und der Herzog fürchtete, sie würden eine längere

Ueberfahrt haben, als sie erwartet, setzte aber hinzu, daß

sich das morgen auf Mittag besser beurtheilen lassen würde. Claudius und Margarethe wechselten einige Worte mit

Takt und einer gewissen Gleichgültigkeit; aber aus unbe­ kannten Gründen unternahm es Herr Barker, besonders lebhaft und unterhaltend zu sein, und im Verlauf des

Diners erzählte er eine Menge von Geschichten und Anek­

doten, die ganz dazu angethan waren, die Zeit zu vertrei­

ben und die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.

Da Herr

Barker sonst bei Tische nicht eben gesprächig zu sein pflegte,

wenn er auch manchmal kurze treffende Bemerkungen machte,

so schien seine plötzliche Beredsamkeit darauf berechnet, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu fesseln. Claudius und Margarethe waren froh über das Geplapper, welches sie der Mühe des Sprechens übcrhob, und beide lachten ganz unbefangen über Barkers drollige Einfälle. Sie waren

ihm dankbar dafür, und Claudius hoffte, er möge während der übrigen Reise so fortfahren. Allein Margarethe machte

sich ihre Gedanken darüber.

Sie sah mit schnellem Blick,

daß Barker etwas von der obwaltenden Verlegenheit ge­ merkt hatte und nun sein Bestes that, um die Tischgesell­ schaft zu erheitern. hintergekommen war. haben?

Aber sie begriff nicht, wie Barker da­ Sollte Claudius sich ihm anvertraut

Das wäre sehr thöricht von ihm gewesen, über­

dies war Claudius nicht der Mann zu solchen vertraulichen

Mittheilungen.

Er war in der Regel kalt und zurückhal­

tend, und Barker hatte der Gräfin mehr als einmal ge­ sagt, daß er sehr wenig von des Doktors Vorleben wisse,

149 weil Claudius „nie erzählte" und nicht immer auf Fragen Antwort gäbe. So kam sie zu dem Schluß, daß Barker nur etwas argwöhnte, weil der Doktor den Tag über nicht bei ihr gewesen war. Und so lachte sie, und Claudius lachte auch, und beide waren zufrieden durch eine ver­ bindliche und geschickt gespielte Heiterkeit ihr Scherflein zu der allgemeinen Unterhaltung beizutragen. So nahm das Diner trotz des Rollens und Stampfens seinen Fortgang; denn beide Bewegungen waren stark, da die See diagonal gegen den Kours lief und sich am Steuerbord brach. Sie waren bis zum Deffert gelangt, und wenigstens zwei von der Gesellschaft gratulirten sich zum glücklichen Ausgang des Mahles, als gerade während der Herzog sprach, das Schiff sich zur Seite legte und eine furchtbare Sturzwelle darüber schlug. Dann folgte ein gräßlicher surrender Ton, der sämmtliche Teller und Möbel und alles Holzwerk erschütterte, es klang als ob eine Rie­ senuhr plötzlich ablief und dauerte etwa zwanzig Sekunden; dann war alles wieder ruhig, die See ausgenommen, und die Jacht rollte heftig hin und her. Jeder sagte sich, daß ein Unfall geschehen sein müsse, aber keiner stand vom Tisch auf. Der Herzog blieb wie ein Felsen auf seinem Platze und sprach seinen Satz zu Ende, obschon Niemand darauf achtete. Fräulein Skeat packte ihr silbernes Obstmeffer so fest, daß ihre Knöchel glänzten und biß die Zähne zusammen. Barker, der in einem Gestell ein Glas Wein vor sich stehen hatte, nahm es in die Hand, als die Welle anschlug, und hielt es ge­ rade in die Höhe, damit der Wein nicht vergossen werde, nur Lady Victoria, die sich ihres Erschreckens nicht im mindesten schämte, schrie auf: „Barmherziger Himmel!" und hielt sich dann am Tische fest und sah ihren Bruder an.

150 Margarethe und Claudius saßen neben einander auf einer Seite des Tisches.

Von einem seltsamen, sympathi­ sich nur in Augenblicken

schen Gefühl getrieben, wie es

großer Gefahr kundgiebt,

das Gleiche.

thaten sie im selben Augenblick

Claudius streckte seine linke Hand aus und

sie ihre rechte und diese beiden Hände begegneten sich unter dem Tische und erfaßten einander, und in demselben Augen­ blicke wendeten sie sich beide einander zu und sahen

an.

Was

dieser Blick sagte,

einen Augenblick gab

es

weiß Niemand,

sich

aber für

für Margarethe nichts anderes

auf der Welt als Claudius.

Er,

der Arme,

schon lange, daß sie seine ganze Welt,

und sein Tod sei. Der Moment war kurz,

wußte ja

sein ganzes Leben

Margarethe zog rasch ihre

Hand zurück und sah fort.

Der Herzog sprach

wieder. »Ich glaube nicht,

es

daß

zuerst

etwas Schlimmes ist",

sagte er, „wenn Sie alle still sitzen wollen, werde ich nach oben gehen und sehen, was geschehen ist."

Er stand auf

und verließ den Salon. „Ich denke nicht, daß Grund zu Besorgniß vorhanden ist," sagte Barker.

„Wahrscheinlich ist die Maschine etwas

beschädigt, und in einer Stunde werden wir weiter fahren können. Wir müssen den Damen unser Kompliment ma­ chen wegen des von ihnen bewiesenen Muthes; es ist wirk­

lich zum Staunen!"

Und Herr Barker sah sich lächelnd

am Tisch um.

Lady Victoria war sichtlich in Angst, und Fräulein Skeat war ganz still. Margarethe war verwirrt

und verstört. fen,

Der Zufall, daß sie Claudius' Hand ergrif­

war für sie tausendmal bedenklicher als irgend ein

Zufall, der dem Schiffe zugestoßen sein mochte.

Der Dok­

tor konnte nicht umhin, sie von der Seite anzusehen, aber

151 er stimmte mit Barker in das Lob der Kaltblütigkeit der drei Damen ein. Bald darauf kam der Herzog zurück. Er war durch einen Gang nach vorne gegangen, welcher zwischen Deck nach den Maschinenräumen führte, wo er den Kapitän getroffen hatte. Die Gesellschaft fühlte sich beruhigt, als das frische Gesicht ihres Wirthes in der Thür

erschien. „Es ist nichts zu fürchten", sagte er heiter; „aber es ist trotzdem eine abscheuliche Geschichte." „Sag' uns alles ganz genau", ries Lady Victoria. „Nun — wir haben unsre Mittel zum Fortkommen verloren. Unsere Schraube ist zerbrochen." „Was werden Sie dabei thun?" fragte Barker. „Thun? Dabei ist garnichts zu thun. Wir sind aufs Segeln angewiesen. Es thut mir schrecklich leid."

„Es ist doch nicht Ihre Schuld," sagte Claudius. „Nein, das allerdings nicht. Es passirt auch auf großen Dampfern."

„Und werden wir nun den ganzen Weg bis New Jork segeln?" fragte Lady Victoria, die wieder völlig beruhigt war. „Ich denke, das wird reizend sein." Fräulein Skeat fand auch segeln weit poetischer als dampfen. „Ich denke, wir müssen Kriegsrath halten", sagte der Herr des Schiffes. „Wir wollen abstimmen. Sollen wir nach Bermudas gehen, was uns näher, aber vier bis fünf Tage von New Aork entfernt ist, oder sollen wir geradeaus weiterfahren und auf günstigen Wind hoffen?"

„Wenn Sie beides zu thun gewillt find, warum wollen wir dann nicht den Damen die Entscheidung über­ lassen?" schlug Barker vor. „Ach nein", fiel die Gräfin ein; „Abstimmen ist viel

152 amüsanter! Wir wollen jeder einen Zettel schreiben und dann alle in einen Beutel stecken." „Da Ihrer fünf sind, will ich nicht mitstimmen", meinte der Herzog, „sonst könnten auf jeder Seite drei sein." So stimmten sie ab, und es fanden sich drei Stimmen für New Aork und zwei für Bermudas. „New Jork hat gesiegt!" sagte der Herzog beim Ab­ zählen, „und das ist mir eigentlich lieb, Sturleson ist auch dafür." Barker hatte für New Jork gestimmt und war neu­ gierig, wer die beiden sein könnten, die lieber nach Barmudas gewollt; wahrscheinlich Fräulein Skeat und Lady Victoria. Hatte die Gräfin gedacht, daß diese Beiden die längere Reise vorziehen und sie überstimmt haben würden, wenn die Entscheidung den Damen überlassen worden wäre? Unterdessen trampelten schwere Füße auf dem Deck herum, während die Leute die Segel setzten. Das Schiff konnte fürs erste nur unter doppelt gerefften Gaffelsegeln und Fock-Stagsegeln gehen, und es war kein Spaß, es während des Reffens an den Wind zu halten. Das Wetter war stürmisch und die See ging hoch. Bald aber machte sich die Wirkung der Segel fühlbar, die Jacht war ein gutes Schiff, und als sie sich etwas nach rechts auf die Seite legte und wieder die Wellen zu durchschneiden begann, waren die Damen unten einig darüber, daß segeln viel angenehmer sei als dampfen, und daß sie bei ihrer nächsten Ueberfahrt auf einer Jacht lieber die ganze Reise mit Segeln machen möchten. Aber trotz ihres Muthes und trotz der beruhigenden Auseinandersetzungen von Herrn Barker, der ihnen den ganzen Vorgang genau erklärte, hatten sie doch einen tüchtigen Schreck bekommen und zogen sich bald in ihre Kajüten zurück. Bei der Schwierigkeit

153 aufzustehen und aus der Kajüte zu gehen, traf es sich so, daß Claudius Margarethen half, die Thür zu erreichen. Die Erinnerung an ihren Händedruck und den Blick, als der Unfall eintrat, war lebhaft in ihm und gab ihm Muth. „Gute Nacht, Gräfin," sagte er, „werde ich das Ver­ gnügen haben, Ihnen morgen vorzulesen?" „Vielleicht," antwortete fie, „wenn das Wetter schön ist. Das Schicksal hat ja beschloffen, daß wir reichlich Zeit haben sollen." Er versuchte, einen Blick von ihr auf­ zufangen, als sie seinen Arm losließ, aber es gelang ihm nicht, und so schieden sie bis zum nächsten Morgen. Bar­ ker ging in den Maschinenraum, der jetzt still und selt­ sam aussah; die nutzlose Maschine stand unbeweglich, ge­ rade so wie sie stehen geblieben war, als der Verlust der Schraube, den Widerstand gegen die Kraft des Mo­ tors aushebeud, ihr gestattet hatte, ihre letzten tollen Um­ drehungen auszuführen. Der Herzog und Claudius waren in der Hauptkajüte allein geblieben. „Nun," sagte der Herzog, da haben wir's für dies Mal!" „Jawohl," sagte Claudius, „hoffentlich wird Ihnen die Verzögerung nicht ernstliche Unbequemlichkeiten verur­ sachen, denn ich vermuthe, wir werden New Jork erst in vierzehn Tagen erreichen." „Es macht mir gar keine Unbequemlichkeit. Aber es thut mir Ihretwegen leid — ich meine, um Ihrer aller willen," — setzte er hinzu, er fürchtete, es wäre ungeschickt, so direkt zu Claudius zu sprechen, „denn es wird Ihnen allen so unangenehm, so schrecklich langweilig sein, so lange auf See zu bleiben." „Wir werden es ohne Zweifel überleben," sagte Claudius lächelnd. „Was meinen Sie, wollen wir auf Deck gehen und mit Sturleson plaudern, nun da alles ruhig ist?"

154 „Und ein Pfeifchen?" sagte der Herzog.

„Ich komme

mit Ihnen."

So gingen sie auf Deck und kletterten Rauchzimmer, ohne besonders naß zu werden.

nach dem Sturleson

wurde herbeigerufen, und sie überlegten mit einander ihre Lage. Der Erfolg davon war, daß allen dreien die Sache in hellerem Lichte erschien. Sie waren in einem seetüch­ tigen Schiff, mit guter Mannschaft und genügendem Pro­

viant, hatten nichts vom Wetter zu fürchten und konnten, wenn das Glück günstig, Sandy Hook binnen acht Tagen erreichen. Freilich, es konnte auch anders kommen; aber man

thut immer gut, sehen.

Leute,

eine Sache von der besten Seite anzu­ die Fahrt über den Atlantischen

welche

Ocean in einer Nacht machen,

sind sehr verschieden von

der großen Menge, die aus den großen Hauptlinien hin und her fährt. Sie haben selten Eile und find gewöhnlich schon

oft zur See gewesen.

In seiner

Eigenschaft als

Wirth war dem Herzog vielleicht am unbehaglichsten von

allen zu Muthe. Er begriff nicht, wie die Gräfin und Claudius es überstehen würden, so lange auf einem kleinen Schiff zusammengesperrt zu sein, denn er war überzeugt, daß Barker die ganze Geschichte wiffe. Wenn er Claudius

nicht so gern gehabt hätte, würde er böse auf ihn gewesen sein,

daß er es gewagt, um seine schöne junge Freundin

zu werben. Aber Claudius war eben Claudius, und selbst der Herzog sah an ihm etwas mehr als das große Vermö­ gen, welches ihm ein Recht gab, nach dem Höchsten zu streben. „Ich kann nicht dahinter kommen," sagte der Herzog

einmal zu Barker, „wo Claudius seine guten Manieren her

hat.

Er macht nie einen Verstoß und ist immer voll­

kommen sicher."

155 „Ich weiß nur, daß er vor zehn Jahren nach Heidel­ berg kam und

daß

er ungefähr

dreißig Jahr alt

ist.

Seine Manieren wird er in seiner Jugend irgendwo her­

bekommen haben." „Ja freilich, es giebt viele gute Familien in Schwe­

den," sagte der Herzog, rade so

„aber sie sind alle von Adel, ge­

wie in Deutschland.

Aber Claudius ist nicht

adelig." „Nein," sagte Barker nachdenklich, „ich habe ihn nie sagen hören, daß er von Adel wäre."

„Ich weiß

nichts

davon,"

antwortete

der

Herzog,

„aber ich bin viel in Schweden herum gekommen, und er

ist nicht im mindesten wie ein ehrsamer schwedischer Bür­ ger.

Sagten Sie mir nicht, daß sein Onkel, der ihm das

große Vermögen hinterlassen hat, Ihres Vaters Theilhaber

am Geschäft war?"

„Ja, ich erinnere mich, daß der alte Herr ein paar­ er habe einen Neffen. Jndeffen war er ein schweigsamer Mann, obschon er es verstand Dollars auf­

mal sagte,

zuhäufen." „Claudius ist ebenfalls ein schweigsamer Mann," sagte

der Herzog. „Und ist nun in die aufgespeicherten Dollars hineingesegelt!"

Dies Gespräch hatte vor dem eben beschriebenen ereignißreichen Tage stattgefunden, und der Herzog hatte es

vergessen, obschon er sich die Bemerkungen wiederholt und sie wahr befunden hatte. In Wahrheit sah Claudius mehr

wie ein Herzog aus als sein Gastfreund, denn die Seelust hatte ihm die Spinnweben der Studirstube fortgeweht, und

es schien dem Engländer nicht so gar unpassend, daß sein stattlicher Gast

sich in die Gräfin Margarethe verlieben

156 sollte. Es war nur sehr unbequem, und er wußte nicht recht, was er in den nächsten zehn Tagen mit ihnen an­ fangen sollte. Vielleicht wäre es seine Pflicht, sich der Gräfin zu widmen und so jede Annäherung vonseiten des Doktors fern zu halten. Ja, das war wohl eigentlich seine Schuldigkeit. Er wünschte, er könnte seine Schwester zu Rathe ziehen; aber sie wußte nichts von der Geschichte, und so schien es unzart, wie ein Verrath am Vertranen oder dergleichen. Jedenfalls war es nicht recht, und er wollte es nicht thun. Barker konnte sich auch irren. So war der arme Herzog in größter Verlegenheit wegen „des Sturmes in einer Tasse" und weil sein Schiffchen über­ dies in einem wirklichen Sturm Schaden gelitten hatte; müde ging er in seine Deckkajüte, um über die Geschichte zu schlafen; er dachte, der Morgen würde guten Rath

bringen. Auch Claudius hatte über vielerlei nachzudenken, aber er war sehr müde, denn er hatte in letzter Zeit wenig und in der vergangenen Nacht gar nicht geschlafen, so legte er sich hin und ließ die Ereigniffe des Abends noch einmal an sich vorübergehen; indessen schlief er bald ein und träumte die ganze Nacht von ihr. Die gute Yacht „Streif" setzte ihren Lauf tapfer fort und zitterte vor Freude ob ihrer neuentfalteten Flügel. Denn welch Schiff ist so dumm und so erbärmlich modern, nicht zu fühlen, wie viel lustiger es ist, mit gespannten Wanten und sausenden Segeln und gehobenem Kiel zu der wilden Musik des Windes zu tanzen, als in sich immer eine brennende stampfende Kraft zu fühlen, welche der Mensch, dieses unkünstlerische Geschöpf, in seinem Innern angebracht hat, damit es athemlos hastend nach fremdem Willen sich den Weg bahne, ob es wolle oder nicht? Das

157 bescheidenste Boot, der kleinste Schlepper möchte lieber einen kleinen Mast und ein Stückchen Segeltuch im frischen Winde wehend haben, als all die Hunderte landgeborner Pferdekräfte und Dampfmaschinen, welche unser Eile lie­ bendes Geschlecht in den armen Schisfsleib stopfen kann. Um wie viel mehr muß sich der schöne, zierlich gebaute Streif an jenem Abend gefreut haben, als er fühlte, wie der klopfende knirschende Quälgeist der Menschen in seinem Busen plötzlich stille stand und er wieder seine schönen Flügel ausbreiten durfte, auf daß ihr alter Liebhaber, der Nordost, sie wieder herzte und küßte! Und die hohen schwellenden Wellen stiegen empor und kräuselten ihre dunkeln Häupter bis sie leuchtenden Schaum sprühten, und einige spritzten zornig aufwärts, neidisch, daß der Wind allein die glänzenden Segel berühren dürfe. Aber der Wind brüllte sic an in seiner Wuth und trieb sie fort, so daß sie zurücksanken, den Kampf mit ihm fürchtend; und er nahm das Schiff in seine starken Arme und trug es rasch und weit durch die Nacht, durch manche schwellende Woge, vorüber an manch brechendem Wellenhaupt, weit fort auf unbetretenen Pfaden, wo kein Fußtritt hin­ kommt, und die keine Menschenhand entweiht. Aber drinnen waren klopfende Herzen und das Athmen des Lebens. Der starke Mann streckte sich auf sein Lager aus, mächtig anzusehen in seinem schwer verdienten Schlaf. Und die schöne Frau, mit halbgeöffneten Lippen und wirrem dunkeln Haar, vom Schlummer leicht gerötheten Wangen, hielt die Hände zärtlich in einandergelegt, als ob die Linke endlich wissen wollte, was die Rechte Gutes gethan, die langen Augenwimpern senkten sich mit den Lidern, um das strahlende Licht darunter sicher zu hüten, und ja — da hängt sie noch die einsame Thräne, — sterbliches Siegel

158 sterblichen Leidens! Ist es nicht immer da dieses Perlen­ handzeichen des Schmerzes? Aber die gute Nacht Streif setzte ihren Lauf tapfer fort; und der Nordostwind lachte und jauchzte, während er die Wellen von dem Pfade seines Liebchens forttrieb.

Neuntes Kapitel. Am andern Morgen war der Herzog am ersten auf, und kaum hatte er die Augen geöffnet, so bemerkte er, daß das Wetter besser werde. Die See ging noch hoch, aber man hörte nicht mehr die Wellen über Bord schlagen. Er ging aus seiner Deckkajüte heraus und athmete die frische Morgenluft. Die Gaffelsegel hatten nur noch ein Reff, das Vormarssegel und der Klüver waren beigesetzt. Den Maat fand er dabei, das Patentlog heraufzuziehen. „Neun und einhalb, Ew. Gnaden," sagte er schmun­ zelnd, denn er war an Segelschiffe gewöhnt und konnte Dampfer nicht leiden. „Recht gut," meinte der Herzog und glitt mit seinen bloßen Füßen über das nasse Deck. Dann ging er in die Kajüte zurück, um sich anzukleiden. Bald darauf erschien Herrn Barkers zierliche Person aus der Hauptkajüte kommend. Er schaute sich um, ob schon Jemand oben wäre, aber nur einige rothbemützte Matrosen waren sichtbar, die das Deck mit ihren pendel­ artigen Besen fegten und in geschlossener Reihe vorrückten. Die Phalanx bewegte sich mit regelmäßigen Streichen, und jeder bloße Fuß rückte genau so und so viel Zoll bei jedem dritten Besenstreich vor, während der blonde norwegische

158 sterblichen Leidens! Ist es nicht immer da dieses Perlen­ handzeichen des Schmerzes? Aber die gute Nacht Streif setzte ihren Lauf tapfer fort; und der Nordostwind lachte und jauchzte, während er die Wellen von dem Pfade seines Liebchens forttrieb.

Neuntes Kapitel. Am andern Morgen war der Herzog am ersten auf, und kaum hatte er die Augen geöffnet, so bemerkte er, daß das Wetter besser werde. Die See ging noch hoch, aber man hörte nicht mehr die Wellen über Bord schlagen. Er ging aus seiner Deckkajüte heraus und athmete die frische Morgenluft. Die Gaffelsegel hatten nur noch ein Reff, das Vormarssegel und der Klüver waren beigesetzt. Den Maat fand er dabei, das Patentlog heraufzuziehen. „Neun und einhalb, Ew. Gnaden," sagte er schmun­ zelnd, denn er war an Segelschiffe gewöhnt und konnte Dampfer nicht leiden. „Recht gut," meinte der Herzog und glitt mit seinen bloßen Füßen über das nasse Deck. Dann ging er in die Kajüte zurück, um sich anzukleiden. Bald darauf erschien Herrn Barkers zierliche Person aus der Hauptkajüte kommend. Er schaute sich um, ob schon Jemand oben wäre, aber nur einige rothbemützte Matrosen waren sichtbar, die das Deck mit ihren pendel­ artigen Besen fegten und in geschlossener Reihe vorrückten. Die Phalanx bewegte sich mit regelmäßigen Streichen, und jeder bloße Fuß rückte genau so und so viel Zoll bei jedem dritten Besenstreich vor, während der blonde norwegische

159 Schiffsjunge vor ihnen her mit dem Wafferschlauch spritzte. Herr Barker sah, daß sie ihn nächstens erreichen würden, und beschloß zu fliehen, weder vor- noch rückwärts sondern in die Höhe; er schwang sich in die Wanten und steckte die Füße durch die Webeleinen. In dieser Stellung holte er eine Cigarre heraus, steckte sie mit einem Sturmstreich­ holz an, und trotz der durch die größere Höhe stärker ge­ wordenen Bewegung fing er an zu rauchen. Die Luft unten mußte wirklich sehr drückend gewesen sein, um Herrn Barker dazu zu bringen, vor dem Frühstück — ja in der That, vor acht Uhr — heraufzukommen und im Tauwerk sitzend eine Cigarre zu rauchen. Herr Barker wollte nachdenken, denn ihm war über Nacht etwas eingefallen. Zehn Minuten später hatten die Deckscheurer ihren Parademarsch beendet, und Claudius erschien ebenfalls auf Deck, blaß und verstört aussehend. Er bemerkte Barker nicht, denn wie ein richtiger Seemann, wendete er sich nach der Wetterseite, und das Gaffelsegel verbarg ihn seinem Freund. Bald darauf bekam er auch Lust, in die Höhe zu klettern, denn er fühlte sich matt und beklemmt und wollte gern seine Glieder strecken. Er kletterte bis zu den Quer­ balken des Mastes empor, als er Barker einige Fuß unter sich auf der andern Seite bemerkte. Einen Augenblick hielt er staunend inne, denn diese Art von Zeitvertreib war das letzte, was er von dem Amerikaner erwartet hatte. Da überdies Barker sich auf der Leeseite befand und die Takelage, an der er saß, beinahe senkrecht stand, mußte seine Lage höchst unbequem sein. Claudius war im allge­ meinen nicht zu Späßen aufgelegt, aber einer solchen Ge­ legenheit, einen Menschen zu überraschen, der sich zwischen Himmel und Wasser einer luftigen Einsamkeit zu erfreuen glaubte, konnte er doch nicht widerstehen. So schwang er

160 fich sachte auf die Leeseite hinüber, neigte sich tief her­

unter und nahm Herrn Barker die Mühe mit dem Woll­ büschel in der Mitte vom Kopfe.

Barker klopfte mit seiner

freien Hand die Asche von seiner Cigarre und steckte diese

dann wieder in den Mund; darauf aber griff er sich mit derselben Hand aus den Kopf, um sich zu versichern, daß die Mütze wirklich fort sei. Er wußte sehr gut, daß er in

seiner augenblicklichen Stellung den Kopf nicht nach oben drehen konnte, um zu sehen, wer ihm den Streich ge­ spielt hatte.

„Ich weiß nicht, wer Sie sind," will Ihnen nur sagen,

„aber ich

rief er,

daß mein Leben versichert ist.

Wenn ich mich erkälte, wird Ihnen die Bersicherungsgesellschaft die Hölle heiß machen, so viel steht fest." Ein schallendes Gelächter von unten begrüßte diesen Ausbruch, denn der Herzog und Sturleson hatten den Spaß

zusammen beobachtet. „Ich nehme das Risico auf mich", entgegnete Claudius der jetzt wieder auf der andern Seite war. „Ich werde

die Mütze

auf die Mastspitze setzen,

daß Sie

sie

sich

ordentlich besehen können." „Das können Sie nicht!" sagte Barker, sich umdrehend

und

flach gegen die Webeleinen legend,

so

daß

er zu

seinem Freunde emporschauen konnte.

„Was ist los?" brüllte der Herzog von unten her.

„Er sagt,

er will den Masttopp mit meiner Mütze

schmücken, und ich sage, das kann er nicht", schrie Barker zurück. „Ich wette für Claudius, Einsatz gleich!"

antwortete

der Herzog mit Stentorstimme.

„Ich nehme drei gegen zwei", sagte Barker. „Nein, das will ich nicht! Gleich und gleich."

161 „Gut, also auf hundert Dollars!" antwortete der Amerikaner. Es hieß auf etwas sehr Unwahrscheinliches wetten, und Barker dachte, er hätte dem Herzog den hohem Satz anbieten sollen, anstatt ihn zu verlangen. Aber er nahm gern alles, was er auf anständige Weise bekommen konnte. Als so die Wette abgemacht war, rief Barker Claudius zu, er möge jetzt bis zur Mastspitze klettern, wenn er Lust hätte, er aber, Barker, würde hinuntersteigen, damit er besser zusehen könne, und damit kletterte er hinab. Clau­ dius war, wie gesagt, ungewöhnlich groß, junb Barker hielt es für unmöglich, daß er seine Riesengestalt über die Wanten hinaus in die Höhe ziehen könne. Wenns möglich wäre, war er gern bereit sein Geld dafür zu zahlen, um es zuzusehen. Claudius steckte die wollene Mütze in die Tasche und fing an zu klettern. Das Dampfboot führte, wie gesagt, eine Schooner-Takelage mit Raaen am Fockmast, aber es waren keine Webeleinen an den Hauptmastwanten, die ungefähr bis zu zehn Fuß unterhalb der Mastspitze reichten. Bis dahin kletterte Claudius mit Leichtigkeit, Arm und Beine gegen die straff gespannten Taue stem­ mend. Der Herzog jauchzte ihm zu, als er bis soweit gekommen war. „Nun kommt der Hauptstreich!" sagte der Herzog. „Er kann's aus keinen Fall", sagte Barker zuversichtlich. Allein Barker hatte die ungewöhnliche Kraft des Mannes unterschätzt, gegen den er gewettet; er wußte nicht, wie oft Claudius als Knabe höhere Masten als die des Streif erklommen hatte. Der Doktor war einer jener gebornen Athleten, deren Stärke auch bei Mangel an Ucbuüg nicht abnimmt, und obschon groß und mächtig gebaut, Crawford, Doktor Claudius.

11

162 war er doch nicht so schwer wie Barker dachte. Jetzt zog er die Mütze aus der Tasche und hielt sie zwischen den Zähnen, während er das glatte Holz mit Armen, Händen und Beinen packte und mit festen gleichmäßigen Bewegungen die kahle Stenge emporklomm. „Da — sagte ich's nicht!" rief Barker. Claudius war etwa um einen Fuß zurückgerutscht. „Er wird's doch durchsetzen!" sagte der Herzog, als der Kletternde mit seinen mächtigen Händen die Stenge er­ faßte. Er wollte nicht noch einmal abgleiten, sein Blut war in Wallung, und es schien ihm fast, als ob sein eiserner Griff sich tief ins Holz preßte. Ganz langsam Zoll für

Zoll wurden diese letzten drei Fuß überwunden, und die breite Hand tastete vorsichtig nach dem kleinen hölzernen Knopf aus der Mastspitze, bis sie ihn fest gepackt hatte, — dann kam die andere, und mit beiden Händen zog er seinen Körper in die Höhe, bis der Knops seiner Brust gegenüber war. „Heil dem Wiking!" schrie gellend der alte Sturleson, der schwedische Kapitän; sein sonnverbranntes Gesicht er­ glühte im Triumph, als Claudius die wollene Mütze auf die Mastspitze setzte. „Brav gemacht, Mann!" brüllte der Herzog. „Gut"; sagte Barker, „es war jedenfalls das Geld werth." Von der Thür der Hinterkajüte ertönte ein schwacher Schrei; aber keiner der drei Männer hörte ihn, noch sahen sie ein entsetztes Gesicht, leichenblaß mit weit geöffneten Augen zur Mastspitze emporstarren, wo des Doktors ath­ letische Gestalt mit dem Schwanken der Nacht weit über das Waffer hinaus hin und her schaukelte. Die Zeit war rasch vergangen, und das helle Sonnenlicht, welches in die

163 Damenkajüte strömte, hatte Margarethen Sehnsucht nach frischer Luft gemacht; als dann Lady Victoria in allerlei Jacken und blauen Gewändern erschien, frisch und zu allem aufgelegt, hatten die beiden gemeinsame Sache gemacht und sich ohne männlichen Beistand die Treppe heraufge­ wagt. Zufällig kamen sie gerade in dem Augenblick auf Deck, als Claudius sein Wagstück ausführte, und als Mar­ garethe die drei Männer mit gespannter Aufmerksamkeit nach oben schauen sah, blickte sie auch hin und war ent­ setzt. Lady Victoria fing fie aus und hielt sie fest, sonst wäre sie bei dem Schaukeln des Schiffes ausgeglitten. Lady Victoria blickte auch auf und erfaßte die Situation mit einem Blick. „Fürchten Sie nichts", sagte sie, „er ist der Sache gewachsen. Mein Bruder konnte es auch thun, ehe er so dick wurde." Claudius kletterte schnell herunter, aber er verlor bei­ nahe den Halt, als er Margarethen an den Heckbord ge­ lehnt stehen sah. Nicht um die Welt hätte er von ihr gesehen werden wollen, und da stand fie und hatte augen­ scheinlich den ganzen Vorgang mit angesehen. Ehe er das Deck erreichte, hatte der Herzog sie auch bemerkt und eilte auf sie zu. Sie war sichtlich erregt. „Wie können Sie so etwas zulaffen?" sagte sie empört

und sah ihn mit blitzenden Augen an. „Ich kann nichts dafür, Gräfin. Aber er hat es prachtvoll gemacht." Claudius hatte das Deck erreicht und den Kompli­ menten von Barker und Sturleson ausweichend, eilte er nach der Kajütenthür und grüßte die Damen im Vorüber­ gehen. Aber Margarethe war entschlossen, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß er sie so sehr erschreckt hatte.

11'

164 „Doktor Claudius", sagte die Stimme, welche er liebte und fürchtete. „Ja, Gräfin", sagte er und hielt sich an der Thür, da das Schiff schwankte. „Bitte, wollen Sie hierher kommen, ich möchte mit Ihnen sprechen." Er trat neben sie und erwartete sein Schicksal. „Glauben Sie, daß Sie ein Recht haben, Ihr Leben für solche Thor­ heiten aufs Spiel zu setzen?" fragte sie, als er neben ihr stand. Der Herzog und Lady Victoria standen dicht dabei. „Ich glaube nicht, daß ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, Gräfin. Ich habe so etwas schon oft gethan." „Glauben Sie also, daß Sie ein Recht haben, so etwas in Gegenwart ängstlicher Frauen zu thun?" „Rein, Gräfin, auf solche Rohheit mache ich keinen Anspruch, und es thut mir aufrichtig leid, daß Sie mich ganz wider Erwarten gesehen haben. Ich bitte Sie und Lady Victoria demüthig um Entschuldigung, weil ich Sie erschreckt habe." Damit verneigte er fich vor des Herzogs Schwester und wollte gehen. Er hatte sich schon umge­ wendet, als Margarethens Gesicht milder wurde. „Doktor Claudius!" rief sie nochmals. Im Augen­ blick war er an ihrer Seite. „Bitte thun Sie es nie wieder — auch wenn ich nicht dabei bin." Sie sah ihn an; erfand es sonderbar. Ihn ärgerte die ganze Geschichte, und er war ärgerlich auf sich selbst. Sie hatte so leise gesprochen, daß die andern sie nicht mehr hören konnten. „Gräfin", sagte er in spöttischem Tone, „ich verpflichte mich, in Zukunft nie wieder eine Mastspitze ohne Ihre ausdrückliche Erlaubniß zu erklettern." „Sehr gut", sagte fie kalt, „ich werde Sie beim Wort nehmen."

165 Aber Claudius sah sein Versehen ein, und es war keine Spur von Ironie in seiner Stimme, als er ihr fest ins Auge schaute und antwortete. „Glauben Sie mir, ich werde jedes Versprechen halten, das ich Ihnen gebe", sagte er mit tiefem Ernst und ging. Lady Victoria, die taktvoll war und gemerkt hatte, daß Margarethe dem Dok­ tor etwas sagen wollte, hatte unterdeffen den Herzog in Anspruch genommen, indem sie ihn über das Wagstück ausfragte, und er war in die Falle gegangen und hatte begonnen, die Geschichte von Anfang an mit lauter Stimme zu erzählen, um Claudius seine Anerkennung zu zeigen. Der aber machte sich wenig aus seinen Lorbeeren; er ging fort, setzte sich in seine Kajüte und versank in tiefes Nach­ denken. Barker hatte aus einiger Entfernung das Gespräch zwischen Margarethe und dem Dottor beobachtet. Er kam heran und murmelte vor sich hin, daß die Verwicklung zu­ nähme. „Wenn Claudius auf der Mastspitze Hauffe spielt, werden die Aktien steigen", dachte er und erinnerte sich auch, daß seine eben im Sinken wären. „In diesem Fall" fuhr er in seinem Gedankengang fort — „keine Mltstspitzen mehr!" „Guten Morgen, Gräfin. Lady Victoria, Guten Morgen", sagte er sich verbeugend. „Ich möchte meinen Hut abnehmen, wenn ich könnte, aber der Doktor hat die Freiheitsmütze hoch aufgesteckt." Lady Victoria und der Herzog lachten, Margarethe aber sagte ohne ein Lächeln guten Morgen. Barker ließ den Gegenstand sofort fallen und fing an, vom Wetter gu sprechen, was immer ein unerschöpfliches Thoma ist, wenn recht viel davon vorhanden. Es war jetzt klar, daß sie einen heftigen Sturm durchgemacht, der sich nach Süden gewendet hatte. Die See war natürlich noch nmuhig,

166 aber der Wind hatte nachgelassen, und um zwölf Uhr machte die Jacht neun bis zehn Knoten und ging unter einer steifen Brise mit vollen Segeln. Der Herzog war den ganzen Tag über voll Aufmerk­ samkeit gegen Margarethe und kam ihr kaum von der Seite, ob sie unten oder auf Deck war, er brachte ihr Bücher und Decken, rückte ihr den Stuhl zurecht und übte durchweg das Amt eines treuen Dieners oder Sklaven. So oft Claudius in Sicht kam, machte der Herzog ver­ zweifelte Anstrengungen, unterhaltend zu sein und verlän­ gerte seine Sätze mit allen möglichen Superlativen und Kraftausdrücken, die ihm nur in den Sinn kamen, zahl­ loser „wie Sie wissen" gar nicht zu gedenken. Seine Be­ mühungen, sich angenehm zu machen, besonders wenn irgend welche Wahrscheinlichkeit vorhanden war, daß Claudius sich ins Gespräch mischen könnte, waren so deutlich, daß Mar­ garethe annehmen mußte, es läge ein besonderer Grund für solche Kraftanstrengung vor. Es belustigte sie zwar, aber sie ärgerte sich auch zugleich über das, was sie als unnöthige Dicnstfertigkeit von feiten ihres Wirthes ansah. Indessen war er ein so alter Freund, daß sie ihm vergab. Frauen sträuben sich gegen Zwang. Sich selbst überlassen, würde sie Claudius gemieden haben; gewaltsam von ihm getrennt, entdeckte sie, daß sie ihn zu sprechen wünschte. Als im Verlauf des Tages die Aufmerksamkeiten des Her­ zogs nicht aufhörten, wurde sie nervös und bedachte sich, wie sie ihn loswerden könnte. Es war nicht leicht. Wenn sie etwas verlangte, stürzte er fort, es zu holen, und kam athemlos zurück, und natürlich war grade in solchen Augen­ blicken Claudius nicht zur Hand. Dann rief sie Fräulein Skeat herbei, aber des Herzogs Beredsamkeit verdoppelte sich, und er sprach mit beiden auf einmal; endlich gab sie

167 es in Verzweiflung auf und sagte, sie wolle sich ein Weil­ chen hinlegen. AIs sie sicher in ihrer Kajüte war, athmete der Herzog tief auf und ging Barker suchen. Infolge des Einfalls, der sich über Nacht in seinem fruchtbaren Gehirn entwickelt hatte, strengte Barker sich den ganzen Tag an, Claudius zu unterhalten, und zwar mit eben so großer Aus­ dauer, wie der Herzog gezeigt hatte, indem er sich der Gräfin widmete, aber mit besserm Erfolge; denn Barker konnte sehr unterhaltend sein, wenn er wollte, während der Herzog gewöhnlich am amüsantesten war, wenn er es nicht sein wollte. Er fand die beiden im Rauchzimmer, Clau­ dius lang ausgestreckt, mit einer Cigarre im Munde, Bar­ ker mittelst geschickter Vertheilung seiner verschiedenen Kör­ pertheile anscheinend zugleich auf dem Tisch, dem Stuhl und dem Heckbalken sitzend und endlose Geschichten, mit ächt westlichem Witz gewürzt, erzählend. Der Herzog war von seinen Anstrengungen erschöpft und erquickte sich mit Bier, ehe er zu einem Spiel auf­ forderte. „Aufrichtig gesagt, Herzog", entgegnete dieser, „mir ist heute nicht danach zumuthe, Ihnen Geld abzugewinnen. Ich will zu den Damen gehen und mich mit ihnen unter­ halten, und Claudius kann mit Ihnen spielen." „Da werden Sie nicht gut ankommen", sagte der Her­ zog, „die Gräfin ist zu Bett gegangen, und Fräulein Skeat liest mit meiner Schwester englische Geschichte." „Ueberdies", fiel Claudius ein, „wissen Sie, daß ich nie spiele." „Nun", sagte Barker seufzend, „dann will ich mit Ihnen spielen, und Claudius kann hier ein bischen schlafen." Sie hoben ab und theilten aus. Aber Claudius war gar nicht schläfrig. Als das Spiel im vollen Gange war, stand

168 er auf und ging hinaus, indem er für sich dieselbe Be­ merkung machte wie Margarethe gethan: „Warum ist mein Freund heute so bestrebt, mich zu unterhalten?" Er achtete fönst selten auf solche Dinge, aber sein klarer Verstand löste die Frage schnell, als er nur erst angefangen hatte, darüber nachzudenken. Barker hatte die Wahrheit ganz yder zum Theil errathen und mit dem Herzog verabredet, Claudius und Margarethe so lange als möglich von ein­ ander fern zu halten. Er ging in die Kajüte hinunter, da saßen Fräulein Skeat und Lady Victoria und lasen sich vor, ganz wie der Herzog gesagt hatte. Er ging durch den Gang und begegnete dem Steward, den er abschickte, um nachzu­ sehen, ob die Gräfin im Damensalon wäre. Der rothwan­ gige grauhaarige Silenuspriester berichtete, Gräfliche Gnaden wären da und allein, wie er mit Nachdruck hmzusctzte. Claudius ging hinein und war nicht ent­ täuscht. Da saß sie am Tische an ihrem gewohnten Platze, schön wie immer, und sein Herz schlug schnell. Sie blickte nicht auf. „Gräfin", begann er schüchtern. „Ach, Doktor Claudius! sind Sie es? Bitte setzen Sie sich." Er setzte sich auf den Heckbalken, so daß er das Abendlicht durchs Fenster über ihm aus ihr Profil fallen sah, und wie das Schiff fich hob und senkte, spielten die Sonnenstrahlen aus ihrem dunkeln Haar. „Ich habe Sie ja den ganzen Tag nicht gesehen", sagte fie. „Nein, Gräfin." Er wußte nicht, was er zu ihr

sagen sollte. „Ich

3hr thörichtes Wagstück von heute früh

169 hat Ihnen nicht geschadet?"

Ihre Stimme war fest und

abgemessen, weder zu freundlich noch zu kalt. „Wie man es nehmen will. Es» hat mir unendlich geschadet, in so fern, als ich Ihnen mißfallen habe.

Wollen

Sie mir vergeben?" ,,Jch will Ihnen vergeben", im selben Ton.

„Wollen Sie es wirklich? daß Sie mir vergeben, was

Wollen Sie damit sagen,

ich

— gestern Abend

zu

Ihnen sagte?" „Das habe ich nicht gesagt", antwortete sie, und ihre Stimme

klang

etwas

matt.

Claudius

sah

niederge­

schlagen aus. „Das thut mir sehr leid", sagte er schlicht.

„Mir auch. Ich habe mich in Ihnen mehr getäuscht, Sie sind genau wie alle andern, und

als ich sagen kann.

ich

hatte gedacht, Sie wären ganz

anders.

Sie mich?" „Nicht ganz, aber ich will's versuchen. mir nicht deutlich sagen, was Sie meinen?"

Verstehen

Wollen Sie

„Ich denke, ich will es", sagte sie aufblickend, aber ohne Claudius anzusehen. Sie zauderte einen Augenblick,

dann fuhr sie fort: „Wir sind keine Kinder, Doktor Clau­ dius. Wir wollen deutlich mit einander sprechen und «ns nicht mißverstehen." Dann sah sie sich in der Kajüte um, ob sie allein wären. Augenscheinlich war sie nicht ganz

beruhigt.

„Rücken Sie meinen Stuhl näher ans Sopha,

bitte", schte sie hinzu.

Er stand auf und that, wie sie

gebeten. „Ich habe nicht viel zu sagen", fuhr sie fort,

„aber

ich möchte es nicht vor der ganzen Schiffsgesellschast sagen.

Es ist dies: Ich glaubte, ich hätte in Ihnen einen Freund gefunden, einen Mann, der mir sein sein würde, was kein

170 andrer mir je gewesen — ein wahrer Freund. Und nun bin ich enttäuscht, denn Sie wollen etwas anderes sein. Das ist alles —‘nur noch dies: es ist nicht daran zu denken, und Sie müssen gehen." Ein Engländer würde ihr vorgeworfen haben, daß sie ihn ermuthigt hätte; ein Italiener würde in leidenschaft­ liche Betheuerungen seiner Liebe ausgebrochen sein, in der Hoffnung, sie durch sein Feuer zu entzünden. Aber der große ruhige Nordländer drückte seine Hände fest aufs Knie und saß ganz still da. „Sie müssen gehen —" wiederholte sie. „Ich kann nicht", sagte er ehrlich. „Das ist ein Grund mehr, weshalb sie sofort gehen sollten", antwortete sie mit weiblicher Logik. „Lassen Sie uns zwei Tage zurückgehen und so sein wie vordem. Wollen Sie nicht vergessen?" „Wir können es nicht — Sie können es nicht und ich auch nicht. Sie können Ihre Worte nicht zurücknehmen noch ableugnen." „Das verhüte Gott!" sagte er mit tiefstem Ernst. „Aber wenn Sie mich als Freund annehmen wollen, so verspreche ich, Ihnen zu gehorchen, und nie wieder will ich etwas sagen, was Ihnen mißfallen könnte." „Das können Sie nicht", sagte sie und lachte bitter. „Ich kann es und will es; wenn Sie mich taffen wollen. Zch bin sehr stark und werde mein Wort halten"; und wirklich sah er wie die verkörperte Kraft aus, als er mit gefalteten Händen und ernstem Gesichte dasaß und auf ihre Antwort wartete. Seine Worte waren nicht be­ redt, aber schlicht und wahr, und er meinte sie ernst. Es lag etwas in der gedämpften Kraft seiner Stimme, was

171 das Lächeln von Margarethens Antlitz bannte, und sie sah ihn an. „Könnten Sie es wirklich?" fragte sie. Aber die Thür ging aus, und Lady Victoria kam mit ihrem Buch in der Hand herein. „Oh!" rief Lady Victoria. „Ich muß gehen und mich ankleiden", sagte Claudius. „Wir wollen morgen weiter lesen", sagte die Gräfin, und er ging mit leichtem Herzen davon. Am nächsten Morgen fing der Herzog an, der Gräfin Gesellschaft zu leisten, wie er es am Tage zuvor gethan, und Barker ließ zur Belustigung von Claudius das Feuer­ werk seiner glänzenden Unterhaltung los. Claudius hielt über eine Stunde ganz still und freute sich vielleicht im Stillen auf die Ueberraschung, welche er Barker und dem Herzog machen würde. AIs Barker eben eine besonders brillante Geschichte zu Ende erzählt hatte, für deren Wahr­ heit er sich in allen Einzelheiten verbürgte, stand Claudius ruhig auf und warf seine Cigarette fort. „Das ist eine sehr gute Geschichte", sagte er. „Adieu bis auf Weiteres. Ich gehe, um mit der Gräfin zu lesen." Barker fiel beinahe vom Stuhl. „Na aber —" fing er an, brach aber kurz wieder ab. „Ach so, sehr schön. Sie ist auf Deck. Ich sah, wie der Herzog ihre Decken und sonstigen Sachen heraustrug." Sein dicker Schnurrbart schien fich zu entkräuseln, sein Kinn sank langsam herunter, als er zusah, wie Claudius die Kajüte verließ. „Wenn ich nur wüßte, wann sie Gelegenheit gefunden -------- ", sagte er zu sich. Aber Barker war noch lange nicht so erstaunt wie der Herzog.

172 Dieser saß an Margarethens Seite, neben dem Steuer­ rad und machte Konversation. Er erzählte ihr solche schöne Geschichte von einem gemeinsamen Freunde — dem Sohn des Großkanzlers in dem großen Reiche Kakotopia —, der beim Kartenspiel seine Frau an einen andern gemeinsamen Freund verspielt hatte. „Und die Pointe von der Geschichte ist", sagte der Herzog, „daß die Dame garnichts dagegen hatte. Denken Sie nur, wir kannten sie alle, und jetzt ist sie wieder verheirathet an —" In diesem Augenblick trat Claudius herzu, und Margarethe, die keine Lust hatte noch mehr zu hören, unterbrach den Herzog. „Doktor Claudius, ich habe unser Buch hier. Wollen wir lesen?" Der Doktor wurde roth vor Freude. Der Herzog riß die Augen aus. „Ich will einen Stuhl holen", sagte Claudius, und für seine langen Beine war das eine, kurze Sache. „Ja, und wenn Sie's glauben wollen", sagte der Her­ zog, der seine Geschichte durchaus zu Ende bringen wollte, „als sie geschieden waren, heirathete sie garnicht einmal den Mann, der sie beim Kartenspiel gewonnen hatte, son­ dern einen andern, den Sie garnicht kennen, und sie lebm in Italien, in derselben Stadt." Der Herzog traute kaum seinen Augen, als Claudius ganz kühn anrückte und sich an Margarethens andre Seite setzte. Sie lehnte sich zurück, sah vor sich hin und blätterte zerstreut in ihrem Buche. Augenscheinlich erwartete sie, daß der Herzog gehen sollte, aber ersaß noch eine volle Minute lang da und stierte Margarethe an. Endlich sprach sie. „Das war keine hübsche Geschichte. Wie sonderbar! Ich habe beide gut gekannt. — Doktor Claudius, besinnen Sie sich, wo wir stehen geblieben sind?"

173 „Seite einhundertundneunzehn", sagte der Doktor, der nie etwas vergaß. Dies sah geschäftsmäßig aus, und der Herzog stand auf. Sein Rückzug sah etwas ungeschickt aus. Wie gewöhnlich ging er, seinen Zorn an Barker auszulassen. „Barker", begann er mit Nachdruck, „Sie sind ein Esel." „Das weiß ich," sagte Barker demüthig, „ich sage es mir schon seit einer Viertelstunde, und es ist wahr! Sagen Sie es noch einmal. Es thut mir wohl." „O das genügt. Wenn Ihnen die Thatsache klar ist, bin ich zufrieden." „Die Erkenntniß ist mir vor einigen Minuten aufge­ gangen. Claudius war hier," sagte Barker. „Er war auch da und ist jetzt noch da," sagte der Herzog„Ich vermuthe, wir sprechen von derselben Sache?" „Von Ihnen weiß ichs nicht," sagte der andere. Ich spreche von Claudius und der Gräfin. Sie hatten gestern keine Gelegenheit, mit einander zu sprechen, und nun bittet fie ihn, ihr vorzulesen, und das gerade, als ich ihr eine ganz köstliche Geschichte erzählte." Der spöttische Zug zog sich langsam um Herrn Barkers Mund. Er hatte sich heute rasiren können, und die tiefe Falte war deutlich sichtbar. „O sie bat ihn, ihr vorzulesen, wirklich?" Dann fluchte er langsam und bedächtig, als ob er's ernstlich

meine. „Was zum Teufel fluchen Sie so?" fragte der Herzog. „Wenn es nicht wahr ist, daß sie ihn abgewiesen hat, sollten Sie sich freuen." Und er stopfte seine ordinäre kleine Pfeife voll Tabak.

174 „Na natürlich freue ich mich. Ich fluchte über meine eigene Dummheit. Natürlich bin ich sehr froh, wenn sie ihm keinen Korb gegeben hat." Er lächelte mit sehr frag­ würdigem Lächeln. „Sehen Sie her" — fing er wieder an. „Nun, ich sehe, wie Sie's zu nennen belieben." „Also, sehen Sie, sie muffen gestern mit einander ge­ sprochen haben. Er war eben hier bei mir und stand plötzlich auf und sagte, er gehe, um mit ihr zu lesen. Und Sie sagen, sie bat ihn ihr vorzulesen, als er nach oben kam." „Rief ihn quer übers halbe Deck und noch dazu als ich mitten in meiner Geschichte war — eine Geschichte erster Klasse!" „Sie macht sich nicht viel aus Geschichten," meinte Barker, „aber darauf kommt es nicht an. Es war augen­ scheinlich eine abgekartete Sache." „Sie meinen eine Verabredung", sagte der Herzog. „Ja, sie müssen es irgend wann gestern verabredet haben. Aber ich hatte sie ja keinen Augenblick allein gelassen, bis sie sagte, sie wollte sich ein Weilchen hinlegen." „Und ich verließ ihn keinen Augenblick, als bis Sie mir sagten, sie wäre zu Bett gegangen." „Dann hat sie sich also nicht hingelegt," sagte der Herzog. „Wenn sie nicht gelegen hat, so hat sie gelogen," sagte Barker in bitterem Scherz. „Damen lügen nicht," sagte der Herzog, der das Wort nicht leiden konnte und lachte nicht. „Natürlich. Wir beide find ein Paar Narren und haben fie beschützt, während fie gar nicht beschützt werden wollte. Sie wird uns nun dafür hassen. Ich bin empört.

175 Ich will meinen Kummer ertränken. Bitte, wollen Sie schellen?" ,,Sie sollten lieber Apollinariswasser trinken. Grog würde Ihnen in den Kopf steigen. Ich habe Sie noch nie so ärgerlich gesehen." Der Herzog drückte auf den elektri­ schen Knops. „Mir ekelt vor dem Wasser," sagte Barker und biß die Spitze seiner Cigarre ab. Der Herzog hatte in Aegypten einen Mann gesehen, der schwarzen Schlangen die Köpfe abbiß; der fiel ihm in diesem Augenblick ein. Der Steward erschien und als die Vorkehrungen getroffen waren, bestand das Meer, in welchem Barker sein Leid ertränken wollte, in einem kleinen Glase stark verdünnter Mischung von Champagner, Magenbitter, Limonen und Sodawaffer. Der Herzog trank auch, und es schmeckte ihm sehr gut. „Es kommt nicht auf die Worte an," sagte Barker, das Gespräch wieder aufnehmend. „Sie entschlüpften uns und trafen zusammen. Das ist klar." „Wie es scheint auf ihren Wunsch," sagte der Herzog. „Wir müssen einen Schlachtplan entwerfen," meinte Barker. „Warum? Wenn Sie ihm keinen Korb gegeben hat, ist alles in Ordnung. Wir haben nichts weiter dabei zu thun. Mögen sie ihre eigenen Wege gehen." „Sie find ein alter Freund der Gräfin, nicht wahr?" fragte der Amerikaner. „Nun denn, würden Sie es gern sehen, wenn sie Claudius heirathete?" „Auf mein Wort," sagte der Herzog, „ich wüßte nicht, was ich dabei mitzureden hätte. Aber da Sie einmal fragen, so sehe ich nicht ein, was ich dagegen haben könnte. Er ist ein Gentleman, — hat Geld, massenhaft! — wenn er ihr gefällt, so möge sie ihn doch heirathen, wenn sie

176 Lust dazu hat. Es ist durchaus paffend, daß fie sich wie­ der verheirathet; sie hat keine Kinder, und die Güter in Rußland sind an den nächsten männlichen Erben gefallen. Ich wollte fie nur vor einer peinlichen Lage behüten. Ich wollte nicht, daß Claudius immer um sie sein sollte, wenn es ihr nicht recht wäre. Sie will es aber, und somit ist die Sache abgethan. O glorreicher englischer Menschen­ verstand! Was bist Du für ein köstlich Ding, wenn man Dich beim rechten Ende anfaßt!" Sie mögen recht haben," sagte Barker mit einer Miene von Ueberlegenheit, welche bedeutete: Sie haben entschieden unrecht. „Aber könnte ihr Claudius in der ausländischen Gesellschaft die Stellung"--------„Verdammte Gesellschaft!" rief der Herzog. „Glaubm Sie, die Witwe des Grafen Alexis könne sich nicht ihre Gesellschaft wählen? Ueberdies ist Claudius ein Gentleman,

und das genügt." „Wahrscheinlich ist er das," sagte Herr Barker in be­ dauerndem Ton. „Wahrscheinlich? Hier ist gar nicht von wahrscheinlich die Rede. Er ist ein Gentleman." Und der Herzog sah seinen Freund an, als ob er sagen wollte: „Wenn ich ein wirklicher, greifbarer, fühlbarer, erblicher Herzog nicht er­ kennen kann, wer ein Gentleman ist, was können Sie dann davon verstehen? Das möchte ich doch missen!" Da­ mit war die Sache zu Ende. Aber Herr Barker war unruhig in seinem Innern. In ihm arbeitete ein Gedanke, welcher der Verbindung von Claudius und Margarethe geradezu entgegenlief, und als er Tag für Tag den Verkehr zwischen beiden mehr und mehr den alten vertraulichen Ton annehmen sah, knirschte er seine goldgefüllten Zähne mit steigendem Aerger. Er

177 suchte nach Gelegenheiten, um etwas zu thun oder zu sagen, was die Stunden abkürzen möchte, welche Claudius schein­

bar lesend mit ihr zubrachte.

Scheinbar?

Allerdings, die

ersten Tage nachdem sie ihm erlaubt hatte, wieder zu ihr zu kommen, waren Muster beispiellosen Fleißes und strenger Regelmäßigkeit,

nur

ganz sachliche Bemerkungen unter­

brachen von Zeit zu Zeit den regelmäßigen Fortschritt von Zeile zu Zeile, von Seite zu Seite, von Absatz zu Absatz,

von Kapitel zu Kapitel.

Bald aber wurden die kritischen

Bemerkungen minder sachlich, die Erläuterungen ausführ­

licher,

die Zunge

beredter,

der Blick minder befangen.

Die Wahlverwandtschaft ihrer beiden Herzen machte sich mächtig fühlbar und sagte:

„Wir beide sind für einander

geschaffen, wir verstehen uns, und diese thörichten Sterb­ lichen, welche uns in ihrer Brust tragen, sollen uns nicht trennen."

Und aufrichtig gesagt, die thörichten Sterblichen

gaben sich keine besondere Mühe dabei.

Margarethe glaubte nicht, daß Claudius sein gegebenes Wort brechen könne, und er wäre eher gestorben, als seinem Gelübde untreu ge­

worden. So saßen sie fast den ganzen Tag neben einan­ der mit dem Buche, scheinbar lesend, in der That meist sprechend. Manchmal gerieth eins oder das andre zu nahe an die verbotene Grenze,

dann trat eine augenblickliche

Pause und die leiseste Spur von Befangenheit ein; und einmal lachte Margarethe mit eigenthümlichem leisen Lachen bei solcher Gelegenheit, und einmal seufzte Claudius. Sie glücklich, und die leichte Nöthe, welche des Doktors weißer klarer Gesichtsfarbe eigen war, kam

waren aber sehr

wieder, da die Last von seinem Herzen genommen war, und Margarethens braune Wange bräunte sich noch mehr in Sonne und Wind, wogegen

sie ihr Gesicht nicht zu

schützen bemüht war, manchmal aber erglühte sie von wärCrawford, Doktor Claudius.

178 merer Farbe, vor Vergnügen — oder wovon? Sie meinte vom Seewinde. ,,Wie wohl die beiden aussehen!" äußerte Lady Victoria einmal gegen Herrn Barker. „Ich habe Claudius geisterbleich gesehen," sagte Barker, denn er fand, sie sähen eigentlich „zu wohl" aus. „Ja freilich; erinnern Sie sich wohl, den einen Mor­ gen, ich denke, es war den Tag vor oder den Tag nach dem Unfall, da dachte ich, er würde ohnmächtig werden." „Vielleicht war er seekrank," meinte Barker. „O nein, wir waren damals schon acht Tage unter­ wegs, und er war ja von Anfang an nie krank." „Vielleicht war er liebeskrank," fügte der andere, ab­ sichtlich boshaft. „Wie lächerlich! An so etwas zu denken!" rief die kräf­ tige junge Engländerin, denn sie war noch sehr jung, ob­ gleich sie schon verheirathet war. „Aber wirklich," fuhr sie fort, „wenn ich einen Roman fchreiben wollte, würde ich die beiden darin anbringen, sie sind so ungewöhnlich schön. Wenn ich Bücher schriebe, würde ich all meine Helden und Heldinnen schön schildern." „Dann fürchte ich, wird Ihre Feder mich nie für die Nachwelt verewigen, Lady Victoria!" sagte Barker lächelnd. „Nein," sagte sie, indem sie ihn prüfend ansah, „ich glaube nicht, daß ich Sie in meinem Buche anbringen würde, aber mich selbst eben so wenig." „So?" grinste Herr Barker, „für das Buch wäre das ein Verlust, aber für mich ein Gewinn." „Wie so?" fragte Lady Victoria. „Weil wir beide „fein raus" sein würden," sagte er, triumphirend seinen Witz anbringend. Aber Lady Victoria

179

mochte weder Herrn Barker noch seine Witze besonders gern. Sie hatte das schon einmal ihrem Bruder gesagt; sie hielt ihn für boshaft. „Nun, Vick," sagte ihr Bruder gutmüthig, „ich glaube, du hast recht; aber er amüsirt mich, und an Zahltagen ist er sehr pünktlich." Lady Victoria hatte sich übrigens nicht geirrt, Herr Barker war boshaft, sie wußte aber nicht, daß sie das einzige Mitglied der Gesellschaft war, dem er das zu zeigen wagte, weil er sie für dumm hielt, und weil es ihm solch eine Erleichterung war, von Zeit zu Zeit etwas Boshaftes zu sagen. Er widmete sich eifrig Fräulein Skeat, da Margarethe seine Dienste nicht annehmen wollte und ihm keine Gelegenheit gegeben hatte, sie ihr anzubieten. Die Tage gingen für einige aus der Gesellschaft schnell, für andre langsam dahin und für den Herzog so ziemlich wie überall, darum hatte er keine besondere Eile, nach New Jork zu kommen. Seine Geschäfte waren groß genug, um warten zu können, und er hatte sich reichlich Zeit gegönnt, und obschon er über diese Dinge selbst mit Barker nicht sprechen mochte, erschien ihm das Geschick von Claudius und Margarethe im Vergleich zu den größern Schicksalen der Green Swash Mining Company wie ein niedriger schmuck­ loser Maulwurfshügel im Vergleich zur Herrlichkeit des Himalayagebirges. In England hatte man die finan­ ziellen Handlungen des Herzogs getadelt. Warum hatte er die Tabaksdose verkauft, welche Maria Theresia seinem Ahnherrn — nun man wußte ja wann, geschenkt hatte? Warum hatte er die wurmstichigen Handschriften, in denen manch werthvolle Dinge in allerlei alten Sprachen verzeichnet standen, in klingende Münze umgesetzt? Und warum hatte er seine Güter in Pfund, Schilling und sogar in Pence 12*

180 verwandelt? Ahnen

Pence,

man denke nur!

hatte er um Pence verkauft!

Die Güter seiner Dahin war es ge­

kommen! Ueber dies und vieles andre höhnten die Spötter

mit aller Macht.

Aber keiner außer dem Herzog wußte,

wie viel weite Felder mit reifendem Korn

und rebenbe­

pflanzte Hügel und meilenlange Strecken blanker Schienen

und Land reich an Gold und Silber und reichen Schwefellagern der

Herzog in jenem großen Lande jenseits

Meeres besaß, auf welchem England,

des

wenn es ganz und

gar hinüber gebracht würde, so schwer zu finden sein dürfte,

wie ein Groschenstückchen ans einem Felde von zehn Morgen. Aber der Herzog erzählte nichts davon.

Er betrieb seine

Geschäfte im Stillen, denn in seinem Herzen sagte er zu

sich: „Still! ich habe Kinder zu versorgen, und wenn dem alten Lande etwas

zustoßen sollte,

will ich für sie einen

Biffen Speck im neuen bereit halten; da mögen sie sich Farmer oder Herzöge nennen, soll mir gleich sein.

Aber

der Noth soll's ihnen nicht an ein paar hunderttausend Acker Land, noch an einer Kuh und ein in der Stunde

paar Schweinchen fehlen."

Der Wind hielt an, und der alte Sturleson sagte, sie

hätten eine prächtige Fahrt; seitens der Natur war das ge­ wiß ein Bemühen, den von ihr angerichteten Schaden gut zu machen. Aber die Tage flogen dahin, und doch waren sie noch nicht am Ende ihrer Reise. Endlich als sie so

dasaßen und sich im schönen Septemberwetter sonnten, kam Sturleson zu ihnen, in der Hand seinen blanken Quadranten, an dem die bunten Gläser nach allen Richtungen hin her­ aussteckten, und sagte zum Herzog, morgen Nachmittag

würden sie wohl in Sicht von Sandy Hook sein.

Die

Gesellschaft war zufällig vollständig beisammen, und es ent­ stand ein allgemeiner Jubel, in welchen Claudius freilich

181 nur matt einstimmte. Er sehnte sich nach konträrem Winde und wünschte, daß Sandy Hook und alles, was drum und dran wäre, nebst New Jork und den Vereinigten Staaten sanft im Meere versinken möchte. Er wußte, und Sturleson hatte es ihm auch gesagt, daß sie bei ungünstigem Wetter einen Monat hätten auf See bleiben können, und er war einer von den beiden, die für Bermudas gestimmt hatten, als der Unfall geschah. Als an jenem Abend die Sonne in ihr wogendes Bett goldner von zartem Purpur überwölbten Wellen ver­ sank, stand Margarethe auf den Heckbord gelehnt. Alle Segel waren ausgespannt, und die gute Nacht tanzte lustig nach dem klaren Westen. Aber die schöne Frau blickte rückwärts, wo die Wellen wieder zusammenschlugen, nicht eingedenk der kostbaren Last, die sie getragen. Claudius schlich sich an ihre Seite und stand einen Augenblick da, ihr Gesicht anschauend. „So ist es denn vorüber!" sagte er endlich. „Beinahe vorüber; es war sehr genußreich", sagte sie. „Mehr als das, — für mich war es himmlisch." „Still!" sagte Margarethe leise. „Denken Sie daran!" — Nun war es ganz still, bis auf das Rauschen des Steuerruders durch den dunkelblauen Schaum. Wieder sprach Claudius leise, und es schien ihr, als wäre es nicht seine Stimme, sondern als klänge sie geheimnißvoll von unten aus dem Wasser empor. „Thut es Ihnen leid, daß es vorüber ist?" fragte er — oder die Stimme der mächtigen Tiefe, welche Worte der Wahrheit schwellend emportrug. „Ja, es thut mir sehr leid", antwortete sie, wie un­ willkürlich. Die Sonne sank, und das zauberische Abendroth er-

182 schien am Himmel und färbte Schiff und Segel und Wellen. „Es thut mir auch sehr leid", sagte er und blickte ost­ wärts und dachte an die seligen Stunden, welche er auf der weiten Wasserfläche verlebt, die sich hinter ihnen aus­ dehnte. Margarethe bog sich hinab und stützte das Kinn aus ihre Hände, plötzlich löste sie sie von einander, ihre Finger bedeckten ihr Gesicht, und ihr Haupt neigte sich. In Claudius' Brust wogte es mächtig, und tausend Stim­ men in der Luft riefen ihm zu, zu sprechen und ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Aber er wollte nicht, denn er hatte der Frau an seiner Seite ein Gelübde ge­ than. Sie waren allein auf Deck in der Dämmerung des dunkelnden Zwielichts. „Claudius, Sie haben Ihr Versprechen fest und treu gehalten. Halten Sie es — halten Sie es immer!" Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Immer, meine Königin und Herrin!" und er küßte ihre zarten weißen Finger. „Halloh!" rief der Herzog, aus der großen Kajüte kommend. „Auf mein Wort! Es ist Essenszeit!"

Jehntes Kapitel. Wie sie die gute Jacht „Streif" verließen und herz­ lichen Abschied von dem alten Seelöwen, Kapitän Sturleson, nahmen und wie sie die hundert und mehr Förmlichkeiten am Zollhause und die tausend und mehr Formlosigkeiten der Zollbeamten überstanden, sind zwar interessante Dinge, gehören aber nicht der Geschichte an. Es giebt Augen-

182 schien am Himmel und färbte Schiff und Segel und Wellen. „Es thut mir auch sehr leid", sagte er und blickte ost­ wärts und dachte an die seligen Stunden, welche er auf der weiten Wasserfläche verlebt, die sich hinter ihnen aus­ dehnte. Margarethe bog sich hinab und stützte das Kinn aus ihre Hände, plötzlich löste sie sie von einander, ihre Finger bedeckten ihr Gesicht, und ihr Haupt neigte sich. In Claudius' Brust wogte es mächtig, und tausend Stim­ men in der Luft riefen ihm zu, zu sprechen und ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Aber er wollte nicht, denn er hatte der Frau an seiner Seite ein Gelübde ge­ than. Sie waren allein auf Deck in der Dämmerung des dunkelnden Zwielichts. „Claudius, Sie haben Ihr Versprechen fest und treu gehalten. Halten Sie es — halten Sie es immer!" Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Immer, meine Königin und Herrin!" und er küßte ihre zarten weißen Finger. „Halloh!" rief der Herzog, aus der großen Kajüte kommend. „Auf mein Wort! Es ist Essenszeit!"

Jehntes Kapitel. Wie sie die gute Jacht „Streif" verließen und herz­ lichen Abschied von dem alten Seelöwen, Kapitän Sturleson, nahmen und wie sie die hundert und mehr Förmlichkeiten am Zollhause und die tausend und mehr Formlosigkeiten der Zollbeamten überstanden, sind zwar interessante Dinge, gehören aber nicht der Geschichte an. Es giebt Augen-

183 blicke im menschlichen Leben, wo die That, ein halb Dutzend

Sovereigns in die Tasche des ernsten Wächter des Gesetzes, nämlich des blankknöpfigen Zollaufsehers mit zartem Ge­

wissen, zu stecken, für unser Heil wichtiger ist als Frauen­ liebe und die neununddreißig Glaubensartikel.

All dieses

Auch wurden sie nicht von dem großen Quäl­ geist des Westens verschont, der seine spitzige Feder sträubt, thaten sie.

dessen Ohren uns bei Nacht nahe sind, und dessen Stimme

ist wie die Stimme des Beschwörers:

der Reporter der besonders aber der letztem. Herr Barker traf eine Verabredung mit dem Herzog und Gerechten und Ungerechten,

nahm zärtlichen Abschied von den drei Damen, versprach

Claudius

am Nachmittag zu besuchen und empfahl sich.

Die übrige Gesellschaft aber ging in ein berühmtes altes Hotel, das viel von Engländern besucht wird, und besten

Hauptvorzug in ihren Augen

der Umstand ist,

daß

es

keinen Personenaufzug hat, so daß sie sich auf den Treppen außer Athem laufen und sich einbilden können, zu Hause zu sein. Natürlich waren ihre Zimmer vorausbestellt worden

und hatten eine Woche aus sie gewartet; die Gräfin war froh, sich in die für sie bestimmten sonnigen Gemächer zurückziehen zu können. Fräulein Skeat trat ans Fenster und blieb da stehen, denn Amerika war ganz anders als sie es sich gedacht hatte. Claudius stieg in die untern Regionen hinab und ließ sich das Haar schneiden, und Koch

und Kellner und Stiefelwichser oder „Portier", wie er sich nannte, kamen alle und guckten durch die Glasthür der Barbierstube und starrten den riesigen Schweden an. Der Barbier ging mit Kamm und Scheere um ihn herum, und alle waren der Ansicht, Claudius müsse Herrn Barnum's

neues Schaustück sein, ausgenommen der Ober-Portier — kein Verwandter eines englischen Ober-Portiers —, der im

184 besten Irisch meinte, es müsse Fingals Söhnchen oder wohl gar der heilige Patrick selbst sein. Der kleine Junge, welcher des Barbiers Kunden abbürstete, konnte nicht bis zu Claudius' Rockkragen hinaufreichen; so mußte ihm der Barbier einen Stuhl hinschieben, damit er hinauskletterte. Der Herzog zog sich ebenfalls in das Innere seiner Gemächer zurück, und sein Diener bekleidete ihn den An­ forderungen einer höheren Civilisation entsprechend. Bald erhielt jede der Dame eine große Pappschachtel mit frisch geschnittenen Blumen, natürlich von Herrn Barker; als der Herzog das von seinem Diener hörte, schickte er seinen besten Gruß an Lady Victoria und ließ sich eine Rose für sein Knopfloch ausbitten. Dann rückte der Herzog zu Fuß aus und die kleinen Falten in seinen Kleidern zeigten, daß er erst eben angekommen wäre. Aber darum fiel er nicht auf; denn die meisten Leute in New Nork find „erst eben angekommen.,, Ueberdies hatte er nicht weit zu gehen. Er hatte in der Stadt einen Freund, der nur wenige Schritte vom Hotel entfernt wohnte; bei dem pflegte er nach seiner Ankunft zuerst vorzusprechen. Claudius wartete ein Weilchen, ob Barker nicht käme; da aber Claudius selten auf Jemanden zu warten hatte, wurde er ungeduldig, setzte sich in eine Droschke und rief dem Kutscher zu, ihn zu den Herren Screw und Scratch Pine Street, zu fahren. Hier wurde er mit größter Rück­ sicht empfangen und so behandelt, wie es seine Stellung erheischte. Wünschte er Herrn Silas B. Barker senior zu spreche»? Natürlich wünschte er die Bekanntschaft des alten Freundes und Partners seines Onkels zu machen. Herr Screw war nicht zu Hause, aber Herr Scratch würde ihn begleiten. Durchaus keine Mühe! Am besten wär' es, sie gingen „gleich sofort herum", denn Herr Barker würde

185 wahrscheinlich am Abend mit dem Dampfboot nach New­ port fahren. So gingen sie „herum gleich sofort", und in der That war es eine Rundreise. Mit einem Aufzug herunter, durch ein Labyrinth von Korridoren, um volk­ reiche Straßenecken, durch enge Gassen; Claudius bahnte sich den Weg durch Massen von Straßenmäklern, traurige und lustige, Laufburschen, junge Kontoristen, Obstverkäufer, bedenklich aussehende Millionäre und höchst anständige Herumtreiber, Zeitungsjungen, betrunkene Irländer, ge­ mächliche Mäkler mit bejahrten Aktien und waghalsige Spekulanten mit unsicheren Papieren. Durch eine Atmosphäre von Tabakrauch, Staub, Me­ lonen, und unverständlichem Jargon, während der kleine Herr Scratch sich dicht an seines Klienten Seite hielt und alle Augenblick einem Bekannten zunickte und gelegentlich ein Wort ausländischer Abstammung aber magischer Be­ deutung ausrief. Claudius dünkte es, es wäre vielleicht rücksichtsvoll, wenn er sich erböte, den kleinen Mann zu tragen, als er aber sah, wie gewandt Herr Scratch hier einen Fuß und dort einen Ellbogen durchschob, und wie flink er über jedes Fleckchen freien Pflasters dahintrippelte, sah der Doktor ein, daß sein neuer Bekannter wohl daran gewöhnt sein müsse. Noch einige Aufzüge, noch einige Gänge, eine Glasthür, welche noch die Namen „Barker und Lindstrand" trug, und sie hatten ihr Ziel erreicht. Das Kontor war im zweiten Stock, seine großen Fenster gingen auf die Straße; als sie eintraten, waren mehrere Personen im Zimmer, und der erste, den Claudius sah, war sein Freund, Herr Barker jun. „So", sagte Barker, „also haben Sie uns gefunden. Das ist recht. Ich wollte nachher zu Ihnen kommen, denn ich glaubte nicht, daß Sie sich allein auf die Straße wagen

186 würden. Vater", sagte er, sich zu einem untersetzten Mann mit weißem Haar und buschigen Augenbraunen wendend, „dies ist Doktor Claudius, Herrn Lindstrand's Neffe."

Der alte Herr sah Claudius scharf in's Gesicht und lächelte freundlich, als er ihm die Hand reichte. Er sprach einige Worte herzlichen Willkommens und schien alles in allem ein kräftiger, biederer, emsiger Geschäftsmann — ein rechter Gegensatz zu seinem Sohn. Er hoffte, Claudius werde mit Silas nach Newport kommen, denn er möchte sich gern ordentlich mit ihm aussprechen. Der alte Herr war augenscheinlich sehr beschäftigt, und sein Sohn über­ nahm es, Claudius zu unterhalten. „Was ist das?" fragte Claudius und blickte neugierig aus ein Paar Räder, welche unablässig lange Streifen weißen Papiers abrollten. Das Papier ging durch ein kleines Instrument und kam mit unverständlichen Zeichen bedeckt heraus, dann rollte es durcheinander in einen unten stehenden Papierkorb. „Das hat mehr Menschen zur Verzweiflung, zum Ruin und zur Trunksucht getrieben, als alle andern menschlichen Uebel zusammen genommen", sagte Barker, „das ist der Ticker." „Ich bemerke, daß es tickt", sagte Claudius, und Barker erklärte, wie jede Veränderung im Course augen­ blicklich nach allen Geschäftshäusern, Klubs und vielen Privathäusern in New Nork mittelst einer einfachen Angabe von Zeichen gemeldet würde. Gr. 8. bedeutete Green Swash, N. P. pr. „North Pacific preferred“ und so fort. Claudius meinte es wäre eine sinnreiche Einrichtung, müsse aber sehr die Nerven angreisen. „Es ist der Puls von New Jork", sagte Barker. „Es ist der Croupier der von früh bis spät ruft: trente-sept,

187

rouge, impair, und dann: Messieurs, faites votre jeu, le jeu est fait. Wenn die Papiere fallen, wird gekauft, wenn sie steigen, wird verkauft. Das ist das ganze Geheimniß." „Es scheint mir sehr ähnlich, wie Hazard spielen", sagte Claudius. „Ganz recht. Aber wir hier spielen nicht, obschon wir einen Ticker haben, um zu sehen, was andre Leute thun. Uebrigens giebt er über alles Auskunft: Pferde­ rennen, Schlagballspiel, Dampfschiffe, Geburten, Todesfälle und Heirathen; Mais, Weizen, Tabak und Baumwolle. Nie­ mand kann hier ohne Ticker leben." Daraus gingen sie wieder auf die Straße, und Herr Scratch zog vor Claudius den Hut ab, was das höchste Zeichen ungewöhnlicher Hochachtung ist, dessen „die Straße" fähig ist; einen Augenblick darauf verschwanden seine Stiefel­ absätze in der dichten Menge. Claudius und Barker gingen weiter und überschritten bald darauf Broadway, und dann stand Claudius dem Triumph des Geschäftes über das Priratleben gegenüber — der erhöhten Eifenbahn. Er hatte schon am Morgen hier und da ein Stückchen davon gesehen, hatte aber geglaubt, die Balken und Gestelle wären Baugerüste. Einige Augenblicke stand er in tiefen Gedanken, er betrachtete und begriff diesen Sieg des Räderwerks. „Es ist eine großartige Erfindung", sagte er ruhig. Und als sie in dem langen luftigen Waggon saßen, blickte er durchs Fenster und fragte, ob die Leute, welche die ersten Stockwerke bewohnten, es nicht sehr lästig fänden, daß den ganzen Tag Züge an ihren Fenstern vorüberführen. „Die gesellschaftlichen und bürgerlichen Verhältnisse von New Jork", erklärte Barker, „bestehen darin, daß ein Drittel der Bevölkerung unaufhörlich gegen die empörenden Dinge protestirt, welche die andern beiden Drittel thun.

188 Ein Drittel prozessirt mit dem andern Drittel, und das unbetheiligte Drittel nimmt von beiden Parteien das Ho­ norar. Was übrig bleibt, erhalten die würdigen Armen". „Darum giebt es wohl so wenig Arme in New Nork?" sagte der Doktor lächelnd. „Ganz richtig," sagte Barker, „sie ziehen nach Westen." „Ich möchte wohl über die Nationalökonomie des Landes mit Ihnen sprechen, wenn ich erst ein halbes Jahr hier gewesen sein werde." „Ich hoffe, das werden Sie nicht! Wenn Sie ein halbes Jahr hier gewesen sind, werden Sie lieber eine beträchtliche Summe zahlen, als mit irgend Jemandem dergleichen besprechen." So fuhren sie durch die Stadt; Claudius beobachtete alles mit Aufmerksamkeit und machte hier und da eine Bemerkung. Barker mußte noch weiter fahren und setzte Claudius auf dem Perron des Bahnhofes ab, der seinem Hotel zu­ nächst war; dasselbe lag in der That in derselben Quer­ straße. Als Claudius die Treppe hinaufging, holte ihn der Herzog, athemlos vom Laufen, ein. „Ich — fürchte — es ist zu spät," jappte er, „kommen Sie mit!" Damit ergriff er Claudins beim Arm und schleppte ihn an die Ecke der Fünften Avenue, ehe dieser ihn befragen konnte. „Was ist geschehen?" fragte der Doktor und sah sich um. „Er ist fort", sagte der Herzog, der jetzt wieder sprechen konnte; „ich dachte es mir, aber ich hoffte, es würde noch Zeit sein. Ich war bei einem Freunde und hatte ihn eben verlassen, als ich Sie sah, und da ich ihn zu Tische eingeladen habe, wollte ich Sie erst vorstellen, aber er ist immer in solcher Eile, nirgends zu sehen, vielleicht schon am andern Ende der Stadt." Sie kehrten um und gingen

189 hinein.

Der Herzog fragte nach den Damen.

Die Gräfin

und ihre Gesellschafterin waren in den Park gefahren, aber Lady Victoria war oben. „Vick, ich habe einen Herrn zu Tische gebeten, wir werden natürlich am ersten Abend an Land alle zusammen

speisen, einen Mann, von dem du mich oft hast sprechen

hören; er wird dir außerordentlich gefallen." „Wer ist's denn?" „Der Onkel des ganzen Menschengeschlechtes!" „Die Peerage mit einbegriffen?" lachte Lady Victoria.

„Die Peerage? Das sollt' ich meinen.

Den ganzen

Debrett und den Gothaischen Kalender, hohen und niedern

Adel, den Kaiser von China und die nordamerikanischen Indianer."

„Das ist

etwas für Fräulein

spricht immer von den Indianern.

Skeat.

Sie

Ich glaube, ich weiß,

wer es ist." „Natürlich weißt du es, und nun wird er kommen."

Es entstand eine Pause.

„Vick, darf ich rauchen?"

„O gewiß, wenn du Lust hast." Der Herzog zündete eine Cigarette an. „Vick, ich fürchte, du hast dich auf dieser Fahrt sehr gelangweilt. Es thut mir so leid. Jene Leute

benahmen sich

eigentlich anders,

als ich erwartet hatte."

Der Herzog liebte seine Schwester sehr, obwohl sie so viel jünger war, und es fiel ihm jetzt ein, daß für fie schlecht

gesorgt gewesen, da er Barker fast immer in Beschlag ge­ nommen. „Durchaus nicht. Du weißt ich liebe so die See und

die frische Lust und habe alles so recht genossen.

Ueberdies" — „Es ist ungeheuer freundlich von dir,

das zu sagen,

meine Liebe, aber ich glaube kein Wort davon.

dies" — du wolltest noch etwas sagen!" „Wollt' ich? Ach ja. Ueberdies hättest

„Ueber­ du

nicht

190 noch einen Herrn einladen können, denn es hätte die Tisch­ ordnung gestört." „Nein, aber ich war so selbstsüchtig inbezug auf Bar­ ker, denn der kann Karten spielen, und Claudius konnte oder wollte nicht." „Das thut mir nun nicht gerade leib", sagte Lady Victoria. „Du erinnerst dich wohl, wir sprachen einmal über ihn. Mir gefällt Herr Barker nicht besonders." „Ach, er ist solch ein guter Kerl auf seine Art", sagte ihr Bruder. „Hast du irgend einen besondern Grund da­ für, daß du ihn nicht leiden magst, Vick?" „Ich halte ihn für boshaft. Er sagt solche abscheu­ lichen Dinge." „So? worüber denn?" fragte der Herzog gleichgültig, indem er ein Stückchen verkohltes Papier von seiner Cigarette abriß, die schlecht brannte. Sie antwortete nicht gleich. Er besah seine Cigarette, blies ihr wieder lebendigen Odem ein und sah auf. „Worüber, Vick?" „Ueber seinen Freund — über Doktor Claudius. Mir gefällt Doktor Claudius." Lady Victoria glättete ihr widerspänstiges braunes Haar vor dem enormen, übermäßig vergoldeten Spiegel in dem kleinen Salon, den sie und Margarethe zusammen hatten. „Mir gefällt er auch", sagte der Herzog. „Er ist ein Gentleman. — Warum machst du dir nicht das Haar wie die Amerikanerinnen — so kraus über die Augen? Ich denke, das müßte lange nicht so mühsam sein." „Es ist nicht nett"; sagte Lady Victoria und sah noch immer in den Spiegel. Dann sagte sie plötzlich: „Weißt du, was ich denke?" — „Nun?" „Ich glaube, Herr Barker möchte Margarethe gern selbst heirathen." „Unsinn! Victoria, sprich kein dummes Zeug. Wer hat in seinem Leben schon so etwas gehört?" Der Herzog

191 stand auf und ging im Zimmer auf und ab; dann setzte

er sich wieder auf

dieselbe Stelle.

Ihm gefiel der Ge­

danke nicht.

„Weshalb ist es solch Unsinn?" fragte sie. „Aus vielen Gründen; übrigens würde sie

ihn

gar

nicht nehmen." „Das dürfte ihn doch nicht hindern, es zu wünschen."

„Nein, natürlich nicht, aber — na es ist reiner Unsinn."

Er sah etwas verlegen aus, als könnte er selbst nicht recht sagen, warum ihm der Gedanke so unangenehm wäre. „Du würdest dich doch freuen, wenn Claudius sie heirathete, nicht wahr?" fragte seine Schwester.

„Mich freuen? — ich weiß nicht recht, — aber ja, ich

glaube." „Indessen behauptest du,

daß dir Barker viel lieber

ist als Doktor Claudius," sagte sie argumentirend. „Ich kenne Barker besser", sagte der Herzog. „Ich kenne

ihn schon seit mehreren Jahren."

„Er ist ja auch reich, — warum sollte er nicht daran denken, um Margarethe zu werben?" „Weil — nun ich weiß nicht, aber es würde verwünscht

unpassend sein"; mit diesem Ausdruck traf der ehrliche Eng­ länder das Rechte, und stand für die Wahrheit, nach Art seines Volkes, ohne Umschweife ein. „Zuerst war er sehr nett", sagte Lady Victoria, welche

in einem Punkt gewonnen hatte, obschon sie selbst kaum wußte, in welcher Absicht; „aber nachher fing er an, unan­ genehme Dinge zu sagen. Er wollte aus alle mögliche Weise zu verstehen geben, daß Claudius kein Gentleman wäre, daß Niemand wisse, wo. er Herstamme, und daß er Margarethe nicht den Hof machen dürfe, bis ich Lust be­ kam, ihn zu ohrfeigen."

Sie erhitzte sich in ihrem Zorn,

192 der zum großeu Theil darin seinen Grund hatte, Barker nicht ganz nach ihrem Geschmack war.

daß

Hätte er

ihr gefallen, so würde sie das, was er sagte, anders ausge­

nommen haben.

Unterdessen aber war ihr Bruder auch

ärgerlich geworden, denn er besann sich auf ein Gespräch,

das er mit Barker über denselben Gegenstand gehabt hatte. „Ich sagte einmal zu Barker, Claudius wäre jeder

Zoll ein Gentleman, und ich denke, das genügte.

ich's nicht beurtheilen könnte, —

Als ob

es ist wirklich zu arg,

auf mein Wort." Und die herzogliche Stirn wurde roth vor Zorn.

Die

Sache stand so: er und seine Schwester hatten eine uner­ klärliche Vorliebe für diesen merkwürdigen Nordländer mit

seinem ruhigen Wesen und

seiner angebornen Höflichkeit

gefaßt und würden sich in diesem

Augenblick eher mit

ihrem besten Freunde gezankt, als ein Wort gegen ihn ge­ duldet haben. „Noch dazu mein Gast und auf meiner Jacht", fuhr

er fort, und seiner Schwester that es wohl, ihn ärgerlich zu sehen, — „freilich er hatte ihn eingeführt und mir vorge­ stellt." Dann hatte er einen erleuchteten Gedanken. „Und wenn Claudius kein Gentleman war, was zum Tausend

hatte Barker dann für ein Recht, ihn überhaupt bei mir einzuführen? War's nicht seine Sache, das herauszufinden? Aus mein Wort! Das möchte ich ihn fragen, und wenn ich ihn treffe, thu' ich's." —

Lady Victoria beabsichtigte nicht,

ihren Bruder und

Herrn Barker zu entzweien; allein sie mochte den Ameri­

kaner nicht und dachte, einen Grubenbesitzer,

Barker wollte aus

oder Farmer,

dem Herzog

oder Gemüsehändler

oder so etwas machen, was? war ihr nicht recht klar; aber

sie wünschte, Barker wäre aus dem Wege, und das Schick-

193 sal hatte ihr eine mächtige Waffe in die Hand gegeben. Gerade diese Art von Doppelzüngigkeit haßte der Herzog mehr als irgend etwas auf der Welt, zudem wußte er, daß feine Schwester nie übertrieb und daß folglich alles, was sie ihm gesagt hatte, vollkommen wahr wäre. Wehe Herrn Silas B. Barker junior, wenn er heute Abend dem Herzog in den Weg käme! „Er kommt wohl zu Tische?" fragte der Herzog nach einer Pause, während welcher sein Aerger sich zu ordent­ licher Wuth gesteigert hatte. „Nein" sagte Lady Victoria, „er hat uns Blumen geschickt mit einem Briefchen, in welchem er bedauert nicht kommen zu können." „Gut — das ist mir lieb. Möchtest du ausfahren, Victoria?" »3a, sehr gern. Ich bin seit meiner Verheirathung nicht hier gewesen", — das hieß seit ungefähr anderthalb Jahren, sie hatte sich aber schon diesen frauenhaften Aus­ druck angewöhnt — „und ich möchte gern sehen, was aus dem Park geworden ist." „Schön. Wir wollen Claudius mitnehmen, wenn er zu Hause ist." „Natürlich", sagte Lady Victoria, und so suchte das Geschwisterpaar seine erregten Gefühle zu beschwichtigen, indem sie den Mann auszeichneten, der ein „Gentleman" war. Indessen hatten sie recht, denn Claudius war in der That das, wofür sie ihn hielten, und noch viel mehr, wie sie in der Folge entdeckten. Bei ihrer Ausfahrt in den Park bestand der Herzog daraus, daß Claudius den Ehrenplatz neben Lady Victoria einnehme, und nachdem sie sich nach Herzenslust über die wenigen ihnen begegnenden Wagen lustig gemacht hatten — denn für New Jork war es noch zu früh im Jahr — kehrten sie ins Hotel zurück und trennten sich, um sich zu Crawford, Doktor Claudius.

13

194 Tische anzukleiden. Der Herzog hatte, wie er seiner Schwester schon erzählte, einen Freund eingeladen. Sie saßen alle beisammen ihn erwartend. Pünktlich auf die Minute ging die Thür auf, und Herr Horaz Bellingham erschien in der Gesellschaft. Fürwahr, sein Anblick mußte den Seelen der Hungrigen und Durstigen und der Armen und Elenden wohlthun! Er ist des Beschreibens werth, nicht als ob irgend eine Feder ihn beschreiben könnte, dennoch lernte ihn keiner kennen, der nicht sofort gewünscht hätte, es zu versuchen. Er war entschieden klein, aber eine breite Brust und kräftige lange Arme hatten ihm oft einen Vortheil über größere Gegner in fremden unkultivirten Ländern gegeben. Er war ganz kahl, wahrscheinlich weil die Natur es nicht über sich gewinnen konnte, einen so merkwürdigen Schädel den bewundernden Blicken des Phrenologen zu entziehen. Ein geschwungener Schnurrbart und ein langer Spitzbart von schneeiger Weiße standen gut zu seiner gebräunten Gesichts­ farbe und gaben ihm zugleich ein militärisches und diplo­ matisches Aussehen. Er trug den besten Londoner Anzug und prachtvolle Brillanthemdenknöpfe, während ein unschätz­ barer Saphir einfach in Gold gefaßt, an seiner breiten braunen Hand funkelte. Er gehörte zu den Auserwählten seiner Zeit, die Edelsteine tragen können, ohne daß es vul­ gär aussähe. Mit königlichem Anstand tritt er auf und trägt das Gepräge der alten Schule in jeder Bewegung an sich. Seine dunkeln Augen leuchten heller als seine Diamanten, und trotz seines weißen Bartes und seiner sieb­ zig Jahre sieht er so jung und frisch aus wie die Rose in seinem Knopfloch. Manche Leute werden grau, aber nicht Greise, ihre Gesichter sind gefurcht aber nicht runzelig, ihre Herzen sind

an vielen Stellen schmerzlich wund, aber nicht todt. Es giebt eine Jugend, die dem Alter trotzt, und eine Herzens­ güte, welche die Härte der Welt verlacht. Derer ist sie, welche Böses mit Gutem vergolten, nicht weil sie es als ein Gebot gelernt haben, sondern weil in ihnen nichts Böses wohnt, mit dem sie andern vergelten könnten. Jung stirbt, wen die Götter lieben"), und „zwar darum weil er nie alt wird". Der Dichter, welcher das am Rande des Grabes sagte, sagte es von und zu diesem Manne. Der Herzog stellte ihn vor, zuerst der Gräfin, dann Fräulein Skeat, dann seiner Schwester, zuletzt Claudius, der den neuen Ankömmling aufmerksam beobachtet hatte. Herr Bellingham blieb vor Claudius stehen und sah ihn in seiner eigenthümlichen Weise an, ohne den Kopf zu er­ heben. Natürlich hatte er in New Aork von der großen Erbschaft gehört, welche Claudius so unerwartet nach Herrn Lindstrands Tode zugefallen war, und nun maß er eine Minute lang die Persönlichkeit vor ihm, nicht im minde­ sten überwältigt durch die Körperverhältnisse seiner äußern Erscheinung, sondern betroffen durch das intelligente Ge­ sicht mit der geistvollen Stirn, welches solch einen gewal­ tigen Bau krönte. „Ich bin selbst in Heidelberg gewesen — als Student," sagte er und sein Antlitz leuchtete auf bei der wiederkehrenden Erinnerung, „aber das war lange, ehe Sie geboren wurden, vor fünfzig Jahren." „Ich glaube, es hat sich seitdem etwas verändert", sagte Claudius. „Ich möchte gern noch einmal im Badischen Hof wohnen! Ich erinnere mich einmal" — dann aber brach er ab, wen*) Die erste Hälfte dieses Ausspruchs ist von Menander. Anm. d. Uebers.

13'

196 bete sich zur Gräfin und setzte fich neben sie. Er kannte all ihre Verwandten in Amerika und ihres Mannes Familie im Auslande. Sofort begann er ihr eine Geschichte von ihrer Großmutter mit einem Feuer und einer Lebendigkeit der Darstellung zu erzählen, die Margarethe entzückte, denn sie hatte kluge alte Herren gern. Ueberdies war er ja nicht alt. Noch vor gar nicht langer Zeit-------- doch das ist eine lange Geschichte. In weniger als einer Minute hörten sämmtliche Gäste der Geschichte aus alter Zeit von Mar­ garethens Großmutter zu, und der Kellner blieb auf der Schwelle stehen und hielt den Athem au, um die Geschichte zu Ende zu hören, ehe er meldete, daß angerichtet sei. Man kann auf zwei sehr verschiedene Arten speisen, — mit Herrn Bellingham und ohne ihn. Wer aber einmal mit ihm gespeist hat, für den sind alle andern Arrange­ ments eines Diners nur leerer Schein. So wenigstens sagte Claudius zu Margarethe, als sie beim Obst ange­ langt waren, und Margarethe, die mit einem einfachen goldnen Bande in ihrem schwarzen Haar wunderschön aus­ sah, stimmte ihm lächelnd bei, und sagte, es wäre hoffnungs­ los für die Männer unsrer Tage, mit den Veteranen des Ancien regime in die Schranken zu treten. Claudius Mite fich durch den Vergleich nicht im mindesten verletzt, während Herr Barker, wenn er dabei gewesen, darüber empört gewesen wäre. Claudius war durchaus nicht ohne Eitel­ keit, doch war sie nicht persönlicher Natur. Manche Leute nennen eine gewisse Form von Eitelkeit Stolz. Es ist dasselbe in größern« Maßstabe. Eitelkeit ist im Vergleich zu Stolz, was Nervosität im Vergleich zu feinen Nerven, was krankhafte Gewissenhaftigkeit im Vergleich zu männ­

licher Rechtschaffenheit, der Buchstabe des Gesetzes im Ver­ gleich zum Geiste desselben ist.

197 Ehe sie von Tisch aufstanden, machte Herr Bellingham

den Vorschlag, daß sie am folgenden Tage nach Newport übersiedeln sollten.

Er sagte, für New Aork wäre es noch noch recht belebt, jedenfalls

zu früh, und Newport wäre

könnte man auf schönes Wetter rechnen,

und wenn

es

ihnen nicht gefiele, brauchten sie ja nicht länger als vier­ undzwanzig

Stunden

dort

bleiben.

zu

Der Vorschlag

wurde einstimmig angenommen, der Herzog stellte die Be­ dingung, daß er in Ruhe gelassen und nicht „in großartiger

Weise von

der Elite unserer

Millionäre von Newport

ausgenommen" würde, wie es gewöhnlich in Lokalblättern

heißt.

Lady Victoria würde nichts

gegen „in Newport

ausgenommen" zu werden eingewendet haben, denn sie kam gern unter Menschen, konnte aber auch ohne das vergnügt sein.

Sie amüsirte sich immer, selbst wenn sie im Regen

in Aorkshire auf schlüpfrigen Landwegen spazieren ging,

in Regenmantel und Kapotte verhüllt, mit einem Bündel Sachen für ihre Armen, ihr machte alles Vergnügen. Claudius wußte, wenn er nach Newport ginge, müsse er nothwendigerweise bei Barkers zu Gaste sein, da er aber noch nicht gelernt hatte, in Herrn Barker einen Neben­

buhler zu sehen, schien ihm das recht gelegen. erreichbarer Nähe von Margarethen sein würde,

Daß er in war sein

Hauptgedanke. Während der letzten beiden Tage war sein Verkehr mit ihr höchst beglückend gewesen.

ein schweigendes Verständniß,

Zwischen ihnen bestand welches oft an Stelle des

gesprochenen Wortes trat.

Claudius fühlte, daß er seinen Fehler, zu kühn gesprochen zu haben, wieder gut gemacht,

wenn auch nicht gesühnt hatte und daß von jetzt ab seine

Stellung zu ihr gesichert war. Er sollte allerdings nur ein Freund sein, aber er fühlte doch, daß von der Freund-

198 schäft zur Liebe nur ein Schritt wäre und daß seine Zeit kommen würde. Er dachte an das mächtige Werben der Helden seiner nordischen Heimath, und er fühlte in sich ihre Stärke und Beharrlichkeit. Und was waren denn andre Männer, daß er an sie denken sollte? Er war vor allen andern ihr anerkannter Freund. Sie hatte gesagt, in ihm hoffe sie zu finden, was sie noch nie zuvor gefun­ den, und klangen ihre Worte „Immer! immer!" nicht noch in seinem Ohr? Sie hatte in ihm diese seltene Tugend, Freundschaft, gefunden; ja mehr als das — einen Mann, der ihr Freund und Liebhaber zugleich war, der aber die starke Leidenschaft zähmen und sie in ihren Aeußerungen dem sanstern Gefühl ähnlich machen konnte. Und wenn sie ihm endlich das langersehnte Zeichen geben würde, den einen Blick, welcher die Liebe sprechen heißt, dann sollte sie in ihm einen Liebenden finden, von dem sich selbst die Götter Griechenlands, noch auch die Berserkerhelden des eisigen Nordens in Sturm und Kampf nicht hatten träu­ men lassen. Heute fühlte er, daß er ausharren könnte bis ans Ende, denn das Ende war des Ausharrens werth. Und nun saß er neben ihr und sah sie an, wenn sie sprach, und sie lachten mit einander. Wahrlich Claudius war der stolzeste Mann in der ganzen Welt, aus seinen blauen Augen blitzte Feuer, und er athmete tief wie nach gewonnenem Siege. Herr Bellingham ihm gegenüber sprühte von Geist und Anmuth; im Vergleich zu modernen Tisch­ gesprächen war seine Unterhaltung, was eine seltne Flasche alten Madeiras, mit jahrelanger Kruste bedeckt, aber über­ all von der unvergänglichen Kraft und dem Duft der ewi­ gen Jugend erfüllt, gegen eine mit bunter Etikette versehene Flasche kalifornischen Champagners ist, — schäumend, mit der Maschine gemacht, billig und schlecht! — Mit einem

199 Blick verstand er das Paar und liebte sie beide. Ihm waren sie nur ein Bild des Nordens und des Südens; dieser Gedanke rief in seiner edlen alten Brust Erinnerrungen an einen Kampf hervor, welcher die Erde in ihren Grundfesten erschütterte, und mahnte ihn an noch ungelöste Fragen. Er saß einige Minuten schweigend da und strei­ chelte sich in Gedanken versunken den schneeweißen Bart mit der breiten braunen Hand, so daß die Unterhaltung ins Stocken gerieth und der Herzog anfing, von ihrer Seereise zn erzählen. Aber Herr Bellingham ergriff sein volles Glas, gefüllt mit einem Weine, der an der Sonne reifte, als er noch ein kleiner Knabe war, und hielt es einen Augenblick gegen das Licht; der Tranbensaft war jetzt klarer als vor sechzig Jahren, und die Hand, welche den Becher hielt, war in ihrer Kraft und Festigkeit wie eine Hand von Eisen, obschon ihre braunen Finger die Trauben an dem Tage, da sic gepreßt wurden, hätten pflücken können. Mit feierlicher Bewegung führte er das Glas an die Lippen, hielt einen Augenblick inne und trank es dann ganz langsam bis auf den letzten Tropfen aus. Es war ein Toast, der Trinkspruch aber blieb ungesprochen, und Niemand wußte, auf wen oder was er den Becher leerte. Bald darauf fing er wieder an zu sprechen, das Gespräch drehte sich nm gemeinsame Freunde in England, dann war das Diner zu Ende. Aber den ganzen Abend über blieb Claudius an Margarethens Seite. Er fühlte, daß er den Unterschied zwischen dem Leben auf der See und dem Leben auf dem Lande zu überbrücken hatte — und daß er sein Recht geltend machte, im Salon dieselben Vorrechte zu genießen, welche er sich an Bord des „Streif" erworben hatte. Margarethe war am heutigen Abend besonders freundlich,

200 denn auch sie fühlte den Unterschied und erkannte, daß man sich am Ende zu Lande doch freier bewegt. Es giebt im Salon gewisfe konventionelle Schranken, die ein Mann nicht so leicht durchbrechen, an die er eher denken wird, als an die ungeschriebenen Regeln der Schiffsetikette. Die meisten Männer, welche ein freies Leben geführt haben, werden unter dem Zwange einer weißen Kravatte nicht so leicht Liebeserklärungen machen, als wenn sie nicht durch die Förmlichkeit des Anzugs beengt find, der immer eine gewiffe Beschränkung der Freiheit bedingt. So wenigstens dachte Margarethe, und Claudius fühlte es, obschon er es nicht eingestehen wollte. Sie sprachen über die Reise, über das, was fie gesagt und gethan hatten, über den Unfall mit der Schraube und hundert andere Dinge. Bei einer Bekanntschaft, in der Freundschaft, wie in der Liebe kommt ein Augenblick, wo zwei Menschen fich plötzlich bewußt werden, daß fie eine gemeinsame Vergangenheit haben, Tage, Wochen, Monate find im Gespräch, in gemeinsamem Lesen vielleicht in Arbeit und Gefahr dahingegangen, und fie haben nicht weiter daran gedacht. Aber eines Tages wird es ihnen klar, daß diese kleinen oder großen Dinge ein Band zwischen ihnen bilden, insofern als fie den Theil ihres Lebens ausmachen, wo eines das andere berührt hat, und während sie die Vorfälle besprechen, an welche sie sich erinnern, fühlen sie sich durch die Vergangenheit unerklärlich zu einander hin­ gezogen. Margarethe und Claudius erfuhren dies den ersten Abend, den sie mit einander an Land verlebten. Die Verwirrung des Landens, das Zollhaus, die unge­ wohnten Zimmer in dem großen Hotel — das alles zu­ sammen bildete einen Vorhang, der den Schauplatz auf dem Meere abschnitt und so eine Episode im Drama

201 ihres Lebens abschloß. Ein neuer Akt begann für sie, und beide wußten, wie sehr es auf die Art und Weise, wie er angefangen wurde, ankam, aber keiner von beiden wagte es, sich das Ende auszudenken. Jedenfalls wurden sie fürs erste wohl noch nicht ge­ trennt, und keiner von beiden hatte das erwartet. Allmälig dämpften sie ihre Stimmen beim Sprechen und bekümmerten sich wenig um die andern, während die dunkle Wange der schönen Frau voll Interesse erglühte und Helles Licht in des Mannes blauen Augen strahlte. Ihre Reisegefährten waren daran gewöhnt, sie so beisammen zu sehen, und beachteten sie kaum, aber Herrn Bellinghams klares Auge blickte zuweilen nach dem schönen Paar in der Ecke hinüber, und die Geschichten aus der Jugendzeit von kühnem Wagen und von Liebesglück, an denen er diesen Abend so reich zu sein schien, hatten einen un­ gewohnten Glanz. Er nahm an, die beiden wären sterb­ lich, hoffnungslos verliebt, und hatte von Anfang an eine Zuneigung für Claudius gefaßt. Es lag kein Grund vor, weshalb nichts daraus werden sollte, und er spann gern Romane aus, die in seiner fruchtbaren Phantasie immer ein glückliches Ende nahmen. Endlich aber wurde „Gute Nacht!" gesagt. Herr Bellingham war nicht der Mann, welcher den ganzen Abend in einem Hause zubringt; er näherte sich Margarethen, so ungern er das Paar störte, doch entschlossen, es zu thun. Deshalb stand er noch im Sprechen auf, und da der Herzog auch aufstand, führte er ihn geschickt um die Stühle herum, bis er sich auf Sprech­ weite Margarethen genähert hattte, die noch immer in ihr Gespräch versunken war. Als er so den einen Faden ab­ gesponnen hatte, wandte er sich um. „Hören Sie, Gräfin," sagte er, „eben fällt mir ein" —

202 und damit erzählte er noch eine reizende Geschichte von Margarethens Großmutter, die alle entzückte; darauf ver­ neigte er sich wie ein junger Anbeter von zwanzig Jahren vor jeder der drei Damen und empfahl sich. Die Gesellschaft ging auseinander, der Herzog wollte noch mit Claudius bei einer Cigarre ein wenig plaudern; die Damen zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Aber Claudius und Margarethe blieben noch einen Augenblick in ihrer Ecke stehen. „Ist es für Sie ein froher Tag gewesen?" fragte er, als sie ihm die Hand reichte. „Ja, ein sehr froher, mögen noch viele solche kommen!" antwortete sie. „Das wird geschehen!" sagte Claudius. „Gute Nacht, Gräfin." „Gute Nacht — gute Nacht, Claudius." Der Herzog wartete volle zehn Minuten aus den Doktor. Zum zweiten Male hatte sie seinen Namen, ohne die Förm­ lichkeit, den Titel vorzusetzen, ausgesprochen, und Claudius blieb aus der Stelle, wo sie ihn verlassen, in Gedanken versunken, stehen. Es war eigentlich nichts so Besonderes dabei, dachte er. Ausländerinnen, besonders Russinnen, pflegen oft Titel und dergleichen fortzulassen und ihre näheren Bekannten bloß mit ihrem Namen anzureden; es hat nichts zu bedeuten. Aber ihre Stimme klang so wunderbar. Sein Name hatte ihm noch nie so süß ge­ klungen — Konsonanten und Vokale, wie die Schwin­ gungen einer Glocke in reicher Harmonie. „Noch einige Zeit," dachte Claudius, „und dann soll es ihr Name so gut wie der meine sein!" Ganz zerstreut nahm er ein Buch vom Tisch, als ihm plötzlich der Herzog einfiel, er legte es hin und ging aus dem Zimmer.

203 Bald darauf steckte geräuschlos ein Mensch in Frack und weißer Weste den Kopf durch die Thür, trat ein, rückte die Stühle zurecht, klappte das Buch zu, welches der Doctor offen gelassen hatte, drehte das Gas aus und ging hinaus, für die Nacht die Thür schließend und das Zimmer seinen Betrachtungen überlassend. Was für schlaflose Nächte müssen die Stühle, die vergoldeten Spiegel und prächtigen Teppiche in einem Hotel zubringen, wenn sie über die fragmentarischen Geschichten grübeln, die sich in ihrer Gegenwart abspielen.

Llftrs Lapitel. Herrn Barkers dringende Verabredung an jenem Abend mußte sich doch auf das Zusammentreffen mit einem an­ dern bezogen haben; aber inanbetracht dessen, daß die von ihm vermuthlich erwartete Person nicht kam, bewies er einen bemerkenswerthen Grad von Geduld. Er ging in einen gewissen Klub und bestellte mit größter Sorgfalt ein Mahl nach seinem Geschmack — für eine Person, und ob­ wohl mehrere Mitglieder ihn anredeten und bei seiner Rück­ kehr begrüßten, schien er sich nicht besonders für das zu interessiren, was sie zu sagen hatten, sondern saß einsam an seinem viereckigen Tischchen mit seinem eleganten Ge­ deck, und als er gespeist und sein bescheidenes Fläschchen Pommery See ausgetrunken hatte, nahm er seinen Kaffee

ein und rauchte seine eignen Cigarren in ungestörter Be­ trachtung der Tapeten von matter Farbe und in ruhigem, anscheinend melancholischem Genuß des milden Lichtes im Gemach und des sanften Abendwindes, welcher von den

203 Bald darauf steckte geräuschlos ein Mensch in Frack und weißer Weste den Kopf durch die Thür, trat ein, rückte die Stühle zurecht, klappte das Buch zu, welches der Doctor offen gelassen hatte, drehte das Gas aus und ging hinaus, für die Nacht die Thür schließend und das Zimmer seinen Betrachtungen überlassend. Was für schlaflose Nächte müssen die Stühle, die vergoldeten Spiegel und prächtigen Teppiche in einem Hotel zubringen, wenn sie über die fragmentarischen Geschichten grübeln, die sich in ihrer Gegenwart abspielen.

Llftrs Lapitel. Herrn Barkers dringende Verabredung an jenem Abend mußte sich doch auf das Zusammentreffen mit einem an­ dern bezogen haben; aber inanbetracht dessen, daß die von ihm vermuthlich erwartete Person nicht kam, bewies er einen bemerkenswerthen Grad von Geduld. Er ging in einen gewissen Klub und bestellte mit größter Sorgfalt ein Mahl nach seinem Geschmack — für eine Person, und ob­ wohl mehrere Mitglieder ihn anredeten und bei seiner Rück­ kehr begrüßten, schien er sich nicht besonders für das zu interessiren, was sie zu sagen hatten, sondern saß einsam an seinem viereckigen Tischchen mit seinem eleganten Ge­ deck, und als er gespeist und sein bescheidenes Fläschchen Pommery See ausgetrunken hatte, nahm er seinen Kaffee

ein und rauchte seine eignen Cigarren in ungestörter Be­ trachtung der Tapeten von matter Farbe und in ruhigem, anscheinend melancholischem Genuß des milden Lichtes im Gemach und des sanften Abendwindes, welcher von den

204 Bäumen auf Madison Square so erfrischend noch dem Staube und der Last des heißen Septembertages her­ einwehte. Wer auch der Erwartete sein mochte, er kam nicht, und doch gab Herr Barker kein Zeichen von Enttäuschung kund. Er ging in ein anders Zimmer, setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl mit einer Zeitung, die er nicht las, und nahm mit einem Male einen Zettel aus der Tasche, auf dem er mit goldenem Patentbleistist einige Notizen machte. Es war ein sehr stiller Klub, und Herr Barker schien eines seiner ruhigsten Mitglieder zu sein. Und das mit Recht, denn er war in einer ernsten Sache zu einem Entschluß gekommen. Er hatte beschloffen zu heirathen. Er hatte längst gewußt, daß es dazu kommen müsse, und hatte sich mehr als einmal gesagt, daß „für jeden Mann auf Erden der Tod kommt, sei's früh oder spät"; aber da er eben ein Mensch war, hatte er den schlimmen Tag hinausgeschoben, denn er hatte immer gedacht, es müsse unvermeidlich ein schlimmer sein. Nun aber war es anders. Was er an jenem Abend auf der Nacht zum Herzog und was der Herzog zu ihm gesagt hatte, als sie übers Heirathen sprachen, war genau das, was er immer zu erleben erwartet hatte. Der Tag muß kommen, hatte er sich gesagt, wenn eine unternehmende Mutter über Silas B. Barker junior siegt. Die Schönheit der Saison, mit ihrer Wagenlast von Blumensträußen beladen, ihrer zier­ lichen Figur, ihrem rosa und weißen Teint und ihrer un­ vergleichbaren Ausdauer im Ballsal, wird mit Schnabel und Krallen auf das arme Opfer Barker herfallen, gerade so wie der Habicht auf das arme unschuldige Fischchen, das harmlos in dem klaren Wasser der Glückseligkeit spielt. Dann folgen die Hochzeitsgeschenke, ein großes Frühstück,

205 die Hochzeitsreise

und

die Aussicht auf endloses Elend.

Alles dieses, hatte er geglaubt, muß jedweden Mann zu

seiner Zeit treffen, wenn

Schriftsteller ist

er nicht ein Heiliger oder ein

oder kein Geld hat, und darum muß es

auch mich treffen.

Aber jetzt war es anders.

Wenn ge­

fischt werden soll, sagte er, so will ich der Habicht sein, und das Fischchen kann zusehen, ob es glücklich wird.

Warum

sollte das Fischchen denn nicht glücklich werden?

Ich bin

ein Habicht, ja — aber ein sehr guter. Allein diese Gedanken beschäftigten ihn nicht, als er bei seiner zweiten Cigarre im Lesezimmer des stillen Klub

saß.

All dies hatte er schon vor mindestens drei Tagen

in seinem Gehirn durchgearbeitet,

und

es hatte jetzt die

Gestalt eines Beschlusses angenommen, gegen den kein Ein­ spruch gemacht werden konnte, denn also gefiel es dem Ego

des Herrn Barkers. um.

Urtheile dieser Art stieß er niemals

Er hatte beschlossen,

der Habicht zu sein, er hatte

sich sein Fischlein ausgesucht und dachte nun an den Fang seiner Beute. Gar manche Leute thun das und entdecken zu spät, daß das, was sie für ein Fischchen hielten, ein Krokodil oder ein Salamander oder sonst ein Unthier ist,

das für sie zu stark ist.

Das fürchtete Herr Barker, und

davor wünschte er sich zu hüten. Unglücklicherweise hatte er sich sein Opfer etwas spät ausersehen, und das wußte er auch. Er hatte nämlich beschlossen, die Gräfin Marga­ rethe zu heirathen.

Er wußte freilich, daß Claudius dieselbe Absicht hatte,

und auch, daß Claudius, mindestens gesagt, auf vertrauterem Fuße mit der von ihm geliebten Frau stand. Aber Barker war überzeugt, Claudius habe einen Korb bekommen und sich in das platonische Verhältniß gefügt, welches ihm die

Gräfin angeboten, nur weil er es nicht über sich gewinnen

206 konnte, sich ganz von ihr zu trennen. Ganz entsprechend der Eitelkeit eines solchen Kerls, argumentirte er, „der nicht einsehen will, daß er geschlagen ist". Er hatte sich in seinem Sinne die ganze Situation durchaus zu seiner Zufriedenheit zurecht gelegt. Wenn Claudius nur entfernt werden könnte, so hatte jeder andre Mann eben so gute Aussichten. Dieser andre Mann ist Barker — deshalb schnell fort mit Claudius! Entfernt ihn! Fort mit ihm! „Und seine Stätte kenne man nicht mehr!" — Herr Barker saß regungslos auf seinem Stuhl; aber er betrachtete den Nagel am Mittelfinger seiner linken Hand mit höchster Aufmerksamkeit und brachte ihn sogar mehr ans Licht, um ihn besser sehen zu können. Er gehörte zu den Menschen, die selten ganz unvor­ bereitet sind. Sein Geist gehörte zu den napoleonischen Naturen im allerkleinsten Maßstabe; an das Ziel denken, hieß bei ihm auf Mittel sinnen, und in den Tagen, welche der denkwürdigen Nacht folgten, in der ihm eingefallen war, daß er Margarethe Dr. Claudius recht zum Trotz heirathen könnte, war in ihm ein Plan gereift, durch welchen er nunmehr seinen Zweck zu erreichen hoffte. Vielleicht war dieser Plan unbewußt in ihm entstanden, wie das oft bei Leuten vorkommt, die ihr Leben mit beständigen Ent­ würfen zubringen. Vielleicht hegte er die schmeichlerische Hoffnung, die Gräfin auf ehrliche Weise zu gewinnen, denn es fehlte ihm nicht an Eitelkeit, vielleicht sah er also seinen Plan nur als eine Möglichkeit an. Wie dem auch sei, so­ bald er einsah, daß ein bestimmter Plan nöthig wäre, ward ihm auch klar, daß derselbe bereits fertig sei, und er beschloß, ihn auszuführen. Es war ein unredlicher Plan, von der Wurzel an schlecht, auch das wußte er; aber es machte ihm kein Bedenken. Silas B. Barker junior hatte

207 kein so zartes Gewissen, daß es für ihn nöthig gewesen wäre, sich über die Moralität seiner Handlungen hinweg zu täuschen. Vor ein paar Jahren hätte er sich vielleicht im allgemeinen damit entschuldigt, daß es eine Anmaßung für einen Menschen wäre, sich für besser zu halten als seine Nächsten. Aber zwischen „vor ein paar Jahren" und diesem Septemberabend war ein Abgrund befestigt, und zwar durch gewisse Geschäfte „auf der Straße", über die keine Freude im Himmel und sehr geringe auf Erden war. Recht oder unrecht — es würde so viel besser gehen, wenn Claudius nicht mehr im Wege wäre. Es würde Herrn Barkers Feldzug so sehr vereinfachen; und überdies war es ja so leicht, ihn wenigstens auf einige Zeit zu ent­ fernen. Wie denn? Nun einfach durch die Behauptung, daß Claudius nicht Claudius, nicht des verstorbenen Herrn Lindstrands Neffe wäre, daß er kein Anrecht auf die Erb­ schaft habe und daß er, um fernere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, lieber sofort nach Heidelberg zurückkehren und sein Amt als Privatdozent wieder aufnehmen sollte. Das war leicht genug! Wer war denn da, um zu beweisen, daß Claudius wirklich Claudius wäre? Nichts lag vor als die Bescheinigung eines armseligen Heidelberger Notars, der durch eine ansehnliche Bestechung wohl dahin zu bringen sein würde, einen kleinen Eid zu leisten. „Ueberdies," sagte sich Herr Barker, „der wirkliche Doktor Claudius ist todt. Er ist vor etwa acht Monaten gestorben, die Todesanzeige muß damals in den Zeitungen gestanden haben, und eine Zeitung mit dieser Todesanzeige mußte aufzutreiben sein. Wenn also der richtige Doktor Claudius todt ist, so ist dieser Doktor Claudius ein falscher, ein Betrüger, ein Mensch, der Geld erlangen will, indem er

208 an die Stelle eines Todten tritt — mit einem Wort: ein Schwindler. Indessen dürfte es nicht nothwendig sein, gegen ihn mit der ganzen Strenge des Gesetzes zu ver­ fahren, sondern nur ihn in aller Stille nach Deutschland zurückzuschicken." Natürlich war Herr Barker gewissermaßen verantwort­ lich dafür, daß er diesen Schurken der Gräfin und dem Herzog vorgestellt hatte. Aber wie konnte Herr Barker, ein Geschöpf so unschuldig und harmlos wie ein Lamm, wohl einen Betrüger auf den ersten Blick erkennen? Claudius hatte seine Rolle so gut gespielt, und Barker hatte fich durch seine scheinbare Offenheit täuschen lassen, er hatte nicht einmal in Heidelberg Erkundigungen ein­ gezogen, sondern Claudius einfach unter der von seinem Vater angegebenen Adreffe aufgesucht. Natürlich hatte der Prätendent planvoll auch zu dem Mittel gegriffen, die Wohnung des Verstorbenen zu miethen; er hatte fie bezogen und sich „Dr. Claudius" genannt. Kein Mensch in Amerika hatte den wahren Doktor Claudius gesehen. Keiner von der Nachtgesellschaft war imstande zu entscheiden, ob er wirklich wäre, was er zu sein behauptete; der einzige, welcher für ihn gebürgt hatte, war Silas B. Barker junior. Wenn nun aber Silas B. Barker junior nicht länger sich für ihn verbürgen wollte, wer konnte es dann thun? Niemand, das stand fest. „Herzöge find sehr nette Leute," sagte Herr Barker, „und mit ihnen genau bekannt zu sein, ist ein besonderer Vorzug; aber was sie nicht wiffen, können sie eben so wenig beschwören wie andere Leute." Damit zündete er sich wieder eine Cigarre an und blickte auf die Uhr, eine altmodische Stutzuhr von schwarzem Marmor mit vergol-

209 beten Zeigern. Es war halb zwölf, und Herrn Barkers Alleinsein hatte seit ungefähr sieben Uhr gedauert. Jemand trat ins Zimmer und sagte einem andern an der Thür Gute Nacht. Herr Barker sah sich um, erkannte einen Freund und verzog den Mund zu einem Lächeln. „Nun, Herr Screw, wie geht's?" sagte er. „Lange nicht gesehen!" „Freut mich, Sie zu treffen, Herr Barker, sehr erfreut, Sie zu sehen," erwiderte der Advocat und streckte Barker seine lange Hand hin. — Herr Screw war Herrn Scratch's Partner. Er war sehr groß, sehr hager und außerordentlich gelb; er hatte dickes gelbes, mit Grau gemischtes Haar. Sein Gesicht schien in altes Pergament gebunden, seine Augen sahen aus wie tief eingeschlagene blanke Messingnägel, sie blickten starr, wenn er sprach. Er hatte einen Uebcrfluß an Zähnen von allen Größen und Formen, sein Gesicht war glatt rasirt, und er trug einen aufrechtstehenden Hemdkragen nebst schmaler schwarzer Halsbinde mit zierlicher Schleife. Seine Hände und Füße waren von ungeheurer Größe. Er klappte einige seiner Gelenke zusammen und versank in einen tiefen Lehnstuhl — den Zwillingsbruder von Barkers — an der andern Seite des Kamins. „Ich dachte mir eigentlich, daß Sie im Laufe des Abends Herkommen würden," sagte Herr Barker. „Ja," fuhr er nach einer Pause fort, „darum bin ich herge­ kommen. Ich wollte Sie in Geschäften sprechen und ver­ fehlte Sie in der Stadt." „O! in Geschäften sagten Sie?" fragte der andere, rieb seine knöcherne Nase und schaute ins leere Kamin, „Ja, für Sie recht wichtige — mehr noch als für mich, obwohl es mich auch angcht. Ich glaube, Sie haben einen neuen Klienten, den Neffen unseres alten Theilhabers Crawford, Tektor Claudius.

14

210 Herrn Lindstrand." „Dr. Claudius?" fragte der Advokat aufblickend. „Wenigstens nennt er sich so", antwortete Barker. „Was wollen Sie damit sagen?" fragte Herr Screw rasch und nahm eine andere Stellung an. „Glauben Sie, daß Sie alle erforderlichen Schritte gethan haben, um sich zu vergewissern, daß er der Erbe ist — die richtige Person, der wirkliche Dr. Claudius?" „Großer Himmel!" rief der Advokat erstaunt und durch Barkers Andeutung sehr erschreckt, „Sie wollen doch nicht sagen, daß darüber ein Zweifel obwaltet, was?" „Ich bin geneigt zu glauben, daß ein solcher Zweifel vorliegt, ja, entschieden. Es ist eine sehr ernste Sache, und ich hielt es fürs Beste, erst mit Ihnen darüber zu sprechen, ehe ich's meinem Vater sagte. Sehen Sie, in­ direkt könnte der Verlust uns treffen, die moralische Ver­ antwortung aber ist die Ihre, da sie der Sachwalter in diesem Falle sind." „Aber Ihr Vater ist einer der Testamentsvollstrecker, Herr Barker," sagte Herr Screw, der sich verpflichtet fühlte, etwas zu sagen und Zeit gewinnen wollte. „Mein Vater, freilich," sagte Barker, häßlich lächelnd, „ja er ist einer der Testamentsvollstrecker, aber Sie sind

der andere, Herr Screw, und was das Verständniß der Sache anbetrifft, so könnten Sie sie allein übernehmen." Barker war willens, dem Sachwalter auf Kosten seines theuren Vaters zu schmeicheln. Screw konnte ihm in diesem Falle mehr nützen, als viele Väter. Herr Screw versank in Schweigen und saß einige Minuten still, ein Bein um das andere gehakt und seine Hände so tief als möglich in die Taschen gesteckt. Nach einer Weile ver­ änderte er seine Stellung, holte eine Art von Seufzer, der

211 wie das plötzliche Zusammenklappen von Orgelbälgen klang, und fuhr sich mit den Fingern durch sein dickes Haar. Barker dachte, nun würde er sprechen,

sich.

aber er irrte

Herr Screw war zu sehr überwältigt, um schon

sprechen zu können; so sprach denn Barker für ihn.

„Nun," sagte er, seinen Fuß streichelnd, und nach der Decke blickend, „was werden Sie dabei thun?"

„Ich werde thun, was in solchen Fällen angezeigt ist. Ich werde ihm kein Geld mehr auszahlen lassen und die

Sache untersuchen.

Wenn er nicht der wahre Claudius

ist, so muß doch der wahre Claudius irgendwo sein und

aufgefunden werden können." „Vielleicht ist er todt", meinte Barker. „Es ist ungefähr eben so leicht, einen Todten zu finden, als einen Lebendigen," sagte Screw, „und im all­ gemeinen sicherer.

Ein Todter kann

Kleider anziehen und den

sich

nicht andere

Bart abrasiren und um die

Ecke gehen." „Nein, im allgemeinen nicht," sagte Barker; „kein ordent­ licher Leichnam würde das thun. Wenn er todt ist, muß übrigens die Nachricht davon in den Heidelberger Zeitungen

gestanden haben. Er gehörte zur Universität, und in Deutschland wird dergleichen immer in den Lokalblättern angezeigt." „So ist es", sagte der Advocat.

manden

in Heidelberg,

welcher

„Kennen Sie Je­

der Sache

nachforschen

könnte, Herr Barker?"

Herr Barker kannte Jemanden in Heidelberg — in

der That die ganz dazu geeignete Person.

Er wollte so­

fort schreiben und die Nachforschungen in Gang bringen.

Unterdessen waren noch andere Dinge zu erledigen.

14*

Herr

212 Screw war, nachdem der erste Schreck vorüber, nicht ge­ sonnen, Herrn Barker so leichten Kaufes loszulassen, weil er sich für einen Menschen ^verbürgt hatte, den er als einen Betrüger beargwohnte. Barker entgegnete, er hätte Claudius im Besitz von Dokumenten gefunden, welche ihm die Herren Screw und Scratch übersandt hätten, und seine Schuld wäre es nicht, wenn er angenommen, daß diese schlauen Herren gehörige Vorsichtsmaßregeln beobachtet hätten, um sich der Identität ihres Klienten zu versichern. Er erwartete eine Frage von Herrn Screw; endlich kam sie. „Herr Barker", sagte Screw und heftete seine blanken Augenknöpfe fest auf seinen Gefährten — denn Herr Screw war kein Narr — „Herr Barker, Sie haben diesen Mann hierhergebracht und kennen ihn besier als irgend ein anderer. Nun, was ich wiffen möchte, ist dies. Er kann am Ende doch der rechte Mann sein. Was wir thun werden, soll nur aus Vorsicht geschehen. Wünschen Sie als dabei betheiligt aufzutreten oder nicht?" Barker hatte die Frage nicht so unumwunden erwartet, war aber vollständig darauf gefaßt. „Das ist mir eigentlich ziemlich gleich", sagte er mit gut geheuchelter Gleichgültigkeit. „Ich habe nichts da­ gegen. Es ist lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit; nehmen Sie dabei auf mich keine Rücksicht. Thun Sie, was Sie für recht halten," setzte er hinzu, das Wort recht betonend und Screws Blick dreist begegnend. Screw sah ihn einige Augenblicke schweigend an, dann wandte er die Augen ab. Der leiseste Schimmer eines Lächelns lag auf seinem gelben Gesicht, und dieser Ausdruck stand ihm gut. Screw war schlau, listig wie ein Wiesel, unbarm­ herzig wie ein stählerner Pfropfenzieher, der sich durch den

213 knirschenden Kork grausam hindurchbohrt, aber Screw war, wie man's heutzutage nimmt, ein ehrlicher Mann. Das war der Unterschied zwischen ihm und Barker. Screws Gesicht sah am besten aus, wenn er lächelte; Barkers listiges Lächeln war vom Teufel. Screw lächelte, wenn ihn etwas belustigte; Barker lächelte, wenn ihm etwas gelang. „Für's Erste", sagte Herr Screw, „wäre es vielleicht besser, wenn Sie nicht betheiligt erschienen, außer wenn Sie selbst es wünschen. Wenn wir uns irren, wenn der Doktor wirklich ist, was er zu sein vorgiebt, so würde es nachher für Sie unangenehm sein, wenn Sie an einer Untersuchung seiner Rechtsansprüche betheiligt gewesen wären." „Meinen Sie?" fragte Barker und sah Herrn Screw abgespannt an. „Nun gut, in diesem Falle können Sie die Untersuchung vornehmen, ohne mich dabei zu nennen. Ich werde ihm begegnen, als ob nichts vorgefallen wäre, und mir von ihm erzählen lassen, was Sie thun werden. Natürlich wird er es mir gleich erzählen. Ucbrigens, wie Sie sagen, kann er ja am Ende der Rechte sein." „Gewiß", sagte Herr Screw. Er wußte sehr gut, daß Barker nicht wünschte, Claudius sollte erfahren, welche Rolle er bei der Sache gespielt, falls sich alles als richtig herausstellte; was er aber nicht wußte, war, daß Barker ihn hinterging. Er glaubte, Barker zweifelte ernstlich an Claudius, und da sonst Niemand für diesen einstehen konnte, war er wirklich in Angst. Er überlegte sich die Sachlage und kam zu dem Schluffe, daß er in der Er­ füllung seiner Pflichten als Testamentsvollstrecker wirklich nachlässig gewesen wäre. Es war ihm nicht im geringsten wahrscheinlich vorgekommen, daß ein Betrug ausgeführt

214 werden könnte, und doch war am Ende nur die Bescheini­ gung der Unterschrift seitens des Heidelberger Notars vor­ handen, um den Betreffenden in seinen Ansprüchen auf Herrn Lindstrands Erbe zu unterstützen. Dieser Gedanke war Herrn Screw einigermaßen tröstlich. Jedenfalls würde er durchaus berechtigt sein, Claudius aufzusuchen, ihm die Schwierigkeit auseinander zu setzen und ihn zu bitten, ihm selbst nach besten Kräften bei der sofortigen Identifikation seiner Persönlichkeit beizustehen. Unterdeffen nahm er ein Verhör mit Barker vor und suchte ihm alle mögliche Aus­ kunft abzupreffen. Aber aus Herrn Barker etwas heraus­ zubekommen, war, wie er bald einsah, keine leichte Sache; und da der Zeiger der Uhr auf eins wies, erhob er sich allmälig langsam aus den Tiefen feines Lehnstuhls und sagte sich, Barker wisse nicht viel von der Sache, obschon er mehr wissen mußte, als irgend ein anderer und das Einzige, was er thun könnte, wäre, geradezu zu Claudius zu gehen und ihm den Fall vorzutragen. Kein ehrlicher Mann hatte je große Schwierigkeiten, nachzuweisen, wer er wäre, dachte Herr Screw, und wenn er ein Betrüger ist, wird er sich wahrscheinlich garnicht zur Wehr setzen, sondern sich aus dem Staube machen, und dann ist er leicht einzufangen. Barker stand auch auf und verabschiedete sich von dem Advokaten, sehr zufrieden mit seinem Tagewerk. Es war auch befriedigend. Er hatte auf Herrn Screw genau den Eindruck gemacht, den er machen wollte, und da er nun den Menschen des Gesetzes in Bewegung gebracht hatte, konnte er seine Hände in den Schooß legen und wieder seinem Vergnügen nachgehen. Er wußte, es würde alles geschehen, was Claudius ärgern und kränken konnte, und zwar in solcher Weise, mit soviel Umständlichkeit und

215 Aufbietung juristischer Höflichkeit und kaufmännischer Förm­ lichkeit, daß der unglückliche Doktor sich nicht beklagen konnte. Barker hatte schlau die Schwierigkeiten berechnet, welche Claudius zn überwinden haben würde, um in einem fremden Lande, ohne Freunde und gegen den Verdacht von Herrn Screw, seines Onkels Testamentsvollstrecker, seine Identität zu beweisen. Und wenn es auch nach un­ zähligen Anstrengungen und endloser Mühe dem Doktor gelingen sollte, sein Erbe anzutreten, was wahrscheinlich war, so würde Barker nicht schlimmer daran sein, als zu­ vor. Er würde nicht anzugreifen sein, und all den Vor­ theil an Zeit, den Claudius verlöre, würde er gewinnen, der Wolke des Verdachtes gar nicht zu gedenken, die ganz unvermeidlich Claudius überschatten müsse, bis es ihm ge­ lungen wäre, sich in den Augen der Welt davon zu reini­ gen. Mit Klugheit, Dreistigkeit und Geld ließ sich gar nicht absehen, wie weit Barker mit seinen Bewerbungen um die Gräfin kommen könne, ehe Claudius wieder er selbst wäre. Wenn er mit solchen Vortheilen nicht den Schweden ans dem Felde schlüge, so verdiente er's nicht besser. Das sagte sich Herr Barker, als er wieder allein im Clubzimmer war, während er langsam zweimal um den Tisch ging, sich im Spiegel besah, seinen dicken Schnurr­ bart drehte und sein Haar glättete. Dann nahm er seinen Hut und ging. Vor der Thür des Klub stand eine Droschke, und eine Minute später fuhr er in der Richtung nach seines Vaters Hause die Fünfte Avenue entlang. Die Maschine war aufgezogen, und er hatte nichts weiter zu thun. Nächsten Morgen würde Claudius eine unangenehme Viertelstunde mit dem Sachwalter haben, und Nachmittag würde Barker ihn besuchen und trösten, so gut er konnte; und nachdem er Claudius besucht hatte,

216 würde er der Gräfin einen Besuch machen und ihr erzählen, was für erbärmliche Zweifler diese Juristen wären, wie sie friedfertige Bürger unablässig quälten, um ihnen einige elende Dollars abzupreffen. Dann würde er ihr ferner sagen, wie leid es ihm thäte, daß Claudius Unannehm­ lichkeiten hätte, und wie er, Barker, ihm durchhelfen würde — das hoffe er wenigstens, denn, würde er hinzufügen, Männer wie Herr Screw und sein eigener Vater würden natürlich nicht solch Aufheben machen, wenn sie nicht zum mindesten glaubten, Grund zu Bedenken zu haben, und so weiter und so weiter. Und dann würde er die Gräfin mit der festen Ueberzeugung zurücklaffen, daß mit Claudius nicht alles richtig wäre. O ja, so etwas Unklares in seiner Vergangenheit, wie Sie sich denken können. Natürlich würde es sich ja ausklären und schließlich alles gut enden, sicherlich, ganz ohne Zweifel. Für Barker war es eine angenehme. Nacht; aber Claudius schlief schlecht. Er hatte einen bösen Traum.

Zwölftes Kapitel. Als Herr Screw am folgenden Tage Claudius in seinem Hotel aufsuchte, war dieser ausgegangen. Herr Screw sagte, er wolle auf ihn warten, und setzte sich mit einem Buche hin, um sich die Zeit zu vertreiben, denn in seinen seltenen Mußestunden las er sehr gern. Claudius war früh am Morgen ausgegangen, um die Stätte aufzu­ suchen, wo sein Onkel begraben lag, nichts Leichtes auf dem ungeheuern Friedhof, wo die Menschen zu hunderttausenden in stattlichen Alleen und großartigen Squares, in kostbaren

216 würde er der Gräfin einen Besuch machen und ihr erzählen, was für erbärmliche Zweifler diese Juristen wären, wie sie friedfertige Bürger unablässig quälten, um ihnen einige elende Dollars abzupreffen. Dann würde er ihr ferner sagen, wie leid es ihm thäte, daß Claudius Unannehm­ lichkeiten hätte, und wie er, Barker, ihm durchhelfen würde — das hoffe er wenigstens, denn, würde er hinzufügen, Männer wie Herr Screw und sein eigener Vater würden natürlich nicht solch Aufheben machen, wenn sie nicht zum mindesten glaubten, Grund zu Bedenken zu haben, und so weiter und so weiter. Und dann würde er die Gräfin mit der festen Ueberzeugung zurücklaffen, daß mit Claudius nicht alles richtig wäre. O ja, so etwas Unklares in seiner Vergangenheit, wie Sie sich denken können. Natürlich würde es sich ja ausklären und schließlich alles gut enden, sicherlich, ganz ohne Zweifel. Für Barker war es eine angenehme. Nacht; aber Claudius schlief schlecht. Er hatte einen bösen Traum.

Zwölftes Kapitel. Als Herr Screw am folgenden Tage Claudius in seinem Hotel aufsuchte, war dieser ausgegangen. Herr Screw sagte, er wolle auf ihn warten, und setzte sich mit einem Buche hin, um sich die Zeit zu vertreiben, denn in seinen seltenen Mußestunden las er sehr gern. Claudius war früh am Morgen ausgegangen, um die Stätte aufzu­ suchen, wo sein Onkel begraben lag, nichts Leichtes auf dem ungeheuern Friedhof, wo die Menschen zu hunderttausenden in stattlichen Alleen und großartigen Squares, in kostbaren

217 und einfachen, hohen und niedern Gräbern bestattet liegen

— alle aber fest verschlossen und still in der feierlichen Er­ wartung eines großen Tages. Claudius war bei dieser Pilgerfahrt nicht sentimental, für ihn war es eine natürliche

Sache, eine Pflicht, welche er als etwas Selbstverständliches zur Befriedigung seines eignen Gewissens erfüllte.

Einen

andern Grund konnte er nicht angeben, hätte man ihn aber

ausgefordert, das Gefühl zu erklären, das unter denselben Verhältnissen die meisten Menschen treibt, das Gleiche zu

thun, so würde er geantwortet haben, daß eine wissenschaft­

liche Erklärung der Thatsache nur in den uralten Gebräu­

chen

des

„Kultus

der Ahnen" zu finden sei, wovon sich

Spuren bis auf unsre Tage erhalten haben. Er würde aber hinzugesetzt haben, daß dies ein schickliches Zeichen der

Achtung und Verehrung für die Todten wäre, und daß man von Natur geneigt sei, solche Verpflichtungen zu er­ füllen,

wenn

man nicht durch Trägheit oder die Furcht,

lächerlich zu erscheinen, davon zurückgehalten wird.

Jeden­ falls ging er allein hin und kam erst am späten Nachmittag

zurück. Bei seiner Rückkehr war er nicht erstaunt, Herrn Screw ihn erwartend zu finden. Er hatte diesen Herrn bei seinem ersten Besuch in Pine Street nicht angetroffen, und so schien es ganz natürlich, daß seines Onkels Testaments­ Er war freundlich und zuvor­ kommend gegen seinen Besuch; dieser sah ihn prüfend an, blickte in seine ehrliche Augen und erkannte, daß dieser an­ gebliche Erbe Lindstrands allerdings ein gar stattlicher vollstrecker ihn aufsuchte.

Mann sei.

Herr Screw fühlte, wie schwer es sein würde

so einem Manne ins Gesicht zu sagen, daß er inbezng auf

seine Identität nicht ganz beruhigt wäre. Aber dann sagte sich der Advokat, Schwindler sind gewöhnlich hübsche

218 Leute; oft ist ihr stattliches Aussehen ihr ganzes Kapitel und Inventar. Herr Screw besaß gründliche Menschen­ kenntniß und entschied sich sofort für ein vorsichtiges, zu­ gleich aber offnes und ehrliches Auftreten. Nach vorange­ gangenem Austausch gegenseitiger Höflichkeiten eröffnete er den Angriff. „Ich komme in einer etwas peinlichen Angelegenheit, Doctor Claudius," sagte er, als er sich gesetzt hatte, und hakte ein Bein um das andre und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dr. Claudius rückte sich auf seinem Stuhl zurecht und wartete, ohne eine Ahnung zu haben, was diese Angelegenheit sein möge. „Sie werden begreifen," fuhr Herr Screw fort, „daß ich in meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker verpflichtet bin, bei der Verwaltung des Vermögens des verstorbenen Herrn Lindstrand alle nur denkbare Vorsicht zu beobachten. Deshalb können Sie mir nicht übel nehmen, was ich sagen werde. Meine Person hat nichts damit zu thun, eben so wenig kann ein auch noch so günstiger persönlicher Eindruck, den Sie auf mich machen, als ein Zeugniß für Sie gelten. Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen, und ich bin genöthigt zu sagen, das wenige, was ich von Ihnen weiß, obschon in so weit völlig befriedigend, genügt doch noch nicht, um vor Gericht zu beweisen, daß Sie wirklich die in Herrn Lindstrands Testament bezeichnete Person sind." Hier hielt Herr Screw inne, um zu sehen, wie Claudius die Mitthei­ lung aufnehmen würde, daß fernere Beweise erforderlich wären. Aber Claudius, die Verkörperung ruhiger, geistiger wie körperlicher Kraft, war nicht durch solche Kleinigkeiten zu erschüttern. Er verrieth nicht die geringste Erregung, nicht einmal besonderes Interesse an dem, was der Sach-

219 Walter sagte. Seine Haltung bezeugte nur Aufmerksamkeit für eine Angelegenheit, welche zu verstehen und aufzukläreu seine Psticht war, — mehr nicht. Er wünschte, Herr Screw möchte etwas schneller sprechen, sagen, was er verlangte, und dann gehen; aber er war zu höflich, um ihn zur Eile anzutreiben. „Mein lieber Herr," antwortete er, „ich begreife Ihre Lage vollkommen, und jede Entschuldigung Ihrerseits ist überflüssig. Bitte, fahren Sic fort." „Ich habe nichts weiter zu sagen," versetzte Herr Screw, erstaunt über so viel Gleichmuth, wo es- sich um ein großes Vermögen handelte. „Ich fasse mich bei solchen Sachen gern kurz. Ich habe wirklich nichts weiter zu sagen, mein Herr, außer daß ich Ihnen sehr verbunden sein würde, wenn Sie mir solche Beweisstücke übergeben möchten, welche Sie für den vollständigen Nachweis Ihrer Rechte für ge­ eignet erachten." „Sehr wohl," sagte Claudius, „wenn Sie mir sagen, was für Beweise Sie verlangen, will ich sie sofort beibrin­ gen." Damit stand er auf und zündete sich eine Ciga­

rette an. „Ihr rechtsgültig beglaubigter Geburtsschein würde vollkommen genügen", sagte Herr Screw, der sich durch des Doktors Benehmen wesentlich erleichtert fühlte. Letzterer stand aber plötzlich still, das Zündholz noch zwischen den Fingern haltend, und sah den Advokaten mit seltsam for­ schendem Blicke an. „Ich möchte Ihnen lieber einen andern Beweis meiner Identität geben," sagte er, „wenn's für Sie dasselbe ist." „Wenn es Ihnen lieber ist, natürlich", sagte der Ad­ vokat kalt. Sein Argwohn war sofort erregt, denn er hatte das einfachste Beweisstück verlangt, das ihm einfiel, und

220 die entschiedene Weigerung des Doktors, es beizubringen, erschien ihm sonderbar. „Ich nehme an", sagte dieser, „daß die formelle Be­ scheinigung meiner Identität seitens der Universitätsbehörde in Heidelberg genügen würde?" „Ja, vermuthlich", sagte Screw vorsichtig. „Aber wird es nicht etwas lange dauern, sie zu erhalten?" „Nun und wenn auch, was thut's?" „Nur dies — Sie werden begreifen, daß ich, ehe diese Angelegenheit erledigt ist, mich nicht berechtigt fühlen würde, Sie etwas von der Erbschaft erheben zu lassen." Claudius' logisches Gefühl war verletzt. „Mein lieber Herr," entgegnete er, „habe ich schon einen einzigen Dollar von der Erbschaft erhoben?" „Nein, mein Herr, ich muß sagen, das haben Sie nicht gethan, obschon Sie es als etwas Selbstverständliches ansehen konnten, es zu thun, und wir keinen Einwand er­ hoben haben würden." Herr Screw hielt plötzlich inne, er hatte sich verrathen und war sehr verlegen. Allein er hatte genug gesagt, um Claudius einen Be­ griff von der Sachlage zu geben. Es war etwas vorge­ fallen, Jemand hatte etwas gesagt, wodurch seine Identität angezweifelt wurde und Screw war der Abgesandte dieses

„Jemand". „In diesem Falle, Herr Screw," sagte der Doctor in gemeffnem Ton, „möchte ich Ihnen rathen, etwas vorsich­ tiger in Ihren Andeutungen zu sein, daß ich etwas der Art thun könnte. Sie haben mich schon genug gestört, und es wäre besser, wenn Sie mich nicht weiter störten. Ich sehe Ihr Benehmen als eine unerhörte Unschicklichkeit an und finde Ihre Reden nahezu impertinent. Was Sie jetzt sagen, hätten Sie mir in dem Briefe sagen sollen, in welchem

221 Sie mir meines Onkels Tod anzeigten, oder Sie hätten Herrn Barker, der zu der Zeit in Europa war und mich in Heidelberg aufsuchte, anweisen sollen, die nöthigen Er­ kundigungen einzuziehen. Die Beweise werden zur rechten Zeit erbracht werden, bis dahin wünsche ich nicht weiter den Vorzug Ihrer Gesellschaft zu haben." Herr Screw war über diese Art zu reden bei einem Manne, den er thörichterweise für gutmüthig gehalten hatte, dermaßen erstaunt, daß er einen Augenblick am Tische stand und nicht wußte, was er sagen sollte. Clau­ dius nahm bin Buch zur Hand und fing an zn lesen. „Nun", sagte er, als er bemerkte, daß Screw noch im Zimmer war, „warum gehen Sie denn nicht"? „Wirklich, Dr. Claudius", fing er an, „ich bin nicht daran gewöhnt". „Gehen Sie," unterbrach ihn Claudius, „es interesfirt mich nicht im mindesten zu hören, woran Sie gewöhnt find. Da ist die Thür." „Mein Herr!" — „Ziehen Sie das Fenster vor?" fragte der Doktor aufstehend und in heller Wuth auf den armen Advokaten losgehend. Herr Screw sah sofort ein, daß die Thür vorzuziehen wäre, und verschwand. Als er fort war, setzte sich Claudius nieder. Er war empört; aber nach seiner Ansicht war sein Zorn ein gerechter. Aus den Herrn Screw entschlüpften Worten war es ihm ganz klar geworden, daß Jemand, aus unbekannten Gründen, bestrebt gewesen wäre, ihm große Unannehmlichkeiten zu bereiten. Was er zu

Screw gesagt hatte, ließ sich nicht ableugnen. Wenn ein Zweifel an seiner Identität vorhanden war, so hätte eine volle Beweisführung gleich zu Anfang von ihm verlangt werden müssen. Allein sein eigenhAldiger, von einem

222 Notar in Heidelberg beglaubigter Brief war als genügend angenommen worden,

„Screw und Scratch" hatten auf

diesen Brief geantwortet, und Claudius hatte ihre Antwort in Baden erhalten. Es war ihm nie in den Sinn ge­ kommen, daß noch So lange Screw sich

etwas mehr verlangt werden würde. darauf beschränkt hatte, seine Lage

zu erklären und nur weiteres Zeugniß zu verlangen, hatte der Doktor nichts dagegen. Aber die Andeutung, daß Claudius Geld von der Erbschaft erheben möchte, ehe sein

Recht vollkommen fest stand, hatte ihn außer sich gebracht.

Es war eine Beleidigung seiner Ehre, und wie gering die Sache dem Herrn Screw erscheinen mochte, Claudius war nicht der Mann, sie sich gefallen zu lassen. Zehn Minuten später trat Herr Barker unangemeldet

ins Zimmer. Daß er kam, war nur natürlich, aber Claudius konnte ihn just nicht brauchen. Der Doktor

hatte noch nicht Zeit gehabt, sich die ganze Sache zu über­ legen, aber er hatte den leisen Verdacht, daß Barker etwas

mit dieser Wolke von Unannehmlichkeiten zu thun hatte, die plötzlich aufgestiegen war und seinen Pfad verdüsterte. Andrerseits war Barker auf einen Sturm gefaßt, wobei er

den

vertrauten Freund

und Tröster

spielen

wollte.

Claudius brauchte weder Freunde noch Trost und war in der allerübelsten Laune. Dessenungeachtet stand er aus, bot seinem Gast einen Stuhl und fragte, wie er sich be­ fände.

Barker setzte sich und sagte, er wäre ziemlich wohl,

und erhole sich allmälig von der Seereise. „Was haben Sie denn den ganzen Claudius?" fragte er. „Ich bin in Greenwood gewesen,

Tag

gethan,

um zu sehen,

wo

mein Onkel begraben ist," antwortete Claudius und ver­

sank wieder in Schweigen.

223 „Kein Wunder, daß Sie so düster aussehen. Was in aller Welt bewog Sie dazu, so etwas zu thun?" „Ich wurde nicht dazu bewogen", sagte Claudius. „Es war mein letzter Angehöriger auf der Welt, und ich that das Einzige, was ich thun konnte, um sein Andenken zu ehren, indem ich sein Grab besuchte." „Ja freilich, gewiß sehr passend", sagte Barker. „Wenn meine Verwandten anfangen wollten, wegzusterben, so würde ich mich schnell genug in Trab setzen, um ihre Gräber zu besuchen." C'audius schwieg. „Was in aller Welt ist Ihnen, Claudius? Haben Sie Kopfschmerzen oder wollen Sie heirathen?" Claudius nahm sich zusammen und bot Barker eine Cigarre au. „Mir ist gar nichts," sagte er, „der Ausflug hat mich vielleicht etwas trübe gestimmt; aber ich werde das bald überwinden. Die Streichhölzer sind auf dem Kaminsims!" „Danke! Warum kamen Sie heute nicht ein bischen in die Stadt? Ach so, Sie waren ja draußen. Es war ein rechter Spaß — ein förmlicher Bären­

garten." „So sah es mir schon gestern aus, als ich dort war." „Gestern? Ach so, Sie waren noch nie dagewesen. Ja, so ist es immer. Wissen Sie was, kommen Sie mit, wir wollen vor Tisch im Park spazieren fahren." „Nein, danke sehr. Es thut mir leid, aber ich habe eine Verabredung getroffen, die ich in wenigen Minuten einhalten muß. Sonst würde ich sehr gern ausfähren, Sie sind sehr freundlich." „Geschäfte?" fragte der neugierige Herr Barker. „Nun ja, wenn Sie's so nennen wollen — Geschäfte." „£>!" sagte Barker. „Dabei fällt mir ein, haben

224 Sie heute einen von unseren Sachwaltern gesehen?" Barker hatte erwartet, Claudius würde ihm anvertrauen, daß Screw Schwierigkeiten erhöbe. Da aber Claudius nicht davon anfing, that Barker diese Frage. „Ja", antwortete Claudius, „Screw ist hier gewesen. Er ist eben fortgegangen". „Ist irgend etwas nicht in Ordnung?" fragte sein Quäl­ geist. „Nicht, daß ich wüßte," sagte Claudius. Dann wandte er fich Plötzlich scharf gegen Barker und sah ihn gerade an. „Erwarteten Sie zu hören, daß etwas nicht in Ord­ nung wäre?" Claudius hatte eine höchst unbequeme Art, auf seinen Gegner gerade eine Minute früher loszufahren, als der Feind darauf gefaßt war. Barker hatte dies schon erfahren, und als er nun so geradezu befragt wurde, zuckte er fichtlich zusammen: „O bewahre! sagte er schnell. „Aber Advokaten sind manchmal so umständlich, besonders bei Testamenten. Und ich dachte, vielleicht quälte Sie Srew mit Formalitäten." „Nein", sagte Claudius gleichgültig, „nichts eben—" Er wurde durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen. Es war des Herzogs Diener, ein ruhiger Mann in grauer Kleidung und mit grauem Backenbart, kahlem Kopf und glänzenden Augen. „Eine Empfehlung von Seiner Gnaden, Herr Doktor, und ob sie Sie jetzt sprechen könnten?" „Ja, ich werde gleich kommen", erwiderte Claudius. „Ich glaube, Herr Doktor," sagte der Diener, „Seine Gnaden will zu Ihnen kommen." „Sehr schön. Meine Empfehlung, es wird mir sehr angenehm sein." Der graue Diener verschwand. Barker stand auf, um zu gehen, aber Claudius bat ihn, nicht zu eilen, als es wieder klopfte und der Herzog

225 eintrat. Er schüttelte Claudius die Hand und sprach ziem­ lich kalt mit Barker. Letzterem wurde unbehaglich zu Muthe, er merkte, er wäre im Wege. Und das war er. Barker hatte das zwischen dem Herzog und Claudius be­ stehende Verhältniß ganz falsch beurtheilt. Er hatte sich eingebildet, es stünde in seiner Macht, des Herzogs Meinung zu beeinflussen, während der bloße Versuch dazu den Eng­ länder aufgebracht hatte. Ueberdies war Herr Barker für den Herzog nur ein Gegenstand seiner Laune. Er fand den gewitzigten Geschäftsmann amüsant und sogar nützlich, als beständige Gesellschaft konnte er ihn nicht brauchen. Eine gemeinsame Fahrt über den Atlantischen Ozean war mehr als genug, um sein Verlangen nach Herrn Barker's Gesellschaft zu befriedigen, selbst wenn dieser nicht seinen Unwillen erregt hätte. Mit Claudius war es etwas An­ deres. Weshalb? konnte sich der brave Edelmann nicht sagen, aber es war einmal so. Er sah den Doktor mehr wie seinesgleichen an, als Barker. Der Herzog war bei sich zu Lande ein großer Mann, und es war wirklich son­ derbar, daß er in dem einfachen Privatdozenten einer deutschen Universität einen Mann nach seinem Geschmack finden sollte, einen Mann, der ihm von gleicher Kaste und gleichem Werth wie er zu sein schien. Vielleicht fühlte Barker das auch. Jedenfalls, als der Herzog in Claudius' Zimmer Platz genommen und um Erlaubniß gebeten, nach Licht zu schellen, also sich augenscheinlich häuslich niedergelafien hatte, fühlte Herr Barker, daß er zu viel wäre; er versprach, Claudius am nächsten Vormittag wieder zu besuchen, und empfahl sich. Claudius stand am Kamin, während der Diener das Gas anzündete. „Ich freue mich sehr, Sie zu sehen," sagte er, als der Mann fort war. Crawford, Doktor Claudius.

15

226 „Das ist mir lieb, denn ich wünschte mir Ihre Ge­ sellschaft. Die Gräfin Margarethe hat Kopfschmerzen, und Lady Victoria wird bei ihr aus ihrem Zimmer speisen und den Abend über bei ihr bleiben." „Es thut mir sehr leid, daß die Gräfin nicht wohl ist," sagte Claudius, „aber ich bin froh über alles, was Sie heute Abend herführt. Ich bin in Verlegenheit — das heißt, ich habe mich schwer ärgern müssen." — „Ach, thut mir leid," sagte der Herzog. „Es fügt sich so, daß Sie, meines Wissens nach, der Einzige in Amerika find, der mir helfen könnte." „Ich?" Der Herzog machte große Augen. Dann fiel ihm ein, es könnte etwas inbezug auf die Gräfin sein und er wartete auf Weiteres. „Sie find ein Gentleman", sagte Claudius ge­ dankenvoll, kaum als ob er die Worte an seinen Gast richtete. „Allerdings," sagte der Herzog, „das ist ein schönes Wort." „Und ein Ehrenmann", fuhr Claudius in nachdenklichem Ton fort. „Was zum Kuckuck, das ist ja ein und dasselbe", sagte der Herzog etwas verwundert. „Ja, in manchen Ländern ist es dasselbe. Nun, was ich Sie fragen wollte, ist dies. Könnten Sie, als Gent­ leman und Ehrenmann, vor Gericht beschwören, daß Sie mich kennen und daß ich derjenige bin, für den ich mich ausgebe? Das ist die Frage." Der Herzog war zu sehr erstaunt, um sogleich zu ant­ worten. Er wirthschaftete mit seiner Cigarre herum, stand auf und machte das Fenster zu. Dann setzte er fich auf einen andern Stuhl.

227 „Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen," sagte er endlich, um Zeit zu gewinnen. „Ich meine, was ich sage," erwiederte Claudius. „Könnten Sie vor dem obersten Gerichtshof der Ver­ einigten Staaten zum Beispiel beschwören, daß ich Clau­ dius, ehemals Student, jetzt Doktor der Philosophie an der Universität Heidelberg in Deutschland bin? Könnten Sie das beschwören?" „Mein guter Kerl," sagte der andre, „worauf in aller Welt wollen Sie hinaus?" Der Herzog sah ein, daß er mit gutem Gewissen nicht die von Clandius aufgestellte Behauptung beschwören könne, und da er ihn so gern hatte, war es ihm sehr peinlich, so in die Enge getrieben zu werden. „Ich will Ihnen nachher sagen, um was es sich han­ delt, Herzog," sagte Claudius. „Ich spreche im vollen Ernst und möchte, daß Sie meine Frage beantworteten, obgleich ich voraussehe, Sie werden mir sagen, Sie könnten nichts der Art beschwören." „Ehrlich gesagt, Claudius, obschon in meiner Seele nicht der leiseste Zweifel daran ist, daß Sie sind, was Sie zu sein scheinen, könnte ich das doch, gewissenhaft, nicht als Zeuge beschwören. Ich weiß nichts über Ihre Verhältniffe. Aber Barker würde es thun können." „Nein, er könnte es nicht. Er weiß von mir nicht mehr als Sie, außer daß er meine Bekanntschaft einige Tage früher gemacht hat. Er suchte mich allerdings in Heidelberg auf, zog aber keinerlei Erkundigungen über mich ein. Es fiel ihm nie ein, daß ich ein Anderer sein könnte, als der, für den ich mich ausgebe." „Nun, das sollt' ich wirklich meinen!" sagte der Her­ zog mit Wärme.

228 „Da ich nun aber hier persönlich erschienen bin, machen mir diese Juristen Schwierigkeiten. Einer von ihnen war eben hier und verlangte schriftliches Zeugniß für meine Identität." „Wer war das?" „Ein Herr Screw, einer der Testamentsvollstrecker." „Wer ist der andre Testamentsvollstrecker?" fragte der Herzog schnell. „Barkers Vater." Das Gesicht des Engländers verfinsterte sich, und er blies wie wild in seine Cigarre. Er war Tags zuvor auf Barker böse gewesen, jetzt hatte er ihn in Verdacht, daß er Unheil anstiste. „Was für Beweise verlangte der Mann?" fragte er endlich. „Irgend ein rechtsgültiges Dokument wäre genügend. Er verlangte meinen Geburtsschein, und ich sagte, den könnte er nicht bekommen. Und dann ging er so weit, in höchst unangenehmer Weise zu äußern, er könnte mich nicht «Mächtigen, etwas von der Erbschaft zu erheben, bis ich die erforderlichen Beweise erbrächte." „Nun, das ist selbstverständlich." „Ja, das wäre es zuerst gewesen. Die Leute hatten aber die bloße Unterschrift meines Briefes aus Heidelberg als einen Beweis meiner Existenz angenommen und mir im Juli nach Baden geschrieben, ich möchte so viel Geld erheben, als mir gefällig wäre. Und nun gehen sie mit einem Male auf mich los und sagen, ich bin nicht ich! Irgend etwas ist vorgefallen. Zum Glück habe ich das Geld nicht angerührt, trotz ihrer gütigen Erlaubniß." „Da steckt etwas sehr Sonderbares dahinter, Claudius. Können Sie so etwas wie einen Geburtsschein aufweisen?"

229 „Ja", sagte Claudius nach einer Pause.

„Ich habe

alles in bester Ordnung, den Trauschein meiner Mutter

und alles." „Warum denn, in des Himmels Namen, zeigen Sie

es nicht vor und schlagen all diese Schurken von Advokaten aus dem Felde?" „Weil" — hub Claudius dn, doch er zauderte und hielt inne. „Es ist eine eigenthümliche Geschichte," sagte er, „und eben darüber wollte ich mit Ihnen sprechen."

„Ist die Geschichte sehr lang?"

fragte der Herzog.

„Ich habe noch nicht gegessen."

„Nein, sie wird nicht lange dauern, und wenn Sie nichts

Besseres

sammen essen.

zu thun haben, können wir nachher zu­ Wenn

Erst aber möchte ich zweierlei sagen.

ich Ihnen nachweise, daß ich der Sohn von meines Onkels Schwester bin, wollen Sie dann Herm Screw sagen, daß

Sie dies als Thatsache wissen, d. h. daß Sie, im Falle es beschworen werden müßte, daraus abzulegen?"

willens wären, einen Eid

„Wenn Sie es mir so beweisen, daß ich im juristischen Sinn davon überzeugt bin, will ich es natürlich thun."

„Meine zweite Bitte ist, nicht kund zu thun, was ich Aus dem Umstande, daß

Ihnen sagen oder zeigen werde.

ich abgeneigt bin, diese Papiere einem Juristen zu zeigen,

selbst wenn mein Vermögen auf dem Spiele steht, können

Sie abnehmen, welchen Werth ich auf die Geheimhaltung derselben lege."

„Sie können mir vertrauen," sagte der Herzog, „ich gebe ihnen mein Wort", setzte er halb zögernd hinzu. Leute auf deren Wort man sich verlassen kann, pflegen sich zu

besinnen, ehe sie es geben.

Claudius verneigte sich höflich

zum Dank für das gegebene Versprechen.

Dann holte er

230 aus

einem Koffer, der in der Ecke des Zimmers stand,

das eiserne Kästchen heraus, in welches er den Brief des Sachwalters vor drei Monaten an jenem Abend hineinge­

legt hatte, als sein Geschick es aus dreißigjährigem Schlum­

mer erweckte.

Er stellte das Kästchen auf den Tisch, schloß

die Zimmerthür ab, setzte sich seinem Gast gegenüber und zog einen Schlüssel aus der Tasche. „Sie müssen es sonderbar finden," sagte er lächelnd,

„daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen mein Geheimniß anzuvertrauen; aber wenn Sie gesehen haben, was hier drinnen ist, werden Sie verstehen, daß Sie hier zu Lande

die geeignetste Person dazu sind — ich meine natürlich aus allgemeinen Gründen, denn ich brauche nicht erst zu sagen daß in diesen Papieren nichts ist, was Sie persönlich angeht." Claudius schloß das Kästchen auf und nahm einige

Briefe heraus, die obenauf lagen, dann schob er das Käst­

chen dem Herzog zu. „Bitte, wollen Sie den Inhalt selbst untersuchen?" sagte er.

„Es sind nur drei

oder vier Papiere durchzu­

lesen, — die übrigen sind Briefe meines Vaters an meine

Mutter.

Sie können sie auch ansehen, wenn Sie wollen;

sie find sehr alt." Der Herzog hatte die ganze Zeit über sehr ernst aus­ gesehen.

Er war nicht daran gewöhnt, daß man ihm sein

Ehrenwort bei Kleinigkeiten abverlangte, und wenn es fich

hier um eine triviale Sache, wie um einen angenommenen Namen oder so etwas Aehnliches handelte, so war er ge­ neigt, auf Claudius böse zu werden. Also nahm er das

kleine Eisenkistchen und untersuchte den Inhalt.

Es lagen

zwei Päckchen Papier darin, zwei oder drei Maroquinkap­ seln, die Schmucksachen enthalten mochten, und auf dem Boden des Kästchens lag lose eine Schnur Perlen.

Der

231 Herzog nahm die Perlen neugierig in die Hand und hielt sie gegen das Licht. Er hatte von dergleichen Sachen genug gesehen, um sich auf ihren Werth zu verstehen und wußte, daß diese Perlenschnur acht- bis zehntausend Pfund werth sein müsse. Er sah noch ernster aus als zuvor. „Das find wunderschöne Perlen, Doktor Claudius," sagte er, „zu schön als daß ein Heidelberger Gelehrter sie so unter seinen Sachen herumliegen lassen sollte!" Er drehte sie hin und her und setzte hinzu: „Die Herzogin hat nichts gleich diesen." „Sie gehörten meiner Mutter," sagte Claudius einfach, „ich weiß nicht, was ihr Werth ist." Der Herzog nahm die Papiere zur Hand und band das kleinere Päckchen auf, welches gerichtliche Dokumente zu enthalten schien, während das größere eine Reihe von Briefen zu sein schien, die in ihren Umschlägen so geordnet lagen, wie sie einst erhalten wurden. „Meiner Mutter Name war Maria Lindstrand," sagte Claudius. Er lehnte sich zurück, seine ewige Cigarette rauchend, und beobachtete das Gesicht des Herzogs. Ehe dieser weit gekommen war, blickte er zu Claudius auf und stieß' einen Ausruf heller Verwunderung aus. Claudius neigte nur den Kopf, als ob er den Inhalt des Papiers bestätigen wollte, und schwieg. Der Herzog las die Papiere aufmerksam durch und prüfte eines sehr genau am Licht. Dann legte er sie mit einer gewissen Ehrfurcht hin, wie Dinge, die er hoch hielt. „Mein lieber Claudius" — er stand aus und reichte dem jungen Manne die Hand mit einer Bewegung, in der viel Würde und auch etwas Stolz lag. „Mein lieber Claudius, ich werde es mein Leben lang nicht vergeffen,

232 daß Sie mich mit Ihrem Vertrauen beehrt haben. Ich hielt es für ein Zeichen von Freundschaft, nun aber kann ich es auch als eine große Auszeichung ansehen." „Und ich, Herzog, werde nie vergeffen, daß Sie an mich um meines eignen Werthes willen glaubten, ehe Sie wirklich beschwören konnten, daß ich mein eigen Selbst sei." Claudius war ebenfalls aufgestanden, und ihre Hände ruhten einige Augenblicke fest in einander. Dann machte sich Claudius daran, den Inhalt seines Kästchens wieder zu ordnen, und der Herzog ging im Zimmer auf und ab und sah den Doktor von Zeit zu Zeit an. Plötzlich blieb er stehen. „Aber — mein Himmel! Warum haben Sie dies ge­ heim gehalten?" fragte er, als ob er sich plötzlich besänne. „Meine Mutter", sagte Claudius, „war zu stolz her­ vorzutreten, um das zu fordern, was mein Vater, wenn er nicht so plötzlich gestorben wäre, ihr in wenigen Monaten gegeben haben würde. Was mich anbetrifft, ich bin mit meinem Leben zufrieden gewesen und würde nicht gern Jemandem Kummer bereitet haben, indem ich meine Rechte geltend machte. Meine Mutter starb, als ich ein reines Kind war, und hinterließ diese Papiere versiegelt mit der Weisung, daß ich sie nicht eher öffnen sollte, als bis ich einundzwanzig Jahre alt sein würde. Und als ich sie dann öffnete, beschloß ich nichts damit zu thun." „Sie sind nicht leicht zu verstehen, Claudius, aber ich will beschwören, was Sie wollen." „Danke! Ich bin ihnen wirklich sehr dankbar." „Sprechen Sie nicht davon! Ich bin stolz daraus, Ihnen dienen zu können. Beiläufig gesagt — der gegen­ wärtige Inhaber ist kinderlos, so viel ich weiß. Er muß Ihres Vaters Bruders sein?"

233 „Ja," sagte Claudius, „wenn er stürbe, würde ich kein

Bedenken mehr haben." „Nein, in der That, ich hoffe nicht. Es ist eine Schande, daß es so ist!" „Aber sagen Sie doch," fragte Claudius, der sein Kästchen verwahrt hatte, „warum sind Sie heute nicht nach Newport gefahren? Ich wollte Ihnen morgen nachkommen. Ueber dieser Geschichte hatte ichs ganz vergessen." „Lady Victoria und die Gräfin wollten beide noch einen Tag hier bleiben." „Ist die Gräfin krank?" fragte Claudius, „oder glau­ ben Sie, daß sie mich heute Abend empfangen würde?" „Ich glaube nicht, daß ihr etwas Besonderes fehlt. Sie wird Sie gewiß nach Tisch empfangen. Aber ich bin hungrig, ich bin heute Nachmittag durch ganz New Aork gelaufen." „Nun gut, wir wollen essen gehen, Sie kennen New Jork, bestimmen Sie wo." Arm in Arm gingen sie zusammen aus, und der Herzog führte Claudius in die Herrlichkeiten von Delmonico ein.

Dreizehntes Kapitel. Unglück kommt selten allein, überdies kommt es zu Pferde und geht zu Fuß. Während Claudius einen ungemüthlichen Nachmittag verlebt hatte, war für die Gräfin der Tag durch den Schatten einer drohenden Schwierigkeit sehr ernster Art verdunkelt worden. Mit ihrem Morgenkaffee hatte ihr Kammermädchen

233 „Ja," sagte Claudius, „wenn er stürbe, würde ich kein

Bedenken mehr haben." „Nein, in der That, ich hoffe nicht. Es ist eine Schande, daß es so ist!" „Aber sagen Sie doch," fragte Claudius, der sein Kästchen verwahrt hatte, „warum sind Sie heute nicht nach Newport gefahren? Ich wollte Ihnen morgen nachkommen. Ueber dieser Geschichte hatte ichs ganz vergessen." „Lady Victoria und die Gräfin wollten beide noch einen Tag hier bleiben." „Ist die Gräfin krank?" fragte Claudius, „oder glau­ ben Sie, daß sie mich heute Abend empfangen würde?" „Ich glaube nicht, daß ihr etwas Besonderes fehlt. Sie wird Sie gewiß nach Tisch empfangen. Aber ich bin hungrig, ich bin heute Nachmittag durch ganz New Aork gelaufen." „Nun gut, wir wollen essen gehen, Sie kennen New Jork, bestimmen Sie wo." Arm in Arm gingen sie zusammen aus, und der Herzog führte Claudius in die Herrlichkeiten von Delmonico ein.

Dreizehntes Kapitel. Unglück kommt selten allein, überdies kommt es zu Pferde und geht zu Fuß. Während Claudius einen ungemüthlichen Nachmittag verlebt hatte, war für die Gräfin der Tag durch den Schatten einer drohenden Schwierigkeit sehr ernster Art verdunkelt worden. Mit ihrem Morgenkaffee hatte ihr Kammermädchen

234 ihr einen Brief in ausländischer Handschrift gebracht. Das Mädchen war eine Französin und besaß die gewöhnlichen Eigenschaften französischer Zofen, folglich hatte sie ihr Gehirn aufs äußerste angestrengt, um herauszubekommen, wer der Absender sein konnte. Aber das Schreiben war versiegelt, und auf dem Siegel stand nur ein einfaches N. So nahm sie zu ihrem gewöhnlichen Auskunftsmittel ihre Zuflucht und machte sich im Zimmer zu schaffen, während ihre Herrin den Brief öffnete, in der Hoffnung daß ein unwillkürlicher Ausruf oder vielleicht eine Antwort ihrer Neugier die ersehnte Nahrung geben werde. Aber Mar­ garethe las das Briefchen zweimal und zerriß es dann sorgsam in kleine Stücke; dann besann sie sich und ver­ brannte sie einzeln alle an einem Wachslicht, so daß keine Spur davon übrig blieb. Darauf schickte sie ihr Mädchen fort und versank in tiefes Nachdenken. Aber das half ihr nicht viel. Der warme Sonnenschein stahl sich durch die Fenster, und der Straßenlärm hinderte sie am Schlafen, denn nach der langen Seereise war sie nicht an das Wagen­ gerassel gewöhnt. So schellte sie wieder nach ihrem Kammer­ mädchen. Dieses kam und brachte ihr ein zweites Briefchen, welches ihr, wie sie sagte, von „Monsieur Clodiuse“ über­ geben war, und fragte, ob Antwort nöthig wäre? Es waren nur wenige Zeilen, in denen er sagte, daß er den ganzen Tag abwesend sein würde, und daß er hoffte, die Gräfin morgen in Newport wiederzusehen. Aber aus irgend einem Grunde war Margarethe mit dem Billet nicht zufrieden und sagte nur, es bedürfe keiner Antwort. Wollte Madame ausgehen oder sich zu Hause halten? Madame wollte nicht ausgehen. War es warm? O ja, sehr warm, wirklich hebetant 1 Würde Madame Monsieur le Duc empfangen, wenn er um elf Uhr käme? Monseig-

235 neur’s Monsieur Wielies hatte sie beauftragt Madame danach zu fragen. Nein, Madame könne heute Vormittag Monsieur le Duc nicht sprechen. Wenn aber sonst Je­ mand nach ihr fragte, wünschte Madame es zu wissen. Ganz wie Madame wünschte. Und so gings weiter mit der Toilette. Bald daraus kam Jemand. Es klopfte an die Thür des Schlafzimmers. Clementine ließ das Haar der Gräfin los, welches sie eben kämmte und flocht, und ging an die Thür. Es war der alte Wladimir, Margarethens treuer russischer Diener. „Zu dieser Stunde!" rief die Gräfin, welche nicht in bester Laune war. „Was will er?" Wladimir wagte es an der Thür etwas auf russisch zu sagen, was sofort Eindruck machte. Margarethe sprang auf, schlug ihr Haar zurück, warf bei ihrer raschen Bewe­ gung den Stuhl um und mehrere Sächelchen vom Toiletten­ tisch auf die Erde. Sie ging schnell an die Thür, ihr prachtvolles schwarzes Haar hing lang herab. Sie konnte genug Russisch, um mit dem Diener zu sprechen. „Was sagtest du, Waldimir?" „Margarethe Iwanowna" — Margarethens Vater hieß Johann —, Nicolai Alexandrowitsch ist hier," sagte Wladimir, augenscheinlich höchst überrascht. Seine geogra­ phischen Studien waren rein empirisch; das plötzliche Er­ scheinen eines russischen Herrn brachte ihn deshalb auf den Gedanken, seine Herrin wäre in einem entlegnen Theil von Rußland oder doch wenigstens von Europa gelandet. Sie befahl dem alten Diener, den Herrn in ihr Wohnzimmer zu führen und ihn zu bitten, er möge warten. Sie war bald mit ihrer Toilette fertig. Ehe sie das Zimmer ver­ ließ, brachte ein Kellner wieder eine Schachtel mit Blumen

236 von Herrn Barker. Clementine zerschnitt den Bindfaden und öffnete sie. Gleichgültig blickte Margarethe auf die Fülle von Rosen und blaßrosa Wasserlilien — eine seltne Art, die sich nur an zwei Orten in Amerika findet, nämlich auf Long Island und bei Boston, und als sie sie angesehen, wendete sie sich ab, um zu gehen. Clementine hob einige der Blumen in die Höhe, als ob sie sehen wollte, wie sie zu Margarethens Kleide stehen würden. „Wollte Madame nicht einige Blumen vorstecken?" Nein. Madame wollte es nicht. Madame konnte Blumen nicht leiden. Worauf die Auge Clementine aufmerksam den Namen des Absenders las, der auf einer Karte stand, die obenauf in der Schachtel lag. Herr Barker war nicht so dumm, anonym Blumen zu spenden. Er wollte seine Verdienste anerkannt wissen. Die Gräfin ging aus der Stube. An der Thür des Wohnzimmers kam ihr ein junger Mann entgegen, der sich tief verneigte, um ihre dargereichte Hand zu küssen; er begrüßte sie in einer Weise, die voll­ kommen achtungsvoll war, aber doch zeigte, daß sie aus vertrautem Fuße ständen. Nicolai Alexandrowitsch, den wir einfach Gras Nico­ lai nennen wollen, war der einzige Bruder ihres verstor­ benen Gatten. Wie Alexis war er Offizier in einem Garderegiment gewesen; Alexis war bei Plewna gefallen, und Nicolai hatte den Titel und die Güter geerbt, aus denen aber der Gräfin eine beträchtliche Jahresrente aus­ gesetzt war. Nicolai war ein hübscher Mann von fünf- bis sechs­ undzwanzig Jahren, mittlerer Größe, dunkler Gesichtsfarbe und gedrungener Gestalt. Sein Bart war tief schwarz,

237 und er trug ihn zugespitzt. Seine Augen waren klein und tiefliegend, aber voll Intelligenz. In Wesen und Manieren erschien er durchaus wie ein Mann von vornehmer Ge­ burt, aber es war noch etwas Gewisses, Unbeschreibbares an ihm. Viele Russen haben das, und die Franzosen haben den Eindruck, den es macht, in dieser Redensart zusammengefaßt: „Kratze einen Ruffen, so entdeckst du den Tataren." Es ist ein orientalischer Zug im Blut, den man eben so gut bei Serben, Bulgaren, Rumänen und selbst bei Ungarn wie bei Russen findet. Es ist die Eigen­ thümlichkeit der meisten dieser Raffen, daß sie unter gewiffen Umständen, wenn sie durch und durch erregt sind, bis zum Aeußersten gehen, und das mit einer Nichtachtung der Folgen, die den westlichen Nationen barbarisch und unbegreiflich vorkommt. Margarethe hatte den Grafen Nicolai immer gern gehabt. Er war wild, aber ein ritter­ licher Edelmann, auf den man sich immer verlassen konnte. „Mon eher“, sagte Margarethe, „ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß ich entzückt bin, Sie zu sehen; aber was bedeutet das, was Sie mir heute Morgen geschrieben haben? Sind Sie wirklich im Unglück?" „Ach ja! Im schlimmsten, das es für einen Ruffen giebt. In politische Verlegenheiten verwickelt — und das zieht alles andre nach sich." „Erzählen Sie mir alles genau," sagte sie. „Vielleicht kann ich helfen." „Ach nein! Sie können mir nicht helfen! Nicht darum bin ich gekommen. Ich habe ein Geständniß zu machen, das Sie betrifft." „Nun?" fragte sie lächelnd. Sie glaubte nicht, daß es etwas sehr Schlimmes sein könnte. „Sie werden natürlich böse sein," sagte er; „aber das

238 ist noch gar nichts. Ich habe Ihnen ein Unrecht ange­ than, das ich nicht wieder gut machen kann." „Enfin, mein lieber Nicolai, sagen Sie mir alles. Ich glaube nichts Schlechtes von Ihnen." „Sie sind die Güte selbst, und ich danke Ihnen im voraus. Aber warten Sie erst ab! Ich bin verdächtig. Man hält mich für einen Nihilisten. Ich bin nach den Bergwerken verbannt, und alle meine Güter sind ein­ gezogen. Voilä! konnte es schlimmer kommen?" Margarethe war außer Faffung. Sie war zur Zeit ihrer Verheiratung mehr als wohlhabend gewesen, aber die Geldkrisis in Amerika hatte ihr Vermögen sehr ge­ schmälert. In letzter Zeit batte sie sich hauptsächlich aus ihre Wittwenrente verlaffen, um sich all den Luxus ge­ währen zu können, der ihr nun einmal Lebensbedürfniß war. Sie bedeckte einen Augenblick ihre Augen mit einer Hand, um sich zu sammeln und womöglich die ganze Größe des Unglücks zu ermessen. Nicolai mißverstand diese Bewegung. „Ich weiß, Sie werden mir nie vergeben. Ich ver­ diene es auch nicht. Aber ich will alles, was in meinen Kräften steht, thun, um das Uebel wieder gut zu machen. Wenn ich nach Sibirien gehe, wird man Ihre Ansprüche aus das Vermögen anerkennen." Margarethe zog ihre Hand fort und sah den jungen Mann innig an. „Ihnen vergeben!" sagte sie. „Mein lieber Nicolai, Sie meinen doch nicht, ich dächte im Emst, daß ich etwas zu vergeben hätte?" „Aber es ist wahr," sagte er schmerzlich, „wenn man mich zu Grunde richtet, verlieren Sie auch alles. Mon Dien! mon Dieu! Hätte ich nur einen Freund" —

239 „Taisez-vous donc, mon ami! Tont ce que vous dites, est du plus bete! Sie haben viele Freunde, und was mich betrifft, so mache ich mir gar nichts aus dem Gelde. Nur wenn ich's gewußt hätte, wäre ich in Europa geblieben, voila tout!“ „Ach, das ist es!" sagte Nicolai. „Ich entging der Polizei und eilte nach Baden, aber Sie waren fort. So reiste ich mit dem ersten Dampfboot hierher. Aber ich habe zehn Tage gewartet, und erst gestern las ich in den Zeitungen, daß Sie gestern Morgen angekommen wären, und hier bin ich." Margarethe stand auf, ihr war zu Muthe, als ob sie sich bewegen müsse — der Dämon der Ruhelosigkeit über­ kommt thatkräftige Leute, wenn sie in Sorgen sind. Nicolai dachte, es wäre ein Wink für ihn, zu gehen. Er nahm feinen Hut. „Glauben Sie mir" — fing er an, im Begriff, sich zu verabschieden. „Sie wollen doch noch nicht gehen?" rief Margarethe. „Ach nein! Bleiben Sie, wir wollen überlegen, was sich thun läßt. Ueberdies haben Sie mir noch nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich wissen möchte. Auf das Geld kommt es dabei nicht an; was aber hatten Sie gethan, um sich diese Verurtheilung zuzuziehen? Sind Sie wirk­ lich ein Nihilist?" „Dieu m’en garde!“ sagte der Graf. „Ich bin nur ein Republikaner. Aber unser Heiliges Rußland macht darin keinen Unterschied." „Ist es nicht ein sehr seiner Unterschied?" „Der Unterschied zwischen Heil durch Erziehung und Heil durch Dynamit, der Unterschied zwischen aufbauen und einreißen, zwischen Robespierre und Washington."

240 „Sie müssen unvorsichtig gewesen sein. Wie konnte Verdacht auf Sie fallen?" „Ich war bete genug, einen Artikel in der Russki Mir zu schreiben — einen ganz zahmen Artikel. Daraus dachten einige Agenten der Nihilisten, ich theile ihre An­ sichten und wollten mich besuchen; die Polizei beobachtete sie, und ich wurde sofort selbst für einen Nihilisten ge­ halten. Es fand bei mir eine Haussuchung statt. Die Polizei entdeckte einige Notizen und Manuskripte von mir, ganz genug für ihre Zwecke, und so war es aus mit mir!" „Aber Sie wurden nicht festgenommen?" „Nein. Zu meinem Glücke war ich gerade auf Urlaub in Berlin; denn bis dahin war ich noch nie im gering­ sten verdächtig gewesen. Und den Nihilisten, welche, das muß man ihnen lassen, gut organisirt find und für ihre Brüder sorgen, gelang es, mir die Nachricht zugehen zu lasten, ich möchte nicht zurückkommen. Einige Tage später ließ die russische Botschaft in Berlin nach mir suchen; aber ich war schon fort. Ich wurde in contumaciam verurtheilt und las die Nachricht davon in den Zeitungen auf meinem Wege nach Paris. Das ist die ganze Ge­ schichte." „Haben Sie Geld?" fragte Margarethe nach einer Pause. „Mon Dieu! Ich habe noch hundert Napoleons. Apres cela le deluge!“ „Bis dahin werden wir gegen die Sündfiuth gerüstet sein", sagte Margarethe heiter. „Ich habe viele Freunde, und etwas wird sich noch machen lassen. Unterdeffen grämen Sie sich nicht um mich. Sie wiffen, ich habe etwas eignes Vermögen."

241 „Wie kann ich Ihnen für Ihre Güte danken? Sie sollten mich hassen, und statt deffen trösten Sie mich!" „Mein lieber Freund, wenn ich Sie nicht um Ihrer selbst willen gern hätte, würde ich Ihnen helfen, weil Sie des armen Alexis Bruder sind." Es war keine Rührung in ihrer Stimme, als sie ihres verstorbenen Mannes ge­ dachte, nur eine gewisse Ehrfurcht. Sie hatte ihn mehr geachtet als geliebt. „Princesse quand meme!“ sagte Nicolai leise, indem er ihre Finger an die Lippen drückte. „Lassen Sie mir Ihre Adresse, ehe Sie gehen. Ich werde Ihnen schreiben, sobald ich entschieden habe, was sich thun läßt." Nicolai kritzelte den Namen eines Hotels auf seine Karte. Als er fort war, sank Margarethe auf einen Stuhl. Sie würde nach Claudius geschickt haben — Claudius war ihr Freund, — aber ihr fiel sein Briefchen ein, und nicht ohne Ungeduld dachte fie, daß er gerade fort wäre, wann sie ihn am meisten brauchte. Dann dachte sie an Lady Victoria und klingelte. Aber Lady Victoria war mit ihrem Bruder ausgegangen, und sie hatten Fräulein Skeat mitgenommen. Margarethe war allein gelassen in dem großen Hotel. Von fern konnte sie eine Thür zu­ schlagen hören, oder das Klappern der silbernen Messer und Gabeln bei einem verspäteten Frühstück drang von oben oder von unten her zu ihr; und auf der Straße dieses ewige Gerassel und Summen und Dröhnen, dies Dröhnen und Summen und Raffeln von Rädern und Menschen; das unaufhörliche Klingeln der Straßenbahn­ wagen, die alle paar Schritte still hielten, um einen Passagier aufzunehmen, und das Geklingel der Pferde­ schellen, wenn sie weiterfuhren! Es war heiß, sehr heiß. Crawford, Doktor Claudius.



242 Clementine hatte recht, es war hebetant, wie es in New Jork im September sein kann. Sie dachte, sie könnte ausgehen und Einkäufe machen, als letztes Auskunftsmittel für eine reiche Dame, die sich langweilt und müde ist. Einkäufe machen! Sie hatte vergeffen, daß sie ruinirt war. Nun, wenn auch nicht ganz, so doch beinahe. Es dürste lange dauern, ehe sie sich berechtigt fühlen würde, etwas zu ihrem bloßen Vergnügen zu kaufen. Sie versuchte es auszudenken, wie es sein müsse, arm zu sein; aber das mißlang ihr gänzlich, wie es Damen in ihren Verhält­ nissen stets mißlingt. Wenn es darauf ankam, war sie beherzt genug; müßte es sein, so würde sie auch den Muth haben, arm zu sein. Aber sie hatte nicht Geschick dazu, sich auszumalen, wie das sein würde. Sie mußte wieder an Claudius denken. Es würde so nett sein, wenn er jetzt neben ihr säße und ihr aus einem der weisen Bücher vorläse, die er so liebte. Es war so heiß. Wenn doch irgend etwas vorfallen möchte! Der arme Nicolai! Er hätte nicht so schrecklich niedergeschlagen wegen des Vermögens sein sollen! „Wer ist da?" Es war Wladimir; er brachte eine Karte. Ja, sie würde Herrn Bellingham empfangen. Wladimir verschwand und führte gleich darauf Herrn Bellingham herein, im allgemeinen unter dem Namen „Onkel Horaz" bekannt. „Es freut mich so, Sie zu sehen, Herr Bellingham," sagte Margarethe, die am Abend zuvor eine große Vor­ liebe für Herrn Bellingham gefaßt hatte und übrigens an diesem Vormittag Jeden willkommen geheißen hätte. Herr Bellingham machte seine verbindlichste Vernei­ gung, ganz nach dem ancien regime. Er hätte gewagt, ihr ein paar Blumen zu bringen, würde sie sie annehmen?

243 Es waren nur drei Rosen, aber in ihnen war mehr Schön­ heit, als in Herrn Barkers Ueberfluß an Blumen. Mar­ garethe nahm sie, roch daran und steckte sie in ihren Gürtel und lächelte den Geber mit himmlischem Lächeln an. „Ich danke Ihnen so sehr", sagte sie. „Danken Sie nicht," sagte er, „ich bin durch Ihre freundliche Annahme mehr als belohnt." Er rieb sich die Hände und verbeugte sich nochmals, den Kopf etwas zur Seite geneigt, als ob er jeden fernern Dank ablehnen wollte. Dann fing er sofort zu sprechen an und ließ ihr dabei Zeit, den Gegenstand des Gespräches zu wählen, wie sie wollte, denn er gehörte zu einer Klaffe von Männern, welche es für ihre Pflicht halten, mit Damen zu sprechen, und nicht beanspruchen, mit in einander ge­ legten Händen dazusihen und sich unterhalten zu lassen. Für solche Männer ist Amerika eine Offenbarung gesell­ schaftlichen Ausruhens. In Amerika unterhalten die Damen die Herren, und die Männer entschuldigen sich damit, daß sie den ganzen Tag hart arbeiten und daß man nicht von ihnen verlangen könne, auch noch den Abend über hart zu arbeiten. Es ist augenscheinlich ein Zustand vorgeschritte­ ner Kultur, für den der gröbere europäische Geist kein Verständniß hat, — ein Zustand, tu dem eine Dame zu unterhalten als harte Arbeit angesehen wird. Oder — wir fragen das mit Furcht und Zittern — sind sie nicht imstande, ihre Frauen zu unterhalten? Ist ihre Weigerung ein testimonium paupertatis ingenii? Nein — fort mit dem Gedanken! So mag es vor langer, langer Zeit gewesen sein, im Goldenen Zeitalter. Dies ist aber nicht das Goldene Zeitalter; es ist das Zeitalter des Goldes!

Messieurs! faites votre jeu!

244 Allmälig stellte es fich heraus, daß Margarethe über Rußland sprechen wollte, Herr Bellingham ging darauf ein und gab ihr einen kleinen Ueberblick über die dortigen Zustände, erzählte Anekdoten vom Fürsten Dolgorucki und machte denselben Unterschied zwischen Republikanern und Nihilisten, wie Graf Nicolai vor einer Stunde in diesem selben Zimmer es gethan hatte. Als Herr Bellingham ihr lebhaftes Interesse wahrnahm, erlaubte er sich eine Frage, die ihn schon eine Weile beschäftigt hatte. Er streichelte sich den schneeweißen Kopf und zögerte ein wenig. „Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin, gnädige Frau," sagte er endlich, „aber ich las neulich in den Zei­ tungen, daß ein russischer Edelmann Ihres Namens — ein Graf Nicolai denke ich — in New Jork gelandet wäre, nachdem er den Krallen der Petersburger Polizei entgangen, die ihn als einen Nihilisten verhaften wollte. War das — war das ein Verwandter von Ihnen?" „Es ist mein Schwager", sagte Margarethe, betroffen über die Wendung, welche sie dem Gespräch gegeben hatte. Allein sie hatte eine aufrichtige Sympathie für Herrn Bellingham und war eigentlich froh, daß sie mit Jemanden über die Sache sprechen konnte. Sie brauchte so nöthig Rath, und wenn überdies die Geschichte in den Zeitungen stand, war sie ja schon Eigenthum des Publikums geworden. Herr Bellingham war ein vollendeter Diplomat, und da er sich dafür interessirte, wußte er bald alle Einzelheiten des Falles am Schnürchen. „Es ist sehr traurig", sagte er. Aber das war alles. Margarethe hatte eine schwache Hoffnung gehabt, er würde sich erbieten, ihr zu helfen — das war natürlich absurd —, aber wenigstens konnte er ihr guten Rath geben. Das war indeffen nicht Herrn Bellinghams Art. Wenn

245 er etwas zu thun beabsichtigte, würde er ihr das am aller­ wenigsten im voraus sagen. Er gab dem Gespräche eine andere Wendung und schloß es mit einigen Geschichtchen von ihrer Großmutter ab; dann stand er auf, indem er sagte, er würde erwartet. In der That hatte er jeden Tag so viele Aufforderungen und Verabredungen, daß er selten mehr als die Hälfte davon innehalten konnte, und seine Entschuldigung war kein höflicher Vorwand. Er empfahl sich, und Margarethen war zu Muthe, als hätte sie ein Freund verlassen. Der Tag wurde ihr lang — so lang, so heiß und so trostlos. Sie versuchte zu lesen, dann einen Brief zu schreiben, dann versuchte sie wieder nachzudenken. Es schien ihr, als wäre so wenig dabei zu bedenken, denn sie hatte ein hoffnungsloses, hilfloses Gefühl, als ob nichts, was sich noch etwa thun ließe, in ihrer Macht stünde. Sie könnte an ihre Freunde in Petersburg schreiben, ja natürlich wollte sie das thun und ihnen alle möglichen Vorschläge machen — aber das alles schien so weit ab zu liegen und konnte eben so gut morgen geschehen als heute. Endlich kam Lady Victoria zurück, und als Margarethe sie sah, beschloß sie, sich ihr ebenfalls anzuvertrauen. Sie hatte solch gesundes Urtheil und schien immer imstande, die Wahrheit herauszufinden. Also nahm Margarethe Lady Victoria den Nachmittag über für sich in Anspruch, sie saßen mit ihrer Arbeit am offenen Fenster, und die Gräfin war „nicht zu Hause". In der That konnte eine Dame von Welt, wenn sie irgendwie in Sorge war, nichts Besseres thun, als sich Lady Victoria anvertrauen. Sie war so offen und ehrlich, daß schon beim Sprechen mit ihr die Sorge kleiner und das Herz leichter wurde. Viel Intelligenz hatte sie nicht,

246 aber viel gesunden Verstand. Im gewöhnlichen Sinne ist gesunder Menschenverstand eigentlich nur ein Widerwillen gegen Verwickelungen und eine daraus folgende Abneigung seitens des Einzelnen, sie ins Auge zu fassen. Leute mit lebhafter Einbildungskraft lieben es, sich die Schwierigkeiten im Leben zu vergrößern, indem sie sich für den Mittel­ punkt von allerlei Plänen, Ränken und Anschlägen halten. Sie widmen ihre Zeit und Kraft dem Studium der ge­ sellschaftlichen Diplomatie. Leuten, die entweder geistig sehr hoch oder sehr tief stehen, bleibt es vorbehalten, ein wirklich einfaches Leben zu führen. Der Durchschnitts­ verstand in der Welt ist über die meisten Dinge schrecklich im Unklaren und inbezug auf die eigene Existenz ganz aus dem Gleichgewicht; denn eine Verbindung von viel Einbildungskraft, unbegrenzter Eitelkeit und unergründ­ licher Unwiffenheit kann an die Stelle des Jntellects treten, während eine solche Verbindung nicht verfehlen kann, in dem ursprünglichen Narren die vis inertiae zu zerstören, welche nur sieht, was sichtbar ist, statt Gebilde phantastischer Unwirklichkeit aus dem bodenlosen Abgrund seines sogenannten Bewußtseins herauszubeschwören. Zum Glück für die Menschheit überwiegt der tiesstehende, phan­ tasielose Geist in der Welt, wenigstens der Zahl nach, und es giebt genug Menschen mit wahrhaftem Intellekt in der Welt, um das Ganze zu durchdringen wie Sauerteig. Die Durchschnittsgeister bilden eine kleine Klasse, hauptsächlich innerhalb der Schranken einer belustigenden Veranstaltung zusammengeschloffen, welche sich „die Gesellschaft" nennt. Diese Leute haben die vorerwähnte Verbindung von Ein­ bildung, Unwiffenheit und Eitelkeit geglättet und gefirnißt und zu einer gewissen konventionellen Sache gemacht, die sie ihre „Intelligenz" nennen, nach einem lateinischen

247 Verbum intelligo, d. h. ich verstehe. ist es

Trotz alles Firnisses

ein armselig Ding, weder Hammer noch Amboß;

es kann nicht schlagen, und schlägt man darauf,

so findet

sofortige Auflösung statt, worauf es von dem armen Thoren heißt, er habe „den Verstand verloren" und müsse

in ein Irrenhaus.

Es ist merkwürdig, daß

die große

Mehrzahl der Wahnsinnigen in der „Gesellschaft" zu finden sind.

Die Gesellschaft sagt,

alle Leute von Genie seien

mehr oder minder wahnsinnig; aber es ist eine bemerkens-

werthe Thatsache, daß nur sehr wenige Männer von Genie

je wirklich in ein Irrenhaus gekommen sind, während die „Gesellschaft", welche solche Leute verrückt nennt, gar oft Es gehört so wenig dazu, aus Smith-Tompkins eine Wahnsinnige zu

den Weg dahin findet. der armen Sabi)

machen.

Die Arme! Sie ist so überspannt, so erregbaren Ge­

fühls! Sie hat eine fixe Fdee — es ist so traurig! Sie hatte noch nie eine Idee gehabt, nun da sie eine hat, kann sie sie

nicht los werden und wird mit der Zeit daran sterben. Leute von ganz gewöhnlichem Verstände werden nicht durch Visionen von allem, was zu wissen möglich ist, ge­

stört, auch nicht durch den thörichten Wunsch, so zu thun, als ob sie alles wüßten. Andererseits sind sie vollkommen befähigt,

zu unterscheiden, was ehrenhaft und was un­

ehrenhaft, gemein oder edel ist, und an solchen Grund­ sätzen halten sie sehr fest, denn sie glauben, das Heil kommt aus dem Buchstaben des Gesetzes.

Sie sind nicht

stolz auf Eigenschaften und Fähigkeiten, welche sie nicht haben; folglich, wenn sie etwas versprechen, so versprechen

sie nur, was sie halten können. Bisweilen erscheinen solche Charaktere in der „Gesellschaft" — seltene Geschöpfe, bei denen eine verderbliche Erziehung die Einfachheit und Ehrlichkeit, welche ihre einzige Stärke ist, nicht zerstört

248 hat. Ganz von selbst werden sie zu Beichtvätern der Gemeine, denn die Gemeine braucht Beichtiger irgend welcher Art. Ihnen vertraut sich der verhärtete Sünder voll von Missethaten und einer Maffe kleinlicher Vergehen an. Zu ihnen kommt der bartlose Esel schmunzelnd nach seinem ersten Abenteuer, gewöhnlich „fürchtend", daß er die reife Weltdame, die er für seine Huldigungen aus­ erkoren, „kompromittirt" habe, um zu fragen, was er dabei thun solle. Zu ihnen kommt auch manchmal der wirklich Leidende und erzählt seine kleine Leidensgeschichte zögernd, in halben Andeutungen, mit der Hoffnung, ganz verstanden zu werden. Diese Beichtiger der Gesellschaft sind gute Leute, obschon sie selten viel Rath geben. Den­ noch ist es solch ein Trost, die eigene Geschichte zu er­ zählen und zu hören, wie sie klingt. Lady Victoria war nicht eine Frau von hervorragen­ dem Intellekt; vielleicht hatte sie gar keinen, aber sie ge­ hörte zu den vorerwähnten Beichtigern. Sie war die Ehre, Treue und Verschwiegenheit selbst. Andere vertrauten sich ihr beständig an und fühlten sich dadurch erleichtert, — obwohl sie nicht einfah, weshalb! So kam allch Marga­ rethe mit ihren Sorgen zu ihr. Nur, da Margarethe wirklich intelligent war, machte sie keine langen Umschweife, nachdem sie sich einmal entschlossen hatte, zu sprechen. Die Geschichte war ja schon allgemein bekannt, und Lady Victoria würde sie bald genug von anderen hören. Als Margarethe zu Ende war, legte sie ihre Arbeit hin und sah aus dem Fenster, wie auf etwas wartend. „Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mir sehr leid thut," sagte Lady Victoria, „das wiffen Sie, meine Liebe. Aber was werden Sie thun? Es muß für Sie sehr peinlich sein." *

249 „Ich weiß noch garnicht — was würden Sie an meiner Stelle thun?" „Warten Sie", sagte die junge Engländerin. „Was ich thun würde? Es muß doch hier irgendwo ein russischer Gesandter sein. Ich denke, an den würde ich mich an Ihrer Stelle wenden." „Aber das dauert so lang, so schrecklich lang, etwas auf diesem Wege zu erreichen," sagte Margarethe. Dann redeten sie hin und her über die Sache. Lady Victorias' Vorschlag war natürlich der einfachste und geradeste Weg. Sie war gewiß, Margarethe würde bald zu ihrem Rechte kommen. „Natürlich", sagte sie. „Die Regierung muß es thun — es wäre sonst zu ungerecht." Sie sah Margarethe mit fröhlichem Lächeln an, als ob es auf der Welt keine Un­ gerechtigkeit gäbe. Aber die Gräfin sah ernst aus, und als fie sich mit halogeschlossenen Augen weit in ihren Armstuhl am Fenster zurücklehnte, sah man leicht, daß sie bekümmert war. Sie braucht Hilfe, Theilnahme und Trost. Noch nie zuvor hatte fie Hilfe bedurft, es war ihr kein angenehmes Gefühl; vielleicht war sie unzufrieden mit sich, als ihr klar wurde, messen Beistand vor allem anderen sie am liebsten annehmen würde. Wenigstens würde es ihr am angenehmsten sein, wenn er ihn ihr anböte. „Er!" — ist es dahin gekommen? O, du arme Margarethe! Wenn „er" Kummer bedeutet, statt Glück, würdest Du das auch Lady Victoria anvertrauen? Oder würdest Du dann im geringsten verstimmt sein, weil er Dir heute fehlt? Vielleicht ist es die reine Gewohnheit. Du hast es Dir zur Regel gemacht, zu glauben, Du könntest Dich ohne ihn behelfen, und meinst nun, Du müßtest auf Dich böse sein, weil Du Dein eigenes Gesetz verletztest? Was

250 aber helfen Deine Regeln gegen den kleinen Gott? Er wird Dir eine Lehre geben, die Du nicht vergessen kannst. — Der Tag neigt sich. Die warme Erde trinkt ihren Becher Sonnenscheins bis aus die purpurne Neige aus. Der Himmel ist farbenprächtig, und die Wolken im Westen sehen aus wie eine gestampfte Weinkelter. Die alte Sonne, der goldene Lebensbecher, berührt die Lippen der Erde, und bald wird kein Wein mehr darin sein. Sie wird ihn ganz austrinken. Und doch weilt Dein Liebender, Mar­

garethe, und kommt nicht. Margarethe und Lady Victoria beschloffen, zusammen zu speisen. Die Gräfin hatte wirklich etwas Kopfweh, denn sie war sehr angegriffen. Sie wollten zusammen essen und dann Abends etwas lesen — ganz allein; und so geschah es. Es war beinahe neun Uhr, als der Diener Claudius und den Herzog meldete. Letzterer wußte natür­ lich nichts von Margarethens Kummer und war in der heitersten Laune. Was Claudius anbetrifft, so war seiue durch Herrn Screws Andeutungen verursachte Aufregung längst vorüber; er war so ruhig wie gewöhnlich und dachte daran, Margarethen eine lebhafte Schilderung seines Aus­ flugs nach dem Friedhofe von Greenwood zu geeben. Es war ein schauerliches Thema, aber er verstand es, seine Rede anziehend zu machen. Die Persönlichkeit, nicht der Gegenstand macht die Unterhaltung; wenn Jemand gut zu sprechen versteht, so ist ein Kirchhof ein ebenso gutes Thema, als der neueste Roman, und er wird Grabsteine anziehender machen, als Klatschgeschichten. Niemand hätte an diesem Abend aus Claudius' Aus­ sehen oder seiner Unterhaltung schließen können, daß irgend etwas aus der Welt sein Glück umwölken könne. Er sprach zu der Frau, die er liebte, mit ruhiger Nichtbeachtung

251 anderen auf der Welt — eine Nichtbeachtung,

alles

die

keine angenommene war. Für den Augenblick fühlte er sich vollkommen glücklich, um so mehr, als ein so glücklicher Schluß

dieses

hatte geglaubt, hören,

daß

langen Tages

ganz unerwartet kam.

bei seiner Rückkehr von

die übrige Gesellschaft bereits

Er

Greenwood zu abgereist

sei,

und dieses Stückchen Glück erschien ihm wie aus heiterm Himmel herabgefallen.

Auch Margarethe freute sich, ihn zu sehen; sie befand

sich jetzt gerade in dem Uebergangszustand, wo eine Frau einen Mann nur während seiner Abwesenheit nach­ denkt. Kaum erscheint er, so ist der elektrische Kreis ge­ schloffen, und der Zustand der Ruhe hört auf. Sie befand

über

sich auf dem Punkt, wo sein Kommen einen fühlbaren Eindruck auf sie machte, sobald sie seinen Schritt hörte, schlug ihr Puls rascher, und sie fühlte,

daß sie etwas

blässer wurde. Dann senkten sich die schweren Augenlider, um zu verschleiern, was ihr dunkles Auge sprach, und Stimmen erklangen in ihrem Ohre, als ob die Luft Gloria sänge, und ihr Herz antwortete: in excelsis!

Und wenn er wieder da war, schien es, als würde der holde Faden wo er bei seinem Gehen abgebrochen worden, und so lange er blieb, schien das ganze Leben

da ausgenommen,

wie ein langer Tag.

Sie hatte ernstlich gerungen, aber in ihrem tiefsten Innern hatte

sie

das

Ende

vorausgesehen.

Instinktiv

kämpfen edle Frauen gegen die Liebe an — sie kommt in so fragwürdiger Gestalt! Eine edle Frau fühlt den Unter­

schied zwischen verliebt sein und lieben; — sie weiß wohl, daß es eine Leidenschaft ohne Liebe, aber keine Liebe ohne Leidenschaft giebt.

Sie hält sich für verpflichtet, in ihrem

Herzen über die beiden Gericht zu halten, oft aber reichen

252 sich Richter und Geschworene und Angeklagter die Hände und schwören sich ewige Freundschaft. Margarethe hatte gefürchtet, dieser nordische Bewerber mit seiner mächtigen Kraft und seinen kühnen Augen möchte ihr Gefühl hin­ reißen, wohin ihr Herz nicht folgen könne. Lieber als das leiden, wollte sie sterben. Und doch ist eine unausge­ sprochene Offenbarung der Liebe in jedes Menschen Seele, und ihr Zeugniß ist wahr. Den ganzen Abend saßen sie neben einander, ihre Bande fester schmiedend. Jedes hatte seine geheimen Sorgen, vergaß sie aber völlig. Claudius hätte sich nicht dazu herabgelaffen, an seine Sorgen zu denken, wenn er bei ihr war, und sie dachte gar nicht mehr daran, wie sehr sie sich am Morgen danach gesehnt hatte, ihm die Geschichte von ihrem Schwager zu erzählen. Sie sprachen von allem Möglichen und beschlossen, am nächsten Tage nach Newport zu gehen. Fräulein Skeat fragte, wäre wie Scarborough.

ob Newport

so romantisch

Vier;eh»te« Lapitel. In Herrn Horaz Bellingham's Zimmer duftete es nach russischen Cigaretten, und zwei Raucher vermehrten fleißig die aromatischen Wölkchen. Der eine war der Eigenthümer der Wohnung, der andre Claudius. Er saß auf dem Sopha, das zwischen den beiden Fenstern des Zimmers stand; dieses lag zu ebner Erde und ging aus die Straße hinaus. Die Wände waren über und über mit Bildern und Büchern bedeckt, und kein Eckchen und Winkelchen war

252 sich Richter und Geschworene und Angeklagter die Hände und schwören sich ewige Freundschaft. Margarethe hatte gefürchtet, dieser nordische Bewerber mit seiner mächtigen Kraft und seinen kühnen Augen möchte ihr Gefühl hin­ reißen, wohin ihr Herz nicht folgen könne. Lieber als das leiden, wollte sie sterben. Und doch ist eine unausge­ sprochene Offenbarung der Liebe in jedes Menschen Seele, und ihr Zeugniß ist wahr. Den ganzen Abend saßen sie neben einander, ihre Bande fester schmiedend. Jedes hatte seine geheimen Sorgen, vergaß sie aber völlig. Claudius hätte sich nicht dazu herabgelaffen, an seine Sorgen zu denken, wenn er bei ihr war, und sie dachte gar nicht mehr daran, wie sehr sie sich am Morgen danach gesehnt hatte, ihm die Geschichte von ihrem Schwager zu erzählen. Sie sprachen von allem Möglichen und beschlossen, am nächsten Tage nach Newport zu gehen. Fräulein Skeat fragte, wäre wie Scarborough.

ob Newport

so romantisch

Vier;eh»te« Lapitel. In Herrn Horaz Bellingham's Zimmer duftete es nach russischen Cigaretten, und zwei Raucher vermehrten fleißig die aromatischen Wölkchen. Der eine war der Eigenthümer der Wohnung, der andre Claudius. Er saß auf dem Sopha, das zwischen den beiden Fenstern des Zimmers stand; dieses lag zu ebner Erde und ging aus die Straße hinaus. Die Wände waren über und über mit Bildern und Büchern bedeckt, und kein Eckchen und Winkelchen war

253 leer, sondern mit Nippessachen, Photographien, allerlei Andenken und allen möglichen, für den Bewohner charak­ teristischen Dingen angefüllt. Die Möbel waren augen­ scheinlich mehr auf Bequemlichkeit als Prunk berechnet, und wenn die stille Parterrewohnung des Junggesellen doch ein gewisses luxuriöses Ansehen hatte, so lag das mehr an den seltenen Büchern auf den Gestellen und den guten Bildern an den Wänden als an dem Atlas und den Seiden­ stoffen des Kunsttapezierers oder den Vergoldungen und bunten Kacheln des modernen Decorateurs, der das Schöne entstellt wie ein Pilz den Obstbaum. Alles in Herrn Bellingham's Zimmer war gediegen; vieles war einzig in seiner Art und das Ganze harmonisch. Werke in seltenen Ausgaben waren von berühmten Buchbindern eingebunden, und wenn auch die Zweiundeinhalbgroschenerzeugniffe eines modernen Dichterlings auf glänzendem Velinpapier in ästhetisch grünlicher Farbe gelegentlich ihren Weg aus den Tisch fanden, gelangten sie doch nie bis auf die Bücher­ bretter. Herr Bellingham hatte Narren genug in seiner Umgebung, die ihm den überflüssigen Schund abnahmcn. An diesem Tage saß der alte Herr in einem Lehn­ stuhl an seinem Tische und Claudius, wie schon erwähnt, auf dem Sopha. Er sah sehr ernst aus, und rauchte bedächtig. „Ich wünschte, ich wüßte, was dabei zu thun ist," sagte er, „glauben Sie, Herr Bellingham, daß ich von Nutzen sein könnte?" „Wenn ich das nicht dächte, hätte ich es Ihnen gar nicht erzählt. Sie hätten es ja selbst in den Zeitungen finden können. Sie können von großem Nutzen sein." „Rathen Sie mir also nach St. Petersburg zu reisen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen?" „Natürlich. Reisen Sie sofort! Sie können die nöthi-

254 gen Schritte in kürzester Zeit in Gang bringen, wenn Sie jetzt Hinreisen." „Ich bin bereit. Aber wie in aller Welt kann ich etwas erreichen." „Durch Briefe. Ihr englischer Freund wird Ihnen Empfehlungsschreiben an den englischen Botschafter geben, Lord Fitzdoggin — ein Vetter des Herzogs. Und ich werde Ihnen einige Papiere verschaffen, die Ihnen nützen können. Ich habe viele Bekannte in Petersburg. Die Sache ist klippeklar! Uebrigens kennen Sie ja das Sprich­ wort: mitte sapientem et nihil dicas. Das heißt, wenn man einen vernünftigen Menschen ausschickt, muß man ihm nichts vorschreiben." „Sie schmeicheln mir. Ich möchte aber lieber Ihren Rath haben, wenn das ist, was Sie „vorschreiben" nennen. Ich bin zwar nicht gerade ein Narr, aber auch nicht sehr weise." „Sehr weise ist Niemand, und im Vergleich zu man­ chen Leuten sind wir alle Narren", sagte Herr Bellingham. „Wenn Jemand ein Gallionenbild für ein neues Narrenschiff haben wollte, denke ich, mein Abbild würde prächtig dazu paffen. Ein ander Mal fällt mir ein Freund für den Zweck ein. Ein Meerweib — halb Fisch — Kops halb Mensch, halb Narr. Das ist ein sehr guter Einfall!" „Sehr gut — für den Freund. Nun wiffen Sie aber, daß ich als Abgesandter ausrücke, wenn Sie mir die Sache nicht klar machen, wird daraus eine Narrenpost." „Sie ist ja ganz klar, mein lieber Doktor." Dabei blieb Herr Bellingham. — „Sie reisen nach Petersburg und suchen eine Audienz nach. Sie können sie durch Empfeh­ lungsschreiben erhalten. Dann stellen Sie dem Zaren die Sache vor und bitten um Gerechtigkeit. Entweder wird

255 sie Ihnen oder nicht. Das ist das Schöne in einem au­ tokratischen Staat." „Und in einem freien Lande?" fragte Claudius. „Wird sie Ihnen nicht!" versetzte sein Wirth in­ grimmig. Claudius blies lachend eine Rauchwolke in die Luft. „Was heißt das?" fragte er, in der Hoffnung, Herrn Bel­ lingham zu fernern Aphorismen und Paradoxen zu verleiten. „Der Mensch wird überall frei geboren, aber" — „O", sagte Claudius. „Ich möchte Ihre eigne An­ sicht darüber hören." „Ich habe keine Ansicht, nur Erfahrung," antwortete der andre. „Jedenfalls giebt es in einem autokratischen Lande einen sichtbaren, greifbaren Hort der Macht, an den man sich wenden kann. Ist er in der Laune, so erreicht man was man will, auf gerechte oder ungerechte Weise. In einem freien Lande wird die Gerechtigkeit von großen kosmischen Kräften absorbirt, und die Beschwörung, welche den gebannten Elementargeist erweckt, pflegt äußerst kost­ spielig zu sein. In Rußland bildet die Gerechtigkeit einen leuchtenden Gegensatz zu der vorherrschenden Korruption; wenn man aber sein Recht erlangt, so ist es klar. In Amerika wird Gerechtigkeit überall als selbstverständlich angenommen, und die Folge davon ist, daß sie, wie so viele als selbstverständlich angenommene Dinge, zur Mythe wird. Rousseau glaubte, in einer Republik wie die unsre würde es keine „Ketten" mehr geben, von denen er so gern sprach. Er sah nicht die Stockung des sittlichen Gefühls im Volke voraus. Ein Engländer, der ein Stu­ dium aus diesen Sachen gemacht hat, sagte neulich, daß die Amerikaner die Formen der Freiheit beibehalten hät­ ten — ihr Wesen habe aber beträchtlich gelitten." „Wer hat das gesagt?"

256 „Herbert Spencer. Er sagte es zu einem Reporter in New Jork, und so kam es in die Zeitungen. Es ist das wahrste Wort, das er je gesprochen, aber kein Mensch nahm mehr Notiz davon, als wenn er zu dem Reporter gesagt hätte: „Es ist schönes Wetter." Die Leute machen sich nichts daraus. Sagen Sie zu dem ersten besten, dem Sie auf der Straße begegnen, er sei ein Lügner, so wird er antworten, daß er das wisse, und Ihnen vermuthlich sagen, daß Sie auch einer seien. Wir sind hier alle gleich. In kleinem Maßstabe bin ich selbst ein Lügner — wir bilden einen Klub, zwei Amerikaner und ein Engländer." „Sie sind der freimüthigste Mensch, der mir je vor­ gekommen, Herr Bellingham," sagte Claudius lachend. „Eines schönen Tages werbe ich ein Buch schreiben," sagte Herr Bellingham, indem er aufstand und im Zimmer umherzugehen anfing, „und das soll heißen — ach so, wir sprachen ja von Petersburg. Sie sollten fich lieber auf­ machen." »Ich gehe ja schon! aber erst sagen Sie mir den Titel des Buches." „Nein, das thu' ich nicht; sonst gehen Sie selbst hin und schreiben es und stehlen mir meinen Donnerkeil." Onkel Horaz' Augen blinkten und ein lachender Glanz schoß wie ein Blitz über sein Gesicht. Er verschwand in einem anstoßenden Zimmer, eine Spur weißlichen Rauches hinter sich zurücklassend wie eine Lokomotive. Gleich dar­ auf kam er mit Bullingers Cursbuch in der Hand zurück. „Sie können Mittwoch um zwei Uhr mit dem CunardDampfer abfahren", sagte er. „Sie können heute nach Newport fahren und Dienstag Abend mit dem Dampfboot zurückkommen, um am nächsten Morgen zur Abreise bereit

257 zu sein." Herr Bellingham war sehr stolz darauf, daß er Ort und Zeit geschickt bestimmen konnte. „Und die Briefe, Herr Bellingham?" fragte Claudius, der nicht gesonnen war, seine Reise ohne gehörige Vor­ bereitungen anzutreten. „Die werde ich schreiben," sagte Onkel Horaz; „ich will sie gleich schreiben", damit versenkte er sich in ein Adreßbuch und ging ans Werk. Seine Feder war die des traditionellen Schnellschreibers, denn er schrieb endlose Briefe, und seine Korrespondenz war ein Typus seinerselbst — ab­ wechselnd war er Gelehrter, Wanderer, Buddha-Priester — manchmal alles zugleich. Denn Herr Bellingham war ein Buddhist und ein gründlicher Erforscher orientalischer Sit­ tenlehre, eben so war er in gewissen Zweigen klassischer Studien durchaus bewandert. Die Verbindung dieser Eigenschaften mit dem Takt und dem vielseitigen Geschick des Weltmannes war etwas Seltenes und eine unerschöpf­ liche Quelle von Ueberraschungen für seine Bekannten. Im Augenblick war er diplomatisch, da er kein Diplomat sein konnte, und seinen energischen Vorschlägen, seiner Förde­ rung des von ihm entworfenen Planes waren die Ergeb­ nisse hauptsächlich zu verdanken, über welche diese Erzählung berichten wird. Claudius saß aus dem Sopha und beobachtete den alten Mann; er verwunderte sich darüber, daß ein Frem­ der sobald das Amt eines Rathgebers auf sich genommen, und das mit soviel Umsicht und Energie, die nicht nur jeden Widerstand entwaffnete, sondern die Zustimmung des Berathenen erzwang. Das Leben ist reich an ähnlichen Dingen. Der Mensch lebt jahrelang ruhig dahin, wie ein gemästeter Karpfen in einem alten Teich, bis ein müßiger Störenfried kommt und den Schlamm mit einem Stock Crawford, Doktor Claudius. 17

258 aufwühlt. Dann sitzt der arme Fisch im Trüben. Plötz­ lich kommt ein andrer Friedensstörer, nicht so müßig son­ dern unternehmender, der schafft einen Abfluß für das Waffer, nebst dem Karpfen und allem Sonstigen, und macht aus dessen altem Wohnsitz ein Kartoffelfeld. Dann sammelt der Karpfen unter andern Verhältnissen in andern Gewäffern neue Lebenserfahrungen, und zum Zeitvertreib verwundert er sich über alles. Das geschieht selbst Men­ schen von starkem Charakter, gewöhnt, den Umständen zu gebieten. Eine Krankheit reißt einen solchen Menschen für einige Monate aus seinem gewohnten Kreise. Er kommt zurück und findet seinen Teich in einen Gemüsegarten um­ gewandelt und sein gepflügtes Feld in einen Sumpf, dann ist er eine Weile geneigt, Rath zu begehren und anzuneh­ men wie andre Sterbliche. So war Claudius in einer ihm ganz neuen Umgebung in einen brennenden Busch von Schwierigkeiten gefallen und auf Herrn Bellingham gestoßen, eine Art von Chirurg, dessen Berus es war, um technisch zu reden, soziale Knochenbrüche zu heilen. Herr Bellingham witterte in ihm einen Patienten und fühlte fich übrigens durch sein persönliches Verdienst stark zu ihm hingezogen; darum hatte er ihm sofort die Geschichte des Nihilisten Nicolai erzählt und war dabei zu dem Schluffe gekommen, Claudius, und er allein, könne hier der Helfer in der Noth werden. Der muthige Doktor erwog die Worte des alten Herrn, und nach seiner eigenen Empfindung fühlte er, daß Onkel Horaz recht hätte. Wenn er Margarethen liebte, war die Pflicht gegen sie seine erste, und diese erste Pflicht war, für ihr Wohl zu sorgen. Kein andrer Abge­ sandter konnte oder wollte in ihrem Interesse so eifrig sein wie er; und in seinem Eifer, ihr zu dienen, hatte er es nicht einmal sonderbar gesunden, daß Herr Bellingham es

259 für abgemacht hielt, er würde sich sofort auf die Reife be­ Daran

geben.

dachte

er erst später und wunderte sich

über die Kühnheit dieser Annahme nicht minder wie über seinen

Scharfsinn.

Der

gute

Claudius!

Jeder

konnte

sehen, daß er verliebt war! „So, ich denke, das wird Feuer schlagen!" sagte Herr

Bellingham, indem er seinen letzten Brief zusammenfaltete und sie dann alle in einen großen viereckigen Umschlag steckte. „Stecken Sie sie in die Tasche und halten Sie

Ihr Pulver trocken." „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar", sagte Clau­ dius, als Onkel Horaz wieder anfing, im Zimmer umher­

zugehen, und beim Rauchen Ausdrücke der Befriedigung ausstieß.

Dann stand er vor Claudius still und sah ihm

gerade ins Gesicht, ohne den Kopf zu erheben. lieh ihm einen eigenthümlichen Ausdruck.

Das ver­

„Es ist sehr merkwürdig," sagte er, „aber ich sah es Ihnen gleich beim ersten Mal an, daß Sie ein besondres

Schicksal hätten.

Ich bin sehr abergläubisch.

Ich glaube

ans Schicksal." „Ich würde das auch thun, wenn ich dächte, daß man irgend etwas darüber wissen könnte.

Ich meine im allge­

meinen", antwortete Claudius.

„Ist denn das Allgemeine alles?" fragte Herr Belling­ ham in scharfem Ton, den jungen Mann noch immer an­ sehend. „Ist Erfahrung als Empirismus mit spöttischem Lächeln beiseite zu schieben, weil die allgemeine Regel fehlt?" schäftigen,

So lange aber nur wenige sich damit be­ empirischem Wissen eine wissenschaftliche Form

zu geben,

wird es ihnen nicht gelingen, wenigstens nicht

„Nein.

auf diesem Gebiet.

Erstens stehen ihnen nicht genug Er­

fahrungen zu Gebote, um daraus Regeln zu ziehen."

17*

260 „Aber sie tragen dazu bei. Endlich wird Einer kom­ men und die Regel entdecken. War Tycho de Brahe eine Null, weil er nicht Kepler war? War van Helmont nichts, weil er nicht Lavoifier war? Und doch war Tycho de Brahe ein Empiriker; — er war der letzte Beobachter des Konkreten, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen. In wiffenschaftlichem Sinne war er der Vater Keplers." „Das ist sehr gut gesagt", erwiderte Claudius, „aber wir sprachen vom Schicksal. Sie sind ein Beobachter." „Ich habe sehr scharfe Sinne", entgegnete Bellingham. „Ich weiß immer vorher, wenn Jemand, mit dem ich be­ kannt werde, etwas Ungewöhnliches thun wird. Sie wer­ den es." „Das hoffe ich", sagte Claudius lachend. „Ich denke, ich fange schon an!" „Glück auf!" sagte Herr Bellingham, dem einfiel, daß er eine Verabredung schon versäumt hatte und nahe daran war, die zweite auch zu versäumen. Er sah ein, daß er Claudius verabschieden muffe, und streckte ihm die Hand hin. In dieser Plötzlichkeit war nichts Unfreundliches. Gern hätte er sich mit Claudius noch eine Stunde unter­ halten, wenn es die Zeit gestattet hätte. Claudius ver­ stand das vollkommen. Er steckte die Briefe in die Tasche, und mit herzlichem Händedruck nahm er Abschied von Herrn Horaz Bellingham; vor seiner Abreise wollte er ihn nicht weiter bemühen, sagte er. Herr Bellingham geleitete ihn bis an die Thür. „Kommen Sie noch einmal zu mir, ehe Sie abreisen, am Mittwoch Morgen. Sie wissen, ich bin um sechs Uhr aus. Es wird mich freuen, Sie zu sehen. Ich bin wie der mexikanische Esel, der an congojas ajenas — an andrer Leute Sorgen starb. Die Leute kommen immer zu mir,

261 wenn sie in Bedrängniß sind." Der alte Herr sah Clau­ dius nach, als er davonschritt. Dann blinzelte er die Sonne an, nieste mit sichtlichem Behagen und verschwand, die Hausthür hinter sich schließend. „Ich will wirklich nächstens meine Memoiren schrei­ ben", sagte er zu sich, indem er sich hinsetzte. Claudius war in einer schwer zu beschreibenden Ge­ müthsverfassung. Durch das lange Gespräch mit Herrn Bellingham hatte er zuerst etwas von Margarethens Un­ glück erfahren, und dieselbe Zusammenkunft hatte ihn zu dem Entschluß gebracht, sofort für sie handelnd einzutreten, mit andern Worten, nach achttägigem Aufenthalt in New Nork gleich wieder nach Europa zurückzukehren und sein Liebstes auf der Welt hier zurückzulasien. Dieser Entschluß war in einem Augenblick in seiner Seele entstanden, und es fiel ihm auch nachher niemals ein, daß er hätte anders handeln können. Nicht im entferntesten fiel ihm ein, daß er etwas besonders Lobenswerthes thäte, indem er seine Liebe der Geliebten zum Opfer brächte, indem er sich einige Monate von Margarethen trennte und alle Schmer­ zen einer solchen Trennung erduldete, um ihren Interessen besser dienen zu können. Er wußte wohl, was er auf sich nahm, — schlaflose Nächte, mühevolle endlose Sorge, die seelenbelastende Schwere der Einsamkeit, die tödtliche Nie­ dergeschlagenheit des Gemüthes, all das würde er täglich sechzig Tage lang erdulden — früher konnte er nicht zurück sein. Er wußte es alles, denn das alles hatte er in jenen vierundzwanzig Stunden auf der Jacht durchgemacht, nach seiner ersten vorschnellen Liebeserklärung. Aber Claudius war eine ritterliche Seele; wenn er sich hingah, so that er es ganz, ohne Vorbehalt. Hätte die schöne Gräfin nur zur Hälfte errathen, welch ein Edelmuth in der Brust ihres

262 Liebhabers wohnte, wer weiß, ob sie nicht schon früher da­ von gerührt gewesen wäre! Wie aber konnte sie es wissen? Ihr ahnte wohl, daß er über der Menge stand, und sie schrieb seinen Handlungen niemals niedrige Beweggründe zu, wie sie es unbedenklich bei den meisten andern Män­ nern gethan haben würde; denn sie hatte Vorsicht gelernt. Wer Herzen stiehlt, stiehlt Seelen; deshalb ziemt es dem Weibe, darauf zu achten, daß das Schloß fest sei und der Schlüssel hoch hänge. So dachte auch Claudius und be­ wies es in- allen seinen Handlungen, wenngleich unbewußt, denn es war ein angebornes, nicht erlerntes Wissen, ein instinktives Gefühl, Ehre zu erweisen, wem Ehre gebühret. Nennt es Don Quixotismns, wenn ihr wollt! Es liegt nichts Lächerliches in dem Wort, denn es giebt keinen treueren Ritter, keine edlere Seele als den Helden des Cer­ vantes in den Blättern der Geschichte oder der romanti­ schen Dichtung. Warum können nicht alle Menschen das einsehen? Warum muß die schändliche Welt beim Anblick neuer Märtyrer immer wieder höhnen und mit ihren un­ reinen Lippen schnalzen? Die Gesellschaft von heute hat die Hölle abgeschafft, um nicht etwa schlaflose Nächte zu haben. Thomas Carlyle wnßte das. Wie schlug und häm­ merte und zermalmte er in seiner Wuth mit seinen mäch­ tigen eisenharten Worten! Wie kreischte die Welt, wenn er seine festen Finger in den Heiligenschein ihres goldnen Haares wand und daran riß und zerrte und riß, bis sie um Gnade schrie und versprach, artig zu sein, wie ein ge­ schlagenes Kind. Es wird von ihm eine Geschichte erzählt, die wohl wahr sein mag. Es war in einer Mittagsgesellschaft. Carlyle saß still und hörte dem Gespräch geringerer Leute zu; Schnee lag

263 auf seinem Haupt, und Feuer sprühte aus seinen hellbrau­ nen Augen. Ein junger Liberaler theorisirte mit einem rindfleischgemästeten alten Konservativen, der Jugend und Verstand, gleich sehr verachtete. „Das Volk der Britten, mein Herr," sagte der Mndfleischgenährte, „kann es sich gestatten, über Theorien zu lachen." „Mein Herr," sagte Carlyle, indem er zum ersten Mal bei der Tafel den Mund aufthat, „vor hundert Jahren sagte der französische Adel, er könne es sich gestatten, über Theorien zu lachen. Da kam ein Mann und schrieb ein Buch, das hieß Le contrat social. Der Mann hieß Jean Jacques Rousseau und sein Buch enthielt eine Theorie, nichts als eine Theorie. Die Aristokraten konnten über diese Theorie lachen; aber in ihre Haut wurde die zweite Ausgabe dieses Buches gebunden*)." Gieb Acht auf dein Fell, o Welt, aus daß es nicht zu Maroquin gegerbt und zierlich mit Gold bedruckt werde! Es giebt noch viele Bücher einzubinden. Claudius dachte weder an die Welt noch an Carlyle, als er in sein Hotel zurückging; denn er dachte an die Gräfin Margarethe mit Ausschluß aller andern irdischen oder überirdischen Betrachtungen. Aber seine Gedanken waren traurig, denn er wußte, er müsse sie verlassen und müsse ihr das sagen. Das war nicht leicht, sein Gang wurde immer langsamer, bis er an der Ecke einer großen Hauptstraße still stand und eine arme Frau ansah, die einen verstimmten Leierkasten drehte. Dieses zwerchsellmarternbe Instrument war auf Rädern und an der Rück*) Zur Zeit der Revolution gab es in Maudon eine Gerberei

von Menschenhäuten.

264 seile war eine Wiege befestigt. In der Wiege lag ein schmutziges kleines Kind, das sog an seinen Fäustchen und hörte mit gewissenhafter Aufmerksamkeit dem ewigen Dudeldudel, Dudeldudel der mütterlichen Musik zu. In der That, angesichts seiner Lage, konnte das kleine Ding nicht gut auf etwas anderes hören. Claudius starrte die kleine Ka­ rawane an, die an der Ecke der vornehmsten Straße von New Jork hielt, und seine Aufmerksamkeit wurde allmälig gefesselt durch diesen Anblick. Er dachte, nächst dem Schick­ sal, wie Mazeppa auf den Rücken eines wilden Pferdes gebunden zu werden, müßte das denkbar schrecklichste sein, so wie dieses arme Kind beständig hinter einer verstimmten Drehorgel im Bett zu liegen. Er lächelte bei den Gedan­ ken, und die Frau hielt ihm mit der einen Hand einen zerbeulten Zinnteller hin, während die andre durch ihre Drehungen die zitternden quiekenden Schlußtöne von „Ah ehe la morte agnora“ herausquetschte. Claudius steckte die Hand in die Tasche und gab dem armen Weibe ein Geldstück. „Sie ermuthigen eine Landplage", sagte eine feine dünne Stimme hinter ihm. Claudius sah sich um und er­ blickte Barker. »Ja," sagte der Doktor, „ich erinnere mich einer Be­ merkung, welche Sie einmal über die ordentlichen Armen von New Nork machten, es war vorgestern, denke ich. Sie sagten, sie wanderten nach Westen aus." „Da wir vom Westen sprechen — sagen Sie, werden Sie nicht nächstens selbst hingehen, um sich unsern „Park" anzusehen?" „Nein, ich gehe nach Osten." „Wahrscheinlich nach Boston?" fragte der neugierige Barker. „Es wird Ihnen sehr gefallen. Es ist das größte Dorf in den Vereinigten Staaten."

265 „Ich gehe nicht nach Boston", sagte Claudius ruhig. „O ich dachte, als Sie sagten, Sie gingen nach Osten, meinten Sie —" „Ich werde mich Mittwoch nach Europa einschiffen", sagte der Doktor, welcher Zeit gehabt hatte, sich zu über­ legen, daß er Barker eben so gut sein Vorhaben mit­ theilen könnte. Herr Barker lachte verstohlen unter seinem Schnurrbart. „Sie sagen das doch nicht im Ernst?" sagte er und versuchte Erstaunen zu heucheln, um seine Genugthuung zu verbergen. Es schien ihm zu gut, um wahr zu sein. „So bald? Warum denn? Ich dachte, Sie wollten längere Zeit hier bleiben." „Ja, ich reise sofort", und dabei sah Claudius Herrn Barker gerade ins Gesicht. „Ich finde, daß es nöthig ist, gewiffe Papiere herbeizuschaffen, die auf meine Erbschaft Bezug haben." „So", sagte Barker und sah nach der anderen Seite, denn des Doktors Blick gefiel ihm nicht. „Jedenfalls thut es mir sehr leid. Sie werden wohl bald zurückkommen?" „Sehr bald", antwortete Claudius. „Guten Morgen, Barker." „Guten Morgen, ich werde Sie besuchen, ehe Sie sich einschiffen. Sie haben mich durch diese überraschende Neuigkeit ganz betäubt." Herr Barker ging rasch in der Richtung der Stadtbahn fort. Augenscheinlich wollte er „nach unten" in die Stadt. „Seltsam," dachte Claudius, „daß Barker die Nach­ richt so ruhig aufnimmt. Ich dachte, sie hätte ihn mehr überraschen müssen." Die Orgeldreherin, das schmutzige Kind und die Pferdebahn ihrem Schicksal überlassend, ging Claudius ins Hotel. Er fand den Herzog bei einem

266 späten Frühstück, gierig Cantelopen essend. Cantelopen find kleine amerikanische Melonen von ungesundem Aus­ sehen, innen aber find fie saftig und frisch und sehr küh­ lend, was für einen erhitzten ausländischen Magen ein Labsal ist. Also sehet, Herzogliche Gnaden verspeisen Can­ telopen und sehen sehr vergnügt dabei aus. Claudius setzte sich an den Tisch und schaute ziemlich düster darein. „Ich bitte Sie um eine Empfehlung an den englischen Botschafter in Petersburg; Lord Fitzdoggin, glaub' ich." „Lieber Himmel!" rief der Herzog. „Wozu?" „Ich reise hin", antwortete Claudius mit seiner ge­ wöhnlichen Ruhe, „und wünsche, Jemandem in einfluß­ reicher Stellung empfohlen zu werden." „Was? Sie reisen?" fragte der Herzog, mit einem Schlage die Sachlage begreifend. Er bildete sich nachher etwas darauf ein, daß er Claudius so schnell verstanden hatte.,,Ja, ich gehe Mittwoch zu Schiffe." „Erzählen Sie mir alles", sagte der Herzog, der seine Faffung wiedergewonnen hatte und sein Messer eben in eine frische Cantelope steckte. „Sehr gern. Ich war heute früh bei Ihrem Freunde, Herrn Horaz Bellingham, und er erzählte mir von den Sorgen der Gräfin. Es steht ja auch schon alles darüber in den Zeitungen, aber ich hatte es noch nicht gelesen. Er meinte, ein persönlicher Bekannter der Gräfin solle lieber sofort ins Hauptquartier gehen und sich der Sache annehmen. Darauf sagte ich, ich würde Hinreisen. Er gab mir einige Empfehlungsbriefe, voraussichtlich sehr gute, rieth mir aber, mich auch an Sie zu wenden und mir eine Empfehlung an Ihren Botschafter auszubitten." „Alles, was Onkel Horaz anräth, ist recht, das wissen Sie", sagte der Herzog mit vollem Munde sprechend. „Er

267 hat überall massenhaft Bekannte", fügte er bedächtig hinzu, nachdem er seinen Bissen heruntergeschluckt hatte. „Nun gut; ich werde also reisen; es ist mir aber lieb,

daß Sie damit einverstanden sind." „Was in aller Welt aber werden Sie mit Ihrer Erbschaft

machen?" fragte der Herzog plötzlich.

„Wäre es nicht am

besten, gleich hinzugehen und Ihre Identität zu beschwören?"

„Nein;

das

würde

nicht in meinen Plan passen",

antwortete Claudius; „ich möchte nicht, daß der eigentliche

Zweck meiner Reise bekannt würde.

Verstehen Sie das?

Angeblich reise ich nach Heidelberg, um meine Papiere von der Universität zu holen.

Sie nicht zu bemühen."

Also besten Dank!

Ich brauche

Der Herzog sah ihn einen Augen­

blick an. „Was für ein sonderbarer Kerl Sie sind, Claudius",

sagte er endlich. „Ich denke, mir würde es lieb sein, wenn sie es wüßte?" „Wozu? Wenn es mir nun mißlingt, wie würde ich

dann dastehen?"

Claudius wollte lieber seine Handlungs­

weise seiner Eitelkeit zuschreiben lassen, wenn sie gleich die

natürliche Folge seiner Liebe, war. Ja," sagte der Herzog, „das ist wahr. Aber bei alledem denke ich, Sie sind ziemlich sicher. Frühstücken Sie doch! Das hatte ich ganz vergessen!" — „Nein, danke. — Fahren Sie heute nach Newport? Ich möchte gern etwas von der Umgegend von New Aork sehen, ehe ich wieder abreise."

„Gewiß.

Wir

wollen

lieber gleich

alle zusammen

reisen. Die Gräfin ist bereit und ich auch." „Sehr schön. Dann will ich rasch einpacken.

Noch

ein Wort! Bitte, sagen Sie ihnen nicht, daß ich reise; ich will cs selbst thun."

268 „Recht so", schwand.

sagte

der Herzog, und Claudius ver­

„Er sagt ihnen",

sprach

der Engländer für

sich, „aber er meint „ihr". Claudius fand auf seinem Tische einen Brief von Herrn Screw.

Dieses Schreiben war ganz förmlich

halten und sprühte sozusagen Zornesfunken. Würde war durch

des Doktors summarisches Verfahren

am vorigen Tage höchlich beleidigt. aller Form,

ge­

Herrn Screws

Er meldete ihm in

daß seine Wechsel von den Testamentsvoll­

streckern nicht acceptirt werden würden,

ehe sie inbezug

auf seine Identität zufriedengesteüt wären, und „bedauerte

die Stellung,

welche Dr. Claudius

genommen habe,

denen gegenüber an­

deren heilige Pflicht es wäre,

teressen des Dr. Claudius wahrzunehmen".

die In­

Diese schlaue

Wiederholung des Namens ließ an zwei Personen denken: den Anspruch erhebenden und den wirklichen Erben, das

entging

dem Doktor nicht.

Seit gestern hatte er seine

Heftigkeit schon beinahe bedauert; und hätte er gewußt,

daß Screw ganz von Barker getäuscht worden, so

würde

Claudius sich wahrscheinlich bei dem Advokaten entschuldigt haben. Er hatte allerdings einen unbestimmten Argwohn, daß Barker irgendwie an der Sache betheiligt wäre, und die Thatsache, daß letzterer so geringe Ueberraschung über

seines Freundes plötzliche Rückkehr nach Europa bezeigte,

hatte den Doktor auf allerlei Gedanken gebracht, so daß er sich jetzt besann, inwiefern Barker ein Interesse haben könne, ihn von hier zu entfernen. Die Last der Verant­ wortlichkeit für den ihm verursachten Aerger fiel aber doch auf Screw, und Screw sollte eine tüchtige Lehre bekom­

men; zu dem Ende wollte Claudius einen Brief schreiben. Es war klar, daß er noch böse war.

Der Doktor setzte sich zum Schreiben hin; in seinen

269 starken, weißen Fingern hielt er die Feder mit dem un­ erschütterlichen Entschluß, unangenehm zu werden. Sein Gesicht sah starr aus wie eine Larve, und von Zeit zu Zeit blitzten seine blauen Augen zornig. Er schrieb Fol­ gendes: Mein Herr! Nachdem ich gestern Nachmittag den Vorzug Ihrer Gesellschaft etwas länger als mir wünschenswerth war, genossen hatte, erwartete ich nicht so bald ein Zeichen Ihres Antheils und Jntereffes wie Ihren heutigen Bries. Was Ihre förmliche Anzeige betrifft, daß meine Wechsel in Zukunft nicht angenommen werden dürsten, so sehe ich darin eine absichtliche Wiederholung der beleidigenden Anspielungen, welche Sie gestern mir gegenüber sich erlaubten. Sie wissen sehr gut, daß ich trotz Ihrer schriftlichen Vollmacht noch nichts von der Erbschaft erhoben habe. Ich halte Ihr Benehmen in dieser Angelegenheit für eines Juristen unwürdig, und Ihre Impertinenz wird nach meiner Ansicht nur noch durch die unerhörte Ungeschicklichkeit übertroffen, die Sie durchweg bewiesen haben. Da ich fürchte, Ihre Unwissenheit könnte Sie zu einem thörichten Schritt verleiten, der für Sic selbst schlimme Folgen haben könnte, will ich Ihnen nur mittheilen, daß in zwei Monaten, nach meiner Rückkehr aus Europa, Ihre Verwaltung des Vermögens des verstorbenen Gustav Lindstrand einer strengen Untersuchung unterzogen werden wird. Bis dahin wünsche ich keine weiteren Mittheilungen von Ihnen zu erhalten. Claudius. Dieses merkwürdige Schreiben wurde sofort durch einen Boten nach Pinestreet gesandt, und hatte Herr

270 Screw sich schon zuvor beleidigt gefühlt, so war er der Verzweiflung nahe, als er des Doktors Streitschrift las. Er wiederholte sich mehrere Sätze, die in ihrer schneiden­ den Kürze Feuer und Schwert zu enthalten schienen; er dachte, selbst wenn er irgend eines Vertrauensbruches schuldig gewesen, könnte ihm nicht schlimmer zu Muthe sein. Er fuhr sich mit den Fingern durchs gelbe Haar und hakte die Beine in- und auseinander; seine Schreiber fuhr er wüthend an. Dann sagte er sich zu seinem Trost, daß Claudius sicherlich ein Betrüger wäre, sonst würde er nicht so böse sein, würde auch nicht nach Europa reisen und jede ferneren Mittheilungen ablehnen. Mitten in die­ sem Wuthanfall trat Herr Barker junior so recht gelegen in das Bureau der Herren Screw und Scratch, bereit, Oel ins Feuer zu gießen. „Nun?" sagte Barker in fragendem Tone, während er sich eine Blume in seinen grauen Rock steckte und den Papierstreifen des „Tickers" mit seinen Angaben über den Stand der Börse durch die andere Hand gleiten ließ. Der gelbliche Screw schoß einen bösen Blick aus seinen kleinen Metallaugen. „Sie haben recht! — Der Mensch ist ein Schwindler." „Wer?" fragte Barker mit gut geheuchelter Unschuld. „Claudius! Ich glaube, er ist ein Lügner und ein Dieb und ein ganz verdammter Betrüger. Das ist meine Ansicht, mein Herr." Er wurde warm, während er seinem Aerger Luft machte. „Nun, ich empfahl nur Vorsicht an! Dergleichen habe ich nie gesagt", antwortete Barker, der durchaus keine hervorragende Rolle bei seiner eignen Intrigue spielen wollte. „Das können Sie mir nicht zuschreiben, Herr Screw."

271 „Nun hören Sie, Herr Barker! Ich spreche zu Ihnen. Sie sind ein so kluger Mann wie nur einer in New Aork. Nun passen Sie auf! Ich spreche zu Ihnen", sagte Screw aufgeregt. „Der Mensch wies mich gestern Nachmittag aus dem Hause; und nun schreibt er mir diesen Brief! Sehen Sie her. Lesen Sie ihn. Lesen Sie selbst, wollen Sie Sie nicht? Und so packt er sich fort nach Europa und hinterläßt keine Adresse. Das thut kein ehrlicher Mann, Herr Barker, nicht wahr?" „Wohl kaum", sagte Barker, indem er den Brief nahm. Er las ihn zweimal durch und gab ihn zurück. „Wohl kaum", wiederholte er. „Ist es wahr, daß er kein Geld erhoben hat?" „Nun ja, ich glaube, das ist wahr", sagte Screw mit Widerstreben, denn darin lag der schwache Punkt bei seiner Beweisführung. „Das wäre aber gerade so recht nach solchem Schwindler, damit er das Spiel desto sicherer ge­ wönne. Sie sehen, er hat sich ein Schlupfloch offen ge­ lassen." „Dennoch," sagte Barker sentenziös, „spricht das zu seinen Gunsten. Das muß ich sagen. Wir müssen That­ sachen haben, Herr Screw! Und wenn er übrigens Geld erhoben hätte, so wäre ich dafür verantwortlich, denn ich hatte ihn in Deutschland als den Rechten anerkannt." „Nun wie Sie sagen, nichts fehlt — kein rother Heller! Wenn er also fort will, kann er. Ich bin froh, ihn loszuwerden." „So müssen Sie es nicht auffaffen. Seien Sie nicht so niedergeschlagen, Herr Screw, es wird schon alles wieder in Ordnung kommen!" Barker lächelte wohlwollend in dem Bewußtsein, daß im Augenblick alles in schönster Unord­ nung war.

272 „Nun, ich bin auf alle Fälle verdammt!" sagte Herr Screw, und das war nicht gerecht gegen sich selbst, denn

er war ein ehrlicher Mann und handelte nach bestem Wiffen.

Es war nicht seine Schuld,

daß

Barker

ihn

täuschte,

und daß der heißblütige Schwede böse war. „Ach was, das schadet nichts!" sagte Barker nicht

ganz treffend.

„Ich werde ihn noch vor seiner Abreise

sprechen und Ihnen dann sagen, was ich davon denke. Er wird sich bestimmt irgendwie verrathen, ehe er abfährt." „Gut, Screw

gehen Sie drauf los, junger Mann!"

und biß die Spitze seiner Cigarre ab.

sagte

„Ich will

ihn nicht mehr sehen! Darauf können Sie schwören." „Gut,

abgemacht.

Ich kam wegen etwas anderem.

Sie können mir gewiß sagen,

wie es mit dem Prozeß

gegen die Western Union steht?"

So saßen die beiden in ihren Lehnstühlen und sprachen eifrig, wie nur Amerikaner sprechen können, ohne mehr zu

ermüden, als wenn sie schnarchten, es griff sie gar nicht an. Wenn die Griechen aus der Zeit des Perikles in Amerika wieder aufleben könnten, würden sie inbezug auf ihre Redseligkeit und ihre Politik modernen Amerikanern sehr ähnlich sehen. Fürchterliche Schwätzer auf dem Markt­ platz und große Kämpfer in der Rathsversammlung, —

die ärgsten Schwätzer von der Welt, gelegentlich aber auch die größten Redner, mit raschem Pulsschlag öffentlichen Lebens in ihren politischen Adern, der die Erkrankungen

einzelner Theile steigert und erhitzt, dem Ganzen aber eine unvergleichliche Harmonie giebt. Die Griechen aber standen höher; denn ihre durch die engen Grenzen ihrer politischen Sphäre eingeschränkte Thatkraft brach sich Bahn auf allen

Feldern geistiger Thätigkeit in allen Zweigen des Wissens und der Kunst. Trotz der modernen Schule der Jmpresfi-

273 fiomsten, Aesthetiker und aphrodisiakischen Dichter sind die hervorragendsten Züge in der griechischen Kunst Ver­ ständigkeit, wohl durchdachtes Wissen und ein klarer Be­ griff vom Ideal. Die Aehnlichkeit zwischen den Amerikanern von heute und den Griechen zur Zeit des Perikles erstreckt sich noch nicht auf das Gebiet der Kunst, obschon Amerika alle ältern und gleichzeitigen Völker in den praktischen Zweigen der Wissenschaft zu übertreffen verspricht. Aber als Sprecher nehmen sie die erste Stelle ein, diese raschen Geschäftsleute mit ihren flinken Zungen, ihren scharfen Augen und ihren Millionen. Als Barker Herrn Screw verließ, hatte er viel über den Prozeß erfahren, nach dem er gefragt, aber Screw hatte gar nichts weiter über Claudius erfahren. Kaum hatte der Doktor seinen Brief abgesandt, so ließ er sich auf dem am Mittwoch abfahrenden Dampfer einen Platz bestellen und packte seine Sachen für die Reise ein, denn von Newport wollte er erst zurückkommen, wenn es Zeit wäre, an Bord zu gehen. Mit Geld war er ge­ nügend versehen, denn ehe er Deutschland verließ, hatte er sein kleines Vermögen flüssig gemacht, um nicht eher etwas von der Erbschaft zu erheben als nothwendig sein würde. Er empfand keine geringe Befriedigung bei dem Gedanken, daß er von Herrn Screw und jedem andern ganz unab­ hängig wäre. Er wußte, daß es für ihn eine leichte Sache gewesen wäre, die ganze Schwierigkeit binnen vierundzwanzig Stunden zu beseitigen, indem er den Herzog einfach bäte, für ihn zu bürgen; und ehe er von Margarethens Ver­ legenheiten hörte, hatte er das thnn wollen. Jetzt aber, da er entschlossen war, um ihretwillen nach Rußland zu reisen, gab ihm seine eigne Angelegenheit, wenn er sie nicht aufklärte, einen vorzüglichen Vorwand für die Reise Crawford, Doktor Claudius.

18

274 ohne daß er der Gräfin zu sagen brauchte, er unternähme

dieselbe um ihr ihr Vermögen wieder zu verschaffen, was

er andernfalls wohl hätte sagen muffen.

Hätte er Barkers

Absichten ihrem ganzen Umfang nach gekannt, so hätte er wohl anders gehandelt, bis jetzt aber war sein Argwohn

gegen den schlauen Jüngling unbestimmt und unklar.

Fünfzehntes Kapitel. Die Weg,

bei Newport — der lang gewundene

„Klippe"

der am Felsen entlang läuft, vom offenen Strande

bis zur Spitze der Insel, immer hart über die See,

kaum einmal bis an sie hinabführend,

doch

während er glatt

mit Kies bestreut, zu eng für drei Personen sich in sanften Biegungen durch die Anlagen schlingt und an den Stätten der Millionenerwerber vorüberführt,

die

dort

ihre Zelte

und Häuser haben, — diese „Klippe von Newport" ist ein schöner Ort. Dorthin kommen die Reisenden und schwelgen den Sommer über in ihrem Golde; und der arme Lazarus kommt auch, um zu sehen, ob er nicht des reichen Mannes

Tochter freien kann. mit dem Antlitz

Der cholerische Architekt, unzufrieden

der Natur,

führt

manchen schlimmen

Schlag danach und bringt einen ungesunden Ausschlag hervor, wo er hintrifft, und die Dinger, welche er macht, nennt er Häuser.

junge Herren und

und reden

Am Sonntag Nachmittag gehen hier jüngere Damen paarweise spazieren

den süßesten Blödsinn, weil sie nicht wiffen,

was sie sagen sollen, und nichts denken — aus einleuch­ tenden Gründen. Gärtner kommen am Morgen heraus und bringen die Wege mit seltsamen Werkzeugen in Ord-

274 ohne daß er der Gräfin zu sagen brauchte, er unternähme

dieselbe um ihr ihr Vermögen wieder zu verschaffen, was

er andernfalls wohl hätte sagen muffen.

Hätte er Barkers

Absichten ihrem ganzen Umfang nach gekannt, so hätte er wohl anders gehandelt, bis jetzt aber war sein Argwohn

gegen den schlauen Jüngling unbestimmt und unklar.

Fünfzehntes Kapitel. Die Weg,

bei Newport — der lang gewundene

„Klippe"

der am Felsen entlang läuft, vom offenen Strande

bis zur Spitze der Insel, immer hart über die See,

kaum einmal bis an sie hinabführend,

doch

während er glatt

mit Kies bestreut, zu eng für drei Personen sich in sanften Biegungen durch die Anlagen schlingt und an den Stätten der Millionenerwerber vorüberführt,

die

dort

ihre Zelte

und Häuser haben, — diese „Klippe von Newport" ist ein schöner Ort. Dorthin kommen die Reisenden und schwelgen den Sommer über in ihrem Golde; und der arme Lazarus kommt auch, um zu sehen, ob er nicht des reichen Mannes

Tochter freien kann. mit dem Antlitz

Der cholerische Architekt, unzufrieden

der Natur,

führt

manchen schlimmen

Schlag danach und bringt einen ungesunden Ausschlag hervor, wo er hintrifft, und die Dinger, welche er macht, nennt er Häuser.

junge Herren und

und reden

Am Sonntag Nachmittag gehen hier jüngere Damen paarweise spazieren

den süßesten Blödsinn, weil sie nicht wiffen,

was sie sagen sollen, und nichts denken — aus einleuch­ tenden Gründen. Gärtner kommen am Morgen heraus und bringen die Wege mit seltsamen Werkzeugen in Ord-

275 nung — die Barbiere der

seifen,

Erde, welche die Natur ein­

rasiren und zu Mustern zurechtschneiden und aus

der Welt ein Fünfeck machen. Es ist ein hübscher Ort.

Es ist nichts Großartiges,

nicht einmal etwas Naturschönes in Newport, aber sehr hübsch ist es doch.

Für einen

gekünstelten Ort, der be­

stimmt ist, das gekünsteltste Volk der Welt auf drei Monate

im Jahr zu beherbergen, ist er so angenehm,

Style einer leichten Lustspieldekoration

wie er im sein kann.

nur

Ueberdies ist die Dekoration in Newport höchst kostspielig und es ist unmöglich, so viel Geld ohne irgend ein Resul­

tat auszugeben.

Es hat hunderttausend Dollars

jenen Rasenplatz zu ebnen,

bezahlt.

und

Neben dem wohnt ein Krösus, der einen Wechsel

über hundert Millionen ausstellen kann, beliebt.

gekostet,

der Reiche hat sie gern

wann es ihm

Sein Haus hat ihm einen Haufen Geld gekostet.

So bauen sie sich eine Landschaft

und schälen die rauhen

Kanten der Insel ab, errichten feine Landungsplätze, halten

sich Nachten und machen sich einen eleganten Badeort, bis

sie durch das viele Geld, welches sie hineingesteckt, ihn berühmt gemacht haben unter den Badeorten der ganzen Welt, ja vielleicht zum allermerkwürdigsten. Zu Zeiten aber ist die Klippe von Newport nicht nur so ein Stück kostspieliger Theaterdekoration, auf bloßen

Effekt berechnet.

In warmen Sommernächten steigt manch­

mal der ehrwürdige Mond weiß und majestätisch über dem Waffer auf; der alte Mond, der greiseste Sünder von uns allen, mit seinem Zauber und seinen schimmernden Liebes­ strahlen, der so sanft auf alle Miffethaten herabblickt. Und

die Kunstgeister der Nacht nehmen von seinem Silber so damit viele Dinge von

soviel sie wollen, und überziehen

geringem Stoff, so daß sie gar schön aussehen.

Und son-

18*

276 derbare Streiche spielen sie mit den Gesichtern der Todten und der Lebenden. Wenn also dieser Beherrscher der Finsterniß das arme prosaische Newport bescheint, so sieht es ganz anders aus, und die häßlichen Pfefferkuchhäuschen, in denen die Leute wohnen, verwandeln sich in herrliche silberne Paläste, und die kurzgeschorenen Rasenplätze in große, dunkle, weiche Sammetteppiche; und die glatte philiströse See, welche das Weltmeer sich schämen würde, bei Tage als Verwandte anzuerkennen, blitzt auf in ge­ brochenem Silberglanz und langen schimmernden Licht­ streifen. All dies thut der Mondschein und freut sich

seiner Täuschung. Auch noch zu anderen Zeiten sieht Newport nicht all­ täglich aus, wenn nämlich diese See, welche kein eigenes Leben zu haben scheint, ihre Nebelseele über das Land ausströmt. Ein häßlicher Geruch wie von muffigem Salz­ wasser dringt dann in der Menschen Nasen, und der Nebel fühlt sich dick und schwer an. Er schleicht bis zum Rand der Klippe in die Höhe und hängt sich gierig an das feuchte Gras. Dann klimmt er höher, über den Rasen­ platz durch die Fenster in des reichen Mannes Speisesaal und in des Krösus Bibliothek, und bringt seine Last schäd­ lichen Schimmels mit. Das niedliche Liebespärchen, wel­ ches so zierlich auf dem Kieswege wandelt, verschwimmt — seine Gestalten sehen aus wie Schatten von Todten, die zwischen drei Welten in der Luft schweben. Die paar Fußbreit Strand oberhalb der See, mit dem Namen „Klippe" beehrt, versinken in einen gähnenden Abgrund, eine schauerliche neblige, unergründliche Tiefe. Weiter schleicht sich die dichte Wolke, und bald meldet der tiefe eintönige Klang der Nebelhörner in der Ferne, daß sie in der Bucht angelangt ist. Newport hat nichts Alltägliches

277 an solchem Nebeltage, dann ist es wild und schauerlich genug zum Schauplatz einer bösen That. Die Seelen der Verdammten, sollte man glauben, würden sich in solchem Nebel verbergen vor dem Zorn des zukünftigen Gerichtes. Spät am Dienstag Nachmittag hatten Claudius und Margarethe ihren Weg nach der Klippe genommen, ein einsames Paar zu dieser Stunde an einem Wochentage. Selbst in der Entfernung gesehen war etwas in ihrer Er­ scheinung, das sie vor gewöhnlichen Paaren auszeichnete. Claudius' hohe Gestalt erschien nun, da er sich der Klei­ dung moderner Kultur anbequemte, noch imposanter, und Margarethe sah aus wie eine Dame der großen Welt, in jeder Bewegung ihres graziösen Körpers, in jeder Falte ihres tadellosen Anzuges. Wenn Amerikanerinnen sich gut anziehen, so ziehen sie sich besser an, als alle anderen Frauen auf der Welt; aber eine Amerikanerin, welche sich im Auslande bei Hofe bewegt hat, ist unerreichbar. Wenn Jemand diese beiden an jenem Dienstag Nachmittag bei­ sammen gesehen hätte, so wären Worte des Neides, der Bosheit und des Hasses gefallen. So aber waren sie ganz allein aus der Klippenpromenade. Margarethe war glücklich; in ihren Augen schimmerte ein holder Glanz und eine leichte warme Nöthe auf ihrer dunkelen Wange. An ihrem Arm hing ein Sonnen­ schirm mit Elfenbeingriff und einem M. mit der Krone darauf — genau derselbe, welcher vor drei Monaten den ersten Funken ihrer Bekanntschaft aus den Steinen des alten Heidelberger Schlosses hervorgeschlagen hatte; — vielleicht hatte sie ihn absichtlich mitgenommen. Noch war sie glücklich, denn sie wußte noch nicht, daß Claudius fort­ ginge; er aber hatte sie hierher hinausgeführt, weit fort von allen andern, auf daß er es ihr sagen könne. Allein

278 sie hatten die Klippe erreicht und waren eine Strecke nach der Spitze zu sortgegangen, ohne daß er gesprochen hätte. Etwas band ihm die Zunge, er würde gesprochen haben, wenn er gekonnt hätte, aber die Worte schienen zu groß, um herauszukommen. Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo der Abhang vom Wege steil zum Meer hinuntergeht. Dort ist ein geschütztes Eckchen auf dem Sand, zwischen rauhen, unregelmäßig geformten Steinen, die wie Klumpen Zuckerkant aussehen, und die träge See spritzt ein wenig auf an alten Kieselsteinen, die sie schon lange kennt, aber noch nie Energie genug gehabt hat, fortzuspülen. Die Felsen oberhalb überragen diese Stelle, so daß sie ganz von dem Pfade abgeschlossen ist, und die Felsen darunter bilden eine Art von Bank. Hier setzten sie sich angesichts der See — im sinkenden Abendlicht — nicht zu nahe, noch zu fern von einander, Margarethe rechts und Claudius links. Claudius klopfte mit dem Stock auf die kleinen gelben Kiesel und wußte nicht recht, wie er anheben sollte. Es war auch nicht leicht. Es wäre leichter gewesen, wenn er mit seinem Werben entweder noch nicht so weit oder schon etwas weiter gegekommen wäre. Die meisten Leute springen nie, ohne im selben Augenblick zu fühlen, daß sie bester springen könnten, wenn sie einen etwas kürzeren oder etwas längern Anlauf genommen hätten. „Gräfin," sagte der Doktor endlich, sein ernstes Gesicht ihr zuwendend, „ich habe Ihnen etwas zu sagen und weiß nicht recht, wie ich's sagen soll." Er hielt inne, Marga­ rethe blickte aus die See, ohne ihn zu beachten, denn sie dachte halb und halb, er wäre im Begriff, seine frühere Anmaßung zu wiederholen und ihr eine Liebeserklärung zu machen. Wäre das aber jetzt noch eine Anmaßung?

279 Sie dachte, was sie wohl sagen sollte, was sie sagen wollte, wenn er es — wagte. Würde sie jetzt wieder sagen, „es wäre nicht recht von ihm"? In einem Augenblick hatte Claudius sich entschlossen, kühn mit der Wahrheit heraus­ zurücken. „Ich muß ganz plötzlich abreisen", sagte er, und seine Stimme bebte heftig. Margarethe erblaßte und hielt sich gewaltsam zurück, um sich nicht umzuwenden und ihn anzusehen. Sie hätte es gern gethan, aber sie fühlte seinen Blick auf ihr ruhen und fürchtete, wenn sie ihn ansähe, möchte sie es zu lange thun. „Müssen Sie fort?" fragte sie sehr gefaßt. «Ja, ich fürchte, ich muß. Vielmehr, ich weiß, ich muß, wenn ich später hier bleiben will. So gehe ich lieber gleich, um es hinter mir zu haben." Er sprach noch immer unsicher, als ob er gegen eine starke Heiserkeit an­ kämpfte. „Sagen Sie mir warum?" fragte sie gebieterisch. Claudius zögerte einen Augenblick. „Ich will Ihnen einen der Hauptgründe meiner Ab­ reise angeben", sagte er. „Wie Sie missen, kam ich hier­ her, um meine Erbschaft anzutreten und verließ mich na­ türlich darauf. Wenn ich sie nicht erhalte, kann ich selbst­ verständlich nicht auf diesem Fuße mit den bescheidenen Mitteln fortleben, welche mir bisher genügt haben." „Et Anis?“ fragte die Gräfin, die Brauen etwas emporziehend. „Et Anis,“ fuhr der Doktor fort, „diese Herren Juristen finden es schwer, sich davon zu überzeugen, daß ich — ich bin, der wirkliche Neffe des verstorbenen Gustav Lind­ strand."

280 „Was für Unsinn!" rief Margarethe. „Und ihnen zu Gefallen reifen Sie fort? Und wer wird denn Ihr

Geld bekommen?" „Das werde ich bekommen," antwortete Claudius, „denn ich werde zurückkommen, sobald ich mir die nöthigen Beweise für meine Identität in Heidelberg besorgt habe." „Ich habe noch in meinem Leben nie etwas so Lächer­ liches gehört", sagte Margarethe eifrig. „Um ein paar Papiere solche weite Reise zu machen! Als ob wir Sie nicht alle kennten! Wenn Sie nicht Dr. Claudius sind, wer sind Sie denn? Herr Barker reiste ja expreß nach Heidelberg, um Sie aufzufinden!" „Dennoch zweifeln die Herren Screw und Scratch an mir. Hier ist ihr letzter Bries. Wollen Sie ihn lesen?" Damit nahm Claudius einen Briefumschlag aus seinem Taschenbuch. Er war froh, auf sachliche Dinge gekommen zn sein, denn sein Herz war wund, und er wußte, wie es enden müsse. „Nein." Die Gräfin wandte sich erst jetzt zu ihm, mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, aus Zorn und Schmerz gemischt, im Gesichte. „Nein, ich will ihn nicht lesen." „Ich wünschte, Sie thäten es," sagte Claudius. „Dann würden Sie es besser verstehen." — Es lag in feiner Stimme etwas, das eine sympathische Saite in ihr berührte. „Ich denke, ich verstehe," sagte sie, wieder auf die See blickend, die vor ihr dunkel und undeutlich wurde. „Ich glaube, Sie müssen gehen." Es lag nicht an ihren Augen, daß alles vor ihr un­ deutlich wurde. Der nasse Nebel stieg wie ein formloser böser Geist aus der trüben See und wälzte sich schwer

281 über die kleine Bucht bis zum Strand,

wo die Beiden

saßen, seine geschwollenen Arme voll Feuchtigkeitund schädlichen Dünsten.

Margarethe schauerte dabei zusammen und zog

Aber sie stand nicht

ihr Spitzentuch fester um den Hals.

auf und gab kein Zeichen zum Gehen. „Was ist

der

andere Grund für Ihr Fortgehen?"

fragte sie endlich. „Welcher andere Grund?"

„Sie

thige

sagten,

für Ihre Reise.

oder

Ihre Erbschaft

Beweisführung

wäre

einer

Also ist noch ein

die

der

nö­

dazu

Hauptgründe

anderer Grund vor­

handen?" „Ja, Gräfin, es ist noch ein anderer Grund vorhan­ den, aber ich kann ihn Ihnen jetzt nicht sagen." „Ich habe natürlich

Margarethe,

zu fragen,"

sagte

„außer wenn ich Ihnen helfen kann",

setzte

kein Recht

sie mit ihrer tiefen sanften Stimme hinzu.

„Sie haben mehr Recht dazu, als Sie glauben, weit mehr Recht," antwortete Claudius, „und ich danke Ihnen für den freundlichen Gedanken, mir zu helfen.

gut von Ihnen." Hand auf.

Er wandte

sich

Es ist sehr

zu ihr und stützte die

Noch immer stieg der Nebel,

See schien von tiefster Stille überschattet.

und die leblose Sie saßen bei­

nahe im Dunkeln auf ihrem Stückchen Strand,

Feuchtigkeit

und

die

hing bereits in großen dicken Tropfen

an

ihren Kleidern und den Felsen, auf denen sie saßen. Und noch immer sah Claudius Margarethe an, und Margarethe

blickte auf den schmalen Wasserstreifen, der noch vom Nebel unbedeckt war. „Wann werden Sie reifen?" fragte sie langsam,

als

ob sie die Wahrheit nicht hören möchte. „Heute Abend", sagte Claudius, sie innig anblickend^

282 Der Glanz ihrer Augen war erloschen und die Rothe in ihr Herz zurückgeströmt, aus dem sie emporgestiegen. „Heute Abend?" fragte sie etwas unsicher. „Ja", sagte er und wartete dann noch einen Augen­ blick. „Wird es Ihnen leid thun, wenn ich fort bin?" Er beugte sich zu ihr herüber und sah sie forschend an. „Ja," sagte Margarethe, „es wird mir traurig sein." Ihre Stimme klang freundlich und sehr sanft. Aber noch immer sah sic ihn nicht an. Claudius streckte ihr seine rechte Hand entgegen. „Wird es Ihnen sehr leid thun?" fragte er ernst mit innigem Blick. Sie erfaßte seine Hand. „Ja, ich werde sehr betrübt sein." Claudius glitt von dem Felsstück herab, auf dem er saß, und sank vor ihr auf ein Knie, dann küßte er die ihm dargereichte Hand, als wäre es das heilige Kreuz. Er sah auf, sein Gesicht war dem ihren ganz nahe, endlich sah er ihre Augen, sie glühten in erregtem Feuer unter den dunklen Brauen, in seltsamem Gegensatz zu der Blässe ihrer Stirn, ihres Ge­ sichts und Halses. Einen Augenblick sah er sie an. „Wird es Ihnen wirklich sehr leid thun?" fragte er zum dritten Mal mit leiser wundersamer Stimme. Es kam keine Antwort, nur ringsum feuchter Nebel und mitten im Nebel diese beiden schönen, todtenblaffen Gesichter dicht neben einander. Einen Augenblick — und dann, o Gott! endlich haben sie ihr Loos geworfen, denn er hat seine mächtigen Arme um sie geschlungen und küßt leidenschaft­ lich ihre marmorbleiche Wange. „Meine Geliebte! meine Geliebte! ich liebe Dich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen meinen Kräften!" — Sie aber spricht kein Wort, nur ihre Arme schlingen sich um seinen Hals, und ihr dunkles Haupt ruht

283 an seiner Brust; und wer ihre Augen sehen könnte, würde darin auch die holden Perlen sehen, welche der kleine Liebesgott tief im Meer der Liebe gebildet hat — ihre Wimpern sind naß von Hellen Thränen. Und rings um sie her zieht sich der schwere feuchte Nebel, dick und undurch­ dringlich wie die Dunkelheit und doch nicht dunkel. „Uff!" murmelte der Meergeist, „ich kann Liebende nicht leiden! Wenn sie nicht ertrinken, sollen sie wenigstens naß werden." Und er kam und berührte sie über und über mit der Feuchtigkeit seiner todbringenden Hand, und hauchte sie mit dem dicken kalten Athem seiner feuchten alten Seele an. Aber er vermochte nichts gegen solche Liebe wie die ihre, und die Liebenden lachten seiner. Sie war ganz still, als sie ihn küßte und ihr Haupt an seine Brust legte. Und er konnte nur immer wieder sagen, was seinem Herzen am nächsten war, das Bekennt­ niß seiner Liebe, und so lange seine Arme sie umschlungen hielten, waren sie stark, aber sobald er versuchte, sie fort­ zuziehen, zitterten sie wie Espenlaub. Ein Mal in jedem Leben, das ein Leben genannt zu werden verdient, rollt die Hochfluth ihre Wellen über uns und verwischt unsre Grenzzeichen und verändert unsre ganze Küstenlinie. Aber wenn die Wasser sich auch nicht verlau­ fen, so senkt sich doch die Woge und sinkt nach dem ersten rasenden Sturz allmälig sich kräuselnd in sanfte Glätte zurück, sonst wären wir alle nur Schiffbrüchige im Meer der Liebe. Nach einer Weile machte sich Margarethe sanft von Claudius los, nahm seine Hände in die ihren und hielt sie fest. „Komm!" sagte sie, „laß uns gehen!" Das waren ihre ersten Worte, und Claudius dünkte cs, als hätte ihre tiefe Stimme noch nie so melodisch geklungen. Aber die

284 Worte, das Wort „gehen" klang seinem Herzen wie Grab­

geläute.

Er hatte ganz vergessen,

Morgen absegeln müsse.

daß er am nächsten

Er hatte vergessen,

daß es so

bald vorüber wäre! Sie gingen fort aus dem tröpfelnden Nebel und nassen

Dunst und

giftigen Meereshauch

die Klippenpromenade

empor und über die feuchten Wege heimwärts, zwei liebende traurige Herzen, kaum bewußt, was mit ihnen vorgegangen war, nicht wissend, was ihnen später geschehen würde, aber voll von eben ausgefprochner Liebe und brennend von halb

vergossenen Thränen.

„Geliebte," sagte Claudius, als sie zum letzten Mal in der Oede des großen ungemüthlichen Hotelzimmers bei einander standen, denn Claudius mußte fort — Geliebte,

wollen Sie mir etwas versprechen?" Margarethe schlug die Augen nieder, während sie die

Hände um seinen Arm gefaltet dastand. „Was soll ich Ihnen versprechen — Claudius?" fragte sie, halb zaudernd.

Claudius legte seine Hand zärtlich — so zärtlich wie nur Riesen sein können, auf ihr dickes dunkles Haar, als

ob er kaum wagte,

sie dort ruhen zu lassen, und es doch

so gern thäte.

„Versprechen

Sie mir, falls Sie an mir zweifeln

sollten, wenn ich fern bin,

den Herzog nach dem andern

Grunde meines Fortgehens zu fragen!" „Fch werde nicht an Ihnen zweifeln", sagte Marga­

rethe, mit Stolz zu ihm aufsehend. „Gott segne Dich, meine Geliebte!"

er wieder zur See.

Und damit ging

285

Sechzehntes Kapitel. Ass Herr Barker, welcher der Gesellschaft nach New­ port nachgekommen war, am folgenden Tage die Gräfin besuchen wollte, war sie nicht zu sprechen, er begnügte sich also damit, eine sehr dringliche Einladung, Nachmittag mit ihm auszufahren, auf seine Karte zu schreiben, welche er nebst einigen Blumen heraufschickte, ohne eine Antwort ab­ zuwarten. Margarethe hatte zu einer — für sie — frühen Stunde den Herzog zu sich bitten lassen und besprach wich­ tige Dinge mit ihm, als Barker gemeldet wurde; sonst hätte sie ihn wahrscheinlich nicht abgewiesen. ,,Jch bitte Sie, mir zu erklären, was eigentlich ge­ schehen ist, um Dr. Claudius zum Aufgeben seiner Erb­ schaft zu bringen," sagte Margarethe, die in ihrem weißseidnen Morgcngewande bleich und schön anssah. Der Herzog saß am Fenster und beobachtete ein paar junge Leute, die eben einen zierlichen Jagdwagen besteigen wollten. Allerdings war der Wagen und das Pferd Gegenstand seines Interesses. Der Herzog wußte nicht, daß die jungen Leute nichts Geringers waren als der junge Herr Hannibal Q. Sniggins und der junge Herr Orlando van Sneindell, beide aus New Nork, Söhne der Großen Wegebaugesellschast. Jeder dieser jungen Herrn hätte den Herzog aus­ kaufen können, jeder von ihnen hätte ihm mit Freuden die Stiefel geleckt, und beide würden in den heiligen Hallen ihres prachtvollen Klubs in New Jork behauptet haben, daß er ein anmaßender Esel von einem Engländer sei. Aber all das wußte der Herzog nicht, sonst hätte er sie wohl mit mehr Fntereffe betrachtet. Ihm war der Charakter der Leute, mit denen er in Berührung kam, höchst gleich-

286 gültig, und es kümmerte ihn wenig, ob sie in das „Buch der Snobs"*) gehörten oder nicht. Gewöhnlich geben Leute, welche selbst Snobs find, ihren Bekannten diesen anstößigen Titel und schreiben ihnen die Sünde zu, in welche sie selbst verfallen. Der Herzog machte einen Unterschied zwischen ächten und dunkeln Ehrenmännern, wenn es sich darum handelte, mit ihnen an einem Tisch zu speisen, aber in Geschäftssachen hielt er diesen Unterschied für unwichtig. Er kam in Geschäften nach Amerika und nahm die Ameri­ kaner, wie er sie fand. Er hielt sie für vortreffliche Ge­ schäftsleute, und wenn er auf anderm Gebiete mit ihnen verkehren mußte, so hielt er einige von ihnen für „Gent­ lemen" und andre nicht — wie das so ziemlich überall Vor­ kommen kann. Also sah er zu, wie die jungen Leute in ihren Jagdwagenstiegen, und fand das ganze Gefährt höchst „chic“. „Wirklich," fing er an, in Antwort auf der Gräfin Frage, „auf mein Wort, ich weiß nicht viel davon. Wenig­

stens — ich glaube nicht." „Ach so, ich dachte, Sie wüßten es," sagte Margarethe und nahm ein Buch und ein Papiermesser zur Hand. „Es muß doch etwas ganz Erhebliches sein, sonst würde er nicht nach Europa reisen müssen, um fich die Papiere zu besorgen." „Nun ja, sehen Sie, bei alledem, er — ja!" der Herzog wurde roth, „er — na ja, so ist es!" „Ja?" fragte Margarethe, als ob sie mehr zu hören erwartete. „Ja, so ist es", sagte der Herzog, noch immer roth, aber entschlossen, nichts zu sagen. Er hatte indessen Clau­ dius nicht versprochen, nicht zu sagen, daß er für ihn ge*) Anspielung auf Thackeray's berühmte Satire. Anm. d. Uebers.

287 bürgt haben würde, wäre der Doktor hier geblieben; aber er fürchtete, wenn er Margarethen das sagte, riskirte er Claudius' eigentliches Reiseziel zu verrathen. Also ging das nicht an. „Ich habe wirklich nicht recht verstanden, was Sie eben sagten," sagte Margarethe und sah ihn an. „Ach so, nun ja. Ich habe mich wohl nicht recht deutlich ausgedrückt. Was fragten Sie doch, Gräfin?" „Ich fragte, wer dem Doktor so viel Unannehmlich­ keiten bereitete?" sagte Margarethe ruhig. „Ach so! ich dachte mir gleich, ich hätte Sie nicht verstanden. Die Testamentsvollstrecker und Sachwalter, die über seine Identität nicht zufrieden gestellt sind. Es ist aber alles in Ordnung." „Natürlich. Aber hätte denn hier Niemand ihm die Mühe ersparen können, nach Deutschland zu reisen?" Der Herzog war verzweifelt. Er sah sich in die Enge getrieben, so daß er entweder lügen oder mit der Wahrheit herausplatzen mußte. Er war vielleicht cynisch und welt­ lich genug für seine Zeit, aber er log nicht. So machte er einen kühnen Ansatz. „Meine liebe Gräfin," sagte er, sich zu ihr wendend und sich den Bart streichelnd, „ich weiß allerdings etwas von Dr. Claudius und will Ihnen alles sagen, was ich sagen darf, bitte, fragen Sie mich nicht mehr! Claudius ist wirklich nach Heidelberg gegangen, um sich dort Papiere zu verschaffen, aber seine Reise hat noch einen andern Zweck, über den ich nicht sprechen darf. Er hätte sich auch ohne die Papiere behelfen können, denn ich hätte seine Identität beschwören können." „Also ist der andre Zweck der wichtige", sagte die Gräfin nachdenklich. Der Herzog schwieg. „Ich bin Ihnen

288 sehr verbunden für das, was Sie mir gesagt haben," setzte sie hinzu. „Ich will Ihnen sagen, was ich thun kann," sagte der Engländer nach einer Pause, während welcher ein un­ gewöhnlicher Ausdruck seines Gesichts Nachdenken verrieth. „Ich reise auf ein paar Monate nach dem Westen, um nach meinen Angelegenheiten zu sehen, und natürlich kann unterdessen allerlei geschehen. Claudius kann bei Verfol­ gung seines Zweckes aus Schwierigkeiten stoßen, und ich bin hier der Einzige, der alles über ihn weiß. Er hat mir seine Identität nachgewiesen. Wenn es ihnen recht ist, werde ich eine Bürgschaft für ihn aufsetzen und unterzeich­ nen und dieselbe, für den Nothfall, Ihren Händen anver­ trauen. Das ist alles, was ich thun kann." „Meinen Händen?" fragte Margarethe, sich in die Höhe richtend. „Und warum meinen Händen, Herzog?" Diesmal wurde der Herzog sehr roth und zauderte. Aus reiner Gutmüthigkeit und dem Wunsche, allen zu helfen, hatte er sich hineingeredet. „Ach so — die Sache ist, Gräfin," endlich half er sich heraus, „die Sache ist, wie Sie wissen, Claudius hat hier nicht viel Freunde, und ich dachte, Sie wären ihm freundlich gesinnt. Mein einziger Wunsch ist — ihm zu dienen." Margarethe sah sofort ein, welch ein Vortheil es für Claudius wäre, wenn eine Bürgschaft, wie der Herzog sie anbot, als eine Waffe gegen seine Feinde bereit gehalten würde. „Sie haben recht," sagte sie, „ich bin eine gute Freun­ din des Doktors und will das Papier für den Nothfall aufbewahren." Der Herzog gewann seinen Gleichmuth wieder.

289 „Ich danke Ihnen," sagte er. „Ich bin sein sehr guter Freund und danke Ihnen in seinem Namen, wie er es selbst thun wird. Ein Sekretär aus unserm Ministerium des Auswärtigen ist auf Urlaub hier. Ich will ihn bitten, das Schriftstück aufzusetzen, denn er ist ein alter Freund

von mir, eigentlich ein Verwandter. — Potztausend, da geht ja Barker!" Dieser Ausruf wurde durch die plötzliche Erscheinung des Genannten auf der andern Seite der Straße veranlaßte; er stand im Gespräch mit den beiden Herren, welche der Herzog beobachtet hatte, als sie ihren Jagdwagen besteigen wollten. „So?" sagte Margarethe gleichgültig als Antwort auf diesen Ausruf. „Ja", sagte der Herzog; „er ist es. Ich dachte, er wäre in New Jork." „Nein", sagte die Gräfin. „Er war eben hier. Seine Karte wurde mir gebracht, gerade als Sie kamen. Er fordert mich auf, Nachmittags mit ihm auszufahren." „So? werden Sie es thun?" „Ich denke ja", sagte sie. „Gut, dann werde ich meine Schwester mitnehmen", sagte der Herzog. „Ich habe einen sehr netten Wagen." Margarethe lachte über diese Anspielung aus eine Ein­ ladung. „Wie Sie doch vieles als selbstverständlich voraus­ setzen", sagte sie. „Meinen Sie wirklich, ich würde mit Ihnen ausgefahren sein?" „So etwas ist schon vorgekommen!" sagte der Herzog heiter und ging. Obschon er durchaus kein „Mann für Damen" war, machte er gelegentlich solche Redensarten. Er war daran gewöhnt anzunehmen, daß Niemand seine Einladungen ausschlüge. Crawfcrd, Doktor Ck.iudnis.

19

290 Um vier Uhr Nachmittag fuhr Silas B. Barker junior am Hotel mit einem höchst eleganten Gefährt vor, das in Amerika ein T-cart genannt wird und einem Phaeton ähn­ lich gebaut ist. Von dem hohen zweisitzigen Bock aus lenkte Herr Barker ein paar prächtige Braune, die nach dem anerkannt besten philanthropischen oder vielmehr philozooischen System angespannt waren; kein Schwungzügel, keine Buchsen, anscheinend nichts als eine Deichsel und Herrn Barkers Wappen. Denn seit Herr Barker aus Salem in Massachusetts zurückgekehrt war, führte er ein Wappen: eine rothe aus einem linksstehenden Galgen hän­ gende Hexe in schwarzem Felde. Hinter ihm faß der wie ein Uhrwerk aufgezogene Groom, den er sich mit bedeutenden Kosten vom Gute des Viscount Plungham hatte kommen lasten; dieser Groom sprang herunter und stellte sich vorne neben die Pferde, so­ bald Barker sie zum Stehen gebracht hatte. Dann stieg Barker, mit einem neuen Hut, Patent- Lackstiefeln und einem sehr langen Gehrock bekleidet, eine kostbare Rose im Knopf­ loch, behend vom Wagen und stieg rasch die Stufen hinaus, als ob er halb auf Lust, halb auf Eierschalen träte. Nach einigen Minuten kam er wieder, von der Gräfin Marga­ rethe begleitet, die schön, bleich und königlich aussah. Ein stolzer Mann war Dandy Silas, als er ihr einsteigen half, dann von der andern Seite selbst einstieg und die Zügel ergriff. Von beiden Seiten der Straße flogen viel neu­ gierige Blicke nach der unbekannten Schönheit, die neben Silas einherfuhr, und seine Freunde grüßten angelegentlich, als die Beiden vorüberfuhren. Selbst der alte Grogtrinker, der mit dem Wafferwagen durch die Bellevuestraße fährt, konnte sich kaum enthalten, ihnen im Vorüberfahren zuzujubeln.

291

So fuhren sie neben einander daher. Barker wußte recht gut, daß Claudius sich Tags zuvor verabschiedet hatte, und war eigentlich sehr überrascht, daß Margarethe seine Auf­ forderung angenommen hatte. Er war hingegangen, sie darum zu bitten, weil er überhaupt nicht der Mann dazu war, das Gras unter feinen Füßen wachsen zu lassen, am wenigstens wenn er eine Dame umwarb. Denn bei Frauen kommt mitunter alles auf die Zeit an. Herr Barker war ein verständiger Mann; als ihm seine Ueberraschung klar wurde, sagte er sich, es müsse ein Grund dafür vorhanden sein, und ferner ein sehr triftiger Grund dafür, daß Mar­ garethe seine erste Einladung zu einem Nachmittag- tetea - tete angenommen habe. So kam er von einem Ge­ danken zum andern, zuletzt zu dem Schlüsse, daß sie etwas Näheres über des Doktors Abreise zu hören wünschte, und daraus schloß er ferner, daß Claudius sie nicht ins Ver­ trauen gezogen habe. Die Veriiiuthuitg, daß sie sich be­ streben könnte, ihn zu einer Rechtfertigung des Doktors zu veranlassen, verwarf Barker als unwahrscheinlich, und darin hatte er recht. Er wartete also ab, bis sie von der Sache anfinge, und beschränkte sich beim Fahren auf Bemerkungen über die Vorübergehenden, das Treiben in Newport während des Sommers, die Aussicht auf Madame Patti für die nächste Opernsaison, Pferde, Hunde und gemeinsame Be­ kannte, kurz das ganze bunte Gemisch erlaubter und be­ lustigender Gesprächsgegenstände. Als sie in einen offnen Weg am Strande bogen, fing Margarethe plötzlich an. „Warum ist Doktor Claudius abgereist?" dabei sah fie Barker ins Gesicht, das undurchdringlich wie immer blieb. Barker faßte die Leine anders und steckte die Peitsche in den Ring neben sich, ehe er antwortete. „Es heißt, er reist um seine Identität bezeugen zu 19'

292 lassen", sagte er langsam und anscheinend höchst gleich­ gültig. „Ich sehe nicht ein, wozu das nöthig ist," antwortete Margarethe ruhig, „ich denke, wir alle kannten ihn sehr gut." „Ach, kein Mensch kann diese Advokaten verstehen!" sagte Barker, dann schwieg er, wohl wissend, was für eine befestigte Stellung der Schweigende einnimmt, denn sie konnte jetzt nichts weiter über Claudius erfahren, ohne sich zu einer direkten Frage herbeizulaffen. Barker war in einer schwierigen Lage. Späterhin wollte er freilich an­ deuten, daß Claudius wohl niemals wiederkehren dürfte. Aber er war zu klug, um das schon jetzt zu thun, solange die Erinnerung an Claudius noch frisch in der Gräfin Seele war und er selbst, wie ihm dünkte, nicht allzu hoch in ihrer Gunst stand. Deshalb sagte er eine einfache Wahrheit, die ihm nicht nachher vorgerückt werden konnte, und war dann still. Es war ein geschickter Zug, und Margarethe mußte von etwas anderm anfangen, damit die Pause nicht zu lang würde. Sie waren noch nicht lange gefahren, als das Gesellschafts-Kaleidoskop schon wieder in Bewegung war, und Barker sprach aufs beste. So rollten sie entlang und fuhren den meisten andern Wagen vor; wenn sie an eine kleine Anhöhe kamen, fuhr Barker Schritt, unter dem Vorwande, die Pferde nicht zu erhitzen, in der That um die Fahrt zu verlängern und seinen Vortheil zu vermehren, sei es auch nur um eine Minute oder um ein Haarbreit. Er sah, daß er sie gut unterhielt, indem er sie von dem Gegenstand ihrer Sorge abzog- und aus dem Gedächtniß allerlei harmlose Klatschgeschichten skizzirte, in Kreide zeich­ nete oder photographirte — er gab wohl acht, daß es

293 harmlose waren, — dann sprach er über Bücher, so weit ihm das möglich war, mit der allzeit bereiten Beimischung von Sentimentalität, welche junge Amerikaner im Gespräch mit Damen lieben. In Rücksicht auf die Gebräuche des Landes brachten sie ihren Nachmittag sehr unschuldig und ergötzlich zu; obgleich Margarethe sich zuerst im Stillen ärgerte, daß Barker nicht von Claudius sprechen, noch ihr irgend welche fernere Auskunft geben wollte, so wünschte sie sich doch Glück, daß dieses Zusammentreffen so glatt ablief. Sie hatte die Einladung wirklich nur in der Hoff­ nung angenommen, etwas mehr über Claudius und seinen „andern Grund" zu erfahren. Sie sah aber auch ein, daß Barker, wenn er nicht vom Doktor sprechen wollte, sich leicht hätte recht unangenehm machen können, indem er aus dem Interesse, das ihre direkte Frage verrieth, Vortheil zog. Darauf hatte Barker sich aber nicht eingelassen, er war im Verlauf seiner vielseitigen Unterhaltung gar nicht mehr auf Claudius zurückgekommen. Mitten in seiner Beschreibung von Frau Orlando van Sneindells letzter Mittagsgesellschaft, die er leider versäumt hatte, fiel es seinen Braunen ein, welche nicht so sanftmüthig waren wie die meisten trägen, mit Bohnen gefüt­ terten Thiere, die man auf der Promenade von Newport sieht, daß es lustig sein müsse, einen steilen Abhang nach der See hinunter zu galoppiren. Der Weg wandte sich plötzlich abfallend über eine kleine Landenge hin, welche die Bucht vom Hafen trennt, und die Senkung war zuerst eine kleine Strecke lang recht steil. Gerade an diesem Punkt beliebte es den muthigen Thieren auszureißen, und zwar mit einer Entschiedenheit, die überfütterten Wagenpferden eigen zu sein scheint. In einem Augenblick rannten sie davon, und es war klar, sie waren nicht anzuhalten, vom

294 Schritt sielen sie in Trab, vom Trab in Galopp, vom Ga­ lopp in rasendes, halsbrechendes Durchgehen, alles in einem Augenblick, hinunter nach der See. Barker war ohne Furcht und that, was er konnte. Er war kein starker Mann und wußte, daß er zwei Pferden nicht gewachsen wäre; aber er hoffte durch plötzliches, mehr­ mals wiederholtes Anziehen die Durchgänger zum Stehen zu bringen, was mitunter gelingt. Seinen Entschluß wie gewöhnlich sofort ausführend, wand er sich die Leinen je um eine Hand, und sich halb vom Sitz erhebend, riß er mit aller Kraft daran. Margarethen stand der Athem still. Aber ach! wie selten ist Sattlerarbeit haltbar! Der linke Zügel schnappte ab wie ein Zwirnfaden, gerade da wo seine eine Hälfte durch die Schnalle zum rechten Pferd herübergeht, und als so die Spannung der rechten Hand plötzlich aufhörte, wurden die Köpfe der Pferde heftig nach links geschleudert, und nun waren sie nicht mehr zu halten. Barker war still und ließ sofort die noch nicht zerriffene Leine los. Margarethe saß still und hielt sich an der nied­ rigen Rücklehne ihres Sitzes fest, auf einen Sprung ge­ faßt. Unterdeffen waren sie beinahe am untern Ende des Abhangs angelangt und näherten sich rasch einer Ecke, wo ein großer Haufen von Felsblöcken Unheil drohte. Die Pferde nach links hernmznreißen, wäre sichrer Untergang ge­ wesen, denn dort stürzte der Boden in beträchtlicher Tiefe zu den tiefer liegenden Felsen ab. Da wagte Barker eine kühne That. „Wenn ich das Pferd verfehle, springen Sie rechts ab", rief er, und in einem Augenblick, ehe Margarethe antworten oder ihn hindern konnte, sprang er über das Spritzbrett und schwebte in der Luft, eine seltsame Erschei­ nung mit seinen langen Rock und glänzenden Hut! Mit

295 einem kühnen Satz — die Gräfin schauderte, als sie ihn springen sah — schwang er sich auf den Rücken des rechten Pferdes, beinahe auf seine» Kopf, aber er saß doch fest auf dem rasenden Thier. Leicht und elastisch, nur ein ange­ zognes Bündel Sehnen, war Barker nicht abzuschütteln, und während das Thier noch den Kopf vornüberwarf, hatte er die fliegenden Enden der Zügel erfaßt und riß sie hin und her mit der Kraft der Verzweiflung. Bei dem Schreck darüber, daß plötzlich ein Reiter vom Himmel ihm auf den Rücken gefallen war, und dem heftigen Reißen von Barkers kleinen knochigen Händen entschloß sich das Pferd endlich zum Stillstehen, und das andre, welches auch etwas vom Reißen am Zügel abbekam, stand unter Schnauben und Sträuben, aus Mitgefühl auch still. Barker hielt die zer­ rissene Leine noch fest und bog sich weit über den Hals des Pferdes vor, um sie sich ums Handgelenk zu wickeln, er rief Margarethen zu, sie möchte aussteigen, was sie un­ verzüglich that; allein anstatt in Ohnmacht zu fallen, stellte sie sich gerade vor die Pferde hin, eine gebieterische Gestalt, der nicht einmal ein stummes Thier zu trotzen wagte — noch zu aufgeregt, um zu sprechen, aber auf alles gefaßt. Ein Weilchen darauf kam auch der Groom, desfen Exi­ stenz beide vergesfen hatten, mit rothem Gesicht angerannt, seinen zerbeulten Hut mit dem Aermel abstäubend. Er war in aller Stille von hinten herabgeglitten und kopfüber in den Sand gerollt, ohne sich zu beschädigen. Nun stieg auch Barker herunter. Er war mit Staub bedeckt, hatte aber noch den Hut auf dem Kopfe und sah nicht aus, als ob er auf Tod und Leben gesprungen wäre. Margarethe wendete sich zu ihm mit aufrichtiger Dankbarkeit und Be­ wunderung, denn er hatte sich so benommen, wie nur we­ nige es gekonnt oder gewollt hätten.

296 „Sie Haden mir das Leben gerettet", sagte sie. „Ich bin Ihnen sehr dankbar. Es war sehr muthig von Ihnen." Damit reichte sie ihm die Hand, welche jetzt, da die erste Aufregung vorüber war, heftig zitterte. „O durchaus nicht! Es war wirklich gar nichts", sagte er, sich verneigend. Aber die tiefe Falte, welche Barkers Erfolge in seinem Leben verzeichnete, erschien deutlich um seinen Mund. Er wußte seinen Vortheil zu schätzen und vergaß die Gefahr, wenn er bedachte, was er gewonnen! Sein Herz oder das Organ, welches dessen Stelle vertrat, war voll von Triumph. Hätte er die Sache mit Geschick und Vorbedacht geplant, so hätte sie nicht besser glücken können. Ein solcher Erfolg! und gleich nach des Doktors Abreise! — Ihr Götter! welch ein Glück! So geschah es, daß bis das Geschirr zusammengebunden und der Wagen ohne Unfall in den ersten Stall der Vor­ stadt untergebracht worden war, wo derselbe unter der Ob­ hut des Grooms verblieb, Barker reichlichen Lohn an Lob und Dank empfangen hatte. Als Margarethe vorschlug, sie sollten zu Fuß nach dem Hotel zurückkehren, versuchte Barker einige Schritte zu machen, erklärte aber, er sei zu lahm dazu, weil er sich das linke Bein an der Deichsel gequetscht habe; diese Verletzung gab zu weiteren Aeußerungen der Theilnahme von Margarethens Seite Veranlassung. Als er sie endlich in einer Droschke vor ihrem Hotel absetzte, betheuerte er, er habe eine höchst genußreiche Fahrt gehabt, und ging in bester Laune davon. In der Dank­ barkeit für ihre Rettung und wirklicher Bewunderung von Barkers Kühnheit und Kaltblütigkeit war Margarethe ge­ neigt, von ihm eine bessere Meinung zu haben als seit lange. Oder vielleicht richtiger gesagt, sie dachte mehr an ihn als sonst; denn in Claudius figreicher Gegenwart, war

297 Barker zu einem unbedeutenden Punkt in der Landschaft zusammengeschrumpft, er war eine Null im Vergleich zu der größern Gestalt und dem stärkern Charakter des Schweden. Margarethe empfing Abends den Herzog. Er brachte ihr in unversiegeltem Umschlag ein Dokument, welches er sie an einem sichern Orte aufzuheben ersuchte, für den Fall daß ihr gemeinsamer Freund dessen bedürfe. Sie sagte, sie wolle es Claudius bei seiner Rückkehr geben; und dann erzählte sie dem Herzog von ihrer Ausfahrt mit Barker und dem Unfall. Der Herzog sah sehr ernst dabei aus. „Freilich," sagte er, „ich habe Barker bei Ihnen ein­ geführt, und es würde sonderbar aussehen, wenn ich Sie jetzt vor ihm warnen wollte. Dennoch, Gräfin, — ich habe schon lange die Ehre, Ihr Freund zu sein, — dennoch muß ich sagen, ich habe es schon manchmal bedauert, daß ich ihn je in Ihr Haus gebracht!" Er wurde nach diesen Worten etwas roth aus Furcht, sie könnte ihn nicht ver­ stehen. „Ich wünschte," sagte er um es deutlicher zu machen, „ich hätte Claudius ohne Barker einführen können." Dann wurde er noch röther und wünschte, er hätte nichts ge­ sagt. Margarethe zog die Brauen in die Höhe. Vielleicht wünschte sie dasselbe, aber sie fing von etwas anderm an. „Wann werden Sie aus dem Westen zurückkommen, Herzog?" fragte sie, einige Bücher auf dem Tisch ordnend. Ihr Wohnzimmer im Hotel schien ihr so trostlos, daß sie ver­ suchte , ihm ein einigermaßen wohnliches Ansehen zu geben. „Cs können zwei Monate darüber hingehen, — ich denke ich werde ungefährnm dieselbe Zeit zurückkommenwie Claudius. „Und wann reisen Sie?" „Nächste Woche." „Ich wünschte, Sie blieben hier", sagte Margarethe un­ befangen, „oder doch Lady Victoria. Ich werde so einsam sein."



298



„Sie haben ja Fräulein Skeat", meinte der Herzog. „Ach, das meine ich nicht", sagte sie. „Ich werde nicht ganz allein sein, denn der arme Nicolai ist ja auch noch da. Ich muß mich seiner annehmen, und dann glaube ich, werden einige von diesen Leuten hier mich amusiren ober unterhalten wollen — nicht als ob sie sehr unterhal­ tend wären, aber sie meinen es gut, und daß ich in eine Nihilistenverschwörung verwickelt bin, erhöht meine Bedeu­ tung in der Gesellschaft." Der Herzog hörte ihr aber nicht mehr zu, er hatte den Kopf voll von anderen Dingen, und sein Herz war schon längst entschloffen, an Margarethens Leid theilzunehmen, so war also weiter nichts zu sagen. „O ja", dachte Fräulein Skeat, „wie schade! Es heißt, sie hätte den Herzog haben können, als sie noch ein reines Kind war — ist es zu begreifen, daß sie ihn ausgeschlagen hat! Sie hätten so herrlich zu einander gepaßt!" Aber Fräulein Skeat, die an der andern Seite des Zimmers saß und sich abmühte, herauszufinden, was denn an „The Tramp abroad“*) so komisch wäre, war im Irrthum über ihre Dame und den hochmächtigen Aristokraten. Der Herzog war viel älter als Margarethe und war schon verheirathet, als er sie kennen lernte. Nur weil sie so befreundet waren, hatten geschwätzige Zungen aufgebracht, sie hätten Mann und Frau werden können. Als der Herzog fort war, rückten die beiden Damen am Tische näher zusammen, und die ältere las aus einem neuen Noman vor. Die Gräfin gab wenig acht darauf, denn sie war sehr müde, und es schien ihr, als wollte der Abend gar kein Ende nehmen. Fräulein Skeats etwas ein­ tönige Stimme machte sie heute nicht, wie sonst oft, schläfrig, *) Der Vagabund im Auslande, Humoresken von Mark Twaiin.

299 obwohl Margarethens Augen halb geschlossen und ihre Finger müßig waren. Sie bedurfte der Ruhe, fand sie aber nicht, und ihr Gehirn durchschwirrten noch immer die Vorfälle der letzten vierundzwanzig Stunden; immer wieder tauchte die Frage auf: „Warum ist er fortgegangen?" un­ beantwortet und doch beständig wiederholt, wie die schauer­ liche Todtenklage der wilden Iren, „Warum ist er gestor­ ben?" welche das Ohr, das sie einmal gehört, noch wochen­ lang verfolgt. Sie versuchte es auszudenken, aber es ließ sich nicht durch Vernunftgründe erklären. Warum? war­ um? warum? Mit ihrem Kuß auf seinen Lippen, ihren Hauch mit dem seinen vermischt, war er gegangen. Sie hätte warten sollen, bis er zurückkehrte, ehe sie ihm gab, was ihm so köstlich war. Mehr als einmal wiederholte sie sich die Worte, welche er beim Scheiden gesprochen, sie fragte sich, ob sie dennoch an ihm zweifelte, und ob es nicht bester wäre, mit dem Herzog zu sprechen. Aber der letztere glaubte so entschieden an Claudius, daß es ihr ein Trost war, an seinen festen Glauben zu denken, und sie jeden quälenden Zweifel bannen wollte. Dennoch klang die ewige Frage laut in ihrem geistigen Ohr, und die Un­ ruhe des sragsüchtigen Dämons, der sich nicht beschwichti­ gen ließ, betäubte sie so, daß sie Fräulein Skeat nicht hören konnte. Einige Mal warf sie ihren Kopf, der auf der Lehne des Stuhles lag, unruhig hin und her, und ihr Gesicht sah so verzerrt und blaß aus, daß Fräulein Skeat sie ängstlich fragte, ob sie Schmerzen habe, aber Marga­ rethe winkte ihrer Gesellschafterin nur zu, weiter zu lesen, und schwieg. Allein Fräulein Skeat wurde unruhig und war überzeugt, ihr fehlte etwas. „Liebe Gräfin", sagte sie, „wollen Sie sich nicht zur Ruhe begeben? Ich fürchte, dieser gräßliche Unfall hat

300 ihre Nerven erschüttert. Gehen sie zu Bette, und ich werde mich zu ihnen setzen und Sie in Schlaf lesen." Ihre Stimme klang freundlich, und Margarethens Finger legten sich leise auf Fräulein Skeats knochige weiße Hand mit den grünen Adern und gelblichem Schimmerzwischen denKnöcheln. Bei dieser ungewöhnlichen Gefühlsäußerung legte Fräulein Skeat das Buch hin, welches sie in der andern Hand hielt und setzte ihre Brille fest auf ihre lange Nase. Dann schauten ihre Augen zärtlich zu Margarethen hin­ über, und ein freundliches altfränkisches Lächeln erschien auf ihrem Gesichte, das gut anzusehen war, und als sie die heiße junge Hand in der ihren drückte, lag ein Schim­ mer von Mütterlichkeit in ihrem Gesichtsausdruck, der einen Fremden überrascht haben würde. Denn für gewöhnlich sah Fräulein Skeat nicht mütterlich aus. „Armes Kind!" sagte sie leise. Margarethens andere Hand legte sich über ihre Augen und bedeckte sie, und ihr Kopf sank herab, bis er ihre Hand berührte, die in der von Fräulein Skeats lag. „Ich fühle mich heute Abend so unglücklich" flüsterte Margarethe, in dieser Abendstunde endlich die Theilnahme findend, nach der fie fich den ganzen Tag gesehnt hatte. Fräulein Skeat rückte näher an sie heran. „Armes Kind!" wiederholte Fräulein Skeat flüsternd, als sie sich über das königliche Haupt beugte, das auf ihrer Hand lag und mit ihren trockenen Fingern das dicke Haar streichelte. „Armes Kind! lieben Sie ihn denn so sehr?" Sie sprach fast unhörbar, und ihre Augenlider waren naß. Aber wie leise auch ihre Stimme war, Mar­ garethe vernahm sie und bewegte den Kopf zustimmend,

ohne ihn vom Tische zu erheben. Ach ja, — sie liebte ihn sehr, sehr innig.

Und den-

301 noch konnte sie es nicht über sich gewinnen, es einzuge­ stehen, einen Augenblick saß sie wieder aufrecht in ihrem Sessel und fühlte, daß sie den ersten Sturm überstanden hätte. Ihre Gesellschafterin, welche ihre Art und Weise kannte, begnügte sich nun damit, Margarethens Hand, welche in der ihren lag, sanft zu streicheln, ehe sie sie fort­ zog. Es war eine Welt von Herzlichkeit und sanfter Güte im Benehmen der hageren alten Dame, welche bewies, daß ihr Herz noch nicht erstorben war. Dann strich Fräu­ lein Skeat das vor ihr liegende Buch mit dem Falzbein glatt und fing an zu lesen. Vorlesen war Fräulein Skeat zur zweiten Natur geworden, und ob sie cs zuerst gern gethan oder nicht, mit der Zeit war sie dahin gekommen, es mit vollkommener Ruhe und Gleichgültigkeit zu thun; sie ließ ihre Stimme weder in einen schleppenden Ton versinken, wenn sie müde war, noch verfiel sie in den nervenangreifen­ den Fehler mancher Vorleser, welche sich vergeblich bemühen, beim Dialog den Charakter der Sprechenden darzustellen oder die Beschreibungen mit besonderem Ausdruck zu lesen. Sie machte keine Bemerkungen und fragte ihre Zuhörerin nicht nach ihrer Ansicht. Wenn die Gräfin schläfrig war, wirkte das Vorlesen einschläfernd; wenn sie Lust hatte, zu­ zuhören, fühlte sie, daß ihre Gesellschafterin nicht durch dramatischen Vortrag ihr Urtheil zu beeinflussen suchte. Mit gleichmäßiger unermüdlicher Deutlichkeit las Fräulein Skeat ein Buch gerade so wie das andere — Thiers oder Henry James, Mark Twain oder einen Parlamentsbericht, — ihr war alles gleich. Armes Fräulein Skeat! Aber Margarethen dünkte der Abend lang und die Nacht noch länger, und noch viele Tage, Abende nnd Nächte ebenfalls! Nicht als ob sie zweifelte, aber sie dachte-------nun ja, vielleicht dachte sie, sie hätte zweifeln sollen! Ein

302 feiner Physiognomiker, der abwechselnd lachte und ihr den Hof machte, hatte ihr einst gesagt, sie hätte mehr Herz als Kopf. Nun weiß jede Frau, daß sie sich geschmeichelt fühlen sollte, wenn sie für „eine Frau von Gemüth" ge­ halten wird, und doch mag es keine hören. Endlich fing Margarethe an sich zu fragen, ob es wahr wäre? Sollte sie es eingestanden haben, daß sie einen Mann liebte, der sie einen Augenblick nach diesem Geständniß verließ, um eine Reise von zwei Monaten lediglich zur Wahrnehmung seiner materiellen Interessen anzutreten? Indessen — er hatte ihr gesagt, daß er reisen müsse, ehe er sie küßte. Was konnte nur „der andre Grund" sein?

Siebzehntes Kapitel. Es ließe sich nicht annehmen, daß ein Mann von Barkers Charakter den besonderen Vortheil, welchen er durch seine Verletzung oder Quetschung bei seinem erfolg­ reichen Versuch, Margarethens Leben zu retten, davon ge­ tragen, ungenützt lassen würde. Daß er sie wirklich ge­ rettet hatte, sprach weniger zu seinen Gunsten, als daß er sich dabei das Schienbein geschunden. Die sprüchwörtliche Verwandtschaft zwischen Mitleid und Liebe ist so allgemein bekannt, daß manche berufsmäßige Liebhaber ihren Feldzug absichtlich damit beginnen, das Mitleid des weiblichen Herzens zu erregen, welches sie erobern wollen. Nun treffen sie bisweilen auf Frauen, bei denen Mitleid mit Verachtung anstatt mit Liebe verwandt ist, und dann schlägt ihr Plan fehl. Die brünette Gräfin war eben so wenig eine weichher­ zige angelsächsische Maid als ein kaltblütig grausames ame­ rikanisches Mädchen, das seine Liebesgeschichte nach der Elle

302 feiner Physiognomiker, der abwechselnd lachte und ihr den Hof machte, hatte ihr einst gesagt, sie hätte mehr Herz als Kopf. Nun weiß jede Frau, daß sie sich geschmeichelt fühlen sollte, wenn sie für „eine Frau von Gemüth" ge­ halten wird, und doch mag es keine hören. Endlich fing Margarethe an sich zu fragen, ob es wahr wäre? Sollte sie es eingestanden haben, daß sie einen Mann liebte, der sie einen Augenblick nach diesem Geständniß verließ, um eine Reise von zwei Monaten lediglich zur Wahrnehmung seiner materiellen Interessen anzutreten? Indessen — er hatte ihr gesagt, daß er reisen müsse, ehe er sie küßte. Was konnte nur „der andre Grund" sein?

Siebzehntes Kapitel. Es ließe sich nicht annehmen, daß ein Mann von Barkers Charakter den besonderen Vortheil, welchen er durch seine Verletzung oder Quetschung bei seinem erfolg­ reichen Versuch, Margarethens Leben zu retten, davon ge­ tragen, ungenützt lassen würde. Daß er sie wirklich ge­ rettet hatte, sprach weniger zu seinen Gunsten, als daß er sich dabei das Schienbein geschunden. Die sprüchwörtliche Verwandtschaft zwischen Mitleid und Liebe ist so allgemein bekannt, daß manche berufsmäßige Liebhaber ihren Feldzug absichtlich damit beginnen, das Mitleid des weiblichen Herzens zu erregen, welches sie erobern wollen. Nun treffen sie bisweilen auf Frauen, bei denen Mitleid mit Verachtung anstatt mit Liebe verwandt ist, und dann schlägt ihr Plan fehl. Die brünette Gräfin war eben so wenig eine weichher­ zige angelsächsische Maid als ein kaltblütig grausames ame­ rikanisches Mädchen, das seine Liebesgeschichte nach der Elle

303 berechnet, über seine Liebeshändel doppelte Buchführung hält und mit aufgesummten Zinsen heirathet, ein Mädchen das einen Kops hat, wie der Präsident einer Eisenbahnaktiengesellschaft, und ein Herz wie ein Eskimo. Sie ge­ hörte vielmehr zu den Frauen, deren großmüthige und edle Natur stets zur Theilnahme geneigt ist, die aber selten Freundschaft, noch seltener Liebe schenken. Sie heirathen manchmal ohne eines dieser beiden Gefühle. Sie heirathen — ihr Götter! weshalb heirathen denn die Menschen, und was für Gründe wissen sie nicht dafür aufzufinden? Wenn aber solche Mädchen ohne Liebe heirathen, so sind sie ge­ wöhnlich noch sehr jung, viel zu jung um zu wissen, was sie thun, und wenn sie auch wenig Neigung zu dem Schritte haben, so pflegen sie wenigstens den Mann zu achten. Margarethe hatte den Grafen Alexis geheirathet, weil die Partie in jeder Hinsicht so annehmbar war; das arme Kind! sie war damals kaum achtzehn Jahr alt! Aber Alexis war so ein herzensguter Mensch, daß sie sich endlich bemüht hatte, ihn zu lieben, was ihr nicht ganz mißlungen war. Wenigstens war der Frieden ihrer Ehe nicht gestört wor­ den, und als er im Jahre 1876 bei Plewna erschossen wurde, vergoß sie anftichtige Thränen und zog sich lange Zeit von der Welt zurück. Wenn aber ihr Kummer auch aufrichtig war, so ging er doch nicht tief, das wußte sie selbst und täuschte sich nicht mit dem Gedanken, daß sie nie wieder heirathen könne. Sie hatte indessen mancher Belagerung widerstanden, sowohl vor wie nach ihres Gatten frühzeiti­ gem Tode, und obschon die wahre Liebe ihr fremd war, — Liebeswerben war ihn nichts Neues. Wenige Frauen sind darin unerfahren, sicherlich keine schöne Frau. Trotz ihres reinen Herzens und tapfern Sinnes war Margarethe also doch eine Weltdame und kundig der Tücke

304 der Welt. Als darum Herr Barker anfing, sie regelmäßig zu besuchen, und als sie bemerkte, wie lange das leichte Hinken, welches er sich beim Aufhalten der durchgehenden Pferde zugezogen hatte, anzuhalten schien, als sie bemerkte, wie schlau er ihre Theilnahme zu erregen suchte, begann sie zu argwöhnen, daß er es auf mehr als bloßen Zeitver­ treib abgesehen hatte. Er sprach so gefühlvoll über seine vereinsamte Stellung auf der Welt, und um dies recht zu betonen, sprach er gänzlich gefühllos von seinem Vater. Er schilderte sich als so verlassen und freundlos auf dieser hartherzigen dornenvollen Erde. Wie ein Lämmlein war Silas, dessen losgerissene Flocken schneeweißer Wolle an den Dornen auf seinem einsamen Lebensweg hängen bleiben. Er war ganz geduldig in seinem Leiden, sagte er, denn er fühlte so tief, daß rohere Naturen nicht so leiden könnten wie er; daß von ihrem Rücken der Kummer abglitte wie von deil Federn der bespritzten, aber ganz vergnügten Gans, während er auf sein zartes Herz niederfiele wie Feuerregen. Spricht nicht Dante von solchen Unglücklichen, die geschmol­ zenen Metalltropfen ausgesetzt sind? Ach ja! Dante mußte das kennen, denn er hatte viel gelitten. Welch ein schönes und doch so trauriges Wort — leiden! Wie zart und lieb­ lich — ohne Klage leiden! Hatte die Gräfin das wohl ge­ dacht? Schweigen und lange leiden — (hier warf Silas einen liebeskranken Blick aus seinen kleinen dunkeln Augen) — mit der Hoffnung ein unendlich weit entferntes Ziel endlich doch zu erreichen, das — (noch so ein Blick) — so schön und des Erreichens so werth war! Ach, um einer solchen Hoffnung willen wollte ja Silas ewig leiden! Nichts Heiliges wollte er ungethan lassen, um den Himmel zu erwerben. Margarethe war solch Gerede in der Seele zuwider; sie fing nach einiger Zeit an, sehr ernst auszusehen, ein Zei-

305

chen, das Barker zu seinen Gunsten auslegte, denn es ist ein Schritt gewonnen, wenn eine Frau anfängt ernst zu werden. Nur ein Mann, der Margarethens wahren Cha­ rakter nicht kannte und ihn zu schätzen unfähig war, konnte sich in diesem Falle dermaßen täuschen. Sie hatte es hoch anerkannt, daß Barker ihr das Leben gerettet und bei dieser Gelegenheit mit einer Kühnheit und Entschlossenheit gehan­ delt hatte, welche ihre Bewunderung erregt haben würde, selbst wenn sie nicht ihre Dankbarkeit gewonnen hätte. Sie war ihm aber aufrichtig dankbar, und weil sie ihm das zu zeigen wünschte, wußte sie nichts Besseres zu thun, als seine Besuche anzunehmen und seine Gespräche höflich anzuhören. Eines Tages, spät am Nachmittag, saßen sie zusammen bei einer Tasse Thee, und Barker erzählte von seinen Er­ fahrungen oder was er so zu nennen beliebte, denn sie waren nicht ächt. Nicht als ob sein wirkliches Leben ein einförmiges und langweiliges Kapitel für einen regneri­ schen Nachmittag gewesen wäre, denn Barker hatte auf seine Art ein bewegtes Leben geführt; aber er mußte den rühren­ den Ton anschlagen, da ja Claudius die Heldensinfonie sich vorbehalten hatte. Also komponirte er geschickt ein kleines Bild, ans dem er mehr als gekränkt, denn kränkend erschien — sinteinalen er sich berufen gefühlt, den Racheengel zu spielen. Er gab zu, es wäre ihm gelungen, seinen Zweck zu erreichen, der in seinen Augen ein gerechtfertigter war, aber in seinem Herzen wäre eine wunde Stelle zurückgeblie­ ben, und nie hätte er den Schmerz überwunden, daß er einem andern so viel Schmerz verursachen mußte, freilich heil­ samen Schmerz, aber wenn auch! — „Es war in New Nork, vor einigen Zähren", erzählte er; „ein Freund von mir, solch lieber prächtiger Kerl, hatte sich sterblich in die erste Schönheit verliebt, ein Fräulein Crawford, Doktor Claudius. 20

306 ---------nun, den Namen werden Sie errathen. Nach drei­ monatlicher Verlobung gab sie ihm den Abschied — aus die herzloseste Weise, — sein Herz war gebrochen, und er trank sich binnen eines halben Jahres in seinem Klub zu Tode. Er starb an einem Winterabend unter höchst trau­ rigen Umständen." „Ein würdiges Ende!" sagte Margarethe verächtlich. „Was für ein stolzes Geschlecht wir Amerikaner sind." Barker seufzte absichtlich und sah Margarethe vorwurfs­ voll an. „Der arme Kerl!" rief er. „Ich war bei seinem Tode zugegen. Und in jener Nacht", fuhr Barker mit schmerz­ lichem Tone eindringlich fort, „beschloß ich, daß das Mäd­ chen, welches so viel Unheil angerichtet, auch kennen lernen sollte, was es heißt unglücklich sein. Ich beschloß, daß sie leiden sollte, was mein Freund gelitten hatte. Ich kannte sie recht gut, sie war eigentlich eine entfernte Verwandte von mir; also machte ich mich auf einem Ball bei van Sneindells an sie heran. Ich hatte sie zum Cotillon engagirt und ihr sehr schöne Rosen geschickt. Ich hatte meinen Plan schon fertig; nach ein paar Touren und kleinen Neckereien forderte ich sie zu einer regelrechten „Flirtation")" heraus. 'Wir wollen schwören, ganz ehrlich zu sein,' sagte ich, 'und wollen auf ein Dutzend Paar Handschuhe wetten. Wenn einer von uns beiden sich wirklich im Ernst verliebt, so muß er oder sie das eingestehen und die Hand­ schuhe bezahlen.' Sie nahm die Wette an, denn sie war an dem Abend in übermüthiger Laune und lachte bei dem Gedanken, daß sie sich je in mich, mich Armen! verlieben *) Zur Ehre der Deutschen giebt es dafür kein Wort in unsrer Sprache.

307 könnte, der so wenig Anziehendes hat.

Zuerst hielt sie es für einen bloßen Scherz, als ich aber anfing, sie regelmäßig zu besuchen und ihr förmlich den Hof zu machen, nahm sie allmälig Interesse an der Sache. Bald waren wir Stadtgespräch, und alle sagten, wir würden ein Paar werden. Aber die Verlobung fand nicht statt, und die Leute warteten mit offnem Munde und fragten sich, was daraus werden würde. Endlich hielt ich mich meiner Sache für sicher; also bei der rechten Gelegenheit, die sich mir in einer Gesellschaft in Newport darbot, machte ich einer Schönheit, die eben aus dem Süden, ich weiß nicht mehr von wo, — gekommen war — aufs äußerste den Hof. Die andre — die, mit der ich gewettet hatte, — war auch da, und ich beobachtete sie. Sie war außer sich und wechselte fortwährend die Farbe. Nun wußte ich, daß ich gewonnen hatte, und so kehrte ich zu ihr zurück und widmete mich ihr den übrigen Theil des Abends, indem ich ihr erklärte, die andre junge Dame wäre die Schwester eines mir sehr theuren Freundes. „Am folgenden Tage besuchte ich meine Schöne, warf mich ihr zu Füßen und erklärte mich für besiegt. Das Ergebniß war genau wie ich es erwartet hatte. Sie brach in Thränen aus, schlang ihre Arme um meinen Hals und sagte, sie habe verloren, denn sie liebe mich wirklich, obwohl sie zu stolz gewesen wäre, es einzugestchen. Da stand ich ruhig auf und lachte. Ich mache mir garnichts aus Ihnen; ich habe dies alles nur gesagt, um Sie zum Sprechen zu bringen. Ich habe die Handschuhe gewonnen.' Sie war vollständig fassungslos und reiste einige Tage später nach Europa. Und so hatte ich meinen Freund gerächt." Es entstand eine Pause, als Barker seine Geschichte beendet hatte. Er nippte an seinem Thee, und Margarethe stand langsam auf und trat ans Fenster.

308 „Finden Sie die Geschichte nicht sehr gut, Gräfin?" fragte er, „finden Sie nicht, daß ich ganz recht hatte?" Roch immer keine Antwort. Margarethe klingelte, und der alte Wladimir erschien. „Den Wagen für Herrn Barker", sagte sie, dann be­ sann sie sich und wiederholte den Befehl auf russisch und schritt langsam aus dem Zimmer, ohne den verblüfften jun­ gen Mann, der mit seiner Theetaffe in der Hand auf dem Kaminteppich stand, auch nur eines Blickes zn würdigen. Wie Wladimir die Befehle seiner Gebieterin den Dienstbo­ ten der verschiedenen Länder, welche sie bereiste, mittheilt, ist ein unergründetes Geheimniß, denn in ihrer Gegenwart versteht er nur Russisch. Wie dem aber auch sei, es war noch keine Minute vergangen, als ein andrer Diener Herrn Barker meldete, daß sein Wagen vorgefahren sei. Er wurde sehr bleich, als er hinunterging. Sie sind zu weit gegangen, Herr Barker! Das ist keine Geschichte, welche eine Dame wie die Gräfin Marga­ rethe hören mag; denn wenn Sie wirklich das thaten, was Sie ihr erzählten — was überdies noch sehr zu be­ zweifeln ist — so handelten Sie niedrig und unmännlich. Die junge Dame mag gegen Ihren Freund nicht schön gehandelt haben; bedenken Sie aber, wie viel schlimmer es gewesen wäre, wenn sie ihn aus bloßem Pflichtgefühl geheirathet und ihn das nachher hätte fühlen lassen! Schlim­ mer? Ja, schlimmer als hundertfacher Tod. Sie sind ein Esel, Herr Barker, mit Ihren verzwickten Berechnungen, das hat Ihnen der Herzog ost genug gesagt, und nun gilt's tausend gegen eins, daß Sie bei der Gräfin für immer verspielt haben. Sie wird niemals Ihrer Ansicht sein, daß das eine gerechtfertigte Rache war;, sie wird darin nur eine feigherzige und grausame Täuschung gegen eine Dame

309 sehen, deren einzige Schuld gewesen, daß sie, da sie jenen Mann nicht liebte, ihren Irrthum noch rechtzeitig eingcsehen hatte. Ein verständiger Mann sollte froh sein, wenn ein Mädchen eine Verlobung auflöst, wenn er nämlich be­ denkt, was andernfalls aus seinem Leben hätte werden können. Aber Barkers Gesicht war entstellt durch den Ausdruck von Enttäuschung, als er davon fuhr, und er konnte sich kaum genügend sammeln, um zu entscheiden, was ihm jetzt zu thun bliebe. Nach einiger Zeit indessen kam er zu dem Entschlusse, einen demüthigen Entschuldigungsbrief zu schrei­ ben und ihn mit einigen höchst kostspieligen Blumen zu übersenden; nach etwa acht Tagen wollte er ihr dann ei­ nen Besuch machen. Sie konnte um einer so geringfügigen Veranlassung willen nicht die Bekanntschaft mit ihm ab­ brechen wollen. Sie würde verzeihen und ihn wieder empfangen, und dann wollte er es ganz anders anfangen. Er hatte einen Fehler gemacht, und das war ganz natür­ lich, denn sie war mit ihren eignen Ansichten immer so zurückhaltend. Ein Fehler, dachte er, läßt sich ohne erheb­ liche Schwierigkeit wieder gutmachen. Also am nächsten Morgen erhielt Margarethe schöne Blumen und einen durchaus würdig abgesaßten Brief, der das tiefste Bedauern darüber aussprach, daß Barker etwas gesagt haben könne-------- u. s. w. — u. s. w. Und Marga­ rethe, deren kraftvolle Gemüthsart sie mitunter zur Heftig­ keit hinriß, selbst wenn sie im Grunde richtig handelte, sagte sich, daß sie das arme kleine Thier mißhandelt habe, und daß sie ihn empfangen wolle, wenn er wiederkäme. So drückte sie sich aus, und das bewies, daß es Barker gelungen war, ein Gefühl von Mitleid in ihr zu erregen — obschon von ganz anderer Art als er es gewünscht hatte.

310 Unterdessen kehrte Margarethe nach New Jork zurück, wo sie bisweilen ihren Schwager bei sich sah und ihn mit der

Versicherung tröstete, daß sie für ihn sorgen wolle, wenn seine hundert Napoleons zu Ende wären. Und Nikolai, der gleich seinem verstorbenen Bruder ein stolzer selbstbe­ wußter Edelmann war, lebte möglichst sparsam in einem kleinen Gasthofe und schrieb Aufsätze für Zeitschriften, in denen er den Zustand feines unglücklichen Landes schilderte. Dann kam Barker und wurde vorgelassen, Fräulein Skeat war dabei, und sein Gesicht drückte ganze Bände voll Entschuldigungen aus, während er ganz munter über Tages­ ereignisse sprach; so gewann er den verlorenen Boden allmälig wieder. Jedenfalls glaubte er es, denn er wußte nicht, daß Margarethe wohl vergeben, aber nie vergessen konnte, und daß sie jetzt gegen jedes Vorgehen seinerseits im voraus gewarnt und gewasfnet wäre. Eines Tages brachte die überseeische Post einen großen Brief mit englischer Postmarke, in kräftiger männlicher Handschrift, gleichmäßig uud ohne Schnörkel adressirt, und doch war ein ganz eigenthümlicher Ausdruck darin, wenn man nämlich bei einer Handschrift von Ausdruck sprechen

kann.

Cunard S. S. Servia. 15 September. Geliebte! Wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, Ihnen zu schreiben, würde diese Reise für mich eine unmögliche Aufgabe sein; und selbst so läßt die Gewißheit, daß mein Schreiben viele Tage lang sich weiter von Ihnen entfernen muß, ehe es zu Ihnen zurückwandern kann, mich beinahe argwöhnen, es sei doch nur ein Spott. Nach diesen wundervollen Monaten täglichen Verkehrs, scheint es unfaßbar, daß ich so dem Bereich Ihres

311 Hörens, der Möglichkeit, Sie zu sehen, entrückt sein sollte. Wie ich mich nach dem Anblick Ihres geliebten Antlitzes sehne, wie ich schmachte nach einer Berührung von Ihrer Hand, nach ihrer süßen Stimme, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen und zu betheuern. Ich sehe mich immer forschend unter den Passagieren um, vergeblich hoffend, daß Sie unter ihnen erscheinen könnten! Ohne Sie ist das Meer nicht das Meer, eben so wenig wie der Himmel ohne Sie ein Himmel sein würde. Ich kann es nicht beschreiben, Geliebte, wie ab­ scheulich mir das Leben an Bord vorkommt. Die Leute mit ihrem leeren Geplapper sind mir zuwider, und die albernen Kinder und der höchst korrekte feine Kapitän ebenfalls. Der philiströse Vater, die seekranke Mutter, die hochgebildete Tochter und der pfeifenrauchende Sohn sind mir gleichfalls Gegenstände des Abscheus. Wenn ich auf Deck komme, schließen die kleinen Kinder einen Kreis um mich, weil ich so groß bin, und die Matrosen wollen mich unter drei Schilling nicht aufs Vorderka­ stell gehen lassen; ich bezahle sie aber gern, denn dort kann ich allein sein und an Sie denken, ohne von etwa zweihundert Schwachköpfen wie ein Wunderthier ange­ staunt zu werden. Ich habe mir in meiner Kajüte endlich eine Art von Tisch hergerichtet, und hier sitze ich beim zweifelhaften Licht des Kajütenfensters und wünsche, es käme ein Sturm oder ein Eisblock oder sonst etwas und scheuchte die Leute in ihre Kammern und ließe mir etwas Einsamkeit oben in freier Luft. Es kommt mir so seltsam vor, Ihnen zu schreiben. In der alten Zeit in Baden schrieb ich Ihnen nur kleine Billets und nun habe ich einen Brief angefangen, der vermuthlich sehr lang werden wird, denn vor sechs

312 Tagen können wir nicht landen, und in dieser ganzen Zeit habe ich nichts anderes zu thun, — möchte ich nichts anderes thun, auch wenn ich könnte. Und doch: ists so ganz etwas Anderes? Vielleicht mache ich mich nicht verständlich, und Sie werden sagen: anders in wie fern? Es ist ganz anders, als es vor dem dreifach seligen Nachmittag im Nebel von Newport zu sein pflegte. Der graue Nebel sank herab wie ein Vorhang und schloß die Vergangenheit aus und bezeichnete den An­ fang der Gegenwart. Es ist mir so zu Muthe, als ob ich vor jenem Augenblicke gar nicht gelebt hätte, und doch waren jene vorhergegangenen Monate beglückend, so lange sie währten, und oft schien es mir, als könnte es kein größeres Glück geben. Wie ist das alles ge­ kommen, über alles Geliebte? Die ruhige, gutmüthige See, welche uns lieb hat, spielt ums Schiff und guckt durch mein Fensterchen, während ich schreibe, als wolle sie meine Frage beant­ worten. Die See weiß, wie es gekommen, denn sie sah uns und trug uns und hörte die ganze Geschichte; und selbst in Newport lauschte sie durch den Nebel und freute sich, daß die sich liebten, sich als Liebende zu­ sammengefunden. Es ist nicht schwer zu sehen, wie es kam. Alle verehren Sie, jedes Wesen das Ihnen naht, sinkt nieder und erkennt Sie als Königin an. Es ist aller Pflicht. Davor ist kein Entrinnen, und es ist recht, daß dem so ist. Und ich kam wie die andern, um der hehren Königin zu huldigen, und Sie neigten sich zu mir herab und erhoben mich und hießen mich neben Ihnen stehen. Sie sind meine erste und einzige Liebe. Ich danke

313 dem Himmel,

daß ich das wahr und aufrichtig ohne

Furcht vor Gewissensbissen sagen kann.

Sie wissen

auch, wie ich meine Kindheit und Jugend verlebt habe, denn Ihnen habe ich es erzählt, und wenn Sie irgend

etwas noch

nicht wissen,

so will ich es Ihnen später

sagen, denn ich könnte es nicht ertragen, daß es etwas

gäbe,

das Sie nicht von mir wüßten.

Aber, werden

Sie entgegnen, dann hätte er mir auch sagen sollen,

was er in Europa thun will.

Und das habe ich ge­

than, Geliebte, denn obwohl ich es Ihnen nicht alles

erklärt habe, so habe ich doch alle nöthige Auskunft in sichere Hände niedergelegt,

aus denen Sie sie haben

können, wenn Sie es verlangen,

falls je der leiseste

Schatten eines Zweifels in Ihre Seele fallen sollte. bitte ich von Ihnen

Sie nicht! —

Nur

als eine große Gnade: zweifeln

denn lieber wär es mir, Sie erführen

es jetzt noch nicht. Dieser Brief wird in Absätzen geschrieben.

Ich

konnte dies nicht alles auf einmal schreiben, denn es

wird mir eben so schwer meine Gedanken an Sie auf

dem Papier auszudrücken, als es mir leicht war, sie mündlich auszusprechen. Es scheint mir so förmlich zu schreiben, und doch sollte nichts so frei von Förmlichkeit

sein als dieser Brief. Nur habe ich so viel zu sagen, daß die Wahl mir schwer fällt, und so sage ich gar

nichts. Ich wünsche, der Himmel vergönnte mir, mit Menschen- und mit Engelzungen zu reden und in der erhabenen Sprache der Weisen und Propheten, auf daß ich Ihnen sagen könnte, wie ich Sie liebe, meines Herzens.

o Glück

Nur für eine Stunde möchte ich den

himmlischen Chören gebieten können, dann sollten diese Himmelssänger ein Jubellied singen, wie die Zeit es

314 nie geträumt und die Ewigkeit noch nie gehört hat, die Schaaren der Engel und der Heiligen sollten ein­ stimmen in den Gesang, bis das Himmelsgewölbe widerhallte und die Sterne erklängen und das zahl­ lose Heer der Engelstimmen und alle Harmoniern des Himmels sollten wie aus einer Seele das Bekenntniß meines Herzens verkünden: „Ich liebe!" Wieder ist ein Tag vergangen, und mich dünkt, in meinen Träumen habe ich die Himmelsklänge ge­ hört, die ich so gern vor Ihrem Ohr ertönen ließe! Die Juristen in New Jork behaupten mit Recht, daß ich nicht Claudius bin. Claudius war ein Buch­ wurm, mathematisch und irdisch, der wohl an überir­ dische Dinge glaubte, sie aber nie gekostet hatte. Meine Geliebte! Gott hat mir eine neue Seele gegeben, um Sie zu lieben, und sie möchte in ihrer Größe die Schranken meines Herzens durchbrechen und Ihnen zu­ jauchzen. Dieser neue Claudius hat die Macht, sich über alles Irdische zu erheben, über alles, was tiefer steht als Sie, und was auf Erden steht nicht tiefer, meine Geliebte? Wieder ist die Zeit in ihrem trägen Gange fort­ geschritten, als ob sie mich gern quäle. Sie trödelt und zögert auf ihrem Rundgang durch die Stunden, als freute es sie, recht langsam zu sein. Es hat etwas gestürmt, und die meisten Leute sind seekrank. Gott sei Dank! Das ist zwar ein sehr unmenschliches Ge­ fühl, aber die Waffen fröhlicher Menschen, welche sich aus glatter See an der Schiffskost mästeten, waren mir unausstehlich geworden. Nicht einer aus dem Schiff sieht so aus, als ob er oder sie ein Wesen verlassen, das ein Recht hätte, vermißt zu werden. Haben diese

315 Menschen je geliebt? Ich nehme es an.

Die meisten

von ihnen werden wohl ein Mal in ihrem Leben ge­

glaubt haben, Jemanden zu lieben. barmherzig

Strafe.

sein,

denn

sie

Ich will nicht un­

empfangen

ihre

gerechte

Liebende find niemals seekrank, jetzt eben aber

erhebt sich ein finsterer Chor unbeschreiblicher, greulicher Töne aus den verborgnen Tiefen des Schiffes.

die sind nicht verliebt, sie sind seekrank.

Nein,

Möge es ihnen

heilsam sein!

Endlich

sind wir angelangt.

Ich bereite mich,

diesen unzusammenhängenden Brief zu beenden, damit er mit dem heute abfahrenden Dampfschiff mitgehen Neun Tage sind wir auf See gewesen, und der

kann.

letzte Theil der Fahrt wird

als stürmisch angesehen.

Und nun werde ich einige Wochen in Europa verweilen,

wie lange, kann ich noch nicht sagen, mindestens drei Wochen, höchstens sechs.

In vierzehn Tagen werde ich

das wissen. — Meine Geliebte, es thut mir leid auf­

zuhören — ich bin ein unvernünftiges Geschöpf, denn ein Brief zur Post soll, muß er doch beendet werden. Ich bitte Sie, mein geliebtes Herz, schreiben

wenn

Sie mir ein Wort des Trostes und der Erquickung aus meiner Reise.

Durch Baring werden mich Briefe stets sicher er­ reichen.

Sie können sich nicht denken, was eine Zeile

von Ihnen für mich sein wird, wie ich sie als meinen höchsten und heiligsten Schatz aufbewahren werde, bis

wir uns Wiedersehen. Also: müssen uns nie „Lebewohl" Scherz.

auf Wiedersehen! wir sagen, selbst nicht im

Es ist mir zu Muthe, als würfe ich diesen

Brief in die Winde, wie Schiffer eine Flasche hinaus­

werfen,

wenn sie sich verloren glauben.

Ich habe die

316 Post noch nicht versucht und bin ungewiß, ob dieses Sie erreichen wird. Aber man tobt vor meiner Thür, und ich muß fort. Noch einmal, meine Königin, ich liebe Sie, Sie allein jetzt und immer und ewiglich. Friede sei mit Ihnen, und der Himmel behüte Sie vor jedem Leide!" Dieser Bries war nicht unterzeichnet, denn welcher Unterschrift hätte er bedurft? Margarethe las ihn und las ihn staunend immer wieder, denn noch nie in ihrem Leben hatte sie einen solchen Brief erhalten. Ihre bis­ herigen Anbeter hatten nie das Vorrecht gehabt, sich aus­ sprechen zu dürfen, denn sie wollte keinen von ihnen, und so hatten sie sich auf Andeutungen und klüglichen Gebrauch erlaubter Worte nebst reichlichen Citaten aus Liebesliedem beschränken müssen. Claudius war überdies erst am letzten Tage in der Lage gewesen, sich aussprechen zu können, und da hatten Worte keine große Rolle gespielt. Es war ein Liebesbrief, zum Theil wenigstens, wie ihn ein Mann vor hundert Jahren hätte schreiben können, — nicht wie Männer heutzutage schreiben, dachte Margarethe, gewiß nicht wie Barker schreiben würde — oder könnte. Aber sie freute sich, daß er ihr geschrieben und so geschrieben hatte, denn es war ganz wie er und ungleich jedem anderen. Der Brief war am Morgen ein­ getroffen, als Clementine sie ankleidete, und sie hatte ihn auf ihr Schreibepult gelegt. Als aber das Mädchen fort war, las sie ihn noch einmal, und als sie zu Ende gelesen, hielt sie ihn in der Hand und legte ihre Wange darauf. Ein Mann küßt den Bries seiner Geliebten. Eine Frau thut das selten. Wenn er fern ist, denkt sie kaum, daß sie ihn küffen könnte, wenn er da wäre, viel weniger thut sie seiner Handschrift solche Ehre an. Wenn er aber selbst

317 kommt, ändert sich die Sache. Dessenungeachtet steckte Margarethe den zusammengefalteten Brief in ihren Busen und trug ihn den Tag über bei sich; und als Herr Barker kam, um sie zum Spazierenfahren aufzufordern, lehnte sie es ab und schmähte auf das Wetter, welches schön und klar war, trotz ihrer Weigerung, sich ihm auszusetzen. Als Barker bemerkte, daß er minder willkommen wäre als sonst, empfahl er sich, denn er hatte tödtliche Angst davor, sie zu ärgern. Margarethe überlegte, ob sie antworten, und wenn, was sie sagen sollte. Es war in der That nicht leicht. Sie fühlte, daß sie nicht schreiben könnte wie er, auch wenn sie es gewollt hätte. Dabei lauerte in ihrem Herzen noch immer das weibliche Gefühl, welches ihr zuflüsterte: „Traue ihm nicht eher als bis er zurückkommt!" Es schien ihr, als müsse es ganz leicht sein, so zu schreiben — und doch hatte sie beim ersten Lesen nicht so gedacht. Aber sie liebte ihn noch nicht so wie sie ihn in Zukunft lieben würde, dennoch liebte sie ihn, nnd er war ihre erste Liebe, wie sie die seine. Sie hatte sich vorläufig im Gasthofe eingerichtet, und um es heimischer zu machen — ähnlich ihrer hübschen Häuslichkeit in Baden —, hatte sie einige Topfgewächse und blühende Pflanzen kommen lassen, nur ganz einfache, nicht kostspielige, obwohl sie noch nicht die Einschränkungen empfand, die ihre Geldverlegenheiten ihr auferlegten. Als Barker fort war, unterhielt sie sich damit, die trockenen Blätter abzulesen und die kleinen Spinnen und ihre Ge­ webe abzulösen, welche sich immer auf Pflanzen ansam­ meln. Während dieser Beschäftigung kam sie zu einem Entschluß und klingelte. „Wladimir, ich bin nicht zu Hause!" sagte sie feier-

318 lich, und der greise Diener verbeugte sich zur Bestätigung der keineswegs augenscheinlichen Thatsache. Als er fort war, setzte sie sich an ihr Pult und schrieb an Dr. Claudius. Sie schrieb rasch und in großen Zügen und hatte bald vier Seiten beschrieben. Dann las sie es durch und zer­ riß die Blätter. Das Wort „lieb" kam nach ihrer Ansicht einmal zu ost vor. Wieder flogen die zarten Finger über die Seite, bald aber hielt sie an: „Das ist viel zu frostig", sagte sie lächelnd halblaut. Dann machte sie noch einen Versuch. Lieber Doktor Claudius! Besten Dank für ihren reizenden Brief, den ich heute Vormittag erhalten habe. Bitte, erzählen Sie noch viel mehr und schreiben Sie sofort. Erzählen Sie mir alles, was Sie thun und sagen und sehen, denn ich möchte die Empfindung haben, als ob Sie hier wären und alles mit mir besprächen. Herr Barker ist in letzter Zeit sehr oft gekommen, und neulich erzählte er mir eine Geschichte, die mir mißfiel. Aber ich habe ihm verziehen, denn er schien so reumüthig. Bitte verbrennen Sie meine Briefe. Das Wetter ist kalt und unangenehm; fast wünsche ich, ich wäre in Europa. Dort ist es viel angenehmer. Seit Sie fort sind, habe ich kein Wort im Spencer ge­ lesen, aber ich habe viel über all das nachgedacht, was Sie sagten, als wir zum letzten Male zusammen lasen. Lassen Sie mich bestimmt wissen, wann Sie zu­ rückkommen, und kommen Sie bald, denn ich muß Sie sehen. Heute Abend werde ich mit Fräulein Skeat Salvini im Othello sehen. Er hat mir eine Loge ge­ schickt, im Andenken an ein kleines Diner bei uns vor Jahren, und ich erwarte, daß er zu mir kommen wird.

319 Er ist wirklich hier gewesen, aber ich konnte ihn

nicht sprechen. Ich kann nicht mehr schreiben, denn es ist Zeit, zu Tische zu gehen. Haben Sie Dank, Liebster, für Ihren liebevollen Brief. Es war einzig gut von Ihnen, daß sie ihn noch am selben Tage zur Post gaben, denn er erreichte wirklich noch zur Zeit das Dampfschiff. In rasender Eile

die Ihrige M. Nachschrift: Bitte, beantworten Sie alle meine Fragen. Das letzte Wort war etwas undeutlich, hatte sie „Ihre" oder „Ihrige" schreiben wollen? Die „rasende Eile" be­ stand darin, daß sie schellte, um zu fragen, wie viel Uhr es sei, denn Margarethe hatte die garstige Hoteluhr aus ihrem Zimmer verbannt. Als sie hörte, daß es noch früh wäre, versank sie in einen Armstuhl und wärmte sich die Fußspitzen an einem kleinen Holzfeuer, welches das Zimmer gerade gemüthlich, aber nicht zu warm machte. Es war jetzt Anfang Oktober, denn der von Claudius am fünf­ zehnten September begonnene Brief war erst am einund­ zwanzigsten aus die Post gegeben worden. Sie fragte sich, ob er wohl ihren eben geschriebenen Brief erhalten würde. Es war kein inhaltreicher Brief, aber der letzte Absatz schien ihr liebevoll genug. Als Claudius ihn erhielt, war er so entzückt, als ob der Brief sechsmal so lang und hundertmal so beredt gewesen wäre. „Haben Sie Dank, Liebster, für ihren liebevollen Bries" — der eine Satz er­ kannte alles an, gestand alles zu, und gewährte alles. Wie sie dem Doktor geschrieben, ging sie Abends mit

320 Fräulein Skeat ins Theater und saß vorn in der Loge, welche der große Künstler ihr zur Verfügung gestellt hatte. Es wurde Othello gegeben. Barker hatte in Erfahrung gebracht, daß sie hinginge, und hatte sich infolge dessen einen Orchestersperrsitz besorgt. Er versuchte während des ersten Theiles der Vorstellung einen Blick von Marga­ rethen zu erhaschen, aber sie war zu sehr in das Trauer­ spiel versunken, um ihn zu bemerken. Endlich im letzten Zwischenakt faßte sich Barker ein Herz, verließ seinen Platz und ging nach dem Eingang. Dann erschien er an der Thür von der Loge der Gräfin. „Darf ich auf ein Weilchen eintreten?" fragte er mit einer Affektation von Zweifel und Zartgefühl, das nicht in seiner Natur lag. „Gewiß", sagte Margarethe gleichgültig, aber doch dabei ein wenig lächelnd. „Ich habe mir erlaubt, Ihnen einige marrons glaces zu bringen", sagte Barker, als er sich gesetzt hatte und überreichte eine zierliche Bonbonniere in Form eines Tur­ bans. „Ich dachte, das würde Sie an Baden Baden er­ innern, damals mochten Sie sie so gern." „Danke", sagte sie; „ich mag sie auch noch gern." Und sie aß eine Kastanie. Der Vorhang ging auf und wider seine Neigung mußte Barker schweigen. Marga­ rethe war sofort von den Vorgängen auf der Bühne hin­ genommen. Sie hatte den furchtbaren letzten Akt wohl zwanzig Mal gesehen, aber sie sah ihn nie zn oft. Frei­ lich hätte sie ihn von keinem andern als dem großen italienischen Künstler sehen mögen. Was auch die Ver­ dienste des Stückes sein mögen, den Höhepunkt des Grau­ ens erreicht es nur durch Salvini's Spiel. Grauenhaft! über alle Beschreibung, aber dabei von ungeahnter Tiefe

321 des Grauenvollen. Vielleicht versteht Keiner, der nicht im Osten gelebt hat, daß ein solcher Charakter wie Salvini's Othello eine Möglichkeit, eine lebendige Wirklichkeit sein könne. Sicher ist, daß die amerikanischen Zuschauer bei all ihrer Bewunderung doch nicht daran glauben. Sie gehen in den Othello, damit sie bei dem Anblick so großen Leidens wohlig schaudern können; denn das mora­ lische Leiden des Mohren ist das, was auf den verständnißvollen Zuschauer den tiefsten Eindruck macht; es fragt sich aber, ob Amerikaner oder Engländer, die nicht in süd­ lichen Ländern gelebt haben, im Stande find, es anzuer­ kennen, daß der Charakter nach der Natur gezeichnet ist. Der Einwand, welchem das moderne Trauerspiel und zum großen Theil auch das moderne Schauspiel ausge­ setzt ist, ist die unrechtmäßige und übertriebene Anwendung des Grauenvollen. Grauen ist nicht Schrecken. Das find zwei verschiedene Regungen. Wenn ein Mensch einen furchtbaren Abgrund hinabstürzt, so ist er im Augenblick des Fallens ein Gegenstand plötzlichen, heftigen Schrecks. Wenn aber derselbe Mensch nach seinem Fall hoffnungs­ los mit zerschmetterten Gliedern und klaffenden Wunden daliegt, ist er ein Gegenstand des Grauens und würde als solcher, in alter Zeit, weder für die Bühne noch für die Plastik und Malerei als ein angemessener Gegenstand künstlerischer Darstellung angesehen worden sein. Es ist möglich, daß in früheren Zeiten, wo die Men­ schen an die Greuel eines barbarischen sittlichen Systems ge­ wöhnt waren, während sie zugleich die Bildung und Ver­ feinerung einer höheren ästhetischen Kultur besaßen, die Darstellung des Schrecklichen oder Furchtbaren in ihnen zugleich den Gedanken an das damit verbundene Grauen­ hafte erweckte, und zwar so lebhaft, daß die sichtbare DarCrawford, Doktor Claudius.

21

322 stellung des Endergebniffes — Blutvergießen, Todeskampf und letztes Röcheln — einen zu gräßlichen Eindruck ge­ macht haben würden, um für den Zuschauer mit irgend einer Empfindung des Wohlgefallens verbunden zu sein. Es war kein Verlangen nach einem Schauspiel des gewalt­ samen Todes bei einem Volke, das daran gewöhnt war, dergleichen oft genug im wirklichen Leben zu sehen, und das doch noch nicht bis zum eigentlichen Blutdurst ver­ roht sroar. Die Römer geben uns ein Beispiel des letz­ teren Zustandes; fie hatten solche Freude am Grausen, daß fie das wirklich Grauenvolle und wirkliche Opfer ver­ langten. Und das ist gegenwärtig der Zustand des Vol­ kes in England und Amerika. Wäre die Macht des Ge­ setzes in unserer Zeit nicht so groß, so litte es nicht den geringsten Zweifel, daß die Masse des Volkes in London und New Jork heutigen Tages zusammenströmen würde, um einen Gladiatorenkampf anzuschauen oder zuzusehen, wie eine Schar von Löwen ein Dutzend wehrlose Sträf­ linge in Stücke rissen. Nicht die „gebildeten" Klassen — ein Theil derselben würde sich schämen und der andere wirklich moralisch unfähig sein, so Entsetzliches anzusehen, — aber das niedere Volk würde hingehen und für das Schauspiel*) einen hohen Preis zahlen, und wenn sie erst einmal Blut gekostet hätten, würden sie stark genug sein, um für Gesetze zu stimmen, welche ihnen diesen Genuß öfter gestatteten. Es gereicht dem angelsächsischen Bolksstamm nicht zur Schande, daß er wilde Schauspiele liebt. Sein Blut ist von Natur wild und nicht durch die Tyran*) Die Auftritte in New Orleans, Louisiana, am 13. März 1891 bestätigen die Ansicht des Vers, im vollen Maße, wenigstens was die Amerikaner anbetrifft. Anmerk. d. Uebers.

323 nei gezähmt, welche die Völker in Europa erduldet haben. Unter Englands schlimmsten Tyrannen hat es mehr freie

Männer gegeben, als unter Frankreichs besten Königen. Weil nun aber Gladiatoren und wilde Bestien nicht zu haben sind, verlangt das Volk Grauenvolles auf der

Bühne, in der Literatur, der Kunst und vor allen Dingen in der

Tagespresfe.

Michelangelo,

der

Das wußte Shakespeare und auch

Shakespeare mit Pinsel und Meißel,

wie diese beiden unvergleichlichen Männer alles gewußt zu haben scheinen.

Als darum Michelangelo das jüngste Ge­

richt malte und Shakespeare den Othello schrieb, wendeten beide das Grauenvolle in einer Weise an, wie die Griechen

es nicht geduldet hätten.

Da wir nicht mehr Austritte

von Blutvergießen, Mord, Folter und öffentliche Hinrich­

tungen alltäglich vor Augen sehen, reizt uns die Neugier, solche Auftritte so naturgetreu wie möglich dargestellt zu In der griechischen Tragödie geschah Mord und Todtschlag hinter der Bühne, manchmal war das Geschrei

sehen.

der Opfer zu hören.

Aber

die Theaterbesucher unserer

Tage würden sich enttäuscht fühlen, wenn der letzte Akt des Othello ihrer Einbildungskraft überlassen bliebe. Wenn Salvini sich das krumme Messer in den Hals stößt, mit dem Todesröcheln, das man nimmer vergessen kann, würde moderne Zuschauer nicht verstehen, was das Röcheln bedeutet, wenn er nicht die dasselbe begleitende Hand­ der

lung sähe. „Es ist zu realistisch", sagte Barker mit seiner schrillen

Stimme, als es vorüber war und er Margarethe ihre sei­

denen Hüllen umhängte. „Es ist nicht realistisch, es ist wahr!" sagte sie.

„Es

mag eine ungesunde Erregung sein, aber wenn wir sie einmal haben muffen, so ist sie in ihrer Art vollkommen."

21'

324 „Es ist ganz fürchterlich!" sagte Fräulein Skeat, und damit fuhren sie fort. Margarethe wollte nicht bleiben, um den großen Künst­

ler zu sehen, nachdem der Vorhang gefallen war.

Die

Zerstörung der Illusion durch ein solches Zusammentreffen

ist zu groß, als daß es erfteulich sein könnte. Othello ist todt, und der Gedanke, zehn Minuter später Othello leben­

dig, lächelnd und siegesbewußt wiederzusehen, ist ein Todes­

stoß für eben die Naturwahrheit, an welcher Margarethe so viel Genuß fand. Überdies wollte sie mit ihren Ge­

danken allein sein, und diese bezogen sich an diesem Abend

nicht nur

auf das Trauerspiel.

Ihr Brief an Claudius

hatte chn ihr lebendig nahe gebracht, und mehr als. ein­ mal hatte sie sich während der Vorstellung bei dem Ge­ danken überrascht, wie wohl ihr schöner nordischer Lieb­

haber an Othello's Stelle gehandelt haben würde, — ob,

wenn der wüthende Feldherr den Jago bei der Gurgel

packt, des Schweden Griff einen Mann so leicht losgelaffen haben würde,

der es gewagt hätte,

Gräfin Margarethe zu flüstern.

ein Wort gegen die

Sie war einen Augen­

blick so ganz von diesem Gedanken erfüllt, daß ihr Gesicht

in dem Dunkel der Loge erglühte Augen Feuer sprühten.

kehren und Wer weiß?

und

ihre schwarzen

Ach! Margarethe, wird er zurück­

dir zur Seite stehen gegen eine ganze Welt? „Die Männer waren immer falsch", heißt es

in dem alten Liede. Nach Hause durch die langen Straßen, von dem blaffen

elektrischen Licht erhellt,

welches allem, was in sein Be­

reich kommt, eine so gespenstische Farbe giebt, nach Hause

in ihr Zimmer mit dem gemüthlichen Flackerfeuerchen im Kamin, und Blumen — Barkers Blumen — die das Ge­

mach durchduften; nach Hause, zu Clementinens sorgsamen

325 um mit halbgeschlossenen Augen zu träumen, während die geschickten Finger der Französin die kohl­ schwarzen Flechten lösen und glätten und wieder ausrollen;

Händen,

nach Hause zur Erquickung eines durch kein Unbehagen

gestörten Schlafes, der den fernen Geliebten im Traume herbeiführt, — nicht immer hoffnungsvolle, aber doch süße

Träume!

Nach

mit dem

schönen

auch

Hause ins Hotel!

Kann

Namen genannt werden?

ein Gasthof Ja, wo wir

immer in Ruhe und Frieden sind, wo auch immer

Liebesgedanken oder Träume von dem Geliebten uns heim­ suchen, wo auch

immer wir den Geliebten wiederzusehen

hoffen, — da sind wir zu Hause.

stählernen Fingerspitzen

Denn seit die kalten

der Wissenschaft den Raum in

eine Nußschale zusammengepreßt haben und seit die allesumfaffendeGegenwart dieZeit in nichts verschlungen hat, giebt

es keine Grenzen als die der Liebe, keine Stunde als die Stunde der Liebe, keine Heimat als die, wo unsre Liebe

weilt. Der kleine Gott, welcher Menschenalter von Schwert-

kämpfen und Jahrhunderte des Friedens überlebt hat, über­

die Wissenschaft, die alles ausgleichende, und den Zerstörer Tod. Und in der Nacht, wenn alles schläft und der Glockenschlag in der dichten Dunkelheit gedämpft lebt auch

erklingt und die Flügel der Traumgeister die Luft fächeln, dann schlüpft die kleine „Rothe Maus" hervor und denkt das nach

und wundert sich, wie die Menschen

wähnen können, es

sei an ihnen selbst, an ihrem Leben Der Körper

über all

und Wesen oder Handeln etwas originell.

mag sich etwas verändert haben, die Menschen mögen stärker und schöner, wie manche sagen, oder schwächer und kleiner geworden sein, wie andere behaupten,

aber

Seele des Menschen ist, was sie war von Anbeginn.

die

326

Achtzehntes Lapitet. Ein Monat war vergangen, feit Margarethe den Othello gesehen hatte, und in New Aork hatte der übliche Kreislauf der Wintervergnügungen begonnen. Herr Barker hatte nach seiner Ansicht seit dem Unglücks­ tage, da er Magarethe durch seine alberne Geschichte ge­ ärgert, Fortschritte gemacht. Eines Tages fiel ihm ein, daß Claudius seinen Einfluß zuerst durch Bücher gewonnen hatte, und nun wollte er einen ähnlichen Versuch machen. Er war nicht gelehrt wie Claudius, aber unter seinen Be­ kannten waren hochgebildete Leute. Er kultivirte die Be­ kanntschaft von Herrn Horaz Bellingham und brachte Stun­ den damit zu, fich die Titel alter und merkwürdiger Werke zu verschaffen, bei bereit Anschaffung er keine Kosten scheute. Er las Bücher, von denen er nie zuvor etwas gehört hatte, und sprach darüber mit Margarethe, und wenn er aus etwas stieß, das sie nicht kannte, brachte er ihr schnell das be­ treffende Buch, und manchmal ließ sie fich sogar einige Seiten von ihm vorlesen. Margarethe bestärkte Barker ganz unbefangen in dieser neuen Neigung, denn sie fand es vortrefflich, daß ein Mann, der ganz vom Geschäftsleben in Anspruch genommen war, Geschmack an Literatur entwickelte; und als auf diesem Ge­ biete das Eis erst gebrochen war, sprach sie mit ihm offner als je zuvor. Nicht Barker interessirte sie, sondern die Bücher, welche er ihr brachte, und die waren allerdings schön und selten. Er seinerseits verstand es, sich schnell oberflächliche Kenntnisse anzueignen, die ihm nützlich fein konnten, und vermied sorgfältig, sich Blößen zu geben; so gelang es ihm, den Eindruck zu machen, als ob er recht

327 umfassende Kenntnisse habe, und allmälig bildete er sich ein, er fülle Claudius' Platz in ihrem täglichen Geistesleben aus, wie er ihn in ihrem Herzen auszufüllen hoffte. Unterdessen hatte Niemand etwas von dem Doktor ge­ hört, denn von seinem Briefwechsel mit Margarethe wußte Barker nichts, und so fing er an zu hoffen, Claudius wäre bei dem Nachweise seines Erbschaftsrechtes wirklich auf un­ überwindliche Schwierigkeiten gestoßen. Er hatte öfter dar­ über mit Herrn Screw gesprochen und beide waren zu dem Schluffe gekommen, daß dieses Schweigen auf eine Nieder­ lage deute. Screw hielt es für wahrscheinlich, daß Clau­ dius sofort eine triumphirende Kabelbotschaft gesandt und feine baldige Rückkehr angemeldet haben würde, wenn es ihm gelungen wäre, in Heidelberg die erforderlichen Papiere zu beschaffen. Aber es dauerte lange. Die erste Woche des November war angebrochen, und fast zwei Monate waren seit seiner Abreise vergangen. Barker vermied es, mit der Gräfin von ihm zu sprechen, zuerst weil er sie nicht an ihn erinnern wollte, später weil er bemerkte, daß sie nie des Doktors Namen erwähnte. Barker hatte Herrn Bellingham gefragt, ob er nichts über die Reise seines Freun­ des wisse, worauf Onkel Horaz mit grimmem Lächeln er­ widert hatte, er habe gerade genug mit vornehmen Fremden zu thun, wenn sie in New Jork wären, und könnte sich nicht noch nach ihrer Abreise um sie bekümmern. Eines Abends kurz vor dem Essen brachte Wladimir der Gräfin ein Telegramm. Sie saß wie gewöhnlich am Feuer, und Fräulein Skeat, die ihr bis zum Einbruch der Dunkelheit vorgelesen hatte, saß neben ihr und wärmte fich ihre magern Hände, die immer kalt aussahen, und beugte fich vor, um Margarethens abgerissene Bemerkungen über das Buch zu hören. Margarethe hatte schon längst mit

328 ihr über ihre zerrütteten Vermögensverhältnifse und ihre Aussicht auf verhältnißmäßige Armuth gesprochen, und Fräulein Skat hatte in ihrer feinen altfränkischen Weise als ein Zeichen der Theilnahme ihre Hand sanft auf den Arm der Gräfin gelegt. „Liebe Gräfin," hatte sie gesagt, „bitte, glauben Sie mir, für mich wird das keinen Unterschied ausmachen, ich werde Sie nie verlaffen. Armuth ist mir nichts Neues, meine Liebe." Margarethe traten die Thränen in die Augen, als sie der alten Dame schweigend die Hand drückte. Solche kleinm Gefühlsausbrüche kamen selten bei ihnen vor; sie verstanden sich aber doch sehr gut. Und nun sprach Mar­ garethe mit Niedergeschlagenheit von der Zukunft. Vor einigen Tagen hatte sie sich endlich entschloffen, die nöthigen Briefe nach Rußland zu schreiben, und eben hatte sie sie abgeschickt. Nicht als ob sie auf Erfolg hoffte, aber ein Besuch ihres Schwagers hatte sie daran gemahnt, daß sie es ihm eben so gut wie sich selbst schuldig wäre, so viel als möglich von ihrem Wittthum zu retten. Endlich öffnete sie das Telegramm und stieß einen Ausruf der Ueberraschung aus. „Was in aller Welt soll das bedeuten?" rief sie und reichte Fräulein Skat das Telegramm, die es dicht an den Feuerschein hielt. Die Nachricht kam von Lord Fitzdoggin, Botschafter Ihrer Brittischen Majestät in Petersburg, und war eine nicht­ amtliche Mittheilung des Inhalts, daß Se. Excellenz sich freuten, die Gräfin Margarethe benachrichtigen zu können, daß durch die unermüdlichen Anstrengungen und das große Geschick eines ihrer persönlichen Freunde die Auszahlung ihrer vollen Rente ihr fortan für immer gesichert wäre. Ferner hieß es, daß sie auf dem üblichen Wege bald amt­ lich von dieser Thatsache unterrichtet werden würde.

329 Fräulein Skeat strahlte vor Freude, denn obschon sie für Margarethe zu jedem Opfer bereit war, wäre die in Aussicht stehende Armuth ihr doch nicht angenehm gewesen. „Ich kenne Lord Fitzdoggin nicht persönlich", sagte Margarethe, „und verstehe die Sache nicht im geringsten. Warum sollte gerade er es mir melden, wenn es wirklich wahr ist?" „Der Herzog muß an ihn geschrieben haben", sagte Fräulein Skeat, noch immer strahlend und das Telegramm überlesend. Margarethe schwieg einen Augenblick in Gedanken ver­ sunken, dann zündete sie selbst das Gas an und schrieb ein Briefchen und schickte Wladimir eilends fort. „Ich hab« Herrn Bellingham zu Tisch gebeten", sagte sie auf Fräulein Skeats fragenden Blick. „Er wird mich nachher in die Gesellschaft begleiten, wenn er nichts anderes vorhat." Zufällig war Herr Bellingham zu Hause, als Marga­ rethens Brief anlangte; er sagte augenblicklich eine frühere Verabredung ab und gab den Bescheid, er stünde der Grä­ fin zur Verfügung. Pünktlich auf die Minute erschien er. Margarethe zeigte ihm das Telegramm. „Was heißt das, Herr Bellingham?" fragte sie lächelnd, aber sein Gesicht scharf beobachtend. „Meine liebe Gräfin," rief der alte Herr, entzückt über den Erfolg seiner Politik, mit strahlendem Lächeln, „meine liebe Gräfin, erlauben Sie mir, Ihnen Glück zu wünschen." „Aber wer ist der persönliche Freund, von dem die Rede ist? Der Herzog? Der ist ja jetzt im fernen Westen." „Nein," antwortete Herr Bellingham, „der Herzog ist es nicht. Mich dünkt, es ist die Bethätigung einer großen

330 weltbewegenden Kraft, die zu ihren Gunsten wirkt. Ihre holden Schutzgeister", fuhr der alte Herr fort, emporschauend und die Hände bewegend, als wolle er diese geheimnißvollen Wesen heraufbeschwören," Ihre holden Schutzgeister würden es nicht dulden, daß etwas so Schönes durch die rauhe Welt litte. Glauben Sie, Gräfin, Sie werden gut be­ hütet." Margarethe lächelte darüber, wie Onkel Horaz sich aus der Verlegenheit zog, denn sie ahnte, daß er mehr wußte, als er zugeben wollte. Aber alles, was sie aus ihm herausbekommeu konnte, war, daß er Lord Fitzdoggin ober­ flächlich kenne und das Telegramm für ächt halte. Er hatte seine Rolle in der Sache gespielt und rieb sich die Hände, als wüsche er sich jede fernere Verantwortlichkeit ab. Er hätte auch nichts weiter sagen können, als daß er Claudius gerathen habe, sich eine Empfehlung vom Herzog zu besorgen. Er wußte, daß seine Briefe Claudius zum Siege verholfen hatten, da aber Margarethe ihn nur nach dem Telegramm fragte, konnte er jede Mitwissenschaft da­ von ableugnen. Nicht als ob solche Rücksicht ihn verhin­ dert haben würde, ihrer Frage mit einer kleinen Nothlüge zu begegnen, um das Geheimniß zu bewahren. „Möchten Sie nicht heute Abend mit mir auf den Ball gehen?" fragte Margarethe nach Tisch, als sie um den Kamin saßen. „Was für einen Ball meinen Sie?" fragte Herr Bellingham. „Ich weiß selbst nicht recht; es ist eine Gesellschaft bei van Sneindells, und auf der Einladung steht „Tanz". Bitte, gehen Sie mit mir hin, sonst muß ich allein gehen." „Ich kann den Pomp und die Umständlichkeit solcher Vergnügungen nicht leiden," sagte Onkel Horaz, „den

331 persischen Prunk", wie mein Lieblingsdichter sich ausdrückt; aber einer so reizenden Aufforderung kann ich nicht wider­ stehen. Es wird mir das größte Vergnügen machen. Ich werde gleich eine andre Verabredung absagen lassen." „Aber macht es Ihnen wirklich nichts aus?" „Gar nichts! Drei oder vier alte Freunde erwarten mich im Klub. „Est mihi nonum superantis annum plenum Albani cadus“, fuhr Herr Bellingham fort, der nie Horaz citirtc, ohne es gleich binnen fünf Minuten wieder zu thun. „Ich hatte ein paar Flaschen von meines Vaters altem Madeira von 1796 nach dem Klub geschickt, aber den alten Kerlen wird er auch ohne mich schmecken. Sie würden mich zu Tode schwatzen, wenn ich hinginge." „Es ist zu arg!" sagte Margarethe. „Sie müssen in den Klub gehen. Ich gebe es nicht zu, daß Sie meinet­ halben einem Versprechen untreu werden." „Nein, nein. Erlauben Sie mir, eine gute That zu thun, ohne die höllischen Folgen davon zu tragen. Das Geschwätz dieser Leute ist wie das teuflische Geschrei des Pfaus aus der Terrasse der ersten Frau des Emirs, durch Thackeray den Propheten verewigt." Er hielt einen Augen­ blick inne und streichelte sich den weißen Spitzbart. Ent­ schuldigen Sie meine Kraftausdrücke! aber „höllisch" und „teuflisch" sind prachtvolle Eigenschaftswörter, sie beschwören den ganzen Dante vor mir herauf." Margarethe lachte. „Lieben Sie Dante?" fragte sie. „Ja, sehr! Manchmal kaufe ich mir eine billige Aus­ gabe und schreibe die Namen meiner bevorzugten Feinde überall in der Hölle da ein, wo sie in den Vers paffen. Auf diese Art verschaffe ich mir dieselbe Befriedigung, welche der Verfasser empfand, als er seine Freunde in die Hölle versetzte, ohne die Mühe zu haben, das Gedicht zu

332 schreiben — oder die Fähigkeit es zu dichten."

Die Grä­

fin lachte wieder. „Thun Sie das auch mit dem Paradiese?" „Nein", entgegnete Onkel Horaz lächelnd. „Das Fege­

feuer gehört

einem Zeitalter an,

wo

die Menschen durch

Leiden gebessert werden konnten, und was das Paradies be­ trifft — in meinen Himmel hat nur das schöne Geschlecht

Zutritt.

Da find alle schön und viele jung."

„Wollen Sie mich zulassen, Herr Bellingham?"

„Die heilige Margarethe ist

mir zuvorgekommen,"

sagte er galant, „denn sie hat ihr eignes Paradies, wie es

scheint, zu dem sie mich zugelassen hat." So verging ihnen der Abend angenehm, bis es Zeit war, in das große Haus der van Sneindells zu gehen. Wie alle Privathäuser in Amerika und die meisten modernen Wohnhäuser in der übrigen Welt,

ist

auch

dieses

große

Haus in dem entarteten Styl gebaut, welcher unser Zeit­

alter in seiner Häßlichkeit von Ziegel und Stein so her­ vorragend macht.

Kritik hilft nicht bei solchen Ungeheuer­

lichkeiten, und Aussicht auf Besserung ist fürs erste auch

nicht verhanden. eisernen Faust,

Aber die wird sie

Zeit,

die Nihilistin

mit der

einst alle zerschmettern und die

Menschheit wird von vorn anfangen müssen. Unterdessen übersehen wir, was wir nicht bessern können. Die allbarm­ herzige Nacht verbirgt zeitweise diese Auswüchse vor unsern

Augen, und manchmal giebt ihnen der Mond, der beste Betrüger in der Natur, vorübergehend Harmonie in Form

und Farbe.

Aber bei hellem Tageslicht wollen wir unsre

Augen bescheiden auf das Pflaster heften oder kühn zum

Himmel erheben, denn wenn wir rechts und links schauen, sehen wir Dinge, welche unsre Augen beleidigen.

Bei gegenwärtiger Gelegenheit war übrigens nichts

333 vom Hause zu sehen; denn das lange gestreifte Zeltdach, welches von der Thür bis an die Wagen reichte, und wo unter den Blattpflanzen Bediente standen, verbarg es ganz. Es giebt viele Orte, wo es angenehmer ist, in Ge­ sellschaft zu gehen, viele, wo die Aufnahme in größerm Maßstabe stattfindet, denn in Amerika hat man nichts so Imposantes wie die großen Empfangsabende auf den Botfchaften oder in andern vornehmen Häusern in England und auf dem Festlande. Um vom geschäftlichen Standpunkt aus zu sprechen, weil es ja eine Geschäftssache ist, wollen wir sagen: nirgends kosten nach dem Quadratfuß berechnet die Gäste so viel wie in New Nork. Im Auslande sind in Folge der eigenthümlichen Verhältnisse des Hoflebens viele Leute genöthigt, zu bestimmten Zeiten ein Haus zu machen. In Amerika hat Niemand eine solche Verpflich­ tung. Wenn da die Leute Gesellschaften geben, so thun fie es, weil sie Geld haben oder weil sie etwas dadurch erreichen können, und thun es mit einer Rücksichtslosigkeit aus die Kosten, welche einen nüchternen Ausländer in Stau­ nen setzen muß. Das mag kein guter Geschmack sein, aber wenn wir heutzutage bestimmen wollen, was guter Geschmack ist und uns daran halten, so ziehen wir uns enge Grenzen. Als ein Beweis des Könnens ist diese ungeheure Ausgabe höchst imposant; obschon das Imposante, welches lediglich auf Entfaltung großen Reichthums beruht, nie den Eindruck der Dauer, Größe und der militärischen Pracht machen kann, auf welche jeder Europäer so viel Werth legt. Des­ halb rümpft der Engländer die Nase über den vergoldeten Prunk der amerikanischen Gesellschaften, und der Ameri­ kaner hohnlächelt, wenn er sieht, daß der Abkratzer in einem vornehmen Londoner Hause nur plattirt, statt wirk-

334 lich von Silber ist und daß die Teppiche mindestens zwei

Jahr alt sind. Sie sehen die Dinge von entgegengesetztem Standpunkt an und dürfen nicht erwarten, daß sie je über­ einstimmen werden. Für Margarethe, als geborene Amerikanerin, aber war

das amerikanische Leben nichts so neues, als daß sie Gedan­ ken und Blicke auf die Einrichtung des Hauses von Herrn

und Frau van Sneindell hätte verschwenden sollen; und Herr Bellingham hatte sich nie viel aus dem gemacht, was

er Prunk und Beiwerk des Vergnügens nannte, denn er­ brachte in seiner glänzenden Unterhaltung und seinem feinen

Takt selbst das Beste mit.

ziemlich gleichgültig.

Für ihn war die Umgebung

Für den Augenblick aber dachte er

besonders an seinen schönen Schützling und wann er wohl nach Hause kommen würde, denn er stand früh auf und liebte ein Schläfchen am Abend. Darum gab er Marga­

rethen

den Arm und sah sich nach einem unterhaltenden

Mann um, den er ihr vorstellen könnte. ihr und

Das Diner bei

das Geplauder danach hatten ihm wirklich Ver­

gnügen gemacht, aber die Aussicht, diese glänzende Schön­ heit bis zum Morgen herumzulootsen oder bis es ihr ein­

fiele, nach Hause zu gehen, war angreifend.

Ueberdies

besuchte er diese Art von Gesellschaften selten und war mit den Gesichtern um ihn her nicht besonders vertraut. Jndeffen hätte er sich nicht zu beunruhigen brauchen, denn kaum waren sie einige Minuten im Zimmer, so hatten schon etwa zwanzig Herren um das „Vergnügen eines Tanzes" gebeten. Sie aber hielt Herrn Bellinghams Arm fest und lehnte hartnäckig ab zu tanzen. Als gleich da­ rauf Barker erschien, vielleicht in der Absicht, den Abge­

wiesenen seinen Triumph zu zeigen,

dankte Margarethe

Herrn Bellingham und bot ihm an,

ihn nach Hause zu

335 fahren, wenn er bis ein Uhr bleiben wollte; dann schlüpfte sie fort, nicht um zu tanzen, sondern um in einem ruhi­ geren Zimmer zu sitzen, an dessen Thür manche Paare eine Viertelstunde lang standen, um sich der beiden näch­ sten frei werdenden Plätze zu bemächtigen. Herr Belling­ ham ging weiter, erfreute sich an der Musik, dem Gewühl und den schönen jungen Gesichtern, bis er in einer Ecke einen Platz fand, der durch eine offene Thür vor dem grellen Licht geschützt war, da ließ er sich nieder und war in fünf Minuten inmitten von Lustbarkeit, Lärm und Hitze fest eingeschlafen — ein alter Mann, unbemerkt in­ mitten all der Jugend! Aber Barker kannte das Haus besser als die meisten Gäste, und nachdem er durch das kleine Zimmer, wohin alles zu drängen schien, gegangen war, zog er einen schwe­ ren Vorhang zur Seite und öffnete so ein kleines Bou­ doir dahinter, wo nur ein einsamer Armleuchter brannte und ein einsames Pärchen saß. Barker hatte gehofft, dieses Zimmer leer zu finden, und während er zwei Stühle zu­ sammenrückte, sah er das andere Paar wüthend an. „Was für ein reizendes kleines Gemach!" tagte Mar­ garethe auf den weichen Sessel finkend und die Wände und Decke betrachtend, welche in japanesischem Styl reich geschmückt waren. Die Stühle waren von Bambus und die Tische von seltsamer Form. Es war das japanesische Zimmer; in Amerika hat jedes große Haus sein japanefisches oder chinefisches Zimmer. Die ganze Einrichtung war direkt aus Nokohama bezogen, der Eindruck harmo­ nisch und für Margarethens Kunstsinn befriedigend. „Nicht wahr?" sagte Barker, erfreut, sie in ein Zimmer gebracht zu haben, das ihr gefiel. „Ich dachte mir, es würde Ihnen gefallen, und ich hoffte" — in leisem Ton

336 „wir würden es leer finden. Nur Leute, die hier viel ein und ausgehen, kennen es." „Also sind Sie hier im Hause sehr bekannt?" fragte Margarethe, um doch etwas zu sagen. Sie freute sich, dem Geräusch und Gewühl entrückt zu sein, denn obwohl sie sich von der Gesellschaft Vergnügen versprochen hatte, entdeckte sie zu spät, daß sie sich geirrt und daß sie lieber zu Hause geblieben wäre. Seit Empfang des Telegramms gingen ihr so viele Gedanken durch den Kopf, so vergaß sie Barker und Alles um sich her und hing ihren Gedan­ ken nach. Barker sprach weiter, Margarethe schien zuzuhören, — aber sie hörte weder die Musik, welche die schweren Vor­ hänge dämpften, noch Barkers dünne Stimme. In ihren Ohren klang das Rauschen des Meeres, das Knarren des Tauwerks, — das Streichen des Schiffes, welches ihn zu­ rückbringen sollte — das vielleicht schon unterwegs war. Wann würde er kommen? Wie bald? Wenn es doch morgen wäre, sie möchte so gern — was in aller Welt redet Herr Barker so eindringlich? Sie muß wirklich zu­ hören; sie ist unhöflich gewesen. „Meiner vielen Charakter­ fehler mir wohl bewußt" — — ach so, er redet ja immer von seinen Fehlern; was weiter? — „meiner vielen Cha­ rakterfehler mir wohl bewußt", sagte Herr Barker in gleich­ mäßigem entschlossenem Tone, „und tief empfindend, wie weit ich Ihnen in den hohen Bestrebungen nachstehe, an welchen Sie vorzüglich Genuß finden, will ich es demnach unterlassen darzulegen, was für mich spricht, um so mehr, als ich annehme, daß Ihnen meine Verhältnisse bekannt sind". „O du meine Güte!" dachte Margarethe, welche plötzlich ihr scharfes Gehör wiederbekam, „was will derMensch sagen?" Dabei sah sie ihn erstaunt an.

337 „Wie gesagt", fuhr er fort, „in Rücksicht auf meine günstigen Verhältnisse, auf welche ich nicht näher ein­ gehen will, darf ich Sie bitten, meinen Worten Gehör zu schenken." Da Margarethe den ersten Theil von Barkers Rede in ihrem Anfall von Zerstreutheit völlig überhört hatte, so schwebte ihr der Gedanke vor, er frage sie um Rath wegen seiner Verheirathung mit irgend einer andern Dame. „Gewiß," sagte sie gleichgültig, „bitte, fahren Sie fort." Aber im entscheidenden Augenblicke sank Barker plötz­ lich der Muth. Er dachte, er wolle doch noch erst heraus­ bringen, wie Claudius zu Margarethen stand. „Natürlich," sagte er lächelnd zu Boden blickend, „wir alle wußten es von Claudius an Bord des „Streif"." „Was wußten Sie von ihm?" fragte Margarethe ruhig, aber ihr Gesicht erglühte plötzlich. Das hätte aber auch geschehen können, wenn sie sich nichts aus Claudius gemacht hätte, sie war so stolz, daß der bloße Gedanke daran schon ihre Wangen färben konnte. Barker bemerkte ihr Erröthen kaum, beim er gerieth in tiefes Wasser und verlor beinahe den Kopf. „Daß er um Sie anhielt und daß Sie ihn abwiesen", sagte er noch immer lächelnd. „Hüten Sie sich, mein Herr," sagte sie schnell, „wenn Doktor Claudius zurückkommt" — Barker unterbrach sie

durch sein Lachen. „Claudius zurückkommen?" versetzte er, „ha, ha, eine schöne Idee!" Er sah Margarethe an. Sie war sehr ruhig und unter dem Schatten des Fächers, den sie gegen das Licht hielt, konnte er nicht sehen, wie sie erbleichte. Sie war Crawford, Doktor Claudius. 22

338 sehr erzürnt, und ihr Zorn nahm die Form unnatürlicher Ruhe an, welche durchaus nicht Gleichgültigkeit bedeutet. Für den Augenblick war sie einfach unfähig, zu sprechen. Barker aber, der zeitweilig von aller Vernunft verlaffen war, bemerkte nur, daß sie keine Antwort gab, und da er ihr Schweigen als eine Zustimmung auf seine spöttische Be­ merkung über Claudius auslegte, ging er sofort zu seinem Hauptzweck über. Gerade da verließ das andere Paar, welches seine Sache ins Reine gebracht hatte, langsam das Zimmer. „Weil dies der Fall ist", sagte er, „und ich jetzt sicher bin, daß ich keinen Nebenbuhler zu fürchten habe, wollen Sie mir erlauben, Ihnen Herz und Hand zu bieten? Gräfin Margarethe, wollen Sie mich heirathen und mich zum Glücklichsten der Sterblichen machen? O, schweigen Sie nicht! thun Sie nicht, als ob Sie mich nicht hörten! Ich habe Sie geliebt, seit dem Tage, da ich Sie zuerst er­ blickte — wollen Sie, wollen Sie mein werden?" Hier rückte Herr Barker, der wirklich so verliebt war, als es bei seiner Natur sein konnte, an den Rand seines Stuhles und versuchte, ihre Hand zu ergreifen. „Margarethe!" sagte er, als er ihre Fingerspitzen berührte. Bei dieser Berührung gewann sie ihre Fassung wieder, welche sie in diesem Falle zu lange verloren hatte. Sie hatte sich bemüht, ihren Zorn zu bekämpfen, hatte versucht sich zu besinnen, ob sie ihn je durch ein Wort zu solcher Verwegenheit ermuthigt hatte. Nun erhob sie sich zu ihrer ganzen stolzen Höhe, und obwohl bestrebt, sich zu beherr­ schen, sprach sie mit vor Zorn bebender Stimme. „Herr Barker," sagte sie, indem sie die Hände herab­ sinken ließ und gerade dastand wie eine Statue, „Sie haben sich geirrt, und wenn ich Sie durch irgend eine Un-

339 Vorsichtigkeit zu diesem Irrthum veranlaßt habe, so thut mir das leid. Ich kann Sie nicht anhören, ich kann Sie uicht heirathen. Ueber Doktor Claudius erlaube ich Ihnen kein geringschätziges Wort zu sagen. Ich habe Dokumente in meinem Besitz, welche seine Identität eben so gut be­ weisen würden, als irgend welche, die er in Deutschland erhalten kann. Aber ich brauche sie nicht erst vorzulegen, denn ich bin gewiß, es wird Ihnen genügen, zu wiffen, daß ich mit ihm verlobt bin — ich bin mit Dr. Claudius verlobt", wiederholte sie sehr deutlich mit ihrer tiefen me­ lodischen Stimme, und ehe Barker sich erholen konnte, war sie aus dem Zimmer hinaus und ins Bereich des Lichtes und der Musik zurückgekehrt. War das nicht brav und edel von ihr, für Claudius einzustehen, indem sie lieber die ganze Verantwortlichkeit für seine Liebe auf sich nahm, statt nach Hause zu fahren und Herrn Barker schriftliche Beweise seiner Identität zu senden? Claudius hatte sie nie gebeten, ihn zu heirathen, das Wort selbst war nie zwischen ihnen erwähnt worden, aber er hatte ihr gesagt, daß er sie liebte, und sie hatte ihm vertraut. Es ist etwas anderes für eine Frau, einen Mann in einiger Entfernung, unter gewissen Bedingungen zu lieben, oder ihn an ihr Herz zu schließen und ihm zu vertrauen. Denkt jeder Millionär, der einer vermögenslosen Wittwe den Hof macht, daran, sie zu heirathen? Denn Marga­ rethe war arm an jenem Dienstag Abend in Newport. Oder kehren wir den Fall um; wenn Claudius ein Abenteurer gewesen wäre, wie Barker andeutete, was für Folgen nahm sie aus sich, indem sie erklärte, daß sie mit ihm verlobt sei? Trotz ihrer Aufregung war Margarethe viel zu sehr

22*

340 Weltdame, um Aufsehen zu erregen, indem sie allein durch die Säle ging. Sie sah bald einen Bekannten, beschied ihn durch einen Blick zu sich und nahm seinen Arm. Sie plauderte munter mit diesem jungen Mann, der nicht wenig stolz war, von dieser Schönheit als Begleiter erkoren zu sein, und nach einigem Suchen entdeckte sie Herrn Belling­ ham noch immer schlafend hinter der Thür. „Danke", sagte sie zu ihrem Begleiter. „Ich habe versprochen, Herrn Bellingham nach Hause zu fahren." Und so ließ sie den Arm des jungen Mannes mit Lächeln und einem Kopfnicken los. „Aber er schläft!" wendete ihr Ritter ein. „Ich werde ihn wecken", antwortete sie. Damit legte sie ihre Hand auf die seine, neigte sich zu ihm und nannte seinen Namen. Sofort erwachte er, erfrischt wie nach nächtlicher Ruhe, denn er hatte Napoleons Fähigkeit, ein Schläfchen zu halten, wann er es eben konnte. „Der Winter erwacht und begrüßt den Frühling", sagte er ohne sich einen Augenblick zu besinnen, als hätte er sich diese Anrede im Schlaf ausgedacht. „Verzeihen Sie mir," sagte er, „es ist das seit Jahren meine Ange­ wohnheit." Er bot ihr den Arm und fragte, was sie wünschte. „Ich will nach Hause fahren," sagte sie, „und wenn es Ihnen recht ist, könnte ich Sie an ihrer Thür absetzen." Herr Bellingham blickte auf eine halb unter Fächern und Blumen verborgene große Emailuhr und bemerkte, daß sie nicht viel über dreiviertel Stunden in der Gesell­ schaft gewesen waren; aber wohlbedacht sagte er nichts und wartete geduldig, während Margarethe in ihre Mäntel gehüllt wurde, bis der Butler den Lakaien gerufen und der Lakai es einem andern Diener gesagt und dieser an-

341 bete dem Pagen und der Page dem Polizisten, daß der Wagen der Gräfin vorfahren sollte. Darauf kam der Wagen, und fie fuhren fort. Onkel Horaz plauderte munter über die Gesellschaft und gab zu, daß er mehr davon geträumt als gesehen hatte; aber Margarethe sprach wenig, denn der Rückschlag nach der durchgemachten Aufregung kam über sie. Erst als sie Herrn Bellinghams Wohnung erreicht hatten und er sich von ihr verabschieden wollte, hielt sie einen Augen­ blick seine Hand fest und sah ihn bittend an. „Herr Bellingham," sagte sie plötzlich, „ich hoffe, Sie werden mir immer ein Freund sein; wollen Sie das?" Der alte Herr stand still und ergriff ihre Hand. „Das will ich, mein liebes Kind!" sagte er sehr ernst. Dann beugte er ein Knie, küßte ihr die Hand und war fort. Herrn Bellinghams Vertraulichkeit nahm Niemand übel, denn sie war ächt und wahr. Ueberdies war er alt genug, um ihr Großvater sein zu können, trotz seiner hübschen Reden und seines galanten Benehmens. Margarethe hatte eine schlaflose Nacht. Ihr Aerger über Barker war nicht lediglich die Folge seiner Worte, obschon fie in jedem Falle den Spott über Claudius sehr übel genommen hatte; aber für ihren scharfen Verstand, der durch ihre Liebe zu Claudius noch geschärft wurde, war der ganze Auftritt so zu sagen eine Offenbarung. Mittelst des wunderbaren Instinktes, welcher die Frauen in den verhängnißvollsten Augenblicken ihres Lebens leitet, erkannte sie endlich die Bedeutung von Barkers Hand­ lungsweise, seines Schweigens über Claudius und seines kühlen Benehmens gegen diesen, ehe er ihn losgeworden. Sie sah Barker als den Anstifter der Verschwörung, den Doktor nach Europa zu schicken; fie sah ihn in all den

342 Anstrengungen, welche der Herzog und Barker auf der Nacht gemacht hatten, um sie und Claudius von einander fern zu halten, in allem sah sie seine Hand, und jetzt erst begriff sie, daß dieser Mann, dem sie in letzter Zeit so viel Zutritt gestattet hatte, ihr schlimmster Feind gewesen, während er danach strebte, ihr Liebhaber zu sein. Seine ganze Treulosigkeit gegen Claudius wurde ihr klar, als sie sich erinnerte, daß ohne Zweifel, um dem Doktor einen Gefallen zu thun, Barker sich in Baden bei ihr hatte einsühren lassen; daß er alles aufgeboten, um sie zusammeuzubringen, indem er sich Fräulein Skeat in einer Weise widmete, welche die alte Jungfrau auf den Gipfel der Seligkeit und der Verzweiflung trieb, um für Claudius' Bewerbungen bei ihr freies Feld zu lassen. Und dann war er plötzlich umgeschlagen und hatte beschlossen, sie selbst zu heirathen. Ihr Zorn wurde immer heißer und heftiger, als sie daran dachte. Dann ging sie den Auftritt bei van Sneindells noch einmal durch, — wie sie nicht hingehört und nichts ver­ standen hatte, bis ihr so plötzlich bewußt ward, was er sagte, — wie sie ihm entgegengetreten war und in der Eingebung des Angenblicks kühn gesagt, daß sie seinen Nebenbuhler liebte. In dem Gedanken sand sie Befriedigung, wie sie es wohl konnte; denn ihre Liebe war auf die Probe gestellt worden und hatte sich bewährt. „Ich bin froh, daß ich's sagte!" murmelte sie und schlief ein. Der arme Claudius, fern auf weiter See, wie würde nicht fein Herz geklopft haben, hätte er gewußt, was sie gethan und wie sie sich dessen freute! Und Herr Barker? Er hatte sich etwas niederge­ schmettert gefühlt, als sie ihn im japanesischen Zimmer allein gelassen, denn er sah ein, daß er sein Spiel aus-

343 geben müsse. Es war für ihn gar keine Aussicht mehr vorhanden. Er konnte zwar argwöhnen, daß die Doku­ mente, von denen Margarethe gesprochen, eine Fabel wären, und daß die Erklärung ihrer Verlobung in der That ihre einzige Waffe zur Vertheidung von Claudius wäre; aber das änderte nichts an der Sache. Keine Frau würde sich so unbesorgt „bloßstellen", wie er es nannte, wenn sie sich nicht ganz sicher fühlte. Deshalb ging Herr Barker ins Speisezimmer und trank etwas Champagner, um seine Nerven zu stärken; dann that er sein Bestes, um recht vergnügt zu sein und unterhielt sich ungewöhnlich lebhaft mit den jungen Danien seiner Bekanntschaft, die er auf einige Minuten ihrem Tänzer abwendig machen konnte; denn um Margarethens willen hatte er sich nicht engagirt, und nun bereute er das bitter. Aber Herr Barker war, wie gesagt, eine glänzende Partie, und so sand er immer Unterhaltung, wenn er es wünschte. Er hatte Margarethe nicht sortgehen sehen, denn da er nicht wünschte, daß man ihn allein aus dem Boudoir kommen sähe — ein sicheres Zeichen seiner Niederlage — hatte er in dem ihm wohlbekannten Hause durch eine andre Thür und allerlei Gänge den Weg zum Speisesal gefunden, und als er sich dort gestärkt hatte, waren Margarethe und Herr Belling­ ham bereits fort. Fühlen Leute von Barkers Art? Wahrscheinlich nicht. Es bedarf einer starken körperlichen oder geistigen Organi­ sation, um unter einem Schlage aus das Gemüth nicht schwer zu leiden. Wenn bei Engländern einmal die Leidenschaft den Sieg über ihre Vorsicht davonträgt — was aber heut­ zutage sehr selten vorkommt —, so können sie sehr innig lieben und heftig leiden, wenn sie zurückgewiesen werden, denn sie gehören zu den stärksten Rassen im Thierreich.

344 Das beweist ihre ganze -Geschichte, welche größtentheils durch Ausnahmemenschen, meistens Schotten oder Irländer, gemacht worden, in denen die höchsten körperlichen und geistigen Eigenschaften vereinigt waren. Die Deutschen, bei denen die geistigen Fähigkeiten, besonders die Einbil­ dungskraft, vorherrschen, sind meistens ihr halbes Leben lang liebeskrank. Aber Amerikaner scheinen anders organisirt zu sein; natürlich ist hier die kleine Klasse gemeint, welche gern als die „Aristokratie" des Landes bezeichnet sein möchte. Ihre Fähigkeiten sind alle lebendig, scharf, zum Gebrauch bereit; aber dabei haben sie einen Mangel an Tiefe, der noch künftige Geschlechter in Staunen setzen wird. Die Masse des Volkes zeigt die ausgeprägten Cha­ raktereigenschaften der Sachfen, der Kelten und der süd­ deutschen Rassen, körperliche Ausdauer und bisweilen gei­ stige Ueberlegenheit — denn bis auf einige Eigenthümlich­ keiten in der Sprache, die nur durch Vergleiche zu Fehlern werden, giebt es keine solchen gebornen Redner und Staats­ männer auf der Welt, wie man sie im Kongreß findet; die sogenannte Aristokratie des Landes dagegen zeichnet sich durch nichts so sehr aus, als durch die unaristokratische Geschicklichkeit Geld zu erwerben; an öffentlichen Ange­ legenheiten betheiligt sie sich selten, noch seltener bringt sie eine gediegene Leistung in der Literatur oder Kunst zu Wege. Weil also diese „Aristokraten" so beanlagt sind, daß der allmächtige Dollar das Gebäude ihres Ehrgeizes krönt, wie eine Krone geprägten Silbers, sind sie nicht im Stande, unter solchen Schlägen zu leiden, welche die Seelen derer ver­ wunden, die nicht an den folgenden Morgen denken, noch sich fragen: „Was werden wir esfen? was werden wir trinken?" Wahrlich, diese amerikanischen Aristokraten sind glück­ liche Leute!

345

Neunzehntes Lapitet. Als Margarethe am nächsten Morgen erwachte, war ihr erster Wunsch, auf einige Zeit fortzugehen. New Nork war ihr zuwider, und sie sehnte sich danach, Barker ganz los zu sein. Allein ein Augenblick genügte, um den Ge­ danken aufzugeben. Erstens würden sie des Doktors Briefe um so viel später erreichen, wenn sie sich von der Haupt­ stadt entfernte. In letzter Zeit war eine Lücke im Brief­ wechsel entstanden, und es schien ihr, als ob die von ihr erhaltenen Briefe immer einige Tage früher datirt, als in Heidelberg abgestempelt wären. Er sprach stets von seiner baldigen Abreise und sagte ihr viel Liebes und Zärt­ liches, aber nichts über sein Thun und Treiben. Sie ver­ muthete, er hätte mit der wichtigen Angelegenheit zu thun, welche er als „den andern Grund" bezeichnet hatte, und darum fragte sie in ihren kurzetl Briefchen nicht weiter danach. Ueberdies sagte sie sich, wie sehr sie auch wünschte, fort zu sein, so ginge es doch durchaus nicht an. Sie wolle ruhig dableiben. Aus solcher Träumerei erweckte sie Clementine, die mit strahlendem Lächeln hereintrat, als brächte sie frohe Kunde. Erstens brachte sie ein Telegramm von Claudius aus Berlin, welches seine sofortige Abreise ankündigte. Margarethe konnte kaum ihre Freude verbergen und wech­ selte beim Lesen des Streifchen Papiers aus dem Telegra­ phenamt so sehr die Farbe, daß Clementine verzweifelte Anstrengungen machte, sich desselben zu bemächtigen oder wenigstens die Unterschrift zu sehen. Margarethe ließ es eine halbe Stunde unter ihrem Kopfkissen liegen, dann ver-

346 brannte sie es sorgfältig, zu Clementinens unaussprechlichem Kummer. Aber es gab noch andre Neuigkeiten, und als die schlaue Französin das Fenster so weit geöffnet hatte, daß ein Licht­ streifen Madame gerade ins Gesicht fiel, feuerte fie ihren zweiten Schuß ab. „Monsieur le duc est de retour, Madame,“ sagte sie sich plötzlich zur Gräfin wendend. „Der Herzog?" wiederholte Margarethe unbefangen. „Wann ist er angekommen?" „Ach, Madame," sagte die Zofe enttäuscht über den geringen Eindruck, welchen sie gemacht hatte. „Das weiß ich gerade nicht. Ich bin eben Monsieur Wielies begegnet. Er bat mich, eine Empfehlung von Monsieur le duc zn bestellen und zu fragen, wann er seine Aufwartung machen dürfe." „Ach, sehr gut", sagte die Gräfin. „Ich will auf­ stehen!" „So früh, Madame? Es ist noch ganz früh am Mor­ gen," wandte die Zofe erstaunt ein. „Das ist ganz gleich. Gehen Sie, Clementine, und sagen Sw dem Herzog, ich würde ihn gleich empfangen." „Gleich, Madame? Ich eile" — sagte Clementine langsam nach der Thür gehend. „Enfin, — sobald ich angezogen bin. Verstehen Sie denn nicht?" sagte Margarethe ungeduldig. „Parfaitement, Madame. Ich werde es Mr. Wielies sagen." Damit verschwand sie. Es war ein heller Novembermorgen, und obschon es in der Nacht etwas gefroren hatte, so schwand der Frost schnell vor der Sonne. Margarethe trat ans Fenster und athmete die kühle Luft ein. Eine unbeschreibliche Sehnsucht

347 ergriff sie, draußen unter Bäumen, im Grünen zu sein, die dunkeln Träume der Nacht, die Visionen von Screw und Barker und dem Ballsal und dem abscheulichen japanesischen Boudoir zu verscheuchen. Sie beschleunigte ihr Ankleiden dermaßen, daß sie Clementinens immer wachsa­ men Argwohn erregte. „Helas,“ pflegte Clementine zu Willis, des Herzogs Diener, zu sagen, „je ne lui ai jamais connu d’amant! Ich hatte indessen viel von Mon­ sieur Clodiuse gehofft!" Solche Bemerkungen wagte sie aber nie in Gegenwart des alten Wladimir. Als die Gräfin angekleidet war, ging sie in ihr kleines Wohnzimmer und fand den Herzog sonngebräunter und gesünder als je aussehend, obschon er ein wenig magerer geworden war. Das rauhe, thätige Leben im Westen be­ kam ihm immer gut. Er kam ihr mit heiterm Lächeln entgegen. „Ans mein Wort, Sie sehen vortrefflich aus!" rief er, als er ihr die Hand schüttelte, und freilich sah sie schön aus, denn wenn auch die schlaflose Nacht sie blaß gemacht hatte, so hatte die gute Nachricht von Claudius ihren Au­ gen den Glanz wiedergegeben. „So?" sagte sie. „Das freut mich, und Sie sehen auch wohl aus. Ihr Ausflug in die Präirien ist ihnen gut bekommen. Kommen Sie," sagte sie und führte ihn ans Fenster, „es ist ein schöner Tag. Wir wollen hin­ aus!" „Feilich! aber zuerst muß ich Ihnen eine gute Nach­ richt mittheilen. Fitzdoggin hat mir telegraphirt, daß Claudius — ach so", sagte er sich unterbrechend und ver­ legen roth werdend, „ich meine, daß alles in Ordnung ist. Ihre Angelegenheiten sind aufs beste geordnet." Marga­ rethe sah ihn forschend an. Sie merkte, daß der Herzog

348 eine Hand im Spiel gehabt haben muffe, und dankte ihm herzlich, ohne ihm zu sagen, daß sie direkte Nachricht er­ halten hätte, denn sie wollte ihm nicht die Freude verderben, daß er der erste wäre es ihr zu sagen. In der That war der impulsive Engländer etwas im Zweifel, ob er nicht des Doktors Geheimniß verrathen hätte, und schien nicht geneigt, noch weiter über die Sache zu sprechen. „Ich wünsche," sagte sie endlich, „wir könnten heute ausreiten. Ich bin schon lange nicht geritten und sehne mich nach frischer Lust." „Prächtig!" ries der Herzog, entzückt eine Unterredung abzubrechen, bei der er leicht zu weit gegangen wäre. „Natürlich! Ich will sogleich die Pferde bestellen lassen. Ein herrlicher Einfall!" Damit ging er zur Thür. „Wie werden Sie aber so auf dem Fleck in New Jork ordentliche Pferde auftreiben?" fragte Margarethe über seinen Eiser lachend. „Ich kenne einen guten Kerl, der mir alles aus seinem Stall leiht, wenn ich in New Aork bin," antwortete er unter der Thür, „ich will selbst hingehen", rief er zurück, ehe er die Thür zumachte. „Auf mein Wort!" sagte er, als er sich in der Droschke eine Cigarre anzündete und nach dem Stalle seines Freundes fuhr; „sie ist das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Ich platzte bei­ nahe mit meinem Geheimniß heraus, nur ihr zu Gefallen! Es wundert mich nicht, daß Claudius um sie den Verstand verloren hat! Beim Reiten will ich ihr vom Westen er­ zählen und das gefährliche Thema vermeiden." Mit diesem weisen Entschluß schien der Herzog sehr zufrieden. Bei seiner Rückkehr sand er Margarethe in einem wunderschönen Reitkleide, das ihn an seine Heimath erinnerte. „Die Pferde werden im Park sein, bis wir hinkommen,"

349 sagte er.

„Wir wollen gleich

hinfahren."

Er hatte sich

nicht anders angezogen, denn da er als Engländer ein ge-

borner Reiter war, kam es ihm nicht im mindesten darauf an, wie er zu Pferde aussah. waren sie aufgestiegen und

In einer halben Stunde

ritten im Schritt die breite

Biegung des Weges hinunter, welcher in den Centralpark führt.

Margarethe fragte nach Lady Victoria,

und um

nur ja nicht aus dem rechten Fahrwasser zu kommen, fing

der Herzog sogleich an von seiner letzten Reise zu sprechen.

Aber Margarethe hörte nicht zu. „Wissen Sie," sagte sie, „es ist ein sehr angenehmes Gefühl, nicht länger arm zu sein.

Wahrscheinlich ist das

niedrig gedacht." „Freilich", sagte der Herzog.

„Scheußlich, wenn man

kein Geld hat."

„Wissen Sie" — fing sie wieder an, hielt aber inne.

„3a," sagte der Herzog, ihrem ersten Gedankengange folgend „mir kommt es immer so vor, als ob ich selbst kein Geld hätte, und doch glaub' ich, bin ich eigentlich

nicht arm." „Ach nein!" lachte Margarethe, „daran dachte ich nicht!"

„Was denn?" „Zch denke, ich will Ihnen etwas anvertrauen, denn Sie sind mir immer ein so guter Freund gewesen.

Was

wissen Sie über Herrn Barker?"

„Ich weiß es selbst nicht recht", sagte der Engländer, durch diese Frage etwas in Verlegenheit gesetzt. „Ich kenne ihn seit längerer Zeit — so auf die Art!" setzte er

unbestimmt hinzu. „Ich glaube," sagte die Gräfin geradezu, „daß Barker Claudius all diese Unannehmlichkeiten bereitet hat."

„Ich glaube, Sie haben recht", antwortete der Herzog,

350 sich plötzlich im Sattel umdrehend und sie anschauend. „Ich begreife nicht, wie er so schändlich sein konnte." Margarethe schwieg. Sie staunte über die Bereit­ willigkeit, mit welcher der Herzog ihr beistimmte. Er mußte also längst etwas davon gewußt haben. „Was hat Sie auf den Gedanken gebracht?" fragte er dann. „Aus welchen Gründen glauben Sie es?" gab sie lächelnd zurück. „Na wirklich-" fing er an, dann sagte er kurz­ weg: „Ich denke, seine Augen gefallen mir nicht." „Gestern Abend", fuhr Margarethe fort, „sprach ich mit ihm in einer Gesellschaft. Zufällig erwähnte ich des Doktors Rückkehr, darüber lachte Herr Barker und spottete und sagte, es wäre rein lächerlich." Der Herzog bewegte sich ärgerlich auf seinem Sattel hin und her und machte das Pferd dadurch unruhig. „Es ist eine Bestie!" sagte er endlich. „Ihr Pferd?" fragte Margarethe freundlich. „Nein, — Barker! Und bitte, was sagten Sie dar­ auf? Ich hoste, Sie gaben ihm eine tüchtige Lehre für seine Frechheit." „Ich sagte ihm," versetzte sie, „daß ich Dokumente be­ säße, welche seine Rechte eben so zweifellos bestätigten, wie irgend welche, die er sich in Deutschland verschaffen könnte." „Barker muß etwas bestürzt gewesen sein", sagte der Herzog seelenvergnügt; „es freut mich, daß Sie ihm das sagten." „Mich auch. Ich glaube nicht, daß ich Herrn Barker in Zukunft viel sehen werde", setzte sie sanft hinzu. „Oho! stehen die Sachen so?" Der Herzog fing an zu verstehen, worauf Margarethe hinaus wollte. Mehr zu

351 sagen lag aber nicht in ihrer Absicht. Trotz aller Bitter­ keit gegen Barker gönnte sie sich nicht den Triumph, ihrem Freunde zu sagen, daß sie Barker einen Korb ge­ geben hatte. „Es ist vielleicht eine ächt weibliche Laune," sagte sie, „aber ich möchte gern schnell reiten, bitte, ich sehne mich nach Bewegung." „Gern!" sagte der Herzog und sie setzten ihre Pferde in Galopp. Die Gräfin fühlte sich geborgen, weil ihre Freunde wiedergekommen waren und Claudius ihr telegraphiri hatte, er ginge zu Schiff. Ihr war zu Muthe, als wären alle ihre Sorgen vorüber und als ob die Welt ihr wieder zu Füßen läge. Und während sie so die wei­ chen Wege entlang galoppirten und die reine frische Luft in vollen Zügen einathmeten, schienen ihr die letzten zwei Monate zu einem kleinen dunklen Fleck am Horizonte ihres Lebens zusammenzuschrumpfen. Und Claudius — der Mann, welcher diese Verände­ rung in ihrem Leben hervorgerufen und ihr eine neue Zu­ kunft eröffnet hatte — wie mochte er wohl diese Monate verlebt haben? In Wahrheit hatte Claudius so furchtbar viel zu thun gehabt, daß ihm die Zeit nicht so lang vor­ gekommen war. Hätte er für eine andere Sache als die ihre gearbeitet, es wäre ihm unerträglich gewesen. Aber das beständige Bewußtsein, daß alles für sie, zu ihrem Besten geschähe, gab ihm Kraft und Mut. Er hatte viel reisen, viel bedenken und rasch handeln muffen, und zu seiner eigenen Befriedigung hatte er die Vorstellung, daß er in Heidelberg wäre, durch eine kleine List aufrecht er­ halten. Er schrieb beständig und legte seine Briefe an den alten Universitätsnotar ein, der sie mit deutscher Pünkt­ lichkeit zur Post gab. Daher war das Datum der in

352 Petersburg geschriebenen Briefe immer zwei bis drei Tage älter als der Poststempel aus Heidelberg. Denn Claudius wollte über seine Briefe kein falsches Datum setzen, eben so wenig wie er sie durch eine Antwort getäuscht hätte, falls sie ihn gefragt, ob er denn wirklich in Heidelberg wäre. Vielleicht hätte er eine solche Frage garnicht be­ antwortet. Die Briefe wurden nur in Heidelberg auf die Post gegeben, und Margarethe setzte zu völliges Vertrauen in ihn, um eine Bemerkung darüber zu machen, daß Datum und Stempel nicht stimmten. Durch Rührigkeit und den Beistand der Personen, an welche er Empfehlungsschreiben mitgebracht hatte, war es ihm gelungen, die Angelegenheiten der Gräfin zu be­ friedigendem Abschluß-zu bringen. Er sand es genau so, wie Herr Bellingham ihm vorausgesagt hatte. Wenn man in einem autokratischen Lande überhaupt Recht bekommt, so geschieht das schnell. Ueberdies leuchtete es den Behörden ein, daß ein Mann, der aus Amerika hinkommt und solche Empfeh­ lungen mitbringt wie Claudius, sofort augehört werden muß, um so mehr da seine ganze Erscheinung und sein Auf­ treten in den Botschaftskreisen gleich ein gewisses Aussehen erregten. Claudius ging überall hin, sprach mit allen, machte sich jeglichen Einfluß zur Erreichung seines Zweckes nach Kräften zu nutze. Und so geschah es, daß etwa nach Verlauf eines Monats ein besonderer Ukas die Auszahlung des vom Grafen Alexis von der Garde, verstorbenem Ge­ mahls der Gräfin Margarethe, für diese vom Ertrag seiner Güter nur für ihre Lebenszeit ausgesetzten Jahrgehaltes ihr und ihren Erben für ewige Zeiten zugesichert wurde. Dies war mehr, als Claudius gehofft, und sicher mehr, als Margarethe sich hatte träumen lassen. Was aus Nikolai werden sollte, darum kümmerte sich Claudius nicht, wahr-

353 scheinlich hielt er ihn für einen thörichten Nihilisten und

kannte die Gräfin genug, um zu wissen, daß sie ihren Schwager nie würde darben lassen, was er auch verschuldet haben mochte. Als er also seine Geschäfte beendigt hatte, reiste er eiligst nach Berlin uud meldete von dort seine baldige Rückkehr. In weniger als vierzehn Tagen konnte er in New Jork sein. Dieser Gedanke war ihm ein unaussprech­ licher Trost, denn seit er die Geschäfte in Petersburg erledigt hatte, machte sich der Rückschlag fühlbar, welcher bei starken Naturen sicher aus große Anstrengungen folgt, weil eben starke Naturen ihre Kräfte rücksichtslos bis aufs äußerste anstrengen. Es schien, als er nun zurückblickte, daß er gar wenig Briefe von ihr erhalten habe. Nicht als ob er sich beklagte, denn er erkannte es als eine Güte von ihr an, daß sie ihm überhaupt schrieb, und er bewahrte ihre Briese wie Heiligthümer, auch die Umschläge, — alles, was ihre Hand berührt hatte. Aber er empfand es schmerz­ lich, daß er nichts über ihr Thun und Treiben wisse, und einige Anspielungen auf Barker beunruhigten ihn. Er hatte auch den Argwohn, daß der ränkesüchtige Amerikaner an dem plötzlichen Anfall von Vorsicht der Herren Screw und Scratch betheiligt wäre; aber er war weder so weise wie Margarethe, die ihm gerathen haben würde, seine Hände nicht mit Pech zu besudeln, noch so kaltblütig gleichgültig wie der Herzog, der ihm gesagt haben würde, da er ja doch das Geld bekäme, hätte es nicht das Geringste auf sich, ob Barker ein Lump wäre oder nicht. Im Gegentheil, Claudius nahm sich vor, der Sache aus den Grund zu gehen, und wenn er entdeckte, daß Barker falsches Spiel getrieben, würde er ihm einfach den Hals brechen. Und wenn Claudius daran dachte und die Zähne zusammenbiß, Crawford, Doktor Claudius.

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354 sah er aus, als ob er im Stande wäre, auf der Stelle jede beliebige Anzahl von Hälsen zu brechen. Aber bei aller seiner Wuth und seinem Verdacht fiel ihm doch niemals die wahre Ursache von Barkers sonder­ barem Benehmen ein. Nie kam er aus den Gedanken, Barker könnte nach Margarethens Hand streben, er glaubte nur, der junge Mann habe eine Verschwörung angezettelt, um sein Geld in die Hände zu bekommen. Wenn Jemand Claudius erzählt hätte, was bei van Sneindells vorgefallen an demselben Abend, als er sein Telegramm abschickte, so hätte er in gutem Glauben über die Geschichte gelacht, denn er hätte sie nicht für möglich gehalten. Und hätte er sie auch geglaubt, so hätte er sich nichts daraus gemacht. So jagte er durch Europa und gönnte sich keine Ruhe, bis er sich in seine Kajüte an Bord des Dampfers eingeschlosien und einen langen Brief an Margarethe begonnen hatte. Er wußte, er würde sie Wiedersehen, ehe ein Brief sie erreichen konnte, aber das machte ihm keinen Unterschied. Er fühlte sich getrieben zu schreiben und schrieb ihr einen so liebevollen, zärtlichen und glückseligen Brief, daß wenn er hier abgedruckt würde, kein Liebender je wieder wagen würde, an seine Geliebte zu schreiben, aus Furcht, sie könnte ihm vorwerfen, daß er minder beredt wäre als Dr. Claudius aus Heidelberg. So schrieb er fort, Tag für Tag, und brachte damit den größten Theil seiner Zeit zu. Unterdessen trabten der Herzog und Margarethe im Park herum und sprachen von allem Möglichen, oder viel­ mehr der Herzog sprach, und Margarethe dachte au Clau­ dius. Ehe sie aber heimkehrten, theilte sie dem Herzog mit, daß Claudius auf der Rückreise wäre, worüber sich jener herzlich freute. Vielleicht hätte er viel darum ge-

355 geben zu wissen, ob sieverlobt wären; doch davon sagte Marga­ rethe nichts. Es lag ihren Gedanken fern; und in dieser Form war ihr die Thatsache nur einmal ganz plötzlich gegenwärtig gewesen, und zwar am vorigen Abend, als sie dadurch mit einem vernichtenden Schlage Herrn Bar­ kers Ränke und seine Absichten auf ihre Hand zu Boden schlug. Allein während der Herzog sprach, dachte sie dar­ über nach, und als ihr der Auftritt wie ein lebendiges Bild wieder vors Auge trat, sah sie es plötzlich in ganz anderem Licht. „Ich muß von Sinnen sein!" dachte sie. „Barker wird es allen Menschen erzählen, und der Herzog darf es nur durch mich erfahren." „Da wir gerade von Dr. Claudius sprachen" — fing Sie an; der Herzog sprach gerade in dem Augenblick eifrig von den Pueblo-Indianern, aber darauf kam es nicht an. „Da wir also vom Doktor sprachen, — so muffen Sie wiffen — ich möchte nicht, daß Sie es von andern hörten — wir sind verlobt." Der Herzog war sehr überrascht — weniger durch die Nachricht, als durch die Art, sic ihm mitzutheilen, — daß er den Zügel rasch anzog. Da sie ihn halten sah, hielt sie auch. „Sind Sie sehr erstaunt?" fragte sie, ihren grauen Schleier zurückschlagend und ihn lächelnd mit ihren tief dunkeln Augen anschauend. Der Herzog sprach kein Wort, sondern sprang vom Pferde, das, über seine plötzliche Flucht erstaunt, friedfertig mitten im Wege stehen blieb. Es wuchsen einige wilde Blumen am Wege, der hier durch eine Lichtung des Parkes führte; es waren sogenannte Michaelismaßliebchen, welche in Amerika bis in den No­ vember blühen. Er pflückte eine Handvoll und kam da­ mit zurück.

356 „Erlauben Sie mir, der Erste zu sein, der Ihnen Glück wünscht, meine liebe Freundin", sagte er, unbedeck­ ten Hauptes neben ihrem Steigbügel stehend und ihr die Blumen mit halb verschämtem Lächeln reichend, das einem Mann in seinen Jahren eigenthümlich stand. Es war eine That augenblicklicher Eingebung, wie sie Niemand, der ihn nicht genau kannte, von ihm erwartet hätte, und nur wenige konnten sich rühmen, ihn genau zu kennen. Margarethe war gerührt durch sein Aussehen und seine Art und Weise. „Danke!" sagte sie und beugte sich über den Sattelknauf, um die Blumen in Empfang zu nehmen, welche er ihr reichte. „Ja, Sie sind der Erste — welcher mir Glück wünscht." Und das war wahr. Er stand noch immer und sah sie an, und seine Hand wollte kaum die Blumen loslassen, als er ihre Finger berührte. Seine Gesicht wurde blaß, dann aschgrau, und er hielt sich am Halse seines Pferdes. „Was ist Ihnen? Sind Sie krank? Haben Sie sich gestoßen?" fragte Margarethe erschreckt, denn er sah aus, als sollte er ohnmächtig werden, und es war mehr als eine Minute vergangen, seit er mit den Blumen vom Wege zu ihr zurückgekommen war. Da nahm er sich zusammen, und im nächsten Augenblick lief er seinem Pferde nach, welches den Bäumen zuwanderte. „Mir war einen Augenblick sonderbar zu Muthe", sagte er, als er wieder an ihrer Seite im Sattel saß. „Wahrscheinlich von der Hitze! Es ist heute ein heißer Tag. Wollen Sie mir eine Cigarette erlauben? Ich rauche sonst nicht gern an öffentlichen Orten, aber mir wird danach wieder wohl werden." Natürlich gab Marga­ rethe ihre Zustimmung; es war in einem entlegenen Theil

357 des Parkes, wo Niemand es bemerken würde. Aber sie sah ihn ein Weilchen betroffen an und verwunderte sich, was seinen plötzlichen Schwindel verursacht haben könnte. Sie ritten langsamer dem Eingang des Parkes zu, und die Gräfin war nicht wieder zerstreut. Sie ging auf alles ein, worüber ihr Begleiter sprach und bezeigte An­ theil daran, indem sie allerlei Fragen an ihn richtete, die ihm willkommen waren. Dennoch schien der letzte Theil des Rittes lang und die Fahrt nach Hause endlos, denn Mar­ garethe sehnte sich danach, allein zu sein. Endlich war das Hotel erreicht, und sie trennten sich. „Herzlichen Dank!" sagte sie, „es war ein genußreicher Morgen!" „Das war es, und lassen Sie mich Ihnen nochmals Glück wünschen. Claudius ist ein Ehrenmann in jeder Hinsicht und ich glaube Ihrer so würdig, als es über­ haupt Jemand sein kann", setzte er schnell in unzufriedenem Ton hinzu und empfahl sich. Siesah ihm einen Augenblick nach. „Wenn ich nur wüßte!" sagte sie leise, als sie in ihrem Zimmer war und die Thür schloß. „Der Arme! aber nein — es ist nicht möglich! Ich muß im Traum sein. Ach ja! Mir scheint es, ich bin jetzt immer im Traum!" Damit sank sie auf einen Stuhl, um aufClementine zu warten. Und so gehen manche Frauen durchs Leben und machen viel mehr Opfer als sie ahnen. Es giebt ehrenhafte Män­ ner, die sich nicht aussprechen, wenn sie kein Recht dazu haben, und die edel genug sind, denen, die solch ein Recht haben, zu helfen. Der Herzog hatte, wie schon erwähnt, Margarethen seit ihrer Verheirathung mit dem Grasen Alexis gekannt. Ob er sie geliebt hatte, ist eine Frage, die sich nicht so leicht beantworten läßt. So viel ist ge­ wiß, als sie ihm ihre Verlobung mit Claudius mittheilte,

358 wurde er sehr bleich und fand den ganzen Tag über iiid)t sein geistiges Gleichgewicht wieder. Dennoch widmete er sich in den nächsten vierzehn Tagen eifrig Margarethens Unterhaltung, und gar vieler­ lei Unternehmungen wurden von ihm und ihr, so wie von Lady Victoria und dem unvergleichlichen Fräulein Skeat, dem alles Vergnügen machte, geplant und ausgesührt. Margarethe zog sich nicht von der Welt zurück, und mehr als einmal begegnete ihr Barker auf der Straße und in dem Gedränge einer Gesellschaft. Die Häuser in Amerika sind so klein, daß die Empfangsräume immer überfüllt sind. Er hatte aber Vernunft genug, ihr aus dem Wege zu gehen und sie in keiner Weise mehr zu be­ lästigen. Clementine wunderte sich einige Tage, weshalb so wenig Blumen kämen, und der alte Wladimir dachte über das muthmaßliche Schicksal des Herrn Barker nach, der wahrscheinlich zur Strafe für ein politisches Verbrechen in Ketten nach Canada gebracht worden war, weil er ja keine Besuche mehr machte. Fragen durften diese treuen Dienstboten aber nicht, und aus sonstigen Quellen konnten sie nichts erfahren. Wie Margarethe vermuthet hatte, war Barker bemüht gewesen, die Nachricht von ihrer Verlo­ bung rasch zu verbreiten; bald fanden sich viele Glück­ wünschende ein, auch Blumen und Briefe strömten ihr in Menge zu. Da sah sie ein, wie richtig sie daran ge­ than, dem Herzog ihre Verlobung selbst anzuzeigen, ehe dienstfertige Bekannte ihr damit zuvorkommen konnten. Der Herzog kam freilich in New Zork nicht mit vielen Leuten zusammen, denn er verabscheute es, „ausgenommen" zu werden, aber er hatte viele oberflächliche Bekannte von denen einer oder der andre es ihm sicherlich erzählt hätte. Eines Vormittags, als er und die Gräfin sich eben zu

359 ihrem täglichen Spazierritt in den Park begeben wollten, brachte der Diener eine Karte und sagte, der Herr wünsche die Frau Gräfin wo möglich gleich zu sprechen. Die Karte war von Herrn Screw, Firma Screw und Scratch. „Gut", sagte die Gräfin, welche fich eben die Hand­ schuhe anzog und dabei die Reitpeitsche unter dem Arm hielt. „Bitten Sie ihn herauszukommen!" Der Herzog wollte gehen. „Bitte, gehen Sie nicht fort!" bat Margarethe, und so blieb er. Einen Augenblick darauf erschien Herrn Screws gelber Kopf mit den kleinen Augeu in der Thür. „Frau Gräfin?" fragte er ehrerbietig. »Ja; Herr Screw? wie ich glaube." „Jawohl, gnädige Frau. Ach — verzeihen Sie, ich wünschte mit Ihnen allein zu sprechen", stammelte der Sachwalter, als er sah, daß der Herzog sich nicht rührte. „Ich habe diesen Herrn — einen Freund von mir — gebeten zu bleiben", sagte Margarethe ruhig. „Sie können ganz offen sprechen. Was haben Sie mir zu sagen, mein Herr?" Sie winkte ihm Platz zu nehmen, und er setzte sich ihr gegenüber, den Hut in der Hand haltend. Er hätte gern die Beine über einander geschlagen und die Hände in die Taschen gesteckt, doch dazu war er zu wohlerzogen. Endlich faßte er Muth. „Aufrichtig gesagt, gnädige Frau, bin ich hergekommen, um eine moralische Pflicht zu erfüllen, und will mich deut­ lich erklären. Aus glaubwürdiger Quelle habe ich erfahren, daß Sie beabsichtigen, einen Herrn zu heirathen, der sich vr. Claudius nennt—ein—großer Mann mit blondem Bart?" „Sie sind recht berichtet, Herr Screw," sagte Marga­ rethe hochmüthig, „ich bin mit Dr. Claudius verlobt." „Als einer der Testamentsvollstrecker des verstorbenen

360 Herrn Gustav Lindstrand", fuhr Herr Screw langsam fort, „halte ich es, als redlicher Mann, für meine Pflicht, Ihnen mitzutheilen, daß ernstliche Zweifel vorliegen, ob der Herr, welcher sich Dr- Claudius nennt, wirklich der Dr. Clau­ dius ist. Der Betreffende verschwand vor zwei Monaten und hat seitdem, so viel mir bekannt, keine weitern Nach­ richten von sich gegeben. In so fern als die Sache Sie betrifft, geht sie mich natürlich nichts an, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzutheilen, daß der Herr, welchen Sie mit einem Eheversprechen beehrt haben, seine Identität noch nicht nachgewiesen hat." Margarethe hatte nach den ersten Worten vorausge­ sehen , was Herr Screw sagen würde, sie glaubte, dieser durchaus anständige und rechtschaffene Mann wäre an der Verschwörung gegen Claudius betheiligt, und so war sie na­ türlich böse, aber doch vernünftig genug, das Richtige zu thun. „Her Screw," sagte sie eisig in stolzem Ton, „ich bin Ihnen für Ihre Einmischung sehr verbunden. Dessenun­ geachtet bin ich überzeugt, daß der Herr, mit dem ich ver­ lobt bin, wirklich und wahrhaftig der ist, welcher er zu sein behauptet. Eine Thatsache, von der mein Freund hier Sie wahrscheinlich leicht überzeugen wird." Damit verließ sie das Zimmer. Der Herzog wendete sich gegen den Advokaten. „Hören Sie mal, Herr Screw!" sagte er scharf, „ich bin der — na aus meinen Namen kommt's nicht an, den können Sie unten von den Leuten erfahren. Ich bin ein englischer Gentleman uud weiß, wer Dr. Claudius ist. Ich habe seinen Vater gekannt. Ich habe ihn auf meiner Nacht hierher mitgenommen. Jeden Augenblick bin ich bereit, vor Gericht zu erscheinen und die Identität dieses Herrn zu beschwören, den Sie verleumden. Verleumden, mein Herr! Haben Sie verstanden?" Der herzogliche Zorn

361 war heftig entbrannt. „Und wenn nicht Dr. Claudius übermorgen selbst hier sein würde, um für sich Zeugniß abzulegen, würde ich Sie jetzt mit Gewalt aufs Gericht führen, damit Sie zuhörten, wie ich seine Identität be­ schwöre. Verstehen Sie mich, Herr?" „Mein lieber Herr", hub Screw an, etwas bestürzt durch diesen Wuthausbruch. „Nennen Sie mich nicht Ihren lieben Herrn!" sagte der Herzog, auf Screw zutretend. „Also Herr!" fuhr der andere fort, der keine Ahnung hatte, mit wem er sprach und, wenn er es auch gewußt, sich wahrscheinlich im Gefühl seiner eigenen Rechtschaffenheit nichts daraus gemacht haben würde. „Wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, so begreife ich nicht, warum Sie nicht gleich für ihn eingetreten sind, statt Ihren Freund nach Europa reisen zulassen, umdie nöthigen Beweisstücke herbeizuschaffen." „Ich will mich auf keine Auseinandersetzungen mit Ihnen einlaffen", sagte der Herzog. „Dr. Claudius würde so wie so nach Europa gereist sein, wenn Ihnen das zur Befriedigung gereicht. — Weshalb sind Sie hergekommen?" „Weil ich es für Pflicht hielt, eine arglose Dame zu warnen", antwortete Screw unerschrocken. „Ist das wahr? Halten Sie Claudius wirklich nicht für Claudius?" fragte der Herzog, dicht vor den Sachwalter hintretend und ihm in die Augen sehend. „Allerdings, ich halte ihn für einen Betrüger", sagte dieser, den Blick furchtlos erwiedernd. „Ich vermuthe, Sie thun es", sagte der Herzog, ziem­ lich befriedigt. „Nun denn, wer hat Sie hergeschickt?" — „Niemand hat mich hergeschickt", sagte Screw nicht ohne Stolz. „Ich lasse mich nicht schicken, wie Sie es meinen. Neulich, in einem Gespräche mit Herrn Barker —"

„Das dachte ich mir," unterbrach ihn der Herzog, „ich dachte mir gleich, daß Barker dahinter steckte! Wollen Sie die Güte haben, mit einer Empfehlung von mir etwas an Herrn Barker zubestellen?" Screw nickte feierlich, wie unter Vorbehalt. „Dann seien Sie so gut, ihm in meinem Namen zu sagen, daß er ein ganz höllischer Schurke ist; und wenn er diese abscheulichen Ränke noch weiter treibt, so werde ich ihn auf all seinen Klubs als Lügner und Betrüger angeben und — .uni) er soll mir lieber ans den Wege gehen. Ihnen aber, mein Herr, rathe ich, seinen Charakter zu studireu, denn ich sehe, Sie sind ein redlicher Mann." „Danke sehr, mein Herr", sagte Herr Screw spöttisch. „Wer aber sind Sie, mein Herr, daß Sie es wagen, meinen Klienten mit solchen Schimpfnamen zu betiteln?" „Hier ist meine Karte, — sehen Sie selbst!" sagte der Herzog. Screw las sie; er war sehr aufgebracht. „Wir legen hier zu Lande nicht viel Werth aus Titel, mein Herr Herzog," sagte er steif. „Das Beste, was ich für Sie sagen kann, ist, was Sie zu mir gesagt haben: Sie machen mir den Eindruck eines redlichen Mannes. Dennoch können Sie sich irren." „Das wird sich übermorgen entscheiden", sagte der Her­ zog. „Indessen, als eine Folge des von mir Gesagten, danke ich Ihnen wirklich aufrichtig" — Screw lächelte in­ grimmig, — „nein, nein, im Ernst, ich danke Ihnen im Namen der Gräfin Margarethe für den gutgemeinten Dienst, den Sie ihr leisten wollten; und ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich mich in Ihnen getäuscht und geglaubt habe, Sie wären an der Verschwörung betheiligt. Aber richten Sie Herrn Barker meine Bestellung aus; sie ist selbstverständlich klagbar, und er kann mich verklagen, wenn er Lust dazu hat. Guten Morgen, mein Herr."

363 „Guten Morgen", sagte Screw kurz, etwas besänftigt durch des Herzogs freimüthige Entschuldigung. „Den denke ich, habe ich beseitigt", sagte dieser zu Margarethe, als sie in die Droschke stiegen, um nach dem Park zu fahren, und in glänzender Laune ritten sie spa­ zieren.

Zwanzigstes Kapitel. Was auch die Nernunst dagegen einwenden, wie groß auch unsere Sicherheit sein mag, die letzten Stunden der Erwartung eines Oceandampfers sind doch angstvolle. Die Leute aus dem Bureau können uns zwanzig Mal versichern, daß „kein Grund zur Besorgniß vorliegt", — wie ihre gewöhnliche Redensart lautet; Bekannte, welche seit etwa zwanzig Jahren alljährlich zwei Mal über das Weltmeer fahren, mögen uns sagen, daß jedes Schiff einige Stunden, ja einige Tage später als berechnet eintreffen kann; es mag Wahnsinn sein, den geringsten Zweifel zu hegen, und doch bis die geliebten Füße den Landungsplatz betreten und die theuern Hände froh die unsern fassen, schwebt über uns der Schatten unheimlicher Befürchtungen, — das schreckliche Bewußtsein von der Macht der See. Der Herzog wäre längst auf dem Rückwege nach Eng­ land gewesen, wenn er nicht so brennend gewünscht hätte, das Ende der Geschichte mit zu erleben, er hatte sich alle Mühe gegeben, um den Tag der Ankunft des Schiffes zu erfahren. Er nahm es als selbstverständlich an, daß Clau­ dius auf dem Cunard-Dampfer fahren würde, und fand das Schiff heraus, welches zunächst nach des Doktors De­ pesche abgehen sollte. Dann ordnete er an, daß man ihn

363 „Guten Morgen", sagte Screw kurz, etwas besänftigt durch des Herzogs freimüthige Entschuldigung. „Den denke ich, habe ich beseitigt", sagte dieser zu Margarethe, als sie in die Droschke stiegen, um nach dem Park zu fahren, und in glänzender Laune ritten sie spa­ zieren.

Zwanzigstes Kapitel. Was auch die Nernunst dagegen einwenden, wie groß auch unsere Sicherheit sein mag, die letzten Stunden der Erwartung eines Oceandampfers sind doch angstvolle. Die Leute aus dem Bureau können uns zwanzig Mal versichern, daß „kein Grund zur Besorgniß vorliegt", — wie ihre gewöhnliche Redensart lautet; Bekannte, welche seit etwa zwanzig Jahren alljährlich zwei Mal über das Weltmeer fahren, mögen uns sagen, daß jedes Schiff einige Stunden, ja einige Tage später als berechnet eintreffen kann; es mag Wahnsinn sein, den geringsten Zweifel zu hegen, und doch bis die geliebten Füße den Landungsplatz betreten und die theuern Hände froh die unsern fassen, schwebt über uns der Schatten unheimlicher Befürchtungen, — das schreckliche Bewußtsein von der Macht der See. Der Herzog wäre längst auf dem Rückwege nach Eng­ land gewesen, wenn er nicht so brennend gewünscht hätte, das Ende der Geschichte mit zu erleben, er hatte sich alle Mühe gegeben, um den Tag der Ankunft des Schiffes zu erfahren. Er nahm es als selbstverständlich an, daß Clau­ dius auf dem Cunard-Dampfer fahren würde, und fand das Schiff heraus, welches zunächst nach des Doktors De­ pesche abgehen sollte. Dann ordnete er an, daß man ihn

364 sofort benachrichtigen möchte, wenn das Schiff in Sicht sei, und nahm sich vor, mit dem Zollboot bei der Quarantainestation an Bord zu gehen, um die Freude zu haben, Claudius zuerst wiederzusehen nnd ihm alles zu erzählen. „Uebermorgen", hatte er zu Margarethen gesagte, „dür­ fen wir ihn mit Sicherheit erwarten", und er sah mit stum­ mem Wohlgefallen, wie ihre Augen erglänzten, als sie hörte, daß der Augenblick des Wiedersehens so nahe wäre. Die erste Enttäuschung — ach, es war nur die erste! — kam am Vorabend des festgesetzten Tages. Der Herzog erhielt vom Bureau die Nachricht, daß die jüngst ange­ kommenen Schiffe sehr böses Wetter gemeldet hätten, so daß der Dampfer wohl einige Stunden verspäten dürfte. Er fragte sofort nach der Gräfin, erfuhr aber zu seinem Leidwesen, daß fie mit seiner Schwester ins Theater ge­ gangen sei. Er war nicht zu Hause gewesen, als sie aus­ gingen, und so hatten sie Fräulein Skeat als eine Art Schutz mitgenommen und unterhielten sich ohne Zweifel vortrefflich. Margarethe mußte aber vor dem Schlafengehen die Nachricht von der Verzögerung erfahren, denn es wäre grausam gewesen, sie am andern Morgen mit der Erwar­ tung aufwachen zu lassen, daß Claudius jeden Augenblick kommen könne. „Wenn ich auf sie warte und Aufhebens davon mache, wird sie denken, die Sache ist ernst", dachte der Herzog mit mehr als gewöhnlichem Takt. So schrieb er ihr ein­ fach, daß er gehört hätte, der Dampfer werde sich um einige Stunden verspäten, — vielleicht um einen ganzen Tag, .setzte er hinzu, um sicher zu gehen. Er gab Wladi­ mir das Briefchen und ging auf sein Zimmer. Margarethe und Lady Victoria kamen sehr vergnügt nach Hause, lachend und in ihren seidenen Mänteln rau-

365 schend traten sie in den kleinen Salon und setzten sich ans Feuer, um zu plaudern. Da brachte Wladimir des Her­ zogs Briefchen. Margarethe las es beim Feuerschein und sah plötzlich niedergeschlagen aus. „Was ist es, Liebste?" fragte Lady Victoria herzlich, als sie die betrübte Miene ihrer Freundin sah. „Nichts — ich sollte mich gewiß nicht ängstigen. Der Dampfer wird verspäten, das ist alles". Damit reichte sie Lady Victoria das Briefchen ihres Bruders. „Ach, wenn es etwas Wichtiges wäre, hätte er auf uns gewartet. Das Schiff wird wahrscheinlich am Nachmittag statt am Vormittag ankommen." Aber Margarethens Augen waren trübe, und alle Freude war von ihr gewichen. „Haben Sie jemals Ahnungen?" fragte sie, als sie sich eine halbe Stunde später trennten. „Niemals!" antwortete Lady Victoria munter, „und wenn ich welche habe, treffen sie nicht ein." „Ich habe Ahnungen", sagte Margarethe; „ich habe ein Gefühl, als ob ich ihn nie Wiedersehen werde." Die arme Gräfin! Sie sah mit ihrem blaffen Gesicht und den müden Augen ganz elend aus. Am nächsten Morgen erzählte Lady Victoria ihrem Bruder, was sein Brief für einen Eindruck gemacht habe. Er ärgerte sich, daß er ihn nicht besser abgefaßt hatte, und beschloß, sein Versehen dadurch gut zu machen, daß er sich ganz dem Aufpassen auf den Dampfer widmete. Zu diesem Zwecke fuhr er nach dem Bureau des Cunard und ließ sich dort mit einem Roman und einem Kistchen Cigaretten für den Tag nieder. Er wollte sich nicht rühren und ließ sich Nachmittags etwas zu essen holen. Die Beamten kannten ihn nicht, und er fühlte sich ganz frei und konnte thun, was ihm beliebte. Im Laufe des Tages hörte er,

366 daß ein französischer Dampfer eingelaufen wäre, der in einem starken Sturm ein Boot verloren hätte. Es wäre möglich, daß der Cunard-Dampfer, der einen Tag später abgefahren sei, um vierundzwanzig Stunden verspätete. Indessen sei inbezug auf die sichere Ankunft des Schiffes nichts zu befürchten. Es gilt tausend gegen eins, daß eine Gesellschaft, welche noch nie ein Schiff auf See verloren hat, nicht gerade dieses eine eben erwartete verlieren wird. Der Herzog bestellte, man möge ihn wecken lassen, sobald die Lichtsignale des Damsers in Sicht wären und kehrte ziemlich trostlos ins Hotel zurück. Daun bedachte er, wenn er der Gräfin erzählte, daß er den Tag auf dem Dampfschiffsbureau zugebracht, würde sie seine Besorgniß überschätzen und dann erst recht in Angst gerathen. Margarethe war allerdings sehr unvernünftig. Es war bis jetzt kein Zweifel daran, daß der Dampfer in Sicherheit fei, aber sie war, wie Lady Victoria sich aus­ drückte, von der unerklärlicher Ahnung besessen, daß ihr blonder Geliebter ihr für immer entrückt sei. Gräßliche Bilder stiegen vor ihr auf, bleiche Gesichter armer Er­ trinkender tauchten aus dem grünen Wellenwirbel empor, Todte und Sterbende, die krampfhaft nach den über ihnen brechenden weißen Wellenhäuptern griffen, als ob der spritzende Schaum etwas Festes wäre, woran sie sich hal­ ten könnten. Sie hörte den tosenden schrillen Wind durch die Furchen der See Pfeifen, wie in athemlosem Wettlauf mit dem Tode. Und dann schien alles still,' und sie sah die hohe Gestalt eines Maunes mit ausgestreckten Gliedern, starr und kalt, mit herabhängendem blonden Haar, die breite Brust im Todeskampf gehoben, langsam und feier­ lich über die tiefe grüne Fluth und das Seegras hinschwim­ men, weit dahin über die wilden Wogen.

367 Sie kämpfte gegen diese fürchterlichen Gedanken an, aber es half nichts! Sie kamen immer wieder, während sie mit starren Augen und halb geöffneten Lippen am Fenster saß und in die Gluth stierte und ängstlich forschte, ob nicht Jemand an die Thür käme, ihr die willkommene Nachricht zu bringen, daß das gute Schiff endlich in Sicht sei. Aber es kam kein Laut, — den ganzen langen Abend kam keine tröstliche Kunde. Lady Victoria und Fräulein Skeat saßen bei ihr und thaten, als ob sie ihre Angst nicht bemerkten; und ein paar Mal kam der Herzog herein und sprach heiter von allerlei, was sie thun wollten, wenn Clau­ dius wieder hier wäre. Endlich aber ging Margarethe schweren Herzens in ihr Zimmer und wollte sich nicht trösten lassen. Der Herzog erwartete mit Bestimmtheit, in der Nacht von der Ankunft des Schiffes benachrichtigt zu werden, und bestand daraus, daß Willis und Wladimir die ganze Nacht aufbliebeu, um sicher zu sein, daß ihm die Botschaft sofort bestellt würde. Der russische Diener und der englische konnten einander nicht leiden, und der Herzog war über­ zeugt, sie würden einander keine Ruhe gönnen. Er selbst schlief fest, und als er bei Tagesanbruch erwachte, schrie er ärgerlich nach Willis. „Nun?" sagte er. „Ihr habt wohl geschlafen? Wo ist das Telegramm?" „Es ist noch kein Telegraph gekommen, Ew. Gnaden," sagte der graue Diener, der so aussah, als ob er nicht eine, sondern mehrere Nächte durchwacht hätte. „Oh!" sagte der Herzog mit veränderter Stimme. Es lag nicht in seiner Art, seine Dienstboten anzuschreien, und er bedauerte es immer, wenn er heftig gegen sie gewesen; allein er war so fest überzeugt gewesen, die Nachricht müßte

368 in der Nacht ankommen. Da er den Tag vorher im Bureau zugebracht hatte, fühlte er sich verpflichtet, auf seinem Posten zu verbleiben, bis die Gräfin beruhigt wäre. So nahm er eine Droschke, denn wie viele Ausländer verab­ scheute er die erhöhte Eisenbahn und fuhr hinaus. Es hatte den Morgen über stark geregnet, und da der Herzog natürlich nicht daran gewöhnt war, seine Tage in Dampfbootbureaus zuzubringen, langweilte er sich ganz fürchterlich. Er rauchte und stieß die Stuhle herum und las seinen Roman und war so unruhig, daß er den Be­ amten lästig wurde, die ja keine Ahnung hatten, was für ein großes Thier er wäre. Noch immer regnete es; die Zeitungsverkäufer, naß und triefend, guckten hinein, und das bunte Gefieder des New Iorker Geschäftslebens schien beregnet und schmutzig zu sein. Plötzlich, etwa um zwei Uhr, entstand eine Unruhe im Bureau, ein Trampeln auf dem bretternen Fußboden, eine Art allgemeiner Auferstehung. „Dampfer in Sicht!" rief ein Angestellter dem Herzog zu. Seiner Gnaden reckten sich und gingen hinaus. Er hatte gehört, daß das Zollhausboot erst zwei Stun­ den nach dieser Meldung abfahren würde. Also meldete er Margarethen auf telegraphischem Wege, daß ihr Harren vorüber sei, und dann ging er etwas esien, um die Zeit zu vertreiben. Rechtzeitig saß er in der einzigen Kajüte des kleinen Schnelldampfers, der muthig durch Wellen und Regen dem großen Meerungeheuer entgegenfuhr. Die Zoll­

beamten, gutgelaunte, wohlgenährte Leute, welche die grüne Seite einer XX (zwanzig Dollars) kennen und selten an trüben Ahnungen leiden, schwatzten und scherzten fröhlich mit einander. Einer von ihnen war kahlköpfig und schien den andern als beständige Zielscheibe ihrer Späße zu dienen.

369 „Höre, Ike," rief einer seiner Gefährten zwischen zwei Zügen aus einer kleinen schwarzen Flasche, „Du hast eine Rollschuhbahn auf dem Kopf, das ist sicher." Der andere grinste und sagte, es wäre besser, von außen glatt als von innen weich zu sein. „Na, mir scheint, du bist beides, just wie eine Wasser­ melone", erwiderte der erste Sprecher. Selten sind mehr als zwei Passagiere auf dem Zoll­ boot, diesmal war der Herzog der einzige. Er konnte die Atmosphäre von Tabak und Schnaps in der Kajüte nicht länger aushalten und ging nach dem Maschinenraum, die Zollbeamten ihrem Rauch und ihren Späßen überlassend. Es war beinahe fünf Uhr und schon fast ganz dunkel, als sie das große Dampfschiff erreichten. In fünf Minuten war der Herzog hinüber und eilte nach unten, seinen Freund zu suchen. AIs er ihn nirgends sah, ging er zum Zahl­ meister und fragte nach Dr. Claudius. Dieser antwortete, er habe unterwegs nicht seine Bekanntschaft gemacht, reichte dem Herzog aber die Passagierliste mit der Bemerkung, das Schiff wäre für diese Jahreszeit ungewöhnlich voll. Der Herzog fuhr mit dem Finger die Liste entlang; dann hielt er sie dicht an die Lampe, weil er glaubte, daß ihm ein Name entgangen wäre. Aber da stand kein „Dr. Claudius". Ihm wurde trübe vor Augen, sein Herz schlug schnell, — er war seiner Sache so gewiß gewesen. Die arme Margarethe! Was würde sie machen? Wie thö­ richt von Claudius, den Tag seiner Abreise zu telegra­ phieren ! „Sind Sie ganz sicher, daß hier kein Name ausgelassen ist?" fragte der Herzog den Zahlmeister. „Ganz sicher, mein Herr," sagte dieser. „Doch halt, warten Sie einen Augenblick", setzte er hinzu, als der Herzog Crawford, Doktor Claudius.

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370 die Liste hinlegte, „in Queenstown wurde ein Passagier sehr krank ans Land getragen, ein großer Mann, so viel ich mich besinne. Er war nicht an Bord eingeschrieben und war so elend, daß er die Reise aufgeben mußte. Seinen Namen kann ich Ahnen nicht sagen." „Hatte er einen blonden Bart?" fragte der Herzog sehr erschrocken. „Nun ja! jedenfalls einen großen Gart. Ich erinnere mich ganz gut, wie er aussah, als er an mir vorübergetragen wurde. Er war schrecklich blaß und hatte die Augen ge­ schlossen." „Mein Gott!" rief der Herzog. „Das muß er gewesen sein! Weiß denn Niemand seinen Namen?" „Vielleicht der Kapitän. Acht können Sie ihn aber nicht sprechen, weil wir eben einlausen; aber ich will hin­ gehen und ihn fragen," fügte er freundlich hinzu, da er sah, wie bekümmert der andere war. „Danke! danke! ach ja, bitte, fragen Sie ihn!" rief der Herzog und sank auf einen Stuhl. Nach einer Viertel­ stunde kam der Zahlmeister zurück. „Es thut mir leid, mein Herr," sagte er; „aber wie es scheint, hat Niemand seinen Namen erfahren. Das kommt mitunter vor. — Es thut mir sehr leid." Der Herzog sah ein, daß nichts dabei zu machen sei. Es war klar, Claudius war nicht an Bord; aber es war durchaus nicht klar, daß Claudius nicht krank oder vielleicht todt in Queenstown läpe. Der arme Engländer biß sich voll Verzweiflung auf die Lippen und schwieg. Er konnte uoch nicht entscheiden, wie viel er Margarethe hiervon erzählen und wie viel er für sich behalten sollte. Der kranke Passagier schien der Beschreibung zu ent­ sprechen, und doch brauchte es darum noch nicht der Doktor

371 gewesen zu sein. Ein großer Mann — bleich — wenn er krank war, würde er natürlich bleich sein — mit blondem Bart — ja, es klang nach ihm. „Lch wünschte, Bick wäre hier!" sagte der Herzog für sich. „Sie hat so viel Verstand." Sofort erfaßte er den Gedanken, seine Schwester zu Rath zu ziehen. „Wann kann ch an Land gehen?" fragte er plötzlich. „Ich fürchte, Sie werden warten müssen, bis wir im Hafen sind," sagte der freundliche Zahlmeister. „Es kann kaum noch eine Stunde dauern." Von einer schwachen Hoffnung beseelt, daß des Doktors Name doch vielleicht zufällig ausgelassen sein könnte, stand der Herzog auf und bah»ite sich einen Weg durch das Ge­ dränge der Passagiere, die ihre Sachen zusammensuchten und in den großen Kajüten herumgingen. Er verfolgte jeden großen Mann so lange, bis er ihm ins Gesicht sehen konnte. Endlich traf er eine hochragende Gestalt in einem dunkeln Durchgang. „Mein lieber Claudius!" rief er, die Hand ausstreckend; aber der Fremde stand nur einen Augenblick still, murmelte etwas von „Irrthum" und ging weiter. Die Aufregung des Herzogs nahm zu, als ihm klar wurde, daß Claudius nicht an Bord wäre, und nie in seinem ganzen Leben hatte er sich in solchem Zustande befunden. Einige Passagiere bemerkten seine Unruhe und tauschten leise Bemerkungen aus, während er hin und herlief. „Er ist wahrscheinlich verrückt", sagte ein Eng­ länder. „Er ist wahrscheinlich betrunken", sagte ein Ameri­

kaner. „Er ist vermuthlich sagte ein Schotte.

ein

durchgebrannter Kassierer"

372 „Er sieht sehr verwildert aus", sagte eine Mama aus New Aork. „Er sieht sehr unglücklich aus", sagte ihre Tochter. „Er ist sehr gut gekleidet", sagte ihr Sohn, der sich qwei Mal im Jahr seine Anzüge von Smallpage kommen ließ. Aber endlich war die Zeit vergangen, das Ungeheuer legte an, öffnete seinen Rachen und warf seinen lebendigen Inhalt über einen steilen Steg wieder auf trocknes Land aus. Mit einem letzten Blick auf den Strom der ausstei­ genden Passagiere machte sich der Herzog Bahn ans Land nnd sprang in die erste beste Droschke. „Fahren Sie nach dem nächsten Stadtbahnhof!" schrie er. „Welche Straße?" fragte der Kutscher mit der Ruhe, die Droschkenkutscher anzunehmen Pflegen, wenn sie sehen, daß Jemand in Eile ist. „Ach, irgend eine Straße — verfluchte Straßen — natürlich die Sechste!" schrie der Herzog wüthend. „Sehr wohl, mein Herr; Sechste Straße. Stadtbahn, sagten Sie?" damit machte er langsam die Thür zu und stieg auf den Bock. „Was soll ich ihr sagen? — was soll ich nur sagen?" klang es ihm immerfort mit betäubendem Ton in die Ohren, als er durch die Straßen raffelte und über die glatte Eisenbahn rasch nach dem Hotel hinglitt. Vom Bahnhof hatte er noch einige hundert Schritte zu gehen. Ihm sank der Muth, und er ging langsam, gesenkten Hauptes und schweren Herzens, wie der Träger schlimmer Kunde. Gemächlich stieg er die Stufen zum Hotel und die Treppe zu seinem Zimmer empor. Da stand Lady Victoria unter der Gasflamme am Feuer und sah nach der Uhr.

373 „Endlich!" rief sie. „Wie hast du ihn nur ver­ fehlt?" „Wen?" fragte er niedergeschlagen. „Nun, Claudius natürlich!" „Claudius ist nicht gekommen!" sagte er leise. „Nicht gekommen?" rief Lady Vietoria. „Nicht ge­ kommen? Ei! seit zwei Stunden ist er bei Margarethe!" Der Herzog war wie überwältigt, und erschöpft vor Aufregung sank er auf einen Stuhl. „Wie zum" — fing er an, unterdrückte aber den Aus­ ruf, der wie Ausrufe zu thun Pflegen, denn doch heraus platzte. „Von wo zum Teufel ist er hergekommen?" „Aus Europa! glaube ich," versetzte sie; „Du brauchst deshalb nicht zu fluchen." „Enschuldige, Vick! Ich bin geprellt! In meinem Leben war ich noch nicht so erstaunt! Erzähle mir alles, Vick!" Allmälig gewann er seine Sinne so weit wieder, um zu begreifen, daß Claudius wirklich angekommen wäre und daß er, der gute Freund, der sich so viele Mühe seinet­ wegen gemacht, ihn doch irgendwie verfehlt hätte. Aber er freute sich von Herzen. „Ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen, dann kam ich her, um i-n Deinem Zimmer auf Dich zu warten. Natürlich ließ ich ihn allein zu ihr gehen." „Natürlich!" bekräftigte ihr Bruder ernst. „Margarethe erwartete ihn, denn sie hatte Deine De­ pesche, daß das Schiff in Sicht wäre, um drei Uhr bekom­ men, und um fünf war er hier. Es kam mir sehr schnell vor." „Verwünscht schnell!" sagte ihr Bruder leise, dann laut: „nun erzähle mir alles ordentlich!" Es ließ sich leicht genug erklären, und ehe sie sich am

374 Abend zur Ruhe begaben, hatten sie es alle begriffen. Es war einfach so zugegangen: Claudius war mit einem an­ dern Dampfer, von einer deutschen Gesellschaft, gefahren nnd zufällig einige Stunden vor dem Cunard angekommen. Margarethe hatte die Depesche des Herzogs erhalten, wie Lady Victoria schon erwähnt, und da Claudius bald daraus

eintraf, schien alles zu stimmen. Der Doktor hatte sein leichtes Gepäck der Gnade des Zollhauses überlassen, eine Droschke gerufen und doppelte Bezahlung im voraus versprochen, wenn der Kutscher ihn rasch nach dem Hotel führe. Er konnte kaum abwarten, bis der Diener ihn der Gräfin anmeldete, und als er ge­ beten wurde „herauszukommen", wie es immer in amerika­ nischen Hotels heißt, sprang er die Treppe wie mit einem Satz in die Höhe. Einen Augenblick später kniete er zu ihren Füßen, an allen Gliedern zitternd, sprachlos; aber immer wieder küßte er die schönen weißen Hände, während sie ihre glühende Wange herabneigte, bis sie sein blondes Haar berührte. Dann stand er ans, richtete sich zu seiner ganzen Höhe empor und küßte sie auf die Stirn; er umfaßte ihre schlanke Gestalt mit seinen Händen und hielt sie so auf Armes Länge vor sich, ohne im Uebermaß seines Glückes daran zu denken, welche Kraft er dabei anwendete. Sie aber lachte glückselig, und ihr Auge blitzte vor Stolz über solch einen Mann. „Vergieb mir, Geliebte," sagte er endlich; „ich bin außer mir vor Freude." Sie legte ihr Haupt an seine Brust, und so standen sie bei einander. „Bist Du sehr froh, zurück zu fein?" fragte sie endlich nnd sah ihn mit einem Lächeln an, in dem schon die Ant­ wort lag.

375 „Froh ist ein zu armes Wort, meine Geliebteste!" sagte er einfach. Zwei Stunden später saßen sie noch immer neben ein­ ander auf dem Sopha. Claudius hatte ihr alles erzählt, denn jetzt da seine Sendung ausgeführt war, sollte es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr geben, und in Mar­ garethens dunkeln Augen standen Thränen; denn sie wußte was es ihn gekostet hatte, sie zn verlassen, weil sie wußte, wie er sie liebte. Und dann sprachen sie weiter. „Wenn es so bald sein soll, Geliebter," sagte sie, „so laß es am Weihnachtstage sein!" „So sei es. Und wohin wollen wir reisen, Geliebte?" fragte er. „O weit, weit fort von New Aork und — und Herrn Barker und Screw und all diesen abscheulichen Menschen!" rief sie; denn auch sie hatte gebeichtet und ihm alles erzählt. „Ja", sagte er, und schwieg einen Augenblick. „Liebste", begann er dann wieder. „Noch eins mußt Du wissen —" er hielt inne. „Nun?" fragte sie. „Meine Theuerste, ich habe Dir die Geschichte meiner Herkunft heute zum ersten Mal erzählt. Ich dachte, Du müßtest es wissen." „Das würde nie einen Unterschied gemacht haben, Claudius!" sagte sie halb vorwurfsvoll. „Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, starb acht Tage vor meiner Rückreise." „Es thut mir leid, Geliebter," sagte sie voll Theil­ nahme, „hattest Du ihn sehr lieb?" Sie verstand nicht, was er meinte. „Ich kann mich nicht erinnern, ihn je gesehen zu

376 haben," antwortete er, „aber — er starb kinderlos. Und ich — ich bin nicht länger ein Privatdozent." Margarethe wendete sich rasch zu ihm, plötzlich ver­ stehend. „Dann bist Du der Erbe?" fragte sie. „Ja, Liebling," sagte er leise. „Es ist ein großer Name, und Du mußt mir Helsen, seiner würdig zu sein. Ich bin nicht länger Doktor Claudius." Diesen letzten Satz sprach er mit einem Anflug von Bedauern. „Und Du hättest Dir am Ende keine Mühe um dieses dumme Geld machen dürfen? Du bist unabhängig von all diesen Leuten?" „Ja," antwortete er lächelnd, „durchaus unabhängig!" „Ich bin so froh — so froh, wie Du Dir gar nicht denken kannst!" rief sie, ihre Hände auf seine Schulter legend. „Du weißt, es war mir schrecklich zu denken, daß Du Dich mit den Advokaten um Geld streiten müßtest." Dabei lachte sie ein wenig verächtlich. „Wir werden es darum doch bekommen," sagte Claudius lachend, „und Du sollst damit machen, was Du willst, Geliebte. Es ist redlich erworben und wird uns kein Un­ glück bringen. Und da ich Dir nun alles gesagt habe, laß uns in meines Vaters Haus einziehen und es zu dem unsrigen machen!" Er sprach stolz und zärtlich. „Laß mich meine holde Herrin dort willkommen heißen, wo ihres­ gleichen noch nie zuvor begrüßt wurde." „Ja, Geliebter, dahin wollen wir gehen!" „Vielleicht wird uns der Herzog die Zsacht leihen?" meinte Claudius. „Ja", sagte Margarethe mit einem Anflug von Wehmuth in der Stimme, „vielleicht wird der Herzog uns die Zsacht leihen."