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German Pages 110 Year 2002
ULRICH THIELE
Distributive Gerechtigkeit und demokratischer Staat
Schriften zur Rechtstheorie Heft 207
Distributive Gerechtigkeit und demokratischer Staat Fichtes Rechtslehre von 1796 zwischen vorkantischem und kantischem Naturrecht
Von Ulrich Thiele
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Thiele, Ulrich: Distributive Gerechtigkeit und demokratischer Staat : Fichtes Rechtslehre von 1796 zwischen vorkantischem und kantischem Naturrecht / von Ulrich Thiele. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 207) ISBN 3-428-10563-X
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10563-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Inhaltsverzeichnis 1. Das wohlfahrtsdespotische Staatsmodell der Schrift über den Geschlossenen Handelsstaat als Konsequenz der frühen Naturrechtslehre?
7
2. Fichtes Selbstpositionierung im Jahr 1796
10
3. Urrecht und Privateigentum
13
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip
19
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf die zwei Komponenten des Urrechts
24
6. Das Principium exeundum e statu naturali
29
7. Die Notwendigkeit der Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht
41
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
48
9. Fichtes Position in der Frage nach den organisatorischen Verfassungskomponenten
55
10. Fichtes Fehlinterpretation der Demokratiekritik Rousseaus und Kants . . . .
61
11. Die Doppelfunktion des Ephorats: Verfassungwahrende Jury und Demokratieersatz
74
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
84
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages als Erklärungsgrund für Fichtes vordemokratische Gewaltenteilungskonzeption?
91
14. Fazit
100
Literaturverzeichnis
104
Sachverzeichnis
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1. Das wohlfahrtsdespotische Staatsmodell der Schrift über den Geschlossenen Handelsstaat als Konsequenz der frühen Naturrechtslehre? Johann Gottlieb Fichtes 1800 publizierte Schrift über den ,,Geschloßne[n] Handelsstaat" 1 war, w i e der Untertitel mitteilt, als Anhang zur Rechtslehre konzipiert, der jedenfalls skizzieren sollte, w i e apriorische Prinzipien des Naturrechts i n die Sphäre der P o l i t i k zu ,übersetzen' wären. A l s M i t t e l g l i e d zwischen Naturrecht und P o l i t i k sollte der „Geschloßne Handelsstaat" eine erste „Probe der k ü n f t i g zu liefernden P o l i t i k " geben, deren Verhältnis zur Rechtslehre schon 1796 folgendermaßen bestimmt wurde: „Diejenige Wissenschaft, welche es mit besonderen, durch zufällige Merkmale (empirisch) bestimmten Staaten zu tun hat; und betrachtet, wie das Rechtsgesetz in ihm sich am füglichsten realisieren lasse, heißt Politik " 2 Daß die Schrift über den Handelsstaat eine wohlfahrtsdespotische Staatsutopie entwirft, die der freiheitsrechtlichen Grundorientierung des Naturrechts der A u f k l ä r u n g diametral entgegensteht, dürfte k a u m zu bezweifeln sein. 3 Von allen wirtschafts- und sozialpolitisch motivierten Restriktionen, die nach Fichte dem individuellen Selbstbestimmungsrecht 1
aufzuerlegen
Johann Gottlieb Fichte, Der Geschloßne Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik (im folgenden zitiert als „Handelsstaat"), in: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, 8 Bde., hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bonn 1845/46 (im folgenden zitiert als „SW"), Fotomechanischer Nachdruck, Berlin 1971, Bd. III. 2 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1845/46, Bd. 3 (im folgenden zitiert als „Naturrecht"), Neudruck a.d. Grundlage d. 2. Aufl., Hamburg 1991, § 21, S. 286. 3 So hatte bereits Karl Vorländer die These formuliert, daß Fichtes wirtschaftspolitisches Modell streng genommen keine Utopie darstellt, sondern „wenigstens in seiner äußeren Organisation dem Polizeistaat des achtzehnten Jahrhunderts zum Verwechseln ähnlich sieht"; vgl. Karl Vorländer, Kant, Fichte, Hegel und der Sozialismus, Berlin 1920, S. 60. Nicht minder gewichtig ist die Orientierung des Fichteschen Merkantilismus an der mittelalterlichen Zunftordnung; vgl. dazu Marianne Weber, Fichte's Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx'sehen Doktrin, Tübingen 1925, S. 66 ff.; Heinrich Brunner, Die Wirtschaftsphilosophie Fichtes, Nürnberg 1935, S. 20 f., 47 f. Die Differenzen werden betont in: Hans Hirsch, Fichtes Beitrag zur Theorie der Planwirtschaft und dessen Verhältnis zu einer praktischen Philosophie, in: Klaus Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 215-230, 217 f.; zur
8
1. Staatsmodell der Schrift über den Geschlossenen Handelsstaat
sind, ist wohl die rigide Beschränkung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte eine der anstößigsten Forderungen. 4 In schärfstem Gegensatz zur liberalen Staatsphilosophie, deren Verfassungsmodelle ein asymmetrisches Verteilungsprinzip zugunsten der Freiheitsrechte der Individuen zugrundelegten, aufgrund dessen alle Staatsgewalt als prinzipiell limitiert und rechtfertigungsbedürftig angesehen wurde, sieht Fichte in seiner Schrift von 1800 den Endzweck des Vernunftstaates darin, daß zu guter Letzt „alle [Bürger] Diener des Ganzen" werden, 5 dem sie als bloße Untertanen ihre gesamte Existenz verdanken.6 Fraglich ist allerdings, ob und in welchem Grade die freiheitswidrigen Grundzüge des politischen Entwurfs von 1800 bereits der vier Jahre zuvor verfaßten Naturrechtslehre eigen sind oder ob sie erst aus einem fehlerhaften Versuch der , Übersetzung 4 naturrechtlicher Prinzipien in Grundsätze der Politik resultieren. Der deklarierte Anspruch der Rechtslehre von 1796 war jedenfalls noch ein dezidiert freiheitsrechtlicher: 7 „Der Inbegriff aller Rechte ist die Persönlichkeit; und es ist die erste und höchste Pflicht des Staats, diese an seinen Bürgern zu schützen." 8
Ich gehe im folgenden, wie die Mehrzahl der Fichte-Interpreten, davon aus, daß der wohlfahrtsdespotische und in diesem Sinne ,etatistische' Grundzug der Schrift über den Handelsstaat im Naturrecht von 1796 angelegt ist. Die despotismusträchtigen Elemente liegen m.E. aber nicht schon (jedenfalls nicht ohne weitere Vermittlung) in der Eigentumslehre bzw. in der eigentumsvertraglichen Komponente des Staatsbürgervertrags, sondern lassen sich vorzüglich in § 16, der die „Deduktion des Begriffs eines gemeinen Wesens" leistet, identifizieren. Dort nämlich wird der Boden bereiLiteratur über Fichtes ,Sozialismus' vgl. Hansjürgen Verweyen, Recht und Sittlichkeit in J. G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/München 1975, S. 120 f., Fn. 78. 4 Vgl. Handelsstaat (Fn. 1), S. 506: „Zu reisen hat in einem geschlossenen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höchste Künstler". 5 Handelsstaat (Fn. 1), S. 419. 6 Über das spezielle Verhältnis zwischen Fichtes Skizze einer Planwirtschaft in § 1 9 der „Grundlage des Naturrechts" und den Ausführungen im „Geschlossenen Handelsstaat" informiert Verweyen (Fn. 3), S. 116 ff. 7 Vgl. Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. Und 18. Jahrhundert, München 1963, S. 176 ff. 8 Naturrecht (Fn. 2), 2. Abschnitt, § 10, S. 318. Auch in § 17 wird betont, daß den Leistungen des Staates lediglich begrenzte Leistungen der Bürger zu entsprechen haben, damit der letztere nicht „seinem ganzen Sein und Wesen nach" mit dem ersten „in Eins zusammen[...]schmilzt"; vgl. Naturrecht, § 17, S. 204. „Der beschützende Körper besteht sonach nur aus Teilen dessen, was dem Einzelnen angehört. Alle sind in ihm begriffen, aber nur zum Teil"; vgl. ebd., § 17, S. 205. Demnach würde das Individuum „zufolge des Vereinigungsvertrages" gerade kein „Teil eines organisierten Ganzen"; vgl. ebd.
1. Staatsmodell der Schrift über den Geschlossenen Handelsstaat
9
tet für ein normatives Organisationsmodell der öffentlichen Gewalt(en), das von vornherein jede effektive Normierung oder auch nur Kontrolle der Staatsgewalt von Seiten der Rechtsadressaten ausschließt: Fichtes erstaunlich unaufgeklärte' Bemerkungen zur Gewaltenteilungslehre bilden die Kehrseite seiner Option zugunsten eines ^ollektiv-eudämonistischen' Legitimitätskriteriums für die Ausübung der Staatsgewalt und eines nicht demokratischen, sondern letztlich advokativen Repräsentationsideals. Ausgeschlossen ist in diesem Modell jedenfalls, daß sich positives Gesetzesrecht ,νοη unten' durch demokratische Beratungen und Entscheidungen der Bürger bildet 9 und als normative Vorgabe den Staatsgewalten mitteilt, deren eigene Rechtssetzungskompetenzen allesamt den Prinzipien des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes unterworfen wären. Dies aber ist nicht nur die Quintessenz der Kantischen, sondern ebenso der Rousseauschen Gewaltenteilungstheorie. Umso dringlicher ist es daher, Fichtes Ausführungen über das Urrecht, das Zwangsrecht, den Staatsbürgervertrag und das Staatsrecht daraufhin zu befragen, welche Interpretationstendenzen in seiner Rousseau- und Kant-Rezeption zum Zuge gekommen sein müssen, deretwegen für ihn der Eindruck entstehen konnte, seine Option gegen funktionale Gewaltenteilungsmodelle sei weder mit den Intentionen Rousseaus noch mit denen Kants unvereinbar. Weiter soll ermittelt werden, inwiefern sich Fichtes letztlich advokatives Staatsverständnis erklären läßt aus einer höchst einseitigen Reinterpretation der Kritik, die Rousseau und Kant gegen den antiken Demokratiebegriff vorbrachten. Fichte - so meine These - mißdeutet deren Plädoyers gegen eine reine Demokratie und zugunsten einer repräsentativen Republik, weil er zwischen den Begriffen Staatsform und Regierungsform nicht streng genug unterscheidet und deswegen deren jeweilige Bezüge zur Gewaltenteilung verkennen muß.
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Ein dezidiert freiheitsrechtlich-liberaler Ansatz ist auch für die Schrift über die „Bestimmung des Gelehrten" von 1794 maßgebend. Fichte hebt dort hervor, „wie wichtig es ist, die Gesellschaft überhaupt nicht mit der besonderen empirisch bedingten Art von Gesellschaft, die man den Staat nennt, zu verwechseln. Das Leben im Staate gehört nicht unter die obersten Zwecke der Menschen"; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: SW VI, S. 300.
2. Fichtes Selbstpositionierung im Jahr 1796 Als Fichte im Sommer 1795 seine Arbeit an einer „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" begann, war Kants Friedensschrift noch nicht erschienen und schon gar nicht ließ sich absehen, wie die von Kant geplante Rechtslehre aussehen würde. 10 1796, im Erscheinungsjahr der Rechtslehre Fichtes, ergab sich eine neue Situation: bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Autor „keine Spur finden" können, „daß irgendein Philosoph, in die gewöhnliche Weise das Naturrecht zu behandeln, ein Mißtrauen setze". Doch nun sei er „durch die höchstwichtige Schrift Kants: Zum ewigen Frieden, auf das angenehmste überrascht" und in seinen eigenen Bemühungen um eine Neufundierung des Naturrechts bestärkt worden. 11 Fichte war überzeugt, daß eine „Vergleichung der Kantischen Grundsätze über Recht, soviel dieselben aus der genannten Schrift hervorgehen, und des hier vorgetragenen Systems" eine derart weitreichende Übereinstimmung ergäbe, daß man berechtigt sei, auf eine grundsätzliche Kongruenz seiner Position auch mit der angekündigten Rechtslehre Kants zu schließen. Zwar lasse es beispielsweise die Friedensschrift unentschieden, ob „Kant das Rechtsgesetz, nach der gewöhnlichen Weise vom Sittengesetz ableite, oder eine andere Deduktion desselben annehme". 12 Doch mache es Kants „Bemerkung über den Begriff eines Erlaubnisgesetzes wenigstens höchst wahrscheinlich", daß die Deduktion in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre mit derjenigen Fichtes „übereinstimme^" werde. 13 Fichte nennt noch eine Reihe weiterer Indizien, aufgrund derer er sich berechtigt sieht, seine eigene Naturrechtslehre in gewissem Grade als Antizipation der Kantischen anzusehen. So sei auch laut der Friedensschrift der „rechtmäßige Zustand [...] kein Naturzustand", sondern einer, der „gestiftet werden müsse". 14 Auch sei man zweifellos darin einig, „daß die Staatsver10 Vgl. dazu Wolfgang Bartuschat, Zur Deduktion des Rechts aus der Vernunft bei Kant und Fichte, in: Michael Kahlo/Ernst A. Woljf/Rainer Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1-4 der „Grundlage des Naturrechts" und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1992, S. 173— 193, 173 f. 11 Naturrecht (Fn. 2), S. 12. 12 Ebd., S. 12; zu Fichtes problematischer Interpretation des Kantischen Erlaubnisgesetzes vgl. Bartuschat (Fn. 10), S. 174 ff. 13 Naturrecht, S. 13.
2. Fichtes Selbstpositionierung im Jahr 1796
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bindung nur auf einem ursprünglichen, jedoch notwendig zu schließenden Vertrag, aufgebaut werden könne; ferner, daß das Volk die exekutive Gewalt nicht selbst ausüben, sondern sie übertragen müsse, daß sonach die Demokratie in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, eine völlig rechtswidrige Verfassung sei." 1 5 Irritiert zeigt sich Fichte freilich darüber, daß die Friedensschrift den Eindruck erwecke, es sei „zur Sicherheit des Rechts im Staate notwendig [...], die legislative und exekutive Gewalt zu trennen", 16 während es doch unzweifelhaft sei, daß nach der „Natur der Sache" derjenige, „der das Ganze, und alle Bedürfnisse desselben, immerfort übersieht", 17 auch „der natürliche Interpret des gemeinsamen Willens" sein müsse. 18 Weil zudem die „legislative Gewalt" insofern „selbst ein Zweig der Ausübung" sei, als durch sie das „Recht überhaupt zur Ausübung gebracht werden soll", hält er es für evident, daß die „legislative Gewalt, in der Zivilgesetzgebung, und die exekutive, gar nicht zu trennen sind, sondern vielmehr notwendig vereinigt bleiben müssen." 19 Weil nach Fichte die positive Gesetzgebung das naturrechtliche „Rechtsgesetz deute[t] und ausleg[t]" in Hinblick auf „alle Bedürfnisse" des gesellschaftlichen „Ganzen", sei der „Verwalter der exekutiven Macht" und nicht etwa das Volk oder eine (im Verhältnis zu den anderen Staatsfunktionen) eigenständige Repräsentativkörperschaft des Volkes zur Gesetzgebung berufen. Das Volk als „Menge" sei zur auslegenden Positivierung des Naturrechts bzw. der Verfassung nämlich ebensowenig qualifiziert, wie das Volk im Status repräsentativer Vereinigung: in beiden Fällen „dürfte man das Resultat des wahren, gemeinsamen Willens sehr unrein bekommen." 2 0 Fürs Erste läßt sich festhalten: Fichte konnte nicht umhin, in der Frage der Gewaltenteilung einen Konflikt zwischen seiner Position und den Ausführungen in der kantischen Friedensschrift festzustellen. Aber er war 1796 noch zuversichtlich, daß sich diese Diskrepanz mit der Publikation der Kantischen Rechtslehre als Schein erweisen würde, „denn offenbar war es seine Absicht nicht in dieser Schrift [Zum ewigen Frieden] den Gegenstand zu erschöpfen". 21 Wir wissen heute, daß diese Hoffnung Fichtes gründlich enttäuscht wurde. 22
14 15 16 17 18 19 20 21
Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Ebd., Ebd.,
S. 13 f. S. 14. S. 16.
S. 15 f. S. 14.
12
2. Fichtes Selbstpositionierung im Jahr 1796
Ich möchte im folgenden den Fragen nachgehen, inwiefern und wieso Fichte seine Naturrechtslehre von 1796 falsch positionierte, wenn er sie als antizipierendes Ergänzungsstück der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre wertete. Dabei sollen die Themen ,Gewaltenteilung 4 , »Regierungsform 4 und , Staatsform 4 nicht unmittelbar erörtert werden, sondern vermittels eines Themenkomplexes erschlossen werden, hinsichtlich dessen Fichte überzeugt schien, eine au fond ,kantianische4 Problemlösung vorgelegt zu haben: Ich beziehe mich auf Fichtes Position hinsichtlich der Frage nach den naturrechtlichen Prinzipien (und Grenzen) des legitimen Erwerbs und Besitzes von Privateigentum sowie auf die Fragen nach dem principium exeundum e statu naturali bzw. dem Postulat des öffentlichen Rechts, dem Gesellschaftsvertrag und nach den Prinzipien distributiver Gerechtigkeit im bürgerlichen Zustand. 23 Zur Überprüfung meiner These, daß Fichtes Theorie von 1796 trotz aller Ambivalenzen insgesamt eher dem vormodernen als dem kantischen Naturrecht zuneigt, möchte ich gelegentlich Gottfried Achenwalls Naturrecht von 1750 24 als Vergleichsmaßstab einbeziehen. 25
22 Fichte reagierte darauf, indem er als einer der ersten die Legende von der Undurchsichtigkeit der Kantischen Rechtslehre in die Welt setzte: Eine „gute Einleitung, übrigens alte Hefte ohne Klarheit"; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812, in: Fichtes Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. X, S. 498. 23 Daraus ergibt sich, daß methodologische Fragen, z.B. die nach dem Verhältnis zwischen der Wissenschaftslehre (und ihren verschiedenen Versionen) und dem Naturrecht, ebenso in den Hintergrund treten müssen, wie die Frage nach dem Charakter der Deduktion des Begriffs und des Prinzips des Rechtes; vgl. dazu Ludwig Siep> Philosophische Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 65-80, 66 ff.; ders., Naturrecht und Wissenschaftslehre, in: ebd., S. 1 9 ^ 0 . 24 Gottfried Achenwall/Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (im folgenden zitiert als „Achenwall"), hrsg. und übers, v. Jan Schröder, Frankfurt a. M./Leipzig 1995. 25 Den größeren unmittelbaren Einfluß auf Fichte hatte sicher die Naturrechtslehre von Theodor Schmalz ausgeübt; vgl. Theodor Schmalz, Das reine Naturrecht, 1. Aufl. 1791, 2. Aufl. Königsberg 1795; vgl. dazu die Einleitung von Bernhard Willms in: Johann Gottlieb Fichte, Schriften zur Revolution, hrsg. v. Bernhard Willms, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973, S. 7-38, 23 f.
3. Urrecht und Privateigentum Bevor Fichte i m § 10 des ersten Kapitels des Naturrechts eine D e f i n i t i o n des „Urrechts" als des Inbegriffs „unveräußerliche^] R e c h t e " 2 6 gibt, erinnert er daran, w i e verfehlt eine realistische Deutung des Naturzustandes und entsprechender natürlicher Rechte des ,absoluten I n d i v i d u u m s 4 wäre. „Es gibt keinen Stand der Urrechte, und keine Urrechte des Menschen. Wirklich hat er nur in der Gemeinschaft mit anderen Rechte, wie er denn [...] überhaupt nur in der Gemeinschaft mit anderen gedacht werden kann. Ein Urrecht ist daher eine bloße Fiktion, aber sie muß, zum Behuf der Wissenschaft, notwendig gemacht werden." 27 W e i l der B e g r i f f ,Recht' v o n vornherein eine interpersonale Relation v o n Befugnissen und entsprechenden Verbindlichkeiten bezeichnet 2 8 und m i t h i n kontextlos-isolierte I n d i v i d u e n keine Rechte, also auch keine U r - oder Naturrechte besitzen k ö n n e n , 2 9 seine
Version
des
schickt Fichte der D e f i n i t i o n
,nichtatomistischen'
„Allgemeinen
des Urrechts
Rechtsprinzips"
voraus: „Jeder beschränke seine Freiheit, den Umfang seiner freien Handlungen durch den Begriff der Freiheit des anderen, (so daß auch der andere, als überhaupt frei, dabei bestehen könne), ist der Grundsatz aller Rechtsbeurteilung." 30
26
Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, in: SW VI, S. 170. 27 Naturrecht, § 9, S. 112. 28 Vgl. Naturrecht, § 12, S. 123: „Also - alles Rechtsverhältnis zwischen bestimmten Personen ist bedingt durch ihre wechselseitige Anerkennung durcheinander, durch dieselbe aber auch vollkommen bestimmt." 29 Dies folgt nach Fichte bereits aus dem Begriff der Person: „Von Rechten kann geredet werden nur unter der Bedingung, daß eine Person, als Person, d.h. als Individuum gedacht, demnach auf andere Individuen bezogen werde, daß zwischen ihr und jenen, wenn auch nicht eine wirkliche Gesellschaft gesetzt, dennoch eine mögliche eingebildet werde"; vgl. Naturrecht, § 9, S. 111. Die nähere Begründung wird in den § § 3 und 4 des Ersten Hauptstücks gegeben; v g l dazu. Claudio Cesa, Zur Interpretation von Fichtes Theorie der Intersubjektivität, in: Kahlo/Wolff/Zaczyk (Fn. 10), S. 53-70; Verweyen (Fn. 3), S. 90 ff. 30 Naturrecht, § 10, S. 112 f. Der entsprechende „allgemeine, eigene, erste und angemessene Grundsatz des Naturrechts" lautet bei Achenwall: „störe nicht die Erhaltung anderer"; vgl. Achenwall (Fn. 24), § 213, S. 73. A m ehesten entspricht Fichtes Formulierung die dritte Fassung des Allgemeinen Rechtsgesetzes in Kants Rechtslehre: „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemei-
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3. Urrecht und Privateigentum
Nach Fichte enthält der hier verwendete Begriff der Freiheit den für den Aufbau der Naturrechtswissenschaft notwendigen, aber empirisch leeren, mithin fiktiven 3 1 Begriff des Urrechtes (als „desjenigen Rechts, das jeder Person, als einer solchen, absolut zukommen soll"), 3 2 ohne den der Begriff und das Prinzip des Rechts nicht gedacht werden könnten. Eine erste Definition lautet folgendermaßen: „Das Urrecht ist [...] das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein (Schlechthin nie Bewirktes)." 33
Die entsprechende, aber deutlich schwächere Definition des ,,einzige[n] angeborne[n] Recht[es]", das von vornherein als durch das allgemeine Rechtsprinzip beschränkt gedacht wird, lautet ein Jahr später bei Kant: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeine Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht." 3 4
Mit stärkerem Akzent als Kant unternimmt Fichte eine „Analyse des Urrechts", die zeigen will, daß dem Begriff des Urrechts der Freiheit (im Sinne des Verbots nötigender Handlungen von Seiten anderer Personen) ein Verwirklichungsmodell der Freiheit inhäriert, das letztlich auf den Begriff des ursprünglichen Rechtes der Selbsterhaltung zurückgeht. Dieses soll mittelbar - als letzter „Grund alles Eigentumsrechts" erwiesen werden. 35 Sollte Fichte dies überzeugend darlegen können, dann wären das ursprüngliche Recht auf Selbsterhaltung, das Urrecht der äußeren Freiheit, und das Recht auf Privateigentum als innerlich zusammengehörige Momente derselben Naturrechtslehre erwiesen. Um dies zu beweisen, führt Fichte, wie Kant, eine Spezifikation des Begriffs des Willens ein, die es erlaubt, die rechtliche Dimension der Freiheit nen Gesetze zusammen bestehen kann"; vgl. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (im folgenden zitiert als „ M A R " ) , A 34, Β 34, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 7, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, S. 338. 31 Vgl. Naturrecht, § 9, S. 112. 32 Naturrecht, § 10, S. 113. 33 Ebd., S. 113. 34 Kant, M A R (Fn. 30), A B 45. Die Kantische Definition des einzigen „angebornen Recht[es]" enthält also lediglich das Kriterium der Unabhängigkeit von solcher fremden Willkür, die den Charakter der Nötigung besitzt, während Fichtes Definition die Unabhängigkeit von fremder Willkür überhaupt fordert. 35 Naturrecht, § 11, 116. Die Selbsterhaltung ist freilich als „Bedingung alles anderen Handelns, und aller Äußerung der Freiheit" (Naturrecht, § 12, S. 118) nur das absolute Minimum des Urrechtes auf Freiheit: „Auch wenn wir einen geringeren Zweck [als die bloße Selbsterhaltung] hätten, dürfte man unsere Freiheit nicht stören, denn man darf sie überhaupt nicht stören"; vgl. Naturrecht, S. 119.
3. Urrecht und Privateigentum
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von ihrer moralischen Dimension in Hinblick auf den jeweils zugrunde gelegten Willensbegriff zu separieren. Gegenstand allen Rechtes kann lediglich die Freiheit der eigenen „Wirksamkeit" 3 6 sein, die Kants Rechtslehre im Unterschied zu „Wille" und „Wunsch" als „ Willkür" bezeichnen wird. 3 7 Wenn Fichte das Urrecht als das „absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein" definiert, so bezieht sich dies nicht auf die je kontingenterweise wirkliche, sondern allein auf die mögliche, durch theoretische Erkenntnis bedingte technische Freiheit gegenüber der Natur 3 8 im Verhältnis zu denjenigen Modifikationen der Sinnenwelt, die durch Handlungen anderer Personen (ohne meine Einwilligung) bewirkt werden können. 39 Die hypothetische, aus Vernunftgründen notwendige Setzung dieses absoluten Urrechts unterstellt, daß der Wirksamkeit des „Leibes als Person betrachtet" keine anderen Grenzen gesetzt sind, als die, die entweder den naturgesetzlichen Eigenschaften der äußeren Realität, der natürlichen Beschaffenheit der handelnden Person oder der Bestimmung ihres Willens entstammen, 40 wobei der letztere freilich Naturgesetze verkennen kann und sich deswegen als zwar „wirksamer" aber „erfolgloser" Wille erweisen kann. 41 Die notwendige Voraussetzung dafür, daß ein Wille erfolgreich wirksam werden und seinen gesetzten Zweck erreichen kann, ist das „Gegebensein des Objekts". 42 ,Gegebensein' meint bei Fichte, „daß alles so bleibe, wie es durch das freie Wesen einmal erkannt, und in seinem Begriff gesetzt worden ist". 4 3 Denn die Erkenntnis des ,Objekts', d.h. der mit Hilfe von 36
Natunecht, § 11, S. 114. Kant, M A R (Fn. 30), A B 4 f. Willkür nennt Kant das „Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen", insofern „es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist"; vgl. Kant, M A R , A B 5. Noch Achenwall verwendet allein den Willensbegriff, unterscheidet aber zwischen unwirksamem und wirksamem Willen, wobei der letztere entweder erfolgreich oder erfolglos genannt wird; vgl. Achenwall (Fn. 24), §§140 ff. 38 Vgl. Naturrecht, § 11, S. 114: „Denn wenn jemand die Natur der Dinge nicht wohl erkannt, seine tätige Kraft gegen ihr Vermögen der Trägheit nicht richtig genug berechnet hat, und darum etwas gegen seine Absicht erfolgt, so ist die Schuld sein eigen, und er hat über keinen außer sich zu klagen." 39 Die Sinnenwelt darf „nur nicht durch eine fremde, außer ihr liegende freie Kraft, seiner [des Handelnden] Einwirkung zuwider bestimmt werden, denn dadurch hörte er auf, freie Ursache zu sein"; vgl. Naturrecht, § 11, S. 114. 40 Vgl. Naturrecht, § 11, S. 114: Der „Leib", der mit dem ,,freie[n] Wesen [als] Erscheinung [...] identisch" ist, muß „als Person betrachtet [...] absolute und letzte Ursache seiner Bestimmung zur Wirksamkeit sein." 41 Achenwall (Fn. 24), § 141. 42 Naturrecht, § 11, S. 115 (Herv. v. Verf., U. T.). 37
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Ebd., S. 115.
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3. Urrecht und Privateigentum
Naturgesetzen beschreibbaren konstanten Strukturen der , Erscheinungswelt', gibt den Inbegriff der durch unser Handeln „mögliche [n] Wirkungen in der Sinnenwelt" und grenzt dessen Inhalt von unmöglichen Handlungseffekten ab. 4 4 Fichte setzt sich zunächst mit dem denkbaren Einwand auseinander, daß sich die Voraussetzung eines durch theoretische Erkenntnis vermittelten Gegebenseins des Objekts der Zwecksetzung insofern als Schein erweisen könnte, als sie von vornherein alle realen Selbstveränderungsprozesse der Natur leugnen müßte. Dagegen sei aber einzuwenden, daß alle natürlichen Zustandsveränderungen nach „unabänderlichen Gesetzen" geschehen, so daß sich die Natur, „wenn wir jene Gesetze genug kennten", als „Dauerndes" erweisen würde. 45 Alle Inkonstanz der Natur ist demnach im Prinzip kausal erklärbar und damit auch vorhersehbar, so daß wir bei hinreichendem Wissen unsere Zwecke dadurch erreichen können, daß wir „durch Kunst, und Geschicklichkeit" entsprechende Modifikationen in der Sinnenwelt vornehmen oder diese, falls die prognostizierten Naturveränderungen von sich aus unseren Zwecken entsprechen, unterlassen. 46 Auch im Falle ,,übermächtig[er]" zweckwidriger natürlicher Veränderungsgesetze hätten wir diese Handlungen zu unterlassen und statt ihrer unsere Zweckbegriffe zu modifizieren oder zu revidieren; jedenfalls müßten wir notgedrungen erkenntnisbedingte Veränderungen an unserem ,System der Zwecke' vornehmen. 47 Naturbedingte Veränderungen unserer Handlungswelt sind somit nicht von vornherein unvorhersehbar, da ihre zureichende Erkenntnis prinzipiell möglich ist. Daher wäre es absurd, anzunehmen, unsere Urrechte könnten durch natürliche, unseren Zwecken zuwiderlaufende Prozesse verletzt werden.
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Vgl. ebd., S. 114 f.: „Nun aber folgt ja die zweckmäßige Bestimmung des Leibes, um auf eine Sache zu wirken, erst auf die Erkenntnis, und aus der Erkenntnis der Sache, auf welche gewirkt werden soll; und das freie Wesen ist sonach zuletzt doch abhängig. [...] Wirksamkeit und bestimmte Erkenntnis, bedingen einander wechselseitig, und füllen dieselbe Sphäre aus [...]. Über das Gegebensein des Objekts hinaus kann man nicht wirken wollen; diese widerspricht dem Wesen der Vernunft: nur innerhalb der Sphäre desselben ist die Person frei." 45 Naturrecht, § 11, S. 115. 46 Interessanterweise behandelt Fichte auch das erkenntnisbedingte Unterlassen von Eingriffen in natürliche Prozesse als Variante der zweckrationalen „Modifikation": „Das Nichtmodifizierte wird, wenn es nur durch das Vernunftwesen gedacht, und mit seiner Welt zusammengereiht worden ist, gerade dadurch, daß es nicht modifiziert worden ist, ein Modifiziertes. Die Person hat es zufolge ihres Zweckbegriffes von dem Ganzen, zu welchem dieses bestimmte Ding passen soll, nicht modifiziert, weil es nur in seiner natürlichen Gestalt dazu paßt, und würde es modifiziert haben, wenn es dazu nicht gepaßt hätte"; vgl. Naturrecht, § 11, S. 115. 47
Naturrecht, § 11, S. 115.
3. Urrecht und Privateigentum
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„Nur andere freie Wesen könnten eine unvorherzusehende und nicht zu verhindernde Veränderung in unserer Welt, d.i. in dem System desjenigen, was wir erkannt, und auf unsere Zwecke bezogen haben, hervorbringen; dann aber würde unsere freie Wirksamkeit gestört." 48 Unter der vermittelnden Voraussetzung, daß allein freies piell
unvorhersehbar
Handeln
prinzi-
ist, läßt sich das Urrecht auch als rechtliches Verbot
der praktischen Intervention anderer
Personen
i n meine Willkürsphäre ex-
plizieren. Dabei braucht dieses Verbot, insofern es als ursprüngliches Recht ,des 4 Menschen gilt, keinerlei Einschränkung hinsichtlich seines Objektbereiches zu enthalten; denn die meinem Urrecht entsprechende Sphäre freier W i l l k ü r ist auf der abstraktesten Reflexionsebene eines Naturrechtes des (kontextlosen) Menschen überhaupt identisch m i t ,meiner W e l t 4 als des Inbegriffs eines jedenfalls nicht durch Interventionen anderer Personen l i m i tierten Handlungsraumes. 4 9 „Die Person hat das Recht zu fordern, daß in dem ganzen Bezirk der ihr bekannten Welt alles bleibe, wie sie dasselbe erkannt hat, weil sie sich in ihrer Wirksamkeit, nach ihrer Erkenntnis richtet, und sogleich desorientiert, und in dem Laufe ihrer Kausalität aufgehalten wird, oder ganz andere Resultate, als die beabsichtigten, erfolgen sieht, sobald eine Veränderung darin vorfällt." 5 0 Dies ist das „ a b s o l u t e 4 4 5 1 Urrecht des Menschen, dessen freie W i r k s a m keit, wenn man i h n als Menschen überhaupt 48
betrachtet, keinerlei qualitative
Ebd., S. 116 (Herv. U. T.). Fichte sieht sich genötigt, eine robinsonadische Illustration zu imaginieren, die freilich, denkt man an die Kolonialpolitik europäischer Staaten, durchaus kritische Züge besitzt: „Z.B. Man denke sich den isolierten Bewohner einer wüsten Insel, der sich von der Jagd in den Wäldern derselben nährt. Er hat alle Bequemlichkeiten derselben für seine Jagd. Man kann die Bäume in seinen Wäldern nicht versetzen, oder sie niederwerfen, ohne ihm seine ganze erworbene Kenntnis unnütz zu machen, und zu rauben, ohne seinen Lauf der Verfolgung des Wildes aufzuhalten, und also die Erwerbung seines Unterhaltes ihm zu erschweren, oder unmöglich zu machen, mithin ohne die Freiheit seiner Wirksamkeit zu stören"; vgl. Naturrecht, § 11, S. 116, Fn. Kant, der solche Illustrationen weitgehend meidet, gibt zu bedenken, daß die Freiheitsrechte lädierende Intervention in fremde Handlungsräume im 18. Jahrhundert jedenfalls in der rechtswidrigen Praxis der europäischen Kolonialmächte Realität besaß. In Kants dreidimensionaler Theorie des öffentlichen Rechts enthält das weltbürgerliche Besuchsrecht die Erlaubnis, „sich zum Verkehr [...] anzubieten" (Kant, M A R (Fn. 30), § 62) und also Privatrechtsverträge abzuschließen, woraus sich vermittels eines ,,besondere[n] Vertrag[es]" das bedingte „Recht der Ansiedlung" ergeben kann; vgl. Kant, M A R , § 62. Kants Theorie des Weltbürgerrechtes richtete sich primär gegen die damalige mißbräuchliche Praxis der europäischen Kolonialmächte (sowie der amerikanischen Siedler), die das „Recht der Ansiedlung" für sich als einseitiges Okkupationsrecht in Anspruch nahmen, ohne zuvor mit den Ureinwohnern einen diesbezüglichen Vertrag geschlossen zu haben; vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, B A 42 ff.; Kant, M A R §§ 15, 62. 50 Naturrecht, § 11, S. 116. Ebd., S. 1 1 . 49
2 Thiele
18
3. Urrecht und Privateigentum
und quantitative Schranken besitzen kann, und dessen Urrecht auf konstante Eigenschaften des (wirklichen oder möglichen) Objektes seiner Wirksamkeit demnach auch mit einem unbeschränkten Recht auf Eigentum an seiner Wahrnehmungs- bzw. Handlungswelt in eins fällt. „Es liegt hier der Grund alles Eigentumsrechts. Der mir bekannte, und meinen Zwecken, sei es auch nur in Gedanken, unterworfene Teil der Sinnenwelt ist ursprünglich, keineswegs in der Gesellschaft [...] mein Eigentum. Niemand kann auf denselben einfließen, ohne die Freiheit meiner Wirksamkeit zu hemmen." 5 2
Ebd., S. 1 1 .
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip Fichtes Erörterung der scheinbar zwingenden, aber in ihren Konsequenzen skandalösen Konklusion, nach der dem ,Menschen überhaupt 4, insofern ihm freie Wirksamkeit zukommt, ein qualitativ und quantitativ unbeschränktes Recht auf Privateigentum zukommt, verfährt zweidimensional: Erstens erhebt er einen allgemeinen logischen (bzw. epistemischen) Einwand gegen einen ,substantialistischen4 Gebrauch von Gattungsbegriffen. Er widerspricht damit einer ontologischen Übersteigerung des Begriffsrealismus, nach der Universalien als solchen, wie z.B. ,Mensch4 oder ,freie Wirksamkeit 4 , empirische Realität zukäme. A m Beispiel des Begriffs einer „Wirksamkeit überhaupt 44 zeigt Fichte, daß derartigen Gattungsbegriffen, die den Wesensbegriff einer existierenden Vielheit von Objekten zum Ausdruck bringen sollen, keine empirische Realität entspricht, da sie „lediglich durch Abstraktion von [...] aller wirklichen 44 Mannigfaltigkeit von Merkmalen gewonnen werden. „[Ehe] von etwas abstrahiert werden kann, muß es gesetzt sein, und es geht hier, wie immer, dem unbestimmten Begriff des überhaupt, ein bestimmter Begriff, von einem bestimmten wirklichen, voraus, und der erstere ist durch den letzteren bedingt." 5 3
Demnach muß dem naturrechtlichen Vernunftbegriff ,des4 Menschen, dem „freie Wirksamkeit 44 zukommen soll, notwendig eine Pluralität existierender Menschen entsprechen, von der ausgehend jener Begriff konstruiert wurde. 54 53
Naturrecht, § 3, S. 31. In Hegels enzyklopädischer Logik heißt es entsprechend: „Dies Allgemeine existiert nicht äußerlich als Allgemeines: die Gattung als solche läßt sich nicht wahrnehmen"; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, § 21, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer u. Κ . M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 8, S. 78. Noch prägnanter die Formulierung im zweiten naturphilosophischen Teil der Enzyklopädie: „Dadurch, daß wir die Dinge denken, machen wir sie zu etwas Allgemeinem; die Dinge sind aber einzelne, und der Löwe überhaupt existiert nicht"; vgl. Enz. II, § 245, in: ebd., Bd. 9, S. 16. 54
Diese Deduktion ist Teil der „Deduktion des Begriffs vom Rechte", die die Naturrechtslehre von 1796 i m Ersten Hauptstück durchführt. Das Ziel dieser Deduktion ist es, zu zeigen, daß der „Begriff des Rechts [...] ein ursprünglicher Begriff der reinen Vernunft" ist, was bedeutet, zu beweisen, daß der Rechtsbegriff „eine Bedingung des Selbstbewußtseins sei, welches die Deduktion desselben ausmacht"; vgl. Naturrecht, Einleitung, S. 7; dazu Ludwig Siep, Philosophische Begründung des 2*
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip
20
Zweitens w i l l die Deduktion
des Urrechts
die selbstdestruktiven Konse-
quenzen für den Rechtsbegriff (und seine Anwendbarkeit) zeigen, die unausweichlich sind, wenn man Abstrakta w i e ,freie W i r k s a m k e i t ' oder U r recht
des Menschen 4
unreflektiert
als Bausteine
einer
naturrechtlichen
Rechts- und insbesondere Eigentumslehre verwendet. Wenn das Urrecht einerseits jedem I n d i v i d u u m der Gattung Mensch gleichermaßen z u k o m m t , dann können sich i n praxi Rechte
widersprechen;
denn der raumzeitliche Gebrauch, den der eine v o n seinem Urrecht macht, kann de facto den Gebrauch, den ein anderer v o n seinem Recht macht oder machen w i l l , einschränken und auch verhindern. Entsprechend ist der naturrechtliche B e g r i f f des Rechts von vornherein durch ein Prinzip bestimmt, das die Relation zwischen verschiedenen Personen und ihrem äußeren Freiheitsgebrauch z u m Inhalt hat. „Alles Rechtsverhältnis ist bestimmt durch den Satz: jeder beschränke seine Freiheit durch die Möglichkeit der Freiheit des anderen." 55 Wenn andererseits
das Urrecht als das „absolute Recht der Person, i n der
Sinnenwelt nur Ursache zu sein 44 definiert w u r d e , 5 6 dann wäre der rechtliche Gebrauch, den die Person von ihrem Urrecht macht, „aufgestellterma-
Rechts bei Fichte und Hegel, in: Siep (Fn. 23), S. 65-80, 72 ff. Der Erste Lehrsatz und sein Folgesatz besagen, daß das sich als endlich und vernünftig begreifende Wesen notwendig „ i n einem und demselben ungeteilten Momente" (Naturrecht, § 3, S. 30) Objekte als von sich verschieden existierende annehmen muß und sich damit notwendig auch eine freie Wirksamkeit zuschreiben muß. „Die Aufgabe war, zu zeigen, wie das Selbstbewußtsein möglich sei. [...] Es ist aber nur so zu heben, daß angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjekts sei mit dem Objekt in einem und demselben Momente synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sei selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sei kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seien beide dasselbe" (Naturrecht, § 3, S. 32); Subjekt und Objekt sind demnach notwendig zusammengehörige Komponenten desselben als Tätigkeit zu begreifenden Selbstbewußtseins. Der Zweite Lehrsatz belegt, daß die Selbstzuschreibung einer freien Wirksamkeit in der Sinnenwelt unter solipsistischen Prämissen widersprüchlich wäre: Einem Selbstbewußtsein kann Willkürfreiheit nur dann attestiert werden, wenn zugleich andere Vernunftwesen »gesetzt' und ihnen dieselbe freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zugesprochen wird: „sollen überhaupt Menschen sein, so müssen es mehrere sein. [...] der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung"; vgl. Naturrecht, §§ l^l·, Corollaria, S. 39. Der dritte Lehrsatz schließlich, folgert aus dem zweiten, daß es für das Vernunftwesen unmöglich sei, andere Vernunftwesen von sich zu unterscheiden, ohne zugleich ein bestimmtes rechtliches Verhältnis zwischen sich und diesen zu unterstellen, das auf von der „wechselseitigen Einräumung freier »Sphären' des Handelns abhängt"; vgl. Ludwig Siep, Philosophische Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel, in: ders. (Fn. 23), S. 65-80, 73. 55 56
Naturrecht, § 12, S. 120. Naturrecht, § 10, S. 113 (Herv. v. Verf., U. T.).
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip
21
ßen unendlich". 57 Auch bei extensivster Ausübung dieses Rechtes könnte demnach keine Grenze angegeben werden, von der an eine Verletzung des Urrechtes einer anderen Person geschähe, so daß deren verletztes Urrecht nun seinerseits als Zwangsrecht gegen den Lädierenden geltend würde. Eine Koexistenz mehrerer Rechtssubjekte wäre dann allerdings unmöglich. „Durch ein solches unendliches Freisein [...] würde die Freiheit aller, außer Eines Einzigen, aufgehoben, und sie selbst sogar ihrer physischen Existenz nach vernichtet, und das Rechtsgesetz würde demnach sich selbst widersprechen." 58
Zu lösen ist nach Fichte dieser Widerspruch dann, wenn man sprachkritisch erwägt, daß den Subjekten, an die sich das Urrecht und das Rechtsprinzip wenden, jeweils verschiedene, möglicherweise auch gegensätzliche Prädikate zugesprochen sein könnten, wobei diese Differenz häufig durch die Verwendung von mißverständlichen Kollektivsingularen wie ,der Mensch4 oder ,die Person4 unkenntlich gemacht wird. Diese Bedeutungsdifferenzen hängen davon ab, ob man den Begriff der rechtlichen Freiheit und des ihm korrespondierenden Handlungssubjekts jeweils aus der Perspektive des Urrechts (1) oder aus der des Rechtsgesetzes (2) zu bestimmen versucht. (1) Nimmt man den in der einschlägigen Definition des Urrechts verwendeten Begriff der Freiheit als Unmittelbares, dann hat er, insofern das entsprechende „Recht [...], in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein44, der abstrakten Person „absolut zukommen soll 4 4 , 5 9 lediglich „formale Bedeutung 4 4 . 6 0 Er bietet (in Kants Terminologie) 61 nur erst die Nominaldefinition des Begriffs der rechtlichen Freiheit, der lediglich besagt, „daß die Person frei sein solle44, und der deshalb „der Quantität nach [...] gar keine Grenzen44 enthalten kann. 6 2 Das Urrecht, isoliert vom Rechtsgesetz betrachtet, enthält, insofern es allemal die Perspektive des rechtlich Handelnden (und nicht zugleich die Perspektive des durch solche Handlungen Verpflichteten) zum Ausdruck bringt, lediglich ein „unendliches Freisein 44 seines Subjektes (auf Kosten aller anderen); das Urrecht kann mithin der freien Wirksamkeit des Handlungssubjektes keine ursprünglichen Limits setzen, und ist dem57
Naturrecht, § 12, S. 120. Ebd., S. 121. 59 Naturrecht, § 10, S. 113. 60 Ebd. 61 Kants Logik unterscheidet Realdefinitionen dadurch von Nominaldefinitionen, daß erstere „zur Erkenntnis des Objekts, seinen innern Bestimmungen nach, zureichen, indem sie die Möglichkeit des Gegenstandes aus inneren Merkmalen darlegen"; vgl. Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. v. G. B. Jäsche, § 106, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 5, Darmstadt 1975, S. 575. 62 Naturrecht, § 10, S. 113. 58
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip
22
nach, da aus ihm kein dijudikatives Prinzip für die Abgrenzung des naturrechtlich erlaubten vom unerlaubten äußeren Freiheitsgebrauch abgeleitet werden kann, distributiv leer. „Das Urrecht ist sonach ein absolutes, und geschlossenes Ganzes; jede teilweise Verletzung desselben betrifft das Ganze, 63 und fließt ein auf das Ganze." 64
Auch wenn man neben den Kategorien der Qualität, Quantität und Modalität die der Relation, speziell die Kausalität, in die Analyse des Urrechtes einbezieht, ergibt sich kein Limitationskriterium, das eine (sei es auch eine nur sehr allgemeine) Diskriminierung zwischen rechtlich erlaubten und rechtlich verbotenen Handlungen in der Sinnenwelt erlauben würde. 65 Der Rechtsbegriff bliebe, wollte man ihn allein auf das Urrecht gründen, leer und der allgemeine „Grundsatz aller Rechtsbeurteilung" 66 unanwendbar, weil aus der Perspektive des jeweiligen Akteurs prinzipiell keine Schranke seiner rechtlichen Wirksamkeit erkennbar ist; als Inhaber eines absoluten Urrechtes kann er schlechterdings fremde Rechte nicht verletzen. (2) Rekonstruiert man aber statt des im Urrecht unterstellten den im Rechtsgesetz gemeinten Begriff der Freiheit, dann hat man die Bestimmung der gleichen und reziproken Geltung von Berechtigungen und Verpflichtungen zu berücksichtigen. Nun erhält man die Realdefinition des Begriffs der rechtlichen Freiheit, und die allererst kann die im Rechtsgesetz enthaltende Prämisse der Möglichkeit von Rechtsläsionen erfüllen: „Doch soll es möglich sein, daß er [der Handelnde] durch den freien Gebrauch desselben [Urrechtes] eines anderen Rechte verletze." 67
Das im Rechtsgesetz gemeinte Subjekt von natürlichen Rechten ist erstens nicht der Mensch, sondern einzelne und zwar alle einzelnen Menschen. Zweitens werden diese nicht als isolierte Menschen, sondern als interagierende Willkürsubjekte, deren Sphären freier Wirksamkeit sich physisch tangieren bzw. überschneiden (können), konzipiert. Gleiche Geltung 63
Die Unteilbarkeit liegt in der qualitativen Bestimmung des Urrechtes, „absolut erste Ursache zu sein", einerseits, und in der modalen Bestimmung andererseits, nach der der Person Freiheit apodiktisch zugesprochen wird; vgl. Naturrecht, § 10, S. 113. 64 Naturrecht, § 11, S. 118. Der „Quantität nach, hat das darunter Begriffene gar keine Grenzen, sondern ist seiner Natur nach unendlich, weil die Rede nur überhaupt davon ist, daß die Person frei sein solle, nicht aber inwieweit sie frei sein solle"; vgl. ebd., § 10, 113. 65 Kategorial enthält das Urrecht lediglich „1. das Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes [...] 2. Das Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses auf die gesamte Sinnenwelt"; vgl. Naturrecht, § 11, S. 119 (Herv. v. Verf., U. T.). 66 Naturrecht, § 10, S. 112. 6
Naturrecht, § 1 , S. 1 .
4. Urrecht und allgemeines Rechtsprinzip und reziproke
Verbindlichkeit
23
wären demnach die elementarsten Prädikate,
die dem Urrecht erst durch die Vermittlung des Rechtsgesetzes zukämen. Das genannte D i l e m m a lasse sich nämlich vermeiden, „ w e n n man daran denkt, daß das Rechtsgesetz nicht etwa nur an den Einen, m i t Ausnahme des anderen, sich richte, sondern daß es für alle freien Wesen, ohne Ausnahme g e l t e . " 6 8 Z u d e m liege i m Rechtsgesetz, daß rechtliche Verpflichtungen keine einseitigen Selbstverpflichtungen (wie i n der M o r a l ) , sondern notwendig reziproke Verbindlichkeiten zwischen mindestens z w e i Personen enthielten: „Die Selbstbeschränkung beider ist gegenseitig durcheinander [...]. Sie findet für keinen von beiden statt, wenn sie nicht für alle beide stattfindet." 69 Erst das Rechtsgesetz, nicht schon das Urrecht, enthält ein Prinzip ursprünglicher Grenzziehung zwischen rechtlich erlaubtem und verbotenem Freiheitsgebrauch, und nur durch die Vermittlung des Rechtsgesetzes w i r d das Urrecht einer A n w e n d u n g auf wirksame Handlungen i n der Sinnenwelt fähig; demnach wäre der Rechtssatz k e i n analytisches I m p l i k a t des U r rechts, sondern ein synthetisches praktisches U r t e i l a priori, mittels dessen das Urrecht allererst einer A n w e n d u n g auf empirische Handlungen fähig wird, die i h m sonst abginge. „Das Urrecht muß daher doch eine durch das Rechtsgesetz bestimmte Quantität haben, wenn durch den Gebrauch desselben die Verletzung eines Rechts möglich sein soll". 7 0
68
Ebd., S. 121. Ebd., S. 121. 70 Ebd., S. 120. Diese Formulierung Fichtes läßt es allerdings offen, ob bereits das Urrecht als solches ein quantitatives Prinzip enthält, das aufgrund unachtsamen Sprachgebrauches verkannt wird und durch die Formulierung des Rechtsgesetzes lediglich herausinterpretiert wird, oder ob letzteres, wie das Urrecht, ein praktisches synthetisches Urteil a priori ist, das den Inhalt des Urrechts qualitativ erweitert, und das, wie dieses, aus keinem vorausgesetzten Begriff oder Prinzip abgeleitet werden kann. Urrecht und Rechtsgesetz wären dann beide und gleichermaßen „ursprüngliche Begrifffe] der reinen Vernunft"; vgl. Naturrecht, Einleitung, S. 8. I m ersten Paragraphen der Deduktion des Urrechts beispielsweise hatte Fichte unmißverständlich klargestellt, daß dem durch „Abstraktion [...] hervorgebrachte[n] Begriff [des Urrechts] zwar ideale Möglichkeit (für das Denken), aber keine reelle Bedeutung" zukomme, was man immerhin so verstehen kann, daß das Urrecht, als eine theoretisch notwendige Fiktion, von sich aus keiner weiteren Quantifizierung zugänglich ist; vgl. Naturrecht, § 9, S. 112. Unentschieden bleibt demnach, ob vermittels des Rechtsgesetzes das Urrecht selber quantitative Bestimmungen erhält oder ob lediglich die durch das Rechtsgesetz vermittelte Anwendung des Urrechts in Form eines positiven Zwangsrechtes eine quantitative Differenzierung bewirkt. 69
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf die zwei Komponenten des Urrechts Wenn eine Rechtsverletzung möglich sein soll, mithin „irgendein Gebrauch der Freiheit widerrechtlich" sein muß, obwohl das Urrecht „aufgestelltermaßen unendlich" sein soll, 7 1 „so muß der rechtliche Gebrauch [...] des Urrechts, in bestimmte Grenzen eingeschlossen sein." 7 2 Die Antwort darauf, welches Prinzip geeignet ist, die Grenzen des rechtlichen Gebrauchs der Urrechte zu bestimmen, jenseits derer der Lädierte seinerseits rechtlichen Zwang auszuüben berechtigt wäre, lautet: „[Das] Zwangsrecht tritt nur da ein, wo das Gleichgewicht des Rechts verletzt worden ist". 7 3
Dies geforderte und gesuchte ,Gleichgewicht des Rechts4 soll nichts anderes sein als ein „allen gleiches Recht", d.h. es soll ein Kriterium bzw. ,Schema' für eine (zunächst) allgemeine begriffliche Grenzziehung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Gebrauch des Urrechtes bieten, damit das Prinzip der gleichen reziproken Rechte überhaupt auf empirische Fälle angewendet werden kann. Erst wenn dieser Limes gefunden ist, läßt sich das abstrakt-individualistische Urrecht vermittels des Rechtsgesetzes in „angewandtes Naturrecht" 74 transformieren; denn das Rechtsgesetz als solches bietet dieses Kriterium noch nicht: es ist, wie das Urrecht, „aufgestelltermaßen nur formal, und bestimmt keine Quantität. Es setzt bloß das Daß, keineswegs aber das Inwieweit" 15 Die zu findende Proportion zwischen erlaubtem und unerlaubtem Urrechtsgebrauch, soll bewirken, daß dem rechtlichen Gebrauch, den eine beliebige Person von ihrem Urrecht macht, solche Grenzen gesetzt werden, daß eine beliebige Person „neben ih[r] frei sein könne, und daß auch für [sie] eine Sphäre der freien Wirksamkeit übrigbleibe." 76 Um des gesuchten ,Schemas' jenes ,,Gleichgewicht[s] des Rechtes" willen, konstruiert Fichte zunächst drei mögliche Situationen, in denen der 71 72 73 74 75 76
Naturrecht, § 12, S. 120. Ebd. Naturrecht, § 12, S. 120. So der Titel des zweiten Teils der Naturrechtslehre; vgl. Naturrecht, S. 191. Naturrecht, § 12, S. 122. Ebd., S. 121.
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf das Urrecht
25
Einzelne sein Urrecht in formeller Übereinstimmung mit dem Rechtsgesetz realisieren kann, ohne doch zu einer bestimmten Selbstbeschränkung seiner Willkür verpflichtet zu sein. Entscheidend ist, daß mit diesem dreistufigen Schema zugleich geben
werden,
ex negativo
die praktischen
daß ein Rechtsverhältnis
Voraussetzungen
zwischen
Personen
dafür möglich
angeist,
wobei zunächst von den Inhalten des im Rechtsverhältnis zu realisierenden Urrechts abstrahiert wird. (a) Die radikalste Abstraktion besteht darin, nur eine einzige Person als Handlungssubjekt anzunehmen: „Wenn, wie es bei Deduktion des Urrechts geschieht, eine Person in der Sinnenwelt isoliert gedacht wird, so hat sie so lange, als sie keine Person außer ihr kennt, das Recht, ihre Freiheit so weit auszudehnen, als sie kann und will, und, wenn es ihr beliebt, die ganze Sinnenwelt für sich in Besitz zu nehmen." 77
Denn nur ein wahrgenommenes wirkliches, nicht schon ein bloß „mögliche [s] Wesen, das ich nicht kenne, verbindet mich zur Selbstbeschränkung." 7 8 Im solipsistischen Extremfall also kann ich mein Urrecht gemäß dem Rechtsgesetz dadurch in Anspruch nehmen, daß ich mir hinsichtlich der Objekte meiner Wirksamkeit keinerlei Schranken auferlege, denn „die Bedingung unter der [das Urrecht] beschränkt sein müßte, fällt weg." 7 9 Dies wäre in Kants Terminologie eine „ursprüngliche Erwerbung [...], welche nicht von dem Seinen eines andern abgeleitet ist." 8 0 Bei Kant freilich folgt aus der ursprünglichen Erwerbung, insofern sie bloß okkupativen Charakter hat, noch kein Rechtsanspruch, der mögliche andere Personen verpflichten könnte. „Durch einseitige Willkür kann ich keinen andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde: also nur durch vereinigte Willkür aller in einem Gesamtbesitz." 81
Auch nach Fichte fehlt jeder einseitigen Handlung im hypothetischen solipsistischen Zustand, sei es lediglich ein mentaler Vorgang, sei es eine physische Operation an einem Objekt, eine originäre eigentumskonstitutive Funktion: „Durch bloße Subordination, unter meine Zwecke, erhalte ich nur in dem eingebildeten Zustande des Urrechts einen Besitz; ich erhalte ihn dadurch nur, als für mich selbst gültig". 8 2
77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 122. Ebd. Ebd. Kant, M A R (Fn. 30), § 10, A B 77. Kant, MAR, § 12, A B 81, 82. Naturrecht, § 12, S. 129.
26
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf das Urrecht
(b) Erst die reelle „Erkenntnis eines freien Wesens außer mir", nicht schon das Wissen um dessen Möglichkeit, verpflichtet mich, „nicht mehr bloß und lediglich auf die Möglichkeit [meiner] Freiheit, sondern auch auf die der Freiheit des anderen zu sehen." 83 Die bloße Erkenntnis eines anderen neben mir bietet freilich kein verläßliches Kriterium für die Bestimmung desjenigen konkreten Maßes an Selbstbeschränkung, die die Möglichkeit der Koestistenz der eigenen Freiheit mit der des anderen sicherstellen würde; die bloße Beachtung der Freiheitsmöglichkeit des anderen ist nämlich ein höchst flexibler, situativ variabler Maßstab für eigenes rechtsgesetzliches Verhalten: „es bleibt beim Allgemeinen, ist ein leerer Begriff, und gar keiner Anwendung fähig." 8 4 (c) Überdies zwingt mich die aus der Erkenntnis des physisch koexistierenden anderen resultierende Verpflichtung, die Möglichkeit seiner Freiheit neben der meinen zu beachten, nicht ohne Weiteres dazu, meinen rechtlichen Freiheitsgebrauch auch zu beschränken. Insofern nämlich die Handlungen des anderen seinerseits die Möglichkeit meiner äußeren Freiheit nicht berücksichtigen, ist er „rechtlos", 85 und ich bin meinerseits nicht zur einseitigen Selbstbeschränkung verbunden, weil ich sonst mein Urrecht aufs Spiel setzen würde. „Soll daher aus meiner Erkenntnis des anderen ein Rechtsverhältnis erfolgen, so muß die Erkenntnis, und die dadurch geschehene Beschränkung der Freiheit gegenseitig sein. Also - alles Rechtsverhältnis zwischen bestimmten Personen ist bedingt durch ihre wechselseitige Anerkennung durcheinander, durch dieselbe aber auch vollkommen bestimmt"* 6
Fichte diskutiert anschließend die beiden zureichenden Möglichkeitsbedingungen für die Erkenntnis einer konkreten rechtsgesetzlichen Verpflichtung zur Selbstbeschränkung - wechselseitige Wahrnehmung (b) und Anerkennung der Rechtssubjekte (c) - in Hinblick auf die möglichen Objekte der negativen Rechtspflichten: die Freiheit des Leibes und das Recht auf äußeres Eigentum. Als die zwei inhaltlichen Komponenten des Urrechtes, auf die die Bedingungen der Möglichkeit rechtlicher Beziehungen angewandt werden sollen, nannte Fichte nämlich: „1. das Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes (d.i. daß auf ihn unmittelbar nicht eingewirkt würde.) 2. das Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesamte Sinnen weit." 8 7 83
Naturrecht, § 12, S. 123. Ebd., S. 121. „Wenn einer dem anderen sagt: tue das nicht, es stört meine Freiheit; warum sollte der andere ihm nicht antworten: und es stört die meinige, es zu unterlassen"; vgl. ebd. 85 Naturrecht, § 12, S. 123. 86 Ebd. 87 Naturrecht, § 11, S. 119. 84
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf das Urrecht
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(1) Hinsichtlich der urrechtlichen Freiheit des Leibes, d.h. des Rechtes auf Freiheit von physischer Nötigung, ergibt bereits die Erkenntnis der anderen Person neben mir eine konkrete Unterlassungspflicht als Anwendung des Rechtsgesetzes in der Sinnenwelt: Ich bin einerseits kategorisch „von dem Räume ausgeschlossen, den derselbe jedesmal einnimmt." 8 8 Der „Leib eines vernünftigen Wesens, [ist] zufolge des Urrechts, notwendig frei, und unantastbar", so daß sich meine Willkür überall „hin erstrecken [kann], nur nicht dahin, wo dieser Körper" des anderen ist. 8 9 Andererseits bin ich rechtlich nur unter der Bedingung zu dieser Selbstbeschränkung verpflichtet, daß „der andere gleichfalls mich erblicke, und mich so setze, wie ich ihn gesetzt habe, welches an sich notwendig ist", aber für das Selbstbewußtsein der Interagierenden zufällig. Da auch die allerelementarste Rechtspflicht zur Respektierung der physischen Autonomie jeder Einzelperson erstens von der wechselseitigen Wahrnehmung als physische und freie Personen und zweitens von der symmetrischen Selbstverpflichtung, d.h. der reziproken Anerkennung gleicher Rechte abhängt, so bleibt auch dieses basale Urrecht eines jeden auf physische Selbstbestimmung problematisch. (2) Man kann erwarten, daß die zweite Komponente des Urrechts, das „Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesamte Sinnenwelt", mindestens ebenso viele, wenn nicht mehr oder komplexere praktische Implikationen enthält, als das Recht auf physische Integrität. Die ersten beiden Paragraphen der Deduktion des Rechtsbegriffs führten zu dem Schluß, daß, sobald ich eine andere Person als mit mir koexistierend wahrnehme, ich zugleich annehmen muß, daß diese, wie ich selbst, will, „daß irgendein Effekt in der Sinnenwelt [ihrem] Begriff korrespondiere". 90 Deswegen muß ich unterstellen, daß die andere Person, ebenso wie ich, Eigentumsansprüche auf bestimmte Objekte der uns gemeinsamen Sinnenwelt erhoben hat, auch wenn ich nicht weiß, um welche es sich handelt. Die den jeweiligen Zwecken entsprechenden Objekte müßten für die koexistierenden und einander als freie Wesen wahrnehmenden und anerkennenden Personen wechselseitig unter Nutzungstabus stehen, wenn ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen möglich sein soll. Solange aber die jeweils intendierten Sachen nur innerhalb des Bewußtseins der fürsichseienden Akteure bestimmt sind, bleibt die Erkenntnis der Objekte der jeweiligen Eigentumsansprüche für den anderen und damit das Recht des präsumtiven Eigentümers problematisch. Es ist möglich, aber nicht sicher, daß es gewahrt wird. Unter den Bedingungen der wechselseitigen Wahrnehmung der füreinander freien Personen (b) und der reziproken 88 89 90
Naturrecht, § 12, S. 124. Ebd. Ebd.
28
5. Das Gleichgewicht der Rechte in Hinblick auf das Urrecht
Anerkennung ihrer Wirksamkeitsansprüche (c) als Grundlage von Rechten ergibt sich nämlich, daß ohne Kenntnis der Quantität und Qualität der Objekte der jeweiligen Zwecksetzung keine Anerkennung der jeweiligen Willkürsphären erfolgen kann; mithin bleibt das Eigentumsrecht unter diesen defizitären Bedingungen bestimmungslos und hat daher allenfalls provisorisch-rechtlichen Charakter. Die - neben der wechselseitigen Wahrnehmung als Personen und der Anerkennung ihrer Rechtssubjektivität - zusätzliche und dann auch zureichende Bedingung der Möglichkeit eines Rechtsverhältnisses ist die, daß jeder Akteur die Objekte der Zwecksetzung des oder der anderen kennt. Andernfalls ist durch diese „Unwissenheit [...] auch sogar die Möglichkeit aufgehoben, uns als rechtsfähige Wesen gegeneinander zu bewähren." 91 Die Frage ist, welche konkreten Handlungspflichten sich für den Eigentum Beanspruchenden ergeben, wenn von seiner Seite gewährleistet sein soll, daß jeder Akteur Kenntnis von den besonderen Objekten der Zwecksetzungen anderer Personen haben kann. Eine bloße physische Inbesitznahme von Objekten kann als rechtlich verbindlicher Grund für meine Eigentumsansprüche nicht zureichen, weil es immer möglich bleibt, daß mir bislang unbekannt gebliebene occupationes von seiten anderer Personen der meinen zeitlich vorhergingen; im Kollisionsfall blieben, selbst wenn, was in der Regel nicht der Fall sein dürfte, die zeitliche Reihenfolge der Okkupationen zweifelsfrei erkennbar wäre, letztlich nur moralische Entscheidungsgründe übrig, die aber lediglich gesinnungsabhängige und mithin zufällige Entscheidungsmaßstäbe abgeben könnten. „Beide Teile selbst können es nicht allemal wissen, welcher von beiden früher sich der streitigen Sache bemächtigt habe; oder wenn sie es wissen könnten, so beruht der Entscheidungsgrund auf dem Gewissen eines jeden, und ist zu äußerem Rechte gar nicht beständig." 92
Die einzig effektive Möglichkeit, den eingetretenen Rechtsstreit zu entscheiden, liegt in der Anwendung von Gewalt, die freilich das Recht überhaupt aufhebt: „Es entsteht zwischen ihnen ein Rechtsstreit, der nicht zu entscheiden ist, und ein Streit der physischen Kräfte, der nur mit der physischen Vernichtung, oder der gänzlichen Vertreibung eines von beiden, sich enden kann." 9 3
91
Naturrecht, § 12, S. 125; vgl. Immanuel Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie (im folgenden zitiert als „Reflexion"), Reflexion No. 7726, in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (im folgenden zitiert als „ A A " ) , Bd. X I X , S. 501: „ I n statu naturali ist jedes ius ein ius dubitum". 92 Naturrecht, § 12, S. 126. 93
Ebd., S. 126.
6. Das Principium exeundum e statu naturali Solange dieser (Natur-)Zustand der „ U n w i s s e n h e i t " fortbesteht, i n dem es für beide Akteure ungewiß ist, welches die Objekte rechtlicher Ansprüche und entsprechender (Unterlassungs-) Pflichten sind, ist es „ u n m ö g l i c h , daß [ . . . ] ein rechtliches Verhältnis entstehe." 9 4 Fichtes Formulierung des Prinzips „exeundum esse e statu n a t u r a l i " , 9 5 das, w i e gelegentlich auch bei Kant, i n die F o r m eines hypothetischen Imperativs gekleidet ist, lautet: „Wer das Recht will, muß notwendig wollen, daß dieser Zustand aufgehoben werde. [...] Wer ihn nicht aufheben will, der äußert allein dadurch, daß er das Recht nicht wolle, und dem Rechtsgesetze sich nicht unterwerfe; wird sonach rechtlos, und berechtigt zu einem unendlichen Zwange." 9 6 Fichtes Analyse der praktischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll der ,peremtorisch-rechtliche
Zustand 4 w i r k l i c h werden können, läßt
sich i n f ü n f Schritte unterteilen: (1) Der erste elementare praktische Schritt, der aus dem Naturzustand als einem Zustand der „ U n w i s s e n h e i t " 9 7 herausführt, ist ein intrapsychischer Vorgang: gefordert ist zunächst ein A k t der quantitativen Selbstbeschrän-
94
Ebd. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Β 135, in: ders. Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 7, Darmstadt 1975, S. 756. 96 Naturrecht, § 12, S. 126. Die entsprechende Kantische Formulierung, in der das kategorisch verpflichtende prinzipium exeundum e statu naturali als hypothetischer Imperativ formuliert wird, lautet: Es liegt „a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen [...] niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin das erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustände, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d.i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten"; vgl. Kant, M A R (Fn. 30), § 44 (Herv. v. Verf., U. T.). 95
Naturrecht, § 1 , S.
1 .
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6. Das Principium exeundum e statu naturali
kung des Willens desjenigen, der rechtliche Ansprüche auf die exklusive Nutzung von Objekten erheben will: „Demnach muß zuvörderst jede Person, sobald ihr die Existenz einer Person außer ihr bekannt wird, ihren Besitz überhaupt beschränken auf ein endliches Quantum der Sinnenwelt." 98
Ohne diese quantitative Limitierung der Objekte von Besitzansprüchen bliebe der im hypothetischen solipsistischen Zustand legitime Anspruch auf die „ganze Sinnenwelt" 99 bestehen und die äußere Freiheit aller anderen wäre potentiell vernichtet. Daher ist jede der koexistierenden Personen „rechtlich verbunden, dem anderen etwas, als Objekt seiner freien Wirksamkeit, übrigzulassen". 100 Diesem Verteilungsprinzip hat jeder Besitzanspruch „in Erwartung und Vorbereitung" eines peremtorisch-rechtlichen Zustandes 101 zu genügen, ohne daß sich aus dieser Rechtspflicht freilich schon Kriterien für die konkreten quantitativen Grenzen legitimen Eigentums ergäben: „Welches bestimmte Quantum aber jeder gewählt habe, oder wählen wolle, hängt ab von seiner Freiheit." 1 0 2
Zunächst ist jeder potenzielle bzw. präsumtive Eigentümer verpflichtet, „sich darüber innerlich zu bestimmen", welches Quantum an äußeren Objekten ihm rechtlich angehören soll. Dennoch ist diese vorerst nur subjektive Willensbestimmung keine moralische Pflicht, sondern eine Rechtspflicht a priori; denn nur vermittels der dezisiven Beschränkung der eigenen äußeren Besitzansprüche kann dem Rechtsgesetz gemäß die Freiheit anderer möglich sein. Dieser Rechtspflicht entspricht die Erlaubnis, andere zur komplementären Willensbestimmung als dem ersten Schritt zur Aufhebung des natürlichen Zustandes der Unwissenheit zu zwingen. „Jeder ist rechtlich verbunden, sich darüber innerlich zu bestimmen, und der andere hat das Recht, den Unentschlossenen zu zwingen, einen festen Entschluß zu fassen; denn solange noch die Unentschlossenheit fortdauert, findet weder Recht, noch Sicherheit statt." 1 0 3
(2) Damit diese wechselseitige, den rechtlichen Zustand nur erst ermöglichende Willensbestimmung einen rechtskonstitutiven Effekt haben kann, muß eine entsprechende Handlung erfolgen, die zweierlei zu leisten hat: Erstens muß durch diese Handlung ausgeschlossen werden, daß die Selbstbegrenzung des Anspruchs auf rechtlichen Besitz lediglich „ i m Bewußtsein 98
Ebd. Ebd. 100 Naturrecht, § 12, S. 127 (Herv. v. Verf., U. T.). 101 Kant, M A R , § 9, AB 74. 102 Naturrecht, § 12, S. 127. 103 Ebd.
99
6. Das Principium exeundum e statu naturali verbleibt"; 1 0 4 sie hat notwendig in der Form einer öffentlichen Erklärung, d.h. einer declaratio, zu erfolgen. Zweitens muß diese Deklaration, wie jede Recht ermöglichende Handlung, gegenseitig geleistet werden. Der Eigentumsrecht überhaupt ermöglichenden Pflicht zur „Deklaration seines Besitzes" 1 0 5 entspricht die korrespondierende Befugnis, den anderen „zu dieser Erklärung, zur Deklaration seines Besitzes zu zwingen, weil ohne sie gleichfalls weder Recht noch Sicherheit stattfindet." 106 Nach Fichte hängt „alles rechtliche Verhältnis" an der „gegenseitige [n] Deklaration" 1 0 7 hinsichtlich der intendierten endlichen Materie exklusiver Nutzungsansprüche. Weigert sich mithin eine der koexistierenden Personen, ihren partikularen Besitzanspruch öffentlich zu deklarieren, so ist davon auszugehen, daß sie den ,Naturzustand der Unwissenheit4 nicht verlassen will, wodurch der sich Erklärende, aber auch nur dieser, ein Zwangsrecht gegenüber dem sich nicht Erklärenden erwirbt. (3) Die gegenseitige öffentliche Deklaration von Besitzansprüchen ist freilich nur erst die notwendige noch nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit des peremtorischen Rechtsverhältnisses. Die Deklarationen können sich nämlich ausschließen, „wenn beide Ansprüche auf dieselbe Sache machen". 1 0 8 In diesem Fall läßt sich der Konflikt durch „Rechtsgründe [...] gar nicht entscheiden." 109 Die einzige Möglichkeit zwischen deklarierten Eigentumsansprüchen auf identische Sachen zu entscheiden, läge im Nachweis der „früheren Besitznehmung" nach der „Rechtsformel: Qui prior tempore, potior jure" 110 bzw. „res nullius cedit primo occupanti". 1 1 1 Doch dies kann, so Fichte, „keiner von beiden dartun". 1 1 2 Der von beiden Kontrahenten erhobene Anspruch auf eine rechtsbegründende prima occupatio läßt jeden Versuch einer unabhängigen Prüfung in einen regressus ad infinitum münden, weil sich beide Ansprüche letztlich nicht auf reale Handlungen gründen, deren zeitliche Aufeinanderfolge nachweisbar wäre; das, „was [...] das Recht des Besitzes begründet, die Deklaration des Willens, etwas zu besitzen, ist auf beiden Seiten gleich; es ist sonach auf beiden Seiten das gleiche Recht." 1 1 3
104 105 106 107 108 109 110 111 112 113
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Kant, M A R , § 10. Naturrecht, § 12, S. 133. Ebd., S. 127. Ebd.
32
6. Das Principium exeundum e statu naturali
Für den Fall kontradiktorischer, weil hinsichtlich der Sache identischer Willensdeklarationen bieten sich nach Fichte genau zwei Lösungsperspektiven an, von denen die erste den Zustand bloß provisorischen Besitzes perpetuierte, während die zweite den „absolut widerrechtlichen]" Zustand des bellum omnia contra omnes herbeiführen würde. Im ersten Fall werden die konträren Eigentumsansprüche durch Vergleich 1 1 4 miteinander vermittelt, wobei allerdings kein Zwangsrecht gegenüber demjenigen beansprucht werden kann, der sich dem Vergleich verweigert: er hat schließlich „einen bestimmten Besitz gewählt, und denselben deklariert, und sonach seine Verbindlichkeit gegen das Rechtsgesetz erfüllt." 1 1 5 Wenn nun im zweiten Fall ein Vergleich, aus welchen Gründen immer, 1 1 6 ausgeschlossen ist, „entsteht ein unauflöslicher Rechtsstreit", der den schlechterdings rechtswidrigen Zustand des Krieges erzeugt, in dem nicht Rechte, sondern Zufälle über den Ausgang des Konfliktes entscheiden. 117 (4) Solange Vergleiche zwischen vergangenen oder gegenwärtigen kontradiktorischen Besitzdeklarationen zustande kommen, hat, so scheint es, keiner der Kontrahenten gegenüber dem anderen ein Recht, ihn zum Beitritt in den status civilis zu zwingen. Die Frage ist allerdings, ob sich dies dann ändert, wenn die Möglichkeit zukünftiger Kollisionen von Besitzdeklarationen in Rechnung gestellt wird. So ist es beispielsweise nicht auszuschließen, daß zwei Kontrahenten bis zum gegenwärtigem Zeitpunkt strittige Apprehensionen oder Deklarationen durch Vergleiche schlichten konnten, nun aber hinsichtlich der prima occupatio bislang herrenloser Objekte in unauflöslichen Streit geraten. „Diese zweite Deklaration, und Anerkennung und die möglicherweise folgenden sind eben den Schwierigkeiten unterworfen, wie die erstere; beide können dasselbe besitzen wollen, und beide haben das gleiche Recht es zu wollen. Es kann über dieses problematische Recht beider noch immer ein nicht aufzulösender Rechtsstreit, und ein Krieg entstehen, der sich nur mit dem Untergange eines von beiden, oder beider, endigen k a n n . " 1 1 8
Aus den bisherigen Erörterungen folgt: Die bloße Deklaration von Besitzansprüchen kann also ebensowenig wie die bloße „physische Inbesitzneh114
Vgl. Carl Creifelds (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 3. Aufl., München 1973, S. 1176 f.: „Der Vergleich ist ein gegenseitiger Vertrag, durch den der Streit oder die Ungewißheit der Parteien im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. [...] Der Vergleich läßt an sich das ursprüngliche streitige Rechtsverhältnis bestehen." 115 Naturrecht, § 12, S. 128. 116 Ein Grund für die Unmöglichkeit eines Vergleichs könnte darin bestehen, daß die beanspruchte Sache für die physische Existenz der Kontrahenten gleichermaßen unverzichtbar ist bzw. als solche gewertet wird. 117 Naturrecht, § 12, S. 128. 118 Ebd., S. 132.
6. Das Principium exeundum e statu naturali mung (apprehensio physica)" 1 1 9 genügen, damit zwischen strittigen exklusiven Nutzungsrechten sei es „vor dem eigenen Bewußtsein", sei es vor einem „Gerichtshofe des äußeren Rechtes" 1 2 0 auch in Zukunft auf allgemeingültige Weise entschieden werden kann. „Besitznehmung und Deklaration müssen sonach synthetisch vereinigt werden; oder strenger, das okkupierte Objekt muß bei der Okkupation so bestimmt werden, daß der andere dasselbe nicht erkennen könne, ohne zugleich die geschehene Okkupation zu erkennen. Das Objekt selbst muß deklarieren: als es müssen Zeichen der geschehenen Besitznehmung zwischen beiden verabredet werden." 1 2 1
Damit ein „vollständiges und sicheres Rechtsverhältnis errichtet" und ein „beständiger Friede geschlossen" werden kann, hat nach Fichte jeder das „Recht, den anderen, zur Zustimmung zu irgendeiner, für beide geltenden Regel, über die zukünftige Zueignung zu zwingen". 1 2 2 Diejenige Regel, nach der provisorisch-rechtlicher Besitz möglich wird, kann - so Fichte allein das Prinzip der prima occupatio sein, insofern sie Apprehension und Deklaration in sich vereinigt. Weder durch die bloße physische Inbesitznahme, deren Priorität sich nicht zweifelsfrei beweisen läßt, noch durch die bloße Deklaration, 123 sondern erst durch die symbolische Begrenzung des Objektes der Eigentumsdeklaration entsteht ein prüfbarer Rechtsanspruch auf dieses Objekt; denn nur durch diese okkupative, das Objekt des Besitzanspruchs durch Bezeichnung begrenzende und bestimmende Handlung kann „alle fernere Möglichkeit des Rechtsstreites verhütet werden". 1 2 4 „Das Zeichen ist also nie etwas Überflüssiges, sondern der notwendig fortdauernde Rechtsgrund; und wenn der Eigentümer dasselbe wegnimmt, oder es zugrunde gehen läßt, so ist er anzusehen, als ein solcher, der sein Eigentumsrecht aufgegeben h a t . " 1 2 5
Auch Kant definiert „Bemächtigung (occupatio)" 1 2 6 als den „rechtliche[n] A k t " , 1 2 7 der eine „ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der W i l l k ü r " 1 2 8 möglich macht, und unterscheidet an ihr drei (und nicht, wie es bei Fichte den Anschein hat, zwei) Komponenten: 119
Kant, MAR, § 15. Naturrecht, § 12, S. 134. 121 Ebd. 122 Naturrecht, § 12, S. 132 (Herv. v. Verf., U. T.). 123 Die Deklaration von Besitzansprüchen kann deswegen nicht genügen, weil die für die Beteiligten „herrenlose Sache (res neutrius) [...] gar wohl der Besitz eines [unbekannten] Dritten, und von ihm seinen Zwecken untergeordnet sein" kann; vgl. Naturrecht, § 12, S. 131. 124 Naturrecht, § 12, S. 134. 125 Naturrecht, § 12, S. 135. 126 Kant, M A R , § 10. 127 Kant, M A R , § 14. 128 Kant, MAR, § 10. 120
3 Thiele
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6. Das Principium exeundum e statu naturali
„Die Momente (attendenda) der ursprünglichen Erwerbung sind also: 1. Die Apprehension eines Gegenstandes, der Keinem gehört, widrigenfalls sie der Freiheit Anderer nach allgemeinen Gesetzen widerstreiten würde. Diese Apprehension ist die Besitznehmung des Gegenstandes der Willkür i m Raum und der Zeit; der Besitz also, in den ich mich setze, ist (possessio phaenomenon. 2. Die Bezeichnung (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür jeden anderen davon abzuhalten. 3. Die Zueignung (appropriatio) als Akt eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden w i r d . " 1 2 9 A u c h für Fichte sind die beiden M o m e n t e der physischen Inbesitznahme und der Deklaration, die zusammengenommen eine Okkupation ausmachen, unverzichtbar, u m einen provisorisch-rechtlichen, d.h. einen potentiell peremtorisch-rechtlichen Besitz zu begründen. M i t der zugleich deklarierenden Apprehension
sind freilich
nur
erst diejenigen
Handlungspflichten
des
Rechte überhaupt Beanspruchenden benannt, die distributive Gerechtigkeit möglich
machen, noch nicht diejenigen, die sie notwendig oder auch nur
w i r k l i c h machen; denn alles Recht hängt nach w i e vor daran, daß die handelnden Personen die Rechtsverbindlichkeit nicht nur ihrer eigenen Okkupationen, sondern auch der aller anderen anerkennen: „Also ihr Eigentumsrecht, d. i. das Recht des ausschließenden Besitzes wird vollendet durch die gegenseitige Anerkennung, ist durch sie bedingt, und findet ohne diese Bedingung nicht statt. Alles Eigentum gründet sich auf die Vereinigung mehrerer zu Einem W i l l e n . " 1 3 0 I m natürlichen Zustand des bloßen Privatrechts kann dieser distributive Gerechtigkeit ermöglichende Gemeinwille
allein auf den kontingenten K o n -
sens der Kontrahenten, d.h. die wechselseitige moralische Anerkennung der j e w e i l i g Rechtspositionen Beanspruchenden, gegründet sein: „Die Möglichkeit des Rechtsverhältnisses zwischen Personen auf dem Gebiete des Naturrechts ist durch gegenseitige Treue und Glauben bedingt." 1 3 1 (5) D i e einzige praktische Option, die zureichend wäre, u m sowohl die Zufälle, die an den bloß privatrechtlichen, auf intersubjektive Anerkennung abgestellten Distributionsmodi h a f t e n , 1 3 2 als auch die Recht zerstörenden 129
Kant, M A R , § 10. Naturrecht, § 12, S. 129; vgl. Kant, M A R , § 15: „[Denn] durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden." 131 Naturrecht, § 13, S. 139; vgl. Bartuschat (Fn. 10), S. 188: „Die Verbindlichkeit des Allgemeinen ist hypothetisch bedingt; sie steht unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Wollens und besteht nicht unabhängig davon. [...] Das Rechtsgesetz gilt nur unter der Bedingung des rechtsgemäßen Betragens der einzelnen. Ist diese Bedingung bei einem nicht gegeben, fällt die Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes auch für den anderen weg. Er kann sich in der Behandlung des anderen auf die Willkür des bloß Naturalen zurückziehen, dergegenüber sich der andere auf kein Recht berufen kann, weil er es selbst außer Kraft gesetzt hat." 130
6. Das Principium exeundum e statu naturali
35
Konsequenzen des ,Rechtes des Stärkeren 4 sicher zu vermeiden, kann nur darin bestehen, daß die Kontrahenten ein für allemal darauf verzichten, Richter in eigener Sache zu sein. Sie müssen „die Entscheidung ihres Streites einem Dritten übergeben, ihm ohne Vorbehalt ihr Rechtsurteil, über den gegenwärtigen Fall, und die Garantie seiner Entscheidung, für die Zukunft überlassen, also ihr Recht zu urteilen, und ihre physische Macht ihm unterwerfen: - nach dem obigen, sie müssen sich miteinander an ein gemeines Wesen anschließen" 133 Fichtes Beweisführung stimmt mit der Kantischen in der Sache überein: der Okkupant hat entweder die Möglichkeit, im „Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit zu sein und zu bleiben [...], der kein rechtlicher ist, d.i. in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist", wodurch erkennbar werde, daß der so Entscheidende „allen Rechtsbegriffen entsagen w i l l " . 1 3 4 Oder der Okkupant entscheidet sich dazu, „sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand zu treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil w i r d " . 1 3 5 Dennoch scheint das Naturrecht von 1796 wenn auch nicht in der Konklusion, so doch in den Prämissen von Kants Rechtslehre erheblich abzuweichen: Nach Fichte bieten sich für denjenigen, der seinen, mit dem Anspruch eines anderen kollidierenden Eigentumsanspruch nicht aufgeben will, neben der Option, im Naturzustand zu verbleiben und auf das , Recht 132 Im Naturzustand ist „niemand verbunden [...], sich dem rechte eines andern wider allen seinen Vortheil zu unterwerfen, wofern er nicht sicher ist, daß sein Recht eben soviel Wirkung bey dem andern haben wird"; vgl. Kant, Reflexion No. 7726, in: A A , Bd. X I X , S. 500 f. 133 Naturrecht, § 12, S. 128 (Herv. v. Verf., U. T.); vgl. Kant, M A R , § 9, A B 74: „Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammen zu treten, worin jenes gesichert werden kann. - Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch-rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustande angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde." 134 Kant, MAR, § 42. 135 Kant, M A R , § 44; vgl. Wolf gang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/New York 1984, S. XI: „Okkupation und Arbeit sind für Kant bar jeder rechtlichen Eigenbedeutung; sie besitzen lediglich Zeichencharakter; mit ihnen beginnt das äußere Recht als ein bestimmtes, sie begründen es aber nicht, sondern subsumieren nur einen Gegenstand unter das synthetisch-apriorische Gesetz des intelligiblen Besitzes und den Zueignungswillen der vereinigten distributiven Willkür."
3*
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6. Das Principium exeundum e statu naturali
des Stärkeren 4 zu setzen, zwei rechtliche Optionen an, von denen freilich nur die letztere Vernunftgründe a priori auf ihrer Seite hat. Der, dessen zugleich deklarierende Apprehension in Hinblick auf ihre Materie mit der meinen identisch ist, kann sich „entweder [...] gutwillig fügen, oder sich mit [mir] an ein gemeines Wesen anschließe[n]44. Nur darauf, daß sich der andere entschließt, entweder seinen mit dem meinen kontradiktorischen Eigentumsanspruch ganz aufzugeben bzw. einem, die beiden Ansprüche mediatisierenden , privatrechtlichen 4 Vergleich zuzustimmen oder mit mir zusammen in den „bürgerlichen Zustand [...] einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft" 136 einzutreten, „nicht daß er das eine oder das andere tue, sondern daß er Eins von beiden wähle, - hat jeder ein Zwangsrecht, weil außerdem kein rechtliches Verhältnis zwischen beiden entstehen würde, welches doch zufolge des Rechtsgesetzes entstehen soll."137 Der Eindruck, Fichte habe, im Gegensatz zu Kant, für den eine ursprüngliche Erwerbung und einen auf sie gegründeten rechtlichen Besitz Beanspruchenden drei (und nicht, wie bei Kant, zwei) rechtliche Handlungsoptionen vorgesehen, erweist sich freilich, genauer besehen, als Täuschung. Die Option, im Zustand des natürlichen Privatrechts zu verbleiben und, statt eine äußere distributive Gerechtigkeit zu institutionalisieren, Rechtsentscheidungen über kontroverse subjektive Rechte mittels bipolarer Vergleiche zu vermeiden, kann nur für vergangene nicht aber für alle möglichen Okkupationen genügen: Jeder Okkupant hat daher das Recht, andere Okkupanten dazu zu zwingen, mit ihm einen „Vertrag über das Eigentum" 1 3 8 schlechthin zu schließen, der nicht nur vergangene Okkupationen, sondern ebenso alle zukünftigen einschließen muß, und dessen Rechtsregel nach Fichte keine andere sein kann als die der prima occupatio. Demnach wären die ,gutwillige Fügung4 in geschehene Okkupationen oder die Zustimmung zu mediatisierenden Vergleichen zwar als mit dem Eigentumsvertragsprinzip konkludente Verhaltensakte zu weiten, die aber als nach wie vor gesinnungsabhängige Handlungen keinerlei Gewähr für die Zukunft bieten könnten. 1 3 9 Für den Eigentumsrechte Beanspruchenden wäre es gerade nicht erlaubt, statt einen allgemeingültigen, alle potentiellen Okkupationen im Voraus regelnden Eigentumsvertrag abzuschließen, im Zustand des natürlichen Privatrechts zu beharren und lediglich okassionell, durch bilaterale Vergleiche bzw. Verzichtserklärungen, Eigentumskonflikte beizulegen. 136
Kant, MAR, § 41, A 156, Β 155, 156. Naturrecht, § 12, S. 127. 138 Ebd., S. 135. 139 Naturrecht, § 13, S. 137 ff.; vgl. Kant, Reflexion No. 7717, in: A A , Bd. X I X , S. 499: „Der status iuridicus ist der Zustand einer iustitia commutativae ohne distributivam. Das ist aber nur bei vollkommenen Menschen möglich." 137
6. Das Principium exeundum e statu naturali D a m i t wäre Fichtes vermeintliche A b w e i c h u n g v o n Kant, jedenfalls i n einem wichtigen Punkt, als eine nur scheinbare erwiesen: Wer eigentumsrechtliche Ansprüche geltend macht, ist kategorisch verpflichtet, allen anderen äquivalente Rechte zuzusichern.
Diese Sicherheit kann, auch nach
Fichte, niemand den anderen leisten, es sei denn, er träte aus dem Zustand des natürlichen Privatrechts, i n dem zwar Zwang, aber kein Rechtszwang e x i s t i e r t , 1 4 0 heraus; diesen höherstufigen, allen anderen symmetrische E i gentumssicherheit
unabhängig v o n Treu und Glauben
gewährleistenden
Rechtszustand zu begründen, wäre f o l g l i c h aus der Handlungsperspektive des nicht nur für die Vergangenheit oder Gegenwart, sondern auch für Zukunft
Rechte Beanspruchenden
141
eine k a t e g o r i s c h e
142
die
und keine hypo-
thetische R e c h t s p f l i c h t . 1 4 3 140 Vgl. Kant, Reflexion No. 7649, in: A A Bd., X I X , S. 477: „Der status naturalis ist der Zustand der Freyheit ohne Rechtszwang." 141 Allein für denjenigen - so wird Kant ein Jahr nach Fichtes Naturrecht argumentieren - , der nicht bereit ist, auf Rechtsansprüche überhaupt Verzicht zu tun, gibt es eine kategorische Rechtspflicht, den Naturzustand zu verlassen: Nur für den, der „nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will", ist das „erste, was ihm zu beschließen obliegt, [...] der Grundsatz [...]: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d.i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten"; vgl. Kant, M A R , § 44 (gesperrt im Original, kursiv von mir, U. T.). 142 Beispielsweise ist es nach Kant nicht nur eine Tugendpflicht, sondern auch eine kategorische Rechtspflicht, die sich aus dem Postulat des öffentlichen Rechtes ergibt, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, weil ich im Falle einer „vorsetzlich unwahren Deklaration gegen einen anderen Menschen" dazu beitrage, das Vertragsrecht insgesamt zu untergraben. „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem Andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter weise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d.i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird"; vgl. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, A 304 f., in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 7, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, S. 638; zu Kants Rückbindung des exeundum-Prinzips an das „Recht der Menschheit", wodurch das Postulat des öffentlichen Rechts als eine kontextunabhängige „innere Rechtspflicht" eines jeden gesetzt werde, vgl. Hans Friedrich Fulda, Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42), in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 5 (1997), hrsg. v. B. Sharon Byrd/Joachim Hruschka/Jan C. Joerden, Berlin 1998, S. 267290, bes. S. 288 ff.
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6. Das Principium exeundum e statu naturali
Fichte widmet sich der Beweisführung zugunsten der kategorischen Notwendigkeit des im Vergleich mit dem natürlichen Privatrecht höherstufigen öffentlichen Zwangsrechts mit besonderer Sorgfalt, da an ihr die gesamte kontraktualistische Begründung des Staatsrechts hängt. „Die Schärfe der ganzen folgenden Untersuchung [über den notwendigen Übergang von der Deduktion des Urrechts zum Zwangsrecht] hängt davon ab," daß die Subjekte des Privatrechts „in allen künftigen freien Handlungen, sich nach dieser Verabredung richten."144 Fichte verfährt in der Weise, daß er privatrechtliche Verträge und den gesuchten peremtorisches Eigentumsrecht hervorbringenden Vertrag hinsichtlich der jeweiligen Vertragsinhalte, Geltungsgründe und Befolgungsgründe miteinander vergleicht. Jener die Regeln des rechtlichen Eigentumserwerbs festlegende Vertrag müßte - was privatrechtliche Verträge nicht leisten können - sicherstellen, daß die Kontrahierenden nicht nur hinsichtlich ihrer bisherigen Willkürakte, sondern „in allen künftigen freien Handlungen, sich nach dieser Verabredung richten. Mithin wird in dieser Verabredung vorausgesetzt das Vertrauen eines jeden auf den andern, daß derselbe sein Wort, nicht etwa nur hier, und da wo es ihm gut dünke, halten, sondern daß er es sich zum unverbrüchlichen Gesetze machen werde." 1 4 5 Der Inhalt jenes eigentumsrechtlichen , Grundvertrages 4 würde demnach alle zukünftigen Handlungen der Kontrahierenden einschließen, d.h. er wäre für diejenigen, die ihn geschlossen haben, nach Vertragsabschluß mit einem absoluten Kündigungsschutz versehen. Ein bloß einstufiger, bilateraler Vertrag zwischen naturrechtlich Gleichgestellten, der keinen Kündigungsschutz enthält bzw. diesen, sollte er überhaupt deklariert sein, nicht effektiv gewährleisten kann, ist dagegen auf die spontane Selbstreproduk143 Hinsichtlich der Frage, ob es bei Fichte eine kategorische Rechtspflicht gibt, die Rechte anderer auch dann zu respektieren, wenn diese nicht gewillt sind, die meinen zu achten oder sie tätig verletzen, besteht Wolfgang Bartuschat zu Recht auf dem hypothetischen Verpflichtungscharakter des Rechtsgesetzes; vgl. Bartuschat (Fn. 10), S. 186 f. Auch Ludwig Siep betont den hypothetischen Charakter der Pflicht zum Rechtsgehorsam: „Fichte hat auf diesen hypothetischen' Charakter des Rechtsgesetzes immer wieder hingewiesen. Es gibt für ihn, anders als für Kant, keinen kategorischen Imperativ des Rechts"; vgl. Ludwig Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, in: ders. (Fn. 23), S. 81-115, 87. Damit ist freilich die Frage nach der Verbindlichkeit des exeundum-Prinzips für denjenigen, der seine Rechtsansprüche auch für die Zukunft rechtsgesetzlich gesichert wissen will, noch nicht mitbeantwortet. Hervorgehoben werden sollte vielmehr, daß Fichte (wie Kant) in der kategorischen exeundum-Pflicht des peremtorisches Recht Suchenden die einzige praktische Option sieht, die aus dem Begründungszirkel, der aus einer strikt intersubjektiven Theorie rechtlicher Verpflichtung resultieren muß, herausfühlt.
144 145
Naturrecht, § 13, S. 138 u. 137 (Herv. v. Verf., U. T.). Ebd., S. 137.
6. Das Principium exeundum e statu naturali tion seiner intersubjektiven Geltungsvoraussetzungen angewiesen, ohne diese doch garantieren oder gar erzeugen zu können: 1 4 6 „Treue und Glauben, vermittels deren Freiheit und Sicherheit auch herrschen könnten, lassen sich nicht nach einem Gesetze hervorbringen, so daß man auf sie sicher rechnen könnte. 1 4 7
Wegen der irreduziblen Unsicherheit, der jeder Kontrahent hinsichtlich des zukünftigen vertragsmäßigen Handelns der anderen ausgesetzt i s t , 1 4 8 146
Damit nimmt Fichte einen Einwand Hegels vorweg, ohne ihn freilich wie dieser gegen Kontraktualismen im allgemeinen und Rousseaus Gesellschaftsvertragslehre im besonderen zu wenden. Erst der politische „Staat ist das Dasein, die Macht des Rechts, das Halten des Vertrags und (des Bleibens bei seinem ruhigen Eigentume) die daseiende Einheit des Worts, des ideellen Daseins und der Wirklichkeit, so wie die unmittelbare Einheit des Besitzes und des Rechts, das Eigentum als allgemeine Substanz, das Bleiben, das Anerkanntsein als Geltendes. Gelten ist die Vermittlung des Unmittelbaren, die ebenso unmittelbar geworden. Hier ist die Substanz, ebenso wie sie das unmittelbare Bestehen ist, so das allgemeine Gesetz und das Festhalten dieser Abstraktion gegen den Einzelnen seine gewußte und gewollte Notwendigkeit gegen ihn und die versuchte Ausgleichung dieser leeren Notwendigkeit und seines Daseins. [...] Sie hält darauf, daß der Vertrag erfüllt werde; was für sie ist, ist der gemeinsame Wille; dieser gilt als das Wesen. Die Zweideutigkeit des Sollens, die im Vertrage seinem Begriffe nach liegt, ist verschwunden"; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel y Jenaer Realphilosophie. 1805/06, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Leipzig 1931, Bd. 20, S. 234. 147 Naturrecht, § 13, 142. 148 Im Naturzustand bloß intersubjektiv geltenden Eigentumsrechts wird die Unsicherheit der Person A bezüglich der zukünftigen Vertragstreue der Person Β potenziert durch die Unsicherheit in Hinblick auf die Maximen, die seinem bisherigen legalen Handeln zugrundegelegen haben mögen: „Ist die Anerkennung wechselseitig und erfüllt sich allein i m Handeln, so ist ihr größtes Hindernis die mangelnde Eindeutigkeit von Handlungen, die in sich eine Unsicherheit birgt, die das Anerkennungsverfahren belastet. Es ist nicht nur die Unsicherheit darüber, ob dessen der andere vernünftig und damit zur Anerkennung bereit ist; es ist auch die Unsicherheit darüber, ob dessen Handlungen tatsächlich Ausdruck eines Anerkennungswillens sind. Die Konsequenz, die hierfür bei dem anderen vorausgesetzt wird, ist nicht an dessen Handlungen ablesbar, so daß ungewiß bleibt, ob des anderen Handlung Ausdruck seiner Konsequenz ist und nicht nur zufällig damit übereinstimmt, dergestalt daß sie künftighin eine andere Gestalt annehmen wird. Neben der Temporalität ist es die Vielfalt der Verhältnisse, in die einer mit anderen geraten kann und von der der eine nie sicher sein kann, inwieweit der andere, konfrontiert mit besonderen Umständen, i m Hinblick darauf konsequent sein wird"; vgl. Bartuschat (Fn. 10), S. 190. Originellerweise kehrt Kant die Perspektive, aus der die Unsicherheit zukünftigen rechtlichen Handelns betrachtet werden kann, um. Die Neigungen von Alter Ego gelten unter Naturzustandsbedingungen nur deswegen als chronisches Sicherheitsrisiko des reziprozitären Vertragsrechts, weil Ego den wesentlich instrumentellen Charakter der Motivation zur Respektierung der Rechte anderer an sich selber feststellen kann und er nicht die geringste Veranlassung haben kann, bei anderen höherrangige Motive zu unterstellen: „Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten.
40
6. Das Principium exeundum e statu naturali
und die auf der Ebene des vorpolitischen und i n diesem Sinne einstufigen Gesellschafts- bzw. Eigentumsvertrages unauflöslich bleiben muß, würde das p r i n c i p i u m exeundum e statu naturali gerade nicht erfüllt werden. D o c h soll der Eigentumsvertrag
als Bedingung sicheren Eigentums
überhaupt
auch dann fortgelten, wenn die ursprünglichen, allemal interessebedingten Befolgungsgründe für eine der Kontraktparteien entfallen sind. „Die Sicherheit beider soll nicht von einem Zufalle, sondern von einer, der mechanischen gleichenden Notwendigkeit abhängen, von welcher eine Ausnahme gar nicht möglich sei." 1 4 9 Umgekehrt soll die zukünftige Sicherheit der Eigentumsrechte aus einer f r e i w i l l i g e n Übereinkunft, die zukünftige freie Handlungen der Kontrahenten ermöglicht, und nicht aus ,mechanisch wirkendem 4 Z w a n g resultieren: „Der Zirkel [ist] der: die Möglichkeit des gegenseitigen Freilassens ist bedingt durch die ganze künftige Erfahrung; aber die Möglichkeit der künftigen Erfahrung ist bedingt durch das gegenseitige Freilassen." 150 D i e notwendigen Bedingungen sowohl des Vertragsschlusses w i e auch seiner zukünftigen Geltung, sind aber i m privatrechtlichen Zustand allein Treu und Glauben. Es gibt dort weder ein natürliches Recht, die faktische Beachtung des pacta-sunt-servanda-Prinzips zu e r z w i n g e n , 1 5 1 noch lassen sich innere Zustände des Subjekts (als p r i n c i p i i executionis Vertragstreuen Handelns) überhaupt m i t rechtlichen, ergo äußeren M i t t e l n h e r b e i f ü h r e n . 1 5 2 „Unsere ganze Argumentation in der Deduktion eines Gleichgewicht des Rechts dreht sich in einem Zirkel [...] und der Rechtsbegriff scheint noch immer als leer und ohne alle Anwendung." 1 5 3 Er darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt wird; denn was sollte ihn verbinden, allererst durch Schaden klug zu werden, da er die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich, der Macht oder List nach, diesen überlegen fühlen) in sich selbst hinreichend wahrnehmen, und es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten"; vgl. Kant, MAR, § 42. 149 Naturrecht, § 13, S. 138. 150 Naturrecht, § 8, S. 100; vgl. Rousseaus gleichsinnige Formulierung des „Problem^], dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt"; vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (im folgenden zitiert als „Gesellschaftsvertrag"), 1.6, übers, u. hrsg. v. Hans Brockard, Stuttgart 1977, S. 17. 151
Wie Kant, der ein Jahr später die „Materie der Willkür, d.i. de[n] Zweck" (Kant, MAR, Einleitung in die Rechtslehre, § Β, A 33, Β 33) rigoros aus dem Vernunftbegriff des Rechts ausgrenzen wird, trennt Fichte die Moralität von der Legalität des Handelns: „Jeder hat nur auf die Legalität des anderen, keineswegs auf seine Moralität Anspruch"; vgl. Naturrecht, § 13, S. 140. 152 Naturrecht, § 13, S. 139. 153 Ebd., S. 137.
7. Die Notwendigkeit der Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht Auf vorpolitischem, bloß gesellschaftlichem Terrain des natürlichen Privatrechts ist demnach die sichere Anwendung des äquilibristischen Rechtsprinzips auf alle potenziellen Erfahrungsfälle von vornherein ausgeschlossen: Es ist möglich, aber nicht notwendig, daß der »gesellschaftliche Eigentumsvertrag 4 auch in Zukunft gehalten wird. Der Endzweck jenes ,,Vertrag[s] über das Eigentum" 1 5 4 ist auch im vorpolitischen Zustand die „gegenseitige rechtliche Freiheit und Sicherheit [...] zufolge des Rechtsgesetzes". 155 Treu und Glauben können, wie gezeigt, jenen Zweck nur kontingenterweise, nicht aber nach einer allgemeinen Regel erreichen, da sich Vertragstreue nicht „nach einem allgemeinen Gesetze hervorbringen [läßt], so daß man auf sie sicher rechnen könnte." 1 5 6 „[Jener] Zweck muß also durch dasjenige realisiert werden, durch welches allein er nach einer Regel realisiert werden kann: und dies ist allein das Zwangsgesetz. Mithin liegt die Aufgabe, eine solche Anstalt zu errichten, im Rechtsgesetze." 157
Ein Zwangsgesetz ist - dies mag hier zur Begriffsklärung genügen - eine praktische Regel, die festlegt, daß immer dann, wenn eine Handlung des Typs A stattfindet, ein Sanktion des Typs X als seine Rechtsfolge eintritt, wobei es im gegenwärtigen Zusammenhang noch nicht bedeutend ist, wer als Autor des Gesetzes vorgesehen ist und wer zur Ausübung des gesetzlichen Rechtszwanges befugt sein soll; entscheidend ist nur, daß letzterer mit Notwendigkeit auf die entsprechende gesetzwidrige Handlung erfolgt. Zwar sei es weder möglich noch aus Naturrechtsgründen zulässig, jene Zwangsgesetze so zu institutionalisieren, daß sie als „mechanische Naturgewalt" unmittelbar widerrechtliches Handeln verunmöglichen würden, „weil dadurch der Mensch, auf dem Gebiete des Rechtsbegriffes, zu einer bloßen Maschine gemacht, und die Freiheit seines Willens für nichts gerechnet würde." 1 5 8 Wenn auch Fichte des öfteren betont, die Sicherheit der Personen und ihres Eigentums sollte, vermöge des Zwangsrechts, mit einer „der mechanischen gleichenden Notwendigkeit" 1 5 9 gewährleistet werden, so 154 155 156 157 158
Naturrecht, § 12, S. 135. Naturrecht, § 14, S. 142. Ebd., S. 142 f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 140.
42
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht
betont er i m Gegenzug, die „ z u treffende Veranstaltung müßte sonach an den Willen selbst sich
richten":160
„Wenn es nun so eingerichtet werden könnte, daß aus dem Wollen jedes unrechtmäßigen Zwecks notwendig, und nach einem stets wirksamen Gesetze, das Gegenteil des Beabsichtigten erfolgte, so würde jeder rechtswidrige Wille sich selbst vernichten." 1 6 1 I m Unterschied z u m natürlichen bzw. nur erst gesellschaftlichen Privatr e c h t 1 6 2 einerseits und z u m mechanischen 4 Naturgesetz andererseits soll dieses System v o n Zwangsgesetzen so beschaffen sein, daß jede beliebige Person erstens voraussehen kann, „daß aus ihrer Wirksamkeit, [die gesetzl i c h verbotene Handlung] A zu realisieren, notwendig das Gegenteil v o n A erfolgen werde". Zweitens müsse das Zwangsgesetz den Effekt haben, daß jede zweckrational entscheidende Person aus der Kenntnis des Gesetzes den Schluß ziehen würde, auf die Realisierung v o n A zu verzichten. Das Ideal allen Zwangsrechtes bestünde laut Fichte i n einem Rechtssystem, dessen generelle Gesetze so wirkten, daß der W i l l e der Rechtsunterworfenen zur Beschränkung auf rechtliches Handeln nicht nur motiviert, sondern geradezu genötigt
würde.
„Wenn demnach eine mit mechanischer Notwendigkeit wirkende Veranstaltung getroffen werden könnte, durch welche aus jeder rechtswidrigen Handlung das Gegenteil ihres Zwecks erfolgte, so würde, durch eine solche Veranstaltung, der Wille genötigt, nur das Rechtmäßige zu w o l l e n . " 1 6 3
159
Naturrecht, § 13, S. 138. Naturrecht, § 14, S. 140. 161 Ebd., S. 141. 162 Der Naturzustand ist keineswegs ein rechtloser Zustand, sondern ein Zustand mannigfaltiger gesellschaftlicher Rechtsbeziehungen, die teils allein auf kommutative Verteilungsregeln gegründet sind, teils über eigene distributive Verteilungsmechanismen verfügen. Diesen partikularen Rechtsgemeinschaften beizutreten kann keine kategorische Rechtspflicht gebieten, weil diese keine Garantie für eine unabhängige distributive Gerechtigkeit bieten können. „Der nicht-rechtliche Zustand, d. i. derjenige, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand (wie Achenwall meint), und der ein künstlicher (status artificialis) heißen könnte, sondern der bürgerliche (status civilis) einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft entgegen gesetzt; denn es kann auch im Naturzustände rechtmäßige Gesellschaften (z.B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: ,Du sollst in diesen Zustand treten 4 , wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daß alle Menschen, die mit einander (auch unwillkürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen"; vgl. Kant, M A R , § 41. 160
163 Naturrecht, § 14, S. 142. Auch bei Kant finden sich Formulierungen, die die Wirkungsweise des Zwangsrechts in Begriffen der zeitgenössischen Mechanik erläutern, wobei freilich deutlich genug der (unvollkommene) Analogiecharakter betont wird: „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht
43
Sieht man v o n der u n g l ü c k l i c h gewählten Analogie von Zwangsrecht und M e c h a n i k a b , 1 6 4 dann besteht der wesentliche Z w e c k der §§ 14 und 15 darin, das Prinzip des Zwangsgesetzes aufzustellen und die i n i h m enthaltenen elementaren Bestimmungen des entsprechenden politischen Institutionensystems zu benennen. Letzteres soll vor allem anderen ausschließen, daß irgend j e m a n d genötigt wäre, i n eigener Sache als Richter aufzutreten und sein Recht m i t M a c h t zu verwechseln. Ungenügend institutitionalisiertes Zwangsrecht würde über kurz oder lang den Naturzustand reetablieren, i n dem das „Recht der Menschen tendenziell rechtens sich selbst [ . . . ] zerstört".165 I n § 15 zieht Fichte aus dem i n § 14 entwickelten „Prinzip aller Zwangsgesetze" eine Reihe v o n Folgerungen für die „ E i n r i c h t u n g eines Zwangsgesetzes", die teils nur sehr knapp skizziert werden, teils nicht
immer
trennscharf voneinander abgegrenzt sind, jedenfalls aber rechtliche Handlungspflichten für denjenigen bedeuten, der (unter nachtraditionalen gesellschaftlichen Bedingungen) Rechtssicherheit i n Eigentumsfragen
erlangen
will.
wechselseitigen Zwanges, unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit, ist gleichsam die Konstruktion jenes Begriffs, d.i. die Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung"; vgl. Kant, M A R , Einleitung, § E, A 37, Β 37, 38. Ausdrücklich warnt Kant in der dritten Kritik vor einer möglichen Fehlinterpretation dieser und ähnlich lautender Passagen: „So kann ich mir nach der Analogie mit dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung der Körper unter einander auch die Gemeinschaft der Glieder eines gemeinen Wesens nach Regeln des Rechts denken; aber jene spezifischen Bestimmungen (die materielle Anziehung oder Abstoßung) nicht auf diese übertragen und sie den Bürgern beilegen, um ein System, welches Staat heißt, auszumachen"; vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 90, Β 450, A 444, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1975, S. 595. 164 Würde das Zwangsgesetz den zwischen Handlungsoptionen Wählenden zu gesetzmäßigen Handlungen nötigen, dann wäre es freilich kein deontisches Freiheitsgesetz, sondern ein ontisches Gesetz i m Sinne eines »sozialen Naturgesetzes 4, obwohl es doch erklärtermaßen, wie das Rechtsgesetz überhaupt, „keineswegs ein mechanisches Naturgesetz, sondern ein Gesetz für die Freiheit" sein sollte; vgl. Naturrecht, § 7, S. 91. Zu den dezidiert antiliberalen politischen Implikationen der Orientierung Fichtes am naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff seiner Zeit vgl. Ludwig Siep, Einheit und Methode von Fichtes „Grundlage des Naturrechts", in: Siep (Fn. 23), S. 41-64, 59 f.; zur Frage, inwiefern eine freiheitsrechtliche Verfassung mit einem ,Grundrecht auf Sicherheit 4 (Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983) und einem entsprechend auf generalpräventive Funktionen zugeschnittenen Interventionsstaat vereinbar ist, vgl. Erhard Denninger, Der gebändigte Leviathan. Einleitung, Baden-Baden 1990, S. 23 ff., 57. 165
Fulda (Fn. 142), S. 287.
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht
44
(1) Diese gesuchte „Veranstaltung" oder „ A n s t a l t " , die geeignet wäre, „nach verlorener Treue und G l a u b e n " , 1 6 6 d.h. unter - i m Vergleich m i t traditionalen Sozialordnungen - komplexen und kontingenten modernen gesellschaftlichen B e z i e h u n g e n , 1 6 7 die gegenseitige Sicherheit auch zukünftigen rechtlichen Eigentums zu gewährleisten, hat nach Fichte erstens ein generelles
Gesetz
zu sein, das kategorisch
für
alle diejenigen
Personen
A n w e n d u n g findet, deren Verhalten unter die Antezedenzbedingungen des Gesetzes fällt. E i n Zwangsgesetz zeichnet sich demnach zunächst dadurch aus, daß ,ohne Ansehen der Person 4 bestimmte inkriminierte Verhaltensakte bestimmte Rechtsakte zur Folge haben. (2) Weiter hat jenes Gesetz ein (potenziell) zwingendes
Gesetz zu sein.
Wenn sich das Zwangsgesetz v o m Naturrecht primär dadurch unterscheidet, daß es den W i l l e n der Einzelnen zu rechtlichem Handeln nötigen können soll, dann muß dieses Gesetz zwar nicht selbst ein Strafgesetz i m engeren Sinne sein; w o h l aber muß das Zwangsgesetz für den F a l l des Zuwiderhandelns für den Lädierenden solche Sanktionen
vorsehen, daß die dem Lädier-
ten erwachsenen Nachteile nachträglich ausgeglichen werden. Dies geht beispielsweise aus der folgenden Passage hervor: „Wenn nun, durch ein, mit mechanischer Notwendigkeit herrschendes Zwangsgesetz, jede Beschädigung der Rechte des anderen, Beschädigung der meinigen wird, so werde ich für die Sicherheit der letzten dieselbe Sorge tragen, welche ich für die Sicherheit der meinigen trage, da durch die getroffene Veranstaltung, die Sicherheit des anderen vor mir, meine eigene Sicherheit wird. Kurz, jeder Verlust, der durch meine Unbesonnenheit dem anderen erwachsen ist, muß mir selbst zugefügt werden." 1 6 8
166 Naturrecht, § 14, S. 142. Man kann Fichtes Bemerkung über den Verlust von ,Treu und Glauben4 sowohl als Anspielung auf nachtraditionale Privatrechtsbeziehungen in der modernen Gesellschaft wie auch als strukturelles Argument verstehen, das Gerechtigkeitsdefizite in fiktiven vorstaatlichen Gesellschaften benennt, in denen jede Vertragsverletzung die Nichtigkeit der Verpflichtungen der Vertragspartner zur Folge haben muß. In beiden Fällen aber kann Fichtes Annahme eines egoistischen Sicherheitsstrebens auf anthropologische Konstanten verzichten; vgl. dazu Ludwig Siep, Einheit und Methode von Fichtes ,Grundlage des Naturrechts 4, in: ders. (Fn. 23), S. 41^64, S. 57 ff. 167 Nach Niklas Luhmann läßt sich der Übergang zum modernen Recht als „movement from status to contract 44 (vgl. Herny S. Maine , Ancient Law. Its Connections with early History of Society and its Relations to modern Ideas (1861), London/ New York/Toronto 1954, S. 141) beschreiben, wobei diese Transformation des traditionalen Rechts in modernes Recht mit dem „Umbau der Gesellschaft von segmentärer in funktionale Differenzierung 44 einhergehe; vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 14 f. Die notwendige Kehrseite des Übergangs zu funktionaler Differenzierung gesellschaftlicher Rollenzuweisungen sei die Zunahme von Komplexität und Kontingenz: „Komplexität heißt [...] praktisch Selektionszwang, Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken 44 ; vgl. ebd., S. 31.
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht Unter der ,worst-case-Hypothese 4 eines vollständigen »Verlustes von Treu und Glauben4 und eines entsprechenden allgemeinen Egoismus können nur solche Zwangsgesetze die »verlorene 4 sittliche Sicherheit des Besitzes kompensieren, die sicherstellen, daß für den Rechtsverletzer „die gleiche Verletzung seines eigenen Rechts unausweichlich erfolge. 44169 (3) Das Rechtsverletzungen sanktionierende Zwangsgesetz verlangt drittens eine „den Angreifer unwiderstehlich bestrafende Macht 4 4 , 1 7 0 die keinesfalls die des Lädierten sein kann. Wer immer die Notwendigkeit der Institutionalisierung einer äußere Zwangsgesetze exekutierenden Zwangsgewalt bestreiten würde, müßte (kontrafaktisch) behaupten, „daß jeder bestimmt soviel Gewalt hätte, als Recht. 4 4 1 7 1 Mit der Hypostasierung dieses allenfalls kontingenten Entsprechungsverhältnisses zwischen Gewalt und Recht aber bliebe der Naturzustand und mit ihm das „Recht auf uneingeschränkte prophylaktische Aggressivität 44172 unüberwindbar. (4) Schließlich verlangt die Einrichtung des Zwangsgesetzes „positive Gesetze 44 , 173 wobei Fichte freilich nicht genügend deutlich macht, ob die Forderung nach Positivität als eigenständige Bestimmung des zu institutionalisierenden Zwangsrechts gedacht ist oder ob sie in den bereits angeführten Kriterien enthalten sein soll. (5) Das derart bestimmte Zwangsgesetz erfordert - so die Schlußfolgerung - notwendig die Einrichtung eines gemeinen Wesens: 168 Naturrecht, § 14, S. 145. Ludwig Siep weist auf die parallele Argumentation Kants in der Friedensschrift (Kant, Zum ewigen Frieden, Β 61, A 60) hin: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten*"; vgl. Siep (Fn. 23), S. 57. 169 Naturrecht, § 15, S. 146. 170 Ebd. 171 Naturrecht, § 15, S. 148. Daher behandelt Kant die Ausdrücke äußere Gerechtigkeit und distributive Gerechtigkeit gelegentlich als Synonyme: „Die Möglichkeit eines Status iustitiae externae oder distributivae. [...] Weil niemand von einem anderen etwas fo[r]dern kann, ausser so fern er ihm dagegen Sicherheit giebt, daß er nach denselben Gesetzen auch gegen ihn sein Recht erlangt, so muß ein principium seyn, welches von dem privatwillen eines jeden unterschieden ist und so wohl das Gesetz als die Anwendung und Ausführung desselben enthält"; vgl. Kant, Reflexion No. 7727, in: A A , Bd. X I X , S. 501. 172 Vgl. Ludwig Siep, Einheit und Methode von Fichtes »Grundlage des Naturrechts', in: ders. (Fn. 23), S. 41-64, 58.
1
Naturrecht, § 15, S. 1 4 .
46
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht
„Es ist sonach gar keine Anwendung des Zwangsrechts möglich, außer in einem gemeinen Wesen: außerdem ist der Zwang stets nur problematisch rechtmäßig, und eben darum ist die wirkliche Anwendung des Zwanges, als ob es ein kategorisches Recht dazu gäbe, stets ungerecht." 174
(6) Nachdem die fünf praktischen Folgerungen aus dem Prinzip des Zwangsgesetzes entwickelt sind, bezeichnet Fichte erstmalig die geforderte, „mit mechanischer Notwendigkeit wirkende Veranstaltung" 175 als „Staat". 176 Erst mit dem Begriff des Staates, der mittels der Explikation der im Prinzip des Zwangsgesetzes enthaltenen Forderungen an die Einrichtung des Zwangsgesetzes gefunden wurde, habe man diejenige „Anstalt" zureichend qualifiziert, die erforderlich wäre, damit Zwangsrecht und „realisierte^] Naturrecht" 17 7 koinzidierten. Erstaunlich ist, daß Fichte, wie ein Jahr nach ihm Kant, 1 7 8 den Begriff des Staates erst dort einführt, wo (in Kants Sprache) die philosophische Konstruktion der Begriffe und Prinzipien des natürlichen Privatrechts an ihr Ende gelangt, und in der Frage nach der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes zum öffentlichen Recht übergegangen werden muß. Wie bei Kant markiert die Einführung des Staatsbegriffes den Punkt, an dem alle praktischen (hier: rechtlich-institutionellen) Implikationen des principium exeundum e statu naturali vollständig entwickelt sind. 1 7 9 Dem Sinn nach durchaus kantisch lautet das Fazit der bisherigen Untersuchung: „Es ist [...] kein Naturrecht, d.h. es ist kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich, außer in einem gemeinen Wesen, und unter positiven Gesetzen. 180 [...]. [Der] Staat selbst wird der Naturstand des Menschen, und seine Gesetze sollen nicht anderes sein, als das realisierte Naturrecht." 181 174
Ebd. Naturrecht, § 14, S. 142. 176 Naturrecht, § 15, S. 149. 177 Ebd. 178 Als systematischer Begriff wird ,Staat' erstmals i m § 43 der Rechtslehre, mit dem der Staatsrechtsabschnitt des 2. Teiles über das öffentliche Rechts beginnt, verwendet. 179 Daß Fichte den Begriff des Staates mit Bedacht einführt, wird auch dadurch deutlich, daß er zuvor ausschließlich in der Einleitung (Naturrecht, S. 14) verwendet wird, also weder in der „Deduktion des Begriffs vom Rechte" noch in der „Deduktion der Anwendbarkeit des Rechts" vorkommt, sondern in der „systematischen Anwendung des Rechtsbegriffs" erst im allerletzten Satz des Kapitels über das Zwangsrechts auftaucht, dessen Folgesatz bereits dem Staatsrecht angehört. 180 Vgl. die sehr ähnliche Formulierung in: Kant, Reflexion No. 7665, in A A , Bd. X I X , S. 482: „Es ist kein Recht oder Eigenthum ohne Gesetz. [...] Demnach ist kein Recht ohne Unwiderstehliche Gewalt. Aber es giebt wohl gründe des Rechts und der Gesetze, ehe diese Gewalt errichtet ist, und darauf müssen sich die Gesetze gründen. Diese Gründe des rechts sind aber so der Gemeinschaftliche Wille in potentia, so wie von den Staatsgesetzen der gemeinschaftliche Wille actu. Also fängt alles Eigenthumsrecht nur in der bürgerlichen Gesellschaft an." 175
181
Naturrecht, § 15, S. 149.
7. Transformation des natürlichen Privatrechts in Zwangsrecht Was für Kants Rechtslehre deswegen unproblematisch ist, weil diese zwischen Souverän und Staatsgewalt unterscheidet, wird sich für Fichtes Lehre vom Staatsbürgervertrag und der auf ihn gegründeten Staatsrechtslehre, insbesondere was die Frage nach der naturrechtsgemäßen Staatsform betrifft, als aporetische Annahme erweisen: die Forderung, alle, die ein rechtliches Verhältnis untereinander anstreben, müßten „alle ihre Rechte jenem Dritten unbedingt unterwerfen." 182 Werden alle Rechte (und nicht nur deren Ausübung) restlos auf den Staat übertragen, dann läßt sich nur schwer ein inner- oder auch subpolitisches Souveränitätsresiduum der Individuen vorstellen, von dem ausgehend gegen Rechtsakte der Staatsorgane, die definitiv naturrechtswidrig ausfielen, normativ höherrangige bzw. ursprünglichere Rechtspositionen geltend gemacht werden könnten.
182 Naturrecht, § 8, S. 101; vgl. dazu Michael Köhler, Die Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte, in: Kahlo u.a. (Fn. 10), S. 93-126, 110 f.
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt? Für den Aufbau und die innere Konsistenz der Staatsrechtslehre ist § 16 von entscheidender Bedeutung: Er soll mit dem „Begriff des gemeinen Wesens" alle wesentlichen Komponenten des Staatsrechts entwickeln. Zu ihnen zählt neben dem Staatsbürgervertrag als ein „gestufte[s] System von aufeinander aufbauenden Verträgen" 183 das Staatsrecht im engeren Sinne, d.h. ein System von Rechtsnormen für die Organisation und die Verteilung der Kompetenzen der verschiedenen Zweige der öffentlichen Gewalt. Darüber hinaus aber nimmt § 16 deswegen eine herausragende Stellung ein, weil er als Scharnier zwischen dem in §§ 13-15 entwickelten Begriff und Prinzip des Zwangsrechts einerseits, das seinerseits die Anwendbarkeit des Urrechts überhaupt erst ermöglichen sollte, und dem Staatsrecht als des ,,realisierte[n] Naturrechtis]" 1 8 4 andererseits gedacht ist. Im Begriff des Staates, dessen „Deduktion" § 16 leisten will, soll nämlich die vollständige Lösung der im „Prinzip aller Zwangsgesetze" gestellten Aufgabe enthalten sein, wie „eine Macht zu realisieren [ist], durch welche zwischen Personen, die beieinander leben, das Recht, oder das was sie notwendig alle wollen, erzwungen werden könne." 1 8 5 Ich möchte mich im folgenden auf den organisatorischen Aspekt des Staatsbürgervertrages beschränken, der die kontraktuelle Festlegung der Staats- und Regierungsform betrifft. Fichtes Aussagen sollen mit dem Contrat social einerseits und mit Kants Position von 1797 andererseits verglichen werden. Abschließend werden etwaige Diskrepanzen im Zusammenhang mit Eigentümlichkeiten des Fichteschen Eigentumsvertrages diskutiert. Seinem Selbstverständnis nach strikt an Rousseau orientiert, untersucht Fichte unter dem Begriff des Staatsbürgervertrages die Kennzeichen desjenigen Entscheidungsverfahrens, dessen Resultat das , Staatsrecht4 als reali183 Ludwig Siep grenzt den „Vertrag zur Einrichtung einer rechtsdurchsetzenden Zwangsgewalt" vom „Staatsbürgervertrag" ab und nennt als Komponenten des letzteren „Eigentumsvertrag [...], Schutzvertrag [...], Vereinigungsvertrag [...], Unterwerfungsvertrag [...] und einen selbst noch einmal abgestuften Abbüßungsvertrag"; vgl. Ludwig Siep, Naturrecht und Wissenschaftslehre, in: Siep (Fn. 23), S. 19-40, 38. 184 Naturrecht, § 15, S. 149.
185
Naturrecht, § 16, S. 150.
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
49
siertes Naturrecht sein soll. 1 8 6 Gesucht wird mithin ein Verfahren, mittels dessen ein ,,gemeinsame[r] Wille" zustande kommt, dessen Objekt [...] die gegenseitige Sicherheit" i s t . 1 8 7 Weil unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen bzw. unter der (realistischen) hypothetischen „Voraussetzung eines allgemeinen Egoismus" 1 8 8 die Rechtssicherheit des anderen allenfalls Mittel meiner Privatzwecke sein kann, 1 8 9 ist realisiertes Naturrecht nur als staatliches Zwangsrecht denkbar, das gleiche Rechte unabhängig von kontingenten Interessenskonvergenzen oder -divergenzen durchsetzt. Soll das von Rousseau formulierte vertragstheoretische Grundproblem gelöst werden, dann muß der Sozialkontrakt sicherstellen, daß der Wille derjenigen „Macht, die das Zwangsrecht ausübt," 1 9 0 nicht seinerseits besondere Zwecke verfolgt, sondern komplementär zu den Privatwillen unparteiisch die Sicherheit aller zum Endzweck hat. „Es ist sonach die Aufgabe des Staatsrechts und [...] der ganzen Rechtsphilosophie: einen Willen zu finden, von dem es schlechthin unmöglich sei, daß er ein anderer sei als der gemeinsame Wille. Oder [...] einen Willen zu finden, in welchem Privatwille, und gemeinsamer Wille synthetisch vereinigt sind." 1 9 1
Die einzig mögliche Auflösung liegt nach Fichte darin, daß der gesuchte Wille, der die „Sicherheit der Rechte aller" zum Endzweck haben soll, mit dem „übereinstimmenden Willen aller" zusammenfällt. 192 Damit ist freilich nur erst der „bloße B e g r i f f jenes Gemeinwillens gegeben. Soll jener Wille nicht nur als hypothetischer, sondern als reeller praktischer Grund staatlichen Zwangsrechts wirksam werden, ist zudem gefordert, „daß der Wille einer bestimmten Anzahl von Menschen, in irgendeinem
Zeitpunkte, wirk-
186
Rousseaus entsprechende Formulierung des vertragstheoretischen Problems lautet: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1.6 (Fn. 150), S. 17. Im Original: „Trouver une forme d'association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s'unissant à tous n'obéisse pourtant qu'à lui-même et reste aussi libre qu'auparavant"; vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social, 1.6, Ed. GF-Flammarion, Paris 1992 (im folgenden zitiert als „Contrat social"), S. 39. 187
Naturrecht, § 16, S. 150. Ebd., S. 152. 189 Keinem „ist es Angelegenheit, daß der Andere vor ihm sicher sei, nur, inwiefern seine eigne Sicherheit vor dem anderen, lediglich unter dieser Bedingung, möglich ist. [...] Jeder ordnet den gemeinsamen Zweck seinem Privatzweck unter"; vgl. Naturrecht, § 16, S. 150. 190 Naturrecht, § 16, S. 151. 191 Ebd.; aus der unmittelbar anschließenden Textpassage geht hervor, daß Fichte unter einer „synthetischen" Vereinigung eine notwendige Vereinigung versteht. 188
192
4 Thiele
Naturrecht, § 16, S. 151.
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
50 lieh
übereinstimmend
werde,
und
sich
als
solcher
äußere,
deklariert
werde."193 Fichte schließt es damit i m Gegensatz zu Kant aus, den Gesellschaftsoder Staatsbürgervertrag als ein kontrafaktisches, bloß hypothetisches legitimationstheoretisches Konstrukt anzusehen, 1 9 4 nach dem beispielsweise aus dem m i t dem j e w e i l i g e n Staatsrecht konkludenten Verhalten der Staatsbürger auf die legitimatorische Fortgeltung jenes f i k t i v e n Einigungsvertrages zu schließen wäre. Jener ursprüngliche Vertrag habe schon deswegen auch ein reeller ( i n Kants Terminologie „ u r a n f ä n g l i c h e r " 1 9 5 ) zu sein, w e i l aus dem Rechtsgesetz als solchem, welches lediglich besage, „daß jeder den Gebrauch seiner Freiheit durch die Rechte des anderen beschränken solle," nicht hergeleitet werden könne, „wie weit die Rechte eines jeden gehen, und auf welche Objekte sie sich erstrecken s o l l e n . " 1 9 6 D i e zureichende Legitimationsgrundlage jeden Staatsrechts liegt demnach i n der ausdrücklichen Beschlußfassung der kontrahierenden
Urrechtssub-
jekte, die sich vermöge diesen Aktes i n Staatsbürger verwandeln.
193
Ebd., S. 152 (Herv. v. Verf., U. T.). Vgl. Kant, M A R , § 47: „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt". Der Gesellschaftsvertrag hat trotz (bzw. wegen) seines fiktiven Charakters neben der Funktion eines legitimationstheoretischen Prüfsteins gegenüber den Entscheidungen des faktischen Souveräns die praktische Funktion einer vernunftbegrifflichen Richtschnur für die weitere, auf die Republik abzielende (politische bzw. verfassungsrechtliche) Ausgestaltung bestehender Staatswesen, die in der Regel gewaltsamen Ursprungs sind: „contractus originarius non est prineipium fiendi (Errichtungsgrund) sed cognoscendi (Verwaltungsgrund) des Staats"; vgl. Kant, Reflexion No. 7956, in: A A , Bd. X I X , S. 564. 195 Kant verwendet z.B. den Begriff einer „ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens" („communio originaria") als Gegenbegriff zu dem der „uranfänglichen" Gemeinschaft („communio primaeva"), welcher den Nachweis eines realhistorischen Gemeinbesitzes des Bodens erfordern würde, während der erste Begriff den gemeinsamen Besitz als legitimationstheoretisch notwendige (aber nicht: faktische) Prämisse rechtmäßigen Privateigentumserwerbes unterstellt; vgl. Kant, M A R , § § 6 , 10, 13. 194
196 Naturrecht, § 16, S. 152 (Herv. v. Verf., U. T.). Irritierend ist, daß Fichte nicht lediglich die Einigung auf bestimmte (distributive) Prinzipien des Eigentumsrechtes zum Gegenstand des Staatsbürgervertrages erklärt, sondern die nachträgliche Verwilligung der konkreten raumzeitlichen Okkupationen der Einzelnen zur Vertragsmaterie hinzurechnet, die doch bei Kant eine Angelegenheit der konstituierten öffentlichen Gewalten, insbesondere des einfachen Gesetzgebers wäre: „Dies muß ausdrücklich erklärt, und so erklärt werden, daß die Erklärungen Aller übereinstimmen. Jeder muß zu allen gesagt haben: ich w i l l an dieser Stelle im Räume leben, und dies, oder jenes, zu eigen besitzen; und alle müssen darauf geantwortet haben: ja, du magst hier leben, und dies besitzen"; vgl. Naturrecht, § 16, S. 152.
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
51
„Es kommt hier darauf an, zu erweisen, daß die geforderte Übereinstimmung sich nicht etwa von selbst finde, sondern daß sie auf einen ausdrücklichen in der Sinnenwelt, zu irgendeiner Zeit wahrzunehmenden, und nur durch freie Selbstbestimmung möglichen Akt Aller sich gründe." 1 9 7 Dies soll auf dreifache A r t gezeigt werden: Erstens erfordere der Staatsbürgervertrag, insofern er i n seiner Qualität als , Status vertrag 4 für die K o n trahierenden qualitativ neue Rechtspositionen e r z e u g e 1 9 8 und demgemäß keine bloß fiktive Voraussetzung sein könne, eine reale
Entscheidung}"
Letztere könne zweitens, insofern die Rechtsstellung jedes Einzelnen m o d i fiziert
würde, nicht durch Mehrheitsentscheid, sondern allein durch einstim-
mige Beschlußfassung
zustande kommen.
„ I m Staatsvertrage überhaupt muß Einstimmigkeit sein [...]. Jeder muß für seine Person erklären, daß er mit dieser bestimmten Volksmenge, in ein gemeines Wesen, zur Erhaltung des Rechts zusammentreten wolle." 2 0 0
197
Naturrecht, § 16, S. 152. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, S. 39, Fn. 23: „Der ,Statusvertrag' steht dem freien Austauschvertrag [...] gegenüber. Der Statusvertrag verändert die rechtliche Stellung der Vertragschließenden innerhalb der rechtlichen Gesamtordnung, verleiht eine neue oder andere rechtliche Eigenschaft bzw. Qualifikation, die ihrerseits Grundlage daraus hervorgehender einzelner Rechte und Pflichten ist; der freie Austauschvertrag hingegen regelt einzelne, umgrenzte Leistungsrechte und -pflichten, welche die Rechtsstellung der Beteiligten gar nicht betreffen." 199 Vgl. Naturrecht, § 16, S. 153: „Der gemeinsame Wille hat sich in einem Zeitpunkt wirklich geäußert, und ist durch den auf ihn geschlossenen Bürgervertrag allgemeingesetzlich geworden." 200 Naturrecht, § 16, S. 178; vgl. auch ebd., § 16, S. 180. Fichte paraphrasiert hier offensichtlich Rousseau, der die Legitimität des Mehrheitsprinzips davon anhängig macht, daß zumindest einmal - in der Abstimmung über die lois fondamentales - Einstimmigkeit entschied: „La loi de la pluralité des suffrages est elle-même un établissement de convention, et suppose au moins une fois l'unanimité;" vgl. Rousseau, Contrat social, 1.5 (Fn. 186), S. 38. Diesen Rekurs auf Rousseau bestreitet Richard Schottky: „ I n dieser Hinsicht geht Fichte nun erheblich andere Wege, als Rousseau vorgezeichnet hatte: Das Staatsvolk nimmt im staatsbegründenden Vertrag einstimmig eine grundlegende Gesetzgebung an und bleibt der eigentliche Souverän, behält aber die Staatsgewalt nicht zu aktiver Ausübung in der Hand"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 180. Dies letztere Mißverständnis wäre zu vermeiden gewesen, wenn festgehalten worden wäre, daß Souveränität bei Rousseau mit Gesetzgebung identifiziert wird, die allein dem Volk zusteht, während die Ausübung der Staatsgewalt nicht Sache des Souveräns sein darf; vgl. z.B. Rousseau, Contrat social, III. 1. Ausdrücklich unterscheidet Rousseau zwei generelle Modi des „abus du gouvernement" (Rousseau, Contrat social, III. 10 (Fn. 186), S. 113) nach dem jeweils aktiven Part, von dem die Zerstörung der Gewaltenteilung ausgeht: „Tyrann" soll der gesetzgebende Souverän heißen, der als „Usurpator der königlichen Gewalt", d.h. der Exekutive, auftritt, während umgekehrt als „Despot" derje198
4*
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8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
Drittens aber schließt Fichte aus, den Vertragsinhalt des Staatsbürgervertrages, der doch immerhin eine „Konstitution" 201 zustande bringen soll, als etwas Informelles und Vorpositivrechtliches zu betrachten; der Staatsbürgervertrag muß demnach etwas qualitativ anderes sein als beispielsweise ein auf (statischen oder dynamischen) Sitten beruhender Konsens, der sich vor allem in gewohnheitsrechtlichen Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien geltend macht. Eine
Verfassung
Recht an und muß daher Kraft
gesetzt
werden.
gehört
,gegeben\
nach Fichte
notwendig
d.h. ausdrücklich
dem
positiven
und öffentlich
202
in
203
nige Inhaber der Exekutivgewalt genannt wird, der als „Usurpator der souveränen Gewalt" agiert; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 10 (Fn. 150), S. 96. 201 Naturrecht, § 16, S. 184 (Herv. v. Verf., U. T.). 202 Vgl. Kant, M A R , § 43: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht." Öffentliches Recht in Kants Verständnis „bedarf [...], um Verbindlichkeiten schaffen zu können, erstens der Form eines systematischen Ganzen von Gesetzen, zweitens deren allgemeiner Bekanntmachung, drittens der gewaltenteiligen Gewährleistung der entsprechenden Rechte und Pflichten durch besondere Institutionen und Repräsentanten, und viertens schließlich der Auszeichnung eines Souveräns"; vgl. Ulrich Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, hrsg. v. B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka u. Jan. C. Joerden, Bd. 6 (1998), S. 255-278, 256. 203 Fichte grenzt sich damit zunächst von Montesquieu ab, nach dessen Auskunft Verfassungen (wie auch die einfache Gesetzgebung) nicht nur aus den Sitten der Völker entspringen, sondern von ihnen abhängig bleiben, so daß Verfassungsmodifikationen nur in den engen Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten jener Sitten denkbar sind; vgl. insbesondere Montesquieu, De l'Esprit des Lois, I, 3, X V I I I , 1, 2, 8, X I X , 2 ff. Fichte dagegen verteidigt nicht nur die Annahme, Verfassungen seien ,machbar'. Vielmehr gilt ihm mit Blick vor allem auf die Französische Revolution allein der formelle (idealiter einstimmige) Abschluß eines zugleich verfassunggebenden Sozialkontraktes und also die demokratische Produktion und Ratifikation neuen Verfassungsrechtes als naturrechtsgemäß. Hegels spätere Invektiven gegen die Vorstellung, Verfassungen seien machbar, richten sich demnach auch gegen Fichtes Naturrecht von 1796: „Verfassung wird nicht gegeben, sondern ist an und für sich Entwicklung"; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Heidelberger Enzyklopädie, Vorlesungsnotiz zu §§ 437^439, in: Karl Heinz Ilting (Hrsg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 1, Stuttgart 1973, S. 193. „Die Verfassung kann nicht gemacht werden, sondern macht sich selbst, ist [...] ein göttliches Geschenk"; vgl. Hegel, Naturrecht und Staatswissenschaft nach der Vorlesung von C. G. Homeyer 1818/19, § 121, in: ebd., S. 330. In der späteren Griesheim-Mitschrift einer Hegeischen Vorlesung zur Rechtsphilosophie wird die sittlichkeitstheoretisch begründete verfassungsevolutionäre These folgendermaßen erläutert: „Was nun die Vorstellung anbetrifft, daß eine Verfassung gemacht werden könne, so ist dieß nicht möglich, ein Volk müßte denn aus seiner Haut fahren können. [...] Ein Heros, ein Gott [...] selbst giebt die Verfassung nicht auf einmal, es ist noch nie geschehn, daß einem Volke eine Verfassung gegeben worden sei, sondern es bildet sich der Geist nach allen Seiten in die Wirklichkeit ein, durch viele Stufen, unter vielfach einzelnen Umständen, die als Resultat die Verfassung
8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
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Er folgt damit dem Diktum Rousseaus, nach dem zwar nicht die Beratung und die redaktionelle Ausarbeitung von Verfassungsentwürfen, wohl aber der eigentliche verfassunggebende Akt (d.h. der über Verfassungsentwürfe beschließende, Verfassungsrecht in Kraft setzende Entscheid) selber zu den unveräußerlichen und allerpersönlichsten Rechten der kontrahierenden Individuen zählt. 2 0 4 Die Verfassunggebung sei ein ursprünglicher Willensakt, der nicht aus normativ vorgeordnetem Recht abgeleitet werden könne; deswegen verlange dieser konstituierende Akt, der Verfassungs- und Staatsrecht, mithin staatsbürgerliche Rechte und Pflichten allererst erzeuge, die reale Partizipation aller Rechtsadressaten und (idealiter) die Einstimmigkeit ihres Beschlusses. 205 „Die Konstitution [...] wird im Bürgervertrage [...] notwendig gesetzt. Denn jeder Einzelne muß zu derselben seine Beistimmung geben; sie ist sonach durch den ursprünglichen gemeinsamen Willen garantiert. Nur unter der Garantie dieser bestimmten Konstitution für seine Sicherheit, hat jeder Einzelne sich in den Staat begeben." 206
Weder konkludentes Verhalten noch diffuse Akklamationen, weder a l l tägliches Plebiszit4 noch generalisiertes System vertrauen 4 können die förmliche Ratifizierung des ursprünglichen Vertrages seitens aller hernach durch ihn verfassungsrechtlich gebundenen Personen ersetzen. Der übereinstimmende, notwendig einstimmige verfassunggebende Gemeinwille darf kein „bloßer Begriff 4 , sondern muß „in der Sinnenwelt realisiert 44 sein. 2 0 7 „In und durch Menschen müßte jener Begriff sonach realisiert werden. Hierzu wird gefordert: Daß der Wille einer bestimmten Anzahl von Menschen, in irgendeinem Zeitpunkte, wirklich übereinstimmend werde, und sich als solcher äußere, deklariert werde. - Es kommt hier darauf an, zu erweisen, daß die geforderte Übereinstimmung sich nicht etwa von selbst finde, sondern daß sie auf einem geben. Sie ist Resultat der Substanz des Volksgeistes der zum Grunde liegt und in der Zeit fortgeht"; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts, nach einer Vorlesungsniederschrift von K. G. v. Griesheim 1824/25, in: Ilting, Bd. 4, S. 658 f. 204 Rousseaus bekannte Formulierung, die sich unzweideutig auf den Verfassungs(gesetz)gebungsakt bezieht, wurde häufig als normative Aussage über die einfache Gesetzgebung mißverstanden: „Celui qui rédige les lois n'a donc ou ne doit avoir aucun droit législatif, et le peuple même ne peut, quand i l le voudrait, se dépouiller de ce droit incommunicable"; vgl. Rousseau, Contrat social, 1.7 (Fn. 186), S. 67. 205 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV.2 (Fn. 150), S. 115 f.: „Es gibt nur ein einziges Gesetz, das seiner Natur nach einstimmige Annahme erfordert. Das ist der Gesellschaftsvertrag: denn die bürgerliche Vereinigung ist der freieste Akt der Welt"; vgl. Rousseau, Contrat social, IV.2 (Fn. 186), S. 136: „ I I n'y a qu'une seule loi qui par se nature exige un consentement unanime. C'est le pacte social: car l'association civile est l'acte du monde le plus volontaire". 206 Naturrecht, § 16, S. 184. 207
Ebd., S. 152.
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8. Der Staatsbürgervertrag als verfassunggebender Akt?
ausdrücklichen in der Sinnenwelt, zu irgendeiner Zeit wahrzunehmenden, und nur durch freie Selbstbestimmung möglichen Akt Aller sich gründe. [...] [Die] weitere Untersuchung dieses Aktes gibt den ersten Abschnitt der Staatsrechtslehre, vom Staatsbürgervertrage." 208
Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Staatsbürgervertrag ist bei Fichte zugleich ein verfassunggebender Akt, der aus realen Entscheidungen, d.h. Abstimmungen der Kontrahierenden zu resultieren hat, weil sein Ergebnis keine in ihrer Qualität beliebige ,Verfassung überhaupt' sein darf, sondern eine Verfassung im positiven Sinn sein soll. Dies wird beispielsweise dort klargestellt, wo Fichte das Resultat des Staatsbürgervertrages als „konstitutionelles Gesetz" bezeichnet. 209 Bereits die Einleitung hatte betont, daß eine „recht- und vernunftmäßige" 210 Verfassung der Gesetzesform bedürfe, insofern ihr Inhalt die Organisation der öffentlichen Gewalt ist, mittels derer die Freiheitsrechte aller Einzelnen gesichert werden sollen: „Von ganz anderer Art [als die Zivilgesetzgebung] ist das Gesetz, über die Weise, wie das Gesetz zur Ausübung gebracht werden soll, oder die Konstitution. Zu dieser muß jeder Staatsbürger seine Stimme geben, und sie kann nur durch absolute Einstimmigkeit festgesetzt werden; da sie die Garantie ist, die sich jeder von Allen, für die Sicherheit seiner sämtlichen Rechte in der Gesellschaft, geben läßt." 2 1 1
208
Ebd. Naturrecht, § 16, S. 157, 170. So auch Kant: „Der actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht, constituirt schon eine souveraine Gewalt, welche sie durch ein Gesetz auf irgend einen übertragen"; vgl. Kant, Reflexion No. 7769, in: A A , Bd. XDC, S. 511. 210 Naturrecht, § 16, S. 184. 211 Naturrecht, Einleitung, S. 16. 209
9. Fichtes Position in der Frage nach den organisatorischen Verfassungskomponenten Fichte deduzierte aus den fünf (bzw. sechs) Forderungen hinsichtlich der Einrichtung des Zwangsrechtes die Notwendigkeit des Staates einerseits 212 und die Notwendigkeit eines diesen Staats gesetzlich verfassenden Aktes des Gemeinwillens andererseits. 213 Nun stellt sich die Frage, welche Eigenschaften die durch die Verfassung strukturierte politische Anstalt besitzen muß, damit sie ihren Zweck, die „gegenseitige Sicherheit" 214 zu realisieren, nicht verfehlen kann. Die elementaren durch verfassunggebenden Akt zu institutionalisierenden öffentlichen Funktionen, die der naturrechtliche „Begriff eines gemeinen Wesens" enthält, 215 sind nach Fichte (1) die Gesetzgebung und (2) die Staatsgewalt; außerdem muß (3) die organisatorische Beziehung zwischen beiden Staatsfunktionen festgelegt werden. (1) Fichte unterteilt die Gesetzgebung in „bürgerliche" Zivilgesetzgebung und „peinliche Gesetzgebung", wobei die erstere konkret bestimmt, „wie weit die Rechte einer jeden Person gehen sollen", während die zweite festlegt, „wie deijenige, der sie auf diese oder jene Art verletzt, bestraft werden s o l l " . 2 1 6 (2) Insofern sich dieser in der Gesetzgebung artikulierende „gemeinsame Wille [...] mit einer Übermacht [...] gegen die Macht jedes Einzelnen" durchsetzen können soll, ist die Organisation der „Staatsgewalt" so einzurichten, daß sie neben dem „Recht zu richten" das „Recht, die gefällten Rechtsurteile auszuführen" 217 in der Lage ist. In Übereinstimmung mit dem dominierenden Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts bezeichnet Fichte beide Funktionen zusammengenommen als „potestas executiva in sensu latori" und die spezifizierten Exekutivfunktionen als „potestas judicialis et potestas executiva in sensu strictori". 2 1 8
212
Vgl. Kap. 7 dieses Textes. Vgl. Kap. 8 dieses Textes. 214 Naturrecht, § 16, S. 150. 215 Ebd., S. 150. 216 Ebd., § 16, S. 153. 217 Ebd. 218 Naturrecht, § 16, S. 153; zu Rousseaus die Judikative einschließenden Gebrauchs des Begriffs der exekutiven Gewalt vgl. Paul Bastid, Die Theorie der Regierungsformen, in: Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzi213
56
9. Fichtes Position in der Frage nach den Verfassungskomponenten (3) Über die organisatorische Beziehung zwischen beiden öffentlichen
Funktionen gibt § 16 zunächst lediglich die allgemeine Auskunft, die Exekutive i m weiteren Sinne habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der sich i n der Gesetzgebung äußernde G e m e i n w i l l e gegen die Privatwillen effektiv durchgesetzt wird. Daraus läßt sich aber weder schließen, daß Gesetzgebung und Souveränität Wechselbegriffe
sind, noch, daß gesetzgebende
und exekutive Funktionen v o n verschiedenen Personen ausgeübt werden sollen.219
Zwar
soll „durch das Gesetz, d . i . durch den
W i l l e n der Gemeine, die sich eine Konstitution g i b t " ,
220
ursprünglichen sichergestellt
werden, daß das V o l k i m Verhältnis zur Exekutive der Souverän ist: „Ferner, die Macht des Volkes muß die Gewalt, welche die Exekutoren in den Händen haben, ohne allen Vergleich, übertreffen. Könnte die letztere der ersten auch nur das Gegengewicht halten, so würde, falls die Exekutoren sich widersetzen wollten, wenigstens ein Krieg entstehen zwischen ihnen und dem Volke, der durch die Konstitution unmöglich gemacht werden muß. [...] Daher ist es Bedingung der Rechtmäßigkeit jeder bürgerlichen Verfassung, daß, unter keinerlei Vorwand, die exekutive Gewalt eine Macht in die Hände bekomme, welche gegen die der Gemeine des geringsten Widerstandes fähig sei." 2 2 1 A b e r das bedeutet, w i e schon die Einleitung
klarstellte, definitiv nicht,
daß das V o l k und nur das V o l k der (mittelbare oder unmittelbare) Gesetzgeber und i n dieser F u n k t i o n der Souverän wäre. Umgekehrt g i l t für Fichte: Wenn das Volk als Souverän gelten bzw. agieren können soll, dann jedenfalls nicht i n der Funktion des ordentlichen Gesetzgebers: „Niemand würde dazu ungeschickter sein als die Menge; und durch die Vereinigung der einzelnen Stimmen, dürfte man das Resultat des wahren, gemeinsamen
pien des Staatsrechts (Reihe: Klassiker auslegen), hrsg. v. Reinhard Brandt u. Karlfriedrich Herb, Berlin 2000, S. 151-165, 153 und Reinhard Brandt, Der Contrat social bei Kant, in: ebd., S. 272-294, 291: „Rousseau nimmt die Dopplung der Exekutive zurück und kennt nur noch zwei Gewalten: Die der Gesetzgebung und die der Regierung. [...] Rousseau streicht [...] die judikative Gewalt." 219 Kant differenziert in Analogie zum praktischen Vernunftschluß (vgl. Kant, Logik (Fn. 61), §§ 56 ff.) nicht nur zwischen souveräner und ausführender Gewalt, sondern innerhalb der ausführenden Gesamtfunktion der , Exekutive 4 zwischen zwei speziellen Teilfunktionen: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d.i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica ): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d.i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist"; vgl. Kant, M A R , § 45. 220 Naturrecht, § 16, S. 163. 221 Ebd., S. 177.
9. Fichtes Position in der Frage nach den Verfassungskomponenten
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Willens sehr unrein bekommen. Dieses Geschäft kann keinem zukommen, als demjenigen, der das Ganze, und alle Bedürfnisse desselben, immerfort übersieht, und der dafür, daß das strengste Recht ununterbrochen herrsche, verantwortlich ist; keinem als dem Verwalter der exekutiven Macht. [...] Aus diesen Gründen, und in diesem Sinne ist in unserer Theorie behauptet worden, daß die legislative Gewalt, in der Zivilgesetzgebung, und die exekutive, gar nicht zu trennen sind, sondern vielmehr notwendig vereinigt bleiben müssen. Die Zivilgesetzgebung ist selbst ein Zweig der Ausübung, inwiefern nur das Recht überhaupt in Ausübung gebracht werden soll. Der Verwalter der exekutiven Gewalt ist der natürliche Interpret des gemeinsamen Willens, über das Verhältnis der Einzelnen im Staate; nicht gerade desjenigen Willens, den sie wirklich haben, sondern dessen, den sie haben müssen, wenn sie beieinander bestehen sollen; ob ihn auch in der Tat etwa kein Einziger hätte, wie sich zuweilen wohl dürfte annehmen lassen." 2 2 2 Fichte sieht sehr w o h l , daß sein Plädoyer zugunsten der Gewaltenakkumulation auf Seiten der m i t Gesetzgebungsrechten auszustattenden Regier u n g 2 2 3 Kants Äußerungen i n der Friedensschrift
zugunsten der funktiona-
len und personalen Gewaltenteilung w i d e r s t r e i t e t . 2 2 4 Z w a r gibt Fichte zu bedenken, daß es offenbar nicht Kants Absicht gewesen sei, „ i n dieser Schrift den Gegenstand zu e r s c h ö p f e n " ; 2 2 5 doch dies kann auch aus Fichtes Sicht nicht genügen, u m die offenkundige Diskrepanz zwischen seiner Verfassungsskizze und Kants (sowie Rousseaus) Gewaltenteilungslehre zu beseitigen oder zu r e c h t f e r t i g e n . 2 2 6 222
Naturrecht, Einleitung, S. 15 f. Fichte folgt damit dem vordemokratischen Naturrechtsdenken, dem noch Achenwall verbunden ist, insofern dieser noch nicht zwischen Staats- und Regierungsform unterscheidet, sondern die Verschmelzung der öffentlichen Gewalten in der Regierung zusammendenkt mit dem substanziellen Gemeinwohlzweck aller Staatstätigkeit: „Jede Regierung des Gemeinwesens besteht darin, daß 1. bestimmt wird, was zum öffentlichen Wohl geschehen oder nicht geschehen soll, 2. Dafür gesorgt wird, daß es geschieht oder nicht geschieht. Jenes bestimmt der Oberherrscher durch Erklärung seines Willens, für dieses sorgt er mit Hilfe seines Zwangsrechts, d.h. er hat das Recht, Gesetze zu geben [...] oder die gesetzgebende Gewalt und das Recht, sie auch zu vollziehen"; vgl. Achenwall (Fn. 24), § 687 (Herv. v. Verf., U. T.). 224 Vgl. z.B. Kant, Zum ewigen Frieden, B A 25. Aus der Rechtslehre und insbesondere aus den Reflexionen zur Rechtsphilosophie geht hervor, daß Kant das Fehlen der Gewaltenteilung geradezu als das Definiens des Natur- bzw. Kriegszustandes wertete: „Der Zustand, wenn jedermann nur nach seinem eigenen Urteil und durch seine eigene Gewalt sein vermeintlich recht sucht, ist der status belli"; vgl. Kant, Reflexion No. 7645, in: A A , Bd. X I X , S. 476. 225 Naturrecht, Einleitung, S. 13. 226 Als einer der wenigen Interpreten hat Richard Schottky diese fundamentale Inkompatibilität zwischen Fichte und Rousseau festgestellt, ohne allerdings Kants Position mit einzubeziehen. „Ein noch deutlicherer Gegensatz zu Rousseau liegt darin, daß dieser Exekutivinstanz zusätzlich nicht nur die richterliche, sondern auch die gesetzgebende Gewalt übertragen wird, während doch im , Contrat social· die unmittelbare Volksgesetzgebung als eigentliches Palladium der Freiheit, als unan223
58
9. Fichtes Position in der Frage nach den Verfassungskomponenten
Fichtes Strategie zur Reduktion dieser Dissonanz besteht in der Hauptsache darin, die Gesetzgebung insgesamt nicht als rechtserzeugende, sondern als rechtsanwendende Funktion zu behandeln: „Da den Verwaltern der exekutiven Gewalt auferlegt ist, über das Recht überhaupt zu halten, und sie dafür (daß das Recht herrsche) verantwortlich sind, so muß ihnen von Rechts wegen überlassen werden, für die Mittel der Realisierung , des Rechts Sorge zu tragen; und sonach auch die Verordnungen selbst zu entwerfen, welche eigentlich keine neuen Gesetze, sondern nur bestimmte Anwendungen des einigen Grundgesetzes sind, welches lautet: diese bestimmte Menschenmenge soll rechtlich nebeneinander leben." 2 2 7
Um seine, Rousseaus aber auch Kants Intentionen diametral entgegenstehende These von der Vereinbarkeit exekutiver Gesetzgebung mit einer rechtsstaatlich-freiheitsrechtlichen Verfassungskonzeption zu stützen, muß Fichte die Gesetzgebungsfunktion als quantité négligeable darstellen und den Normtyp des Gesetzes mit dem der Verordnung auf dieselbe Stufe stellen. Die gesamte Zivilgesetzgebung einschließlich des positiven Eigentumsund Vertragsrechts sei nämlich, genau besehen, nichts anderes als eine bloße Anwendung des natürlichen Rechtsprinzips, wie es in der Verfassung positiviert vorliege; nur der „Form nach" resultiere das Zivilgesetz aus besonderen Gesetzgebungsakten. „Aber das Materiale des Zivilgesetzes [...] geht aus der bloßen Voraussetzung, daß diese bestimmte Menschenmenge, an diesem bestimmten Ort, rechtlich nebeneinander leben wolle, hervor." 2 2 8
Fichte relativiert damit die nach Rousseau und Kant dem Volk zustehende souveräne, d.h. Gesetzesrecht setzende Tätigkeit der Legislative auf bloßen Naturrechts- bzw. Verfassungsvollzug, 229 der mangels originärer normschöpfender Qualität am besten derjenigen Gewalt überlassen werde, die von Haus aus der Durchsetzung des Rechts verpflichtet s e i 2 3 0 und darüber hinaus über den erforderlichen Sachverstand verfüge.
tastbare Grundfeste der »republikanischen 4 Staatsform (also des »totalen Rechtsstaats4) galt 44 ; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 181. 227 Naturrecht, § 16, S. 161 (Herv. v. Verf., U. T.). 228 Ebd., S. 160 f. 229 Vgl. Naturrecht, Einleitung, S. 15: „Die Zivilgesetzgebung ist selbst ein Zweig der Ausübung, inwiefern nur das Recht überhaupt in Ausübung gebracht werden soll. 44 Sehr zu Recht betont Richard Schottky: „Es ist [...] die [...] Vorstellung von der eindeutigen Deduzierbarkeit des positiven Zivilrechts aus dem Vernunftrechtsprinzip, welche für Fichte das Gewicht der Legislativbefugnis und ihrer Übertragung verschleiert. - Das Volk selbst darf und muß sich seiner Auffassung nach lediglich das Recht der Aufsicht über die Rechtlichkeit der gesamten Staatsführung vorbehalten 44; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 181. 230 Vgl. Naturrecht, 16, S. 161.
9. Fichtes Position in der Frage nach den Verfassungskomponenten
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Mit dieser Argumentation verkehrt Fichte die normative Rangfolge, in der bei Rousseau und Kant die (verfassungsmäßige) Bestimmung der Staatsform im Verhältnis zur Regierungsform steht, 231 in ihr Gegenteil. Während bei Rousseau und Kant der zugleich verfassunggebende Gesellschaftsvertrag bzw. der ursprüngliche Vertrag vor allem anderen die Staatsform festzulegen hat, die durch die Auszeichnung des gesetzgebenden Souveräns bestimmt i s t , 2 3 2 und die, nach reinen Vernunftprinzipien betrachtet, 231 Kant, Zum ewigen Frieden, B A 20 ff.; Kant, M A R , §§51, 52; vgl. die in der Terminologie, aber nicht in der Sache von Kant abweichende Unterscheidung in Rousseau, Contrat social, II.6. 232 Kant unterscheidet entsprechend, aber begrifflich prägnanter als Rousseau zwischen ,,Regierungsart[en]" (Kant, M A R , § 52), die entweder despotisch oder republikanisch ausfallen können, und „Staatsform[en]'\ wobei die letzteren „entweder autokratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch" sein können. Die Staatsform hängt von der Auszeichnung desjenigen Subjektes ab, ,,welche[s] alle Gewalt hat; diese[s] ist der Souverän", der wie bei Rousseau mit dem „Gesetzgeber" identisch ist; vgl. Kant, M A R , § 51; vgl. auch Kant, M A R § 45. Die „Staatsform ist entweder autokratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch. [...] Man wird leicht gewahr, daß die autokratische Staatsform die einfachste sei [...], [...] wo nur Einer der Gesetzgeber ist." Nach der Vernunft - daran kann nach Kant nicht der geringste Zweifel bestehen - müsse das Gesetzgebungsrecht dem Volk vorbehalten sein. Hinsichtlich der Auszeichnung der einzigen vernunftrechtsgemäßen Staatsform argumentiert Kant demnach strikt Rousseauistisch; vgl. z.B. Rousseau, Contrat social, III. 1 (Fn. 186), S. 85-86: „Nous avons vu que la puissance législative appartient au peuple, et ne peut appartenir qu'à lui. I l est aisé de voir au contraire, par les principes cidevant établis, que la puissance exécutive ne peut appartenir à la généralité comme législatrice ou souveraine [...]. I l faut donc à la force publique un agent propre qui la réunisse et la mette en œuvre selon les directions de la volonté générale, qui serve à la communication de l'Etat et du souverain [...]. Voila quelle est dans l'État la raison du gouvernement, confondu mal à propos avec le souverain, dont i l n'est que le ministre. Quest-ce donc que le gouvernement? Un corps intermédiaire établi entre les sujets et le souverain pour leur mutuelle correspondance, chargé de l'exécution des lois et du maintien de la liberté, tant civile que politique"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 1 (Fn. 150), S. 61 f.: „ W i r haben gesehen, daß die Legislative beim Volk liegt und nur bei ihm liegen kann. Demgegenüber ersieht man aus den oben aufgestellten Grundsätzen leicht, daß die Exekutive nicht bei der Allgemeinheit liegen kann, die gesetzgebend und souverän ist [...]. Die öffentliche Gewalt braucht deshalb einen eigenen Geschäftsführer, der sie zusammenfaßt und gemäß den Anweisungen des Gemeinwillens in Werk setzt, der als Verbindung zwischen Staat und Souverän dient [...]. Das ist im Staat der Sinn der Regierung, die fälschlicherweise mit dem Souverän verwechselt wird, dessen Diener sie nur ist. Was ist also eine Regierung? Eine vermittelnde Körperschaft, eingesetzt zwischen Untertanen und Souverän zum Zweck des wechselseitigen Verkehrs, beauftragt mit der Durchführung der Gesetze und der Erhaltung der bürgerlichen wie der politischen Freiheit"; vgl. auch Contrat social, III.2, III. 10, III. 12; siehe auch die sehr ähnlich lautende Definition in Kants handschriftlichem Nachlaß: „Das Gouvernement ist ein Zwischenkörper zwischen dem Souverain und dem Staat. Des ersten actus sind Gesetze, des zweiten decrete"; vgl. Kant, Reflexion No. 7753, in: A A , Bd. X I X , S. 508.
60
9. Fichtes Position in der Frage nach den Verfassungskomponenten
dem Prinzip der Volkssouveränität zu genügen hat, ist die Entscheidung über die Regierungsform von sekundärer Relevanz, solange nur die Gesetzgebungsrechte dem Volk vorbehalten und der (verantwortlichen) Exekutive entzogen bleiben. 2 3 3 Auch eine monarchische Regierungsform würde unter dieser Prämisse mit der demokratischen' Staatsform vereinbar sein. So konnte z.B. Rousseau nicht die geringste Inkompatibilität zwischen einer insbesondere für große Staaten empfehlenswerten monarchisch organisierten Regierung und dem Prinzip legislativer Volkssouveränität erkennen. 234 Fichte kehrt dieses normative Gewichtungsverhältnis zwischen Staats- und Regierungsform (als den beiden Komponenten der organisatorischen Verfassung) um, wenn er dem Regenten den natürlichen Beruf zum Gesetzgeber zuspricht. Das gesamte Staatsrecht (als verfassungsrechtliche Organisation der funktionalen Beziehungen der öffentlichen Gewalten untereinander) wäre durch die Option zugunsten der einen oder anderen Regierungsform determiniert. Entsprechend differenziert Fichte Verfassungen nicht danach, wem die Legislation einerseits und die Exekutive andererseits zukommt, sondern ausschließlich nach den „Personen, denen die exekutive Macht anvertraut wird". Alle diese zugleich legislativen „Formen [der Regierung] werden rechtskräftig durch das Gesetz, d.i. durch den ursprünglichen Willen der Gemeine, die sich eine Konstitution g i b t . " 2 3 5
233
Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II.6 (Fn. 150), S. 41 f.: „Republik nenne ich [...] jeden durch Gesetze regierten Staat; gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht [...]. Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch [...] Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen der bürgerlichen Vereinigung. Das den Gesetzen unterworfene Volk muß deren Urheber sein". 234 Vgl. Rousseau, Contrat social, I I I . l , III.3. 235 Naturrecht, § 16, S. 161. Entsprechend definiert Fichte den Begriff der Verfassung nicht, wie Kant und Rousseau, als System funktional geteilter öffentlicher Gewalten, das vor allem durch die Bestimmung der gesetzgebenden Souveränität in Hinblick auf ihre Kompetenzen strukturiert ist, sondern als gewaltenfusionierende „RegierungsVerfassung"; siehe ebd.
10. Fichtes Fehlinterpretation der Demokratiekritik Rousseaus und Kants Fichte verzichtet auf eine begriffliche Differenzierung zwischen Staatsund Regierungsform und deswegen muß er die zentrale Bedeutung der Gewaltenteilung für die Abgrenzung der Despotie v o n der R e p u b l i k verkennen. Dies Versäumnis läßt sich z u m großen T e i l erklären aus seiner höchst einseitigen Reinterpretation der K r i t i k , die Kant, aber auch schon Rousseau, gegen die antike D e m o k r a t i e 2 3 6 v o r b r a c h t e n . 2 3 7 M i t Recht verweist Fichte darauf, daß die Kantische Friedensschrift die Demokratie i n der „eigentlichen Bedeutung des Wortes [als] eine v ö l l i g rechtswidrige Verfassung" gewertet hat, da „das V o l k die exekutive Gewalt nicht selbst ausüben, sondern sie übertragen müsse, daß sonach die kratie
in der eigentlichen
Verfassung
Bedeutung
des Wortes, eine völlig
Demo-
rechtswidrige
sei."238
Fichte kann sich dabei beispielsweise auf den folgenden Passus berufen: „Alle Regierungsform, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig, wie das Allgemeine des Obersatzes in einem Vernunftschlusse zugleich die Subsumtion des Besondern unter jenem i m Untersatze) sein k a n n " . 2 3 9
236
Vgl. Kant, Reflexion No. 8054, in: A A , Bd. XDC, S. 595: „Selbst [!] die Démocratie kann despotisch seyn, wenn ihre Constitution ohne Einsicht ist, z.B. wie die atheniensische, welche ohne rechtliche Ursachen nach vorgeschriebenen Gesetzen jemand blos durch Mehrheit der Stimmen zu verurteilen erlaubte." 237 Vgl. Ingeborg Maus, Staatssouveränität als Volkssouveränität. Überlegungen zum Friedensprojekt Immanuel Kants, in: Kulturwissenschaftliches Institut im Wissenschaftszentrum NRW, Jahrbuch 1996, Essen 1997, S. 167-194, 173: „Was im 18. Jahrhundert »Republik' genannt wurde, ist nicht etwa weniger, sondern mehr, als der heutige Begriff der Demokratie bezeichnet. Dagegen verstanden die Protagonisten der (modern formuliert:) Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts unter »Demokratie' ganz überwiegend die antike Demokratie, die wegen ihrer fehlenden Gewaltenteilung abgelehnt wurde. Sogar Rousseau, der viele seiner Verfassungskonstruktionen an antiken Institutionen erläutert, lehnt die antike Demokratie, in der das versammelte Volk gleichzeitig über Gesetze, Regierungsakte und Justizentscheidungen befindet, ausdrücklich [...] ab und beschränkt - willkürverhindernd - den demokratischen Souverän ausdrücklich auf die Gesetzgebung." 238 239
Naturrecht, Einleitung, S. 13 (Herv. v. Verf., U. T.). Kant, Zum ewigen Frieden, B A 26.
62
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants Fichte spielt ersichtlich nicht nur auf die A n t i k e , sondern ebenso auf die
Grande Terreur an, wenn er die Demokratie - er unterscheidet dabei freil i c h nicht, w i e Kant, deutlich zwischen Staats- und Regierungsform - als despotisch bezeichnet: „Die Gemeine wäre über die Verwaltung des Rechts ihr eigener Richter. Eine solche Verfassung, die demokratische, in der eigentlichsten Bedeutung des Wortes, wäre die allerunsicherste, die es geben könnte, indem man nicht nur, wie außer dem Staate, immerfort die Gewalttätigkeiten Aller, sondern von Zeit zu Zeit auch die blinde Wut eines gereizten Haufens, der im Namen des Gesetzes ungerecht verführe, zu fürchten hätte. [...] Also die Gemeine müßte die Verwaltung der öffentlichen Macht veräußern, sie auf eine, oder mehrere besondere Personen, übertragen, die ihr aber über die Anwendung derselben verantwortlich blieben. Eine Verfassung, wo die Verwalter der öffentlichen Macht keine Verantwortlichkeit haben, ist eine Despotie." 2 4 0 Darüber daß vernunftrechtliche Verfassungsprinzipien die Demokratie Sinne
der
Selbstregierung
des Volkes
ausschließen,
241
besteht
im
zwischen
R o u s s e a u , 2 4 2 Kant und Fichte keinerlei Dissens. Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Prämissen, die diesen Schluß zwingend machen: N u r w e i l nach Rousseau und Kant i n einer vernunftrechtlichen Verfassung dem V o l k und niemandem sonst das Gesetzgebungsrecht vorbehalten b l e i b t , 2 4 3 muß i h m komplementär hierzu jedwede Staatsgewalt entzogen sein. Despotisch ist demnach nicht, w i e Fichte annimmt, die demokratische Staatsform, d.h. die Gesetzgebungsdemokratie, sondern nur die K o m b i n a t i o n v o n demokratischer
Staatsform
und demokratischer
Regierungsform,
da hier
der
Demos zugleich als Souverän, Regent und (oberster) Richter f u n g i e r t . 2 4 4 240
Naturrecht, § 16, S. 158 ff. Carl Schmitt, dessen „Verfassungslehre" von 1928 ein zutiefst autoritatives Staats- und Demokratieverständnis zu erkennen gibt, erklärt eben diese „Identität von [...] Regierenden und Regierten" zum demokratischen Staatsformprinzip par excellence; vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 7. Aufl., Berlin 1989, S. 234. 242 Rousseau, Contrat social, III. 1. 243 Vgl. Kant, M A R , § 46: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen"; vgl. auch Kant, Reflexion No. 7742, in: A A , Bd. X I X , S. 505: „In jeder ci vitate muß ein summum imperium seyn. Imperans universalitatis, Summus imperans muß ein uneingeschränktes Recht und die gänzliche Gewalt haben. Summus imperans kann also vom Volk nicht unterschieden seyn." 244 Kant deutet an, daß die funktionale Gewaltenteilung nur dann optimiert werden kann, wenn das Prinzip personaler Inkompatibilität der Ämter strikt eingehalten wird; vgl. Kant, M A R , § 45: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria)". Auch Rousseau betont, daß die Organisation der Exekutive die Einsetzung eines besonderen, nicht mit Legislationsrechten versehenen Oberbefehlshabers erfordert: „Die öffentliche Gewalt braucht deshalb einen ei241
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants Für Rousseau und Kant scheidet die Demokratie allein als
Regierungsform
aus; als Staatsform dagegen ist die Demokratie die einzige, die von sich aus vernunftrechtlichen Legitimitätsmaßstäben, insbesondere dem moralischen und rechtlichen Prinzip der Selbstgesetzgebung, g e n ü g t . 2 4 5 D i e Beibehaltung der nichtdemokratischen Staatsform dagegen verlangt nach Kant, w e i l sie dem Vernunftrecht widerspricht, ein eigenes Erlaubnisgesetz der Vernunft, welches unter bestimmten, die Regierungsform und die Regierungsrat betreffenden Bedingungen die provisorische D u l d u n g der vernunftwidrigen Staatsform z u l ä ß t . 2 4 6 genen Geschäftsführer, der sie zusammenfaßt und gemäß den Anweisungen des Gemeinwillens ins Werk setzt"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 1 (Fn. 150), S. 62; im Original: „ I I faut donc à la force publique un agent propre qui la réunisse et la mette en œuvre selon les directions de la volonté générale"; vgl. Rousseau, Contrat social, I I I . l (Fn. 186), S. 85 f. 245 Rousseau, Contrat social, I I I . l , III.2, III. 10; Kant, M A R , § 46. Besonders prononciert heißt es in Kants Reflexionen zur Rechtslehre: „Die potestas legislatoria muß auf der Bedingung beruhen, daß sie nicht Unrecht thun kann. Daher ist nur beym Volk originarie potestas legislatoria. Dieses ist illimitata, weil keiner sich selbst Unrecht thun kann; alle andere ist eingeschränkt"; vgl. Kant, Reflexion No. 7664, in: A A , Bd. X I X , S. 482. 246 Jede der drei Staatsformen (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) bestimmt als „forma imperii" lediglich den Souverän, d.h. den „Gesetzgeber" bzw. die Personen, die ihn repräsentieren (Kant, M A R , § 51), während die Regierungsform als „forma regiminis" die Person des Regenten auszeichnet (Kant, Zum ewigen Frieden, B A 25) und die Regierungsart schließlich die Ausübung der öffentlichen Gewalten charakterisiert. Letztere kann despotisch, d.h. gewaltenfusionierend, oder republikanisch, d.h. gewaltenteilig, ausfallen. Demnach ist die demokratische Staatsform ebensowohl mit der despotischen Regierungsart verträglich, wie umgekehrt die Monarchie vermöge rechtsstaatlicher Regierungsart ihrem Effekt nach der republikanischen Staatsform nahekommen kann. Obgleich nach der Vernunft nur diejenige Staatsform, in der die Untertanen zugleich Gesetzgeber sind, das Prinzip des öffentlichen Staatsrechts vollständig erfüllen kann (Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, B A 20), läßt Kant dennoch die republikanische Regierungsart (auch innerhalb eines autokratischen Staatsformkontextes) im Sinne eines „Erlaubnisgesetzes [...] der praktischen Vernunft" (Kant, M A R , § 2) gelten, wenn sie trotz monarchischer Gesetzgebung „ihrer Wirkung nach" mit jenem Ideal dadurch zusammenstimmt, daß sie kontrafaktisch „allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung allen Zwanges macht"; vgl. ebd., § 52. Soll die republikanische Regierungsart advokative Staatsformen nicht nur als vernunftwidriges Provisorium erlauben, „weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine" (Kant, Zum ewigen Frieden, Β 79, A 73, 74), sondern als notwendige Vorstufe des Ideals einer demokratischen Verfassung rechtfertigen, dann ist deutlich mehr erfordert als die mögliche Zustimmung der Normadressaten zu einer aufgeklärt-rechtsstaatlichen Regierungsart. Dem faktischen Souverän wird dann eine solche Regierungsart, abverlangt, die dem Ideal der Republik erstens als funktionales Äquivalent entspricht, in der die „Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, an keiner besonderen Person hängt" (Kant, M A R , § 52); zweitens aber soll diese aufgeklärte Regierungsart mittel- oder langfristig auch der republikanischen Staatsform zuarbeiten. „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages
64
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants Daß Fichte, anders als R o u s s e a u 2 4 7 und Kant, darauf verzichtet, zwischen
Staatsform
und Regierungsform
zwischen Souveränität
248
einerseits und, korrespondierend damit,
und Staatsgewalt
249
andererseits zu unterscheiden, 2 5 0
spiegelt sich i n seiner höchst selektiven Lesart der kritischen Einwände wider, die Kant und Rousseau gegen antike Demokratien
vorgebracht
hatten. Während diese beanstandeten, daß i n der reinen Demokratie keine rechtsstaatliche Gewaltenteilung herrsche, w e i l dem V o l k als dem Gesetzgeber auch die Regierungsgewalt
zufalle, generalisiert Fichte diese K r i t i k da-
hingehend, daß allein schon die Ausübung des Gesetzgebungsrechts durch das V o l k despotische Konsequenzen h a b e . 2 5 1 [...] enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, [...] und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volkes zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung allen Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung, erforderlich ist, und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird"; vgl. Kant, M A R , §52. 247 Vgl. Contrat social, U L I , III.2, III. 10, III. 12. 248 Die „Regierungsart [...] betrifft nur die Mittel und ist also accidental. Da, der regirt, nur actus singulares ausübt, in Ansehung deren er sub legibus universalibus stehet und also unter dem Souverain, so kommt es auf die Art der Souverainetät an"; vgl. Reflexion No. 7660, in: A A , Bd. X I X , S. 480. 249 Vgl. z.B. Kants Reflexion No. 7536, in: A A , Bd. X I X , S. 448 f.: „Die öffentliche Person, die aus dem pacto civilis entspringt, heißt der politische Körper, Republic. In demselben werden alle Glieder zusammengenommen betrachtet als bekleidet mit der obersten Gewalt, genannt Soverain, als regiert durch dessen Willen, der Staat. Ein jedes Glied der republic, als ein theil des Souverains, heißt Bürger, als ein theil des Staates, Unterthan"; vgl. auch Kants Reflexion No. 7753, in: A A , Bd. X I X , S. 508, in der er explizit zwischen „dem Souverän und dem Staat" unterscheidet. 250 Erstaunlich, wenngleich nicht unerklärlich, ist dies, weil Fichte selbst den Ausdruck „forma regiminis" verwendet und ihn zudem in der Kantischen Friedensschrift verortet; vgl. Naturrecht, § 21, S. 286. Der Kantische Komplementärausdruck „forma imperii" dagegen findet sich in Fichtes Naturrecht meines Wissens nicht. 251 Genau diesen Zusammenhang verkennt z.B. Richard Schottky, wenn er Fichte konzediert, er habe sich gegen Rousseau gewandt, insofern dieser auch die Exekutivfunktionen dem Volk überantwortet wissen wollte: „Daraus schließt Fichte nun gegen Rousseau, daß in einem Staat, in dem das Volk selbst direkt oder vermittels einfacher Beauftragter die Exekutivgewalt ausübte, die Einhaltung von Verfassung und Recht, also auch die bürgerliche Freiheit nicht garantiert wäre"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 180. Richard Schottky scheint hier seinerseits Fichtes tendenziöse Lesart mit dem originären Rousseau zu verwechseln, denn dieser optiert keineswegs zugunsten der gewaltenfusionierenden Demokratie. Daß sich Rousseau zugunsten eines »totalitären' Demokratiemodells ausgesprochen habe, ist offenbar ein seit Carl Schmitts Interpretation (vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 7. Aufl. Berlin 1989, S. 259, 275) und Jacob Talmon (vgl. Jacob L. Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952, S. 41) nur noch selten hinterfragtes Vorurteil. Rousseau
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants Fichtes Fehldeutung der kantisch-rousseauschen Demokratiekritik
rührt
m . E . vor allem daher, daß er z w e i bei Kant wohlzuunterscheidende Verwendungsarten des Repräsentationsbegnffes seits zugunsten der repräsentativen
konfundiert: wenn Kant einer-
Gesetzgebungsart
(wohlgemerkt:
des
Volkes) optiert, dann geschieht dies stets m i t H i n w e i s auf deren Z w e c k m ä ßigkeit bei „ e i n e m großen V o l k " , 2 5 2 so daß die Forderung, die Ausübung von Gesetzgebungsrechten des Volkes müsse delegiert werden, allenfalls den Status eines hypothetischen
(genauer:
technischen)
Imperativs
Rechts b e s i t z t . 2 5 3 Wo sich Kant andererseits zugunsten einer
des
repräsentati-
diskutiert in jenem »anstößigen' Kapitel die antike Demokratie, insofern es auf den ersten Blick scheint, daß es keine bessere Verfassung geben kann als die, in der die Exekutive mit der Legislative gekoppelt ist." Dieser Schein wird im unmittelbar anschließenden Satz destruiert, denn die verfassungsmäßige Kombination der demokratischen Staatsform mit der demokratischen Regierungsform hätte zur Voraussetzung, „daß Dinge nicht auseinandergehalten werden, die auseinandergehalten werden müssen," und zur Folge, „daß Fürst und Souverän dieselbe Person sind"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III.5 (Fn. 150), S. 72 (Herv. v. Verf., U. T.). Ausschließlich als Staatsform, nicht aber als Regierungsform ist nach Rousseau die Demokratie zulässig: „ U m gesetzmäßig zu sein, muß die Regierung nicht mit dem Souverän zusammenfallen, sondern sie muß dessen Sachwalter sein: dann ist selbst die Monarchie republikanisch", niemals aber die demokratische Regierungsform, zumindest soweit sie auf der demokratischen Staatsform basiert; vgl. Rousseau, Contrat social, II.6 (Fn. 186), S. 41. 252
Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (im folgenden zitiert als „Gemeinspruch"), A 248 f., in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1975, S. 152. 253 Fälschlich wird des öfteren Kants Option zugunsten repräsentativer Volksgesetzgebung als ein kategorischer, die Staatsform betreffender Imperativ des öffentlichen Rechts gedeutet, während die nichtrepräsentative Form der Volksgesetzgebung lediglich den „Status einer ,bloßen' Idee" besitze; vgl. z.B. Bernd Ludwig, Kommentar zum Staatsrecht (II), in: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Reihe: Klassiker auslegen), hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 172194, 187. Für Kant ist dagegen entscheidend, „daß legislative Repräsentation nur ein Grundsatz ist, der die Anwendung der Idee der Republik auf ganz bestimmte Fälle der Erfahrung, nämlich auf große Staaten, nach schieren Zweckmäßigkeitserwägungen dient - ein Ergebnis, das auch unter dem nachkantisehen Gesichtspunkte interessant ist, daß die ,Größe' eines Staates hinsichtlich möglicher Abstimmungsprozeduren in Relation zur Entwicklung der Kommunikationstechniken steht. Hält jedoch die herrschende Literatur ganz allgemein den Grundsatz legislativer Repräsentation selbst für das eigentliche Rechtsprinzip von Kants Republikanismus, so hat Kant jedenfalls ihn als einen der bloß pragmatischen Anwendung der Idee auf spezifische Empirie definiert"; vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt a.M. 1992, S. 198. Selbst Rousseau hatte, entgegen mancher Vorurteile, die repräsentative Demokratie jedenfalls nicht pauschal ausgeschlossen, sondern unter den Bedingungen komplexer gesellschaftlicher Arbeitsteilung und entsprechend geringem politischen Engagement der Staatsbürger (Rousseau, Contrat social, III. 15 (Fn. 186), S. 121 f.) als zwar ideal widriges, aber pragmatisch notwendiges, 5 Thiele
66
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants
ven Regierungsform 254 ausspricht, ist ein kategorisches Rechtsgesetz gemeint, daß funktionale und personale Gewaltenteilung unabhängig davon fordert, ob die Staatsform bereits, wie die Vernunft gebietet, durch die Gesetzgebung des Volkes bestimmt oder noch monarchisch (bzw. aristokratisch) verfaßt ist. Repräsentation meint demnach in diesem Zusammenhang nichts anderes als Gewaltenteilung und kennzeichnet die republikanische Regierungsart im Unterschied zur despotischen. So heißt es beispielsweise in der Friedensschrift: „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird."255
Demnach wird eine nichtrepräsentative „Regierungsform" nachgerade dadurch definiert, daß in ihr „der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens" i s t . 2 5 6 Eine Monarchie (oder Aristokartie) der Staatsform nach kann demnach ebensogut republikanisch oder despotisch regiert werden wie ein demokratischer Staat, so daß unter Umständen eine republikanisch regierte Monarchie dem Vernunftideal der reinen Republik näher stehen kann als eine gewaltenfusionierende Demokratie. Denn die erste kann, wenn sie strikt gewaltenteilig organisiert ist, die Freiheitsrechte der Individuen achten, während die zweite hierzu aus organisatorischen Gründen prinzipiell nicht in der Lage ist. Die beiden sehr verschiedenen Bedeutungskontexte des Repräsentationsbegriffes - unmittelinsbesondere von der Größe der Polis abhängiges Mittel der Willensbildung gewertet. Erlaubt sei, daß Gesetzesinitiative und Gesetzesberatung einschließlich der Beschlußfassung über Gesetzesvorlagen und selbst ihre provisorische Verabschiedung delegiert werden; dagegen müsse dem Volk auch in hochkomplexen Gesellschaften die endgültige Ratifizierung von Gesetzen vorbehalten bleiben, da nur durch ausdrückliche Verwilligung von Seiten der späteren Normadressaten Gesetze legitimerweise als positives ,Zwangsrecht 4 in Kraft gesetzt werden könnten; vgl. Rousseau, Contrat social, III. 15 (Fn. 186), S. 122 f.: „La souveraineté ne peut être représentée, par la même raison qu'elle ne peut être aliénée; elle consiste essentiellement dans la volonté générale, et la volonté ne se représente point: elle est la même, ou elle est autre; i l n'y a point de milieu. Les députés du peuple ne sont donc ni ne peuvant être ses réprésentants, ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien conclure définitivement. Toute loi que le peuple en personne n'a pas ratifiée est nulle; ce n'est point une loi"; vgl. dazu Karlfriedrich Herb , Verweigerte Moderne. Das Problem der Repräsentation, in: Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Reihe: Klassiker auslegen), hrsg. v. Reinhard Brandt u. Karlfriedrich Herb, Berlin 2000, S. 168-188. 254 Kant, Zum ewigen Frieden, B A 26. 255 Kant, Zum ewigen Frieden, B A 25; vgl. dazu Maus (Fn. 253), S. 191 ff., bes. 195. 256 Kant, Zum ewigen Frieden, B A 26.
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants
67
bare versus mittelbare Volksgesetzgebung einerseits und Gewaltenteilung versus Gewaltenakkumulation andererseits - oszillieren bei Fichte ineinander; nur so läßt sich sein Fehlurteil erklären, Kant habe sich, recht verstanden, nicht nur gegen die demokratische Regierungsform, sondern auch gegen die demokratische Staatsform ausgesprochen. So ist es beispielsweise keineswegs Kantwidrig,
wenn Fichte zu Beginn des dritten Abschnitts der
Staatsrechtslehre als Fazit festhält: „Das erste, was in der Lehre von der Konstitution erwiesen wurde, war der Satz: daß die Staatsgewalt notwendig übertragen werden müsse, keineswegs aber in den Händen der Gemeine verbleiben könne. Es entsteht hierbei zuvörderst die Frage: ob sie Einem oder Mehreren übertragen werden solle; [...] ob der Staat in Beziehung auf die Personen der Gewalthaber eine Monokratie, oder Aristokratie sein solle. Denn die Demokratie ist in dieser Bedeutung unzulässig." 257
Auch nach Kant ist die Demokratie als Regierungsform unzulässig; dies freilich, weil dem Volk als dem Gesetzgeber dann auch die Exekutivfunktionen (einschließlich der richterlichen Gewalt) zufielen. Definitiv
Kantwid-
rig aber ist die Behauptung, daß dessen Kritik der antiken gewaltenfusionierenden Demokratie auch solche Verfassungen einschließe, die, wie die französischen von 1791, 1793 und 1795, das Gesetzgebungsrecht (aber auch nur dieses) dem Volk bzw. seinen Stellvertretern vorbehalten wissen wollten. 2 5 8 In Fichtes Kant-Interpretation wird das Repräsentationsprinzip als kategorischer Rechtsimperativ sowohl hinsichtlich der Organisation der Staatsgewalt als auch der Organisation der Gesetzgebung gedeutet, während es bei Kant in Hinblick auf die Legislative allenfalls den Status eines hypothetisches Rechtsimperativs und vielleicht auch nur den eines Erlaubnisgesetzes genießt, welches zuläßt, daß unter bestimmten pragmatischen, vor allem die Bevölkerungszahl betreffenden Bedingungen das Vernunftprinzip der Selbstgesetzgebung des Volkes 2 5 9 zugunsten der repräsentativen Minderform abgeschwächt werden darf. 257
Naturrecht, § 21, S. 286. Die Verfassung von 1793, die bekanntlich in keinerlei Wirkungszusammenhang mit dem Jakobinerterror steht, da sie unmittelbar nach ihrer Verabschiedung außer Kraft gesetzt wurde, verstärkt das Staatsformprinzip der Demokratie dadurch, daß sie in Art. 56-60 repräsentative und plebiszitäre Gesetzgebungsmodi gleichberechtigt nebeneinanderstellt bzw. miteinander verschränkt. Eine Kantische Reflexion zur Rechtsphilosophie kann man immerhin so lesen, daß dort die repräsentative und die unmittelbare Gesetzgebung des Volkes gleichermaßen der Idee der Republik zugerechnet werden: „Es ist nur ein Begriff von einer völligen reinen Staatsverfassung, nämlich die Idee einer Republik, wo alle Stimmfähig vereinigt die ganze Gewalt haben (entweder division in der Democratie oder coniunction in der Republik: Respublica noumenon oder phänomenon"; vgl. Kant, Reflexion No. 8077, in: A A , Bd. X I X , S. 609. 259 Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, B A 21: „Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu ge258
5*
68
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants
Fichte zieht aus dieser tendenziösen Reinterpretation der Kantischen Demokratiekritik den Schluß, daß in einer vernunftrechtlichen Staatsform neben den Exekutivfunktionen auch die der Gesetzgebung »übertragen 4, d.h. entäußert werden müßten, da andernfalls das Volk - so seine verschlungene Argumentation - kein ursprüngliches Recht zur Beurteilung der öffentlichen Gewalt geltend machen könnte. Die demokratische Verfassung sei nämlich deswegen nicht nur die „allerunsicherste 44, sondern auch „eine schlechterdings rechtswidrige Verfassung 44 , 260 weil „die Gemeine, über ihre Verwaltung des Rechts überhaupt, zugleich Richter und Partei ist. 4 4 2 6 1 Deswegen müßten bezüglich der „Frage, wie die Gerechtigkeit überhaupt verwaltet werde, [...] Richter und Partei getrennt werden, und die Gemeine kann nicht beides zugleich sein. 4 4 2 6 2 Würde sich das Volk innerhalb des verfassungsrechtlich konstruierten Systems der öffentlichen Gewalt eigene, auf die Gesetzgebung bezogene Partizipationsrechte vorbehalten, wäre es in einem etwaigen „Rechtshänder mit den anderen Zweigen der öffentlichen Gewalt Partei, was, da es sich dem Spruch eines unabhängigen Richters zu beugen hätte, dem Souveränitätsanspruch des Volkes widerspräche: Entweder - so das fragwürdige Fazit Fichtes - das Volk hat eine der öffentlichen Gewalten inne, dann kann es als Partei nicht der Souverän sein, oder es ist der Souverän, dann kann es als Richter über die öffentlichen Gewalten nicht an ihnen teilhaben. 263 Im Modell der republikanischen Gewaltenteilungslehre Rousseaus und Kants wären beide, nach Fichte in disjunkter Beziehung zueinander stehenden Rollen durchaus vereinbar: Denn der zur Gesetzgebung vereinigte Wille des Volkes ist den beiden anderen Staatsfunktionen (und Repräsentativkörperschaften) gerade nicht gleichgestellt, sondern er befehligt diese als deren imperans vermittels der Erzeugung genereller(er) Rechtsnormen. Offensichtlich ist Fichtes Verständnis der Gewaltenteilung, das ein Machtgleichgewicht zwischen den Zweigen der öffentlichen Gewalt zur Norm horchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe [nicht: hätte] geben können"; vgl. Kant, M A R , § 46. 260 Naturrecht, § 16, S. 159. 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Johann Braun beispielsweise zieht daraus den falschen Schluß, Fichte habe sich lediglich gegen die nichtrepräsentative demokratische Staatsform ausgesprochen: „Wie Fichte jetzt einräumt, kann das Recht nicht durch das Volksganze selbst verwaltet werden, weil ,die Gemeine4 sonst »zugleich Richter und Partei 4 wäre. Aus dieser »Deduktion der absoluten Notwendigkeit einer Repräsentation 4 folgert Fichte nunmehr, daß eine unmittelbare Demokratie ,eine schlechthin rechtswidrige Verfassung4 wäre 44; vgl. Johann Braun, Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Grundfragen des Rechts i m Lichte der Philosophie J. G. Fichtes, Tübingen 1991, S. 143. Auch die repräsentative Gesetzgebungsdemokratie - dies verkennt der Interpret - wäre nach Fichte eine rechtswidrige Verfassung.
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants erhebt, nicht an den originären Theorien Rousseaus und Kants orientiert. Beide wollen die ausführenden Staatsgewalten dem autonomen Gesetzesbefehl des Souveräns unterstellt wissen, was sie als Anhänger eines ausgesprochen asymmetrischen Machtverteilungsprinzips qualifiziert. Näher steht Fichte Montesquieus äquilibristischem Modell, das eine Balance von teilsouveränen Repräsentativkörperschaften in gleichen (z.B. gesetzgebenden) Aktionssphären vorsieht; dies allerdings mit der entscheidenden Abweichung, daß bei Fichte die Interventionsmöglichkeiten der Gesellschaft (d.h. der nicht mit Repräsentationsfunktionen betrauten Individuen bzw. der gesellschaftlichen Gruppen) definitiv außerhalb der Sphäre liegen, in der die öffentlichen Gewalten agieren. Überspitzt formuliert hieße dies, daß nach Fichte demokratischer Souveränitätserhalt Politikverzicht erfordert, denn der Handlungsbereich, in dem die gesetzgebende Regierung agiert, sei definitiv getrennt von dem ihrer demokratischen' Beurteilung. „Also die Gemeine müßte die Verwaltung der öffentlichen Macht veräußern, sie auf eine, oder mehrere besondere Personen, übertragen, die ihr aber über die Anwendung derselben verantwortlich bleiben. Eine Verfassung, wo die Verwalter der öffentlichen Macht keine Verantwortlichkeit haben, ist eine Despotie. Es ist sonach ein Fundamentalgesetz jeder Vernunft- und rechtsgemäßen Staatsverfassung, daß die exekutive Gewalt [...] und das Recht der Aufsicht, und Beurteilung getrennt seien; daß die letztere der gesamten Gemeine verbleibe, die erstere aber bestimmten Personen anvertraut werde. Kein Staat darf sonach despotisch, oder demokratisch regiert werden." 2 6 4
Gemäß Fichtes vordemokratischem Verständnis von Gewaltenteilung 265 muß derjenige Akt, durch den das Volk die Regierung einsetzt, drei Bedingungen erfüllen: erstens soll er eine eigenverantwortliche Repräsentativkörperschaft erzeugen, zweitens muß er neben der Übertragung von Regierungsfunktionen auch die von Gesetzgebungsfunktionen einschließen, weswegen drittens als Vertragspartner allein das Volk und die Regierung in Frage kommen. Nur unter dieser Voraussetzung einer im ,Regierungsvertrag' beschlossenen kompletten Entäußerung von Souveränitätsausübungsrechten könne das Volk der höherrangige Richter „über die Verwaltung des Rechts überhaupt" bleiben. 2 6 6 Fichte bezeichnet entsprechend diejenige Di264
Naturrecht, § 16, S. 160. Johann Braun bemerkt dies nicht oder hält es zumindest nicht für erwähnenswert, wenn er im Zusammenhang mit dem Ephorat vom „Recht der Aufsicht über die Exekutive" spricht. Mindestens müßte festgehalten werden, daß die Exekutive in Fichtes Verfassungsmodell diejenige ,Gewalt 4 einschließt, die Rousseau und Kant als den ,Gesetzgeber' oder ,Souverän' bezeichneten. Völlig abwegig ist dagegen Nico Wallners Einschätzung: „Als Staatsform kommt für Fichte (1796/97) ausschließlich die nichtparlamentarische Demokratie in Frage, bei der alle Anteil haben an der Bildung der ,volonté générale'"; vgl. Nico Wallner, Fichte als politischer Denker. Werden und Wesen seiner Gedanken über den Staat, Halle/Saale 1926, S. 116. 265
70
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants
mension des Staatsbürgervertrages, i n welchem die ungeteilte „exekutive Gewalt
an bestimmte
Personen"
delegiert
wird,
interessanterweise
„ Ü b e r t r a g u n g s k o n t r a k t " 2 6 7 oder auch als „ Unterwerfungsvertrag".
268
als Damit
wird, nolens volens, die Tradition des vorneuzeitlichen Herrschaftsvertrages e v o z i e r t , 2 6 9 der die Übertragung aller Souveränitätsrechte auf den Fürsten lediglich an die Garantie bestimmter, i m Vertrag wohldefinierter materialer
(ständischer oder auch individueller) Rechte knüpfte. Entsprechend
heißt es bei Fichte: „ D e r Staat, als solcher steht m i t den Untertanen, als solchen, i n einem gegenseitigen Vertrage, zufolgedessen es v o n beiden Seiten Rechte und Pflichten g i b t . " 2 7 0 Dagegen gehören, gemäß der Gesellschaftsvertragslehre der Aufklärung, Volkssouveränität
und funktionale
Gewaltenteilung
innerlich
zusammen,
weswegen ein besonderer z u m Gesellschaftsvertrag notwendig hinzutretender Regierungsvertrag eine ungereimte Vorstellung w ä r e . 2 7 1 Dies Problem 266
Naturrecht, § 16, S. 159. Ebd. 268 Naturrecht, § 17, S. 206 (Herv. v. Verf., U. T.). Die Lehre vom doppelten Vertrag, nach der zusätzlich zum pactum unionis ein besonderer pactum subjectionis angenommen wird, findet sich in ihrer klassischen Formulierung im 2. Kapitel des 7. Buches in Samuel Pufendorfs „De iure naturae et gentium". Noch bei Achenwall ist der vom Vereinigungsvertrag abzugrenzende Übertragungsvertrag zugleich ein Unterwerfungsvertrag, die die beiden Komponenten des Typs des in der Tradition der Magna Charta stehenden bipolaren Herrschaftsvertrages ausmachen: „Jedes Recht des obersten Herrschers beruht auf dem Unterwerfungsvertrag und auf dem Willen des Volkes, darüber hinaus hat er keines, und deshalb [...], binden den Herrscher die dem Vertrag beigefügten Bedingungen [...]. Was einen Vertrag i m allgemeinen wahr, rechtmäßig und wirksam, oder nichtig, unrechtmäßig und unwirksam macht, das hat diese Wirkung auch für den Unterwerfungsvertrag. Schließlich [...] allgemein müssen der Herrscher und das Volk in bezug auf den Unterwerfungsvertrag wie zwei Personen betrachtet werden, die i m Naturzustand einen Vertrag schließen"; vgl. Achenwall (Fn. 24), § 669, S. 215. 267
269
Kant bezieht sich schon im Gemeinspruch kritisch auf den noch bei Achenwall gebräuchlichen Ausdruck „Übertragungsvertrag", weil die damit implizierte Annahme eines Widerstandsrechts notwendig an die Konstruktion eines doppelten Souveräns gebunden sei. Kants Haupteinwand gegen die widerstandsrechtlichen Konsequenzen der Theorie des zum pactum unionis hinzutretenden pactum subjectionis ist 1793 freilich nicht unmittelbar volkssouveränitätstheoretischer Art, sondern zielt vorrangig auf den Selbstzweckcharakter des bürgerlichen Zustandes peremtorischer Rechte. Ein (reeller oder fiktiver) Unterwerfungsvertrag, der ein Recht des Volkes auf Widerstand gegen den Vertragsbrüchigen Souverän enthielte, würde eine Handlungsweise legalisieren, die „ i n höchstem Grade Unrecht" wäre, weil sie „alle rechtliche Verfassung unsicher macht, und den Zustand einer völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört [...], einführt"; vgl. Kant, Gemeinspruch, A 259. Man beachte auch Kants grundsätzliche Zurückweisung des Herrschaftsvertragsmodells in den Reflexionen No. 7747, 7748, 7769, 7851 und 8049, in: A A , Bd. X I X , S. 506, 511, 534, 593. 270 Naturrecht, § 21, S. 291.
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants hat Fichte selbst i m p l i z i t dadurch anerkennen müssen, daß er als Kehrseite des Abschlusses des ,ÜbertragungsVertrages 4 das Verschwinden des Volkes als eines demokratischen, staatsbürgerlichen Subjektes konstatierte: „Sobald der Übertragungskontrakt geschlossen, geschieht mit ihm zugleich die Unterwerfung, und es ist, von nun an, keine Gemeine mehr da; das Volk ist gar kein Volk, kein Ganzes, sondern ein bloßes Aggregat von Untertanen". 272 Ohne funktionale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und E x e k u t i v e 2 7 3 kann sich die Souveränität des Volkes nur außerhalb des »Systems 4
der begrifflich
unterschiedenen aber nicht funktional
getrennten
,Regierungszweige 4 betätigen: teils als (nichtgesetzgebendes) durch eine demokratisch legitimierte Institution auszuübendes Kontrollrecht 271
gegenüber
Um allen herrschaftsvertraglichen Konnotationen den Boden zu entziehen, betont Rousseau, daß „die Einsetzung der Regierung kein Vertrag ist. [...] Mehrere haben behauptet, daß diese Einsetzung ein Vertrag sei zwischen dem Volk und den Oberhäuptern, die es sich gibt; ein Vertrag, durch den man die Bedingungen zwischen den Vertragspartnern festlege, unter denen der eine zu befehlen und der andere zu gehorchen sich verpflichtet. Eine seltsame Art von Vertragsschluß, wie man sicherlich zugestehen wird. [...] Erstens kann die oberste Gewalt genausowenig verändert wie veräußert werden; sie einschränken heißt, sie zerstören. Es ist widersinnig und widersprüchlich, daß der Souverän jemanden über sich stellt [...]. Es gibt nur einen Vertrag i m Staat, den des Zusammenschlusses; und dieser eine schließt jeden anderen aus"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 16 (Fn. 150), S. 106 f. Statt um einen Souveränitätsrechte entäußernden Übertragungsvertrag handelt es sich bei der Regierungseinsetzung „um einen Auftrag, ein Amt, bei dem diese als einfache Beamte des Souveräns in dessen Namen die Macht ausüben, die er ihnen anvertraut hat und die er einschränken, abändern und zurücknehmen kann, wenn es ihm gefällt, da die Veräußerung eines derartigen Rechtes mit der Natur des Gesellschaftskörpers unvereinbar und dem Zweck des Zusammenschlusses entgegengesetzt ist"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 1 (Fn. 150), S. 62. Erst vor dem Hintergrund der Rousseauschen Transformation des zweistufigen Vertragsmodells in das einstufige Konzept des Gesellschaftsvertrages ist es verständlich, daß sich Kant vehement gegen ein positivrechtliches Widerstandsrecht aussprach: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich"; vgl. Kant, M A R , Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins, A 176, Β 206 (Herv. ν. Verf., U. T.). ,Oberster Befehlshaber' und ,Souverän' sind freilich bei Kant, anders als bei Fichte, Wechselbegriffe für den Gesetzgeber', der, auch wo er (noch) nicht reell durch das Volk bestimmt wird, nach Maßgabe des Legitimationsprinzips des „ursprüngliche[n] Kontrakt[es]" effektiv dessen Willen zu repräsentieren hat; vgl. Kant, Gemeinspruch, A 259. 272 Naturrecht, § 16, S. 176 f. 273 Eine Funktionsteilung zwischen richterlicher und exekutiver Gewalt hält Fichte, i m Gegensatz zu Kant (Kant, M A R , § 49), deswegen für ganz „zwecklos, und sogar nur scheinbar möglich," weil entweder die erste als kraftloser Wille und die zweite als willenlose Kraft unfähig zur Realisierung des Rechts wären, oder die eine Gewalt der anderen vorgesetzt wäre, womit keine Gewaltentrennung, sondern eine Subordination vorläge; vgl. Naturrecht, § 16, S. 161.
72
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants
der Amtsführung der Regierung, teils i m Bereich verfassunggebender und verfassungsändernder A k t i v i t ä t . Eine mögliche Erklärung für diese Externalisierung Gewalten),
des demokratischen
Souveräns
aus dem System der öffentlichen
innerhalb dessen Staatsbürger allein als Untertanen
existie-
r e n , 2 7 4 die nur Pflichten aber keine Rechte haben, mag i n folgendem gefunden werden: Fichte hält die funktionale Gewaltenteilung i m Sinne Rousseaus und Kants deswegen für überflüssig, w e i l alle positive Gesetzgebung nichts anderes sei als Naturrechts- und allenfalls noch Verfassungsvollz u g . 2 7 5 D i e normenlogische Beziehung zwischen Naturrecht, Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht wäre demnach als eines strikter materialer Ableitbarkeit gedacht, so daß die verschiedenen Rechtsdimensionen lediglich ihrem Abstraktionsgrad nach differieren würden, ihrem normativen Inhalt nach aber ein K o n t i n u u m bildeten. Welche Konsequenzen die Unterstellung eines lückenlosen, deduktiv-nomologisch geordneten Systems des Rechts i n H i n b l i c k auf die Theorie des Ephorates einerseits und mögliche konstitutionelle Betätigungsarten
des
pouvoir constituant andererseits haben muß, soll i m folgenden überprüft werden. Absehbar ist immerhin schon jetzt, daß, wenn die einfache Gesetzgebung nichts anderes wäre als Naturrechts- bzw. Verfassungsvollzug, 2 7 6 auch andere Kontrollmechanismen gegenüber der Exekutive i n Betracht 274 Daß Fichte damit objektiv restaurativen Tendenzen zuarbeitet, wird ersichtlich, wenn man eine entsprechende Passage aus der Kantischen Rechtslehre zum Vergleichsmaßstab heranzieht; vgl. Kant, MAR, § 52: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen. Sobald aber ein Staatsoberhaupt der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentieren läßt, so repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte der Einzelnen, als bloßer Untertanen (allenfalls als Staatsbeamten), abgeleitet werden müssen, und die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nötig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten, und die nun alle neue Anordnungen durch absolute Willkür wieder vernichten könnten." 275 So heißt es beispielsweise, die „Verbesserung, und Abänderung der Zivilgesetzgebung" durch die (zugleich) gesetzgebende Exekutive „findet sich von selbst"; vgl. Naturrecht, § 16, S. 185. Da Hansjürgen Verweyen darauf verzichtet, Fichtes Begriff der legislative mit exekutiven Befugnissen vereinigenden „öffentliche[n] Gewalt" vor dem Hintergrund der Gewaltenteilungslehren Rousseaus und Kants zu problematisieren, neigt er dazu, Fichtes Prämisse, die einfache Gesetzgebung sei letztlich nichts anderes als der (allenfalls präzisierende) Vollzug der Rechtsnormen des Staatsbürgervertrages, unbefragt gelten zu lassen: „Selbst hier kennt Fichte aber im Grunde einen Ansatz von Gewaltenteilung, da die (alle repräsentierende) Exekutive die im Staatsvertrag (von allen) beschlossenen Gesetze nur weiterbestimmt"; vgl. Verweyen (Fn. 3), S. 136.
10. Fichtes Fehlinterpretation Rousseaus und Kants kämen als die demokratische Organisation der Gesetzgebung. Dies würde freilich voraussetzen, daß Naturrecht und Verfassung hinreichend präzise normative Kriterien enthalten, anhand derer die Amtsführung seitens der kompakt organisierten öffentlichen Gewalt überprüfbar wäre; andernfalls wäre das Legitimationsprinzip
der kontraktuellen
Volkssouveränität
noch deklaratorisch wirksam, organisatorisch aber außer Kraft
nur
gesetzt.277
Sollten sich diese Vermutungen bestätigen, dann hätte Fichtes Rechtslehre von
1796 m i t Kants Demokratietheorie
von
1797 i m allgemeinen
und
seiner prozeduralen Konzeption distributiver Gerechtigkeit i m besonderen k a u m noch Gemeinsamkeiten.
276
Sehr zu Recht stellt Richard Schottky fest: „Es ist also die [...] Vorstellung von der eindeutigen Deduzierbarkeit des positiven Zivilrechts aus dem Vernunftrechtsprinzip, welche für Fichte das Gewicht der Legislationsbefugnis und ihrer Übertragung verschleiert"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 181. 277 Schottky erklärt Fichtes Abstinenz in der Frage nach Prozeduren der einfachgesetzgebenden Volkssouveränität treffend aus einer Übersteigerung und Substanzialisierung von Rousseaus ,,ideelle[r] Norm des »Gemeinwohls'" und der volonté générale: „Wie soll man den Gemeinwillen des Volkes erfahren, wenn das Volk ihn nicht äußert? Hier tritt nun eben der Glaube an die unbedingte Rationalität des Rechtes und den rein rechtlichen Charakter allen Staatslebens ins Mittel: man braucht das Volk selbst deshalb nicht nach seinem Willen zu fragen, weil der Volkswille ja immer auf das Recht geht, aus dem Rechtsprinzip aber jeder Verständige 4 das richtige positive Gesetz für das besondere Volk, also den ,wahren' Gemeinwillen des Volkes ableiten kann. Die Geltung dieses Prinzips dehnt Fichte offenbar auch auf die richterliche und exekutive Staatstätigkeit aus. Selbst die konkreten politischen Einzelmaßnahmen betrachtet er als bloße subsumtive »Anwendungen' der ,Rechtsregel' auf die gegebenen Verhältnisse"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 182 f.
11. Die Doppelfunktion des Ephorats: Verfassungwahrende Jury und Demokratieersatz Obwohl Fichte nicht wie Kant zwischen Staatsform und Regierungsform unterschied, sondern ein Regierungsmodell vertrat, das funktionale Gewaltenteilung im allgemeinen und gesetzgebende Volkssouveränität als (bei Rousseau und Kant) effektivste Kontrolle der Staatsgewalt im besonderen ausschloß, bedeutet dies nicht, daß er sich zugunsten einer schlechterdings autonomen Exekutivdiktatur aussprach. Zwar finden sich keinerlei Indizien dafür, daß Fichtes Naturrechtslehre intendierte, jener despotischen Machtakkumulation auf Seiten der Exekutive ein demokratisches Gegengewicht innerhalb des Systems der öffentlichen Gewalt(en) zu verschaffen. So wertet § 1 6 neben der reinen und gemischten Demokratie und der reinen und gemischten Aristokratie auch die absolute Monarchie als gleichermaßen rechtmäßige Gesetzgebungsrechte einschließende Regierungsformen. 278 „Alle diese Formen werden rechtskräftig durch das Gesetz, d.i. durch den ursprünglichen Willen der Gemeine, die sich eine Konstitution g i b t . " 2 7 9 Doch der Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen Staats- und Regierungsform einerseits und eine normative Auszeichnung der demokratischen Staatsform andererseits bedeutet keineswegs, daß Fichte einer absoluten Regierungsverfassung das Wort redete. Obwohl in Fichtes Modell von 1796 der Exekutive das Monopol der Gesetzgebung zugesprochen wird, worin Rousseau und Kant das Spezifikum der „Despotie" erkannten, 280 soll erklär278
Naturrecht, § 16, S. 162 f. Wohlgemerkt ist hier von Demokratie i m Sinne eines Systems der Auswahl der personalen Zusammensetzung der (gesetzgebenden) Regierungskörperschaft und nicht i m (Kantisch-Rousseauschen) Sinne einer Staatsform die Rede. 279 Naturrecht, § 16, S. 163. 280 Ygj z g Kant, M A R , § 49: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein [...]. Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän verpflichtet." Ausdrücklich sagt Kant, daß die öffentlichen Gewalten verschiedenen „moralischefn] Personen" (Kant, M A R , § 48) zugeordnet sein müssen, denn nur vermittels der Auszeichnung verantwortlicher Personen könne eine, mit konkreten Rechtsfolgen verbundene Verantwortlichkeit der ausführenden Gewalten, speziell des Regenten als des ,,Agent[en] des Staats" (ebd.) gegenüber dem Souverän gewährleistet sein. Die freiheitsrechtsvernichtende Konsequenz der Gewaltenfusion wird nirgends treffender beschrieben als bei Rousseau; vgl. Rousseau, Gesellschafts-
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
75
termaßen dennoch „die Macht des Volkes [...] die Gewalt, welche die Exekutoren in den Händen haben, ohne allen Vergleich, übertreffen." 281 Wenn das Volk, ohne über eigene, in der Konstitution verbürgte Gesetzgebungsrechte zu verfügen, trotzdem der Souverän gegenüber dem exekutiven Gesetzgeber bleiben soll, dann kann dies nur auf einer der Organisation der öffentlichen Gewalt vorgeordneten Ebene gewährleistet sein; innerhalb des »Regierungssystems' (bzw. der verschiedenen von Fichte erörterten Regierungssysteme) ist dies mangels Gewaltenteilung ausgeschlossen. Als effektives Gegenmittel gegen despotische Tendenzen der Regierung kommt dementsprechend nur ein externer Kontrollmechanismus in Frage. „Alle [Regierungsformen, d.h. bei Fichte: Verfahren der Bestimmung des Trägers exekutiver Gesetzgebungsrechte] sind, wenn nur ein Ephorat vorhanden ist, rechtsgemäß, und können, wenn nur dieses gehörig organisiert, und wirksam ist, allgemeines Recht im Staate hervorbringen, und erhalten." 2 8 2
Für die Besetzung dieses externen Kontrollorgans, dessen Stellung im Verhältnis zur drei Funktionen auf sich vereinigenden öffentlichen Gewalt dem Prinzip striktester Gewaltenteilung zu genügen hat, wird kategorisch ein demokratischer Wahlmodus gefordert. Dieses demokratisch legitimierte externe Aufsichtsorgan soll Gefahren des Despotismus der lediglich pauschal und einmalig durch die unterwerfungsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrags autorisierten öffentlichen Gewalt wirksam neutralisieren: „Es ist sonach ein Fundamentalgesetz jeder Vernunft- und rechtmäßigen Staatsverfassung, daß die exekutive Gewalt [...] und das Recht der Aufsicht, und Beurteilung, wie dieselbe verwaltet werde, welches ich das Ephorat, im weitesten Sinne des Worts, nennen will, getrennt seien [...]. [...] Die erstere umfaßt die gesamte öffentliche Gewalt in allen ihren Zweigen; aber sie muß über die Verwaltung derselben dem Ephorate [...] verantwortlich gemacht werden." 2 8 3
Bevor man Fichtes naturrechtliche Verfassungstheorie endgültig als entschieden vordemokratisch klassifiziert, sollte man fragen, ob nicht, trotz aller despotischen Tendenzen, die der organisatorischen Option zugunsten einer Fusion von Exekutive und Legislative zwangsläufig eigen sind, Ephorat und Interdikt als funktionale Äquivalente bzw. Substitute des demokratischen Gesetzgebungsprozesses gewertet werden können und vielleicht: vertrag, III.2 (Fn. 150), S. 69: „Vereinigen wir [...] die Regierung mit der gesetzgebenden Gewalt; machen wir aus dem Souverän den Fürst und ebenso alle Bürger zu Beamten"; der Satz lautet i m Original: „ A u contraire, unissons le gouvernement à l'autorité législative; faisons le prince du souverain, et de tous les citoyens autant de magistrats"; vgl. Rousseau, Contrat social, III.2 (Fn. 186), S. 92. 281 Naturrecht, 3 16, S. 177. 282 Ebd., S. 163. 283 Ebd., S. 160 f.; zu Fichtes Theorie des Ephorates vgl. Braun (Fn. 263), S. 143 ff.
76
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
müssen. N i c h t auszuschließen ist, daß Fichte nur auf den ersten B l i c k als Fürsprecher eines advokativen Regierungsdespotismus gelten kann, während seine Verfassungskonzeption
i n Wahrheit
auf einer
elementareren
Ebene als der der funktionalen Gewaltenteilung dem Volkssouveränitätsprinzip zuzurechnen ist und diesem vielleicht auf einer
tiefergreifenden
Ebene als der der einfachen Gesetzgebung W i r k s a m k e i t zu verleihen beabsichtigt. (1) Für dieses Lesart spricht zu allererst der geforderte
demokratische
M o d u s der Ephorenwahl: Z u r W a h l der neuen Ephoren, speziell zur Stimmenauszählung sollen, da die noch amtierenden Ephoren „Partei sind, besondere Männer (Syndiks) v o m Volke selbst und aus demselben für diesen A k t gewählt w e r d e n . " 2 8 4 I n der Frage des Wahlmodus besteht Fichte demnach auf striktester Funktionsteilung, insofern ausgeschlossen werden soll, daß sich erstens das amtierende Ephorat durch Kooptation e r n e u e r t 2 8 5 oder
284 Naturrecht, § 21, S. 285; zur Geschichte des Begriffs Ephorat vgl. Alain Renaut, Le Système du Droit. Philosophie et Droit dans la Pensée de Fichte, Presses Universitaires de France, Paris 1986, S. 382. Auf Althusius' „Politica methodice digesta" als eine der wichtigsten ideengeschichtlichen Quellen für Fichtes Begriff des Ephorates verweist Leibholz: „Nach Althusius hat die Volksgesamtheit die Befugnis, die Verwalter ihres Gesamtreiches anzustellen und zu bevollmächtigen und er kennt zwei Arten von Verwaltern [...], das Ephorat und den Summus magistratus [...]. A n der Spitze des Staates steht der Summum magistratus, demgegenüber die Ephoren im Namen des gesamten Volkes dessen Recht zu wahren haben. Auch Fichte spricht vom Magistrat und dessen Personen, denen die exekutive Gewalt anvertraut wird. Beide sind darüber einig, daß die Macht des Volkes ungebrochen demselben erhalten bleibt [...]. Differenzen zeigen sich in der Verteilung der Funktionen und in der Begründung; in der Verteilung insofern, als das Schwergewicht bei Althusius bei den Ephoren, den Säulen des Staates, ruht, denen Fichte lediglich eine negative Rolle zugestehen will, während der Magistrat dementsprechend konträr organisiert ist und andererseits in der Begründung, als es bei Althusius keine andere Quelle als freiwilligen Konsens geben darf, den Fichte verwirft, der die Übertragung als ein Gebot der absoluten Vernunft postuliert und nicht vor Anwendung von Zwangsmaßnahmen zurückschreckt"; vgl. Gerhard Leibholz, Fichte und der demokratische Gedanke, Freiburg 1922, S. 73. 285 Zugunsten dieses Verfahrens spricht sich Sieyes in seinem Verfassungsentwurf von 1795 aus: Die Jury constitutionnaire hat nach seinem ,Thermidorplan' 108 ständige Mitglieder, die sich jährlich mittels Kooptation aus den 250 Abgeordneten, die jährlich aus den beiden gesetzgebenden Kammern, dem Tribunat und der Législature, ausscheiden, um jeweils 36 Mitglieder erneuern sollen. Dies wird im zweiten und dritten Artikel des Sieyesschen Entwurfs deutlich: „ D u Jury constitutionnaire. ARTICLE PREMIER. I l y a un dépositaire-conservateur de L ' A C T E CONSTITUTIONNEL, sous le nom de jury constitutionnaire. II. Il est composé de cent huit membres, qui se renouvelleront annuellement par tiers, et aux mêmes époques que le corps législatif. III. L'élection du tiers ou des trente-six entrans se fait par le jury constitutionnaire lui-même, sur les deux cent cinquante membres qui doivent, à la même èpoche annuelle, sortir de l'un et l'autre conceil du corps législatif; vgl. Emmanuel Joseph Sieyes , Opinion de Sieyès, sur les attributions et d'organisation du
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
77
sonstwie Einfluß auf die Neubesetzung des höchsten Rates nimmt. Auf der anderen Seite müsse verhindert werden, daß Funktionsträger der (komplexen) Regierungsgewalt ihre dominierende Stellung noch dadurch ausbauen können, daß sie über die personale Zusammensetzung jenes Kontrollorgans zu entscheiden hätten. 2 8 6 (2) Das Ephorat scheint auch insofern als Analogon des demokratischen Gesetzgebungsprozesses gedacht zu sein, als Fichte die „politische" (nicht naturrechtliche) Frage 2 8 7 nach der besten „Regierungsverfassung" 288 dahingehend beantwortet, daß die beste genau diejenige sei, „unter welcher [...] das Ephorat am kräftigsten wirken werde." 2 8 9 (3) Drittens aber sprechen zugunsten der These, das Ephorat erfülle eine au fond demokratische Funktion, Fichtes Ausführungen über die Funktionen dieser Institution. Um die Notwendigkeit des Ephorats zu beweisen, konstruiert er den Fall, daß die „exekutive Gewalt", die aus Gründen der allgemeinen Rechtssicherheit als inappellabel gelten müsse, 290 Gesetze erlassen, Maßnahmen treffen oder Urteile sprechen würde, durch die „das Konstitutionsgesetz des Rechts verletzt" wäre. 2 9 1 Fichte nennt als die zwei bzw. drei möglichen Fälle verfassungswidriger Staatsakte: „1. Daß das Gesetz in irgendeinem Falle, binnen der bestimmten Zeit, keine Ausübung finde. 2. Daß die Verwalter der öffentlichen Macht sich selbst widersprechen, oder eben, um sich nicht zu widersprechen, offenbare Ungerechtigkeiten begehen müssen." 2 9 2
Jury Constitutionnaire proposé le 2 thermidor, prononcé à la Convention nationale le 18 du même mois, l'an 3 de la République (5.8.1795), in: Œuvres de Sieyès, hrsg. v. Marcel Dorigny, Ed. Edhis, Paris 1989, vol. 3, no. 41, S. 20; zu Sieyes' Jury constitutionnaire vgl. Ulrich Thiele, Volkssouveränität - Menschenrechte - Gewaltenteilung im Denken von Sieyes, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 86 (2000), S. 48-69, 63 ff. 286 Deswegen kann Fichte nur mit allergrößten Einschränkungen zu den Ahnen der bundesrepublikanischen Verfassungsjurisprudenz gerechnet werden; vgl. Art. 94 Abs. 1 GG, §§ 5-12 BVerfGG. 287 Die Politik beantwortet, i m Unterschied zur Rechtslehre, „wie das Rechtsgesetz [...] sich am füglichsten realisieren lasse [...] in einem besonderen, durch zufällige Merkmale (empirisch) bestimmten Staate"; vgl. Naturrecht, § 21, S. 286. Ein Jahr nach Fichte hat Kant die „Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert)" von einem „Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet)" unterschieden; vgl. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, A 312, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 7, Darmstadt 1975, S. 641. 288 Naturrecht, § 16, S. 164. 289 Ebd., S. 163. 290 Ebd., S. 168. 291 Ebd. 292
Ebd., S. 168 f.
78
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
In diesen Fällen hätte die (begrifflich, aber nicht prozedural und organisatorisch dreifaltige) öffentliche Gewalt das „Konstitutionalgesetz" verletzt, wodurch, legitimationstheoretisch betrachtet, einerseits der vorkonstitutionelle Naturzustand wieder einträte. Durch Verfassungsbruch von Seiten der Exekutive fielen die Souveränitätsrechte, die das Volk mittels „Übertragungskontrakt" 293 der Regierung zuerkannt hätte, an jenes zurück. Doch andererseits wären gemäß eben dieses Übertragungsvertrages vor dem „Richterstuhle der öffentlichen Gewalt [...] alle Mitglieder des Staates nur Privatpersonen, und keine Gemeine: und jeder [bliebe] immerfort der Obergewalt unterworfen." 294 Da nach Fichtes Staatsrechtslehre die Exekutive zugleich die gesetzgebende Gewalt innehat, kann das Volk innerhalb des verfassungsrechtlichen Zustandes weder Souveränitätsrechte ausüben, noch kann es überhaupt eine eigene Rechtsposition als Gemeinwille geltend machen. 295 „Die Gemeine hat keinen abgesonderten Willen, und es ist gar keine Gemeine realisiert, bevor dieselbe nicht ihren Willen von dem Willen der exekutiven Gewalt abtrennt, und ihre Erklärung, daß der Wille derselben immer ihr eigener Wille sei, zurückgenommen h a t . " 2 9 6
Demnach kann das Volk als ursprünglicher Eigner seiner Freiheitsrechte im konstituierten Zustand des öffentlichen Staatsrechts seinen Willen nicht gegen die Regierung geltend machen, weil es rechtlich betrachtet, nicht mehr existiert. Bevor nicht die übertragungsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages annulliert worden ist, kann das Volk weder als zurechenbares Rechtssubjekt gelten noch als solches rechtsverbindlich agieren. Damit spitzt sich das von Fichte konstruierte Dilemma zu folgender Antinomie zu: Einerseits kann, nach Fichte, die öffentliche Gewalt die Verfassung verletzen und damit einseitig den Übertragungsvertrag brechen, anderseits kann sie gemäß des formell fortgeltenden Übertragungsvertrags deswegen weder von den Untertanen verklagt werden, noch erlischt für diese die Pflicht zum Rechtsgehorsam, weil sie nach wie vor dem geltenden Recht unterworfen sind. Auch der evidenteste Verfassungsbruch müßte demnach als rechtlich inexistent gewertet werden. Eine staatsrechtlich konsistente Lösung dieser Antinomie könne nur darin bestehen, daß die Verfassung selber eine Regelung träfe, aufgrund derer unter bestimmten Umständen das
293
Ebd., S. 165. Ebd., S. 169. 295 Innerhalb des von Rousseau und Kant verfochtenen demokratischen Gewaltenteilungsmodells verbleibt die gesetzgebende Souveränität dem Volk bzw. der Gesellschaft, die durch Gesetzgebung die Ausübung der Staatsgewalt limitiert. 296 Naturrecht, § 16, S. 169. 294
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
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Staatsvolk im Sinne der subditi in die Rechtsstellung des souveränen Volks im Sinne der imperantes einrücken würde. „Der Widerspruch ist nur so zu heben: Das Volk wird durch die Konstitution, i m voraus, auf einen bestimmten Fall, als Gemeine erklärt." 2 9 7
Der Staatsbürgervertrag hätte demnach in Hinblick auf den Übertragungsvertrag eine Klausel zu enthalten, die für den Fall des Vertragsbruches von Regierungsseite den vorvertraglichen Zustand ursprünglicher Individualrechte als verfassungsrechtliches Konstrukt restituierte, innerhalb dessen das Volk seine vorvertragliche Rechtsstellung wiedererlangen würde. Nur innerhalb einer verfassungsrechtlichen Konstruktion, die die kontinuierliche Fortgeltung des Staatsbürgervertrages mit der gleichzeitigen Aussetzung des Übertragungsvertrages möglich machte, könnte jene hypothetische ,Metamorphose 4 des Volkes vom Untertan zum Souverän 298 gedacht werden. Ohne dieses rechtstheoretische Konstrukt ließe sich der Widerspruch zwischen der rechtlichen Existenz und Nichtexistenz des Volkes nicht aufheben. Die einfachste 299 Lösung bestünde darin, ein „konstitutionelles Gesetz" zu beschließen, aufgrund dessen das Volk einen verfassungsrechtlichen Anspruch besäße, „zu gewissen, bestimmten Zeiten, regelmäßig [sich] zu versammeln, und sich von den Magistratspersonen Rechenschaft über die Staatsverwaltung ablegen [zu] lasse[n]." 3 0 0 Aus pragmatischen Gründen sei es aber für große Staaten zweckmäßiger, derartige Versammlungen nur so oft wie nötig, d.h. nur dann zusammenzurufen, wenn „Recht, und Gesetz ganz aufhört zu wirken". 3 0 1 Nur für den außerordentlichen Fall, daß „Recht und Gesetz überhaupt" und das „Recht jedes Einzelnen" durch Regierungswillkür in Gegensatz gebracht würden, wäre die konstitutionalgesetzlich zu regelnde Einberufung einer Volksversammlung empfehlenswert. Wer aber sollte befugt sein, über den Eintritt des verfassungsrechtlichen Ausnahmezustandes zu urteilen? Das rechtlich (noch) nicht existente Volk scheide von vornherein als Kandidat aus. Auch sei weder die allemal parteiische Regierung noch der gleichfalls parteiische in seinen Rechten verletzte Untertan dazu qualifiziert. 297
Ebd., S. 170. Rousseau und Kant können auf diese Konstruktion deswegen verzichten, weil mit dem ursprünglichen Vertrag keine vollständige Entäußerung von Freiheitsrechten stattfindet, sondern die Individuen in der Rolle des Gesetzgebers souverän bleiben und nur in Hinblick auf die hernach geltenden Gesetze Untertanen sind, die sie als Souverän jederzeit revidieren können. 299 Dies wäre „der zunächst sich jedem darbietende Fall"; vgl. Naturrecht, § 16, S. 170. 300 Naturrecht, § 16, S. 170. 301 Ebd., S. 171. 298
80
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
„Also - es muß ausdrücklich, für diese Beurteilung, eine besondere Gewalt durch die Konstitution errichtet werden. Diese Gewalt müßte die fortlaufende Aufsicht, über das Verfahren der öffentlichen Macht haben, und wir können sie sonach Ephoren nennen." 3 0 2
Die Frage, ob, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die Institution des Ephorates das strukturelle Demokratiedefizit der Fichteschen Vernunftverfasssung im organisatorischen Sinne beheben oder doch mindestens mindern kann, läßt sich erst im Zusammenhang mit den konkreten Befugnissen des Ephorats diskutieren. 3 0 3 Zunächst soll das Ephorat die ursprünglichen Rechte des Volkes nicht usurpieren. Seine Aufgabe, Verfassungsbrüche von Seiten der Regierung festzustellen, nimmt es lediglich treuhänderisch wahr. Denn gemäß dem (spezifizierten, das Volk unter Vorbehalt des Verfassungsbruchs in seine ursprünglichen Rechte wieder einsetzenden) Staatsbürgervertrag ist die „exekutive Gewalt" ausschließlich der „versammelten Gemeine" 3 0 4 verantwortlich. Folglich dürfen die Ephoren nicht anstelle des Volkes handeln und konkrete Verfassungsverletzungen der Exekutive mit bestimmten Sanktionsmaßnahmen ahnden. Aber nicht nur wegen seiner treuhänderischen Stellung gegenüber dem (noch) nicht versammelten Volk ist dem Ephorat jede „exekutive Gewalt" entzogen. Wären die Ephoren im Sinne einer verfassungswahrenden Gegenexekutive befugt, einzelne Regierungsakte (d.h. Gesetze, Verordnungen oder Urteile) aufzuheben und gegebenenfalls an deren Stelle eigene Rechtsbefehle zu erteilen, wäre das Gewaltmonopol des Staates und damit der gesamte Übertragungsvertrag außer Kraft gesetzt, ohne daß das Volk als einzig legitime verfassunggebende Gewalt hierzu befragt worden wäre. „Die exekutive Gewalt ist keinem Menschen verantwortlich, als der versammelten Gemeine; die Ephoren können daher die Gewalthaber nicht vor ihren Richterstuhl ziehen, aber sie müssen den Gang der Geschäfte beständig beobachten, und sonach auch das Recht haben, Erkundigungen einzuziehen, wo sie können. Die Ephoren dürfen die Urteile der Gewalthaber nicht aufhalten, da von denselben keine Appellation stattfindet. Sie dürfen ebensowenig in irgendeiner Angelegenheit selbst Recht sprechen, da jener Magistrat der alleinige Richter im Staate ist. Die Ephoren haben sonach gar keine exekutive Gewalt." 3 302
Ebd., S. 171. Vgl. Schottky (Fn. 7), S. 186: „Fichte will im Grundsatz Rousseaus Prinzip der unveräußerlichen Volkssouveränität nicht aufgeben." 304 Naturrecht, § 16, S. 171. 305 Ebd., S. 171. Unter den heutigen Bedingungen einer wertorientierten Verfassungsjudikatur, die parlamentarische Gesetze nicht nur in Hinblick auf ihre Verfassungswidrigkeit tadelt, sondern für nichtig erklären kann und in ihren Urteilsbegründungen häufig gleich selbst »verfassungsrechtlich unbedenkliche' Gesetzes vorlagen formuliert, die bisweilen auch mit einem konkreten zeitlich limitierten Gesetzge303
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
81
Das Ephorat kann demnach nicht w i e ein höchster Verfassungs-
oder
Staatsgerichtshof agieren, denn dann wäre „ d i e exekutive M a c h t [ . . . ] nicht inappellabel", was sie gemäß dem Übertragungsvertrag, nach dessen A b schluß die Bürger rechtlich nur noch die Stellung von Untertanen einnehm e n , 3 0 6 sein s o l l . 3 0 7 D i e Ephoren dürfen weder i m Sinne eines Supreme Court einzelne Rechtsbefehle des verfassungsmäßigen Souveräns annullieren noch gar eigene Rechtsbefehle anstelle der inkriminierten
Staatsakte
setzen; jede konkrete prohibitive Gewalt ist ihnen entzogen. „Aber sie haben eine absolut prohibitive Gewalt; nicht die Ausführung dieses oder jenes besonderen Rechtsschlusses zu verbieten, denn dann wären sie Richter, und die exekutive Gewalt wäre nicht inappellabel; sondern allen Rechtsgang, von Stund an, aufzuheben, die öffentliche Gewalt gänzlich, und in allen Teilen zu suspendieren." 308 Offensichtlich modifiziert Fichtes Konzeption des Ephorates Rousseaus Überlegungen
zur
Notwendigkeit
eines
Tribunates,309
ohne
allerdings
dessen strukturelle Voraussetzung einer asymmetrischen Gewaltenteilung zu übernehmen: „Diese Körperschaft, die ich Tribunat nennen werde, ist die Bewacherin der Gesetze und der Legislative. [...] Das Tribunat ist kein verfassungsmäßiger Teil der Polis, und es darf keinerlei Anteil weder an der gesetzgebenden noch an der ausführenden Gewalt haben, aber gerade dadurch ist seine Gewalt größer: denn es kann zwar nichts tun, aber alles verhindern. Als Verteidiger der Gesetze ist es geheiligter und höher geehrt als der Fürst, der sie ausführt, und als der Souverän, der sie gibt. [...] Das weise gemäßigte Tribunat ist die sicherste Stütze einer guten Verfassung; aber mit etwas zu viel Macht stürzt es alles u m . " 3 1 0 Das einzige dem Ephorat zur Verfügung stehende M i t t e l , u m gegen eine Verletzung der übertragungsvertraglichen Komponente des Staatsbürgerverbungsauftrag angereichert werden, muß Fichtes restriktiver Lösungsvorschlag mindestens nachdenklich stimmen. 306 V g l Naturrecht, § 16, S. 176 f. 307
Ebd., S. 168. Ebd., S. 172. 309 v g l . d azu j e a n Cousin, Rousseau als Interpret römischer Institutionen, in: Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Reihe: Klassiker auslegen), hrsg. v. Reinhard Brandt u. Karlfriedrich Herb, Berlin 2000, S. 188-212, bes. 210 f. 310 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV.5 (Fn. 150), S. 133; vgl. Rousseau, Contrat social, IV.5 (Fn. 186), S. 151-152: „Ce corps, que j'appellerai tribunat , est le conservateur des lois et du pouvoir législatif. [...] Le tribunat n'est point une partie constitutive de la cité, et ne doit avoir aucune portion de la puissance législative ni de l'exécutive, mais c'est en cela même que la sienne est plus grande: car ne pouvant rien faire i l peut tout empêcher. I l est sacré et plus révéré comme défenseur des lois que le prince qui les exécute et que le souverain qui les donne. [...]. Le tribunat sagement tempéré est le plus ferme appui d'une bonne constitution; mais pour peu de force qu'il ait de trop i l renverse tout." 308
6 Thiele
82
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
träges von seiten der „exekutiven Gewalt [...] im weitesten Sinne des Worts" 3 1 1 zu intervenieren, ist das „Staatsinterdikt. 312 Erst das Interventionsmittel des Staatsinterdikts, konterkariert die Asymmetrie der Verteilung aller verfassungsmäßigen Souveränität zugunsten der (dreidimensionalen) Regierung durch die asymmetrische Zuteilung aller konstituierenden Souveränität an das Volk, wobei dem Ephorat, wie es scheint, lediglich eine Mittlerfunktion zugedacht ist. „Es ist sonach Grundsatz der recht- und vernunftgemäßen Staatsverfassung, daß der absolut positiven Macht eine absolut negative an die Seite gesetzt werde." 3 1 3
An der „absolute [n] Freiheit und persönlichen Sicherheit der Ephoren von der exekutiven Gewalt „hängt die Sicherheit des Ganzen." 3 1 4 Soll das Ephorat als Treuhänder des Gemeinwillens des rechtlich nicht existierenden Volkes der „exekutiven, mit Übermacht versehenen, Gewalt das Gegengewicht [...] halten" können, dann muß erstens die Sicherheit der Ephoren, d. h. ihre Immunität gegenüber der Exekutive garantiert sein. „Ihre Person muß daher durch das Gesetz gesichert werden, d.i. sie müssen für unverletzlich (sacrosancti) erklärt werden. Die geringste Gewalttätigkeit gegen sie, oder auch nur die Androhung der Gewalt, ist Hochverrat, d.i. unmittelbarer Angriff auf den Staat." 3 1 5
Zweitens aber sei die Unabhängigkeit der Ephoren von möglicher Beeinflussung seitens der Regierung sicherzustellen. Dazu müsse zunächst verhindert werden, daß die Ephoren mit den „Verwaltern [...] der exekutiven Gewalt [...] in Umgang, Verwandtschaft, freundschaftlichen Verhältnisse[n], und dergleichen stehen", worüber das Volk speziell mittels demokratischer Wahl der Ephoren zu wachen habe. 3 1 6 Ausgeschlossen wird demnach sowohl die Wahl der Ephoren durch Regierungsmitglieder als auch die Kooptation. 317 Drittens aber müsse komplementär zur Unabhängigkeit der Ephoren von der Regierung verhindert werden, daß sie sich aus der Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk lösen und de facto eine souveräne Position für sich reklamieren. Fichte modifiziert Rousseaus Plädoyer zugunsten eines nur periodisch tagenden Tribunates, 318 wenn er als einzig denkbares Gegenmittel die zeitliche Limitierung des Ephorenamtes empfiehlt, was freilich nur 311
Naturrecht, § 16, S. 161. Ebd., S. 172. 313 Ebd. 314 Ebd., S. 177. 315 Ebd. 316 Ebd., S. 180 f. 317 Damit scheint Fichtes Modell, jedenfalls auf den ersten Blick, deutlich demokratischer als das Sieyessche Kooptationsmodell; vgl. Fn. 285. 318 Vgl. Rousseau, Contrat social, IV.6 (Fn.186), S. 152. 312
11. Die Doppelfunktion des Ephorats
83
schwer harmoniert mit seinem Plädoyer zugunsten uniimitierter Regierungsmitgliedschaft. „Ferner - es ist ratsam, ja beinahe notwendig, daß die exekutive Macht auf Lebzeiten verliehen werde, weil der Verwalter derselben seinen Stand verliert; aber es ist ebenso ratsam, daß das Ephorat nur auf eine bestimmte Zeit verliehen werde, da es gar nicht nötig ist, daß der Ephor durch dasselbe seinen Stand verliert." 3 1 9
Auch wenn aufgrund der Empfehlungen Fichtes sowohl die Unabhängigkeit des Ephorates von der exekutiven Gewalt als auch ihre Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk sichergestellt werden könnten, so bliebe doch die Frage bestehen, inwiefern die Institution des Ephorats das strukturelle Demokratiedefizit in der Organisation der öffentlichen Gewalt zu kompensieren geeignet wäre. Ob Ephorat und Interdikt als funktionales Äquivalent der bei Fichte nicht vorgesehenen superioren legislativen Normierungskompetenz des Volkes gegenüber den exekutiven Gewalten oder lediglich als deren minderwertiges Surrogat gewertet werden können, hängt davon ab, welche konkreten Kompetenzbeziehungen zwischen den drei politischen Kräften herrschen sollen. Auch in diesem Punkt mag es ratsam sein, Fichtes Ausführungen daraufhin zu befragen, ob und in welcher Weise sie Rousseaus Bemerkungen über das Tribunat einerseits 320 und über die Volksversammlungen andererseits 321 interpretieren.
319 320 321
6*
Naturrecht, §1 6, S. 180 f. Rousseau, Contrat social, IV.5. Rousseau, Contrat social, III. 12, III.13, III.14.
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant Zunächst benötigt das Ephorat ,,[k]lare Beweise, daß das Konstitutionalgesetz des Rechts verletzt" wäre, sei es, daß Gesetze ohne Anwendung blieben, sei es, daß sich die Befehle der Exekutiven Gewalt 1 widersprächen oder daß sie, um dies zu vermeiden, offene Ungerechtigkeiten zur Folge hätten. 3 2 2 Bei Vorliegen entsprechender Beweise hätte das Ephorat die verfassungsrechtlichen Befugnisse der ,pouvoirs constitués4 insgesamt (und nicht nur einzelne verfassungswidrige Hoheitsakte) unverzüglich aufzuheben. In Analogie zum kirchlichen Interdikt bezeichnet Fichte die „Aufhebung aller Rechtsgewalt" als „Staatsinterdikt", denn auch dieses habe den Zweck, „den Gehorsam derer, die ihrer bedürfen, zu erzwingen". 323 Die Verkündung des Staatsinterdikts durch das Ephorat soll zweierlei Konsequenzen haben: Die Suspendierung der öffentlichen Gewalten hätte erstens die unmittelbare Folge, daß „alles, was sie von diesem Augenblicke an entscheiden, als ungültig, und rechtsunkräftig angekündigt" würde. 3 2 4 Zweitens würden die „bisherigen Verwalter der exekutiven Macht für bloße Privatpersonen, und alle ihre Befehle, Gewalt zu brauchen, für rechtsunkräftig erklärt." 3 2 5 Mit dem Interdikt würden neben den von diesem Zeitpunkt an erteilten Rechtsbefehlen sowohl die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der Regierungsgewalt(en) als auch die staatsrechtliche Stellung der „Magistratspersonen" selbst suspendiert; mit der durch die Ephoren advokativ ausgesprochenen und damit rechtswirksamen Aufkündigung des Übertragungsvertrages wären sämtliche Hoheitsrechte außer Kraft gesetzt, so daß die Regierungsmitglieder, die vormals eine staatsrechtlich privilegierte Stellung innehatten, nurmehr als „bloße Privatpersonen" existierten. Jede weitere von ihnen befohlene Zwangsmaßnahme wäre mithin als „Widerstand gegen den, durch die Ephoren erklärten gemeinsamen Willen, mithin Rebellion" zu werten und zu „bestraften]". 326 322
Naturrecht, § 16, S. 168 f. Ebd., S. 172. 324 Ebd. 325 Ebd. 326 Naturrecht, § 16, S. 172. Es scheint mir an dieser Stelle wenig sinnvoll, die mögliche Inkonsistenz näher zu untersuchen, die darin liegen mag, daß Magistratspersonen nun als einfache Privatpersonen existieren, die, obwohl keine autorisierte Zwangsgewalt mehr vorhanden ist, dennoch bestraft werden können. Wahrschein323
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
85
Wenn Fichte erklärt, die „Ankündigung des Interdikts [sei] zugleich die Zusammenrufung der Gemeine", dann um deutlich zu machen, daß trotz einer etwaigen empirischen Zeitdifferenz zwischen beiden Vorgängen, diese logisch eine untrennbare Einheit bilden, weil die Beziehung zwischen Ephorat, Regierung und Volk im Falle des Verfassungsstreites analog dem Verfahrensmodell eines Strafprozesses geregelt sein müsse: Das Ephorat soll - in schärfstem Gegensatz zur verfassungsjuridischen Praxis unserer Tage - nicht als Richter, sondern als Ankläger gegenüber der Regierung als beklagter Partei auftreten. „Die positive, und negative Macht, die Exekutoren und Ephoren, sind vor der versammelten Gemeine, zu richtende Parteien, mithin können sie selbst nicht Richter sein in ihrer Sache, und gehören nicht zur Gemeine, die man in dieser Rücksicht nun auch das Volk nennen kann. - Die Ephoren instruieren den Prozeß [...] und sind insofern Kläger; die Exekutoren verantworten sich, und sind insofern die Beklagten." 3 2 7
Fichte scheint sich trotz aller Rückbindung an die Tradition des naturrechtlichen Widerstandsrechts 328 definitiv auf den Boden der französischen Theorie des pouvoir constituant des Volkes zu stellen, wenn er hervorhebt, daß dieses, im Unterschied zu den Ephoren, der Regierung sowie den einzelnen Untertanen, unmöglich zur beklagten Partei eines Verfassungsstreites werden könne. Denn das Volk als der legitimierende ,Urquell 4 allen Rechts und aller Kompetenzen der pouvoirs constitués könne weder durch das positive Staatsrecht, noch durch den einmal im verfassunggebenden Staatsbürgervertrag geäußerten pouvoir constituant gebunden sein, 3 2 9 weswegen es schlechterdings auch keinen Akt der Rebellion begehen könne:
lieh ist immerhin, daß Fichte mit der Außerkraftsetzung des staatlichen Zwangsrechtes die Wiederkehr des Urrechts verband, das zur gewaltsamen Abwehr nötigender Zwangsmaßnahmen von Seiten anderer Personen absolut berechtigt; vgl. Naturrecht, § 10, S. 113: „Das Urrecht ist [...] das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein. (Schlechthin nie Bewirktes)." 327 Naturrecht, § 16, S. 175. 328 y g i K urt Wolzendorjf, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916, S. 403 ff., 482 ff. 329
Fichte rekurriert damit auf das Axiom des frühen Sieyes, demgemäß den verfassungsrechtlich gebundenen Organen der öffentlichen Gewalt (einschließlich der Legislativkörperschaft) jeder modifizierende Zugriff auf die Verfassung verwehrt bleiben muß: „je ne cesse de répéter que le Pouvoir constituant & le Pouvoir constitué ne devroient point se confondre; que la Mission donnée pour exercer la Législature ordinaire, est toute différente de celle qui a pour objet d'établir ou de réformer la Constitution"; vgl. Sieyes, Instruction donnée pas S.A.S. Monseigneur le Duc d'Orléans à ses Répresentans aux baillages. Suivie de délibérations à prendre dans les assemblées, 4. Aufl., Ed. Edhis vol. 1, no. 4, S. 75.
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
86
„Aber [...] das Volk ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchste Ungereimtheit, die je gesagt worden; denn das Volk ist in der Tat, und nach dem Rechte, die höchste Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist. Durch seine Versammlung verliert die exekutive Gewalt die ihrige, in der Tat, und nach dem Rechte. Nur gegen einen höheren findet Rebellion statt. Aber was auf Erden ist höher denn das Volk!" 3 3 0 Fichte mag hier direkt auf Rousseaus D i k t u m angespielt haben, nach dem der Vertretende dort zu schweigen habe, w o der Vertretene spreche, zumal die entsprechende Passage keinen H i n w e i s auf funktionale Gewaltenteilung enthält, sondern i m Gegenteil die Regierung als zugleich rechtsprechende Gesamtgewalt voraussetzt, gegenüber der das V o l k normalerweise lediglich als Gesamtheit der Untertanen zu existieren scheint: „Von dem Augenblick an, da das Volk rechtmäßig als souveräne Körperschaft versammelt ist, endet jede Rechtsprechung der Regierung, ist die Exekutive ausgesetzt und die Person des letzten Bürgers genauso geheiligt unverletzlich wie die des ersten Beamten, weil es keinen Stellvertreter mehr gibt, wo sich der Vertretene befindet." 3 3 1 Fichte glaubt sich fälschlich m i t Rousseau einig, wenn er die praktische Metamorphose des Bürgers v o m Untertanen z u m Souverän allein auf den Eintritt bzw. die Erklärung des verfassungsrechtlichen Ausnahmezustandes begrenzt, während i m fraglichen Passus des Contrat
social
zweifellos von
der regulären Gesetzgebungsversammlung die Rede ist. D i e unter den normalen Bedingungen des als gültig anerkannten „ U n t e r w e r f u n g s v e r t r a g e s " 3 3 2 latente, rechtlich inexistente »transzendentale 4 Qualität des Volkes als des legitimen Urhebers allen Rechts aktualisiere sich i n Interdikt u n d Volksversammlung und finde i n diesen Rechtsinstituten seine zureichende verfassungsrechtliche Anerkennung und K o d i f i k a t i o n . 3 3 3 330
Naturrecht, § 16, S. 182. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III. 14 (Fn. 150), S. 101; vgl. Rousseau, Contrat social, III. 14 (Fn. 186), S. 122-121: „ A l'instant que le peuple est légitimement assemblé en corps souverain, toute jurisdiction du gouvernement cesse, la puissance exécutive est suspendue, et la personne du dernier citoyen est aussi sacrée et inviolable que celle du premier magistrat, parce qu'où se trouve le représenté, i l n'y a plus de représentant." 332 Naturrecht, § 17, S. 206. 333 Bezieht man Fichtes unzeitgemäße Überlegungen zur (nicht gewaltenteiligen) Organisation der öffentlichen Gewalt in die Frage nach der »verfassungsrechtlichen 4 Stellung und Funktion von Ephorat und Interdikt ein, so ist es kaum, wie Richard Schottky sagt, „merkwürdig, daß Fichte Kants Aufsatz vom September 1793 ,Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis 4 nicht erwähnt"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 214. Denn immerhin identifiziert Kant erstens den Gesetzgeber mit dem Souverän, dem alle Exekutivrechte entzogen sein müssen (vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, B A 26) und dessen Beschlüsse, wenn er nicht, wie von der Vernunft gefordert, mit dem Volk identisch ist, mindestens einen „kognitiven Zustimmungskonsens" auf Seiten der 331
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
87
Fichtes Selbstverständnis als Anhänger der französischen Volkssouveränitätstheorie w i r d zudem daran ablesbar, daß er gegen die
Möglichkeit
eines auf ein Staatsinterdikt folgenden „ungerechten Spruches" des Volkes keine materialen legitimationstheoretischen Einwände formuliert: Er betont lediglich die durch öffentlichen Vernunftgebrauch verbürgte Unwahrscheinlichkeit - nicht aber I l l e g i t i m i t ä t - naturrechtswidriger (hier: dem B e g r i f f des Zwangsrechts widersprechender) Beschlüsse. „Wenn sie [die „Gemeine"] den Magistrat, der der Anklage der Ephoren zufolge etwas ungestraft gelassen hat [...], lossprechen, so beschließen sie dadurch, daß dies nie bestraft werden, sondern eine rechtmäßige Handlung sein solle, die gegen jeden von ihnen auch verübt werden könne. [...] Sie werden sonach ohne Zweifel, die Sache reiflich überlegen, und sich vor einem ungerechten Spruche hüten." 3 3 4 D a alle Beschlüsse des Volkes i n einem Verfassungsstreit zwischen Ephorat und Regierung unmittelbar „konstitutionelles Gesetz" w e r d e n , 3 3 5
das
V o l k m i t h i n durch das Staatsinterdikt i n die Rolle des Verfassungsgesetzgebers (wieder) einrückt, es damit seine vorpolitischen Urrechte (partiell) reaktiviert, können d e m Gebrauch dieser Rechte keine anderen Rechtsinstitute normativ vorangehen. Fichte scheint an dieser Stelle Rousseaus (und Kants) A b k e h r v o m materialen Naturrecht zugunsten des p r o z e d u r a l e n 3 3 6 i n aller Konsequenz mitzuvollziehen, insofern auch er dem V o l k das Recht auf Irrtum zuerkennt. 337
Untertanen erfordern; vgl. Wolfgang Kersting, Liberalismus, Kommunitarismus, Republikanismus. in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 127-148, 128; Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, B A 21, Anm. Zweitens wendet sich Kant auf dieser Basis gegen alle Verfassungsentwürfe, die die ursprünglichen Rechte des Volkes durch ein konstitutionelles Widerstandsrecht zu sichern trachten: Dieses nämlich hätte zur Konsequenz, daß die Verfassung neben dem ordentlichen Souverän einen weiteren außerordentlichen Souverän etablierte: „Denn daß die Konstitution auf diesen Fall ein Gesetz enthalte, welches die subsistierende Verfassung, von der alle besonderen Gesetze ausgehen, (gesetzt auch der Kontrakt sei verletzt) umzustürzen berechtigte: ist ein klarer Widerspruch; weil sie alsdann auch eine öffentlich konstituierte Gegenmacht enthalten müßte, mithin noch ein zweites Staatsoberhaupt, welches die Volksrechte gegen das erstere beschützte, sein müßte, dann aber auch ein drittes, welches zwischen beiden, auf wessen Seite das Recht sei, entschiede"; vgl. Kant, Gemeinspruch, A 262 f. Fichte mag Kants Einwand, der seinerseits auf Rousseaus Rede von den „deux souverains, l'un de droit et l'autre de fait" angespielt haben mag (Rousseau, Contrat social, III. 1 (Fn. 186), S. 89), gegenwärtig gewesen sein, als er der Regierung die Rolle der beklagten Partei, dem Ephorat die des Anklägers und der Volksversammlung die des Richters zuschrieb. 334 335 336
Naturrecht, § 16, S. 174. Ebd., S. 170. Vgl. Maus (Fn. 253), S. 148 ff.
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
88
Doch umgekehrt wird die Relevanz der französischen Volkssouveränitätstheorie dadurch erheblich gemindert, daß der konkrete Gebrauch, den das Volk in Fichtes Modell von jenen durch die Verfassung zu garantierenden Restbeständen von Souveränitätsrechten machen kann, sehr stark restringiert wird. Zwar soll der Urteilsspruch des durch Interdikt versammelten Volkes kategorisch „konstitutionelles Gesetz" sein, wodurch immerhin ein gewisser Ausgleich für die fehlende demokratische Organisation der einfachen Gesetzgebung gewährleistet scheint. Doch die Bedingungen, unter denen ein solches Verfahren überhaupt zustande kommen könnte, sind, wie in der Literatur des öfteren bemerkt wurde, so komplex, daß der Gebrauch dieses Demokratiesubstitutes auf den extremen Ausnahmefall beschränkt wäre, wobei die Praktikabilität auch hier noch fraglich bliebe. Dies hat vor allem drei Gründe: (1) Das Ephorat würde sich hüten, ein Verfahren anzustrengen, in dem der Ausgang zu seinen Gunsten nicht absolut gewiß wäre; denn eine unrechtmäßige Anklage müßte nach Fichte allemal als Hochverrat gewertet und sanktioniert werden. 3 3 8 (2) Er nennt genau drei Fälle, in denen eine offenkundige Verletzung des Übertragungskontraktes bzw. des „Konstitutionalgesetzes" von Seiten der Regierung vorliegt: „1. Daß das Gesetz in irgendeinem Falle, binnen der bestimmten Zeit, keine Ausübung finde. 2. Daß die Verwalter der öffentlichen Macht sich selbst widersprechen, oder eben, 3. um sich nicht zu widersprechen, offenbare müssen." 3 3 9
Ungerechtigkeiten begehen
Doch vor allem die beiden letztgenannten Bestimmungen bieten jedenfalls von sich aus keineswegs eindeutige Beurteilungsmaßstäbe für den konkreten Fall. So ist es beispielsweise nicht ohne weiteres feststellbar, ob die drei Funktionen in sich vereinigende Regierung widersprüchliche Rechtsbefehle gibt, und schon gar nicht läßt sich ein strikt deskriptives Urteil darüber fällen, ob „offenbare Ungerechtigkeiten" begangen 337
Rousseau bezieht sich ausdrücklich auch auf „lois fondamentales", die die Organisation der öffentlichen Gewalt regeln, wenn er dem Volk ein Recht, sich selbst zu schaden zuspricht: „D'aillieurs, en tout état de cause, un peuple est toujours le maître de changer ses lois, même les meilleures; car s'il lui plaît de se faire mal à lui-même, qui est-ce qui a droit de l'en empecher"; vgl. Rousseau, Contrat social, 11.12 (Fn. 186), S. 79. „Übrigens hat es ein Volk, wie auch die Lage sei, stets in der Hand, seine Gesetze zu ändern, selbst die besten; denn wer hat das Recht, es daran zu hindern, wenn es ihm gefällt, sich weh zu tun?"; vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 11.12 (Fn. 150), S. 59. 338 Naturrecht, § 16, S. 174 f. 339 Ebd., S. 168 f.
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
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worden sind. Mangels organisatorischer Binnendifferenzierung der öffentlichen Gewalt und entsprechender verfassungsrechtlicher Unbestimmtheit konkreter Kompetenzen und Verantwortlichkeiten kann das Ephorat weder Organstreitigkeiten entscheiden, noch ein formales Normenkontrollrecht ausüben, sondern lediglich materiale Normenkontrolle praktizieren, die freilich auf abstrakt-allgemeine rechtslogische sowie gewohnheitsrechtliche bzw. moralische Legitimitätsmaßstäbe rekurrieren müßte. Ob eine Rechtsnorm, sei es ein Gesetz, sei es eine Verwaltungsmaßnahme oder ein richterliches Urteil, als verfassungsrechtlich legitim oder illegitim zu werten ist, hängt jedenfalls nicht von seiner Genese ab. Indem Fichtes Verfassungsskizze nicht nur auf funktionale, sondern ebenso auf personale Gewaltenteilung verzichtet, muß auch seine Funktionszuweisung an das Ephorat wesentlich von derjenigen, die Rousseau bezüglich eines Tribunates entwarf, abweichen. Auch Rousseau forderte, daß das Tribunat einerseits, insofern es den öffentlichen Gewalten übergeordnet sei, mit einer ,absolut prohibitiven Macht 4 ausgestattet sein müsse, jedoch „keinerlei Anteil weder an der gesetzgebenden noch an der ausführenden Gewalt haben" dürfe. Aber andererseits habe es sich, insofern seine Aufgabe in der Bewahrung der gewaltenteiligen Organisationsstruktur der öffentlichen Gewalt bestehe, als „conservateur des lois et du pouvoir législatif 4 zu betätigen. 340 In Rousseaus Modell hat daher das Tribunat als „défenseur des l o i s " 3 4 1 vorrangig die in der Gesetzgebung sich realisierende Souveränität des Volkes gegen etwaige Übergriffe der Inhaber politischer Zwangsgewalt zu schützen, nicht aber, wie bei Fichte, die materiale »Gerechtigkeit 4 sämtlicher Rechtsbefehle der öffentlichen Gewalt zu prüfen. Rousseaus aber nicht Fichtes Modell einer verfassungsrechtlichen Aufsichtsinstanz ist daher mit Kants Warnung vor der Gefahr einer Verdoppelung der souveränen Gewalt vereinbar: „Nun kann über den souverain keine richterliche Gewalt und kein rechtmäßiger Zwang seyn, weil sonst nicht er sondern diese Macht souverain seyn würde." 3 4 2
340
Rousseau, Contrat social, IV.5 (Fn. 186), S. 151. Ebd., S. 152. 342 Kant, Reflexion No. 8051, in: A A , Bd. X I X , S. 594. Kants Plädoyer zugunsten der Gewaltenteilung schließt jede Souveränitätsteilung aus: „Kein Theil der souverainen Gewalt kann dem anderen wiederstreiten, weil sonst keine obere Gewalt seyn würde, die darüber entschiede. Aller Wiederstreit betrift nur die Regierung und das gouvernement"; vgl. Kant, Reflexion No. 7770, in: A A , Bd. X I X , S. 511; vgl. auch Kant, M A R , Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins, A 175, Β 205: „Ja es kann auch selbst in der Konstitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt im Staat mög341
90
12. Ephorat, Staatsinterdikt und pouvoir constituant
(3) Das Problem, daß zwar Fichte einerseits Ephorat, Interdikt und Volksversammlung als Demokratieäquivalente bzw. -surrogate konzipierte, diesen Korrektiven gegenüber der gesetzgebenden Exekutive aber andererseits nur außerordentliche Kontrollfunktionen zudachte, verschärft sich noch, wenn man die Frage nach dem generellen normativen Verhältnis zwischen dem „Unterwerfungsvertrag" 343 und den eigentumsrechtlichen Implikationen des Staatsbürgervertrages in die Untersuchung einbezieht.
lieh machte, sich i m Fall der Übertretung der Konstitutionalgesetze durch den obersten Befehlshaber ihm zu widersetzen, mithin ihn einzuschränken." 343 Naturrecht, § 17, S. 206.
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages als Erklärungsgrund für Fichtes vordemokratische Gewaltenteilungskonzeption? Wie sich zeigte, liegt die eigentliche Crux der Naturrechtslehre Fichtes darin, daß sie, im Widerspruch mit den Lehren Rousseaus und Kants, die einfache Gesetzgebung vollständig dem Zuständigkeitsbereich der Regierung subordiniert. Um dies zu rechtfertigen, führt Fichte drei Argumente an: Erstens sei die Gesetzgebung nichts weiter sei als Naturrechts- bzw. Verfassungsvollzug, 344 zweitens könne nur die ,νοη Natur 4 sachverständige Regierung „das Ganze, und alle Bedürfnisse desselben immerfort [übersehen] 4 ' 345 und drittens werde die Regierung im Falle naturrechtswidriger Gesetzgebung durch entstehende gesellschaftliche „Unordnungen genötigt, gerechte, von jedem Verständigen zu billigende, Gesetze zu geben. 44346 Aus diesen drei Gründen sei die einfache Gesetzgebung definitiv nicht zu den Funktionen zu rechnen, die dem Volk als dem Souverän, d.h. den Individuen als den Eignern ursprünglicher Freiheitsrechte, vorzubehalten wären. Dieser autoritative Grundzug wird besonders dort deutlich, wo Fichte die Doppelrolle des Bürgers als Souverän und Untertan in Hinblick auf dessen Verhältnis zum Gesetzesrecht erläutert: „Wenn ich nämlich meine Bürgerpflichten ununterbrochen, und ohne Ausnahme erfülle, wozu allerdings mitgehört, daß ich auch gegen Einzelne, nicht über die, durch das Gesetz mir verstattete Grenze meiner Freiheit schreite, so bin ich, was meinen öffentlichen Charakter betrifft, nur Teilhaber an der Souveränität, und was meinen Privatcharakter betrifft, nur freies Individuum, nie aber Untertan. Das letztere werde ich nur dadurch, daß ich meine Pflichten nicht erfülle." 3 4 7
Während Rousseau und Kant den Bürger in der Rolle des Gesetzgebers als Souverän bezeichneten und den Untertanenstatus mit der Rolle des Gesetzesadressaten verbanden, 348 verkürzt Fichte die Rechtsstellung der imperantes auf die Rechtspflicht zu gesetzeskonformem Verhalten, während der Bürger in den Status des subditus allein durch gesetzwidriges Handeln ein344
Naturrecht, § 16, S. 161; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 189. Naturrecht, Einleitung, S. 16; zum Gegensatz zwischen Fichtes und Rousseaus Begriff der exekutiven Gewalt vgl. Schottky (Fn. 7), S. 181. 346 Naturrecht, § 16, S. 161. 347 Naturrecht, § 17, S. 206. 348 Vgl. Rousseau, Contrat social, II.6, II.7, III. 1 ; Kant, M A R , §§ 45, 46, 47, 51. 345
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13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages
trete. In beiden Fällen jedoch sind die Rechtsnormen, denen ich als Souverän gehorche und die ich als Untertan übertrete, nicht-autonomen Ursprungs. Es scheint, daß Fichte die Inkompatibilität seines Verfassungsentwurfs, dessen organisatorische Dimension jedenfalls für das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive keine strikte Gewaltenteilung vorsieht, mit Rousseaus und Kants Optionen zugunsten funktionaler und personaler Gewaltenteilung 349 unterschätzte und, wo sie nicht zu übersehen war, jedenfalls nicht für substanziell hielt. 3 5 0 Fichtes Entwurf einer vordemokratischen „RegierungsVerfassung" 351 einschließlich der hypothetischen Ergänzung des Staatsbürgervertrages um einen „mit den Verwaltern der exekutiven Gewalt zu schließenden Übertragungskontrakt" 352 ist im Vergleich mit Kant aber auch schon mit Rousseau zweifellos als unzeitgemäß zu werten. Eine Möglichkeit, diese »Rückständigkeit' zu erklären, könnte sich eröffnen, wenn man sich auf die eigentumsvertragliche (bzw. eigentumsrechtliche) Komponente des Staatsbürgervertrages konzentriert. Besondere Beachtung verdient dabei das Prinzip distributiver Gerechtigkeit, das dem Eigentumsvertrag einen umverteilungsdynamischen Effekt verleiht. Von speziellem Interesse dürfte dabei die Frage sein, welcher Art die subjektiven Rechte sind, die jenem Prinzip entsprechen, und inwiefern man sinnΛ
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vollerweise von „subjektiven öffentlichen Rechten" sprechen kann. Einerseits betont Fichte, daß der „erste im Staatsvertrage liegende Vertrag über das Eigentum überhaupt [...] das Rechtsverhältnis jedes Einzelnen gegen alle Einzelnen im Staate" begründe. Insofern im Eigentumsvertrag „jedem Einzelnen ein bestimmter Teil der Sinnenwelt, als Sphäre dieser seiner Wechselwirkung [mit allen anderen Vertragspartnern] ausschließlich zugeeignet" werde, sei der Eigentumsvertrag die Grundlage „dessen, was man Zivilgesetzgebung, bürgerliches Recht usw. nennt". 3 5 4 349
Vgl. Kant, M A R , § 48: „Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae), d.i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung; aber zweitens auch einander untergeordnet (subordinatae), so daß eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d.i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens durch Vereinigung beider jedem Untertanen sein Recht erteilend"; vgl. auch ebd., §§ 45, 49. 350 v g l Naturrecht, Einleitung, S. 14. 351
Naturrecht, § 16, S. 163. Naturrecht, § 21, S. 288. 353 Die klassische typologische Unterscheidung zwischen Grundrechten des status negativus, des status positivus und des status activus findet sich in: Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1919, S. 87, 94 ff. 352
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages Während die übertragungsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages Staatsrecht erzeugt, wäre demnach die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages kontraktueller Rechtsgrund des Privatrechts. Insofern der Eigentumsvertrag lediglich Privatrecht, d.h. ein System von Rechten und korrespondierenden Pflichten zwischen Privatpersonen, begründe, könne eine von wem immer verursachte Verletzung der Prinzipien des Eigentumsvertrages allenfalls die Außerkraftsetzung aller Vertragspflichten auf Seiten des Geschädigten zur Folge haben. Im äußersten Fall sei derjenige, dessen Leben in Gefahr gerate, weil er weder über hinreichendes Sacheigentum verfüge, noch von seiner Arbeit leben könne, von allen privatrechtlichen Verpflichtungen entbunden, weil er in seinem „absolute[n] unveräußerliche[n] Eigentum aller Menschen", d.h. in seinem Naturrecht, „leben zu können", verletzt worden sei. 3 5 5 „Alles Eigentumsrecht gründet sich auf den Vertrag Aller mit Allen, der so lautet: wir alle behalten dies, auf die Bedingung, daß wir dir das Deinige lassen. Sobald also jemand von seiner Arbeit nicht leben kann, ist ihm das, was schlechthin das Seinige ist, nicht gelassen, der Vertrag ist also in Absicht auf ihn völlig aufgehoben, und er ist von diesem Augenblicke an nicht mehr rechtlich verbunden, irgendeines Menschen Eigentum anzuerkennen." 356
Wird nach Fichte das Urrecht einer Person, d.h. das „absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein", 3 5 7 insofern verletzt, als diese von ihrer Arbeit nicht leben kann, werden für den in seinem Naturrecht lädierten alle anderen aus dem Eigentumsvertrag resultierenden Rechtspflichten nichtig; ist die allerelementarste pragmatische Bedingung der äußeren Freiheit einer Person durch den praktischen Gebrauch, den andere Privatpersonen von ihren Urrechten machen, nicht erfüllt, dann erlischt für die geschädigte Person jede eigentumsvertragliche Verpflichtung, fremdes Privateigentum zu respektieren. Die Gefährdung des eigenen Lebens scheint demnach auf den ersten Blick lediglich Rechtspflichten gegenüber anderen Privatpersonen aufzuheben und einen vorprivatrechtlichen Gebrauch des Urrechts im Sinne eines natürlichen Notrechtes zu erlauben, nicht aber den Staat und die Rechtsstellung der benachteiligten Person ihm gegenüber zu betreffen.
354
Naturrecht, § 18, S. 210. Ebd., S. 212. Die Parallele zur Jakobiner-Verfassung vom 24.6.1793, die in Art. 2 der der Acte constitutionnell vorangestellten Déclaration des droits de l'homme et du citoyen das „Eigentum" nach „Gleichheit, Freiheit, Sicherheit" erst als das vierte „natürliche und unveräußerliche Recht" des Menschen nennt, ist evident; vgl. Günther Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufl., Darmstadt 1964, S. 373. 356 Naturrecht, § 18, S. 213. 357 Naturrecht, § 10, S. 113. 355
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13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages
Andererseits jedoch wird das Prinzip „Jedermann soll von seiner Arbeit leben können" als „Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung", für dessen Realisierung „der Staat [...] Anstalten treffen" müsse, bezeichnet. 358 Damit wird ein Verhältnis von Rechten und Pflichten, das zunächst lediglich Privatpersonen betreffen sollte, als eines zwischen Staatsbürgern interpretiert: „Jeder besitzt sein Bürgereigentum, nur insofern und auf die Bedingung, daß alle Staatsbürger von dem ihrigen leben können; und es hört auf, inwiefern sie nicht leben können, und wird das Eigentum jener; es versteht sich immer, nach dem bestimmenden Urteil der Staatsgewalt." 359
Damit transformiert sich das „absolute unveräußerliche" Urrecht aller Menschen, von ihrer Arbeit leben zu können, von einem privatrechtlichen in ein staatsrechtliches Prinzip, dessen Vertragspartner nicht mehr Privatpersonen im Verhältnis zueinander, sondern Privatpersonen als Staatsbürger sind. Die eigentumsvertragliche Rechtsbeziehung der Privatpersonen untereinander wird nun durchsichtig als eine Rechtsrelation, die diese nur vermöge des Staatsbürgervertrags und des sich aus ihm herleitenden Staatsbürgerstatus verbindet. Man mag dies dahingehend lesen, daß aus einem zunächst natürlichen subjektiven Notrecht ein subjektives öffentliches Recht in einem sehr speziellen Sinn wird: Das Recht, von seiner Arbeit leben zu können, wird jetzt im Sinne eines sozialen »Grundrechtes 4 des status positivus gewendet, aus dem sich im Falle des Marktversagens konkrete Leistungsansprüche des Einzelnen an den Staat herleiten. „Die exekutive Macht ist darüber so gut als über alle anderen Zweige der Staatsverwaltung verantwortlich, und der Arme, es versteht sich, derjenige der den Bürgervertrag mit geschlossen hat, hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung."360
Dies Zwangsrecht auf Unterstützung, das der einzelne Staatsbürger gegebenenfalls geltend machen kann 3 6 1 und dessen unmittelbarer Adressat nun nicht mehr die begünstigten anderen Privatpersonen, sondern der Staat ist, verpflichtet diesen, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, mittels derer die durch reale Ungleichverteilungen gestörte eigentumsvertragliche Balance wiederhergestellt werden kann. 3 6 2 358
Naturrecht, § 18, S. 212. Ebd., S. 213 (Herv. v. Verf., U. T.). 360 Ebd., S. 213. 361 Die Pflicht, die Unverschuldetheit der Notlage nachzuweisen, obliegt freilich nach Fichte dem Geschädigten. Da aber auch i m Falle selbstverschuldeter Not der Rechtsanspruch auf Kompensationsleistungen von Seiten des Staates nicht erlöschen könne, sei letzterer dazu verpflichtet, das „Recht der Aufsicht, [...] wie jeder sein Staatsbürgereigentum verwalte", auszuüben; vgl. Naturrecht, § 18, S. 214. 362 Allerspätestens in diesem Zusammenhang hätte Fichte die Unverzichtbarkeit einer besonderen Organisation der einfachen Gesetzgebung, die nach gesellschafts359
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages Der Staat ist demnach gegebenenfalls gehalten, vermittels (vorrangig steuerpolitischer) Umverteilungsmaßnahmen dafür zu sorgen, daß die rechtlich zulässige Ungleichheit des Eigentums so weit reduziert wird, daß individuelle Notlagen durch die kompensierende Intervention einer staatlichen „Unterstützungsanstalt" 363 beseitigt werden können. „Von dem Augenblick an, da jemand Not seines Eigentums mehr an, der als Beitrag zu reißen, sondern er gehört rechtlich dem solche Repartition gleich im Bürgervertrage
leidet, gehört keinem derjenige Teil erfordert wird, um einen aus der Not Notleidenden an. Es müssen für eine Anstalten getroffen werden". 3 6 4
Entscheidend ist aber bei alledem, daß die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages allenfalls grundrechtsanaloge Rechtspositionen des status positivus, nicht aber, oder jedenfalls nur in sehr eingeschränktem Sinne, solche des status activus begründen bzw. verstärken können. Es ist dennoch nicht ganz berechtigt, dem Staatsbürgervertrag jeden Bezug zu partizipatorischen Rechten abzusprechen. Dies wird ersichtlich, wenn man Fichtes dreifache Untergliederung des Staatsbürgervertrages 365 hinsichtlich der Frage, welche Rechtsverpflichtungen die Bürger durch den Abschluß der (analytisch unterschiedenen) Teilverträge jeweils eingehen und welche Rechte ihnen jeweils erwachsen. Der Eigentumsvertrag umfaßt für den Bürger allein die negative Pflicht, Eingriffe in fremdes Eigentum zu unterlassen. 366 Der Schutzvertrag verlangt als positive Leistungen den wechselseitigen Schutz des im Eigentumsvertrag gegenseitig als rechtmäßig anerkannten Eigentums gegen Dritte und die Einrichtung einer schützenden Macht durch Beiträge eines jeden. 3 6 7 Der Vereinigungsvertrag schließlich soll neben dem Ephorat nicht nur eine „Regierungsverfassung", 368 sondern auch eine Regierung zustande bringen; der Vereinigungsvertrag muß daher um einen Herrschaftsübertragungsvertrag ergänzt werden 3 6 9 oder doch
vertraglichen (nicht: herrschaftsvertraglichen) Legitimitätskriterien notwendig demokratisch zu gestalten wäre, bemerken müssen; denn wer außer den Normadressaten sollte denn befugt sein, erstens den konkreten Grad an reeller Ungleichverteilung des Eigentums festzulegen, von dem an aktive Umverteilungspolitik geboten wäre, und zweitens zu bestimmen, bis zu welchem Grad an erreichter Eigentumsegalität diese Egalisierungspolitik erforderlich wäre? 363 Natun-echt, § 18, S. 215. 364 Ebd., S. 212. 365 Zur dreigliedrigen Struktur des Staatsbürgervertrages vgl. Hans Georg von ManZy Fairneß und Vernunftrecht. Rawls' Versuch der prozeduralen Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung i m Gegensatz zu ihrer Vernunftbestimmung bei Fichte, Hildesheim 1992, S. 125 ff. 366 Naturrecht, § 17, S. 196 f. 367 Ebd., S. 197 ff. 3
Naturrecht, § 16, S. 163.
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13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages
diesen, als Komponente, in sich enthalten. 370 Dieser nicht nur eine »Regierung überhaupt', sondern eine konkrete Regierung autorisierende hypothetisehe „Unterwerfungs-" bzw. „Ubertragungsvertrag" soll - dies läßt Fichte wenigstens an einer Stelle durchblicken - idealiter durch Wahlen abgeschlossen werden bzw. sich in ihnen aktualisieren: „Jeder gibt zum schützenden Körper seinen Beitrag: er gibt seine Stimme zur Ernennung der Magistratspersonen, zur Sicherung und Garantierung der Konstitution". 3 7 3 Man mag in dieser Passage, die zugunsten eines (im weiteren Sinne) demokratischen Regierungsbildungsverfahrens optiert, einen Widerspruch zu Fichtes Aussage, die Frage nach der besten „Regierungsverfassung [sei] keine Frage der Rechtslehre, sondern der P o l i t i k " 3 7 4 sehen, doch entscheidend in Hinblick auf das hier interessierende Problem des Verhältnisses zwischen Naturrechtsprinzipien distributiver Gerechtigkeit und Staatsverfassung ist etwas anderes: Auch eine gewählte Regierung muß dann zur Despotie tendieren, wenn sie sowohl frei ist von jeder Normierung durch eine unabhängige gesetzgebende Körperschaft oder Versammlung als auch unbehelligt durch eine Kontrolle seitens einer unabhängigen richterlichen Gewalt agieren kann. Die Wahl einer gewaltenverschmelzenden Regierung kommt einer Pauschalentäußerung von Souveränitätsrechten gleich, nicht aber demokratischer Kontrolle der Staatsgewalt; daher wäre nichts verfehlter, als in Fichtes Naturrecht von 1796 eine auch nur im weitesten Sinne demokratietheoretische Konzeption sozialer Grundrechte hineinzudeuten.
369
Achenwall, dessen Terminologie für Fichte maßgeblich gewesen sein dürfte, spricht ganz unzweideutig von zwei verschiedenen Verträgen: „Daher wird kein Staat begründet, und kann über freie Familien keine staatliche Herrschaft erworben werden, wenn nicht zu dem Vereinigungsvertrag noch ein Unterwerfungsvertrag hinzukommt. Ihn schließen die durch Vereinigungsvertrag schon vereinigten mehreren Familien als eine moralische Person, oder ein Volk, mit der Person, die als Herrscher eingesetzt wird, gleichgültig, ob diese vom Vereinigungsvertrag schon miterfaßt ist, oder nicht zu der Gesellschaft jener Familien gehört, die den Vereinigungsvertrag geschlossen haben"; vgl. Achenwall (Fn. 24), § 669, S. 215. 370 Dies scheint Heinz Georg von Manz anzunehmen, denn der fiktive Unterwerfungsvertrag gilt als die Kehrseite des Vereinigungsvertrages, die den Eintritt des bloßen Untertanenstatus ausschließlich an die Bedingung rechtswidrigen Verhaltens der Staatsbürger knüpft; vgl. Manz (Fn. 365), S. 128. 371 Naturrecht, § 17, S. 206. 372 Naturrecht, § 21, S. 288. Daß der Unterwerfungsvertrag zugleich ein Souveränitätsrechte transferierender Übertragungsvertrag ist, geht beispielsweise aus der folgenden Passage hervor: „Sobald der Ubertragungskontrakt geschlossen, geschieht mit ihm zugleich die Unterwerfung, und es ist, von nun an, keine Gemeine mehr da; das Volk ist gar kein Volk, kein Ganzes, sondern ein bloßes Aggregat von Untertanen"; vgl. Naturrecht, § 16, S. 176 f. 373 Naturrecht, § 17, S. 205. 374
Naturrecht, § 16, S. 163.
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages Die subjektiven öffentlichen Rechte, die nach Fichte dem Bürger aus der eigentumsvertraglichen Dimension des Staatsbürgervertrages zuwachsen, sind definitiv nicht partizipatorischer Art. Wenn man überhaupt von einer systematischen bzw. dynamischen Beziehung zwischen , Grundrechten 4 in Fichtes Naturrechtslehre sprechen kann, dann allenfalls im Sinne einer restriktiven Beziehung zwischen Abwehrrechten des status negativus und staatsbezogenen Leistungsrechten des status positivus. Dem notleidenden Bürger scheint ein individuelles einklagbares Recht auf Kompensationsleistungen des Staates zuerkannt zu sein, denn immerhin besitze der Bürger als Untertan ein „absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung". 375 Als beklagbare Partei wird die „exekutive M a c h t " 3 7 6 genannt, die als organisatorische Einheit von Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsfunktionen die Rechte des Souveräns und der Staatsgewalt (im weiteren Sinne) in sich vereinigt, und die komplementär zu dieser unitarischen Machtallokation verpflichtet ist, den benachteiligten Untertanen distributiv das naturrechtlich Ihre zukommen zu lassen. „Die Staatsgewalt hat die Oberaufsicht über diesen Teil des Vertrages, sowie über alle Teile desselben; und Zwangsrecht, sowohl als Gewalt, jeden zur Erfüllung desselben zu nötigen." 3 7 7
Verwehrt bleibt den Bürgern dagegen das Recht, qua Gesetzgebung die konkreten Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer umverteilende Eingriffe in die Eigentumsordnung sei es zum Zweck der angemessenen finanziellen Ausstattung jener „Unterstützungsanstalt", 378 sei es zum Zweck weitergehender wirtschafts- und sozialpolitischer Egalisierung von reellen Freiheitschancen erlaubt bzw. geboten wären. Damit aber wird dem Urrechtsinhaber das subjektive öffentliche Recht vorenthalten, über den konkreten distributiven (hier: sozialstaatlichen) Inhalt der „Idee des Gleichgewichts des Rechts" 3 7 9 selbst zu urteilen. Das Urrecht als das „absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein", 3 8 0 wird nicht wie bei Kant, der seinerseits Rousseau folgt, als Recht der Selbstgesetzgebung in der Sphäre des öffentlichen Rechts ausdifferenziert. Stattdessen wird das Urrecht mit unmittelbar rechtsgültigen positiven Leistungsansprüchen an den souveränen, weil zugleich gesetzgebenden Inhaber der Staatsgewalt ver-
375
Naturrecht, § 18, S. 213. Ebd. 377 Ebd., S. 215. 378 Ebd. 379 Naturrecht, § 12, S. 120. Das entsprechende Prinzip lautet: „Jeder beschränke seine Freiheit, den Umfang seiner freien Handlungen durch den Begriff der Freiheit des anderen, (so daß auch der andere, als überhaupt frei, dabei bestehen könne), ist der Grundsatz aller Rechtsbeurteilung"; vgl. Naturrecht, § 10, S. 112. 380 Naturrecht, § 10, S. 113. 376
7 Thiele
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13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages
knüpft, insofern dieser (und nicht das Volk) „das Ganze, und alle Bedürfnisse desselben, immerfort übersieht". 381 Wenn es berechtigt ist, in Hinblick auf Fichtes Naturrechtslehre von sozialen Grundrechten zu sprechen, dann ist ihr Sinn jedenfalls nicht partizipatorischer, sondern wesentlich paternalistischer Art. I m Naturrecht von 1796 sind die autoritativen Implikationen freilich noch nicht vollständig absehbar, zumal sich Fichte nicht eindeutig auf einen, die exekutive Gewalt konkret bindenden Kanon sozialer Grundrechte festlegt. So heißt es einerseits im Zusammenhang mit dem „Bedürfnis der Nahrung": „Leben zu können, ist das absolute unveräußerliche Eigentum aller Menschen." 3 8 2
Andererseits wird der weitergehende Grundsatz aufgestellt: „Es ist der Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können." 3 8 3
Würde nicht nur jenes absolute Urrecht, sondern auch dieser Verfassungsgrundsatz als individuell einklagbares Grundrecht des status positivus auf Garantieleistungen von Seiten der öffentlichen Gewalt kanonisiert, 384 dann ergäben sich für die Staatsorganisation sehr weitreichende wirtschaftspolitische Planungserfordernisse. Deren unvermeidliche freiheitsrechtswidrige Nebeneffekte notierte Fichte 1796 immerhin noch, wenngleich nur en passant: „ I n einem Volke von Nackenden wäre das Recht, das Schneiderhandwerk zu treiben kein Recht; oder soll es ein Recht sein, so muß das Volk aufhören, nackend zu gehen. Wir gestehen dir das Recht zu, solche Arbeiten zu verfertigen, heißt zugleich; wir machen uns verbindlich, sie dir abzukaufen. 385
Mitunter hat man den Eindruck, als sei Fichte jedenfalls 1796 (noch) keineswegs gewillt, den „aufgestellten Grundsatz", jeder müsse „von seiner Arbeit leben können", 3 8 6 in den Rang einer quasi-grundrechtlichen Ver381
Naturrecht, S. 15. Naturrecht, § 18, S. 212. 383 Ebd. (Herv. v. Verf., U. T.). 384 Die Jakobiner-Verfassung ließ diese Alternative wohlweislich unentschieden: „Art. 21. Les secours publics sont une dette sacrée. La société doit la subsistance aux citoyen malheureux, soit en leur procurant du travail soit en assurant les moyens d'exister à ceux, qui sont hors d'état de travailler." Günther Franz übersetzt: „Die öffentliche Unterstützung ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unterhalt, indem sie entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert"; vgl. Günther Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufl., Darmstadt 1964, S. 376 f. »Außerstande sein, zu arbeiten 4, kann auch bedeuten, daß die Marktnachfrage nach Arbeitskraft dauerhaft geringer ausfällt als das Angebot. 385 Naturrecht, § 18, S. 212. 382
386
Ebd.
13. Die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages pflichtung des Staates zu entsprechend »dirigistischen 4 Interventionen erheben zu wollen. Fichte scheint lediglich das schwächere „absolute Zwangsrecht auf Unterstützung" durch eine staatliche „Unterstützungsanstalt" 387 einzufordern. In der vier Jahre später erschienenen Schrift über den Geschloßnen Handelsstaat finden sich derartige Bedenklichkeiten nicht mehr. Dem Ideal der , zufallslosen 4 Distribution von Arbeiten durch den Staat entspricht nun das politische Monopol auf die Distribution von Gütern 3 8 8 und Eigentum. So heißt es beispielsweise: Alle „müssen ohngefähr gleich angenehm leben können 4 4 3 8 9 oder das Eigentum müsse „unter alle gleich verteilt werdefn]". 3 9 0
387 388 389 390
Ebd., S. 213 ff. Vgl. Handelsstaat (Fn. 1), S. 413. Ebd., S. 402. Ebd., S. 403.
14. Fazit Trotz aller Kontinuität in der sozialpolitisch-utopischen Dimension der Fichteschen Theorie scheint es mir dennoch verfehlt, die extrem advokative „Planstaatsutopie" 391 von 1800 in einem engen Sinn aus der ,,innere[n] Logik des einmal eingeschlagenen Weges" 3 9 2 von 1796 herzuleiten. 393 Nicht die sozialstaatlichen Implikationen des Naturrechts als solche sind despotismusträchtig. Fichtes Naturrecht von 1796 steht in völlig anderer Hinsicht den Wohlfahrtsdespotien des Absolutismus deutlich näher, als die zahlreichen Rousseauismen des Textes suggerieren. 394 Daß Fichte Anhänger einer materialen und nicht einer prozeduralen Naturrechtskonzeption war, weswegen seine Gesellschaftsvertragskonstruktion mit übertragungsvertraglichen Komponenten, die einer vordemokratischen Legitimitätslehre angehörten, vermengt blieb, gibt nur den allgemeinen Erklärungshintergrund für die wohlfahrtsdespotischen Tendenzen der frühen Naturrechtslehre. Erst die Kombination des materialen Naturrechts mit einem vordemokratischen (letztlich auch vorrechtsstaatlichen) 395 Verfassungsgrundriß, 396 der
391
Zum Begriff der „Planstaatsutopie" vgl. Ulrich Thiele, Verwaltete Freiheit. Die normativen Prämissen in Horkheimers Kantkritik, Frankfurt a.M. 1996, S. 115 ff., 232 ff.; zu Fichte als dem ,ersten Theoretiker der Planwirtschaft 4 vgl. Hans Hirsch, Fichtes Beitrag zur Theorie der Planwirtschaft und dessen Verhältnis zu seiner praktischen Philosophie, in: Hammacher (Fn. 3), S. 215-230. Zutreffend stellt auch Karl Hahn bei Fichte eine Tendenz zur „Reduktion des Politischen auf das Etatistisch-Gouvernementale" fest; vgl. Karl Hahn, Das Dilemma des progressiven Gesetzgebungsstaates als Problem der politischen Theorie J. G. Fichtes, in: Klaus Hammacher/Alhert Mues (Hrsg.), Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, S. 106-120, 106. 392
Braun (Fn. 263), S. 33. Vgl. dazu Klaus Hammacher, Über Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit im Anschluß an Kant, Fichte, Jacobi und einige Zeitgenossen, in: Hammacher/Mues (Fn. 391), S. 121-141, 127 ff. 394 Richard Schottky hatte noch die These vertreten, daß Fichtes Entwicklung zwischen 1793 und 1796 „nicht etwa von Rousseau weg, sondern erst zu Rousseau hinführte"; vgl. Schottky (Fn. 7), S. 115. Fichtes zunehmende Orientierung an Rousseau bedeutet aber nicht, wie Schottky unterstellt, daß dessen Interpretation die Quintessenz der Rousseauschen Lehre auch getroffen hat; vgl. ebd., S. 181. 395 Ebensowenig wie Fichtes Modell eine kompetenzbezogene Trennung von Legislative und Regierung vorsah, wurde eine institutionell selbständige Rechtsprechung gefordert. 393
14. Fazit
101
eine entsprechend unterdifferenzierte Organisation der öffentlichen Gewalten) durch eine eudämonistische Staatszwecklehre legitimiert, 3 9 7 kann diese fatale Kontinuitätslinie in Fichtes Denken erklären. Eine Pointierung sozialer , Grundrechte 4 als solche, auch wo sie als verfassungsrechtlich einklagbare positive Leistungsansprüche an den Staat ausformuliert werden, kann dazu jedenfalls nicht genügen. Zwar bezieht Fichte das Prinzip sozialer Gerechtigkeit von vornherein ausschließlich auf das Ideal der materialen Verteilungsgerechtigkeit, und dies geschieht zudem so, daß die eigentumsvertragliche Komponente des Staatsbürgervertrages allein als ein den Staat verpflichtendes Distributionsprinzip ausgelegt werden kann, das Rechtsansprüche auf fiskalische Kompensationen bzw. Eigentumsumverteilungen begründet. 398 Der entscheidende Mangel des Fichteschen Verfassungsgrundrisses aber liegt in folgendem: Über den konkreten gesetzgeberischen Inhalt des abstrakten, (auch) für den Eigentumsvertrag maßgeblichen Distributionsprinzips des „Gleichgewichts des Rechts" 3 9 9 hat nicht das Volk (oder seine gesetzgebenden Repräsentanten), sondern der ,Regent4 zu entscheiden, 400 während spiegelbildlich die Souveränitätsrechte der Bürger nur im verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand in Kraft treten und sich ansonsten in einer Pauschaldelegierung des politischen Gebrauchs der Freiheitsrechte zugunsten des Staates und einem , generalisierten System vertrauen 4 gegenüber der , fürsorgenden 4 Regierung erschöpfen. Erst mit dieser Festlegung auf ein wesentlich autoritatives Staatsmodell ist ein (im weiten Sinne) demokratischer Sozialismus ausgeschlossen und ein advokativer Sozialismus vorprogrammiert. Nur unter dieser verfassungsorganisatorischen Strukturprämisse kann Fichtes starke Gewichtung materialer Gerechtigkeitsprinzipien (auf Kosten freiheitsrechtlich-partizipatorischer Legitimitätsprinzipien) 396
Vgl. Manz (Fn. 365), S. 239: „ A u f Grund des Fehlens eines umfassenden politischen Grundprinzips bei Fichte ist die Möglichkeit einer durchgängigen freiheitlichen Gestaltung des Gemeinwesens nicht gegeben; das Gemeinwesen (der Staat) erscheint als rationaler Apparat der Sicherung von Rechten. Die daraus folgenden politischen 1 Maßnahmen sind rational notwendig und der freiheitlichen Gestaltung innerhalb des Gemeinwesens entzogen." 397 Der materialen Staatszwecklehre entspricht ein „technische [r] und strategische[r] Politikbegriff 1 ; vgl. Hahn (Fn. 391), S. 107. 398 Ausgeschlossen ist damit z.B. die Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit (auch) im Sinne partizipatorischer Grundrechte zu interpretieren, die demokratische Entscheidungsstrukturen für die Privatwirtschaft verfassungsrechtlich fordern. 399 Naturrecht, § 12, S. 120. 400 Daß die außerordentliche Verfassungsgesetzgebungskompetenz des Volkes im Zusammenhang mit dem Staatsinterdikt keineswegs als Demokratieäquivalent gewertet werden kann, ergibt sich bereits daraus, daß nach Fichte alle Verfassungsänderungen ebenso wie der ursprüngliche Verfassunggebungsakt einstimmig zu erfolgen haben; vgl. Naturrecht, § 16, S. 184 f.
14. Fazit
102
ihre verheerende W i r k u n g entfalten. Fatal ist nicht schon die Ausdifferenzierung des allem positiven Recht normativ vorangehenden „ j e d e m M e n schen, kraft seiner Menschheit, zustehende[n] Recht [es]" auf gleiche Freiheit401
durch »soziale Grundrechte'
-
Überlegungen i n dieser
Richtung
finden sich bekanntlich auch i n der Kantischen R e c h t s l e h r e 4 0 2 - , sondern der v o n Fichte vorausgesetzte despotische Staatsformkontext; denn nur innerhalb einer vordemokratischen Staatsrechtslehre konnte das Prinzip distributiver Gerechtigkeit, insbesondere w o dessen Erfüllung v o n Seiten der Regierung die Bedingung des Fortgehens eines speziellen „Unterwerfungsvertrages" sein soll, zu einer Lehre v o n den materialen
Staatszwecken
ausgebaut werden, die m i t der freiheitsrechtlichen Grundorientierung der Kantischen Rechtslehre i n K o n f l i k t geraten mußte. Kants konsequente Zurückweisung aller glückseligkeitsdespotischen und damit funktionalistischen (statt
freiheitsrechtlichen)
Legitimitätslehren
war
wahrscheinlich
nicht
direkt auf Fichtes Naturrecht v o n 1796 gemünzt. Sie traf objektiv aber die dort angelegten u n d i n der Schrift über den „Geschloßnen Handelsstaat" v o l l entwickelten Tendenzen: „Warum hat es noch nie ein Herrscher gewagt, frei herauszusagen, daß er gar kein Recht des Volks gegen ihn anerkenne; daß dieses seine Glückseligkeit bloß der Wohltätigkeit einer Regierung, die diese ihm angedeihen läßt, verdanke, und alle Anmaßung des Untertans zu einem Recht gegen dieselbe (weil dieses den Begriff eines erlaubten Widerstands in sich enthält) ungereimt, ja gar strafbar sei? - Die Ursache ist: weil eine solche öffentliche Erklärung alle Untertanen gegen ihn empören würde, ob sie gleich, wie folgsame Schafe von einem gütigen und verständigen Herren geleitet, wohlgefüttert und kräftig beschützt, über nichts, was ihrer Wohlfahrt abginge, zu klagen hätten. - Denn mit Freiheit begabten Wesen gnügt nicht der Genuß der Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von Anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin): weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist. Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll also i m Bewußtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier nach dem formalen Prinzip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist: d.i. das Recht der Menschen, welche gehorchen sollen, muß notwendig vor aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorhergehen, und dieses ist ein Heiligtum, das über allen Preis (der Nützlichkeit) erhaben ist, und welches keine Regierung, so wohltätig sie auch immer sein mag, antasten darf." 4 0 3 401
Kant, M A R , A B 45. Vgl. Kant, M A R , Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins, A 186 ff., Β 216 ff.; siehe auch Kant, M A R , Anhang erläuternder Bemerkungen zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, Β 177 ff. 402
14. Fazit
103
Daß aber Kant, obwohl er, wie diese Zeilen nahelegen, den politischen und den ökonomischen Liberalismus als zwei Seiten derselben Medaille anzusehen scheint, mindestens elementare ,soziale Grundrechte* sogar als Menschenrechte und nicht nur als Staatsbürgerrechte wertete, mag man z.B. der folgenden Reflexion entnehmen: „Armenanstalt. Hülflose Arme müssen ernährt werden und, wenn sie Kinder sind, gepflegt werden. Warum? Weil wir Menschen und nicht Bestien sind. Dieses fließt nicht aus dem Rechte der Armen als Bürger sondern aus ihren Bedürfnissen als Menschen." 4 0 4
403 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, A 147, 148, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 9, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, S. 265-393, 359 f. (Herv. v. Verf., U. T.). 404 Vgl. Kant, Reflexion No. 8000, in: A A , Bd. X I X , S. 578.
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Sachverzeichnis Anerkennung 13, 26 ff., 32 ff.
Legislative 11, 34, 55 ff., 74 ff., 91 ff.
Apprehension 32 ff. Mechanik 40 ff.
Appropriation 34 Ausnahmezustand 79 f., 87 ff., 101 Besitz, peremtorisch-rechtlicher 34 f., 38
29 ff.,
Besitz, provisorisch-rechtlicher 28,31 ff. Deduktion 8 ff., 20, 25, 27, 38, 48 Deklaration 30 ff.
Naturrecht 7 f., 10 ff., 13 f., 44 ff., 48, 58, 87, 91, 93, 96, 100 ff. Naturzustand 10, 13, 29 Fn. 96, 31, 35 f., 37 Fn. 141, 39 Fn. 148, 42 Fn. 162, 43, 45, 78 Okkupation 17 Fn. 49, 25, 28, 33 ff., 50 Fn. 196
Demokratie 9 ff., 59 ff. Despotie 7 ff., 59 ff., 97 ff. Eigentumsvertrag 8, 36,40 f., 48, 97 ff. Ephorat 74 ff. Exekutive 51 Fn. 200, 59 Fn. 232, 62 f. Fn. 244, 64 f. Fn. 251, 65 ff., 71 Fn. 273, 78 ff., 80 ff., 97 f. Gemeinwille 34, 53 ff., 73 Fn. 277, 82 Gerechtigkeit, distributive 35 ff., 42 Fn. 162, 45 Fn. 171, 50 Fn. 196, 73, 91 ff, 101 ff. Gesellschaftsvertrag 12, 59, 71, 100 f. Gewaltenteilung 91 f.
9 ff., 56 ff., 81, 89,
Gleichgewicht des Rechts 97, 101
24 ff., 40,
Grundrechte 43 Fn. 164, 92 Fn. 353, 95, 97 ff., 103 f. Grundrechte, soziale 93 ff., 103 f.
Person 14 ff., 20 ff., 84 Fn. 326 Prima occupatio 31 ff. Principium exeundum e statu naturali 29 ff. Prohibitive Gewalt 81, 89 Recht auf Arbeit 94 ff. Recht der Menschheit 14, 37 Fn. 142,
102 Rechtsprinzip 13 ff., 19 ff., 41, 58, 73 Fn. 276, 73 Fn. 277, 96 Regierungsart
59
Fn.
232,
63 f.
48,
55 f.
Fn. 246, 64 Fn. 248, 73 Regierungsform
9,
12,
Fn. 218, 57 Fn. 223, 59 ff., 81 f. Repräsentation 9 ff., 61 f., 65 ff. Republik 60 Fn. 233, 61, 66 Souveränität 47, 50 Fn. 194, 51 f. Fn. 200, 56 ff., 64 ff., 68 ff. Sozialismus 7 f. Fn. 3, 101 ff.
Herrschaftsvertrag 69 ff.
Staatsbürgervertrag
9, 48 ff., 70, 75,
78 ff., 85, 91 ff. Judikative 55 f. Fn. 218, 56 Fn. 219, 62 Fn. 244, 67, 96, 100 Fn. 395
Staatsform 9, 12, 47, 59 ff., 74, 102
Jury constitutionnaire 76 Fn. 285
Statusvertrag 51
Staatsinterdikt 82 ff., 87
Sachverzeichnis Treue und Glauben 34, 37 ff. Tribunat 81 ff., 89 Urrecht 97 f.,
9, 13 ff., 38, 48, 50, 87, 93,
Verfassung 8, 11, 52 ff., 67 ff., 72, 81, 89, 100 ff. Verfassunggebende Gewalt
48 ff., 72,
80, 85, 101 Fn. 400 Vergleich 32 ff. Volkssouveränität 71 ff., 87 f.
59 f., 61 Fn. 237,
109
Volksversammlung 79,83,86 f. Fn. 333, 90
Widerstandsrecht 70 Fn. 269,71 Fn. 271, 85, 86 Fn. 333,102
Zwangsgesetz 41 ff. Zwangsgewalt Fn. 326, 89
45, 48 Fn.
183, 93
Zwangsrecht 9, 21, 24, 31 f., 36 ff., 41 f., 55, 87, 94, 97 ff.