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German Pages [237] Year 2013
Diskriminierung durch Vertrag und Krieg
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 59 herausgegeben von andreas fahrmeir und lothar gall
oldenbourg DOI 10.1524/9783486717303.fm
Harald Kleinschmidt
Diskriminierung durch Vertrag und Krieg Zwischenstaatliche Verträge und der Begriff des Kolonialkriegs im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Oldenbourg Verlag München 2013
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Inhalt
I. Einleitung: Kolonialherrschaft – Völkerrecht – Krieg
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1. Recht und Krieg
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2. Wahrnehmung von Kriegen
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3. Verschiedene Abfolgeparadigmata von Frieden und Krieg
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4. Der Staatsbegriff und das angebliche „Recht auf Kolonien“: Die Reduktion der Zahl der legitimen Belligerenten mit Hilfe der Militär- und Völkerrechtstheorie 5. Kolonialkrieg als „totaler“ oder „Kleiner“ Krieg II. Postulierte Gleichheit der Souveräne, Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Akteure und Kolonialismus bis ca. 1800
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1. Souveränität und Gleichheit staatlicher Akteure
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2. Die De-Institutionalisierung von Universalherrschaft
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3. Gleichheit von Akteuren mit abgeleiteter Völkerrechtssubjektivität 4. Pluralismus der Typen von Völkerrechtssubjekten und der Begriff des Kriegs 5. Internationale Systeme in der Wahrnehmung der Theoretiker der internationalen Beziehungen des 17. und 18. Jahrhunderts III. Ungleichheit der Souveräne und Kolonialkrieg im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1. Wandel der Wahrnehmung internationaler Systeme und der Staaten 2. Das Ende der Fernhandelskompanien als Völkerrechtssubjekte und der Beginn kolonialherrschaftlicher Expansion europäischer Regierungen in Süd- und Südostasien
3. Frühformen kolonialherrschaftlicher Expansion europäischer Regierungen in Afrika
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4. Oktroi des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge in Afrika, West-, Süd- und Südostasien 5. Rechtliche Gleichheit der vertragschließenden Souveräne und Ungleichheit dispositiver Bestimmungen: Strategien der Vereinbarung des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge mit der kolonialherrschaftlichen Expansion europäischer Regierungen 6. Die Trennung von Souveränität und Völkerrechtssubjektivität in der Theorie der internationalen Beziehungen und der Staatenpraxis 7. Siedlungskolonien und „Protektorate“ als Gegenstände völkerrechtlicher Theoriebildung 8. Verträge als Instrumente zur Legitimierung von Okkupation und zur Delegitimierung von Widerstand gegen Kolonialherrschaft 9. Zusammenfassung
_____ 104 _____ 110
IV. Die Theorie des Kolonialkriegs als Zeugnis für die Wahrnehmung des internationalen Systems
_____ 113
1. Wandlungen des Kriegsbegriffs im frühen 19. Jahrhundert
_____ 113
2. Die Neubestimmung des Begriffs des „Kleinen Kriegs“
_____ 116
3. Vom „Kleinen Krieg“ zum Kolonialkrieg: Begriffswandlungen in der Militärtheorie des 19. Jahrhunderts
_____ 118
4. Der Begriff des Kolonialkriegs im völkerrechtstheoretischen Schrifttum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
_____ 125
5. Diskriminierung der Opfer von Kolonialherrschaft in der Theorie der internationalen Beziehungen
_____ 138
6. Diskriminierung der Opfer von Kolonialherrschaft in der Staatenpraxis
_____ 144
7. Der Begriff des Kolonialkriegs als Ausprägung der europäischen Heterostereotypen der „Primitivität“
_____ 168
V. Krieg, Verträge und Ideologien der Diskriminierung
_____ 170
Literaturverzeichnis
_____ 174
1. Quellen
_____ 174
1.1 Edikte, Gesetze, Gerichtsurteile, Parlamentsberichte, Staatsschriften und Regierungsakten
_____ 174
1.2 Deklarationen, Konventionen, Konferenzen, Zwischenstaatliche Verträge
_____ 175
1.2.1 Deklarationen und Konventionen
_____ 175
1.2.2 Konferenzen
_____ 175
1.2.3 Zwischenstaatliche Verträge
_____ 176
1.3 Autoren- und Sachtitelschriften
_____ 180
2. Sekundärliteratur
_____ 202
Zeitschriftensiglen
_____ 237
7
I. Einleitung: Kolonialherrschaft – Völkerrecht – Krieg
1. Recht und Krieg Theorien leisten, neben manch anderem, die Formulierung von Wahrnehmungen der Welt. Theoriegeschichte ist folglich auch Wahrnehmungsgeschichte. Mit Bezug auf internationale Beziehungen als soziale Handlungen kategorisieren viele Theorien die Welt im Ganzen oder einige ihrer Teile als Systeme und ordnen sie der longue durée zu. 1 In der Sicht nicht nur der Geschichts- 2, sondern auch der neueren Politikwissenschaft 3 sind internationale Systeme Konstrukte, die auf kulturspezifischen Wahrnehmungen der Welt beruhen. Die sozialen Handlungen, die die internationalen Beziehungen ausmachen, sind sowohl der Willkür der Handelnden als auch Normen unterworfen. Der Konflikt zwischen Macht und Recht formt in den jeweils kulturspezifisch wahrgenommenen Systemen die internationalen Beziehungen mehr als andere Arten sozialer Handlungen. Neben den politischen Theorien der internationalen Beziehungen thematisieren Theorien des Völkerrechts 4 sowie Militärtheorien 5 diesen Konflikt zwischen Macht und
1 Zum Begriff des Systems als Kategorie der longue durée in Theorien der internationalen Beziehungen siehe unter vielen: Frank, A Theoretical Introduction, 157, 164, 188; ders./Gill (Eds.), The World; Heurlin, International Systems, 62f., 70f.; Hollis/Smith, Explaining, 92–94, 111f., 118; Holsti, International Politics, 29f.; Waltz, Theory of International Politics, 25–29 (auf S.65 postuliert Waltz ohne eingehende Begründung, dass internationale Systeme sich nur selten änderten); Wright, Development, 33–35. Zur Problematik der Anwendung des Systembegriffs in der Geschichte der internationalen Beziehungen siehe: Krüger, Internationale Systeme. 2 Conze/Lappenküper/Müller (Hrsg.), Geschichte der internationalen Beziehungen; Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen; Li, The Traditional Chinese World Order. 3 Einen Überblick über den Konstruktivismus bietet Onuf, World of Our Making. 4 Sammlungen von Einzelstudien zur Theoriegeschichte des Völkerrechts bieten Lesaffer (Ed.), Peace Treaties; Steiger, Von der Staatengesellschaft; Ziegler, Fata iuris gentium. 5 Überblicke über die Geschichte der Militärtheorie bieten Gat, A History of Military Thought, insbes. 97–267; ders., War in Human Civilization.
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Recht 6. In Anbindung an Herrschaft können alle diese Theorien auch Aufgaben von Ideologien übernehmen. Die Wandlung dieser Theorien hauptsächlich im Verlauf des 19. und des frühen 20.Jahrhunderts von kulturspezifischen, insbesondere europäischen, zu global gültig gesetzten Ideologien förderte die Globalisierung der europäischen Wahrnehmung des internationalen Systems mit Mitteln der Expansion der Herrschaft der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA während des 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Zwar ist die Ideologisierung der Völkerrechtstheorie im Kontext von Kolonialherrschaft Gegenstand mehrerer Untersuchungen gewesen 7, für die Militärtheorie fehlt indes einschlägige Forschung 8. Ein weiteres Manko tritt hinzu: Während die Verlaufsformen der Expansion von Kolonialherrschaft weitgehend geklärt sind 9, ist das im Verlauf dieser Expansionsprozesse hauptsächlich zum Einsatz gekommene ideologische Instrumentarium bisher keiner umfassenden theoriegeschichtlichen Kritik unterzogen worden 10. Auch neuere Forschungen zu den sogenannten „transkulturellen Kriegen“, zu denen die „imperialistischen Annexionskriege“ (Kautsky) als Kolonialkriege zu zählen wären 11, klammern die zeitgenössische Theorie dieser Kriege aus und setzen unkritisch den Begriff des Kolonialkriegs einfach als gegeben voraus. Dieser Begriff ist aber alles andere als ideologiefrei, ist er doch vom Begriff der Kolonie als Statusbezeichnung abgeleitet. Letzterer Begriff ist aber im Rechts-
6 Einen Überblick über die Geschichte der internationalen Theorien bietet: Kleinschmidt, The Nemesis of Power. 7 Alexandrowicz, An Introduction; ders., The European-African Confrontation; Anand, Family of „Civilized“ States and Japan; Anaya, Indigenous Peoples in International Law, insbes. 23–27; Anghie, Imperialism, insbes. 53–65, 100–107; Brownlie, The Expansion of International Society; Fisch, Die europäische Expansion; Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus; Kleinschmidt, Legitimität; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, insbes. 98–178; Ōnuma, When was the Law of International Society Born?; ders., Self-Determination; Anghie liefert die umfassendste Studie, beschränkt sich jedoch auf die Besprechung weniger englischsprachiger Völkerrechtshandbücher, insbesondere auf die Werke von William Edward Hall, James Lorimer, Thomas Joseph Lawrence, John Westlake und Henry Wheaton. 8 Die theoriegeschichtliche Studie von Wallach, Kriegstheorien, behandelt diese Thematik nicht. 9 Gunn/Duignan (Eds.), Colonialism in Africa; Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte; ders./Stange, Governance and Colonial Rule; Eckert, Geteilte Globalisierung; Wesseling, Divide and Rule; ders., Imperialism and Colonialism; ders., The European Colonial Empires. 10
Ansätze jedoch bei Frey/Spakowski, Asianismen seit dem 19.Jahrhundert; Kleinschmidt, Legitimität,
177–209; Saaler/Szpilman, The Emergence of Pan-Asianism. 11
Kautsky, Die Sozialisten und Krieg, 292–295, insbes. 293. Zum Begriff der transkulturellen Kriege siehe
Kortüm, Transcultural Wars; die Kolonialkriege werden jedoch in diesem Band nicht thematisiert.
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sinn keineswegs eindeutig und ohnehin nur anwendbar, wenn er von den Begriffen des souveränen Staats und der Völkerrechtssubjektivität unterscheidbar ist. Kolonien können als abhängige Gebiete mit besonderem völkerrechtlichen Status nur bestanden haben, wenn sie entweder keine souveräne Staaten oder keine Völkerrechtssubjekte waren. Sie müssen gleichwohl als Ausland sowohl im Sinn des allgemeinen Völkerrechts als auch des Staatsrechts desjenigen Staats gegolten haben, dessen Regierung sie beherrscht, dürfen folglich nicht als Ganze in das Inland dieses Staats eingeschlossen worden sein. Denn im letzteren Fall hätten sie überhaupt keinen völkerrechtlichen Status. So bestimmte beispielsweise für das Deutsche Reich § 2 des Schutzgebietsgesetzes vom 17.April 1886, mit Bezug auf § 1 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10.Juli 1879, dass die sogenannten „Eingeborenen“ in den als „Schutzgebiete“ bezeichneten und deutscher Kolonialherrschaft unterworfenen Gebieten keine Reichsangehörige seien, dass die deutscher Kolonialherrschaft unterworfenen „Eingeborenen“ zwar nach Maßgabe des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit verklagt werden, aber nicht selbst klagen, mithin keine Rechte als Reichsangehörige geltend machen könnten. Den sogenannten „Eingeborenen“ war, solange sie keine Reichsangehörigkeit erwarben, damit der Gerichtsweg verweigert. Die Situation war in Gebieten unter der Herrschaft anderer Kolonialregierungen nicht anders. Auch das Recht zu militärischem Widerstand bestand in der Sicht der Kolonialregierungen nicht für die sogenannten „Eingeborenen“ als die der Kolonialherrschaft unterworfenen Bevölkerungsgruppen. Für Kolonialkriege als militärische Konflikte, die gleichwohl in den abhängigen Gebieten stattfanden, mussten folglich Grundsätze gegolten haben, die nicht durch das Völkerrecht geregelt gewesen sein konnten. Denn die Theorie des Völkerrechts sowie die Staatenpraxis des 19. und frühen 20.Jahrhunderts begriffen den Rechtsnormen unterworfenen Krieg ausschließlich als Konflikt zwischen Staaten. Auch das Recht zum Führen von Selbstverteidigungskriegen war nach Auffassung der europäischen Völkerrechtstheorie des 19. und frühen 20.Jahrhunderts gebunden an das Bestehen von Regierungen souveräner Staaten als Völkerrechtssubjekte sowie Insurgenten, die die Völkerrechtstheorie als Belligerenten anerkannte, falls sie unter der Kontrolle einer Regierung standen, mithin nicht bloße Freischärler zu sein schienen. 12 Kolonialkriege
12 Zur deutschen Kolonialgesetzgebung siehe: Schutzgebietsgesetz. Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit. Dazu Sabersky, Der Inlandsbegriff, 14; Voigt, Kolonisierung des Rechts. – Zur Völkerrechtstheorie der Selbstverteidigung siehe unter vielen: Hall, A Treatise on International Law, 5.Aufl., 126; Twiss, The
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müssen also von den regulären, Rechtsnormen unterworfenen Staatenkriegen sowohl begrifflich als auch rechtlich unterscheidbar gewesen sein. Jedoch sind die begrifflichen und normativen Unterschiede zwischen scheinbar regulären Staaten- und angeblich irregulären Kolonialkriegen alles andere als selbstverständlich. Denn die Völkerrechtstheorie dieser Zeit kannte neben dem Begriff der Kolonie eine Vielzahl von Bezeichnungen für abhängige Gebiete, wie etwa das okkupierte Territorium und das Protektorat (auch Schutzgebiet), denen gegenüber der Begriff der Kolonie spezifiziert war als Siedlungskolonie. 13 Der Völkerbund fügte die Begriffe der internationalen Mandate über Treuhandgebiete hinzu 14, und selbst die Vereinten Nationen führen noch eine Liste mit derzeit 16 sogenannten
Law of Nations, Vol.2, 45f.; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 142f.; ders., International Law, Vol.2, 1; Wright, A Study of War, 695. 13 Zeitgenössische Studien über den Rechtsbegriff des „Protektorats“ liegen vor von Chailley-Bert, Le régime des protectorats; Despagnet, Essai sur les protectorats; Dietzel, Der Erwerb der Schutzgewalt; Duhamel, La potestas censoria; Engelhardt, Les protectorats; Fedozzi, Saggio sul protettorato; Florak, Die Schutzgebiete; Gairal, Le protectorat international, insbes. 109; Hachenburger, De la nature juridique du protectorat; Hampeln, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete; Heilborn, Das völkerrechtliche Protektorat; Marghinotti, Il protettorato internazionale; Meyer, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete; Pann, Das Recht der deutschen Schutzherrlichkeit; Reinsch, Colonial Government, 109–144; Roüard de Card, Les traités de protectorat; Schwöberl, Die staats- und völkerrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete. – Der Begriff der okkupierten Gebiets fand hauptsächlich Anwendung im Bereich des Kriegsvölkerrechts. Dagegen subsumierte Adam, Völkerrechtliche Okkupation, 198, 302f., die „Protektorate“ der Kolonialregierungen unter die okkupierten Gebiete. Dietzel, Der Erwerb der Schutzgewalt, 76, meinte, das Wort „Protektorat“ sei im Deutschen eine Lehnbildung aus dem Englischen. Aus der Spätzeit europäischer Kolonialherrschaft liegen dazu Studien vor von Fawcett, The British Commonwealth in International Law, 115–143; Kamanda, A Study of the Legal Status of Protectorates, insbes. 17–22, 33–45; Roberts-Wray, Commonwealth and Colonial Law, insbes. 47–53, 112–116, 126–130. 14
Art. XXII der Völkerbundsakte, in: Miller, The Drafting of the Covenant, 737f. Dazu siehe Bentwich, The
Mandates System; Borsi, I mandati internazionali; Chowdhuri, International Mandates; Cioriceanu, Les mandats internationaux; Clyde, Japan’s Pacific Mandate; Comisetti, Mandats et souveraineté; Diena, Les mandats internationaux; Furukaki, Les mandats internationaux; ders., Nature juridique des mandats internationaux; Gsell-Trümpi, Zur rechtlichen Natur der Völkerbundsmandate; Hall, Mandates, Dependencies and Trusteeships; Lindley, The Acquisition and Sovereignty of Backward Territories, 20–22, 325–377; Maanen-Helmer, The Mandates System, 79–105; Margalith, The International Mandates; Menotti de Francesco, La natura giuridica dei mandati internazionali; Millot, Les mandats internationaux; Pallieri, I mandati della Società delle nazioni; Pic, Le régime du mandat d’après le traité de Versailles; Rapisardi-Mirabelli, Questioni generali e particolari inerento alla Società delle nazoni; Rees, Les mandats internationaux; Schneider, Das völkerrechtliche Mandat; Starace, I mandati internazionali; Stoyanovsky, La théorie générale des mandats internationaux; Vallini, I mandati internazionali della Società delle nazioni; Wright, Sovereignty of the Mandates; ders., Mandates under the League of Nations, 3–23.
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„non-self-governing territories“ 15, die vor dem Zweiten Weltkrieg den völkerrechtlichen Status abhängiger Gebiete gehabt hatten. Da der Sprachgebrauch sowohl in der Völkerrechts- als auch der Militärtheorie und der Theorie der internationalen Beziehungen die begrifflichen Unterscheidungen nicht immer eindeutig reflektiert, muss zunächst gefragt werden, welche begrifflichen, welche rechtlichen Unterschiede zwischen diesen Typen der Kolonialherrschaft unterworfenen Gebiete bestanden. Zwischen einigen der als Protektorate oder auch als Kolonien bezeichneten vermeintlich abhängigen Gebiete, zumal in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik, einerseits und europäischen Staaten sowie den USA andererseits bestanden seit dem 19.Jahrhundert zwischenstaatliche Verträge, das heißt Abkommen völkerrechtlichen Charakters. Da nach europäischer Völkerrechtstheorie zwischenstaatliche Verträge nur zwischen souveränen Staaten zustande kommen können, müssen in der Sicht der europäischen Kolonialregierungen sowie der Regierung der USA mit deren Vertragspartnern zu den Zeitpunkten der Vertragsabschlüsse ge-
wöhnliche zwischenstaatliche Beziehungen auf der Ebene des Völkerrechts bestanden haben, diese Vertragspartner mithin als Regierungen souveräner Staaten anerkannt gewesen sein. 16 Denn die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA bestanden darauf, dass diese Abkommen nur in dem ihnen geläufigen Formular und nach den Regeln des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge geschlossen werden sollten. Dieses konzentrierte sich auf den Grundsatz, dass nur schriftlich Vereinbartes rechtsgültig sein könne 17, mithin auf die Anwendung des Schriftlichkeitsprinzips in Vereinbarung mit der Forderung nach Anerkennung der „Grundnorm“ Pacta sunt servanda, die jedoch selbst nicht Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen sein konnte 18. Das öffentliche Recht der
15 Dazu siehe Oppenheim, International Law, 9.Aufl., § 85, S.282–295. 16 Dazu siehe Kleinschmidt, Legitimität, 290–301. 17 Zum Schriftlichkeitsgrundsatz siehe Klüber, Europäisches Völkerrecht, 234f.; Martens, Einleitung in das positive Völkerrecht, 59; Schmelzing, Systematischer Grundriß des praktischen europäischen VölkerRechtes, Bd.3, § 373–383, S.294–315. 18 So insbesondere Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 123; Kunz, The Meaning and the Range of the Norm „Pacta sunt servanda“; Wehberg, Pacta sunt servanda, 786, 780; Whitton, La règle pacta sunt servanda, 159f.; ders., La sainteté des traités, insbes. 443. Dagegen Lavalle, About the Alleged Customary Law Nature of the Rule Pacta Sunt Servanda, der den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Grundnorm bestreitet. Auch die Wiener Konvention von 1969 (Art.26) verweist auf die Einhaltung der Grundnorm Pacta sunt servanda lediglich nach Maßgabe von Treu und Glauben. Schon früh machte Esmein, Le serment promissoire dans le
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zwischenstaatlichen Verträge als ein Bestandteil des europäischen Völkerrechts 19 wurde folglich globalisiert durch das Vertragsgebaren der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA 20. Dieser Globalisierungsprozess hätte nach europäischem Völkerrecht den Fortbestand der Staatenwelt bedingen müssen, die in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts bestanden hatte. Der Begriff des Kolonialkriegs als spezifischen Kriegstyps hätte folglich gar nicht geprägt werden können. Anders gesagt: die Verträge, die zwischen europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA einerseits, Regierungen in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik als rechtsgültige Abkommen bestanden, schlossen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Kolonialherrschaft als Kontrolle unterworfener Gebiete außerhalb Europas und jenseits der europäischen überseeischen Siedlungskolonien sowie die Bildung des Begriffs des Kolonialkriegs aus. Dass dennoch große Teile der Welt faktisch europäischer und US-Kolonialherrschaft unterstellt und Kolonialkriege als solche geführt wurden, war ein Problem für die Militär- und Völkerrechtstheorie des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Diese Verträge galten überdies in der Regel während der Gesamtzeit europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft fort, wenn sie nicht, wie der Vertrag zwischen Bunyoro in Ostafrika und dem Vereinigten Königreich von 1933, überhaupt erst unter bestehender Kolonialherrschaft geschlossen wurden. 21 Die Regierungen derjenigen Staaten, mit denen europäische Kolonialregierungen und die Regierung der USA während des 19. und frühen 20.Jahrhunderts zwischenstaatliche Verträge geschlossen hatten, blieben also auch in der Wahrnehmung der europäischen Kolonialregierungen während fortbestehender Kolonialherrschaft Regierungen souveräner Staaten. Kolonialkriege hätten folglich als Kriege zwischen den Staaten der Kolonialregierungen und diesen europäischer und US-amerikanischer Herrschaft unterstellten Staaten als zwischenstaatliche Kriege im Sinn des Völker-
droit canonique, auf den Einfluss des kanonischen Rechts auf die Forderung nach Beachtung der Grundnorm Pacta sunt servanda aufmerksam. Ebenso Lesaffer, The Medieval Canon Law. 19 Schon beispielsweise bei Grotius, De jure belli ac pacis, lib. II, cap. XVI, Ziff. 4. Grotius argumentierte gegen Bodin, Les six livres de la République, lib. V, cap. 6 [Ndr., Vol.5, 165f.], der an dieser Stelle Klage führte über die begrenzte Sicherheit in der Umsetzbarkeit von Verträgen zwischen Herrschern. Ebenso wie Grotius noch Fitzmaurice, Report, 108.
14
20
Dazu siehe Kleinschmidt, Legitimität, 220–281, 290–324.
21
Lewey, Laws of the Uganda Protectorate, 1412–1418.
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rechts wahrgenommen und geführt werden müssen. Doch diese Wahrnehmung ist, jedenfalls in Ego-Dokumenten, diplomatischen Memoranden und Kriegsbeschreibungen 22, völkerrechtlichen 23 und militärischen 24 Theorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nur schwach belegt. Dieser Widerspruch wirft die Frage nach den Kategorien der Wahrnehmung von Kolonialkriegen als spezifischer Form militärischer Konflikte auf, die vorgeblich nicht dem Kriegsvölkerrecht unterworfen sein sollen. 25
2. Wahrnehmung von Kriegen Aber auch diese Frage ist nicht unproblematisch. Denn sie führt zu dem tieferen Problem, ob Kriege überhaupt Gegenstände unterschiedlicher, sich wandelnder
22 Zum Beispiel für den Krieg gegen die Herero und Nama in Schwabe, Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika, Bd.1, 23–35, spricht von „Aufstand“. Das Generalstabswerk „Die Kämpfe der Deutschen Truppen in Südwestafrika“ vermeidet das absolut stehende Wort Krieg; Eckl, „S’ist ein übles Land hier“ [Tagebuch des Kommandeurs Epp], 223, verwendet die Bezeichnung „Kriegführung“; dazu siehe Böttger, Zivilisierung der „Vernichtung“, 53–57; Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, 2–10. 23 Besonders scharf nahm Oppenheim, International Law, Vol.2, § 60, S.67, gegen die Ansicht Stellung, dass militärische Konflikte in Protektoraten als „Petty Wars“ Kriege im Sinn des Völkerrechts seien. 24 Die Militärtheorie kategorisierte Kolonialkriege als irreguläre Kriege, grenzte sie aus dem Begriff des Staatenkriegs als regulären Kriegs aus und rangierte sie unter „Small Wars“; siehe Callwell, Small Wars, 21. 25 Zum Kolonialkrieg als Begriff siehe Kautsky, Die Sozialisten und Krieg, 293; Wright, A Study of War, Appendix XX, S.636–651, bot eine Liste von Kriegen, die zwischen 1500 und 1940 stattfanden. Er begrenzte die in die Liste einzubeziehenden bewaffneten Konflikte auf „hostilities involving members of the family of nations, whether international, civil, colonial, or imperial“ (636). Kriege zwischen „native princes of America, Asia, and Africa“ schloss er aus, da diese Belligerenten keine Angehörigen der „family of nations“ gewesen seien (637). Die Bezeichnung „colonial hostilities“ erläuterte Wright nicht, sondern bestimmte lediglich, dass zu unterscheiden sei zwischen Kriegen, die in Europa geführt wurden, und Kriegen, die außerhalb Europas stattgefunden hätten, sowie danach, ob an letzteren bewaffneten Konflikten europäische Staaten (als „modern states“) beteiligt gewesen seien. Letztere Kategorie untergliederte er weiter „according as the modern state involved was defending modern civilization from incroachment or aggression by peoples of different civilization or was seeking to expand modern civilization at the expense of another culture“ (638). Die Einbindung des Begriffs der „Zivilisiertheit“ in seinen Kriegsbegriff ermöglichte es Wright, die Zahl der legitimen Belligerenten auf die „Family of Nations“ zu beschränken und Kolonialkriege aus dem allgemeinen Kriegsbegriff auszugrenzen. So auch Richardson, The Distribution of Wars in Time, 242; Mansfield, The Distribution of Wars over Time, 21f.; Singer/Small/Kraft, The Frequency, Magnitude and Severity of International War, 5f.; ders./Small, The Wages of War, 17f.; Wallace, War and Rank among Nations, 31.
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Wahrnehmungen sein können. Dieses Problem betrifft zuallererst die begrifflichen wie auch, daraus folgend, die rechtlichen Unterschiede zwischen militärischem Konflikt im Allgemeinen und Krieg als Rechtsakt der regulierten Gewaltanwendung im Besonderen. Die europäische Völkerrrechtstheorie des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts band, anders als ihre einen umfassenden Kriegsbegriff vertretenden Vorläufer im 13. 26, 16. 27, 17. 28, 18. 29 und frühen 19.Jahrhundert 30, den engen Begriff des Kriegs als Rechtsakt regulierter Gewaltanwendung zwischen souveränen Staaten an ihr Postulat der sogenannten „Zivilisiertheit“ der Belligerenten sowie deren Kulturen, schrieb diese postulierte „Zivilisiertheit“ vornehmlich Europa selbst zu 31, verweigerte den angeblich „wilden“, „halb-zivilisierten“ oder „nicht zivilisierten“ Völkern die Anerkennung der Fähigkeit, sogenannte reguläre Kriege als Rechtsakte führen zu können 32, und begrenzte folglich die Anwendung ihres Kriegsbegriffs hauptsächlich auf militärische Konflikte zwischen europäischen Belligerenten 33. Konflikte in anderen Teilen der Welt sowie Konflikte zwischen europäischen und nicht-europäischen Streitkräften wurden, spätestens seit der französischen Intervention in Algerien 34, aus dem Begriff des Kriegs als Rechtsakt ausgegrenzt und wahlweise als ungeregelte „Kleine Kriege“ 35, irreguläre Kriege 36 oder auch „asymmetrische Kriege“ und „Low Intensity Conflicts“ 37 kategorisiert. Wäh-
26
Thomas von Aquin, Summa, Secundae secunda, cap. 2, qu 40, ar 1–4, S.579f.
27
Vitoria, De Indis, Relectio posterior, Kap. I, 234.
28
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 1, § 2.
29
Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 1, § 1, Bd.2, 1.
30
Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, § 2, 16.Aufl., 89f. Im 20.Jahrhundert hielten fast nur Ethnolo-
gen an dem weiten Kriegsbegriff fest mit Blick auf militärische Konflikte zwischen Gruppen außerhalb Europas und Nordamerikas. Siehe dazu, die ältere ethnographische Literatur zusammenfassend: Davie, The Evolution of War. – In der Politikwissenschaft verwandte den ethnologischen Kriegsbegriff Levy, War in the Modern Great Power System, 51, der gleichwohl „imperial or colonial wars“ aus seiner Analyse ausschloss (ebd.). Siehe auch unten Kap. 4, Anm.121. 31
Bluntschli, Das moderne Völkerrecht.
32
Lawrence, The Principles of International Law, § 90, S.136; Westlake, Chapters on the Principles of In-
ternational Law, 86. 33
Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 510, S.287: „Krieg ist bewaffnete Selbsthilfe einer statlichen
Macht im Widerstreit mit einer anderen statlichen Macht.“ 34
Dazu siehe Rid, Razzia.
35
Decker, Der Kleine Krieg, 1f.
36
Callwell, Small Wars, 21f.
37
Münkler, Die neuen Kriege, 4.Aufl., 48–57; Creveld, Die Zukunft des Krieges, 42–52, 94–101; Rauchen-
steiner, Formen des Krieges; Münkler (insbes. 53) bemerkt jedoch nicht, dass diejenigen Aspekte der Krieg-
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rend Thomas von Aquin, Vitoria und Vattel sowie auch Grotius die allgemeinen Regeln des Kriegs aus universal gültig gesetztem göttlichen oder Naturrecht abgeleitet hatten und auch Clausewitz seinen Kriegsbegriff noch undifferenziert auf Belligerenten überall in der Welt angewendet wissen wollte 38, musste die europäische Militär- und Völkerrechtstheorie des späteren 19. und frühen 20.Jahrhunderts für die Bestimmung des Kriegs als Rechtsakt die Kriterien zur Unterscheidung zwischen diesen Kriegen im engeren Sinn und militärischen Konflikten im Allgemeinen bereitstellen. Diese Auffassung führte über den dem Kriegsvölkerrecht zugrunde zu legenden Kriegsbegriff zu Kontroversen, die die Brüsseler und Haager Konferenzen von 1874, 1899 und 1907 bei den Versuchen zur Kodifizierung von Regeln des Landkriegsrechts sowie die Londoner Seekriegsrechtskonferenz von 1909 prägten. 39 Denn die Verrechtung des Kriegs sollte nicht nur das ius ad bellum einschränken auf Regierungen souveräner Staaten mit Völkerrechtssubjektivität, sondern zudem den Krieg als scheinbar reguläre Gewaltanwendung gegen andere Arten der Gewaltanwendung abgrenzen. Es zeigte sich aber schnell, dass die Ableitung eines speziellen Kriegsbegriffs und die Begrenzung von Normen des Kriegsvölkerrechts auf diesen speziellen Kriegsbegriff aus universal gültig gesetzten übergeordneten Normensystemen unmöglich war. An die Stelle universalen Naturrechts trat somit in der Militär- und Völkerrechtstheorie des späteren 19. und frühen 20.Jahrhunderts die Wahrnehmung kultureller Differenz zwischen Europa und dem Rest der Welt als Richtschnur für die Bestimmung dessen, was als Krieg im Sinn der Militär- und Völkerrechtstheorie gelten sollte. 40 Unter Rückgriff auf den Evolutionismus formulierte die Völkerrechtstheorie des späteren 19.Jahrhunderts die petitio principii, dass die Verrechtung des Kriegs wesentliches Merkmal der vermeintlichen „Zivilisiertheit“ sei. 41 Militärische Konflikte, die in der Sicht der Völkerrechtstheorie dem Be-
führung, die er für die sogenannten „asymmetrischen Kriege“ seit der Mitte des 20.Jahrhunderts geltend macht, bereits in den Kolonialkriegen seit den 1830er Jahren dokumentiert sind. 38 Zur Diskussion um Clausewitz’ Kriegsbegriff siehe Aron, Penser la guerre, 108–148, 412–433; Böhme, Krieg und Zufall; Gat, The Origins of Military Thought, 139–149, 156–260; Herberg-Rothe, Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz; Smith, On Clausewitz, 32; Strachan, Carl von Clausewitz, 147–190. 39 So schon Triepel, Die Zukunft des Völkerrechts, 16f. Dazu allgemein Dülffer, Regeln gegen den Krieg?, der jedoch auf die Kontroversen um die Bestimmung des Kriegsbegriffs nicht eingeht. 40 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 94, S.140; Twiss, Law of Nations, Vol.1, 26; Holtzendorff, Staaten mit unvollkommener Souveränität, § 27, S.115f.; Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 36f.; dagegen nur Bonfils, Manuel de droit international public, 6.Aufl., Nr.1000, S.670. 41 Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 510, S.287; § 512, S.288.
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griff des verrechteten Staatenkriegs nicht entsprachen, galten dieser petitio zufolge als irregulär und „unzivilisiert“. Diese „Kleinen“ oder irregulären Kriege wurden zumeist zwischen europäischen und nicht-europäischen Streitkräften ausgefochten und galten als militärische Konflikte zur Durchsetzung völkerrechtlicher Normen außerhalb Europas, insbesondere in den Kolonien, nicht selbst als Rechtsakte, sondern schienen in einem vermeintlich rechtsfreien Raum stattzufinden. 42 Gleichzeitig war jedoch dieser vorgeblich rechtsfreie Raum bereits durch bestehende zwischenstaatliche Verträge nach dem europäischen öffentlichen Recht strukturiert. Anders gesagt: einerseits dienten die Kolonialkriege als die für das späte 19. und frühe 20.Jahrhundert typische Form der sogenannten „transkulturellen Kriege“ der Errichtung und Erhaltung von Kolonialherrschaft durch europäische Regierungen und der Regierung der USA in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik und galten in der Sicht der kriegführenden Parteien auf der europäischen und USSeite als Gewaltakte der Durchsetzung von Normen in den unter Kolonialherrschaft geratenden oder stehenden Gebieten. 43 Andererseits waren die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA durch die zwischenstaatlichen Verträge gebunden, die die Anerkennung der Souveränität ihrer Vertragspartner belegten. Mit dieser Bestimmung der Kolonialkriege als Mittel zur Aufrechterhaltung von Kolonialherrschaft über souveräne Staaten wurde jedoch der Rahmen der rein akademischen Theorie verlassen und das Gebiet der Herrschaft legitimierenden Ideologie betreten. Denn der Gegenseite der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA wurde mit der erklärten Absicht der Diskriminierung grundsätzlich das Recht auf Widerstand und Selbstverteidigung bestritten. 44 Theorien des Kolonialkriegs des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts zielten also darauf ab, militärischen Widerstand der Opfer von Kolonialherrschaft ideologisch dadurch zu delegitimieren, dass die diese Theorien artikulierenden europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheoretiker das Führen des Staatenkriegs und den Einsatz der üblicherweise benutzten Waffenarsenale und taktischen Mittel als global gültige Normen definierten, von der die Gegner der europäischen Kolonialherrschaft abzuweichen schienen. Dieses angebliche Abweichen von der seit 1899
42
Oppenheim, International Law, Vol.2 (1906), § 60, S.67.
43
Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 226, S.280f.
44
So ausdrücklich: Oppenheim, ebd.§ 226, S.281. Dagegen nur: Bonfils, Manuel de droit international
public, Nr.1000, S.670.
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und 1907 völker- wie staatsrechtlich gültig gesetzten Norm konnte ausgegeben werden als Bruch des Völkerrechts durch die Gegner europäischer und amerikanischer Kolonialherrschaft. Die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA verweigerten mithin denjenigen Belligerenten, die in ihrer Wahrnehmung
nicht als Staaten organisiert waren, den Status legitimer kriegführender Parteien. 45 Diese spezifische Wahrnehmung des Kriegs durch europäische Kolonialregierungen und die Regierung der USA konnte für die Opfer von Kolonialherrschaft brutale Folgen haben, wie sich am Beispiel des Kolonialkriegs des Deutschen Reichs gegen die Herero und Nama in Südwestafrika (1904–1908) zeigte.
3. Verschiedene Abfolgeparadigmata von Frieden und Krieg Die Frage nach der Wahrnehmung von Kriegen führt darüber hinaus zu dem prinzipiellen Problem der Bestimmung, welche Handlungen als Gewaltakte bestimmt werden sollen und zu welchen Zwecken Gewalt im Sinn des Kriegs angewendet werden darf. In Fällen der sogenannten „transkulturellen Kriege“ ist diese Bestimmung jeweils eingebunden in unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche kulturspezifische Ordnungen und Wahrnehmungen. In der Regel gelten diese Ordnungen und Wahrnehmungen intrakulturell als so selbstverständlich, dass sie auch in der Militär- und Völkerrechtstheorie nicht mehr hinterfragt werden. Zu ihnen zählt in der europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheorie des 19. und 20.Jahrhunderts zuvörderst die Festlegung des Kriegs wie auch anderer Typen militärischer Konflikte auf eine Handlungsfolge, die während eines bestehenden Friedenszustands vorzubereiten sei. 46 Schon Jomini und Clausewitz leiteten
45 Dabei fand der sich im Verlauf des 19.Jahrhunderts durchsetzende Staatsbegriff Anwendung, der Staaten als Trias der Einheiten eines klar in linearen Grenzen definierten Gebiets, eines darin sesshaften Volks und einer dieses Gebiet und dieses Volk allein legitim beherrschenden Regierung bestimmte. Siehe Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. Ndr. der 3.Aufl. von 1913, 394–434. Ebenso: Lawrence, The Principles of International Law, § 90, S.136; Phillimore, Commentaries upon International Law, Vol.1, 81. Zu Jellinek siehe Kersten, Georg Jellinek, 278–308. Zum Residentialismus des 19.Jahrhunderts siehe Kleinschmidt, Menschen in Bewegung, 25–30, 144–146, 155–159. 46 Clausewitz, Ueber das Fortschreiten und den Stillstand der kriegerischen Begebenheiten, 235f. Dazu siehe Caemmerer, Die Entwickelung der strategischen Wissenschaft im 19.Jahrhundert, 22–44, 58–102; Gray, War, Peace and International Relations, 19–27; Luttwak, Strategie; Paret, The Cognitive Challenge of War, 115; Wallach, Kriegstheorien, 16.
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aus dieser Bestimmung die Schlussfolgerung ab, dass es Aufgabe strategischer Planung sein müsse, bereits in Friedenszeiten die militärische Organisation auf die dann noch zukünftigen Kampfeinsätze der Streitkräfte auszurichten und Wahrscheinlichkeiten des Eintretens künftiger Konfliktszenarien gegen identifizierbare Gegner nach bestimmbaren Kriterien abzuschätzen. 47 Nach dieser Lehre resultierte jeder Friede aus einem vor ihm ausgetragenen Krieg und führte zum „nächsten Krieg“. 48 Mit anderen Worten: nach der europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheorie des 19. und 20.Jahrhunderts bestand das Abfolgeparadigma von Krieg, Frieden und wieder Krieg als Ausgangsbedingung jeglichen militärischen Handelns. Gleichwohl war dieses Abfolgeparadigma nicht nur nicht überall in der Welt, sondern auch in der europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheorie erst seit Beginn des 19.Jahrhunderts vorherrschend, wohingegen noch bis an das Ende des 18.Jahrhunderts 49 das ältere, augustinische Abfolgeparadigma von Frieden, Krieg und wieder Frieden dominiert hatte 50. Dieses Paradigma setzte den Frieden als gegebenen, gottgewollten Normalzustand der Welt voraus, den 47
Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, § 8, S.43 (Ausg. von 1952), 22–24 (Ausg. von 1980); Jomini, Ab-
riß der Kriegskunst, 34; Rühle von Lilienstern, Apologie des Krieges, 33, 35. 48
So der sprichwörtlich gewordene Titel des Werks von Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg;
ebenso Frobenius, Des Deutschen Reiches Schicksalsstunde, 6: „mit der Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Lösung in nicht allzu ferner Zeit wird gerechnet werden müssen.“ Die Schrift erschien zuerst im März 1914. 49
So auch Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, 15. Hingegen sprach Bülow, Neue Tactik der Neuern,
3, von einem „idealischen Heere, welches in Friedenszeiten etwa zum Kriege abgerichtet oder mit einem Worte, vorbereitet wurde“, und bezeichnete diese Bestimmung als Kritik an der Exerzierpraxis des 18.Jahrhunderts. Eine frühe Kritik am augustinischen Abfolgeparadigma liegt vor aus der Umgebung Friedrichs II. in dem Kommentar Lehndorffs, der als Kammerherr der preußischen Königin in seinem Tagebuch unter dem 16.Februar 1763 (Lehndorff, Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen, 451) aus Anlass des Endes des Siebenjährigen Kriegs notierte: „Wenn man aber bedenkt, welche unzähligen Opfer dieser Krieg gefordert hat [...], und das alles, um die Herrscher in deren status quo ante zu sehen, so mochte man über den Wahnsinn der Menschheit laut aufschreien.“ Dass diese Aussage politisch gegen die antiborussische Politik der Habsburger gerichtet war, steht der grundsätzlich vorgetragenen Kritik am Streben nach Restitution des Status quo im Sinn des augustinischen Abfolgeparadigmas nicht entgegen. 50
Augustinus von Hippo, De civitate, Buch XIX, Kap. 3, 11–14, S.663, 674–682; ders., Epistola, Sp.856; Gro-
tius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 1, § 1; Pufendorf, De jure naturae et gentium, Buch I, Kap. 1, § 8; Buch VIII, Kap. 6, § 2 u. 3, Bd.1, 17; Bd.2, 843f.; Fénelon, Directions pour la conscience d’un roi, VII, XXIV, S.10f., 61f.; Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen und der Völker, 114; Toze, Die allgemeine christliche Republik in Europa, 347; Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Grossen Herren, 425, behauptete zwar, glücklich sei es, „sich schon im Frieden auf den Krieg vorzubereiten“, stellte damit aber zu-
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Menschen zwar durch sündhaftes Handeln brechen, aber nicht vollständig zerstören zu können in der Lage zu sein schienen. 51 Es förderte die Textsorte der Programme für den ewigen Frieden, der durch Ausschaltung des Zwischenglieds Krieg sogar in überschaubarem Zeitraum erreichbar zu sein schien. 52 Erst Kant, der letzte wirkmächtige Beiträger zu dieser Textsorte, verwies das Erlangen des ewigen Friedens, den er im Plan der Natur verankert zu sein glaubte, auf die fernere Zukunft 53, ehe Theoretiker des 19.Jahrhunderts die Rede vom ewigen Frieden als Propaganda verwarfen 54. Zugleich gab dieses Paradigma die Bestimmung des gerechten Kriegs vor als alleiniges Mittel zur Restitution des Friedens auf soliderer Grundlage, das heißt, mit geringerer Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs eines weiteren Kriegs. Es setzte daher die Planung der Erhaltung des Friedens als strategische Aufgabe, nicht die Vorbereitung der Streitkräfte auf ihren künftigen Einsatz im Kampf. 55 Es förderte die Hochschätzung der constantia und schränkte zudem die legitime Wahl der im Krieg zum Einsatz kommenden Kampfmittel ein auf diejenigen, die die Restitution des
gleich klar, dass keine Norm bestand, die die Ausrichtung des Friedens auf einen künftigen Krieg einforderte. 51 Dazu Kleinschmidt, Legitimität, 116–149. 52 Rantzau, Briefe an Herzog Ulrich von Mecklenburg und an Graf Karl von Arenberg, 104; Brederode, Repraesentatio pacis generalis inter orbis Christiani Reges et status; Crucé, Le nouveau Cynée; Europa wirstu denn des Kriegs nicht müde; Penn, Plan for a League of Nations; Bellers, Some Reasons for an European State, 141; Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe; Loën, Von einem beständigen Frieden in Europa, 245–248; Rousseau, Extrait du Projet de paix perpétuelle de M. Abbé de Saint-Pierre, 370f.; Goudar, La paix de l’Europe ne put s’établir qu’ à la suite d’une longue trêve; Palthen, Projekt, einen immerwährenden Frieden von Europa zu unterhalten, der ein allgemeines europäisches Parlament als Gesandtenkongress nach Vorbild des Reichstags vorschlug und den Reichshofrat sowie das Reichskammergericht in ein internationales Tribunal umwandeln wollte; Lilienfeld, Neues Staats-Gebäude, mit dem Vorschlag eines europäischen Staatenkongresses; Idee von der Möglichkeit eines allgemeinen und ewigen Friedens in der Welt, mit dem Vorschag einer bundesstaatlichen Organisation; Bentham, Plan for an Universal and Perpetual Peace, 552–554; Schlettwein, Die wichtigste Angelegenheit für Europa; Martens, Über die Erneuerung der Verträge in den Friedensschlüssen der Europäischen Geschichte, 9. 53 Kant, Zum ewigen Frieden. 54 Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd.3, 150; Rühle von Lilienstern, Apologie des Krieges, 62; dazu siehe Roggen, Restauration, Kampfruf und Schimpfwort. 55 Dazu siehe die Übersichten von Behnen, Der gerechte und der notwendige Krieg; Haggenmacher, Grotius et la doctrine de la guerre juste; Johnson, Just War, 150–165; Keen, The Laws of War in the Late Middle Ages, 64–79; Meron, Henry’s Wars, 27–46; Russell, The Just War in the Middle Ages, 86–257; Tooke, The Just War in Aquinas and Grotius, 195–230; Walters, Five Classic Just-War Theories; Wright, Knights and Peasants, 25–44.
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Friedens nicht grundsätzlich in Frage stellten. 56 Mithin blieben die Vernichtung des Gegners 57, die rigorose Durchsetzung der Wehrpflicht 58 sowie auch die Massenfertigung und der massenhafte Einsatz treffgenauer Handfeuerwaffen 59, auch und gerade unter den Bedingungen der Manufakturfertigung der Frühen Neuzeit 60, vor Ende des 18.Jahrhunderts kategorisiert als nicht erstrebenswerte Ziele oder ungeeignete Kampfmittel, wohingegen die Unterwerfung der Streitkräfte unter strikte Disziplin und Ordnung 61 sowie der Versuch der Vermeidung existenzgefährdender Schlachten 62 angestrebt wurden. Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts ersetzten Theoretiker des Kriegs die augustinische Bestimmung des Friedens als Normalzustand der Welt durch die entgegengesetzte Erwartung, es werde ewig „Feindschaft unter den Einzelnen, Krieg unter den Völkern seyn“, und die auf dem augustinischen Abfolgeparadigma von Frieden,
56
La Perrière, The Mirrovr of Policie, fol.D IIv; Lipsius, Politicorum sive de doctrina civilis libri sex, 540;
Montecuccoli, Abhandlung über den Krieg, 25; siehe dazu Kampmann, Arbiter und Friedensstiftung; ders., Friedensstiftung von außen; ders., Peace Impossible?; Leira, At the Crossroads. 57
So beispielsweise Lloyd, Abhandlungen über die allgemeinen Grundsätze der Kriegskunst, XXI.
58
Winterfeldt, Gespräch über Werbungen, 247; siehe dazu Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzep-
tanz; Kroll, Aushandeln von Herrschaft; Pröve, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft, 215; Wilson, War, State and Society in Württemberg, 744–775. 59
Über die mangelnde Treffgenauigkeit der Feuerwaffen lamentierten Moritz von Sachsen, der seine
Truppe lieber mit Piken ausgerüstet hätte als mit Musketen, und Scharnhorst, der die Treffgenauigkeit der Feuerwaffen testen ließ und mit den Ergebnissen äußerst unzufrieden war. Bülow bemängelte die geringe Treffgenauigkeit der Feuerwaffen und träumte von der Wiederherstellung der Würde des Fußvolks durch Wiedereinführung der Pike. Noch Clausewitz diente die mangelnde Treffgenauigkeit der Feuerwaffen als „Beispiel“ für seine These, dass Kriege nicht genau berechnet werden könnten, sondern dass Erfolg im Krieg das Ergebnis von Erfahrung sei. Siehe Saxe, Mes Rêveries, 71; Scharnhorst, Über die Wirkung des Feuergewehrs; Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, 33 Anm.13, 32 Anm.10; Clausewitz, Vom Kriege, Buch II, Kap 6, 234 (Ausg. 1952); 140f. (Ausg. 1980). 60
Zur Bohrtechnik siehe Buja, Die Bohrtechnik im Wandel der Zeiten.
61
Ferretti, De re et disciplina militari aureus tractatus; Brancaccio, Della nuova disciplina et vera arte mi-
litare libri VIII, 14f. ; Obrecht, Disputatio de militari disciplina; Tancke, Dispvtatio de disciplina militari et privilegiis militum; Cervellino, Militar disciplina; Ekerman, Exercitium academicum de disciplina militare ejusque necessitate; Coeur, Staatkundige aanmerkingen, 23–29 ; Friedrich II., Die General-Principia vom Kriege, 265, 267. 62
Puységur, Art de la guerre par principes et par règles, Buch II, Kap. VIII, Art. XIX., S.148f., pries den Mar-
schall von Turenne für seine Fähigkeit der Schlachtvermeidung. In seinen unmittelbar nach der Niederlage bei Kunersdorf verfassten Überlegungen über die Kriegführung Karls XII. von Schweden argumentierte Friedrich II., Karl XII. habe die Regeln der Kriegskunst nicht beachtet, ganze Armeen aufs Spiel gesetzt und sei deswegen unterlegen. Siehe Friedrich II., Réflexions sur les talents militaires et sur le caractère de Charles XII, Roi de Suede, 562, 566.
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Krieg und wieder Frieden basierenden Vorgaben gerieten unter zunehmende Kritik, die bekanntlich im Strategiestreit um die Thesen Hans Delbrücks zu den Grundsätzen der Kriegführung Friedrichs II. von Preußen gipfelte. 63 Während Friedrich II. selbst in der Bestimmung seiner Kriegsziele und in der Wahl seiner taktischen Mittel im Rahmen des auf Bewahrung der Stabilität der Welt ausgerichteten Mechanizismus des 18.Jahrhunderts verblieben war, mithin am augustinischen Ablaufparadigma von Frieden, Krieg und wieder Frieden festgehalten hatte, rückte ihn die offizielle Kriegsgeschichtsschreibung im Auftrag des preußisch-deutschen Generalstabs an der Wende zum 20.Jahrhunderts in die Position eines Revisionisten, der scheinbar an die Wirksamkeit des Kriegs als Instrument zur Beschleunigung von Wandel geglaubt hatte. Diese Verschiebung des augustinischen Abfolgeparadigmas in das der europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheorie des 19. und 20.Jahrhunderts zugrunde liegende Abfolgeparadigma von Krieg, Frieden und wieder Krieg war spezifisch für Europa und Nordamerika, fand mithin in anderen Teilen der Welt nicht oder nicht in derselben Richtung statt. Europäischen und nordamerikanischen Militär- und Völkerrechtstheoretikern diente das ihnen selbstverständlich gewordene Abfolgeparadigma von Krieg, Frieden und wieder Krieg als Maßstab zur Bemessung der „Zivilisiertheit“ der Kriegführung schlechthin. Anders gesagt: gegen Bevölkerungsgruppen, die einem anderen als dem Abfolgeparadigma von Krieg, Frieden und wieder Krieg folgten, schien in der Wahrnehmung europäischer und nordamerikanischer Militär- und Völkerrechtstheoretiker ein rechtlich geregelter Staatenkrieg nicht führbar. Welche Vorstellungen über die Abfolge von Krieg und Frieden bei ihren Gegnern außerhalb Europas und der USA bestanden, kümmerte weder die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA noch die diese Regierungen beeinflussenden Militär- und Völkerrechtstheoretiker. Sie zogen die scheinbar empirischen Befunde der Ethnografie des 19.Jahrhunderts zur Begründung ihrer Auffassung heran, dass außerhalb Europas und Nordamerikas Kriege nicht nach den angeblichen
63 Tzschirner, Ueber den Krieg, 105. Zum Streit um Delbrücks Thesen siehe Aron, Penser la guerre, 412– 443; Bernhardi, Delbrück, Friedrich der Grosse und Clausewitz; Brühl, Militärgeschichte und Kriegspolitik, 171; Bucholz, Hans Delbrück; Craig, Delbrück; Harnack, Hans Delbrück; Hillgruber, Hans Delbrück; Kessel, Doppelpolige Strategie; Linnebach, Zum Meinungsstreit; Raschke, Der politisierende Generalstab, 121f.; Schnitter, Friedrich II., 240–242; Thimme, Hans Delbrück.
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Grundsätzen der „Zivilisiertheit“ geführt würden, sondern unter Rückgriff auf vermeintlich „primitive“ Formen militärischer Organisation und taktische Mittel 64, insbesondere das scheinbare Vermeiden der offenen Feldschlacht 65. Gleichzeitig mit der Begrenzung des ius ad bellum durch die Völkerrechtstheorie benutzte die Militärtheorie das Vorherrschen von Hit-and-Run-Taktiken auf Seiten der Gegner europäischer und amerikanischer Streitkräfte zumal in Afrika und dem Südpazifik als Vorwand für den Ausschluss der Opfer von Kolonialherrschaft vom ius in bello, indem sie nicht nur Streitkräfte, sondern undifferenziert ganze Bevölkerungsgruppen zu Gegnern erklärte 66, und sie legitimierte dadurch die Entfesselung vermeintlich irregulärer militärischer Konflikte von den Normen des Kriegsvölkerrechts durch die begriffliche Erweiterung des Kombattantenstatus 67. Nach dieser Begriffsbestimmung konnten Bevölkerungsgruppen, deren bewaffnete Angehörige sich der offenen Feldschlacht zu entziehen schienen, als Ganze, ohne Unterscheidung von Alter und Geschlecht, zu Gegnern erklärt und militärischen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt werden. Kampfhandlungen konnten in die Siedlungen getragen und gegen unbewaffnete, keinerlei Widerstand leistende Bewohner gerichtet werden. Dagegen hatte die enge Fassung des Begriffs des Kombattanten in Europa eine lange Tradition gehabt. Schon die seit dem 12.Jahrhundert überlieferten Kriegsartikel hatten in der Regel Übergriffe auf am Kampfgeschehen Unbeteiligte (Zivilisten) untersagt und unter Strafandrohung gestellt. 68 Dieser normative Schutz von Zivilisten,
64
Callwell, Small Wars, 21f.
65
Dazu siehe Davie, The Evolution of War, 176–195. Der Begriff des „primitive warfare“ stand noch am
Ende des 20.Jahrhunderts in Gebrauch in der Ethnologie als Bezeichnung für Hit-and-Run-Taktiken: Frobenius, Weltgeschichte, Bd.1, 2f. Siehe auch unten Kap. 4, Anm.111–122. 66
Bugeaud, Discours du 24 Janvier 1845, 152, 154f.; ders., Mitteilung an den Herzog von Aumale vom
12.Mai 1846; ders., Abschiedsbotschaft an die Armee vom 5.Juni 1847, wo er im Rückblick behauptete, sein Gegner Abd el-Kadr habe ihn zu einem Krieg gezwungen, der überall stattgefunden habe. Dasselbe Argument, dass Gruppen, die vermeintlich „primitive warfare“ praktizieren, den europäischen Armeen die Ausweitung des Kombattantenstatus diktiert haben sollen, findet sich auch bei Callwell, Small Wars, 26. 67
Callwell, Small Wars, 21f. Dieser Vorgang fand zwar auch für den Staatenkrieg als scheinbar regulärer
Krieg statt, war diesbezüglich aber kontrovers. Dazu siehe die Diskussion von Triepel, Die Zukunft des Völkerrechts, 28f., der sich scharf gegen die These wandte, im regulären Krieg sei Handel mit dem Feind verboten und feindliche Handelsschiffe seien legitime Kriegsziele. Triepel sah diese These als unbegründet an, da sie auf einer in seiner Sicht rechtswidrigen Ausweitung des Kombattantenbegriffs beruhe. Bekanntlich scherte sich die Deutsche Reichsregierung während des Ersten Weltkriegs um derlei Einwände jedoch nicht. 68
24
Siehe als frühe Beispiele das Heeresgesetz Kaiser Friedrichs I. vom Jahr 1158, Art.5, 6, 14, S. IV f., den Ar-
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die am Kampfgeschehen keinen Anteil hatten, verhinderte Übergriffe seitens einzelner Söldner und marodierender Soldatesken zwar nicht 69, aber diese waren als Rechtsbruch geächtet. Noch Militärtheoretiker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatten den von ihnen so genannten, die Begriffsgrenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufhebenden „Volkskrieg“ als unvertretbar brutal verdammt. 70 Im Verlauf des 19.Jahrhunderts jedoch ging mit der zunehmenden Verrechtung des Staatenkriegs die Anwendung dieses Begriffs des „Volkskriegs“ auf Kolonialkriege und mit dieser eine ebenso zunehmende Begrenzung der Reichweite des Kriegsvölkerrechts einher. Die Gegner europäischer und US-amerikanischer Streitkräfte in den Kolonialkriegen wurden nicht nur gezwungen, sich auf das Abfolgeparadigma von Krieg, Frieden und wieder Krieg einzulassen und bei der Wahl ihrer militärischen Organisation und taktischen Mittel den „nächsten“ Krieg als konkrete Möglichkeit einzuplanen, sondern wurden auch Opfer von Gewaltakten, die das zeitgenössische Kriegsvölkerrecht untersagte. 71 Die Verschiebung des europäischen und nordamerikanischen Abfolgeparadig-
ticuls-Brieff Kaiser Maximilians I. vom Jahr 1508, Art.12, 13, 14, S.182, und die Kriegsordnung der Bauern am Rhein vom 10.Mai 1525, Art.10, S.442. Dazu siehe Beck, Die aeltesten Artikelsbriefe für das deutsche Fußvolk; Burschel, Söldner, 129–145; ders., Krieg, Staat und Disziplin, 642–645; Clauss, „Aujourd’hui toutes les guerres sont contre povres gens“, 82f.; Cruickshank, Army Royal, 85–92; Häne, Eine zürcherische Kriegsordnung aus dem Jahre 1444; Kortüm, Kriegstypus und Kriegstypologie, 89; Schmidtchen, Ius in bello und militärischer Alltag; Schnitter, Die bäuerlichen Kriegsordnungen. – Das Heeresgesetz Friedrichs I. bestimmte in Art.14, dass nur angegriffen werden dürfe, wer den Anschein erwecke, keinen Frieden geschworen zu haben. Nach dem Mainzer Landfrieden von 1103 (MGH LL, Bd.2, S.80) sollten alle Männer im Erwachsenenalter Frieden schwören. Die spätmittelalterliche Kriegskritik und Völkerrechtstheorie sekundierte. Am Ende des 14.Jahrhunderts bestimmte Legnano, Tractatus de bello et de repressaliis, Kap. 71, S.128, dass Nichtkombattanten diejenigen Bewohner einer Gegend seien, die nicht kämpfen könnten, und dass sie von Kombattanten begrifflich und rechtlich zu unterscheiden seien. Im 15.Jahrhundert forderten Bonet, L’Arbre de bataille, Buch IV, Kap. 100, S.208f., und Christine de Pisan, The Book of Fayttes of Armes and of Chyvalrye, Buch III, Kap. 18, S.224f., die Schonung von Personen, die keine Waffen trügen und daher nicht am Krieg beteiligt seien. 69 Zahlreiche Beispiele aus dem Repertorium Poenitentiariae Germanicum, hrsg. v. Schmugge, Nr.561– 684, S.48–56 (diese Einträge alle zum Jahr 1450). Aus dem 16.Jahrhundert siehe beispielsweise den Sacco di Roma vom Jahr 1527. Siehe dazu Brüning, Kriegs-Bilder; Burschel, Die Freiheit der Engel; Chastel, Le Sac de Rome; Gouwens, Remembering the Renaissance; Lenzi, Il sacco di Roma; Reinhardt, Blutiger Karneval; Römling, Ein Heer, 63–85; Schulz, Der Sacco di Roma. 70 Jomini, Abriß der Kriegskunst, Art.8, S.34. Siehe dazu Däniker, Jomini; Paret, Challenge of War, 107f., 125; Wallach, Kriegstheorien, 25. 71 Zum Beispiel die Bombardierung des Sommerpalasts des chinesischen Kaiser in Beijing 1860 und der „War of the Golden Stool“ gegen die Ashanti im Jahr 1900 (dazu siehe unten Kap. 4, Anm.192).
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mas von Krieg, Frieden und wieder Krieg hatte indes auch in Europa selbst Folgen für die Bestimmung der Grundlagen der Kriegführung. Hatte der unter der Ägide des augustinischen Abfolgeparadigmas vorherrschende umfassende Kriegsbegriff der Zulassung der Pluralität von Typen legitimer Belligerenten Vorschub geleistet, unter denen souveräne Herrschaftsträger über Staaten jeder Größe 72, beispielsweise Städte 73, daneben „halbsouveräne“ Protektorate 74, aber auch nicht-souveräne Fernhandelsgesellschaften 75 figurierten, so trug der von manchen Militär- und Völkerrechtstheoretikern des 19. und frühen 20.Jahrhunderts befürwortete engere Kriegsbegriff dazu bei, den Kreis der legitimen Typen von Belligerenten einzugrenzen auf die Regierungen souveräner Staaten als Träger von Völkerrechtssubjektivität. Während mithin bis an das Ende des 18.Jahrhunderts Herrschaftsträger mit verschiedenen Völkerrechtstiteln als legitime Belligerenten auf die allgemeine, naturrechtliche Verpflichtung zur Stabilisierung des Friedens festgelegt sein konnten, war die Entscheidung über Krieg oder Frieden seit dem frühen 19.Jahrhundert nach Ansicht der zeitgenössischen Militär- und Völkerrechtstheoretiker in die Hände ausschließlich der Regierungen souveräner Staaten gelegt, aus deren Partikularinteressen die Entscheidung für den nächsten Krieg sowie die Bestimmung der Strategien für diesen folgen können sollten. Regierungen hingegen, die in der Sicht europäischer und nordamerikanischer Militär- und Völkerrechtstheoretiker dieser Zeit nicht über
72
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 3, § 7, Nr. 1, Buch II, Kap. 5, § 23.
73
Zu Städten („Republiken“) als legitimen Belligerenten siehe Fassmann, Der Ursprung, Ruhm, Excel-
lentz und Vortrefflichkeit des Krieges- und Soldaten-Standes, 1; Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd.6, Kap. IV, S.43, ließ das ius ad bellum zur Herstellung der Freiheit und Souveränität der Städte ausdrücklich zu. Moser, Versuch des neuesten europäischen Völker-Rechts, § 4, S.4–6, nannte die Städte der Niederlande als Beispiele für „ganz souveräne Freystaaten oder Republiquen“. Zur militärischen Organisation in frühneuzeitlichen Städten siehe die Beispiele Augsburg, Basel, Frankfurt, Köln, Lübeck und Nürnberg. Dazu Kraus, Das Militärwesen; Radlkofer, Die Schützengesellschaften; Enzmann, Die Militärorganisation des Kantons Basel; Michel, 500 Jahre Gesellschaft der Feuerschützen Basel; Wieland, Ueber das baslerische Militärwesen; Jung, Das Frankfurter Bürgermilitär; Kracauer, Das Militärwesen der Reichsstadt Frankfurt; Romeiß, Die Wehrverfassung der Reichsstadt Frankfurt am Main; Schwarz, Die Kölner Stadt-Soldaten; Wübbeke[-Pflüger], Das Militärwesen der Stadt Köln; Schwark, Lübecks Stadtmilitär; Donanbauer, Nürnberg in der Mitte des Dreißigjährigen Krieges; Heiduk/Höfert/Ulrichs, Krieg und Verbrechen nach spätmittelalterlichen Chroniken, 149–168. Zu Reglements für städtische Truppen siehe Kleinschmidt, Tyrocinium miktlitare, 359 (zu Basel), 373 (zu Lübeck), 375 (zu Nürnberg). 74
So noch Heffter, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, § 113, S.244–247. Zum Begriff der Halb-
souveränität siehe unten Anm.78. 75
26
Bruijn/Gaastra (Eds.), Ships; Nagel, Abenteuer; Reichert, Fernhandel, 76f.
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souveräne Staaten oder über Staaten ohne zuerkannte Völkerrechtssubjektivität herrschten, sollten keine legitime Belligerenten mehr sein können. Den Begriff der Völkerrechtssubjektivität entwickelte die Theorie des frühen 19.Jahrhunderts zum Zweck der Unterscheidung zwischen Souveränen, die ihre vollen Souveränitätsrechte ohne Einschränkung wahrnehmen zu wollen schienen, und Souveränen, die ihre als Kompetenzkompetenz 76 begriffene Souveränität eingesetzt hatten, um einige ihrer Souveränitätsrechte, insbesondere diejenigen, die zur Gestaltung der internationalen Beziehungen und zum Führen von Kriegen erforderlich zu sein schienen, an andere Herrschaftsträger abzutreten. Diese Souveräne schienen mithin abhängig geworden und zu Herrschaftsträgern über sogenannte „Protektorate“ geworden zu sein. 77 Diese teil- oder halbsouveränen 78 „Protektorate“ sollten dieser Theorie zufolge nicht mehr befugt sein, ohne Genehmigung ihrer Protektoratsträger Krieg zu führen 79. Die angeblich in der uneingeschränkten Fähigkeit zur Entscheidung 76 Haenel, Studien zum deutschen Staatsrechte. 77 Gareis, Institutionen des Völkerrechts, § 15, S.61; Nys, Le droit international, Vol.1, 366. 78 „Halbsouveränität“ ist eine Bezeichnung von Moser, Versuch des neuesten europäischen VölkerRechts, § 11, S.26–31. Er listete unter dieser Bezeichnung auf: die geistlichen und weltlichen Kurfürsten, Prälaten, Grafen und Reichsstädte, Oranien-Nassau, die Herzogtümer Modena, Mantua und Guastalla, Massovien, Curland, Semigallien, die Walachei und Moldau. Zur Teilbarkeit der Souveränität siehe auch Pütter, Beyträge, 30–32. Die Entsprechung für diesen Begriff in der Militärtheorie fand sich in dem Argument Bülows, Geist des neuern Kriegssystems, 213–216, der die Legitimität des Belligerentenstatus auf Großmächte begrenzt wissen, kleinere Staaten hingegen vom ius ad bellum ausschließen wollte. Zur Lehre von der Halbsouveränität in der Sicht der Völkerrechtstheorie des 19.Jahrhunderts sieh Bogiževič, Halbsouveränität; Despagnet, Essai sur les protectorats, 20–47; ders., Cours de droit international public, Nr.127–136, S.126–131; Holtzendorff, Staaten mit unvollkommener Souveränität, § 27, S.115f.; Martens, Völkerrecht, Bd.1, § 70, S.286; Nys, Le droit international, Vol.1, 358; Phillimore, Commentaries upon International Law, 100–155; Pradier-Fodéré, Traité de droit international public Européen et Américain, Vol.1, Nr.94–108, S.176–198. 79 Zum ausdrücklichen Verbot der Kriegführung durch „Protektorate“ siehe Hall, A Treatise on International Law, § 4, S.19; Reinsch, Colonial Government, 111. Reflexe dieser Theorie finden sich auch in Zeugnissen aus der Perspektive der Opfer europäischer Kolonialherrschaft. So urteilte Nana Agyeman Prempeh I., König der Ashanti, in einem nach seiner Absetzung und Deportation im Jahr 1896 geschriebenen Bericht
über britische Interventionen vor 1896, dem König der Ashanti sei nach einem Krieg gegen das Vereinigte Königreich im Jahr 1874 das Recht zum Führen eines Kriegs ohne vorherige Rücksprache mit dem britischen Gouverneur in Cape Coast Castle an der sogenannten Goldküste untersagt worden. Siehe Prempeh I., The History of Ashanti Kings, 151. Gleichwohl war von der Verweigerung des ius ad bellum in zwischenstaatlichen Verträgen zur Errichtung der „Protektorate“ nur selten die Rede. Selbst der französisch-madegassische „Protektorats“-Vertrag vom Jahr 1895, der der französischen Regierung das alleinige Recht zur Gestaltung der äußeren Beziehungen des Königreichs Madagaskar zuschrieb, enthielt keine explizite Verweigerung des ius ad bellum. Siehe dazu unten Kap. 3, Anm.86.
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über Krieg und Frieden gipfelnde „Agency“ sollte nur denjenigen Regierungen zukommen, die ohne Einschränkung völkerrechtlich handlungsfähig zu sein schienen. Diese uneingeschränkte Handlungsfähigkeit in den internationalen Beziehungen war als Völkerrechtssubjektivität bestimmt.
4. Der Staatsbegriff und das angebliche „Recht auf Kolonien“: Die Reduktion der Zahl der legitimen Belligerenten mit Hilfe der Militär- und Völkerrechtstheorie Die Militär- und Völkerrechtstheorie des 19.Jahrhunderts bewirkte mithin eine Eingrenzung nicht nur der Typen, sondern auch der absoluten Zahl der legitimen Belligerenten. Einerseits wurden nicht-staatliche Herrschaftsträger wie die noch bestehenden Fernhandelskompanien aus dem Kreis der Souveräne ausgeschlossen, wenn auch die englische Ostindische Kompanie noch bis in die Mitte des Jahrhunderts im Namen der Regierung des Vereinigten Königreichs zwischenstaatliche Verträge mit Herrschern in Südasien schloss. 80 Andererseits verknüpften Regierungen, auf der Basis der ihnen vorliegenden Staats- und Völkerrechtstheorie, zumal in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Zuerkennung nicht nur von Völkerrechtssubjektitivtät, sondern auch der Souveränität von Herrschaftsinstitutionen außerhalb Europas und Amerikas zunehmend häufiger mit der Erfüllung von Forderungen, die sich aus dem sich im Verlauf des Jahrhunderts verfestigenden Staatsbegriff zu ergeben schienen. 81 Die Militär- und Völkerrechtstheorie setzte den europäischen Begriff des Staats als Trias der Einheiten von Gebiet, Bevölkerung und Regierung 82 universal gültig 83. Demnach waren nur solche Herrschaftsinstitutionen Staaten, deren Regierungen über ein klar linear abgegrenztes Gebiet und eine ein-
80
Dazu siehe unten Kap. 3, Anm.34, 59, 60.
81
„Welcher nigger chief sich König von Samoa nenne, würde den Neuseeländern einerlei sein, solange
politisch alles beim alten bleibe“, witzelte Herbert von Bismarck im Jahr 1887 und verlieh dadurch seiner Auffassung Ausdruck, dass Samoa kein souveräner Staat sei. Siehe Lepsius/Mendelssohn Bartholdy/Thimme, Die Große Politik der Europäischen Kabinette, Bd.4, Nr.818, S.177. Die Äußerung widersprach den Verträgen zwischen dem Deutschen Reich und Samoa von 1879, 1880 und 1888, durch die die Reichsregierung Samoa als souveränen Staat anerkannt hatte.
28
82
Jellinek, Staatslehre, 394–434.
83
Ausdrücklich: Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts, 14–21.
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heitliche, sesshafte und als homogen geltende Bevölkerung uneingeschränkte, gouvernementale 84 Herrschaft ausübten. Sprachen europäische Kolonialregierungen und die Regierung der USA Staaten in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik auch nur ein Element dieser Trias ab, verweigerten sie die Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität, mitunter auch der Souveränität dieser Staaten auch dann, wenn mit den Regierungen dieser Staaten bilaterale Verträge bestanden. Das ius ad bellum nach Maßgabe des europäischen Kriegsvölkerrechts war folglich eingegrenzt auf diejenigen Staaten, die die Staats- und Völkerrechtstheorie als Souveräne und zugleich Völkerrechtssubjekte anzuerkennen bereit waren. Die Völkerrechtstheorie fügte am Ende des 19.Jahrhunderts noch ein Kriterium hinzu: ein vermeintliches „Recht“, „Kolonien“ zu „besitzen“, sollte nur souveränen Staaten mit Völkerrechtssubjektivität zukommen. 85 Der angebliche Völkerrechtstitel zum „Erwerb“ solcher „Kolonien“, mit denen in der Regel „Protektorate“ bezeichnet wurden, 84 Begriff von Foucault, Governmentality, 100, 102, 103. Foucault verband mit diesem Begriff die Rechtfertigung der Forderung, dass Herrscher und Regierungen ihre Herrschaft auf das Wohl der unter ihrer Kontrolle stehenden Bevölkerung als Ziel zu orientieren hätten. Diese Forderung sah er in Europa seit dem späteren 18.Jahrhundert allgemein gültig werden und bezeichnete die daraus resultierende „Gouvernementalisierung des Staats“ als Spezifikum der „Moderne“. Dieser Begriff der Gouvernementalität, nicht das Wort, lag bereits der politischen Theorie des Liberalismus im 19.Jahrhundert zugrunde, jedoch mit einem Unterschied: Der Liberalismus des 19.Jahrhunderts schloss in seinen Begriff der Gouvernementalität die Bereitschaft der Bevölkerungen ein, sich regieren oder beherrschen zu lassen. Siehe Mill, Considerations on Representative Government, 12f., 82f.; so auch Hall, A Treatise on International Law, § 26, S.73f. Siehe dazu Dean, Governmentality, 40–59. In der Politikwissenschaft, Politischen Anthropologie und Politischen Soziologie figurierte Foucaults Begriff der Gouvernementalität bereits in den 1940er und 1950er Jahren als Gegenbegriff zu der kontrovers gebliebenen Bezeichnung der sogenannten „stateless societies“. Unter dieser Bezeichnung subsumierte die einschlägige Forschung Staaten, in denen angeblich „[f]ission, fusion, and the accretion of segments, place the whole political system upon shifting sands“, und denen sie sowohl den Staatsbegriff als auch den Begriff des „Political System“ verweigerte. So Easton, Political Anthropology, 231, 236. Diese angeblichen „stateless societies“ galten als „primitive systems“ (ebd.210 u.ö.). Sie seien zudem nicht nur durch mangelnde Gouvernementalität, sondern auch durch mangelnde Stabilität ihrer Grenzen bestimmt. So Evans-Pritchard, Zande Border Raids. Ebenso noch Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden, 219, 222; Gilpin, War and Change, 23. Derlei vermeintliche „stateless societies“ verortete die einschlägige Forschung hauptsächlich in Afrika. So ausdrücklich Eisenstadt, Primitive Political Systems, 203. Diese Forschung knüpfte bei ihren Analysen der Gouvernementalität in präkolonialen afrikanischen Staaten an Befunde der Ethnographie des 19.Jahrhunderts sowie an Feldforschungen, die unter der Kolonialherrschaft durchgeführt worden waren. Zu Letzteren siehe insbesondere Fortes/Evans-Pritchard, African Political Systems. Zu älteren abweichenden Beschreibungen noch des frühen 19.Jahrhunderts mit völlig anderen Urteilen siehe unten Kap. 4, Anm.156. Zur Kritik dieser Forschungen siehe bereits Anghie, Imperialism, 59; Elias, Africa, 6–15. 85 Gareis, Deutsches Kolonialrecht, 6.
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sollte also an die Voraussetzung der Souveränität und Völkerrechtssubjektivität der Träger von Kolonialherrschaft gebunden sein. Nur wer Kolonialherrschaft tragen konnte, durfte also auch Kolonialkriege führen. 86 Nicht nur in Europa selbst, sondern auch in anderen Teilen der Welt fand folglich während des 19. und frühen 20.Jahrhunderts ein Prozess der Reduktion der Zahl der souveränen Staaten mit anerkannter Völkerrechtssubjektivität statt. Dies geschah nicht nur durch diejenige Form der Staatszerstörung, die, etwa im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803, zur Integration kleinerer Staaten und Territorien in größere Staaten führte, sondern insbesondere außerhalb Europas auch ohne förmliche Staatszerstörung durch politische Maßnahmen wie etwa die Errichtung von „Protektoraten“ durch zwischenstaatliche Verträge. Mit letzterem Typ von Maßnahmen erkannten die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA zwar üblicherweise nicht die Staatlichkeit der in ihren „Protektoraten“ bestehenden Herrschaftsinstitutionen ab, wohl aber deren Völkerrechtssubjektivität. Diese Prozesse fanden statt in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik. Die Aberkennung von Völkerrechtssubjektivität, oft mit Hilfe bilateraler zwischenstaatlicher Verträge auch unter den europäischen Kolonialregierungen, war der juristische Ausdruck für Kolonialherrschaft. Den Opfern der kolonialen Herrschaftsexpansion war damit in der Sicht der Träger von Kolonialherrschaft das Recht zur legitimen Kriegführung aberkannt. Widerstand gegen Kolonialherrschaft war in dieser Sicht Rebellion und damit kein völkerrechtsrelevanter Vorgang, deren Niederschlagung hingegen eine innerstaatliche Angelegenheit ohne Begrenzung durch das Kriegsvölkerrecht. Wer das 19.Jahrhundert im Rückblick als Phase eines „hundertjährigen Friedens“ bezeichnet 87, macht sich weiterhin diese zeitgenössische Sichtweise der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA zu eigen und delegitimiert wie diese Regierungen Widerstand gegen Kolonialherrschaft. Militär- wie auch Völkerrechtstheretiker verorteten folglich die sogenannten irregulären militärischen Konflikte außerhalb Europas, insbesondere in Afrika,
86
Zur Debatte um die Staatlichkeit des Deutschen Reichs und den sich daraus für dessen völkerrechtli-
che Stellung ergebenden Problemen siehe Bornhak, Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 9–15. Siehe dazu Kleinschmidt, Menschen in Bewegung, 164–184. Die These, dass das Deutsche Reich kein Staat, sondern ein Staatenbund gewesen sei, vertrat am nachdrücklichsten der bayerische Verfassungsrechtler Seydel, Der Bundesstaatsbegriff; ders., Commentar, 1–11. 87
Polányi, The Hundred Years’ Peace; ebenso noch Gilpin, The Theory of Hegemonic War, 33; Schroeder,
The Life and Death of a Long Peace.
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West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik, und positionierten sie in den Kontext der herrschaftlichen Expansion der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA während des späten 19. und des frühen 20.Jahrhunderts. Sie erst prägten dadurch den Begriff des vom allgemeinen Krieg angeblich losgelösten Kolonialkriegs 88, für den sie verschiedene, aus dem 18.Jahrhundert überkommene Bezeichnungen wie „Kleiner Krieg“ 89 oder „Small War“ 90 gebrauchten, absolut stehende Wörter wie Krieg, War oder Guerre hingegen oft vermieden. Die Begründung für diese Wortwahl war in der Regel mit dem Hinweis verknüpft, dass die Opfer von Kolonialherrschaft entweder keine Völkerrechtssubjektivität oder keine Staatlichkeit besäßen, mithin angeblich zur Selbstregierung nicht fähig seien. Diese Eingrenzung des Bedeutungsspektrums, das absolut stehende Wörter wie Krieg, War oder Guerre auch im normativen Schrifttum trugen, ergibt sich aus der in der Forschung nicht immer hineichend berücksichtigten Tatsache, dass sowohl die nicht in Kraft gesetzte Brüsseler Landkriegsordnung von 1874 91 als auch die auf ihr beruhenden Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 92 sowie nachfolgende völkerrechtliche Normen des Kriegsrechts, anders als frühere Kriegsrechtssetzungen 93, in ihrer Gültigkeit auf den Staatenkrieg als alleinige Form des vermeintlich geregelten militärischen Konflikts begrenzt, weder hingegen auf militärische Konflikte innerhalb von Staaten bezogen waren, die durch innerstaatliches Recht geregelt werden mussten, noch auf militärische Konflikte zwischen Armeen der Kolonialregierungen und antikolonialen Widerstands- und Befreiungsgruppen. In diesem Sinn legte die britische Regierung in ihrer Note zum letztlich nicht ratifizierten Genfer Protokoll von
88 Wright, A Study of War. 89 Decker, Der Kleine Krieg. 90 Callwell, Small Wars, 21. 91 Brüsseler Konferenz über die Regeln der militärischen Kriegführung vom 27.August 1874, Protokoll, 133–136. 92 Haager Règlement vom 29.Juli 1899, Sect. I, Kap. 1, Art.1, 436. Auch in Scott, Hague Conventions, 107 (die Reglements von 1899 und 1907 sind in ihrer Bestimmung des Begriffs des Belligerenten von den Konferenzteilnehmern bewusst textidentisch gehalten und in Übereinstimmung mit der [nicht in Kraft gesetzten] Brüsseler Konvention von 1874 [siehe oben Anm.91] formuliert worden). Zu Letzterem siehe Rolin, Report, 140. 93 Diese standen spätestens seit dem 15.Jahrhundert unter dem Versuch, das ius ad bellum gesetzlich einzuhegen. Dazu siehe Cram, Judicium belli; Duchhardt, War and International Law; Fernández-Santamaría, Counter-Reformation, 134–149; Kintzinger, Superioritas; ders./Bastian, „Qui desiderat pacem praeparat bellum“, 41–44; Steiger, Ius bändigt Mars, 79.
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1924 ihre Auffassung nieder, dass die Begrenzungen des Kriegsvölkerrechts nicht für militärische Konflikte innerhalb des British Empire gelten würden. 94 Die britische Regierung handelte damit auf der Basis des Brüsseler Kriegsrechtsprotokolls vom 27.August 1874. Denn dieses kannte wie die Haager Landkriegsordnung von 1899 nur Staaten als Belligerenten. 95 Das kriegsvölkerrechtliche Verbot des Einsatzes bestimmter Waffenarten, zum Beispiel die sogenannten „Dumdum“-Geschosse oder Giftgas, galt folglich nur für den scheinbar regulären, angeblich nur unter „zivilisierten“ Völkern stattfindenden, verrechteten Staatenkrieg, nicht für bewaffnete Konflikte schlechthin. Vermeintlich irreguläre Kriege, insbesondere Kriege in Kolonien, waren daher keinen Begrenzungen unterworfen, die sich aus dem positiven Kriegsvölkerrecht ergaben, und konnten ohne rechtliche Begrenzung der Wahl des Instrumentariums der Waffen und der Taktik geführt werden, was mithin auch Genozid und verbrannte Erde einschließen konnte. 96 Erstaunlicherweise akzeptierte auch die internationale Friedensbewegung an der Wende zum 20.Jahrhundert diese Begrenzung des Kriegsvölkerrechts auf den scheinbar geregelten Staatenkrieg und stimmte darin überein mit den europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA sowie den intellektuellen Befürwortern von Kolonialherrschaft. 97 Beispielsweise ging Alfred Hermann Fried ganz 94
Dazu siehe Roscher, Der Brian-Kellogg-Pakt, 46–49; Wehberg, Das Genfer Protokoll.
95
Brüsseler Konferenz über die Regeln der militärischen Kriegführung vom 27.August 1874, Protokoll,
134; ebenso: Règlement concernant les lois et coutumes de la guerre sur terre 1899/1907. 96
Wie etwa im Herero-Nama-Krieg. Die in diesem Fall gegen den Kommandeur Lothar von Trotha sei-
tens der Reichsregierung verhängten Strafmaßnahmen folgten aus innerstaatlichem, nicht aus Völkerrecht und waren überdies auf die Abberufung von seinem Kommando über Deutsch-Südwestafrika beschränkt. Trotha erhielt hingegen von Kaiser Wilhelm II. den Orden Pour le Mérite. Die amtliche Kriegsgeschichtsschreibung des Deutschen Generalstabs (Die Kämpfe der Deutschen Truppen in Südwestafrika, 216) bezeichnete das Ergebnis des Kriegs lobend als „Vernichtung des Hererovolks“. Dazu siehe Böttger, Zivilisierung, 53–57; Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, 52f.; Drechsler, Südwestafrika, 146f., 153f.; Zimmermann, Krieg, KZ und Völkermord, 48–53; ders., Colonial Genocide; ders., Rassenkrieg und Völkermord; Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, 123–137, hingegen beschreibt die in den deutschen Kolonien geführten Kriege in deutsch-etatistischer Perspektive als „Aufstände gegen die deutsche Herrschaft“, ohne nach deren Legitimität zu fragen. 97
Beispielsweise: Reinsch, Colonial Government, insbes. V–VI; Snow, The Administration of Dependen-
cies. Reinsch legte der US-Regierung nahe, in den US-Kolonien anders zu verfahren als gegenüber den Native Americans, da die Bevölkerung in den US-Kolonien „cannot be swept away before the advancing tide of Caucasian immigration as were the North American Indians“. Dazu siehe Frey, Selbstbestimmung; Schmidt, Anarchy; ders., Paul S.Reinsch 58–64.
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selbstverständlich von der Voraussetzung aus, dass jeder Krieg ein militärischer Konflikt zwischen Staaten sei. Jedoch, meinte er, könne der Krieg „im Leben der Völker“ nur „bis zu einer gewissen Kulturstufe ihrer Entwicklung ein kulturfördernder Faktor gewesen sein“. In diesen sogenannten „Kulturstufen“ sei die Waffentechnik so wenig entwickelt gewesen, dass Kriegführen kein Hindernis für die „Entwicklung“ der Kultur dargestellt habe. Hingegen werde, „sobald ein Staat eine gewisse Kulturstufe erreicht hat“, Krieg „ein kulturhindernder Faktor“, der durch Rechtsnormen eingehegt werden müsse. Diese „Stufe“ hätten zu Beginn des 20.Jahrhunderts „die meisten Staaten des europäisch-amerikanischen Kulturkreises“ erreicht. Erst auf dieser „Stufe“ hätten die Staaten eine „Reife erlangt“, bei der Kriegführen ein „Hindernis einer weiteren Entwicklung“ werde. 98 Grundlage dieser Einschätzung waren für Fried Taktik und Waffentechnik des „modernen Krieges“. 99 Diese könnten Krieg nur „als letztes Mittel zur Verteidigung der Existenz eines Staates“ rechtfertigen. 100 Die internationale Friedensbewegung übernahm somit ohne Zögern die Denkmodelle des Evolutionismus und sah die Notwendigkeit der Verrechtung des Kriegs durch die von ihr propagierte internationale Organisation nur für militärische Konflikte unter Staaten in Europa und Amerika.
5. Kolonialkrieg als „totaler“ oder „Kleiner“ Krieg Scheinbar regulärer Krieg schien in der Sicht der Militär- und Völkerrechtstheoretiker sowie auch anderer Intellektueller des späteren 19. und des frühen 20. Jahrhunderts also nur unter angeblich „zivilisierten“ Staaten stattzufinden. Das Völkerrecht gab mit der ihm inhärenten Begrenzung des Kriegsbegriffs auf zwischenstaatliche Konflikte scheinbar „wilde“, „halbzivilisierte“ oder nicht „zivilisierte“ Völker zum Abschlachten frei. Der vermeintlich irreguläre „Kleine Krieg“ konnte dann geführt werden als „Volkskrieg“ oder „totaler“ Krieg. 101 Der aus dem 19.Jahrhundert
98 Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Bd.1, 14f. 99 Auf der Basis der Beschreibungen von Bloch, Der Krieg. 100 Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Bd.1, 94. 101 Zur Verwendung des Begriffs des „totalen“ Kriegs seit dem 18.Jahrhundert siehe Anderson, War and Society, 200f.; Chickering, Total War, 16; Heuser, Guibert; Strachan, Essay and Reflection; Tuchman, Generalship, 281; Johnson, Just War, 267, glaubt, dass Clausewitz’ Begriff des „absoluten Kriegs“ dem „Idealtyp“ des totalen Kriegs nahekam. In dieselbe Richtung argumentiert Smith, Clausewitz, 32, der darauf hinweist, dass
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überkommene Evolutionismus lieferte die Basis für die Wahrnehmung vieler nichteuropäischer Kulturen, insbesondere in Afrika und im Südpazifik, als vorgeblich „primitive“ Gegenbilder zu Europa, die in einem postulierten Naturzustand zu verharren schienen, und gab vor, Kolonialherrschaft diene einem stets nebulös bleibenden „Kulturfortschritt“, der erforderlichenfalls auch mit Gewalt zu erzwingen sei. 102 Den Angehörigen dieser Kulturen schien sich die Möglichkeit endogenen geschichtlichen Wandels nur durch Übernahme europäischen Kulturguts unter vorwaltender Kolonialherrschaft zu eröffnen, wie Missionstheologen behaupteten. 103 Widersetzten sie sich aktiv europäischer Kolonialherrschaft oder demonstrierten sie passiv Missachtung europäischer Normen und Werte durch ihr Verhalten, galten sie als befangen im Aberglauben und folglich weder als „missionierbar“ noch als „zivilisierbar“ und schienen dem Untergang geweiht. 104 Das Definieren von Recht und Krieg ist mithin keine rein akademische, arkane Angelegenheit der Theoriebildung gewesen, sondern hatte praktische politische Bedeutung für die Gestaltung der internationalen Beziehungen. Denn der Besitz der
Clausewitz’ Begriff des Volkskriegs „a wide range of popular involvement in war“ umfasste. Wright, Knights, 32, beschreibt den Hundertjährigen Krieg als „total war“. Das Wort „totaler Krieg“ steht seit Ende des Ersten Weltkriegs in Gebrauch. Siehe Daudet, La guerre totale, 8f.; Séché, Les guerres d’enfer, 124. Die ältere Auffassung (Janssen, Krieg, 613), dass dieser Begriff erst von Ludendorff aufgebracht worden sei, ist daher unbegründet. 102 Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 141. 103 Richter, Weltmission, 8; Troeltsch, Die Mission in der modernen Welt, 9, 57; Warneck, Die gegenwärtigen Beziehungen, 40; ders., Missionsmotiv, 31–34. Troeltsch vertrat die These, die Mission löse die etablierten Lebensverhältnisse der „Naturvölker“ auf und dürfe deswegen nur dem „Ruf nach dem Christentum“ folgen, ohne kritisch zu fragen, wie solche „Rufe“ zustandegekommen sein könnten. Warneck setzte dagegen das Postulat einer allgemeinen Christenpflicht zur Mission. Zur Mission im Kontext kolonialherrschaftlicher Expansion siehe Curtin, The World, 111–127; Eckert, Kolonialismus, 105–110; Gründer, Christliche Heilsbotschaft; ders., Christliche Mission; ders., Mission; Habermas, Mission; dies., Wissenstransfer; Jones, Transculturation; Moritzen, Koloniale Konzepte, 58; Oliver, The Missionary; Rooyackers, The Role of the Catechists; Stanley, The Bible, 131. 104 So ausdrücklich Reinsch, Colonial Administration, 40, 49f., 58, 69f., auf der Basis amtlicher Berichte der britischen Kolonialverwaltung, beispielsweise des Board on Edcuation Special Report, 88, von Macaulay, Minute, und von Morel, Affairs, 22f. Aus den in diesen Quellen niedergelegten Befunden zog Reinsch den Schluss, „the cranial sutures of the negro close at a very early age“ (58); folglich sei es gegebene Tatsache, dass der „African negro cannot be civilized by the destruction of his native institutions only by pouring into his mind the sum of European education“ (wie oben, 69); deswegen sei es sinnvoll, die Erziehung auf handwerklich-technische Fertigkeiten zu begrenzen (40, 51). Reinsch (1869–1923) war Politkwissenschaftler und Historiker und diente als US-Botschafter in China zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Zu Reinsch siehe Schmidt, The Political Discourse, 123–148; ders., Paul S.Reinsch.
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Bestimmungshoheit über Recht und Krieg in der internationalen Arena war Faktor von Macht, die der Begründung und dem Ausbau von Kolonialherrschaft dienen konnte. Da zudem Recht und Krieg unterschiedlich definiert werden können und die jeweiligen Definitionen Wandlungen unterliegen, können sie Gegenstände der Wahrnehmungsgeschichte sein. Die Forschung hat die Theorien des Kolonialkriegs und deren Verankerung in allgemeinen Theorien des Völkerrechts des 19. und frühen 20.Jahrhunderts weitgehend unbeachtet gelassen. Im Völkerrecht, das Kolonialkriege als innerstaatliche Konflikte zu kategorisieren schien, stellte sich die Frage nicht, was ein Kolonialkrieg sei. 105 Ethologie und Ethnologie befassten sich mit Krieg zumeist unter der Frage, ob sich aus vermeintlich rezenten empirischen Befunden ethnologischer Feldforschung Erkenntnisse über das „Wesen“ und die Ursprünge des Kriegs gewinnen lassen könnten. 106 Die Geschichts- sowie die historisch orientierten Politikwissenschaften thematisierten die Theorien des Kolonialkriegs nicht, sondern beschrieben allenfalls die Praxis der Kriegführung in Kolonien. 107 Gleichwohl werfen die Theorien des Kolonialkriegs des 19. und frühen 20.Jahrhunderts die folgenden Fragestellungen auf: Wie rechtfertigten Theoretiker des Völkerrechts die Nichtbeachtung gültiger zwischenstaatlicher Verträge durch die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA während der kolonialherrschaftlichen Expansion des 19. und frühen 20.Jahrhunderts? Wie begründeten Militär- und Völkerrechtstheoretiker dieser Zeit die Ausgrenzung des Kolonialkriegs aus dem allgemeinen Kriegsbegriff? Welche Konsequenzen hatte die militärische und völkerrechtliche Theorie- und Begriffsbildung dieser Zeit für die politische Gestaltung der internationalen Beziehungen?
105 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), 219, bezeichnete Kolonien als Bestandteile der Territorien ihrer „Mutterländer“; Wright, A Study of War, 636–651, setzte den Kolonialkrieg begrifflich vom Staatenkrieg ab. 106 Dazu inbesondere Frobenius, Weltgeschichte, Bd.1, 2; Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden, 217f.; Gat, War in Human Civilization, 114–132; Mead, War is only an Invention. Siehe dazu auch unten Kap. 4, Anm.121. 107 Zur geschichts- und politikwissenschaftlichen Forschung über die Geschichte der Kolonialkriege siehe Bührer, Chartergesellschaft; Hochgeschwender, Kolonialkriege; Krüger, Warum gingen die deutschen Kolonialkriege nicht in das historische Gedächtnis der Deutschen ein?; Speitkamp, Spätkolonialer Krieg; Watson, European International Society, 29–30; Vandervort, Wars of Imperial Conquest; Walter, Warum Kolonialkrieg?; Wesseling, Colonial Wars; ders., Imperialism, 6f., 14, 16; ders., Empires, 32–34. Die Übersicht über den deutschen Imperialismus von Laak, Über alles in der Welt, kommt ohne einen Abschnitt zu den Kolonialkriegen aus.
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Ziel der nachstehenden Untersuchung ist, kurz gesagt, die Umorientierung des Begriffs des „diskriminierenden Kriegs“, den Carl Schmitt als Waffe in seinem als Privatfehde geführten „Kampf gegen Versailles“ eingesetzt hatte 108, von einem Instrument der propagandistischen Legitimierung des Widerstands gegen den Versailler Vertrag in ein Instrument zur Analyse der Delegitimierung des Widerstands gegen Kolonialherrschaft. Schmitt hatte zu argumentieren versucht, dass durch den Versailler Vertrag dem Deutschen Reich die autonome Entscheidung über die Wahl seiner Kriegsziele und damit des ius ad bellum genommen worden und dass dies mit der Souveränität des Deutschen Reichs nicht vereinbar sei. Er wollte mit seinem Rückgriff auf Versatzstücke aus der Naturrechtstradition des Widerstandsrechts dem Streben nach Revision des Versailler Vertrags eine scheinbar legitime Basis verschaffen. Seine Argumentation konnte freilich auf keinerlei Rechtsgrundlage gestützt sein und war folglich reine Propaganda. 109 Gleichwohl fand sie nicht nur gegen Ende des 20., sondern auch noch zu Beginn des 21.Jahrhunderts Nachahmer. 110 Schmitts Propagandabegiff gilt es gewissermaßen auf die Füße zu stellen. Nicht die Diskriminierung eines Staats durch Verweigerung des ius ad bellum in Bezug auf irgendwelche revisionistischen Kriegsziele ist zu thematisieren, sondern der Einsatz von Militär- und Völkerrechtstheorie zur Diskriminierung bestimmter Typen von Belligerenten und das Bestreiten der Gültigkeit des gesatzten Kriegsvölkerrechts diesen gegenüber. Denn diese Theorien erkannten den Opfern von Kolonialherrschaft Völkerrechtssubjektivität rundweg ab und schränkten deren Staatlichkeit so stark ein, dass deren Widerstand gegen Kolonialherrschaft delegitimiert werden konnte. Militär- und Völkerrechtstheorien, die Widerstand gegen Kolonialherrschaft aus dem Gültigkeitsbereich des Kriegsvölkerrechts ausgrenzen sollen, sind folglich als Ideologien der Kolonialherrschaft aufzufassen. Die Untersuchung führt über drei Schritte. Im ersten Schritt beschreibe ich die Verbindung der postulierten Gleichheit der Souveräne mit der Völkerrechtssubjektivität der Belligerenten nach den bis gegen 1800 vorliegenden Völkerrechtstheorien. Im zweiten Schritt lege ich Wandlungen dieser Theorien während des 19. und frühen 20.Jahrhunderts dar, die die Aberkennung der Völkerrechtssubjektivität und
108 Schmitt, Die Kernfrage, 11, 15–17, 19–21; ders., Die Wendung. 109 Siehe dazu Roscher, Der Briand-Kellogg Pakt, 168–170. 110 Grewe, Epochen, 728–733, mit Bezug auf Schmitt, Wendung; Ralph, War as an Institution, bezieht sich auf Schmitt, Theorie.
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Einschränkung der souveränen Staatlichkeit der Opfer von Kolonialherrschaft durch die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA begründen sollten. Im dritten Schritt folgt die Analyse der zeitgenössischen Theorien des Kolonialkriegs als „totaler“ Krieg jenseits der Grenzen des Kriegsvölkerrechts. Abschließend versuche ich, die Folgen der Anwendung der Theorien des Kolonialkriegs für die Wahrnehmung des internationalen Systems als globales Staatensystem zu umreißen.
I . EINLEITUNG : KOLONIALHERRSCHAFT
– VÖLKERRECHT – KRIEG
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II. Postulierte Gleichheit der Souveräne, Völkerrechtssubjektivität nicht-staatlicher Akteure und Kolonialismus bis ca. 1800
1. Souveränität und Gleichheit staatlicher Akteure Entgegen den lange Zeit als Dogma geltenden Behauptungen der geschichtswissenschaftlichen Verfassungsgeschichtsschreibung 1 sind Wort und Begriff der Souveränität Bestandteil des Erbes des mittelalterlichen Universalismus, also nicht notwendigerweise gebunden gewesen an das Bestehen einer Mehrzahl partikularistischer sogenannter „territorialer Flächenstaaten“ 2. Im Gegenteil diente der Begriff der Souveränität zunächst der Bestimmung desjenigen herrschaftstragenden Amts, das als höchstes – und damit allumfassend – in der lateinischen Christenheit des Spätmittelalters gelten sollte 3, war also vereinbar mit der universalistischen Reichsideologie, wenn er auch im Kampf gegen diese eingesetzt werden konnte 4. Die noch im frühen 16.Jahrhundert gängige Eindeutschung des mittelfranzösischen Worts souverain mit Oberkayt, Obrigkeit oder ähnlichen Wörtern für höchstrangige städtische Träger von Herrschaftsämtern 5 reflektierte die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs, da diese deutschsprachigen Wörter selbst wie auch ihr lateinisches Äquivalent supe1 Brunner, Land und Herrschaft, 113f., 123f., 141f. Zur Diskussion siehe Bartelson, A Genealogy of Sovereignty, 88–136; Chaplais, La souveraineté du roi de France; David, La souveraineté, 72–89; ders., Le contenu de l’hégémonie imperial; Feenstra, Jean de Blanot; Jongkees, Charles le Téméraire; Kintzinger, Superioritas; Kortüm, Kriegstypus, 92–95; Monti, Intorno; Quaritsch, Staat, 32–45, 164; ders., Souveränität, 30; Reitemeier, Grundprobleme; Schubert, König, 297–349; Tierney, The Prince; Ullmann, The Development of the Medieval Idea of Sovereignty; ders., Zur Entwicklung des Souveränitätsbegriffs im Spätmittelalter; Vorholzer, Kaisertum; Walther, Imperiales Königtum, 78–86; Weill, Les théories sur le pouvoir royal en France, 48; Wilks, The Problem of Sovereignty. 2 Dieser Begriff kam in den 1930er Jahren auf. Siehe Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates; ders., Die Entstehung des „modernen“ Staates. 3 Ullmann, The Development of the Medieval Idea of Sovereignty; Wilks, The Problem of Sovereignty. 4 Dazu siehe Baethgen, Zur Geschichte der Weltherrschaftsidee; Dupré Theseider, L’idea imperiale; Hageneder, Weltherrschaft; Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke; ders., Dominium mundi; ders., Das mittelalterliche Imperium; Jäschke, Zu universalen und regionalen Reichskonzeptionen; Schlierer, Weltherrschaftsgedanke.
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rioritas auf andere Amts- und Herrschaftsträger als den Kaiser oder den Papst Anwendung finden konnten 6. Der Begriff der Souveränität konnte mithin Obrigkeiten verschiedenen Rangs umfassen, die ihrerseits eingebunden sein konnten in eine Hierarchie mit dem geglaubten Universalherrscher an ihrer Spitze. Souveränität und Hierarchie bezeichneten mithin keineswegs immer sich wechselseitig ausschließende politische Ordnungsgrundsätze, sondern konnten sich ergänzen. Das war keineswegs nur in Europa während des Spätmittelalters der Fall, sondern mindestens auch in Ostasien, und dort sogar bis ins 19.Jahrhundert. Auch dort umfasste das tributäre chinesische internationale System souveräne Staaten, die wie Annam, Japan, Korea und die Ryūkyū-Inseln in einer Hierarchie geordnet waren mit dem Reich der Mitte an der Spitze. Die Regierung in Beijing manifestierte zwischen dem 14. und dem 19.Jahrhundert den Anspruch auf ihre Spitzenposition in dieser Hierarchie durch Regulierung von Tributen, die die rangniedrigen Regierungen nach Beijing entrichteten, ohne selbst solche Tribute aus Beijing zu empfangen. Auch bestimmte die Regierung in Beijing das Zeremoniell und den Gebrauch von Titeln für die zwischenstaatliche Kommunikation. 7 Die japanische Regierung ihrerseits zahlte mitunter Tribute an die Regierung in Beijing, empfing aber zugleich ihrerseits Tribute von der Regierung des Königreichs der Ryūkyū-Inseln, rangierte mithin vor Letzterer in der Staatenhierarchie. Die Tribute, die nicht notwendigerweise regelmäßig zu leisten waren, schränkten die Souveränität der zahlenden Seite nicht ein. Im Gegenteil, die Fähigkeit zur Tributzahlung war Merkmal der Definition von Souveränität. 8
5 Belege beispielsweise bei Spengler, Bedencken, 502f.; ders., Verantwortung, 381. Siehe dazu Hamm, Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler; ders., Humanistische Ethik. 6 So beispielsweise Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, Kap. III, § 1–3, Kap. IV, § 11, S.52–56, 144–148; siehe dazu Hoke, Die Reichsstaatslehre, 64f. 7 So noch im britisch-chinesischen Nanjing-Vertrag, Art. XI, 468f., auch gegenüber der Regierung des Vereinigten Königreichs. In diesem Artikel wurde der Gebrauch von Bezeichnungen für amtliche Stellungnahmen britischer und chinesischer Dienststellen auf verschiedenen Ebenen geregelt. Die Bezeichnungen wiesen Dienststellen derselben Ebene höhere Ränge auf chinesischer als auf britischer Seite zu und legten ausdrücklich fest, dass der Sprachgebrauch in der Kommunikation zwischen Untergebenen der beiden Staaten völlig gleich sein sollte. Dieser Artikel hob mithin in der Perspektive der Qing-Regierung diejenigen Teile der Präambel des Vertrags auf, die die Gleichheit der vertragschließenden Souveräne zum Ausdruck brachten. Die völkerrechtstheoretische Literatur, auch von chinesischer Seite, hob schon früh hervor, dass der Vertrag die rechtliche Gleichheit Chinas als Staat anerkannt habe, berücksichtigte jedoch nicht den mit dem Vertragsabschluss einhergehenden Oktroi des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge auf Ostasien. Siehe: Ma, Der Eintritt des Chinesischen Reiches, 65. 8 Dazu siehe Weigelin-Schwiedrzik, Zentrum.
II . POSTULIERTE GLEICHHEIT DER SOUVERÄNE
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Für den Okzident, und zunächst nur für diesen, veränderte Jean Bodin den Geltungsbereich des Souveränitätsbegriffs im Jahr 1576 gewissermaßen mit einem Paukenschlag. In seinem in diesem Jahr gedruckten Buch über den Staat bestimmte er, zunächst im Einklang mit der Tradition des Spätmittelalters, Souveränität als ranghöchste Herrschaft, definierte aber seinen Souveränitätsbegriff nicht mehr universal, sondern mit Bezug nur auf einzelne partikulare Herrschaftsträger. 9 Da es mehrere Souveräne gab, legte Bodin sich die Frage vor, wie das Verhältnis mehrerer, nebeneinander bestehender Souveräne mit demselben Anspruch auf ranghöchste Herrschaftsträgerschaft zueinander zu bestimmen sei. Seine Schlussfolgerung war, dass mehrere Souveräne, die in verschiedenen Staaten jeweils ranghöchste Herrschaft trugen, untereinander rechtlich gleich sein müssten. Bodin assoziierte mithin als wohl erster Theoretiker des Staats den Begriff der Souveränität mit dem Rechtsbegriff der Gleichheit, und zwar aus rein formallogischen Gründen. Denn die rechtliche Gleichheit der Souveräne untereinander bestand, Bodin zufolge, trotz Unterschieden politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Macht aufgrund der bloßen Tatsache der wechselseitigen Anerkennung der Souveränität der Herrschaftsträger. Bodin verwarf damit die ältere Ansicht, dass Souveränität mit der Anerkennung hierarchischer Rangordnungen und der daraus folgenden Abhängigkeiten vereinbar sei. Erkenne ein Souverän einen anderen Souverän über sich an, gehe die Souveränität des nachgeordneten Herrschaftsträgers verloren. 10 Souveränität sei nicht teilbar; entweder bestehe sie oder sie bestehe nicht. Bodins Zusammenfügung von Souveränität und Gleichheit als Rechtsbegriffe fand bekanntlich außerhalb des Heiligen Römischen Reichs schnell hohe Zustimmung. 11 Sie war indes zunächst beschränkt auf die Ablehnung kaiserlicher Ansprüche auf Vorrang über andere Souveräne. Der Einsatz der Bodin’schen Kombination von Souveränität und Gleichheit unter den Bedingungen der Koexistenz mehrerer nebeneinander bestehender souveräner Staaten befeuerte hingegen den schon seit der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts erhobenen propagandistischen Vorwurf, das Streben nach Universalherrschaft sei ein illegitimer Versuch der Unterdrückung von Freiheit. 12
9 Grassaille, Regalium Franciae libri duo, 1; Bodin, Six livres de la République, Buch I, Kap. 9, S.238. 10
Bodin, Six livres de la République, Buch I, Kap. 8, Kap. 10, S.190, 295.
11
Zu Bodins Souveränitätsbegriff siehe Dennert, Ursprung, 56–64; Gardot, Jean Bodin; Goyard-Fabre, Jean
Bodin, 41–72; Quaritsch, Souveränität, 50; ders., Bodins Souveränität.
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Gleichwohl war bereits vor Bodin Gleichheit in Verbindung mit Souveränität als politischer Ordnungsbegriff in Gebrauch gewesen, ohne ausdrücklich gegen den Anspruch auf Universalherrschaft gerichtet gewesen zu sein. Das ergibt sich spätestens aus den Verträgen von Alcaçovas von 1479 13 und Tordesillas von 1494 14, durch die Herrschaftsträger der iberischen Königreiche ihre konkurrierenden Ansprüche auf Inseln und Festländer im Ozean, damals wahrgenommen als der den Erdkreis umgebende Wassergürtel, auszugleichen bestrebt waren. Durch beide Partikularverträge regelten die Parteien ihre wechselseitigen Beziehungen autonom 15, gegen die mitunter vertretene Ansicht, allein dem Papst stehe die Kontrolle über ozeanische Inselwelten zu 16, und in einer Formelsprache, die auf die Anerkennung der Gleichrangigkeit der vertragschließenden Parteien abhob 17. Die Verträge ließen dennoch kaiserliche oder päpstliche Universalherrschaftsansprüche unangestastet, da sie keinen allgemeinen Grundsatz der Gleichheit der Souveräne formulieren sollten. Obwohl die bilateralen Abkommen nur die vertragschließenden Parteien banden, sollte ihnen in der Wahrnehmung der Herrschaftsträger der iberischen Königreiche insoweit eine über diese selbst hinausgehende Rechtskraft zukommen, als Schiffen aus Staaten, die nicht durch die Verträge gebunden waren, die Passage im Ozean nur mit Privilegien der Herrschaftsträger in den iberischen Königreichen gestattet sein sollte. Gegen die mittelalterliche Vorstellung, dass der Universalherrscher die Offenheit des Ozeans garantiere, schränkten die bilateralen Partikularverträge zwischen den iberischen Königreichen die Offenheit des Ozeans mindestens ein. Durch diesen Versuch trugen die iberischen Partikularverträge zum Aufkom12 Dazu siehe Bosbach, Monarchia universalis, 35–63; ders., The European Debate; Frankl, Imperio particular e imperio universal; Gelderen, Um 1550; Headley, Church, Empire and World; ders., The Habsburg World Empire; Pagden, Lords of All the World, 29–62. 13 In: Descobrimentos portugueses, 181–209. 14 In: Grewe, Fontes, Bd.2, 110–116. 15 Zur Rolle der bei den Verhandlungen in Tordesillas anwesenden, jedoch nicht direkt beteiligten päpstlichen Gesandten siehe Las Casas, Historia, Kap. LXXXIX, Vol.1, 336–339; Tordesillas, Historia, Vol.2, 101; Oviedo y Valdés, Historia, Buch II, Kap. 8, Vol.1, 31–35; Fonseca/Ruiz Asencio, Corpus documental del tratado de Tordesillas. 16 Weckmann[-Munoz], Las bulas Alejandrinas de 1493, 37–228; ders., The Alexandrine Bulls of 1493. 17 Die Kompetenz des Universalherrschers zur Regelung des Zugangs für die Meere (im Sinn der mittelalterlichen Vorstellung vom okeanos) vertrat noch im 17.Jahrhundert, gegen Grotius, mit Begrenzung auf den Römischen Kaiser, Freitas, De iusto imperio Lusitanorum, Buch II, Kap. 11, S.134. Die iberischen Partikularabkommen zur Regelung des Zugangs zum Ozean von 1479, 1494 und 1529 sind formal keine Konkordate, sondern bilaterale Verträge.
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men der Kontroverse über die Offenheit des Ozeans bei, die bereits im früheren 16.Jahrhundert insbesondere zwischen König Franz I. von Frankreich und Karl I. von Aragón und Kastilien geführt wurde. 18 Sie nahm bekanntlich im Verlauf des 16. und frühen 17. Jahrhunderts an Intensität zu, bis Grotius die Bindewirkung der iberischen Partikularverträge für Akteure aus nicht beteiligten Staaten sowie die Regelkompetenz des Universalherrschers für den Ozean grundsätzlich bestritt. 19 Bodins Verbindung von Souveränität und Gleichheit war mithin eingebunden in diesen Prozess der De-Institutionalisierung des Universalismus. 20 Erst im Verlauf dieses Prozesses, der bis in das 17.Jahrhundert fortdauerte, trat im Okzident die Gleichheit der nebeneinander bestehenden Souveräne in Widerspruch zu deren Ungleichheit gegenüber einem Träger von Universalherrschaft.
2. Die De-Institutionalisierung von Universalherrschaft Die Eroberung Amerikas und dessen nachfolgende Unterwerfung unter zunächst die Herrschaft der iberischen Königreiche, später auch Frankreichs und Großbritanniens, beschleunigten den Prozess der De-Institutionalisierung von Universalherrschaft. Nicht nur stellten die iberischen Mächte den aus der Universalherrschaft abgeleiteten Begriff der Offenheit des Ozeans vorübergehend in Frage, sondern sie reklamierten auch die sich in europäischer Wahrnehmung schnell zu einem Kontinent verdichtenden kolumbischen Inselwelten für sich als Substrate ihrer Herrschaft. Weder Kolumbus selbst, der an der aus der Antike überkommenen Wahrnehmung der Welt as begehbarer trikontinentaler Landmasse festhielt, noch die frühen Konquistadoren stellten hingegen die Universalherrschaft ausdrücklich in Abrede. 21 So trug Cortés seinem Souverän an, das gerade eroberte Aztekenreich in das
18
Zum Streit um die Gültigkeit der iberischen Partikularverträge siehe den Brief Philips II. an Karl V.
vom 14.Dezember 1544, 495f.; siehe dazu Fahl, Der Grundsatz. 19
Grotius, De praeda, Kap. XII, S.237, 260; siehe dazu Brito Vieira, Mare Liberum vs Mare Clausum, 367–
369, 371. 20
Dazu siehe Kleinschmidt, Ruling the Waves, 241–264.
21
Edikt vom 3.Mai 1493, in: Metzler (Ed.), America Pontificia primi saeculi evangelizationis 1493–1592,
Vol.1, 73, mit der Pluralbildung für die terrae firmae. Zu Theorien des Vierten Kontinents, mit dem diese terrae firmae assoziiert gewesen sein können, siehe Kleinschmidt, Ruling the Waves, 12f., 48–52, 102–105, 205–211.
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Heilige Römische Reich zu integrieren, um dessen Universalität zu restituieren, und er begründete seinen Vorschlag mit der Behauptung, durch die Eroberung sei die Herrschaft über zwischenzeitlich abtrünnig gewesene Untertanen restituiert worden. 22 Cortés operierte also innerhalb der Tradition des mittelalterlichen Universalismus; aber Karl I./V. entschied gegen Cortés, indem er die Gebiete, die dieser und die übrigen Konquistadoren des früheren 16.Jahrhunderts unter ihre Kontrolle gebracht hatten, spanischer Herrschaft unterstellte, nicht aber dem Heiligen Römischen Reich. Da die in den portugiesisch-spanischen Partikularverträgen vereinbarten Trennlinien mit den Traditionen des mittelalterlichen Universalismus unvereinbar waren, musste Karl dem Partikularismus den Vorrang geben. Die Völkerrechtstheorie der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts verurteilte jedoch unter Rückgriff auf die Tradition des Universalismus die spanische Eroberung Amerikas als unbegründeten und folglich ungerechten Krieg. 23 So argumentierte Francisco de Vitoria, im Rahmen des augustinischen Abfolgeparadigmas von Frieden, Krieg und wieder Frieden, dass ein Krieg nur zum Zweck der Restitution zuvor erlittenen Unrechts gerechtfertigt werden könne. Die Native Americans hätten vor der spanischen Eroberung zu keinem Zeitpunkt sich irgendeines Unrechts gegen einen spanischen Herrscher schuldig gemacht. 24 Das Bestehen der spanischen Siedlerkolonien in Amerika konnte Vitoria folglich nicht aus einem vermeintlichen Recht zur Eroberung ableiten. Stattdessen griff er als Theologe auf den biblischen Schöpfungsmythos als Legitimationsquelle zurück. Dieser umfasse das allgemeine göttliche Gebot zur Bebauung des Bodens und gewähre die Freiheit der Niederlassung überall dort auf dem Planeten Erde, wo der Boden nicht bebaut werde. Die Native Americans als vorgebliche Nomaden hätten keinen Rechtstitel zur Siedlung auf Land, das sie angeblich nicht bebauten. Sie könnten sich daher nicht legitim gegen die Ansiedlung von Bodenbauern aus Spanien wehren. Leisteten die Native Americans Widerstand, hätten die aus Spanien kommenden Bodenbauern das Recht, sich zu verteidigen und ihren scheinbar aus göttlichem Gebot abgeleiteten Anspruch auf Siedlungsfreiheit durchzusetzen. Dem Papst stehe überdies das Recht zu, den Spaniern diejenigen Rechte zu gewähren, die sie zur Verbreitung des Evangeliums benötigten. Die spanischen Herrscher hätten mithin die aus diesen Rechten erwachsende
22 Cortés, Segunda Carta [30.Oktober 1520], in: ders., Cartas, 33. 23 Dazu siehe Hanke, All Mankind. 24 Vitoria, De Indis, Relectio posterior, Kap. 10–14 (hrsg. von Nys), 278f .
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Pflicht, die Siedlungskolonisation zu fördern, da ihnen als christlichen Herrschern die Durchsetzung des göttlichen Gebots überall in der Welt obliege. 25 Vitoria argumentierte mithin genauso universalistisch wie Cortés. Der Beherrscher Spaniens konnte in der Wahrnehmung der Völkerrechtstheoretiker des früheren 16. Jahrhunderts die kirchlichen Pflichten des Universalherrschers übernehmen, gerade weil der Universalherrscher sich nicht durch bilaterale, seine Rechte möglicherweise einschränkende Verträge binden lassen konnte. Dieser somit theologisch begründeten Rechtfertigung des Siedlungskolonialismus zu Lasten der Native Americans stand gelegentliche Kooperation zumal spanischer Herrschaftsträger mit Eliten der Native Americans nicht entgegen, mit denen sogar völkerrechtliche Verträge bestanden. 26 Die wechselseitige Anerkennung der rechtlichen Gleichheit der Souveräne in Europa, definitorisch verbunden mit dem Rechtsinstitut des zwischenstaatlichen Vertrags nach der europäischen Völkerrechtstheorie, schloss mithin in der Sicht der europäischen Kolonialregierungen die Wahrnehmung von Ungleichheit in politischer sowie religiös-kultureller Hinsicht gegenüber den Native Americans nicht aus. 27
25
Ebd., Relectio prior, Buch I, Kap. 4–9, 24, Buch II, Kap. 15f., Buch III, Kap. 4f., 10 (hrsg. von Nys), 222–
227, 232, 250–255, 259f., 262f. Zu Vitoria siehe Anghie, Francisco de Vitoria; ders., Imperialism, 13–31; ders., The Evolution of International Law, 38–40; Baumel, Les problèmes de la colonization; Castilla Urbano, El pensiamento, 173–187, 218; Fernández-Santamaria, Counter-Reformation, Vol.1, 40–49; Fisch, Law as a Means; Haggenmacher, La place de Francisco de Vitoria; Hamilton, Political Thought, 149f.; Headley, „The Extended Hand of Europe“; Janssen, Die Theorie des gerechten Kriegs, 211; Justenhoven, Francisco de Vitoria; Kipp, Moderne Probleme des Kriegsrechts, 39–98; Korman, The Right of Conquest, 18–25, 41–66; Manga, Kolonialism och rättfärdigt krig; Miranda, Vitoria; Muldoon, Medieval Canon Law, 69–81; Niemalä, A Cosmopolitan World Order?; Pagden, The Genealogies of European Cosmopolitanism; Scott, The Spanish Origin of International Law, 142–150, 192–238; Sievernich, Toleranz, 196–200; Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft; Truyol y Serra, La conception de la paix; Tuck, The Rights of War and Peace, 47–50; Voß, Ius belli, 60–66, 73–81; Weinacht, Eroberungskrieg; Ziegler, Völkerrechtliche Aspekte. 26
Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen den Huronen und dem Vereinigten Königreich vom
18.Juli 1764; Freundschafts- und Bündnisvertrag zwischen den Seneca und dem Vereinigten Königreich vom 3.April 1764. Dazu siehe auch Fisch, Völkerrechtliche Verträge. 27
Keine zwischenstaatlichen Verträge sind überliefert zwischen Trägern spanischer Kolonialherrschaft
und den Bewohnern der Philippinen sowie zwischen Trägern britischer Kolonialherrschaft und den Aborigines in Australien. Zur speziellen Problematik des Edikts der britischen Regierung an die Māori vom 5./ 6.Februar 1840 siehe Kleinschmidt, Legitimität, 287–289.
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3. Gleichheit von Akteuren mit abgeleiteter Völkerrechtssubjektivität Andere Akteure als die Herrscher über souveräne Staaten verfuhren außerhalb Europas während des 17. und 18.Jahrhunderts nach anderen Grundsätzen. Unter diesen ragten in Bezug auf die Kriegführung außerhalb Europas durch Privilegien mit Völkerrechtssubjektivität ausgestattete Fernhandelskompanien 28 hervor, insbesondere die im Jahr 1600 gegründete englische East India Company (EIC) 29, die seit 1661 durch Privileg Karls II. das ius ad bellum besaß, und die niederländische Ostindische Kompanie (VOC), die dasselbe Recht bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1602 ausübte 30. Beide Kompanien erhielten zudem durch ihre Privilegien zusätzlich zu dem ihnen eingeräumten Handelsmonopol die Befugnis, auf eigene Rechnung und eigenes Risiko völkerrechtliche Abkommen zu schließen, als wären sie, wie die Räte Genuas, Ragusas und Venedigs, die derartige Verträge schon im 15.Jahrhundert geschlossen hatten, Regierungen souveräner Staaten. Für die Niederlande enthielt
28 Coke, Reflections; siehe dazu Alexandrowicz, Introduction, 15, 26, 28, 37, 44, 99, 164, 203, 216; ders., Treaty and Diplomatic Relations; ders., The Afro-Asian World; Anghie, Imperialism, 67–69; Blake, English Trade; Bonnassieux, Les grandes companies; Bruijn/Gaastra (Eds.), Ships, 81–176; Chailléy-Bert, Les compagnies de colonisation; Duchhardt, Afrika und die deutschen Kolonialprojekte; Emmer/Gaastra, The Organization of Interoceanic Trade; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 345–353; Häberlein, Westindische Kompanien; Hannay, The Great Chartered Companies; Kohler, Handelsverträge; Haudrère, La compagnie française des Indes; ders., Les compagnies des Indes Orientales; Klosa, Die brandenburgische Africanische Compagnie; Krieger, Kaufleute; Lindley, Acquisition, 94–96; Malettke, Colberts Werbung; ders., Die Bourbonen, 195; Nagel, Ostindische Kompanien; Nørregård, Danish Settlements; Nunes Costa, D. Antonio o trato Ingles da Guiné; Oettinger, Unter brandenburgischer Flagge; Schück, Brandenburg-Preußens Kolonial-Politik; Serruys, Oostende; Spruit, Zout en slaven; Subrahmanyan, Merchant Networks; Tracy, The Rise of Merchant Empires; ders., The Political Economy of Merchant Empires; Westergaard, The Danish West Indies. 29 Charta vom 31.Dezember 1600, in: Grewe, Fontes historiae iuris gentium, Bd.2, 165–170. Zur EIC siehe Bowen, Mobilising Resources; Chaudhuri, The English East India Company; ders., The Trading World of Asia; ders., The English East India Company’s Shipping; Sen, Empire of Free Trade; Lawson, Empire of Free Trade; Scott, The Constitution and Finances; Ungerer, The Presence of Africans, 26–31; Watson, Fortifications. 30 [Gründungs-]Privileg für die VOC, 23f. Zur VOC siehe Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations, 99, 164; Arasaratnam, Maritime Trade; Boxer, The Dutch Seaborne Empire; ders., Jan Campagnie; Elphink/Giliomee, The Shaping of South African Society; Ferguson, Empire, 18–34; Fisch, Hollands Ruhm; Gaastra/Bruijn, The Dutch East India Company’s Shipping; Glamann, Dutch-Asiatic Trade; Israel, Dutch Primacy; ders., Empires and Entrepots; Landwehr, VOC; Meilink-Roelofsz, De VOC; Nachod, Die Beziehungen der Niederländischen Ostindischen Kompagnie zu Japan; Prakash, Precious Metals; Schmitt/ Schleich/Beck, Kaufleute; Steensgaard, The Asian Trade Revolution; ders., The Dutch East India Company; Steiger, Recht zwischen Europa und Asien.
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das Privileg für die VOC zudem die Zusicherung des Introitusverbots für die Generalstaaten und deren Beauftragte an allen Orten östlich des Kaps der Guten Hoffnung. Damit war die VOC allein befugt, die Interessen der Generalstaaten in den ihr zugewiesenen Weltteilen zu vertreten. In der zweiten Phase des Achtzigjährigen Kriegs ab 1621 war diese Rolle der VOC militärisch bedeutsam, da sie ihre Flotte gegen spanische Schiffe einsetzen konnte, die im Indischen Ozean und im Westpazifik operierten. 31 Da zwischen 1580 und 1640 auch die portugiesischen Stützpunkte in Süd- und Südostasien sowie an der südostafrikanischen Küste unter spanischer Herrschaft standen, war die Möglichkeit militärischer Konflikte nicht nur um die Philippinen, sondern auch im Indischen Ozean gegeben. Die VOC nutzte die sich ihr bietende günstige Gelegenheit der Restitution der Souveränität Portugals im Jahr 1640, um den eben wieder portugiesischer Kontrolle unterstellten Stützpunkt Melaka (Malacca) im Jahr 1641 zu erobern. 32 Sowohl die EIC als auch die VOC entwickelten Grundsätze der Handhabung ihrer Völkerrechtssubjektivität, die von denen der portugiesisch-spanischen sowie auch der zeitgenössischen britischen und französischen Kolonialopolitik auch in Afrika und Asien abwichen. Sowohl an der Küste Südostafrikas als auch an den Küsten Südund Südostasiens sowie des Indonesischen Archipels hatten seit Beginn des 16. Jahrhunderts portugiesische Könige Handelsstützpunkte mit militärischer Gewalt errichten lassen und dabei zu bewirken versucht, dass muslimische Kaufleute vom Handel an diesen Orten ausgeschlossen wurden. Auch hatten sie, schon seit der ersten Reise Vasco da Gamas, die Errichtung von Handelsstützpunkten mit der Förderung der katholischen Mission zu verbinden versucht. 33 Portugiesische Kaufleute operierten an den Küsten Afrikas, Asiens sowie des Indonesischen Archipels unter königlichem Schutz, der sich auch auf die mit ihnen reisenden Missionare erstreckte. Der Handlungsradius der portugiesischen Kaufleute war folglich eingeschränkt,
31
Dazu siehe Adams, The Decision to Intervene; Arndt, Das Heilige Römische Reich; Groenveld, Image
and Reality; Hart, The Making of a Bourgeois State; Israel, The Dutch Republic; Parker, The Army of Flanders; ders., The Dutch Revolt; Wilson, The Savage Republic. 32
Der Ort scheint in der europäischen Überlieferung auf in der Instruktion König Emanuels I. von Por-
tugal für die zweite Reise Vasco da Gamas (1502). Früher Druck als: Den rechten Weg auss zu faren von Lissbona gen Kallakuth von meyl zu meyl. 1506. Dort Melaka 560 Meilen nach Kalikut lokalisiert. Besatzungserlass, in: Heeres, Corpus diplomaticum Neerlando-Indicum, 349–356; Dunn, Kampf um Malakka; Menesses, The Conquest of Malacca. 33
46
Velho, Roteiro de primeira viagem de Vasco da Gama, 45.
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da sie den Austausch mit muslimischen Kaufleuten, insbesondere Händlern arabischer Herkunft, zu vermeiden versuchten. Die EIC und die VOC hingegen ließen sich, auch wenn sie gelegentlich aus eigener Entscheidung während des 17. Jahrhunderts missionsfördernde Maßnahmen trafen 34, nicht vor den Karren herrscherlicher Missionspolitik spannen, sondern waren als Aktiengesellschaften auf Maximierung wirtschaftlichen Gewinns gepolt. Dieses Ziel förderte den Verfolg militärischer Strategien, die die Ausgaben für Streitkräfte so gering wie möglich zu halten beabsichtigten, mithin das Vermeiden von Kriegen anstrebten. Zudem galt es, mit Handelspartnern, gleich welcher Religion sie anhingen, friedlich zu verkehren, die jeweils örtlich geltenden Bedingungen und Regeln für den Handel zu achten 35 und den Einsatz militärischer Gewalt so selten wie irgend möglich anzudrohen. Folglich verzichtete die VOC jenseits ihres Zentralorts Batavia auf Java 36 sowie des Stützpunkts am Kap der Guten Hoffnung weitestgehend auf die Anlage von Festungen 37 und gab sie, wenn sie bestanden und es doch zu militärischen Konflikten kam, schnell auf, um eine friedliche Einigung zu erzielen. Das von der zeitgenössischen politischen
34 Campbell, Formosa under the Dutch, 89–188. Die VOC förderte die Übersetzung der Bibel ins Malaiische durch den Missionsprediger Georg Heinrich Werndly (1693–1742). Werndly war zwischen 1730 und 1735 in Amsterdam mit den Arbeiten an der Übersetzung betraut und von 1737 bis 1742 am Gymnasium in Lingen zur Ausbildung von Missionaren tätig. Seine Anrittsrede als Gymnasialprofessor liegt gedruckt vor: Werndly, Oratio inauguralis de linguarum Orientalium et Indicarum cognitione necessaria theologo ad Indos profecturo. 35 So Cleyer, der Leiter der Niederlassung der VOC auf der Insel Dejima in Japan (1682/83, 1685/86), in seinem Tagebuch, 189f. 36 Zeitgenössische Abbildungen in Montanus, Gedenkwaerdige, s. p.; Dapper, Beschreibung, s. p. Siehe dazu Fisch, Hollands Ruhm; Gelder, Das ostindische Abenteuer. 37 Anders als die VOC unterhielten die niederländische Westindische Kompanie, die dänische indische Kompanie und die Brandenburgische indische Kompanie kleinere Forts an der westafrikanischen Küste, die meisten standen im 17. und 18.Jahrhundert jedoch unter der Kontrolle der niederländischen Kompanie: Elmina, St. Antonim in Axim, Batenstein in Butri, Oranje in Sekondi, St. Sebastiaan in Shama, Fort Hollandia in Potelsa, Dorothea in Akwida, Witzen in Pakoradi, Vredenburg in Commany. Die letzten drei Forts wurden gegen Ende des 18.Jahrhunderts aufgegeben, die übrigen bestanden unter niederländischer Kontrolle, außer im Zeitraum zwischen 1795 und 1814, bis 1872 fort. Dazu siehe Baesjou, An Asante Embassy, 17. Eine territoriale Herrschaft der Regierung der Niederlande über Gebiete außerhalb der Forts kam jedoch auch nach dem Bankrott der Kompanie nicht zustande. Über die Nachteile des Festungsbaus durch Fernhandelskompanien siehe: Discourse Concerning the East-India Trade, 636–639. Dabei argumentierten die Kritiker des Festungsbaus, dass die Fernhandelskompanien dem Vorbild der VOC folgen und auf die Anlage von Forts verzichten sollten, da diese den Handel hemmen würden. Dazu siehe Marshal, Western Arms. Die Debatte um den Festungsbau unter Angehörigen der Fernhandelskompanien bleibt unberücksichtigt in Parker, The Military Revolution, 136.
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Theorie generell postulierte, aus dem Recht zur Selbsterhaltung abgeleitete Recht auf Eroberung nahmen die Fernhandelskompanien auch in ihrer Eigenschaft als Völkerrechtssubjekte nur zögerlich wahr, wie beispielsweise die VOC im 18. Jahrhundert gegenüber dem Königreich von Kandy (Sri Lanka). 38 In der Hauptsache waren die Streitkräfte der VOC wie auch der EIC gegen rivalisierende europäische Mächte und Handelskompanien gerichtet. Dies wurde nicht zuletzt an der Tatsache deutlich, dass die VOC zwar viele Personen als „adelborst“, also zu militärischen Tätigkeiten, in Dienst stellte, dann jedoch für zivile Belange verwandte. 39 Die Art der Gestaltung der internationalen Beziehungen durch die Fernhandelskompanien als nicht-souveräne Akteure unterschied sich also grundsätzlich von der der souveränen Herrscher, obwohl beide Typen von Akteuren als Völkerrechtssubjekte handelten. Während für die souveränen Herrscher im 16., 17. und 18.Jahrhundert Siedlungskolonisation, herrschaftliche Kontrolle und die Dokumentation einer Vorrangstellung in politischer und religiös-kultureller Hinsicht gegenüber den „Eingeborenen“ in Amerika und auf den Philippinen wesentlich war, zeigten sich die privilegierten Fernhandelskompanien bestrebt, die Ausgaben für militärische Aufwendungen zu minimieren und waren dazu bereit, sich den in den Gebieten ihrer Handelstätigkeit geltenden Regeln und Geboten zu unterwerfen. Dadurch, dass diese Fernhandelskompanien über weite Strecken des 17. und 18.Jahrhunderts in Afrika, West-, Süd- und Südostasien außerhalb der portugiesischen Stützpunkte in der Regel die einzigen dort auftretenden europäischen Völkerrechtssubjekte waren 40, un-
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Zur Aufgabe bestehender Festungen siehe Boxer, The Siege of Fort Zeelandia; Knapp, China’s Inland
Frontier; Oosterhoff, Zeelandia. Zur Kritik am postulierten Recht auf Eroberung siehe Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch X, Kap. 4, S.153, der bereits warnte, dass es sich kaum für Eroberer lohnen werde, dieses postulierte Recht auch anzuwenden; denn die Eroberer würden für die Eroberten Fürsorge zu leisten haben. Dazu siehe Howse, Montesquieu, 700; Korman, The Right of Conquest, 33f. Zu Kandy siehe Dewaraja, The Kandyan Kingdom. 39
Beispielsweise für Cleyer (Den Haag, Nationaal Archief, Archief van de Verenigde Oost-Indische Com-
pagnie VOC 684–22.11.1669) und für Meister (Der Orientalisch-Indianische Kunst- und Lust-Gärtner, 19). 40
Es gab nur eine echte und drei scheinbare Ausnahmen, den Austausch offizieller diplomatischer Mis-
sionen zwischen Frankreich und Siam in den 1680er Jahren sowie den Besuch einer russischen Delegation in Isfahan zur selben Zeit sowie die Abschlüsse der chinesisch-russischen Grenzverträge von Nertschinsk 1689 und Kiachta 1727. Die Beziehungen Russlands zum Iran und nach China galten jedoch aus damaliger europäischer Sicht nicht als Beziehungen zwischen Europa und Asien, da Russland nicht als europäischer Staat galt. Über die französische Mission nach Siam berichtete als Augenzeuge La Loubère, Du Royaume de Siam. Zu den französisch-siamesischen Beziehungen siehe Cruysse, Siam, 207–423. Der Nertschinsk-Vertrag regelte Grenzfragen, den Bau russischer Festungen im Grenzgebiet nach China (in Nertschinsk war im
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terlagen die Beziehungen zwischen Europa und diesen Teilen der Welt anderen Bedingungen als diejenigen, die zwischen Europa sowie Amerika und den Philippinen in dieser Zeit bestanden. Ein einziges, integriertes, globales internationales System bestand in europäischer Wahrnehmung vor Ende des 18.Jahrhunderts nicht. 41 Die nicht-souveränen und nicht-staatlichen Fernhandelskompanien förderten also den Pluralismus der internationalen Akteure mit Völkerrechtssubjektivität und erweiterten folglich den Kreis derjenigen Akteure, die nach den Wahrnehmungen der frühneuzeitlichen europäischen Völkerrechtstheoretiker legitime Belligerenten sein konnten. Da die Völkerrechtssubjektivität der Fernhandelskompanien aus deren Privilegien resultierte, mithin im Rechtssinn abgeleitet war, bestand innerhalb Europas zwischen den Fernhandelskompanien und den sie privilegierenden Souveränen keine rechtliche Gleichheit. Diese Begrenzung ihres innereuropäischen Status glichen die Fernhandelskompanien außerhalb Europas dadurch aus, dass sie als Völkerrechtssubjekte auftraten. Völkerrechtssubjektivität war daher vor dem Ende des 18.Jahrhunderts nach europäischer Völkerrechtspraxis nicht gebun-
Jahr 1654 eine russische Festung errichtet worden), die Verfolgung straffällig gewordener Personen, eine allgemeine Amnestie, die Sicherheit von Untertanen beider Vertragsparteien in den Territorien unter der Kontrolle der jeweils anderen Seite sowie Handelsfragen. Siehe dazu Sebes, The Jesuits. Der Kiachta-Vertrag regelte Grenzfragen und gestattete der russischen Regierung den Bau einer orthodoxen Kirche in Beijing sowie die Entsendung einer Gesandtschaft dorthin. Dieser im Original lateinisch abgefasste Vertrag kam durch Übersetzungsleistungen in chinesischen Diensten stehender Jesuiten zustande. Zu den chinesischrussischen Beziehungen siehe Dabringhaus, Grenzzone; Dahlmann, Das Moskauer Reich; Heller, Der russisch-chinesische Handel von seinen Anfängen; ders., Der russisch-chinesische Handel in Kjachta; Mancall, Russia, 23–140; Stary, Chinas erste Gesandte. – Augenzeugenberichte der russisch-persischen Beziehungen um die Mitte des 17.Jahrhunderts liefern Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen und Persischen Reyse; Andersen/Iversen, Orientalische Reisebeschreibungen. – Zu den Beziehungen zwischen Russland und Persien im 17.Jahrhundert siehe Heller, Zur Entwicklung der Handelsbeziehungen; Kellenbenz, Der russische Transithandel; Liszkowski, Adam Olearius’ Beschreibung; Troebst, Isfahan – Moskau – Amsterdam. – Das Auftreten der Fernhandelskompanien als nichtstaatliche Völkerrechtssubjekte war hingegen kompatibel mit islamischem Völkerrecht, dessen Subjekte in der Regel Einzelpersonen waren, nicht aber herrschaftlich strukturierte Gruppen. Dazu siehe Khadduri, War and Peace, 45. Es ist also nicht zutreffend, wenn Schindler, Völkerrecht, 83, behauptet, bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts habe den „außerhalb der christlichen Tradition stehenden Völkern“ „die Voraussetzung für ein reziprokes Verhalten“ gefehlt und eine unspezifiziert bleibende scheinbare „Ungleichheit der Zivilisationen“ habe „allgemeine völkerrechtliche Beziehungen auf der Basis der Gleichheit“ ausgeschlossen. Weder die Fernhandelskompanien noch ihre Partner in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans hatten hingegen Probleme mit dem Abschluss und der Umsetzung bindender Abkommen. 41 So stellte Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 3, § 47, Bd.2, 39, ausdrücklich fest: „L’Europe fait un systême politique“.
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den an den rechtlichen Begriff der Gleichheit, wobei die Fernhandelskompanien auch darauf verzichteten, die Beziehungen, die sie mit Herrschern in den ihnen zugewiesenen Handelstätigkeitsgebieten unterhielten, auf der Basis rechtlicher Gleichheit zu gestalten. Die Privilegierung der Fernhandelskompanien stand daher dem seit dem ausgehenden Mittelalter, speziell seit dem Wormser Reichstag von 1495, zunehmenden politischen Bestreben entgegen, die Zahl der Typen legitimer Belligerenten zu begrenzen 42, da der Begriff der Souveränität das wichtigste Instrument war, mit dem dieses Ziel sowohl in der Völkerrechtstheorie 43 als auch in der Praxis der Kriegführung, insbesondere durch den Versuch der Beschränkung des ius ad bellum auf Souveräne, als erreichbar erscheinen konnte. Diese Konsequenz trat jedoch in der Praxis der Kriegführung durch die Fernhandelskompanien nicht in Erscheinung, da die europäischen Souveräne und Staaten, mit Ausnahme des Königs von Portugal und des Königs von Spanien, in den Handelstätigkeitsgebieten der Fernhandelskompanien in der Regel nicht als Akteure in eigenem Recht auftraten und umgekehrt die Fernhandelskompanien in Europa keine legitimen Belligerenten waren.
4. Pluralismus der Typen von Völkerrechtssubjekten und der Begriff des Kriegs Die Zulassung nicht-souveräner und nicht-staatlicher Akteure als Völkerrechtssubjekte in einigen Teilen der Welt hatte dennoch eine wesentliche Konsequenz für
42
Dazu siehe neuerdings Buschmann/Wadle, Landfrieden; Carl, Landfriedenseinung; ders., Genossen-
schaft; Koppe, Der vergessene Frieden, 124–127; Schmolinsky/Arnold, Konfliktbewältigung, 31–35; Wadle, Zur Delegitimierung der Fehde. 43
In der Völkerrechtstheorie des 17. und 18.Jahrhunderts figurierten die Fernhandelskompanien als in-
ternationale Akteure nicht, und zwar aus dem naheliegenden Grund, dass die Aussagen der Völkerrechtstheorie auf Europa begrenzt waren und daher die Aktivitäten der Fernhandelskompanien außerhalb des Gesichtskreises der Völkerrechtstheoretiker lagen. Immerhin kannte Pufendorf, De iure naturae et gentium, Buch V, Kap. 8, § 1, Bd.2, 503, die „societas“ als Aktiengesellschaft. Ebd.Buch VIII, Kap. 6, § 8, Bd.2, 847f., schränkte er die Verweigerung des ius ad bellum gegenüber Einzelnen auf Personen innerhalb von Staaten ein. Vattel, Le droit des gens, Buch I, Kap. 8, § 97, Bd.2, 91f., hingegen listete Fernhandelskompanien als international operierende, von einem Souverän privilegierte Monopolisten und nannte die VOC als herausragendes Beispiel. Dass Grotius, De praeda militari, Kap. XII, S.214, 127, 249, sich ausdrücklich auf Fernhandelskompanien als internationale Akteure bezog, versteht sich von selbst.
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die Völkerrechtstheorie. Denn die Pluralität der Typen von Akteuren mit Völkerrechtssubjektivität verhinderte das Aufkommen eines engen Kriegsbegriffs, der an einen einzigen Typ von Akteur als legitimer Belligerent gebunden war. Anders gesagt: Ein Begriff des Kriegs als Staatenkrieg war nicht denkbar, solange die Fernhandelskompanien als legitime Belligerenten bestanden und privilegiert waren, als Völkerrechtssubjekte gegen Souveräne Krieg zu führen. 44 Hingegen führte der Pluralismus der Typen von Akteuren mit Völkerrechtssubjektivität dazu, dass sowohl in der Völkerrechtstheorie als auch in der Militärtheorie des 16. bis 18.Jahrhunderts Krieg in der Regel eher vage beschrieben als präzise definiert wurde. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Eine allgemeine, sämtliche Aspekte bewaffneter Konflikte erfassende Theorie des Kriegs gab es vor Clausewitz nicht. 45 Hingegen bestanden differenzierende Militär- und Völkerrechtstheorien, die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Aspekten des allgemeinen Kriegsbegriffs zu begründen versuchten. Die zumindest für das 18.Jahrhundert wichtigste dieser Spezifizierungen betraf den sogenannten „Kleinen Krieg“. 46 Als „Kleiner Krieg“ galten während des 18.Jahrhunderts in der Regel nicht Gefechte mit geringer Kombattantenzahl und geringen Verlusten, obschon diese Merkmale auch als Kriterien Verwendung finden konnten. Hingegen klassifizierten im 18.Jahrhundert Militärtheoretiker Überfälle, Hinterhalte, Rekognoszieren, die Sicherung des Nachschubs und der Marschwege durch nicht-regulierte Hilfstruppen als Elemente des „Kleinen Kriegs“, die sie nicht als kriegsentscheidende Kampfhandlungen werteten. Dagegen konnten Schlachten als Elemente des großen Kriegs gelten, da sie, wie König Friedrich II. in Preußen sich ausdrückte, über das Schicksal von Staaten entscheiden konnten, wenn sie nach sei-
44 Dies stellte Grotius in seinem Gutachten für die VOC ausdrücklich fest; Grotius, De praeda militari, Kap. 13, S.249. Dabei charakterisierte er den Krieg der VOC als „bellum privatum“ (204). Dazu siehe Borschberg, The Seizure of the Sta Catarina Revisited; Porras, Constructing International Law; Wood, Empire of Capital, 68–71. 45 Auch die weitgreifenden Entwürfe von Bülow und Jomini stellen keine allgemeinen Theorien des Kriegs dar. Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, beschränkte sich auf Erläuterungen zu Strategie und Taktik. Eine formale Kriegsdefinition fehlt in seinem Werk. Jomini, Abriß der Kriegskunst, 22, nannte sein Werk „Kriegskunst“. Zur Terminologie siehe auch Paret, The Cognitive Challenge of War, 116, 129. 46 Quellen zum Kleinen Krieg aus dem 18.Jahrhundert liegen vor in De la Croix, Abhandlung vom kleinen Krieg; Grandmaison, La petite guerre; Jeney, Le partisan (deutsche Fassung, insbes. 42–123); Platen, Le Husard; Vernier, Instructions; Grimoard/Gugy, Traité; Ewald, Abhandlung über den kleinen Krieg; Bolstern, Der Kleine Krieg; Emmerich, Der Partheygänger; Valentini, Abhandlung über den kleinen Krieg; siehe dazu Asch, War and State-Building, 326; Bertling, Die Kroaten; Hahlweg, Typologie, 9f.; Kunisch, Der kleine Krieg, 5–10, 18–21; Pepper, Aspects, 195–201; Rink, Kleiner Krieg; Weltman, World Politics, 40–46.
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nem Urteil ohne Beachtung der Regeln der Kriegskunst gefochten wurden. 47 Die militärischen Operationen der Fernhandelskompanien ähnelten nicht selten den Formen des „Kleinen Kriegs“ im Sinn von dessen Bestimmung im 18.Jahrhundert. 48 Ungeachtet dieser Unterscheidungen blieb die gemeinsame Basis der Reflexionen über Krieg in der Militär- und Völkerrechtstheorie das Bestreben, die Kriterien zur Bestimmung eines gerechten Kriegs festzulegen. 49 Dafür war der Rechtsstatus der Belligerenten nur eines von mehreren Kriterien, deren wichtigstes nicht die Erfüllung der Voraussetzungen für die Ausübung des ius ad bellum, sondern die moralische Begründbarkeit des Kriegs darstellte. Dieses Kriterium erfuhr im Verlauf des 17. und 18.Jahrhunderts eine beträchtliche Erweiterung. Emerich de Vattel etwa bezog, in dieser Hinsicht über Grotius 50 und Pufendorf 51 hinausgehend, dieses Kriterium nicht nur auf die Restitution zuvor erlittenen Unrechts, sondern auch auf den Ruf eines souveränen Herrschers im Urteil anderer Herrscher und bestimmte, dass Kriege gegen übel beleumundete Herrscher gerecht sein könnten, wenn diese in Friedenszeiten hatten aufrüsten lassen. 52 Militär- und Völkerrechtstheoretiker zumal des 17. und 18.Jahrhunderts räumten mithin der Theorie des gerechten Kriegs Vorrang ein vor der Theorie des legalen Kriegs. Dabei galten in der Sicht dieser Theoretiker die Kriterien zur Bestimmung der Gerechtigkeit eines Kriegs gleichermaßen überall in der Welt, waren mithin unabhängig von den Kriegsschauplätzen und dem Rechtsstatus der Belligerenten. 53 Das ius
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Friedrich II., Réflexions sur les talents militaires et sur le caractère de Charles XII, 562, 566. Siehe dazu
Strachan, European Armies, 14. 48 Beispielsweise die Eroberung von Melaka durch die VOC im Jahr 1641. Dazu siehe Witt, History. Melaka hatte keine militärstrategische Bedeutung, da es abseits der Seeverbindungen zwischen Batavia und dem Kap der Guten Hoffnung sowie zwischen Batavia und Kandy (Sri Lanka) lag. Zudem wickelte die VOC einen Großteil ihres asiatischen Binnenhandels über Ayutthaya (Siam) ab. Dazu siehe Cruysse, Siam, 33– 72. 49 Insbesondere Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 3, § 34–40, Bd.2, 26–31. 50 Nach Grotius, De jure belli ac pacis, Buch III, Kap 3, konnte ein öffentlicher Krieg als gerecht gelten, wenn er öffentlich durch einen legitimen Souverän geführt und unter Angabe der Kriegsgründe erklärt wurde. 51
In De jure naturae et gentium, Buch VIII, Kap. VI, § 5, Bd.2, 845, rangierte Pufendorf Überlegungen zur
Veränderungen der Macht unter die ungerechten Kriegsgründe. 52
Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 3, § 45, Bd.2, 37f. So ließ Vattel die einseitige Veränderung eines
bestehenden Gleichgewichts in Friedenszeiten durch einen schon übel beleumundeten Herrscher, der sich weigere, den Bau von Festungen oder Erhöhung der Kombattantenzahl zu rechtfertigen, als Rechtsgrund für einen gerechten Krieg zu.
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ad bellum mit der Zulassung der Pluralität der Typen von Völkerrechtssubjekten als Belligerenten war in der Sicht europäischer Militär- und Völkerrechtstheoretiker universal, überspannte mithin die Vielzahl der als distinkt wahrgenommenen und gegeneinander abgegrenzten internationalen Systeme. Quellen des 17. und des wesentlichen Teils des 18.Jahrhunderts beschrieben diese Systeme in der Metaphorik des zeitgenössischen Mechanizismus 54 in dem Sinn, dass ein internationales System als Summe seiner Bestandteile innerhalb eines festen Rahmens aufschien. 55 Nach diesem mechanizistischen Systemmodell war nicht nur jedes endogene systemische Veränderungspotential ausgeschlossen 56, sondern ein internationales System galt als räumlich begrenzt 57.
53 So schon für Vitoria, De Indis, Relectio prior, Buch II, Kap. 1, S.234. Ebenso Schwendi, Diskurs und Bedenken, 167–172. 54 Die Eingrenzung des internationalen Systems auf Europa im Bewusstsein der Theoretiker des 17. und 18.Jahrhunderts ergibt sich am deutlichsten aus der Schrift Vaubans, Interêt présent des états de la Chrétienté, 492f., der das revisionistische strategische Ziel des Erreichens sogenannter natürlicher Grenzen für Frankreich auf Europa begrenzte, hingegen bereit war, die spanischen Kolonien in Amerika so anzuerkennen, wie sie waren. Umgekehrt hatte bereits im Jahr 1634 König Ludwig XIII. französischen Seefahrern verboten, spanische und portugiesische Schiffe diesseits des Wendekreises des Krebses und des östlich der Kanarischen Insel Ferro verlaufenden ptolemäischen Nullmeridians anzugreifen, zugleich aber solche Angriffe jenseits dieser Linien ausdrücklich erlaubt. Abdruck in Moreau de Saint-Méry, Loix, 25–27. In beiden Aussagen wurde die Begrenztheit des europäischen internationalen Systems nach Westen niedergelegt. Zur Geschichte des Systembegriffs siehe Kambartel, System; Kunisch, Das Puppenwerk; Maurice/Mayr, Die Welt als Uhr; Mayr, Authority; Meyer, Mechanische und organische Metaphorik; Press, Das Römisch-Deutsche Reich, 226f.; Riedel, System, 285f., 299–304, 308f., 313f.; Rigotti, Metafore della politica, 61–83; Roeck, Reichssystem, 30f., 34; Röd, Geometrischer Geist; Schilling, Formung und Gestalt, 20, 22, 36; Schilling, Kaunitz, 302–326; Smid, Recht; Stein, Der Systembegriff; Stollberg-Rilinger, Der Staat, 34, 101–201; Strub, System und Systemkritik; Wight, De systematibus, 21. 55 Zum Systembegriff des 17. und 18.Jahrhunderts siehe Keckermann, Systema systematum; Hobbes, Leviathan, Teil II, Kap. 22, 274–288 (Ausg. von Macpherson); 155–165 (Ausg. von Tuck); Pufendorf, De systematibus civitatum, 228; ders., De jure naturae et gentium, Buch VIII, Kap. V, § 16f., Bd.2, 689f.; Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Ndr., 37f.; Wolff, Philosophica rationalis sive logica, Teil III, S.635 ; Walch, Philosophisches Lexikon, s. v. System ; Fénelon, Examen de conscience sur les devoirs de la royauté, 100f.; Münchhausen, Memoria, fol.67r ; Condillac, Traité des systèmes, 1 ; Kaunitz-Rietberg, Vorträge [27.Juni 1755, 28.August 1755, 27.September 1764, 1776, 18.Februar 1766], 37f., 43f., 63, 67, 79f., 117– 121, 126; ders., Mémoire, 504f., 508f.; Bielfeld, Institutions, 86; Lambert, Logische und philosophische Abhandlungen, Bd.1, 510; Bd.2, 385f.; Vogt, System, 42f., 48. 56 So ausdrücklich Rousseau, Extrait du Projet de paix perpétuelle de M. Abbé de Saint-Pierre, 370f. 57 Projet d’un nouveau système de l’Europe, 102f.; Real de Curban, Staatskunst, 582f.; Martens, Einleitung, 143.
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5. Internationale Systeme in der Wahrnehmung der Theoretiker der internationalen Beziehungen des 17. und 18.Jahrhunderts Auch die frühneuzeitliche Theorie der internationalen Beziehungen bewegte sich auf dem von der Militär- und Völkerrechtstheorie vorgegebenen Terrain. Ihre prominenteste Textsorte waren die Programme für den „Ewigen Frieden“, oft unter ausdrücklicher Begrenzung auf Europa oder die Christenheit. 58 Diese Programme zielten darauf ab, in der Tradition des augustinischen Abfolgeparadigmas von Frieden, Krieg und wieder Frieden 59 die rechtlichen, politischen und ethischen Bedingungen zu bestimmen, unter denen ein auf ewig geschlossener Friedensvertrag nicht gebrochen werden, sondern unbegrenzt Bestand haben könne. Die Theorie der internationalen Beziehungen folgte damit der neben anderen von Grotius festgeschriebenen Orientierung eines jeden Kriegs auf das Ziel der Restitution des Friedens, der vor Beginn des Kriegs gegeben gewesen war. 60 Den meisten Theoretikern galt bis ans Ende des 18.Jahrhunderts folglich die Schaffung rechtlicher Verfahren friedlicher Konfliktbeilegung vor Beginn eines Kriegs als Hauptbedingung für das Zustandekommen eines „Ewigen Friedens“. 61 Diese Bedingung sahen sie innerhalb des „Europäischen Systems“ durch Arbitration und mittels zwischenstaatlicher Kongresse 62 als erfüllbar an. Dass diese, auf Europa begrenzten Programme eines „Ewigen Friedens“ zu keinem Weltfrieden würden führen können, bemerkten bereits zeitgenössische scharfsinnige Kritiker. 63 Aber selbst diejenigen Theoretiker, 58
Siehe oben Kap. 1, Anm.52, die Projekte von Rantzau, Brederode, Sully, Penn, Bellers, Saint-Pierre,
Rousseau, Goudar, Loën, Palthen, Lilienfeld, Idee, Schlettwein und Martens. 59
Zur Friedenstheologie Augustins siehe Fuchs, Augustin; Geerlings, Augustin, 191–203; Laufs, Der Frie-
densgedanke; Markus, Saint Augustine’s Views of the „Just War“; Regout, La doctrine; Reif, Bellum; siehe auch oben Kapitel 1, Anm.50. 60
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. I.
61
Dazu siehe Arcidiacono, „Non par la guerre, à la manière des sauvages“; Duchhardt, Gewaltverhinde-
rung; Hartmann, Rêveurs; Kunisch, Friedensidee; Nys, Deux irénistes; Pekarek, Absolutismus; Steiger, Frieden; Vossnack, „... denn Gartenkunst ist eine Kunst des Friedens“; Zenz-Kaplan, Das Naturrecht. 62
Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe; siehe dazu Archibugi, Models; Asbach, Die
Reichsverfassung; ders., Die Zähmung der Leviathane; ders., Von der „Union Germanique“ zur „Union Européenne“; Bahner, Die Friedensideen, 116–138; Derocque, Le Projet de paix perpétuelle; Drouet, L’Abbé de Saint-Pierre; Goumy, Etude; Post, La Société des Nations; Perkins, Voltaire; Wade, The Abbé de Saint-Pierre. Zur Arbitration siehe Duchhardt, Friedensvermittlung; Kampmann, Arbiter. 63
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Voltaire, Rescrit, hatte überhaupt keine hohe Meinung von Autoren wie Grotius und Pufendorf ge-
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die den Frieden nur in Begrenzung auf Europa für möglich hielten, zogen keinesfalls in Zweifel, dass der Begriff des Kriegs, den sie zu verhindern suchten, überall in der Welt gültig sei, setzten mithin voraus, dass überall in der Welt die nicht weiter spezifizierte legitime Anwendung miltärischer Gewalt als Krieg zu bezeichnen sei. 64 Unter diesen mechanizistischen Bedingungen stellte ein internationales System über die Summe seiner Teile hinaus keinen Mehrwert dar, der in Institutionen hätte manifest sein müssen, die diese Akteure hätten überwölben sollen. Das Recht, das als ius Europeum publicum diese Akteure zusätzlich zu den naturrechtlichen Normen binden sollte, galt als allgemeines, aus vertraglichen Versprechen resultierendes, positives Normensystem, das einer Inkraftsetzung durch solche übergeordneten Institutionen nicht bedurfte 65, sondern gewissermaßen automatisch zur Geltung kam, da es auf Vernunftgründen zu beruhen schien 66. Theoretiker postulierten habt, die er für schlechte Denker hielt. Insbesondere aber den Abbé de Saint-Pierre übergoss er mit Spott in der Form eines Epigramms. Darin erfand er eine Szene, in der er vor einer Statue des Abbé steht, die so gut geschaffen ist, dass sie wie das Original aussieht. In der Szene überlegt Voltaire eine Weile, ob er vielleicht doch das Original vor sich habe und kommt dann zu dem Schluss, dass nicht der Abbé, sondern dessen Abguss vor ihm stehe. Denn, so begründet Voltaire seinen Schluss, das Original hätte etwas Dummes gesagt. 64 Beispielsweise Kant, Zum ewigen Frieden. Bereits in seiner Kritik der Urteilskraft hatte Kant jedoch den Krieg als Bestandteil der Weltgeschichte anerkannt. Siehe ders., Kritik der Urteilskraft, 351, 555f. 65 So schon Lipsius, Politicorum, 540 (Ausg. von Waszink); Horn, Politicorum, Buch II, Kap. II, § 6, S.200, stellte unter Verweis auf Grotius fest, dass die Vertragsfreiheit nicht durch das Naturrecht eingeschränkt sei und dass Verträge auf Versprechen beruhten; Pufendorf, De jure naturae et gentium, Buch III, Kap. IV– VI, Bd.1, 255–285, Buch V, Kap. II–IV, V, Bd.2, 461–489, Buch VIII, Kap. VII–X, Bd.2, 858–874, insbes.
Buch VIII, Kap. VII, § 2, Bd.2, 858; Vattel, Le droit des gens, Buch II, Kap. XV, Bd.2, 433–444. Insbesondere forderte Pufendorf, De jure naturae et gentium, Buch V, Kap. III, § 1, Bd.2, 467, Gleichheit in besonders belastenden Verträgen. 66 Glafey, Vernunfft-Recht, Kap. I, § 325, S.206; Mably, Le droit public de l’Europe, 272f., 462, 467; Heffter, Völkerrecht, § 81–99, S.153–184; Klüber, Europäisches Völkerrecht, Theil II, Titel II, Abschnitt I, Kap. 2, Bd.1, 141–165; Schmalz, Das europäische Völkerrecht, 58–62; Steck, Versuch über Handels- und Schiffahrtsverträge; Wheaton, Elements of International Law, 3.Aufl., § 252–255, S.356–358; Grotius, De jure belli ac pacis, Buch II, Kap. 4, § 3; ders., Inleidinghe tot den Hollandsche Rechts-Gheleertheydt, 294f.; Callières, L’art de négocier en France, 242f.; siehe dazu Conrad, Die Geschichte der ungleichen Verträge; Dießelhorst, Die Lehre des Hugo Grotius, 55; Haakonssen, Natural Law, 26–31; Hartung, Vertragstheorie, 41–48; Lesaffer, The Medieval Canon Law; Martens, Völkerrecht, Kap. 4, S.389–430; Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs; Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag; Nussbaum, Forms; Reibstein, Das „Europäische Öffentliche Recht“; ders., Deutsche Grotius-Kommentatoren, 90–97; ders., Die Dialektik der souveränen Gleichheit, 612; ders., Völkerrechtskasuistik, 244–253; Schmidt, Praktisches Naturrecht, 253–265; Truyol y Serra, Geschichte der Staatsverträge; Tuck, Natural Rights Theories, 69. Es ist deswegen unzutreffend, wenn Anghie, Imperialism, 70, behauptet, erst die Positivisten des 19.Jahrhunderts hätten die Problematik der Setzung von allgemeinem Völkerrecht durch spezielle zwischenstaatliche Verträge erkannt.
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die Erwartung, dass dieses Normensystem bona fide auch fortbestehe unter Bedingungen, unter denen einzelne Akteure alle anderen rechtlichen Verpflichtungen in Abrede gestellt hatten, das heißt im Kriegszustand. 67 Die Militär- und Völkerrechtstheorie in ihrer Ausprägung als Theorie des gerechten Kriegs überwölbte die internationalen Systeme, ohne die Errichtung globaler internationaler Institutionen über den systemischen Akteuren fordern zu müssen. 68 Eine Möglichkeit zur Ausgrenzung bestimmter Formen des Kriegs aus dieser allgemeinen Theorie des gerechten Kriegs oder bestimmter Typen legitimer Belligerenten war nicht möglich. Kurz: Der diskriminierende Begriff des Kolonialkriegs bestand nicht, mit dessen Hilfe es allein möglich gewesen wäre, legitimen Belligerenten den Kombattantenstatus zu verweigern. Der Belligerentenstatus war hingegen weder gebunden an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten internationalen System noch an einen einzigen Typ internationaler Akteure in diesen jeweiligen Systemen. Die Anerkennung des Belligerentenstatus erfolgte allgemein aus dem universal gültig gesetzten Naturrecht oder durch spezielles Privileg eines Akteurs. Wer die Gültigkeit der allgemeinen Grundsätze der Bestimmung des gerechten Kriegs in Abrede stellen wollte, musste zu dem Argument greifen, dass es irgendwelche Gegner gebe, denen der moralische Status des Menschseins abzuerkennen sei. Dieses Argument wurde zwar in der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts in Gestalt der Anwendung der aristotelischen Theorie der natürlichen Sklaven auf Native Americans zur Scheinrechtfertigung der spanischen Eroberung Amerikas benutzt 69, nicht mehr jedoch durch Militär- und Völkerrechtstheoretiker des späteren 16., des 17. und 18. des Jahrhunderts. Die Völkerrechtstheorie dieses Zeitraums formulierte mithin ohne räumliche Begrenzung einen Kriegsbegriff, der wie bei Grotius ausdrücklich alle Formen der Gewaltanwendung bis hin zum sogenannten „Privatkrieg“ einschloss, dem Kriegsrecht die Aufgabe der Bestimmung der Kriterien der Gerechtigkeit eines Kriegs zuwies und nur die Sicherung und die Restitution des als Normalzustand der Welt kategorisierten Friedens als Kriegsziel zuließ. 70 Auch für Pufendorf ruhte des Recht des Kriegs auf einem Kriegsbegriff, der ohne räumliche Begrenzung gültig sein sollte. Dass unter den Menschen im Naturzustand schlechthin ein allgemeiner Krieg beste-
67
56
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch III, Kap. XIX, § 1–9.
68
Auch wenn etwa Saint-Pierre eine solche Institution mit Begrenzung auf Europa vorschlug.
69
Major, In secvndvm librum sententirarvm, fol. CLXXXVIIr. Siege dazu Hanke, All Mankind, 4, 22–34.
70
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. I, § 1, Buch I, Kap. I, § 2, Nr.1, § 3, Nr.1.
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he, bestritt Pufendorf und folgerte, es gebe nur den Bürgerkrieg als Akt der Gewaltanwendung innerhalb eines Staats und den äußeren Krieg als militärischer Konflikt zwischen Staaten. Pufendorfs Kriegsbegriff war daher enger als derjenige des Grotius, aber ebenso universal wie der des Letzteren. Der Friede sei, postulierte Pufendorf hingegen wie Grotius, aber gegen Hobbes 71, Bestandteil der menschlichen Natur, und die Natur gestatte das Führen von Kriegen nur zu dem Zweck, den Frieden zu restituieren. Denn anders als das Tier sei der Mensch in der Lage, den Wert des Friedens zu erkennen, wohingegen der Krieg aus Gründen resultiere, die für Mensch und Tier in gleicher Weise zuträfen. Gerechte Kriegsgründe seien nur anzuerkennen zur Verteidigung gegen früher erfolgte oder geplante Verletzungen durch andere. 72 Auch Christian Wolff setzte die universale Gültigkeit seines Kriegsbegriffs voraus. Krieg galt ihm als „Zustand derjenigen, die mit Gewalt streiten“. Das Recht zum Krieg sei dem Menschen zwar von Natur aus gegeben, dürfe aber nur zur Anwendung kommen, wenn „keine andere rechtmäßige Ursache zu demselben seyn könne, als das Unrecht, das einem geschehn ist, oder geschehen soll“. 73 Der Friede allein sei, bestimmte Wolff wie zuvor Pufendorf, der „Natur gemäß“ und gehöre „zum ursprünglichen Zustande“, „insoweit derselbe gantz allein durch angebohrne Rechte und Verbindlichkeiten bestimt wird“. 74 Daher seien sowohl der öffentliche Krieg als bewaffneter Konflikt zwischen souveränen Staaten, mithin „unter den Völckern, oder so daß diejenigen, welche die höchste Herrschaft haben, Urheber davon sind“, als auch der Privatkrieg, „welchen Privatpersonen auf ihr eigenes Geheiß führen“, regulär und legitim, sofern beide Typen von Kriegen der Restitution des Friedens dienten. 75 Auch Vattel, der mit viel Aufwand das „Europäische System“ konstruierte, definierte seinen Kriegsbegriff ohne jede räumliche Begrenzung. Nicht anders als
71 Hobbes, Leviathan, Teil I, Kap. 13, S.87–90 (Ausg. von Tuck), 184–188 (Ausg. von Macpherson). Gleichwohl legte Hobbes deutlich dar, dass der Krieg aller gegen alle im sogenannten Naturzustand keineswegs stets durch Kampfhandlungen gekennzeichnet sein müsse. Es bestehe jedoch jederzeit die Möglichkeit, dass es zu Kampfhandlungen komme. 72 Pufendorf, De jure naturae et gentium, Buch I, Kap. 1, § 8; Buch VIII, Kap. 6, § 2f., Bd.1, 17, Bd.2, 843f. Dazu siehe Goyard-Fabre, Pufendorf, 220–238; Haakonssen, Natural Law, 37–43; Tuck, The Rights of War and Peace, 156–160. Die ausführliche Studie von Covell, Pufendorf, gibt für die vorliegende Fragestellung nichts her, da Covell auf den Kriegsbegriff nicht eingeht. 73 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 98, S.61; ebenso ders., Jus Gentium, § 618f., S.492f.; ders., Vernünfftige Gedancken, § 498, S.607f. 74 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 99, S.61, § 102, S.63f. 75 Ebd.§ 1169, S.854.
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Grotius galt ihm Krieg als der Zustand, in dem die Menschen ihre Rechte mit Gewalt verfolgen. Er differenzierte zwar wie Grotius zwischen öffentlichem und privatem Krieg, ging aber über Grotius hinaus mit der Feststellung, nicht nur der öffentliche Krieg als militärischer Konflikt zwischen Souveränen, sondern auch der Privatkrieg als militärischer Konflikt zwischen Einzelpersonen sei dem Naturrecht unterworfen. 76 Mit letzterer Bestimmung nahm Vattel wie Grotius ausdrücklich gegen die in seiner Zeit umlaufende Lehre Stellung, dass der Privatkrieg ausschließlich im vorgesellschaftlichen Naturzustand stattfinde, mithin in der Gegenwart nicht mehr legitim führbar sei. 77 Zwar sei es legitimen Belligerenten durch das Naturrecht gestattet, Krieg zu führen, jedoch nur diejenigen Kriege seien gerecht, die der Restitution zuvor erlittenen Unrechts und dem Ziel der Wiederherstellung des Friedens dienten. 78 Großmächte, wo sie überhaupt bestanden, hatten in der Völkerrechtstheorie keinen Platz, da Macht den Status eines systemischen Akteurs mit vermeintlich besonderen Privilegien nicht begründen zu können schien. Auch die Militärtheorie formulierte ihre Thesen in der Regel in Aussagen grundsätzlicher Art, sei es zu den Prinzipien militärischer Organisation 79, der Bestimmung der Eigenschaften eines „perfekten“ Kommendeurs 80, zu Richtlinien strategischen Entscheidens 81, selbst wenn Theoretikern die Gebundenheit ihrer Aussagen an zeit- und raumspezifische Waffensysteme bewusst war 82. In dieser Vorgehens76
Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. III, § 1–3; Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. I, § 1f., Bd.2,
1. Grotius knüpfte mit dieser Bestimmung an seine frühere Aussage an, derzufolge ein Krieg der VOC als bellum privatum zu gelten habe (Grotius, De praeda militari, Kap. XII, S.204). 77
Ihre, Dissertatio politica de bello privato; Wexonius, De bello hominis privato.
78
Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. I, § 3, Bd.2, 1f., Buch III, Kap. III, § 26, Bd.2, 21f., Buch IV, Kap. II,
§ 18, Bd.2, 264f. 79
Siehe unter vielen Schwendi, Rathschlag; ders., Kriegs Diskurs, 193–287; Ferretti, Della osservanza mi-
litare; Digges/Digges, An Arithmetical Militarie Treatise; Valdès, Dialogo militare; Eguiluz, Milicia; Escalante, Dialogo del arte militar; Mendoza, Theorica y practica de guerra; Dilich, Kriegsbuch; Wallhausen, Kriegskunst; Pasch, Picquenspiel; ders., Deutliche Beschreibung; La Valière, Maximes et pratiques de la guerre; Söderman, Palæstra; Dalrymple, A Military Essay; Turpin de Crissé, An Essay on the Art of War; Guibert, Essai général de tactique; Nicolai, Versuch eines Grundrisses zur Bildung des Officiers; Bessel, Militairisches Handbuch; Miller, Reine Taktik der Infanterie. 80
Siehe unter vielen Alava y Viamont, El perfecto capitán; Basta, Discorso del dovere; Rohan, Le parfait ca-
pitain; Demorinet, Le major parfait; siehe dazu Fantoni, Il „perfetto capitano“; González de León, Spanish Military Power, 33f. 81
Siehe unter vielen Londoño, Breve compendio del arte militar; Puységur, Art de la guerre; Turpin de Cris-
sé, An Essay on the Art of War. 82
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Zum zeitgenössischen Bewusstsein der Neuartigkeit der Feuerwaffen siehe Patrizi, De paralleli mili-
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weise stimmten die frühneuzeitlichen europäischen Militärtheoretiker sowohl mit ihren Vorbildern in der Antike als auch mit Militärtheoretikern in China 83 überein. Ebensowenig war die Praxis der europäischen Kriegführung in Amerika zwischen dem beginnenden 16. und dem frühen 19.Jahrhundert geprägt von dem Bewusstsein der dort agierenden Belligerenten, dass sie einen Kolonialkrieg führten, auch wenn Eroberung und Kolonisierung strategische Ziele der Kommandeure waren. In seinen eigenen, apologetischen Berichten an Karl I./V. betrachtete Cortés seine Gegner als legitime Belligerenten und handelte darin nach Instruktionen der kastilischen Krone. 84 In spanischer Sicht war folglich der Krieg gegen die Native Americans ein Rechtsakt, deren Widerstand gegen die spanischen Streitkräfte legitim. Das strategische Ziel der Unterwerfung und Siedlungskolonisierung Amerikas schloss die Delegitimierung des Widerstands der Native Americans als Gegner der spanischen Streitkräfte nicht ein. Die Kriege der Konquistadoren gegen Native Americans waren Kriege wie alle anderen. Als im 18.Jahrhundert britische Okkupationsstrategen in Nordamerika in langwierige Konflikte mit dortigen Native Americans verwickelt waren 85, trugen sie diese aus als gewöhnliche Kriege mit dem Ziel der Eroberung und Kolonisierung sowie den Mitteln der damals in Europa üblichen Lineartaktik 86. An den Grundsätzen dieser Taktik hielten britische Kommandeure fest, auch wenn sie wussten, dass die Native Americans sich von anderen Grundsätzen leiten ließen, die mit denen der Lineartaktik nicht vereinbar waren. 87 Britische Kommandeure in Nordamerika wie
tari; Ruscelli, Precetti. Noch Berenhorst, Betrachtungen, Bd.1, 35f., meinte, Polybios habe den Vorrang der Infanterie vor der Kavallerie erkannt und diese Erkenntnis ließe sich, nach den von ihm postulierten Unzulänglichkeiten mittelalterlicher Taktik, nunmehr mit Hilfe der Feuerwaffen in die Praxis der Kriegführung umsetzen. Dazu siehe Cassidy, Machiavelli. 83 Insbesondere Vegetius, Epitoma, dessen Werk bis ins 18.Jahrhundert als Lehrbuch der militärischen Organisation gedruckt wurde. Zur Vegetius-Rezeption im 17. und 18.Jahrhundert siehe Choné, Miles, 172f.; Gruber, British Strategy, 14–23; ders., Books, 37f., 228f.; Heuser, Den Krieg denken, 125f.; Nimwegen, The Transformation, 169; Zwitzer, Machiavelli, 10. Belege zu China in Sawyer, The Art of Warfare, 73–78. Siehe dazu Graff, Medieval Chinese Warfare, 192–195; Tien, Chinese Military Theory, 21–66. 84 Cortés, Primera Carta [10.Juli 1519], in: ders., Cartas, 16 u.ö. 85 Dazu siehe Stannard, American Holocaust. 86 Zu den Grundsätzen der Lineartaktik siehe Hohrath, Die Bildung des Offiziers, 28–63; Jones, The Military Revolution; Koser, Die preußische Kriegsführung; Lynn, Battle, 14–143; MacKesy, What the British Army Learned; Schnitter/Schmidt, Absolutismus, 67–119. 87 Dazu siehe Chet, Conquering the American Wilderness; Ferling, The New England Soldier; Häberlein, Krieg und Recht; Malone, The Skulking Way of War; Russell, Redcoats; Schmidt, Krieg und Recht; Shannon,
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James Wolfe studierten die in Europa zirkulierende Militärliteratur sorgfältig und drillten die ihnen unterstehenden Truppen nach Maßgaben, die für europäische Armeen gültig waren. 88 Obwohl die Inkompatibilität der taktischen Grundsätze beider kriegführender Parteien mitunter gravierende Nachteile für die britische Seite zur Folge hatte, hielten die britischen Kommandeure an den Grundsätzen der Lineartaktik fest und setzten die Vorgabe um, dass ihre Gegner legitime Belligerenten seien und als solche das Recht der Wahl der von ihnen eingesetzten Kriegsmittel hätten. Eine Delegitimierung der Native Americans als Belligerenten fand somit auch während des 18.Jahrhunderts nicht statt. 89 Bis an die Wende zum 19. Jahrhundert standen hingegen in der Sicht europäischer Militär- und Völkerrechtstheoretiker, Theoretiker der internationalen Beziehungen sowie Praktiker der Kriegführung die Anerkennung rechtlich ungleicher, staatlicher wie nicht-staatlicher Völkerrechtssubjekte und die daraus resultierende Pluralität legitimer Akteure in verschiedenen, räumlich begrenzten internationalen Systemen dem Festhalten an einem allgemein gültigen, undifferenzierten Kriegsbegriff nicht entgegen, der alle Formen militärischer Konflikte einschloss. 90 Der Begriff des Kolonialkriegs als Instrument der Diskriminierung von Typen von Belligerenten hatte in der mechanizistischen Wahrnehmung der internationalen Systeme keinen Ort, sondern entstand erst im 19.Jahrhundert.
The Native American Way; Starkey, European-Native American Warfare; ders., European and Native-American Warfare; ders., War in the Age of the Enlightenment; Steele, Warpaths; Ward, „The European Method of Warring is not Practiced Here“. 88
Gruber, Books, passim. Wolfe, der selbst ein Reglement verfasste [Manoeuvres], empfahl das Studium
des preußischen Infanteriereglements von 1743 am Beginn des Siebenjährigen Kriegs im Jahr 1756. Über ihn siehe Gruber, Books, 210; Willson, The Life and Letters of James Wolfe, 165f., 295f., 298, 380. Zu britischen Exerzierreglements für Nordamerika siehe Lambart, A New System of Military Discipline, 66–88; Exercise for the Horse Forces; Manual Exercise 1776; Manual Exercise 1787; Militia Discipline. 89
Auch nicht während des sogenannten „50 Years War“ (1764–1814), den Streitkräfte der USA nach de-
ren Unabhängigkeit weiterführten. Dazu siehe Shannon, The Native American Way of War. 90
So beschrieb beispielsweise um das Jahr 1547 Ambrosius von Gumppenberg den Sacco di Roma, des-
sen Zeuge er im Jahr 1527 gewesen war, ohne Zögern als „Krieg“. Siehe Gumppenberg, Ein deutscher Bericht.
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III. Ungleichheit der Souveräne und Kolonialkrieg im 19. und frühen 20.Jahrhundert
1. Wandel der Wahrnehmung internationaler Systeme und der Staaten Der Wandel der europäischen Wahrnehmung der internationalen Systeme an der Wende zum 19.Jahrhundert fand im Kontext des zeitgleichen Wandels des allgemeinen Systemmodells vom Mechanizismus zum Biologismus statt. 1 Dieser Wandel führte zur Entstehung neuer Kategorien der Systemdefinition. Waren nach den Vorgaben des Mechanizismus Systeme zu bestimmen gewesen als statische Ordnungen der in ihnen verorteten Bestandteile, so galten im Rahmen des Biologismus Systeme als dynamische Ordnungen, deren Bestandteile ebenso wie die Systeme als Ganze der Unentrinnbarkeit des Tods unterworfen zu sein schienen. Nach Maßgabe des Mechanizismus waren Systeme mit dem Anspruch auf Vollständigkeit konzipiert gewesen, so dass Bestandteile ohne Gefahr für den Fortbestand des Systems als Ganzes weder zugefügt noch eliminiert werden konnten und die Summe aller Bestandteile dem Umfang des ganzen Systems gleich sein sollte. Auf der Basis des Biologismus hingegen wurden Systeme in der Weise wahrgenommen, dass ihr Umfang größer sein sollte als die Summe aller ihrer Bestandteile, dass mithin ein System einen Mehrwert gegenüber der Summe seiner Bestandteile abgeben musste. War das Modell für die mechanizistischen Systeme die Maschine gewesen, so war
1 Zu biologistischen Systembegriffen siehe Bertalanffy, An Outline, 139f., 155–157; McClelland, The Function of Theory, 327, 332f.; ders., Theory, 20; Parsons, The Social System, 481f., 487. Zur Geschichte des Biologismus siehe Abrams, Coleridge’s Mechanical Fancy; Barnard, Metaphors; Blumenberg, Paradigmen, 92– 111; Böckenförde/Dohrn-van Rossum, Organ, Organismus, Organisation; Böckenförde, Der Staat als Organismus; Clark, La cité mécanique; Coing, Bemerkungen; Coker, Organismic Theories; Ellwein, Die Fiktion der Staatsperson; Figlio, The Metaphor of Organization; Kaufmann, Über den Begriff des Organismus; McCloskey, The State as an Organism; Mann, Medizinisch-biologische Ideen; Pechmann, Der Souverän; Schlanger, Les métaphores.
III. UNGLEICHHEIT DER SOUVERÄNE UND KOLONIALKRIEG
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das Modell für die biologistischen Systeme der lebende Körper mit seinen „Organen“. 2 Für die Militär- und Völkerrechtstheorien folgten aus diesem Wandel des Systemmodells an der Wende zum 19.Jahrhundert grundlegende Neubestimmungen der geografischen Reichweite der internationalen Systeme, der Wahrnehmung ihrer Ordnungsstrukturen und der Eigenschaften ihrer Elemente. Waren die mechanizistisch begriffenen internationalen Systeme als räumlich begrenzt wahrgenommen worden, so galten die Grenzen des biologistisch begriffenen internationalen Systems als variabel und folglich im Extremfall identifizierbar mit denen des Globus als Ganzem. An die Stelle einer Pluralität der internationalen Systeme trat die Wahrnehmung eines einzigen internationalen Systems als diejenige normative und institutionelle Ordnungseinheit, die darauf angelegt sein sollte, den Globus umspannen zu können. Damit war die Möglichkeit der Festschreibung von Systemgrenzen als Aufgabe der Militär- und Völkerrechtstheorie ausgeschlossen. Hingegen stellte sich seit dem späten 18.Jahrhundert für die Militär- und Völkerrechtstheorie das Problem, wie das internationale System als globale Einheit im politischen und militärischen Handeln manifest werden könne. Denn nach Maßgabe des Biologismus musste systemisches internationales Handeln als globales Handeln erkennbar sein. Die Behauptung, ein de facto räumlich begrenztes Handeln internationaler Akteure sei systemisch, galt hingegen in der Wahrnehmung der Militär- und Völkerrechtstheorie seit dem 19.Jahrhundert als mindestens widersprüchlich, wenn nicht völlig unglaubwürdig. 3 Nur diejenigen Regierungen, deren Handeln als auf die Welt als Ganze gerichtet ausgegeben werden konnte, sollten folglich als systemische Akteure im Sinn global agierender sogenannter „Großmächte“ Anerkennung finden können. Da sich die Bedingungen, unter denen das Handeln von Regierungen Wirkungen auf die Welt als Ganze haben konnte, ändern konnten, musste das internationale System Wandlungen der Ordnung seiner Bestandteile mindestens aushalten, wenn nicht sogar fördern können. 4 Während mechanizistische Theoretiker noch des
2 Dazu siehe Krieken, Über die sogenannte organische Staatstheorie; Ritschl, System und systematische Methode, 58; Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 335f. 3 So beispielsweise Brougham and Vaux, Balance of Power, 12f., zit. nach: Edinburgh Review, 347f.; Das Neue politische Gleichgewicht, 48; Castlereagh, Principles of the Concert, 341; Ancillon, Ueber den Geist der Staatsverfassungen, 317, 320, 321f., 325, 335f.; Goldmann, Die europäische Pentarchie, 21f.; Das gestörte Gleichgewicht Europas, 3; Das europäische Gleichgewicht, 11f. 4 Brougham and Vaux, Balance of Power, 12f., zit. nach: Edinburgh Review, 347f.
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längsten Teils des 18.Jahrhunderts von der Unwandelbarkeit der Ordnung der Systeme ausgegangen waren 5, sogar die Möglichkeit von Wandel des Systems ausdrücklich bestritten hatten 6, so forderten biologistische Theoretiker seit Ende des 18.Jahrhunderts die Anerkennung der Wandlungsfähigeit des Systems und mokierten sich über ältere Versuche, einen „ewigen Frieden“ herbeizuführen und die Stabilität der Systeme zu garantieren 7. Die Erwartung, Normen des Völkerrechts könnten aus Vernunftgründen eingehalten werden, wich der schwer erfüllbaren Forderung, dass diese Normen nicht nur für einen bestimmten Weltteil, sondern für die Welt als Ganze ohne Einschränkung anwendbar sein sollten und dass darüber hinaus diese Normen „Vorkehrungen“ enthielten, „wodurch die künftigen Revoluzionen in der innern Lage und in den äußern Verbindungen dieser Staaten zum voraus bedacht, geordnet, abgewogen, und in das politische System mit aufgenommen werden könnten“. 8 Das biologistisch konzipierte internationale System sollte also dynamisiert sein. Ebenso an der Wende zum 19.Jahrhundert begannen Theoretiker, nicht nur das internationale System in Kategorien des Biologismus wahrzunehmen, sondern auch Staaten als dessen essentielle Bestandteile. Sie bestimmten nach identischen biologistischen Kriterien Staaten als Systeme innerhalb des internationalen Systems, wobei sie beiden Systemtypen dieselben Ordnungsstrukturen zuwiesen. 9 Theoretiker nahmen folglich nicht nur das internationale System, sondern auch Staaten mit dem Modell des lebenden Körpers wahr und unterwarfen somit sowohl das internationale System als Ganzes als auch die Staaten als dessen Bestandteile dem Ge-
5 Am deutlichsten Linné, Systema naturae, der erst in der 12., neubearbeiteten Aufl. des Werks von 1768 die Möglichkeit des Wandels von Spezies einräumte. Zur Geschichte der Statistik siehe John, Geschichte der Statistik; Klueting, Statistik; Mohnhaupt, Europa, 212f., 222–224; Seiffert, Staatenkunde; Warlich, August Ludwig von Schlözer, 143–176. 6 Rousseau, Extrait du Projet de paix perpétuelle de M. Abbé de Saint-Pierre, 370f. 7 Embser, Die Abgötterei; Fichte, Beitrag, 93f.; Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 3, 105; Gentz, Über den ewigen Frieden, der meinte, der Plan eines „ewigen“ Friedens habe seit der Französischen Revolution keine Chance mehr. Dazu siehe Dann, Vernunftfrieden, 176f., 199–203. Dieselbe Vorstellung von der vermeintlichen Unmöglichkeit des dauernden Friedens ist noch reflektiert in dem Diktum von Wright, Development, 42: „War is natural; peace is artifical.“ 8 Gentz, Von dem politischen Zustand Europas, 6. 9 Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd.3, 150; Pöhlitz, Die Staatswissenschaft, 57; Vollgraff, Wodurch unterscheiden sich Staaten-Bund, Bundes-Staat und Einheits-Staat von einander?, 8, 12, 15. Zu ihnen siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 151f., 155.
III. UNGLEICHHEIT DER SOUVERÄNE UND KOLONIALKRIEG
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setz des Lebens und Sterbens. Der Vorgang der Staatensukzession wurde theoretisch fassbar. 10 Die Erhaltung beider Typen von Systemen schien besondere Leistungen zu erfordern, sei es seitens der Herrscher und Regierungen für die Staaten unter ihrer Kontrolle 11, sei es seitens sogenannter „Großmächte“ durch die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel oder der vermeintlich „zivilisierten“ Nationen für das internationale System als Ganzes 12. Staaten wurden mit „Emotionen“ ausgestattet und wie handelnde Personen beschrieben. 13 Der dem internationalen System auf der Basis des Biologismus gegenüber der Summe seiner Bestandteile zugeschriebene Mehrwert wurde theoretisiert als internationale Organisation, die in der Form einer „Völkergesellschaft“ eine Art Staat über den Staaten bilden sollte. 14 Theroretiker nicht nur des Völkerrechts, sondern auch des Staats, der Gesellschaft und der Kultur 15 schufen mithin auf der Basis des Biologismus und unter Anknüpfung an den ebenso im späten 18.Jahrhundert aufkommenden Evolutionismus eine Stufenordnung sozialer „Organismen“, in der Staaten und Gesellschaften in Europa die höchste Stufe einzunehmen schienen. Diese Theoretiker verstanden die von ihnen konstruierte Stufenordnung sowohl synchron als die in ihrer eigenen Zeit bestehende Hierarchie von Staaten, Gesellschaften und Kulturen als auch diachron als eine Art metaphysischer Weg, auf dem sich die Menschheit insgesamt von der Ebene ursprünglicher, vermeintlich „primitiver“ kleiner Gruppen ohne politische Institutionen zu scheinbar „höheren“, angeblich „zivilisierten“ Gesellschaften und Staatsnationen zu entwickeln schien. Diese Theoretiker schrieben Gruppen unterschiedliche Geschwindigkeiten der Fortbewegung auf diesem von ihnen konst-
10
Zu diesem Begriff siehe Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 52, S.78f.; Cavaglieri, La dottrina della
successione di stato. Außerdem die zeitnahen Spezialstudien von Guggenheim, Beiträge zur völkerrechtlichen Lehre vom Staatenwechsel; Huber, Die Staatensuccession, 8–17; Schönborn, Staatensukzession. Dazu siehe Crawford, The Creation of States, 12–15, der die Auffassungen zur Staatsentstehung in der Völkerrechtstheorie des 19.Jahrhunderts jedoch nur kurz umreißt. 11
So schon Fichte, Reden, 264–279.
12
Zu Machtmitteln als Maßstab zur Bestimmung von Großmacht siehe Frantz, Der Föderalismus, 378.
Zur „Zivilisiertheit“ als Maßstab für Großmacht siehe: Das gestörte Gleichgewicht, 3; Lawrence, The Principles of International Law, § 90, S.136. 13
Brougham and Vaux, Balance of Power, 2f., zit. nach: Edinburgh Review, 346; Gentz, Von dem politi-
schen Zustand Europas, XXXIV, 1, 16. 14
Fallati, Die Genesis der Völkergesellschaft.
15
Ahrens, Die Philosophie des Rechts; Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, 216–219; Spencer, The
Principles of Sociology, 449–453.
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ruierten Weg der „Entwicklung“ zu, positionierten europäische Staatsnationen, Gesellschaften und Kulturen auf dem höchsten Rang, verwiesen jedoch die meisten anderen, ihnen bekannt gewordenen Gruppen der Welt auf die unteren Stufen. Auf die untersten Stufen setzten sie, einige unter Verwendung rassistischer Begründungen, die meisten Gruppen in Afrika und dem Südpazifik und postulierten für diese Gruppen ein „[b]arbarisches Völkerrecht“ [z]wischen kleinen benachbarten Staaten, welche aus Unmenschen von dieser Gemüthsart bestuhnden.“ 16 Innerhalb des als global wahrgenommenen internationalen Systems, das Theroetikern des Völkerrechts als Weltgesellschaft im Entstehen erschien, sollten folglich nur diejenigen Akteure handeln können, die als „zivilisierte“ Staatsnationen in der europäischen „Family of Nations“ die höchste Stufe der „Entwicklung“ einzunehmen schienen. 17 Neben diesen duldete die Völkerrechtstheorie zwar noch im internationalen System die übernationalen Imperien als Akteure mit Völkerrechtssubjektivität, nicht mehr jedoch privat firmierende Unternehmen wie die Fernhandelskompanien, sofern diese noch bestanden. Im Vollzug des Aufbaus der „Weltgesellschaft“ sollte zunächst die Zahl der Typen der internationalen Akteure abnehmen, sodann auch die absolute Zahl der Akteure selbst. 18
16 Iselin, Ueber die Geschichte der Menschheit, 176 (zu Afrika), 181–186 (zum „barbarischen Völkerrecht), 190–230 (zur „Gemüthsart“); Meiners, Ueber die Natur der afrikanischen Neger; in dieser Schrift sprach Meiners sich gegen die Beendigung der Sklavenhaltung und des Sklavenhandels aus; ders., Betrachtungen über die Fruchtbarkeit von Asien; ders., Betrachtungen über eine Stuffenleiter der Humanität, 119f.; ders., Historische Bemerkungen über die sogenannten Wilden; ders., Über den Haar- und Bartwuchs; ders., Ueber die Fruchtbarkeit; Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, 303–305, 313f., 344; Soemmerring, Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, IX, 77. Dagegen Blumenbach, De generis humani varietate, § 60, S.201f.; ders., Rezension zu Soemmerrings Schrift. –Zum Weiterwirken des Evolutionismus in der Staatstheorie des 19.Jahrhunderts siehe die Quellenschriften von Vollgraff, Staatsphilosophie, § 14–17, 19, 21–25, S.26–34, 36–42. Zu Meiners siehe Gierl, Christoph Meiners; Ihle, Christoph Meiners; Lotter, Christoph Meiners; Meyer, Von der Wahrheit, 84–86. Zu Soemmerring siehe Mann/Dumont, Samuel Thomas Soemmerring; Wenzel, Samuel Thomas Soemmering. Zu Vollgraff siehe Speitkamp, Anti-Naturrecht. – Soemmerring, Forster und Meiners stellten sich gegen die noch Lavaters Physiognomie zugrunde liegende Klimatheorie; dazu noch Lavater, Physiognomische Fragmente, 150, der behauptet hatte, die Körperformen der „Mohren“ seien durch das Klima geprägt. Noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts fasste Reinsch, Colonial Administration, 69, die rassistische Phraseologie zusammen in sein kolonialpolitisches Argument, dass der „African negro“ nur „zivilisiert“ werden könne, nachdem durch europäische Intervention die „entire economic basis of negro society“ geändert worden sei. Zum Bild Afrikas in Europa am Ende des 18.Jahrhunderts siehe Sadji, Der Negermythos, 221–228. 17 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 226, S.280f. 18 Schmalz, Völkerrecht, 3–5.
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2. Das Ende der Fernhandelskompanien als Völkerrechtssubjekte und der Beginn kolonialherrschaftlicher Expansion europäischer Regierungen in Süd- und Südostasien In der praktischen Politik jenseits der Völkerrechtsheorie ist dieser Prozess der Reduktion der Zahl der internationalen Akteure in Teilen Europas bekanntlich bereits am Beginn des 19.Jahrhunderts mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 fassbar. In diesem Zeitraum bestand jedoch mit der englischen EIC noch eine der im 17.Jahrhundert gegründeten Fernhandelskompanien fort, während die meisten übrigen vor Ende des 18.Jahrhunderts durch Nachfolgeinstitutionen ohne Völkerrechtssubjektivität ersetzt, aufgelöst worden oder bankrottgegangen waren. 19 Zwar war die EIC nach Skandalen um ihre Herrschaftsbildung in Bengalen zunächst dem britischen Parlament, dann der Regierung unterstellt worden 20, sie agierte aber weiterhin mit Völkerrechtssubjektivität, wenngleich im Namen der britischen Regierung, und schloss in Südasien noch bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts zwischenstaatliche Verträge mit indischen Herrschaftsträgern, darunter sogar bereits Kooperations-, „Protektorats“- und Zessionsabkommen 21. Indem die EIC sich nun von der britischen Regierung in Dienst nehmen ließ als Agent zur Aushandlung und
19
So die VOC im Jahr 1798, die niederländische Westindische Kompanie im Jahr 1791, die dänische Gui-
neakompanie im Jahr 1776. 20
Dazu siehe Rothermund, Der Strukturwandel.
21
Art. II des Protektoratsvertrags zwischen der EIC und Jodhpur von 1818, 244, schrieb fest, dass die bri-
tische Regierung „engages to protect the principality and territory of Jodhpur“. Art. IV (244) verbot dem Maharaja das Eingehen von Vertragsbeziehungen mit anderen Staaten, während Art.V (244) dessen ius ad bellum einschränkte; Zessionsvertrag zwischen der EIC und dem Maharaja von Satare vom 25.September 1819. – Die britische Regierung trat die Souveränität über Gebiete an den Maharaja ab (Art.I, S.406), der sich seinerseits zur Kooperation mit der britischen Regierung verpflichtete (Art. II, S.406); Zessionsvertrag zwischen der EIC und dem Maharaja von Lahore vom 9.März 1846. – Das Abkommen war ein Friedensvertrag. Die ungewöhnlich umfangreiche Präambel zu diesem Vertrag (368) bot eine Narration der Beziehungen zwischen der EIC und dem Maharaja von Lahore seit dem Zustandekommen eines Vertrags im Jahr 1809, der durch angeblich unprovozierte Angriffe auf britisches Gebiet gebrochen worden zu sein schien. Die darauf folgenden Kriegshandlungen hätten zur Besetzung Lahores durch britische Truppen geführt. Diese Besetzung sei Grundlage des nunmehr geschlossenen „ewigen“ Friedens (Art.I, S.369). Art. II f. (369) regelten Gebietsabtretungen. Im Vertrag zwischen der EIC und dem Maharaja von Lahore vom 29.März 1849 (Art.If., S.18) trat Letzterer „all rights, titles and claims to sovereignty of the Punjab“ an die EIC ab. Alles Staatseigentum ging in den Besitz der EIC über.
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zum Abschluss zwischenstaatlicher Verträge, brach sie in zweifacher Hinsicht mit ihren Betriebsgrundsätzen aus der Zeit des Ancien Régime. Einerseits handelte sie nicht mehr im eigenen Namen und auf eigenes Risiko, sondern unter einer Art Regierungsschirmherrschaft. Andererseits ließ sie sich als nicht-staatlicher Akteur auf Belange ein, die nur noch entfernt mit dem Handelsgeschäft verbunden, hingegen direkt auf allgemeine Belange der zwischenstaatlichen Beziehungen, auch militärischer Art, bezogen waren. Während des Wiener Kongresses von 1814/15 bildeten sich neue Formen zur Regelung der zwischenstaatlichen kolonialherrschaftlichen Kontrolle ohne Beteiligung der Fernhandelskompanien über überseeische europäische Stützpunkte heraus. Anlass dazu waren diejenigen Stützpunkte der VOC, die Wilhelm V. als Statthalter der Niederlande bei seinem Übertritt ins englische Exil im Jahr 1795 auf Betreiben der britischen Regierung deren Kontrolle unterstellt hatte. 22 Von besonderem Interesse waren dabei aus britischer Sicht das Kap der Guten Hoffnung und Batavia gewesen. Die Unterstellung unter britische Kontrolle wurde überall vollzogen außer in Dejima (Nagasaki). Der zu diesem Zeitpunkt dort tätige niederländische Faktoreidirektor („Opperhoofd“) Hendrick Doeff blieb im Amt und agierte weiterhin als Vertreter der VOC, auch nachdem diese bankrottgegangen war, und er galt der japanischen Regierung als Abgesandter eines nicht bestehenden holländischen Königreichs. 23 Doeff konnte an seiner Position festhalten, da während der Revolutionsund Napoleonischen Kriege nur wenige Schiffe diesen VOC-Stützpunkt anliefen. Erst im Jahr 1808 entsandte die britische Regierung von Batavia aus das Schiff Phaeton unter britischer Flagge nach Dejima mit dem Auftrag, auch dort den britischen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Doch der Gouverneur von Nagasaki (Nagasaki Bugyō) verweigerte dem Schiff die Anlandung mit der Begründung, dass nur chinesische und holländische Schiffe in Nagasaki Zugang hätten. Auch Doeff lehnte es ab, sich britischer Kontrolle zu unterwerfen. Als die Mannschaft der Phaeton Schüsse abfeuerte, um ihrem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, mobilisierte die japanische
22 Foreign Office, Draft Order [1.Februar 1795], in: Colenbrander (Ed.), Gedenkstukken, Vol.2, 819f., auch in: Theal, Records, 26. 23 Zu den japanisch-niederländischen Beziehungen siehe Blussé/Remmelink/Smits, Bridging the Divide; Gulik, In the Wake; Hesselink, Prisoners from Nambu; ders., Memorable Embassies; Jacob, Niet alleen; Matsukata, King Willem; Nagazumi, Tsūshō; Paul, Nederlanders; Rietbergen, Japan; Vernon, The Dutch.
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Seite ihre Streitkräfte, die die Phaeton zum Rückzug zwangen. 24 Dass die EIC ein damals noch gültiges Handelsprivileg aus dem Jahr 1609 besaß, auf dessen Basis die Phaeton legal hätte den Zugang nach Nagasaki verlangen können, hatten die britische Verwaltung in Batavia sowie auch die britische Regierung in London vergessen. 25 So war zwischen 1794 und 1814 Dejima der einzige Ort in der Welt, an dem eine niederländische Flagge wehte. Nach Abschluss der Napoleonischen Kriege stand auch die Restitution der niederländischen Sützpunkte an das während des Wiener Kongresses errichtete Königreich der Niederlande auf der Tagesordnung der europäischen Diplomatie. Im Jahr 1814 erkannte die britische Seite ihre Pflicht zur Rückgabe der meisten Stützpunkte an 26, vermied aber erfolgreich die Aufnahme dieser Sache in die Verhandlungsgegenstände des Kongresses und schloss in London einen bilateralen Vertrag mit der neuen Regierung der Niederlande. Dieser Vertrag war bezogen auf diejenigen „Colonies, Factories and Establishments which were possessed by Holland at the commencement of the late War, viz. on the 1st of January 1803, in the Seas and on the continent of America, Africa and Asia“ (Art.I). Die britische Seite sicherte die Rück-
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Zu dem Zwischenfall siehe Doeff, Herinneringen, 171–174; Aston, Phaeton; Ōtsuka, Japan; Paul, Neder-
landers, 160–162; Paske-Smith, Western Barbarians, 137; Wilson, Tokugawa Defense Redux. 25
Das britische Streben nach „Öffnung“ Japans ist bereits bezeugt in der Debatte über Handelsbeziehun-
gen zu China im House of Commons vom Jahr 1847. Bei dieser Debatte zogen Befürworter der Ausweitung der Handelsbeziehungen das Privileg Tokugawa Ieyasus für die Englische Ostindische Kompagnie vom Jahr 1613 als Beleg dafür heran, dass Japan für Handel mit dem Vereinigten Königreich „offen“ sei. Siehe Vereinigtes Königreich, House of Commons, Report. Das Privileg ist abgedruckt in Rundall, Memorials, Notes, s. p. Die Annahme von Massarella/Tytler, The Japonian Charters, dass das Privileg im Vereinigten Königreich bei der Planung von Expeditionen in den 1840er und 1850er Jahren unbekannt gewesen sei, ist daher unbegründet. 26
Verabredet bereits im Friedensvertrag von Paris vom 30.Mai 1814, Art. VI, in: Klüber, Acten des Wiener
Congresses, 16; Geheime Separatartikel, in: Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, 62f. Nicht eingeschlossen sein sollten diejenigen Gebiete, die zuvor durch Vertrag britischer Herrschaft unterstellt worden waren, so zum Beispiel die niederländischen Positionen in Sri Lanka (Ceylon) durch den Friedensvertrag von Amiens vom 27.März 1802, 292. Darin verpflichtete sich das Vereinigte Königreich zwar zur Rückgabe aller „colonies“ an die Batavische Republik, die vor 1794 in niederländischem Besitz gewesen waren (Art.3, 6). Der Vertrag wurde aber nur in Bezug auf niederländische Stützpunkte in der Karibik ausgeführt und durch den Beginn des neuen Kriegs des Vereinigten Köngreichs gegen Frankreich am 1.Januar 1803 gegenstandslos, als die britische Regierung die Stützpunkte erneut besetzen ließ. Siehe Schreiben von Robert Liston an den britischen Kriegsminister Charles Jenkins, Lord Hawkesbury (ab 1808: Lord Liverpool) vom 26.Januar 1803 und 1.April 1803, in: Colenbrander (Ed.), Gedenkstukken, Vol.4, 330– 332, 338f.
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gabe aller dieser Stützpunkte zu mit der expliziten Maßgabe, die „Native Inhabitants and Aliens“ sollten während eines Zeitraums von sechs Jahren nach vollzogenem Wechsel des Souveräns Abzugsfreiheit und die Möglichkeit zur Veräußerung ihres Eigentums eingeräumt erhalten (Art. VII). Direkt waren die betroffenen Bevölkerungsgruppen nicht in die Verhandlungen über die Konvention einbezogen. Gleichwohl wurden nicht alle Stützpunkte der VOC dem Königreich der Niederlande restituiert. So verlor das Königreich Kandy (Sri Lanka), das bis 1814 souveräner Träger von Völkerrechtssubjektivität gewesen war und als solcher in den Jahren 1638 und 1766 zwischenstaatliche Verträge mit der VOC geschlossen hatte, nach britischer Eroberung gegen die Londoner Konvention nicht nur den holländischen Stützpunkt, sondern auch seine Souveränität und wurde, zusammen mit dem Rest von Sri Lanka, der Herrschaft der britischen Regierung unterstellt. 27 Zudem reklamierte die britische Seite in der Konvention von 1814 ausdrücklich für sich die Siedlung am Kap der Guten Hoffnung (Art.I) 28, das die Kontrolle des Seewegs zwischen Europa und Südasien zu garantieren schien. Die Niederlande verpflichteten sich, in Asien keine Festungen anzulegen. Außerdem reservierte die britische Regierung für sich den unter der Kontrolle der EIC stehenden Stützpunkt Bengkulu (Bencoolen) an der Südküste Sumatras. Da die Niederlande als souveränes Königreich erst während des Kongresses anerkannt worden waren, hatte die niederländische Seite keine Druckmittel gegen die britische Regierung, so dass unter den früheren holländischen Stützpunkten in Asien nur Batavia, Melaka (Malacca) und die Faktoreien auf den Molukken restituiert wurden. Dejima blieb außer Betracht, da die Insel japanisches Territorium war und deswegen nicht zur Disposition der europäischen Regierungen zu stehen schien. 29 Im Gesamtrahmen der diplomatischen Verhandlungen zur Zeit des Wiener Kon-
27 Dazu siehe Arasaratnam, The Kingdom of Kandy; Gunawardana, Colonialism; Powell, The Fall of Kandy; ders., The Kandyan Wars; Verzijl, International Law in Historical Perspective, Vol.3, 352f. 28 Londoner Konvention vom 13.April 1814, Art.I, IV, 323–325. Der Vertrag enthielt keinen Hinweis auf Belange oder Interessen der EIC. Bengkulu (Bencoolen) war Stützpunkt dieser Kompanie. 29 Wiener Kongress, Acht Artikel zur Vereinigung der Niederlande und Belgien vom 21.Juli 1814. Zu Versuchen der Regierung des Königreichs der Niederlande, die Handelsprivilegien aufrechtzuerhalten angesichts der Bestrebungen anderer europäischer Regierung um „Öffnung“ Japans siehe oben Kap. 3, Anm.23. Aus Anlass der erzwungenen Integration Japans in den europäisch kontrollierten Weltmarkt erschien eine Reihe von Darstellungen, die sowohl die historische Tiefe der japanisch-niederländischen Handelsbeziehungen als auch die Bemühungen der niederländischen Regierung um „Öffnung“ Japans dokumentieren sollten. Siehe Bley, Die Politik der Niederländer; Chijs, Neêrlands streven; Doren, De openstelling
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gresses bildete die Restitution der niederländischen überseeischen Stützpunkte zwar nur einen kleinen Bereich. Dennoch war dieser von Bedeutung für die Änderung der Form der europäischen Kolonialherrschaft in der „Alten“ Welt, da er den Beginn des direkten Eingreifens der Regierungen von Staaten in die Regelung der Beziehungen zwischen Europa einerseits sowie Staaten in Afrika und Asien andererseits markierte. Zwar hatte im Pariser Vertrag von 1763 Frankreich zugunsten des Vereinigten Königreichs auf Stützpunkte in Südasien verzichtet. 30 Dieser Vertrag betraf aber auf französischer Seite nur den damals als staatlich wahrgenommenen Kolonialbesitz in Südasien, da auf britischer Seite die EIC als internationaler Akteur vor Ort auftrat und die britische Regierung stellvertretend die Rechte der EIC gegenüber der französischen Regierung wahrnahm. Insofern griff der Vertrag nicht direkt in die britische Kolonialverwaltung in Südasien ein. Durch die Londoner Konvention von 1814 geschah dann genau dieses: Sie regelte Herrschaftsrechte von Regierungen europäischer Staaten in anderen Teilen der „Alten“ Welt und reduzierte durch Ausschaltung der Fernhandelskompanien die Zahl der Typen internationaler Akteure, die in diesen Teilen der Welt legitim zu handeln befugt waren. Die Londoner Konvention konvertierte somit diejenigen Gebiete, über die sie staatliche koloniale Herrschaftsrechte verschacherte, in Objekte des Völkerrechts. In den Stützpunktschacher waren die davon betroffenen örtlichen Regierungen und Bevölkerungen nicht involviert. Gleichwohl war der britisch-niederländische Stützpunktschacher mit der Londoner Konvention nicht abgeschlossen. Denn die dort getroffenen, die staatliche europäische Kolonialherrschaft in Süd- und Südostasien betreffenden Regelungen hatten keinen langen Bestand. Da die EIC seit den 1780er Jahren für ihre Handlungen als internationaler Akteur unter der Aufsicht der britischen Regierung stand, hatte sie nicht mehr ausschließlich Aufgaben der gewerblichen Gewinnmaximierung zu erfüllen, sondern war nunmehr in das strategische Kalkül britischer Regierungsstellen einbezogen. So konnte es zu Beginn des 19.Jahrhunderts bereits üblich werden, dass Angehörige der Kompanie sich mit strategischen Planungen für das Britische Empire befassten. Für den südostasiatischen Raum war dieses Interesse gebunden an die Person Sir Thomas Stamford Raffles’ (1781–1826), der seit 1818 als Vertreter der EIC
van Japan; Pompe van Meerdervoort, Vijf jaren; Siebold, Geschichte der Entdeckungen; ders., Urkundliche Darstellung. 30 Friedensvertrag vom 10.Februar 1763, 279–345.
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in Bengkulu stationiert war. In dem ihm als Kommandeur anvertrauten Stützpunkt herrschte geringe Betriebsamkeit, da der Ort abseits der oft befahrenen Seeroute lag, die den Indischen Ozean mit den am Ende des 18.Jahrhunderts für das Vereinigte Königreich erschlossenen Gebieten an der australischen Ostküste verband. Anders als für die VOC, deren Schiffe von der südostafrikanischen Küste über Mauritius direkt die Sundastraße ansteuerten 31, verlief die Schiffsroute der EIC-Schiffe von Kolkata (Calcutta) aus über Pinang (Penang), eine seit 1786 unter britischer Kontrolle stehende Insel vor der Westküste der Malaiischen Halbinsel, dann entlang der Nordküste Sumatras durch den Indonesischen Archipel und die Torres Strait, vorbei an den unter der Kontrolle der niederländischen Regierung stehenden Stützpunkten Melaka und Batavia. Zwischen Pinang und der australischen Ostküste bestand folglich an dieser Route kein Stützpunkt unter britischer Kontrolle. Raffles nun hatte von einer Insel an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel gehört, die einen bereits in der Ming-Zeit von chinesischen wie auch arabischen Kaufleuten angefahrenen Handelsplatz namens Temarek beherbergt hatte. 32 Zu Beginn des 19.Jahrhunderts war dieser Handelsplatz jedoch aufgegeben, die Insel unterstand der Herrschaft des Sultans von Johor im Süden der Malaiischen Halbinsel und schien die Heimat von nur wenigen Bewohnern zu sein. Raffles war bekannt, dass die Seeroute von Kolkata nach Australien an dieser Insel vorbeiführte, die die VOC nicht beachtet hatte. Im Jahr 1819 startete Raffles eine Expedition zu dieser Insel, um die genaue Topografie und die dort herrschenden politischen Zustände zu erkunden. Die Insel trug damals den malaiischen Namen Singapura, zu deutsch „Löwenstadt“. 33 Raffles gelang es, unter für ihn ungewöhnlich günstigen politischen Umständen, von denen er keine genaue Kenntnis hatte, mit einem Prätendenten um die Herrschaft im Sultanat Johor einen Vertrag zur Nutzung der Insel durch die EIC gegen Zahlung einer Abfindung an diesen Prätendenten zu schließen 34, und er reklamierte dann die Insel als 31 Bruijn/Gaastra (Eds.), Ships, XI. 32 Crawfurd, Tagebuch, 867, berichtete von der Fahrt des Kapitäns Alexander Hamilton, der bereits im Jahr 1703 auf seiner Reise nach China in Johor Station gemacht hatte. Damals schlug nach Hamiltons Bericht der Sultan von Johor vor, die Insel unter den „Schutz“ der britischen Regierung zu stellen und dort eine britische Siedlungskolonie anzulegen. Siehe Hamilton, A New Account of the East Indies, Kap. 46, S.151–159, insbes. 155. 33 Zur älteren Besiedlung von Singapur siehe Ashley, The Population of Singapore; Campbell, Chinese Coolie Emigration; Tinker, A New System. 34 Der Vertrag zwischen der englischen East India Company und Johor vom 26.Juni 1819, 201–203, enthält nur eine rudimentäre Präambel, in der die eigentlich herrscherlichen Edikten vorbehaltene Promul-
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Kompaniebesitz 35. Singapur bot einen Tiefseehafen und erlaubte die Kontrolle der Meerenge zwischen der Malaiischen Halbinsel und den der Nordküste Sumatras vorgelagerten Inselgruppen von Riau. Raffles entwickelte gegen den Protest der niederländischen Regierung schnell Pläne für den Bau von Hafenanlagen, die Befestigung und die Besiedlung der Insel. 36 Zwar blieb die Insel zunächst der EIC unterstellt, entwickelte sich aber schnell zu einem befestigten Marine- und Handelsstützpunkt. Schon im Jahr 1824 drängte die britische Regierung auf Verhandlungen mit der Regierung des Königreichs der Niederlande zum Zweck der Arrondierung der beiderseitigen Einflusszonen in Südostasien. Die dort aus der Zeit des Auftretens der Fernhandelskompanien als internationale Akteure überkommene Gemengelage von Handelsstützpunkten entsprach nicht den militärstrategischen Planungen der britischen Regierung. Denn die Stützpunkte waren in Netzwerke eingebunden gewesen, die Handelszwecken dienten und folglich die Bildung geschlossener, der Herrschaft einer und derselben Regierung unterstellten Einflusszonen nicht erforderten. So reihten sich im Jahr 1824 entlang der Route von Kolkata an die Ostküste Australiens der britsche Stützpunkt Pinang, der niederländische Stützpunkt Melaka, der britische Stützpunkt Singapur und der niederländische Stützpunkt Batavia. Diese Gemengelage warf für militärstrategische Planungen große Probleme auf, denn sie erzwang mindestens die politische Kooperation zwischen den beteiligten Regierungen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs. Um diese Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, schlug die britische Regiegationsformel „Be it known“ als Einleitung steht. Er spezifizierte „arrangements and regulations“ zwischen Raffles und Sultan Hussain Mohamed Shah von Johor hinsichtlich der Grenzen des britischen Stützpunkts, einer künftigen, Chinesen vorbehaltenen Siedlung sowie der Zusicherung von Zollfreiheit. Zum Vertrag siehe Crawfurd, Tagebuch, 853. Crawfurd zufolge wurde der Sultan von Johor durch den Vertrag „britischer Pensionär“. 35
Raffles, Memoir. Zu Raffles siehe Collis, Raffles; Wurtzburg, Raffles.
36
Raffles’ Plan ist abgedruckt bei Crawfurd, Tagebuch, neben 529 (englische Fassung); Crawfurd, Tage-
buch, 845 (deutsche Fassung), notierte auf der Grundlage einer Volkszählung aus dem Jahr 1824 10 683 Personen chinesischer Herkunft in Singapur und vermerkte (856) für das Jahr 1828 14000 Bewohner der Insel. Das Militär habe aus 150 Sepoys bestanden und nur die Offiziere seien Briten gewesen (859). Für das Jahr 1826 wies Crawfurd (839) 2402 Musketen und 43 397 Pfund Schießpulver in Singapur nach. Seit 1838 reklamierte die englische Krone das Obereigentum über alles Land auf der Insel und lieh es aus für 99 Jahre. Im Jahr 1845 gab die Krone unbeschränkt gültige Eigentumsprivilegien aus. Danach sind keine weiteren staatlichen Planungsmaßnahmen auf der Insel außerhalb der militärischen Anlagen belegt: British National Archives, CO 273/540/15, fol.19.
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rung der niederländischen den Austausch der Stützpunkte Bengkulu und Melaka vor. Die niederländische Seite war immer noch politisch zu schwach, als dass sie sich diesem für sie erkennbar schlechten Tauschgeschäft hätte verweigern und ihren Widerspruch gegen die britische Inbesitznahme Singapurs hätte aufrechterhalten können, und stimmte dem Vorschlag zu. Der schließlich geschlossene britisch-niederländische Vertrag von 1824 teilte bei Zusicherung wechselseitiger Handels- und Zollfreiheit Südostasien in eine, Gebiete westlich Siams betreffende kontinentale britische und eine mit Ausnahme der verbliebenen portugiesischen Stützpunkte den Indonesischen Archipel (Timor) umfassende insulare niederländische Einflusszone. 37 An diesem bilateralen Vertrag waren wiederum die örtlichen Bevölkerungen in den betroffenen Gebieten nicht beteiligt, hatten also, wie schon zu Zeiten des Wiener Kongresses, in der Sicht der vertragschließenden Parteien des Status von Völkerrechtsobjekten, obwohl in den betroffenen Gebieten nach wie vor souveräne Staaten bestanden. Die EIC war am Abschluss dieses Abkommens nicht mehr beteiligt. Keine der vertragschließenden europäischen Regierungen übte zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses eine über die Stützpunkte hinausgehende territoriale Herrschaft in Südostasien aus, für das in Europa damals nicht einmal eine umfassende geografische Bezeichnung bestand. 38 Gleichwohl begründete der Vertrag die Option auf Errichtung künftiger Kolonialherrschaft in den den Vertragsparteien reservierten Einflusszonen. Dies geschah im weiteren Verlauf des 19.Jahrhunderts zumeist durch militärische Eroberung in der niederländischen Zone 39 sowie in einer Kombination aus Anwendung militärischer Gewalt und Abschluss ungleicher Verträge in
37 Handelsvertrag vom 17.März 1824, Art. II, III, IV, IX, X, S.90–92, 94. Außerdem zogen die Niederlande in Art. XII (95) ihren Widerspruch gegen die britische Besetzung Singapurs zurück, während das Vereinigte Königreich im selben Artikel zusicherte, dass die südlich Singapurs gelegenen Inseln (von Riau) in der Sumatrastraße weder von Personen aus dem Vereinigten Königreich besiedelt würden sowie dass die britische Regierung keine Verträge mit dortigen Herrschern schließen werde. Letztere Bestimmung bezog sich auf den Friedensvertrag zwischen der englischen EIC und dem Sultan von Acheen vom 22.April 1819. Raffles schloss diesen Vertrag namens der EIC sowie stellvertretend für die britische Regierung (Art. II, S.110). Der ungleiche Vertrag begründete in Art.I (110) eine Defensivallianz zwischen den Vertragsparteien, gestattete britischen Kaufleuten den freien Handel (Art. III, S.110) und der britischen Regierung die Entsendung diplomatischer Emissäre (Art. IV, S.111). 38 In die regierungsamtliche Sprache fand der Name Eingang im Jahr 1943 mit der Errichtung des SouthEast Asia Command für Lord Louis Mountbatten. Zum Namen „Südostasien“ siehe Emmerson, Southeast Asia. 39 Zur Geschichte der Eroberung Indonesiens siehe Ricklefs, Balance.
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der britischen Zone 40. Südostasien wurde dadurch zum Exerzierfeld für die Unterwerfung der „Alten“ Welt außerhalb Europas unter europäische Kolonialherrschaft. 41
3. Frühformen kolonialherrschaftlicher Expansion europäischer Regierungen in Afrika Seit Beginn des 19.Jahrhunderts wurden insbesondere die britische und die französische Regierung auch in Afrika aktiv. Dieser Kontinent war bereits Gegenstand von Verhandlungen auf dem Wiener Kongress gewesen. Der Kongress beschloss auf britisches und französisches Drängen das völkerrechtliche Verbot von Sklaverei 40
Grenzvertrag zwischen Johor und dem Vereinigten Königreich vom 28.August 1833, 13f.; „Pazifizie-
rungsvertrag“ zwischen Perak und dem Vereinigten Königreich vom 20.Januar 1874, 195–199. So auch im Vertrag zwischen Perak, Selangor, Pahang sowie Negri Sembilan einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits vom Juli 1895, 416f. Dieser Vertrag begründete unter britischer Mitwirkung einen als „Federation“ bezeichneten Staatenbund auf der Malaiischen Halbinsel, der sogleich britischem „Protektorat“ unterstellt wurde (Art.1f., S.416). Der Staatenbund wurde einem britischen „Resident-General“ zur Kontrolle unterstellt (Art.4, S.417) und hatte die Pflicht, der britischen Seite Kampftruppen zur Verfügung zu stellen (Art.5, S.417). Seine Struktur als Staatenbund ergibt sich aus der Tatsache, dass die Glieder des Bundes ausdrücklich im Vertrag als „States“ bezeichnet werden und kein Herrscher eines „State“ Befugnisse ausüben darf über „States“, über die er vor Vertragsabschluss keinerlei Kontrolle hatte (Art.3, S.416). Es bestand also für die Herrscher der „States“ unter britischem „Protektorat“ keine Gesamtverantwortung für gemeinsame Angelegenheiten des Bundes. Diese scheint die britische Seite für sich reserviert haben zu wollen, obschon diesbezüglich keine Aussage im Vertrag selbst steht. Neben den Vertragspartnern bestanden auf der Malaiischen Halbinsel die sogenannten „Unfederated States“ von Johor, Kedah, Kelantan, Perlis und Tringganu. Sie gerieten indirekt unter britische Kontrolle durch den Vertrag zwischen Siam und dem Vereinigten Königreich vom 10.März 1909. Durch diesen Vertrag verpflichtete sich die Regierung des Königreichs Siam zur Übertragung ihrer Herrschaftsrechte über diese Staaten an die britische Regierung. Dazu siehe McLarty, Affairs. Die Behauptung von Crawford, Creation of States, 200, „Protektorate“ europäischer Kolonialregierungen hätten bis auf zwei Ausnahmen (Aden, Salomonen) nur in Afrika bestanden, entbehrt folglich jeder Grundlage. 41
Dennoch bestand auch in der Sicht europäischer Regierungen weiterhin Vertragsfreiheit der in Süd-
ostasien fortbestehenden souveränen Staaten. Ableitbar ist dies aus der Tatsache, dass die Regierung der USA und der Sultan von Brunei am 23.Juni 1850 einen Friedensvertrag schließen konnten. Dieser Vertrag
folgte dem Muster der schon bestehenden Verträge, die europäische Regierungen mit Herrschern und Regierungen in Südostasien geschlossen hatten. Er war ungleich in dem Sinn, dass er einseitig der US-Seite Privilegien einräumte, die dem Sultanat von Brunei nicht zukamen, die die Niederlassungsfreiheit (Art. II, S.152), die Freiheit zum Erwerb von Eigentum an Grund und Boden (Art. III, S.152) und den freien Zugang zu Häfen für US-Schiffe (Art. VII, S.154) betrafen.
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und Sklavenhandel. 42 Obschon das Verbot ausdrücklich feststellte, der Sklavenhandel widerspreche den Grundsätzen der Menschlichkeit und der allgemeinen Moral, wählten beide Regierungen zur Durchsetzung der Beendigung des Sklavenhandels nicht den von diesen moralischen Grundsätzen her ohnehin gebotenen und politisch allein Erfolg versprechenden Weg der Aufhebung der Sklaverei in den amerikanischen Kolonien und dortigen Sklavenhalterstaaten, sondern suchten den Sklavenhandel zu unterdrücken durch Kaperung von Sklavenschiffen und Freisetzung der auf den Schiffen deportierten Afrikaner sowie durch Ausübung politischen und militärischen Drucks auf diejenigen afrikanischen Machtträger, die Mittelsmänner der europäischen Sklavenhändler waren. 43 Die Wahl der beiden zuletzt genannten Mittel erlaubte die Beendigung des Sklavenhandels jedoch nicht, sondern trieb nur die Preise für die in Amerika verkauften deportierten Afrikaner in die Höhe. Aber auch in Bezug auf andere Aspekte des Handels wurden die britische und die französische Regierung in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts aktiv. Über Verträge mit Herrschern und Regierungen zunächst an der westafrikanischen Küste versuchten sie, die Rechte der dort tätigen britischen und französischen Kaufleute zu regeln sowie die rechtliche Basis für das Wirken anglikanischer und katholischer Missionare zu legen. Diese Basis suchten europäische Regierungen auch dann mit der Setzung von Frieden durch Vertrag zu legen, wenn vor dem Abschluss von Friedensverträgen keine Kriege stattgefunden hatten. Die seit dem frühen 19.Jahrhundert bestehenden Verträge wiesen ein weitgehend einheitliches Formular auf, das unabhängig von Einzelregelungen Anwendung fand. Dieses Formular folgte den Grundsätzen, die sich seit dem 17.Jahrhundert aus der Praxis des Abschlusses zwischenstaatlicher Verträge in Europa ergeben hatten und die an die Diktate mittelalterli-
42 Deklaration vom 8.Februar 1815, 474f. Dazu Angeberg, Le congrès de Vienne, Vol.2, 660, 684, 697, 724. Auch die niederländische Regierung musste sich in der Londoner Konvention von 1814, 326f., verpflichten, den Sklavenhandel zu unterbinden. 43 Diesem Ziel dienten zahlreiche Verträge zur Beendigung von Sklavenhandel. Siehe dazu die Verträge zwischen Bonny, Sherbro, Egba, Dahomey, Porto Novo, Little Popoe, Adminnar, Adaffie, Blockouse, Aghwey, Grand Popoe, Jabooi, König Akitoe von Aago, Chiefs von Bussama und Badagry, Mohilla, Comoro, Epe, dem König von Ro Woolah und Fouricaria, dem König von Macbatee, dem König von Kambia, Sansibar einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits sowie die Schlussakte der Brüsseler Konferenz über den Sklavenhandel vom 2.Juli 1890. Zu diplomatischen Sondermissionen mit dem Ziel der Beendigung der Mitwirkung afrikanischer Herrscher am Sklavenhandel und den Gründen für das Scheitern dieser Missionen siehe den Bericht von Wilmot, A Mission, 227–263. Dazu siehe Cornevin, Histoire du Dahomey; Polanyi, Dahomey and the Slave Trade.
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cher Notitiae anknüpften. 44 Danach bestanden die zwischenstaatlichen Verträge jeweils aus einer Präambel, dem Protokoll und der Arenga nach Vorgabe der Notitiae, den Bestimmungen des eigentlichen Rechtsinhalts, gemäß der mittelalterlichen Dispositio, sowie den die Handhabung der Verträge selbst regelnden sowie Actum und Datum festschreibenden Schlussbestimmungen, dem Eschatokoll der Notitiae. Die Präambel umfasste üblicherweise die Nennung der vertragschließenden Parteien sowie deren zur Unterzeichnung der Verträge bevollmächtigten Vertreter, die mehr oder weniger umfangreiche, mehr oder weniger formelhafte Nennung der Gründe, die zum Abschluss der Verträge geführt haben sollten, die Bestimmung der Zwecke, die mit den Verträgen verfolgt werden sollten sowie die formelhafte Bestimmung, dass die in Schriftform gegossenen Verträge die zuvor getroffenen Abkommen der vertragschließenden Parteien notifizierten. Die auf die Präambel folgenden dispositiven Bestimmungen waren üblicherweise in sogenannte „Artikel“ gegliedert, wobei dieser Gliederungstyp nicht dem Formular mittelalterlicher Diplome, sondern dem von Eiden und militärischen Ordnungen entlehnt wurde. 45 Die dispositiven Bestimmungen waren häufig in zuerst stehende allgemeine und darauf folgende spezielle „Artikel“ geteilt. Viele Handelsverträge verwandten das Formular des Friedensvertrags und enthielten als ersten, allgemeinen dispositiven Artikel die Setzung eines „ewigen“ Friedens. Schon die frühesten britischen und französischen Verträge mit afrikanischen Herrschern und Regierungen weisen dieses Formular in voller Ausprägung auf. Nicht in jedem Vertrag mussten alle genannten Bestandteile einbeschlossen sein. Insbesondere die Präambeln hatten sogar mitunter nur rudimentären Charakter. Aber das Formular als solches trugen die Abgesandten der britischen und der französischen Regierung nach Afrika und erhoben es zur Rechtsgrundlage für die in der Regel ungleichen Abkommen, die sie mit Herrschern und Regierungen vor Ort zu treffen beabsichtigten. So kam es bereits im Jahr 1817 zwischen der britischen Regierung, vertreten durch deren Gouverneur im Cape Coast Castle, und dem König der Ashanti in Westafrika zu einem Friedensvertrag, der die Ashanti zur Gewährung von Sicherheit für die dortige britische Kolonie verpflichtete (Art. III). Die Ashanti
44
Dazu siehe Bittner, Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden; Dölger/Karayannopoulos,
Byzantinische Urkundenlehre, Bd. 1, 94–104; Heinemeyer, Studien zur Diplomatik; ders., Die Verträge; Hochedlinger, Aktenkunde, 98f., 133–166, 219–221; Steiger, Peace Treaties, 79–96. 45
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Dazu siehe Pelz, Die preußischen und reichsdeutschen Kriegsartikel; Schmidtchen, Ius in bello.
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mussten außerdem einen britischen diplomatischen Residenten in ihrer Hauptstadt Kumasi zulassen (Art.V) und freien Handel zusichern (Art. VI). Der britische Gouverneur erhielt das Recht, den Ashanti Schutz („protection“) zu gewähren (Art. VII) und Strafjustiz zu üben (Art. VIII). 46 Nicht in jedem Fall blieb der der britischen Seite eingeräumte Handlungsrahmen auf die Gewährung von „protection“ begrenzt. Auch weitergehende Rechte reklamierte die britische Regierung bereits im frühen 19.Jahrhundert über Gebiete an den westafrikanischen Küsten. So regelte der Vertrag zwischen North Bullom (Sierra Leone) und dem Vereinigten Königreich vom Jahr 1824 die Abtretung von Gebiet in den Besitz des Generalgouverneurs der dort bestehenden britischen Kolonie Freetown. 47 Und im folgenden Jahr 1825 regelte der Friedensvertrag zwischen Sherbro Bullom in Sierra Leone und dem Vereinigten Königreich die Abtretung von „full, entire, free and unlimited right, title, possession, and sovereignty of all territories and dominions to them respectively belonging“ in einem im Vertrag selbst bezeichneten Gebiet. Der Generalgouverneur verpflichtete sich zur Gewährung von „protection“ an die Sherbro Bullom gegen den Nachbarstaat Kusso. Zwischen diesem und Sherbro Bullom sei seit langem Krieg geführt worden. Im Verlauf dieses Kriegs seien britische Untertanen zu Schaden gekommen und Personen aus Sherbro Bullom seien versklavt worden. 48 Diese Praktiken seien zu beenden. Es handelte sich mithin um einen Zessionsvertrag zu Lasten eines seitens der britischen Regierung als souverän anerkannten Herrschers an der Küste Westafrikas im Kontext einer angeblichen Pazifizierungsmission, die zugleich als Mittel zur Unterdrückung des Sklavenhandels ausgegeben wurde. Sherbro Bullom wurde in den Jahren 1848 und 1849 in das britische Vertragssystem zur Beendigung des Sklavenhandels einbezogen. 49 Resultat einer ähnlichen Pazifizierungsmission war der Vertrag, der im Jahr 1831 auf der Basis des Abkommens von 1817 zwischen den Königreichen der Ashanti sowie der Fante 46 Vertrag zwischen dem Königreich der Ashanti sowie der Dwabin und dem Vereinigten Königreich vom 7.September 1817. Dazu siehe Dupuis, Journal, 261–264; Meredith, An Account. Zu dem diesem Vertrag voraufgehenden Konflikten siehe Davies, The Royal African Company. 47 Vertrag zwischen North Bullom und dem Vereinigten Königreich vom 2.August 1824. 48 Vertrag zwischen Sherbro Bullom und dem Vereinigten Königreich vom 24.September 1825. Der Vertrag ist nicht in Artikel gegliedert. 49 Der Vertrag zwischen Sherbro und dem Vereinigten Königreich vom 7.Juli 1849 war im Formular des Friedensvertrags gestaltet. Er sollte wiederum der „Pazifizierung“ der Beziehungen zwischen Sherbro und dessen Nachbarn dienen, räumte der britischen Seite Konsulargerichtsbarkeit ein, gestattete freien Handel und erlaubte Mission (Art.I, VII, VIII, IX).
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einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits zustande kam. Diesem Vertrag zufolge verpflichtete sich der König der Ashanti, gegenüber den Fante Frieden zu bewahren und zur Einhaltung seines partiellen Verzichts auf das ius ad bellum zwei Prinzen als Geiseln zu stellen. Der König sollte auch auf die Zahlung von Tributen durch abhängige Herrscher verzichten, die ihrerseits den König der Ashanti nicht beleidigen durften. Außerdem sollte der freie Handel gewährleistet sein. 50 Diesem Vertrag zufolge verband die britische Seite mit der Pazifizierungsmission die Ziele der Neubestimmung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Westafrika. Ein anderes Beispiel liegt vor in dem im Jahr 1836 abgeschlossenen Vertrag zwischen dem hier wie in anderen Abkommen als „King“ titulierten Herrscher von Bonny, einer Insel in der Bucht von Bonny (bis 1972 Bucht von Biafra), und Leutnant Robert Tryon als Vertreter der britischen Regierung. Dieser, sieben dispositive Artikel umfassende ungleiche Vertrag regelte ohne Reziprozität die Exterritorialität britischer Untertanen in Bonny (Art.1), schrieb friedliche Streitbeilegung zwischen Besatzungen britischer Schiffe und den Untertanen des Königs von Bonny (Art.2) nach feststehendem Verfahren vor (Art.3), stipulierte die Gegenzeichnung aller Handelsvereinbarungen durch einen verantwortlichen britischen Offizier, ersatzweise den Kapitän eines vor Bonny auf Reede befindlichen britischen Schiffs (Art.4), verlangte die vollständige Freiheit des Handels für jedes in Bonny anlandende britische Schiff nach Entrichtung eines Zolls (Art.5), garantierte das Eigentum britischer Kapitäne und Kaufleute an Handelsware auf den Schiffen und in Lagerhäusern an Land bis zum Verkauf (Art.6), schob dem König von Bonny die Verantwortung für die Zahlung von Außenständen zu, die an die Kapitäne britischer Schiffe zu entrichten wären, und sicherte im Gegenzug die Tilgung sämtlicher Schulden durch die britischen Kapitäne vor der Abfahrt der Schiffe zu (Art.7). 51 Es handelte sich also um einen zwischenstaatlichen Handelsvertrag, der die Tätigkeit britischer Kaufleute in Bonny regelte, deren Handelsgut in der Hauptsache Pflanzenöl war. Der Vertrag war ungleich in dem Sinn, dass er nur britische Belange in Bonny, nicht jedoch Bonny-Belange im Vereinigten Königreich regelte. Er garantierte den in Bonny tätigen britischen Schiffs- und Kaufleuten viele Rechte und er-
50
Vertrag zwischen dem Königreich der Ashanti sowie dem Königreich der Fante und dem Vereinigten
Königreich vom 27.April 1831, Art.If., S.456. Siehe dazu Reindorf, The History of the Gold Coast and Asante, 250–256. 51
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Ratifizierungsvertrag vom 9.April 1837.
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legte ihnen wenige Pflichten auf, während er für den King of Bonny und dessen Untertanen nur Pflichten vorsah. 52 In derselben Zeit verfuhr die französische Regierung nach denselben Grundsätzen. Bereits im Jahr 1819 schloss sie einen Zessionsvertrag mit dem Königreich Wallo (Senegal), das sie zugleich als souveränen Staat anerkannte. Die Gebietsabtretungen wurden motiviert mit dem Ziel der Pazifizierung des Königreichs Wallo und der Aufrechterhaltung der dortigen öffentlichen Sicherheit. Die französische Regierung reklamierte für sich das Recht zum Bau einer Befestigungsanlage und errichtete ein Bündnis zwischen den „établissements Français du Sénégal et le Royaume de Wallo“ 53. Die beschriebenen Abkommen geben Beispiele ab für die europäische Praxis des Abschließens zwischenstaatlicher Verträge mit Herrschern und Regierungen in Afrika in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Diese Verträge reflektierten den Glauben der beteiligten europäischen Regierungen, dass die Förderung der Gouvernementalität ihrer Vertragspartner zu ihren Aufgaben zähle, und verbanden jeweils eine die Gleichheit der vertragschließenden Parteien stipulierende Präambel mit einem weitestgehend ungleiche Regelungen enthaltenden dispositiven Teil. Dass die Präambeln die Gleichheit der Vertragsparteien zum Ausdruck brachten, ergab sich als Notwendigkeit aus dem europäischen öffentlichen Recht der zwischenstaatlichen Verträge. Demzufolge konnten Verträge zwischen Souveränen nur unter der Bedingung zustandekommen, dass alle Parteien des Vertrags sich wechselseitig als Souveräne anerkannten mit der logischen, bereits von Bodin gezogenen Konsequenz, dass sie einander jeweils rechtliche Gleichheit zugestehen mussten. Die Verträge führten somit zur faktischen Anerkennung der souveränen Gleichheit der in dieser Zeit in Afrika Herrschaft tragenden Regierungen mit deren europäischen Vertragspartnern. Auch die Staatlichkeit derjenigen Institutionen, über die die Vertragspartner der europäischen Regierungen legitime Kontrolle ausübten, musste Letzteren als gegeben erscheinen. Dies war in europäischer Wahrnehmung notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen zwischenstaatlicher Verträge auch und gerade dann, wenn es sich um Zessionsverträge und Abkommen zur Einschränkung des ius ad bellum gegenüber der afrikanischen Seite handelte. Denn Herrscher
52 Zum Begriff der ungleichen Verträge siehe Conrad, Geschichte der ungleichen Verträge; Kleinschmidt, Legitimität, 239–284, 292–294, 298–299, 306–308. 53 Vertrag zwischen Frankreich und Wallo vom 8.Mai 1819, Art.2, 3, 8, S.128f.
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und Regierungen konnten nach dem europäischen öffentlichen Recht der zwischenstaatlichen Verträge nur Gebiete abtreten oder auf andere Weise ihre Souveränität einschränken, solange sie als souveräne Völkerrechtssubjekte handelten. 54 Die Verträge waren in der Regel unbefristet und dienten somit als rechtliche Basis für die dauerhafte Anerkennung der Souveränität und Völkerrechtssubjektivität afrikanischer Staaten und deren Herrscher und Regierungen durch die sich dort engagierenden europäischen Regierungen. Gleichwohl gerieten infolge der Interventionen der europäischen Regierungen Teile Afrikas bereits im frühen 19.Jahrhundert in den Geltungsbereich des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge durch den Oktroi eben dieses Vertragsrechts. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts konnte ein britischer Diplomat dann eine dreibändige Darstellung europäischer Herrschaft in Afrika unter dem Titel „Map of Africa by Treaty“ veröffentlichen, in der er die einzelnen Verträge penibel genau auflistete und als gültige Rechtstexte beschrieb. 55 Der Oktroi des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge geschah außerhalb jeder Form europäischer Kolonialherrschaft, die in Afrika zu dieser Zeit nur am Kap der Guten Hoffnung, um die Orte Freetown (Sierra Leone) und Cape Coast Castle (sogenannte „Goldküste“) sowie um die portugiesischen Stützpunkte Bissau, Luanda und Mozambique bestand. Im weiteren Verlauf des 19.Jahrhunderts schlossen auch die deutsche 56 und die italienische 57 Regierung Verträge desselben Formulars mit Herrschern und Regierungen in Afrika, auch und gerade nach der Berliner Afrikakon-
54
Schmalz, Völkerrecht, 202–210; Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 12, 92, S.17, 137f.; Twiss,
Law of Nations, Vol.1, 26; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 144f.; Westlake (ebd.149) schlussfolgerte, „an uncivilized tribe can grant by treaty such rights as it understands and exercises but nothing more“. Wheaton, Elements of International Law, § 16, S.29 (Ausg. von Boyd, 1889), nach Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 3, § 21, Nr.3. Siehe dazu Anghie, Imperialism, 71; Crawford, Creation of States, 176f., 194–201. 55
Hertslet, The Map of Africa; Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, kommentierte
die Praxis des Abschlusses von Verträgen zur Errichtung von „Proektoraten“ mit dem Hinweis, rechtlich notwendig seien diese Verträge nicht. 56
Mitunter durch Vertreter deutscher Kolonialgesellschaften, die jedoch zu diesem Zeitpunkt mit Be-
zug auf Afrika keine Völkerrechtssubjektivität mehr besaßen, sondern die von ihnen geschlossenen Verträge durch die Reichsregierung ratifizieren lassen mussten. Siehe beispielsweise die Zessionsverträge, die Carl Jühlke als Vertreter der Deutschen Ostafrika-Kompagnie im Jahr 1885 schloss. Die Reichsregierung stellte im Namen Kaiser Wilhelms II. sogenannte „Schutzbriefe“ für die Kolonialgesellschaften aus (Abdruck bei Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 28f.). Nach diesen „Schutzbriefen“ sollte eine Kolonialgesellschaft „die Befugnis zur Ausübung alles aus den Uns vorgelegten Verträgen flies-
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ferenz von 1884/85 58. Die Basis europäischer herrschaftlicher Expansion war folglich bis zu dieser Konferenz völkerrechtlich, nicht staatsrechtlich. In europäischer Wahrnehmung konnte das Völkerrecht bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anwendung militärischer Gewalt nur legitimieren unter der Bedingung, dass der Bruch bestehender Verträge, wenn nicht des Vertragsrechts nachweisbar sei.
4. Oktroi des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge in Afrika, West-, Süd- und Südostasien Neben Afrika gerieten auch West-, Süd- und Südostasien im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in den Rechtskreis des Netzwerks europäischer zwischenstaatlicher Verträge. Mit dem Königreich Siam schloss die britische Regierung durch die EIC bereits im Jahr 1826 einen zwischenstaatlichen Vertrag, der im Jahr 1855 ohne Beteiligung der EIC revidiert wurde. Ersterer Vertrag war als „Freundschaftsvertrag“ bezeichnet und folgte wie Letzterer dem Formular der Friedensverträge. 59 Beide Verträge regelten einseitig die Rechte britischer Untertanen in Siam und die Bedingungen, unter denen britische Kaufleute dort Handel treiben können senden Rechte“ erhalten, war also gebunden an die Ratifizierung dieser Verträge durch die Reichsregierung und folglich nicht selbst souverän. Siehe auch Peters, Ein Memorandum; siehe dazu Perras, Carl Peters, 67– 130. 57 Friedensverträge zwischen Italien und Shoa vom 15.März 1883, Art.I, S.406, vom 21.Mai 1883, Art.I, S.112, und vom 2.Mai 1889, S.96; die Verträge zwischen Gohad und Italien vom 17.März 1884, Art.I, S.404, und vom November 1884, Art.I, S.324. Siehe dazu Levi Catellani, Les possessions africaines. 58 Stengel, Die staats- und völkerrechtliche Stellung, 20, und Ullmann, Völkerrecht, § 94, S.303, die die Abgrenzung okkupierter Territorien als das völkerrechtlich wichtigste Ergebnis der Konferenz werteten. Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 177f., befand, die Schlussakte der Konferenz schließe aus, dass eine Kolonialregierung „Protektorate“ über Gebiete errichten könne, mit deren Herrschern und Regierungen eine andere Kolonialregierung bereits Verträge geschlossen habe. Siehe dazu auch Banning, Die politische Theilung Afrika’s; Levi Catellani, Le colonie; Keltie, The Partition of Africa; White, The Development of Africa. Zur Konferenz siehe Anghie, Imperialism, 90–96; Crowe, The Berlin West Africa Conference, 158f., 178–190; Fisch, Africa as terra nullius; ders., Der Mythos vom leeren Land; Grovogui, Sovereigns, 77–85; Johnston, Sovereignty, 185, 206; Kleinschmidt, Legitimität, 322–324; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, 121–127; Schildknecht, Bismarck, 87–131. 59 Vertrag zwischen der englischen East India Company und dem Königreich Siam vom 20.Juni 1826, Art.I, S.304; Vertrag zwischen dem Königreich Siam und dem Vereinigten Königreich vom 18.April 1855, Art.I, S.84f.
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sollten. 60 Jedoch gewährte der Folgevertrag vom Jahr 1855 der britischen Regierung wesentlich weiter gehende Rechte, als der Vertrag von 1826 der EIC eingeräumt hatte. So konnte seit 1855 die britische Seite einen konsularischen Vertreter nach Bangkok entsenden, erhielt Konsulargerichtsbarkeit und Religionsfreiheit, das Recht, ihre Kriegsschiffe siamesische Häfen anlaufen zu lassen, das Recht, britische Untertanen konsularisch zu registrieren sowie ausdrücklich das Privileg, Opium zollfrei einzuführen. 61 Ebenso schloss die britische Regierung noch im Jahr 1895 den „Protektorats“-Vertrag mit den sogenannten „Federated Malay States“ 62, die sie durch diesen Vertrag als souveräne Staaten anerkannte und in denen die Sultanate von Selangor, Perak, Negeri Sembilan und Pahang einbezogen waren. 63 Nicht nur europäische Regierungen, sondern auch die Regierung der USA folgten der Praxis der Anwendung des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge. So schloss die US-Regierung bereits im Jahr 1830 einen Handelsvertrag mit dem Osmanischen Reich. Dieser Vertrag war gleich in dem speziellen Sinn, dass er beiden Vertragsparteien die gleichen Rechte der Handelsfreiheit und der Entsendung diplomatischer Emissäre reziprok einräumte. 64 Ungleich in seinen speziellen dispositiven Bestimmungen war hingegen der Friedens- und Handelsvertrag, der im Jahr 1833 zwischen Muskat und den USA zustandekam. 65 Des weiteren schloss die US-Regierung in den Jahren 1833 und 1850 ungleiche Friedens- und Handelsabkommen mit Siam und Brunei 66, die Handelsfreiheit nur der US-Seite gewährten. Die Handelsverträge waren zumeist als „Freundschaftsverträge“ gestaltet, die unter Benutzung des Formulars der Friedensverträge die rechtliche Basis für Handels-
60
Vertrag von 1826, Art.V, S.305f., Art. VI, S.306; Vertrag von 1855, Art. IV, S.85f.
61
Vertrag von 1855, Art. II, S.85, Art. III, S.85, Art. VI, S.87, Art. VII, S.87, Art.V, S.86f., Art. VIII, S.87f.
62
Siehe oben Kap. 3, Anm.40.
63
Anghie differenziert nicht zwischen seinem Begriff der Souveränität, den er auf die Westfälischen
Verträge zurückführt, nicht aber auf Bodin, und dem Begriff der Völkerrechtssubjektivität. Folglich kann er die Debatte der Juristen an der Wende zum 20.Jahrhundert über den Souveränitätsbegriff nicht adäquat wiedergeben. Siehe Anghie, Imperialism, 56–65; ders., Evolution, 36. 64
Vertrag zwischen der Türkei und den USA vom 7.Mai 1830, Art.I, S.9, Art. II, S.9.
65
Vertrag zwischen Muskat und den USA vom 21.September 1833.
66
Vertrag zwischen dem Königreich Siam und den USA vom 20.März 1833, Art.I, S.212, Art. II, S.212f.;
ersetzt durch den Vertrag zwischen Siam und den USA vom 29.Mai 1856. Der erstere Vertrag folgte inhaltlich dem britisch-siamesischen Vertrag von 1855. Art.I (113) setzte ewigen Frieden zwischen den vertragsschließenden Parteien, obschon der amerikanisch-siamesische Vertrag von 1833 bereits dieselbe Bestimmung enthalten hatte; Vertrag zwischen Brunei und den USA von 1850.
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beziehungen legen sollten. 67 Diese Verträge waren ebenso wie die Abkommen mit afrikanischen Herrschern und Regierungen in der Regel unbefristet ausgefertigt und blieben somit Instrumente der völkerrechtlichen Regelung der Beziehungen zwischen den jeweiligen Vertragspartnern, solange sie nicht durch neue Abkommen ersetzt wurden. Denn die Möglichkeit rechtsgültiger, einseitiger Abänderungen bestehender zwischenstaatlicher Verträge war nach der europäischen Völkerrechtstheorie ausgeschlossen, auch wenn sie in den Verträgen selbst nicht ausdrücklich festgeschrieben war. 68 Die Verträge waren also bereits während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts Vehikel zur Expansion des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge auch und gerade in den Teilen Afrikas und Asiens, in denen damals keine Kolonialherrschaft bestand, sondern die Vertragspartner der europäischen Regierungen und der Regierung der USA als Staaten anerkannt blieben und auch mit Wörtern wie „State“ bezeichnet wurden. Das seit dem 16.Jahrhundert entstandene europäische Gewohnheitsrecht der zwischenstaatlichen Verträge war eng an den Souveränitätsbegriff gebunden, da es den Abschluss rechtsgültiger Abkommen zwischen Staaten, deren Regierungen, Herrschern oder Beauftragten, an die wechselseitige Anerkennung der Souveränität knüpfte. Diese Abkommen konnten also nur unter der Voraussetzung zustande kommen, dass die vertragschließenden Parteien ihren jeweiligen Anspruch auf Souveränität gegenüber ihren Vertragspartnern durchsetzen konnten. Das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge gab mithin das Bewusstsein der vertragschließenden Parteien vor, dass eine Mehrzahl von Souveränen überall im internationalen System bestand. Unter dieser Voraussetzung musste für das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge diejenige Bestimmung zum Tragen kommen, die bereits Jean Bodin aus dem Souveränitätsbegriff für die Beziehungen der Souveräne untereinander gezogen hatte, dass nämlich mehrere Souveräne untereinander rechtlich gleich sein müssten. 69 Verträge unter Souveränen in
67 Zum Begriff des Freundschaftsvertrags siehe Kleinschmidt, Legitimität, 254–257, 274f. 68 Zum Ausschluss der Möglichkeit der einseitigen Vertragsänderung siehe Kleinschmidt, Legitimität, 281–284. Auch die Frage, ob eine durch freien Vertrag zustande gekommene rechtsgültige Norm durch eine neue gewohnheitsrechtliche Norm ersetzt werden könne, wurde im 19. und frühen 20.Jahrhundert nicht aufgeworfen. Dazu siehe Aust, Modern Treaty Law, 13f. 69 Bodin, Six livres de la République, Buch I, Kap. 9, Ndr. 238. Zur Geschichte des Gleichheitsbegriffs siehe Klüber, Europäisches Völkerrecht, Theil II, Titel I, Kap. 3, § 89–122, S.146–195; Dickinson, The Equality of States, 34–99; Kleinschmidt, Legitimität, 192–209.
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Diplomform hatten folglich eine Präambel zu enthalten, die die Gleichheit der vertragschließenden Souveräne durch Koordination von deren offiziellen Bezeichnungen zum Ausdruck brachte. Die Anerkennung der rechtlichen Gleichheit der Souveräne bereitete bekanntlich für die internationalen Beziehungen im europäischen internationalen System bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts Schwierigkeiten, die aus der Tradition des Universalherrschaftsanspruchs des römisch-deutschen Kaisertums resulierten. 70 Dennoch verhinderten diese Schwierigkeiten schon spätestens seit dem 15.Jahrhundert nicht mehr das Zustandekommen rechtsgültiger Abkommen zwischen Souveränen in Diplomform, das heißt nicht als Konkordate im Sinn der Diplomatik. 71 In dem während des 16. und 17.Jahrhunderts sich verfestigenden Formular wurde die Festschreibung der wechselseitigen Anerkennung der Gleichheit der Souveräne in den Präambeln in der Regel durch eine Konjunktion wie „und“ zwischen den Titeln der vertragschließenden Souveräne zum Ausdruck gebracht. Die zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmende Praxis der rückwärtigen Erschließung bestehender zwischenstaatlicher Verträge in gedruckten, das heißt allgemein zugänglichen, Sammlungen 72 trug ihrerseits dazu bei, dass seither nur noch wenige förmliche, ratifizierte oder sonstwie gültig gesetzte zwischenstaatliche Abkommen mit nur rudimentärem Formular auf die förmliche, mit Konjunktionen wie „und“ gestaltete Nennung der souveränen vertragsschließenden Parteien in den Präambeln verzichteten. Neben der Festschreibung der rechtlichen Gleichheit der Souveräne beinhaltete das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge zwei weitere Bestandteile, die für die Vertragstexte stillschweigend vorausgesetzt, also in den Verträgen üblicherweise nicht ausdrücklich geregelt wurden. Dazu zählt zuerst die aus dem römischen Privat- und mittelalterlichem Kirchenrecht entlehnte „Grundnorm“ Pacta sunt servanda. 73 Unter der Voraussetzung der Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses verpflichtet die Grundnorm Pacta sunt servanda die vertragschlie-
70
Dazu siehe Bosbach, Monarchia universalis; Kleinschmidt, Legitimität, 197–199.
71
Zum Beispiel der sogenannte Konstanzer Vertrag zwischen dem gerade neugewählten König und de-
signierten Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Eugen III. von 1152, 86, 88f., 166f. 72
Leibniz, Codex iuris diplomaticus; ders., Mantissa codicis juris gentium; Dumont, Corps universel di-
plomatique. Siehe dazu Verosta, Jean Dumont; ders., Droit international. 73
Dazu siehe Anghie, Imperialism, 72, 79; Kleinschmidt, Legitimität, 220–232; Gong, The Standard of „Civ-
ilization“, 43, hebt zu Recht hervor, dass die vertragsrechtliche Voraussetzung der Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses bei den Kolonial-, insbesondere den Zessionsverträgen, in der Regel nicht gegeben war.
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ßenden Parteien zur unbedingten und buchstabengetreuen Einhaltung derjenigen dispositiven Bestimmungen, die als bindende Verpflichtungen einer oder aller Parteien gesetzt sind, und umfasst implizit die Drohung mit Sanktionen bei ihrer Nichteinhaltung. Bei unbefristeten Verträgen sollte die Grundnorm Pacta sunt servanda für das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge, insbesondere für Friedensverträge, auch besagen, dass solche Abkommen nicht nur die bei Vertragsabschluss amtierenden Herrscher und Regierungen banden, sondern auch deren Erb- oder Amtsnachfolger, und zwar ohne dass eine ausdrückliche Feststellung dieser Bindewirkung in den dispositiven Bestimmungen als erforderlich erachtet wurde. 74 Nach Auffassung nicht nur der europäischen, sondern auch der islamischen Völkerrechtstheorie hat die Grundnorm Pacta sunt servanda für das Völkerrecht als Gewohnheitsrecht gegolten 75, obwohl sie im Völkerrecht, das heißt gegenüber Souveränen, mangels Erzwingungsinstitutionen über den Staaten letztlich nur mit Krieg durchsetzbar gewesen ist. Die Schlussfolgerung, dass die Grundnorm Pacta sunt servanda unausgesprochen die Nichteinhaltung der zwischenstaatlichen Verträge unter die Drohung mit Krieg stellte, war für die Expansion des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge umso bedeutsamer, als der zweite wesentliche, bis 1969 in der Regel unausgesprochen gebliebene Bestandteil dieses Rechts spätestens seit dem 16.Jahrhundert die Gültigkeit dispositiver Vertragsbestimmungen in der Regel an die Niederlegung der Abkommen in Schriftform gebunden hat. Als vereinbart galt demnach nur, was im dispositiven Teil der Verträge ausdrücklich geschrieben stand. In dieser gewohnheitsrechtlichen Festlegung war die Konsequenz einbeschlossen, dass zusätzliche Vereinbarungen nur einvernehmlich durch Verhandlungen zwischen den Vertragsparteien zu treffen und erforderlichenfalls durch einen neuen Vertrag festzuschreiben waren. Die Erfüllung der Grundnorm Pacta sunt servanda setzte also in der Sicht der europäischen Vertragsparteien die Anwen-
74 So beispielsweise Grotius, De jure belli ac pacis, Buch II, Kap. XIV, § 10. Grotius stellte sich gegen die zivilistische Lehre des 16.Jahrhunderts, derzufolge die Grundnorm Pacta sunt servanda nicht aus dem Naturrecht abgeleitet werden könne. Die Pflicht zur Erfüllung von Verträgen ergebe sich nach dieser zivilistischen Lehre aus staatlich gesetztem Recht. Siehe dazu Connanus, Commentariorum juris civilis, Buch I, Kap. 6, Rz 12, S.22. 75 Aust, Modern Treaty Law, 16–24; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 420–422, 602–605; Khadduri, War and Peace, 205; Linderfalk, On the Interpretation of Treaties; Ray, La communauté internationale.
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dung des Schriftlichkeitsprinzips voraus, mindestens für Abkommen, die bindende Verpflichtungen stipulierten. 76 Die Vertreter derjenigen europäischen Regierungen, die während des 19. Jahrhunderts Verträge mit Herrschern und Regierungen in Afrika, West-, Süd- und Südostasien schlossen 77, erlaubten keine Hinterfragung dieser damals gewohnheitsrechtlichen Bestandteile des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge. Wie unter europäischen Herrschern und Regierungen blieben auch in den Verträgen zwischen europäischen sowie afrikanischen, west-, süd- und südostasiatischen Herrschern und Regierungen die Anwendung der Grundnorm Pacta sunt servanda und die damit einhergehende Forderung nach Anerkennung der Gültigkeit des Schriftlichkeitsprinzips unausgesprochen, auch wenn, wie in Afrika, einige der dortigen Vertragspartner der europäischen Regierungen oral kommunizierten und diese Kommunikationsweise in den Unterschriften zu den Verträgen ausdrücklich vermerkt sein konnte. Obwohl folglich die afrikanischen Vertragspartner der europäischen Regierungen keine Notwendigkeit zur Anerkennung des Schriftlichkeitsprinzips gesehen haben können, insistierten die Vertreter der europäischen Regierungen vor Ort auf dessen Anwendung. Sie setzten dadurch das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge durch die Praxis des Abschlusses der Abkommen selbst durch. Zusätzlich zu der Widerwillen unter den Vertragspartnern der europäischen Kolonialregierungen erzeugenden Tatsache, dass das Verfahren des Abschlusses der Kolonialverträge in der Regel nicht dem Gebot der Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses genügte, bereitete die Voraussetzung der Anerkennung der Gültigkeit der Grundnorm Pacta sunt servanda sowie des Schriftlichkeitsprinzips die Grundlage für das Aufkommen von Missverständnissen, beispielsweise über die Art der abgetretenen Rechte am Eigentum an Grund und Boden. Während vielerorts in Afrika sowie anderswo, beispielsweise im Südpazifik, Gemeineigentum an Grund und Boden unter den dortigen Bewohnern als unveräußerlich galt, setzten die europäischen Vertragspartner eine in ihren Abkommen mit Herrschern und Regierungen vor Ort vereinbarte Zession von Land mit der Übertragung sämtlicher Nutzungsrechte in Privateigentum gleich. Wurde die Unvereinbarkeit des Bodenrechts der Europäer mit demjenigen der Bevölkerungen vor Ort nach
86
76
Klabbers, The Concept of Treaty, 12, 249.
77
Zu Ostasien siehe Kleinschmidt, Legitimität, 232–286.
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Vertragsabschluss Anlass für die Infragestellung der Abkommen durch Partner der europäischen Regierungen, konnten langwierige Kriege folgen. 78
5. Rechtliche Gleichheit der vertragschließenden Souveräne und Ungleichheit dispositiver Bestimmungen: Strategien der Vereinbarung des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge mit der kolonialherrschaftlichen Expansion europäischer Regierungen Schwerer jedoch als der Versuch, das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge zu oktroyieren, wog die Festschreibung der rechtlichen Gleichheit der vertragschließenden Souveräne im Verbund mit der Stipulation der Ungleichheit der meisten speziellen dispositiven Bestimmungen, die in der Regel weder äquivalent noch reziprok gefasst waren. Denn die Verträge regelten zumeist nur Rechte der Personen unter der Kontrolle der europäischen vertragschließenden Regierungen in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie Pflichten der dortigen Herrscher und Regierungen gegenüber diesen Personen, nicht aber umgekehrt die Rechte von Personen unter der Kontrolle von Herrschern und Regierungen in Afrika, West-, Süd- und Südostasien in Europa und Pflichten der dortigen Regierungen diesen Personen gegenüber. Die Rechte konnten insbesondere Exterritorialität 79 und Konsulargerichtsbarkeit umfassen, die Pflichten die Erlaubnis zu uneingeschränktem Handel nach den Grundsätzen der europäischen Praxis. Die Verträge verbanden folglich in der Regel die Festschreibung der Gleichheit der vertragschließenden Souveräne in ihren Präambeln mit der Stipulation nicht-reziproker sowie nicht-äquivalenter und daher ungleicher dispositiver Bestimmungen. Denn die Anwendung der impliziten Grundnorm Pacta sunt servanda durch die europäischen Regierungen gestattete es deren Partnern in Afrika, West-, Süd- und Südostasien nicht, ihre Forderung nach flexibler Handhabung der Verträge durch Berücksichtigung des jeweils
78 Zum Beispiel die Māori-Kriege; dazu siehe Abernathy, The Dynamics of Global Dominance, 307–322, der die Kriege aus britisch-etatistischer Perspektive als „rebellion“ kategorisiert; Belich, Paradise Reforged; Sinclair, The Origins of the Maori Wars. 79 Zur Exterritorialität siehe Hoare, Extraterritoriality; Jones, Extraterritoriality; Kayaoğlu, Legal Imperialism, 66–103.
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kulturspezifischen Rechts durchzusetzen. Das Schriftlichkeitsprinzip, mit dem die europäische Seite die Vertragstexte bis auf die Buchstaben verbindlich setzte, verhinderte zudem jeden Versuch der Neufassung einzelner dispositiver Bestimmungen ohne einvernehmliche Neuverhandlung jeweils des gesamten Vertrags, ein Zugeständnis, das die europäischen Regierungen üblicherweise verweigerten. Dennoch blieben die Verträge rechtsgültige Dokumente der Anerkennung der souveränen Gleichheit von Herrschern und Regierungen in Afrika, West-, Süd- und Südostasien durch europäische Regierungen. Als solche standen sie dem Streben nach legaler Errichtung jeder Form von Kolonialherrschaft in diesen Weltteilen entgegen. Die Errichtung von Kolonialherrschaft setzte also den Bruch der bestehenden Verträge, militärische Eroberung oder die Neufassung des öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge durch die europäische Seite voraus, wenn diese in diesen Weltteilen Kolonialherrschaft errichten zu können glaubte. Den Bruch der Verträge als Strategie zur Errichtung von Kolonialherrschaft wählten europäische Regierungen in der Regel nicht. Wohl empfahlen ein deutscher Jurist namens Hermann Hesse und der britische Kolonialadministrator Lord Lugard, die Verträge einfach zu kassieren und zur Errichtung von Kolonialherrschaft militärische Gewalt einzusetzen 80; aber die interessierten Regierungen entschieden entgegen dieser Empfehlung anders 81, offenbar weil sie untereinander konkurrierten 80
So Hesse, Die Schutzverträge, 91; ebenso Lugard, The Dual Mandate, 17, der der Anwendung
militärischer Gewalt gegenüber „naked deception of treaty-making“ den Vorzug geben wollte. Indirekt sprach sich Oppenheim, International Law, Vol.1, § 12, S.17, für den Vertragsbruch aus, indem er behauptete, in den Beziehungen zwischen europäischen Völkerrechtssubjekten und Staaten, die seiner Ansicht nach keine Angehörigen der „Family of Nations“ waren, gelte nicht das Völkerrecht, sondern nur der Wille der in dieser „Family of Nations“ versammelten Völkerrechtssubjekte. Siehe dazu kritisch Anghie, Imperialism, 74, 79; Crawford, Creation of States, 182–184. 81
Der deutsche Generalkonsul für Kamerun Gustav Nachtigal verlangte in seinem Bericht an den
Reichstag vom 16.August 1884, dass vor Errichtung des „Protektorats“ dort abgeschlossene „Handels- und Freundschaftsverträge“ gültig bleiben sollten. Daraus folgte in Nachtigals Wahrnehmung die Anerkennung der fortbestehenden Souveränität der im Protektoratsgebiet bestehenden Staaten. Dazu siehe kritisch Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 25; Twiss, Law of Nations, Vol.1, 11, hatte hingegen noch den aus dem 18.Jahrhundert überkommenen, im Naturrecht gründenden Grundsatz der absoluten Unabhängigkeit und Gleichheit aller Nationen nach dem Völkerrecht postuliert und damit die Kassierung gültiger Verträge ausgeschlossen. Hingegen unterwarf Frankreich Madagaskar im Jahr 1895 seinem „Protektorat“ gegen bestehende bilaterale Verträge zwischen der Regierung von Madagaskar und Dritten. Siehe den Vertrag zur Errichtung eines „Protektorats“ zwischen Frankreich und Madagaskar vom 1.Oktober 1895. Der Vertrag beinhaltete die Anerkennung des „Protektorats durch die Königin von Madagaskar (Art.I, S.74) einschließlich der Anerkennung der Vertretung der äußeren Interessen Madagaskars
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und sich nicht wechselseitig dem Vorwurf ausgesetzt sehen wollten, geltendes Vertragsrecht gebrochen zu haben. So kamen die Teilnehmer der Berliner Afrikakonferenz von 1884/85 darin überein, Verträge mit Herrschern und Regierungen in Afrika als Grundlage europäischer Kolonialherrschaft dortselbst anzuerkennen. 82 Auch die Strategie militärischer Eroberung konnte allgemein nicht zum Tragen kommen, wenn ganze Kontinente und Subkontinente unter europäische Kolonialherrschaft gestellt werden sollten. Zwar schrieb die Schlussakte der Berliner Afrikakonferenz die Stationierung militärischen Personals als Beleg für den als „Okkupation“ bezeichneten Willen zur Dokumentation des Bestehens von Kolonialherr-
durch Frankreich (Art. III, S.75). Die französische Regierung erhielt das Recht, einen diplomatischen Emissär zu entsenden (Art. II, S.74), dem auch die Kontrolle der inneren Verwaltung des Königreichs obliegen sollte (Art.V, S.76). Das Königreich hatte zudem die Pflicht, Frankreich Truppen zu stellen (Art. IV, S.75). Zunächst war die französische Regierung am 7.August 1868 einen Friedensvertrag eingegangen, der zwar der madegassischen Regierung die Zahlung von 10 Millionen Francs als Kompensation für einen vorherigen Krieg auferlegte (Art. VIII, S.494), aber auch einige gleiche Bestimmungen enthielt, so die reziproke Einreisefreiheit (Art. II, S.490) und das reziproke Recht der Entsendung diplomatischer Vertreter (Art.V, S.492). Einseitig waren die Niederlassungsfreiheit französischer Untertanen in Madagaskar (Art. III, S.490), das französische Privileg der Konsulargerichtsbarkeit (Art. VII, S.494) und die madegassische Pflicht, sich nicht in Streitigkeiten der französischen Regierung einzumischen (Art. VI, S.493). Dieses Abkommen war ersetzt worden durch den ungleichen Vertrag zwischen Frankreich und Madagaskar vom 17.Dezember 1885, durch den die französische Regierung die Außenvertretung Madagaskars übernahm (Art.I, S.134), ein französischer diplomatischer Emissär in Tananarive residieren sollte (Art.If., S.134f.) und die Königin von Madagaskar Religionsfreiheit garantierte (Art. VII, S.136). Die Artikel III, VI und VII des Vertrags von 1868 wurden übernommen. Zwischen Madagaskar und dem Vereinigten Königreich bestand ein ungleicher Friedens- und Handelsvertrag vom 27.Juni 1865. Dieser stipulierte neben anderem die Niederlassungsfreiheit britischer Untertanen in Madagaskar (Art. II, S.267), die Religionsfreiheit (Art.3, S.267), die Entsendung eines britischen Emissärs (Art. IV, S.267f.), die Zulassung der Anlandung britischer Kriegsschiffe (Art. IX, S. 269), Konsulargerichtsbarkeit für britische Untertanen (Art. XI, S. 270), die Handelsfreiheit (Art. XIII, S.270), die Unterdrückung des Sklavenhandels (Art. XVII, S.272). Der Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Madagaskar vom 15.Mai 1883 war gleich wie der französisch-madegassische Vertrag von 1868 und bestimmte wechselseitig das Privileg der Entsendung diplomatischer Vertreter und Einreisefreiheit (Art. II). Lebon, La politique, 107–256, begründete die Annexion mit dem Postulat der „Pacification Madagascars und führte zudem das Argument an, dass Sklaverei unterdrückt werden müsse (159-173); Despagnet, Essai sur les protectorats, 324, bestimmte, wohl mit Blick auf Madagaskar, „Protektorate“ als Staaten, deren Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Beziehungen zu anderen Staaten mehr oder weniger eingeschränkt sei, je nach Maßgabe der Protektoratsverträge. 82 Schlussakte der Berliner Afrikakonferenz, Art.34, S.501. In den Jahren 1884 und 1885 sowie auch noch im Jahr 1889 kam es zu zahlreichen Verträgen zwischen Herrschern und Regierungen in Afrika einerseits, der britischen, deutschen und französischen Regierung andererseits. Siehe CTS, Vols. 163 (1978), 164 (1978), 165 (1978), 1–23, Vol.170 (1978), 359–360, Vol.171 (1978), 439–446.
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schaft für alle Konferenzteilnehmer vor, aber diese Bestimmung galt nur für bestehende Kolonialherrschaft, nicht für die Modalitäten von deren Errichtung. Die Kolonialregierungen behalfen sich überdies in der Regel mit dem Anwerben von Soldtruppen aus der unterworfenen Bevölkerung und entsandten nur kleinere Kontingente der ihnen direkt unterstehenden Streitkräfte. 83 So blieb als Strategie der Legalisierung der Errichtung von Kolonialherrschaft nur die Neufassung des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge. Dieser Aufgabe stellten sich einige europäische Völkerrechtsheoretiker an der Wende zum 20.Jahrhundert. Zumal britische Völkerrechtsheoretiker, unter ihnen insbesondere Lassa Francis Oppenheim und John Westlake, befürworteten als Mittel der Legalisierung der Errichtung europäischer Kolonialherrschaft die sachliche Trennung von Souveränität und Völkerrechtssubjektivität. Da die Zuerkennung von Souveränität, auch und gerade in Anbindung an die Zuerkennung von Staatlichkeit, gegenüber denjenigen Staaten unbestreitbar war, mit denen europäische Kolonialregierungen gültige zwischenstaatliche Verträge geschlossen hatten, suchten diese Theoretiker Völkerrechtssubjektivität ohne Rücksicht auf bestehende Souveränität und Staatlichkeit neu zu definieren als die Fähigkeit zum sachlich wie räumlich uneingeschränkten rechtlichen, politischen und militärischen Handeln von Regierungen oder anderen Herrschaftsträgern. Diese Fähigkeit glaubten sie auf diejenigen souveränen Staaten eingrenzen zu dürfen, die sie als „zivilisiert“ anzuerkennen bereit waren. Die Merkmale dieser in Europa konstruierten „Zivilisiertheit“ beschränkten diese Theoretiker auf die Sesshaftigkeit der Bevölkerung eines Staats un-ter der Kontrolle einer einzigen, zentralen Regierung, die Begrenztheit des Staatsgebiets in linearen Grenzen, die Gouvernementalität der Bevölkerungen, ein dem europäischen vergleichbares Verfassungs-, Familien-, Zivil-, Straf-, Boden- und Handelsrecht sowie einige Aspekte von Kultur wie gesamtgesellschaftlich akzeptierter schriftlicher Kommunikationsstandard. Staaten, die diese postulierten Merkmale dem Anschein nach nicht aufzuweisen schienen, klassifizierten die Völkerrechtstheoretiker als „unzivilisiert“. 84 Nach diesem Begriff von „Zivilisiertheit“ ka83
Schlussakte, Art.35, S.501.
84
Hall, A Treatise on International Law, S.100, 114–115, 125–127; Lawrence, The Principles of Interna-
tional Law, § 44, 90, S.58, 136, der Staaten mit Bevölkerungen aus angeblich wandernden Stämmen keine Völkerrechtssubjektivität zuerkennen wollte und „Zivilisiertheit“ als Bedingung für die Anerkennung der Souveränität voraussetzte; Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, Vol.2, 27, der das Zugeständnis der Handelsfreiheit als Bedingung für die Anerkennung der Souveränität eines Staats setzte, und (102) be-
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men als Völkerrechtssubjekte nur souveräne Staaten aus der sogenannten „Family of Nations“ in Europa und Amerika sowie in anderen Kontinenten nur Japan, Siam,
hauptete, die Normen des positiven Völkerrechts brauchten nicht notwendigerweise auf „Wilde“ angewandt zu werden. Die Normen des positiven Völkerrechts seien, so Lorimer, La doctrine, 335, nicht anwendbar auf „l’humanité sauvage“, die lediglich die „reconnaisance naturelle“, das heißt nach dem Naturrecht und vorgeblich nicht beziehbar auf Staaten als Völkerrechtssubjekte, für sich beanspruchen könne. Ebenso Cimbali, Popoli barbari; Trione, Gli stati civili; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 142–145, 177f.; ders., International Law, Vol.1, 128. Schmalz, Das europäische Völkerrecht, 4f., befand, Völker ohne „bürgerliche Gesellschaft“ hätten kein Grundeigentum und seien daher „Horden“. Ebenso Cavaglieri, La conception, 265, der die Fähigkeit zum Schutz des Privateigentums als Hauptmerkmal der „Zivilisiertheit“ nannte; Martens, Einleitung, § 110, Nr.4, S.489f., kategorisierte die „Verwendung von wilden und halbwilden Völkern im Kriege unter civilisirten Staaten“ als „unerlaubte Kriegsmittel“. Mit Blick auf die Ergebnisse der Berliner Afrikakonferenz befand der Tübinger Ordinarius Ferdinand von Martitz, dass „Reviere, in denen Wilde und Halbwilde hausen, nicht als Staatsterritorien anzusehen und zu behandeln sind“, in: Martitz, Das Internationale System, 16f. Schon Roscher, Kolonien, 34, prägte den Begriff der „Kulturkolonie“ und verstand darunter eine Siedlungskolonie, die zum Zweck der „Zivilisierung“ „eines rohen Volkes“ durch „höher gebildete Kolonisten“ gegründet worden sei. Mill, A Few Words, 168, warnte: „To suppose that the same international customs, and the same rule of international morality, can obtain between one civilised nation and another, and between a civilised nation and barbarians, is a grave error, and one which no statesman can fall into. [...] In the first place, the rules of ordinary international morality imply reciprocity. But barbarians will not reciprocate. [...] In the next place, nations which are still barbarous have not got beyond the period during which it is likely to be for their benefit that they should be conquered or held in subjection by foreigners.“ – Noch Kunz, Zum Begriff der „nation civilisée“, 96, Schindler, Völkerrecht und Zivilisation, 79–96, und Schwarzenberger, The Standard of Civilization, 216, ließen den Begriff für die Völkerrechtslehre als Terminus technicus gelten. Zur Kritik des Begriffs der „Zivilisiertheit“ in der Völkerrechtstheorie siehe Anghie, Imperialism, 53–65; Castilla Urbano, El pensiamento de Vitoria, 231–248; Crawford, Creation of States, 177–181; Gong, The Standard of „Civilization“, 61; Grewe, Epochen der Völker. Völkerrechtslehre als Terminus technicus gelten. Zur Kritik des Begriffs der „Zivilisiertheit“ in der Völkerrechtstheorie siehe Anghie, Imperialism, 53–65; Castilla Urbano, El pensiamento de Vitoria, 231–248; Crawford, Creation of States, 177–181; Gong, The Standard of „Civilization“, 61; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 520–535; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 127–132; Long, Paternalism; Mégret, From „Savage“ to „Unlawful Combatants“; Moras, Ursprung und Entwicklung, 6–9, 37f. – Grewe bietet einen Überblick aus der deutschen Perspektive der 1920er, 1930er und 1940er Jahre, die in den Werken von Kunz und Schwarzenberger belegt ist und die den Begriff der Zivilisation als Maßstab zur Eingrenzung des Gültigkeitsbereichs des Völkerrechts einsetzte. Er begrenzt die Reichweite seines Begriffs der „Zivilisation“ auf die Völkerrechtstheorie des englischen und französischen Sprachraums und behauptet gegen die Evidenz der deutschsprachigen Literatur des späteren 19.Jahrhunderts, von „Zivilisation“ sei (außer bei Bluntschli) in der deutschsprachigen Völkerrechtstheorie kaum die Rede. Selbst der Völkerbund ließ in seiner Satzung feststellen, dass Gebiete, die „remote from the centres of civilization“ lägen, von Mandatsträgern verwaltet werden sollten. Dabei sollte Letzteren die Entscheidung zukommen können, ob sie diese Gebiete als integrale Bestandteile ihres Territoriums oder getrennt von Letzterem verwalteten (Art. XXII). Seltsamerweise verwendet noch Reuter, Introduction, 6, die Bezeichnung „civilized nations“. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 680, nennt, ohne Rücksicht auf die Problematik dieser Ausdrucksweise und allen
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Liberia und Äthiopien in Betracht. 85 Den übrigen bestehenden und als souverän anerkannten Staaten verweigerten Völkerrechtstheoreiker die Zulassung als Völkerrechtssubjekte und betrachteten sie als Objekte angemaßter Zivilisationsmissionen, mitunter bei ausdrücklichem Vorbehalt späterer Annexion. 86 Das geschah hauptsächlich mit der Scheinbegründung, dass dort nach Ansicht der Theoretiker die Bevölkerungen dieser Staaten das Staatsgebiet nicht oder nicht vollständig „okkupiert“ hätten, mithin eine Art Nomadendasein ohne Staatsoberhaupt führten und folglich ihnen der europäische Staatsbegriff unbekannt und die Sicherstellung von Gouvernementalität im Sinn der Durchsetzung des Gewaltmonopols der Regierung unmöglich sei. 87 Die Souveränität dieser Staaten sei daher „herrenlos“ und reiche nicht hin zur Ausübung von Völkerrechtssubjektivität. Gleichwohl sei die vollstän-
damit verbundenen Diskriminierungen zum Trotz, die Durchsetzung des ius europeum publicum als global gültiges Völkerrecht „eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft“. 85 Auch der Theoretiker der Friedensbewegung und Friedensnobelpreisträger Fried begrenzte die Zahl der Völkerrechtssubjekte, für die seiner Ansicht nach das „moderne“ Kriegsrecht gelten sollte, noch weiter auf Staaten des von ihm postulierten „europäisch-amerikanischen Kulturkreises“; Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Bd.1, 14f. 86
Siehe den Vertrag zwischen dem Königreich Ashanti und dem Vereinigten Königreich von 1817.
Ebenso spezifizierte der französisch-madegassische Vertrag von 1868, Art. XIV, S.136, ausdrücklich die französische mission civilatrice „à fin de secourer la marche du Gouvernement et du peuple malgaches dans la voie de la civilization et du progrès“ und versprach, die französische Regierung werde „les instructeurs militaires, ingénieurs, professeurs et chefs d’atelier“ entsenden. Der damals amtierende französische Außenminister Gabriel Hanotaux äußerte, das französische „Protektorat“ über Madagaskar sei eine Beschränkung, Begrenzung und Mäßigung, die sich die Französische Republik als siegreiche Macht selbst auferlege, die aber jederzeit den Kriegsrechtstitel der Eroberung wahrnehmen dürfe. Zitiert nach Dupuis, Le droit des gens, 234. Zur französischen Okkupationspolitik gegenüber Madagaskar siehe die zeitgenössische Studie von Piolet/Noufflard, Empire colonial. – Auch Reichskanzler Bismarck bekannte sich zum Ziel der Zivilisationsmission, als er in seiner Eröffnungsrede zum Berliner Afrikakongress forderte, die Eingeborenen Afrikas sollten in den Raum der Zivilisation gehoben werden. Zitiert nach Lindley, Acquisition, 332. 87
Bornhak, Allgemeine Staatslehre, 10; Gareis, Kolonialrecht, 37; Martens, Einleitung, § 63, S.269; Oppen-
heim, International Law, Vol.1 (1905), § 94, 226, S.139f., 281; Taylor, A Treatise, § 136, S.175f.: „migratory Indian nations [...] do not have any international affairs or any real international existence“. Ebenso Adam, Völkerrechtliche Okkupation, 302f.; Fedozzi, Saggio sul protettorato, 156; dagegen Bonfils, Manuel de droit international public, Nr.545, S.360, der aus dem Bestehen der zwischenstaatlichen Verträge den Schluss zog, dass die meisten europäischen Regierungen die Unabhängigkeit der „peuples barbares“ respektierten. Sowie Heffter, Das europäische Völkerrecht, § 70, S.145, der feststellte, keine Macht auf der Erde habe das Recht, seine Gesetze über „Nomaden oder Wilde“ in Kraft zu setzen. Er bewegte sich mithin in den von Grotius, De jure belli ac pacis, Buch II, Kap. 3, § 4, Nr.1, vorgezeichneten Bahnen, der Okkupation als einzige originäre Form des Gebietserwerbs hatte gelten lassen wollen. Die Okkupationstheoretiker als Ideologen der
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dige Okkupation dieser Staaten durch Staaten mit Völkerrechtssubjektivität nur auf der Basis von Zessionsverträgen oder durch Anwendung militärischer Gewalt möglich. 88 Oppenheim und Westlake subsumierten diese Staaten daher unter ihren Begriff des „Protektorats“, den insbesondere Oppenheim als Vorstufe zu Okkupation und Annexion kategorisierte, da seiner Ansicht nach die dortigen Bevölkerungsgruppen angeblich in „tribal communities only“ lebten. 89 Oppenheim deklarierte
Kolonialherrschaft wandten sich zudem gegen die bis ins frühe 19.Jahrhundert herrschende Ansicht, dass überall in der Welt nur unbewohnte Inseln terrae nullius sein könnten. So ausdrücklich Glafey, Vernunfftrecht, 615; Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 221, S.276, wiederholte diese Ansicht, schränkte sie jedoch in ihrer Gültigkeit auf die „Family of Nations“ ein. Zur Kritik der Okkupationstheorie des 19.Jahrhunderts siehe Anghie, Imperialism, 91; Fisch, Mythos vom leeren Land; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 132, 145; Korman, The Right of Conquest, 41–93, insbes. 58–63; Lindley, Acquisition, 10–47; Tuck, The Rights of War and Peace, 123, 156–158. 88 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 221, S.276: „natives may live on a territory under a tribal organisation which need not be considered as a State proper. But a part or the whole of the territory of any State, even though such State is entirely outside the Family of Nations, is not a possible object of occupation, and it can only be acquired through cession or subjugation.“ Ebenso Halleck, International Law, Kap. 3, § 4, S.65; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 134, 137. Zur Theorie der sogenannten „herrenlosen“ Souveränität siehe auch Bornhak, Die Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 6f.; Salomon, L’occupation des territoires sans maîtres, 197. Salomon (ebd.68, 83f.) wandte sich ausdrücklich gegen „Kolonisierung“ durch private Kolonialgesellschaften und befürwortete staatliche Okkupation; vgl. Roscher, Kolonien, 374–425, insbes. 419. Siehe dazu Anghie, Imperialism, 91; Fisch, Mythos vom leeren Land; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 130–133, 145. Andere Juristen meinten, völkerrechtliche Verträge, die europäische Regierungen mit Partnern in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie dem Südpazifik geschlossen hätten, müssten bindend sein, da die europäischen Regierungen mittels solcher Verträge die Souveränität ihrer Partner anerkannt hätten. So Bendix, Kolonialjuristische und -politische Studien, 25; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 282f. Tatsächlich kam es jedoch nicht zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols als wichtigstem Element der Gouvernementalität der Kolonialregierungen in den unter ihrer Kontrolle stehenden „Protektoraten“. Siehe Bührer, Chartergesellschaft, 237–250 (zu Tanganyika); Trotha, Koloniale Herrschaft, 79–85 (zu Togo). 89 Zu Oppenheims Begriff des Protektorats siehe: Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 226, S.281: „Neither can they [the Protectorates, H.K.] be compared with the protectorate of members of the Family of Nations exercised over such non-Christian states as are outside that family, because the respective chiefs of natives are not the heads of States, but heads of tribal communities only. Such agreements, although they are named „Protectorates“, are nothing else than steps taken to exclude other Powers from occupying the respective territories. They give, like discovery, an inchoate title, and are preparations and precursors of future occupation.“ Dazu auch Alexandrowicz, Confrontation, 69–81; Anghie, Imperialism, 87–90; Crawford, Creation of States, 198–201; Johnston, Sovereignty, 206; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 554, verwendet Oppenheims Formel unkritisch, indem er das „Protektorat“ eine „verschleierte Form der Annexion“ nennt. Unter den britischen Delegierten, die während der Berliner Afrikakonferenz die Bezeichnung „Protektorat“ in ihrer untechnischen Bedeutung bevorzugten, war Sir John Pauncefort.
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also die zwischen den Kolonialregierungen und den Opfern von Kolonialherrschaft bestehenden zwischenstaatlichen Verträge als unwirksam, da die Parteien dieser Verträge in seiner Sicht keine Völkerrechtssubjekte der „Family of Nations“ waren. Westlake bezog, anders als seine älteren Zeitgenossen 90, seinen Begriff des „Protektorats“ auf jede Form eines abhängigen, auch okkupierten Gebiets. 91 Westlake zufolge sollten in Staaten, die „Protektorate“ europäischer Regierungen geworden oder in solchen gelegen waren, die Protektoratsträger die Kontrolle über alles Land für sich reklamieren können, das die Bewohner nicht im europäischen Rechtssinn als Privateigentum besaßen. 92 Dieses Land sollte Migranten aus den Protektoratsträgerstaaten zur Aneignung offen- und für die Anlage von Plantagen zur Verfügung stehen. Herrscher und Regierungen in den „Protektoraten“ sollten ihre Befugnis zur Verfolgung einer eigenen Außenpolitik verlieren und sämtliche Beziehungen zu anderen Staaten über die Protektoratsträger laufen lassen. 93
6. Die Trennung von Souveränität und Völkerrechtssubjektivität in der Theorie der internationalen Beziehungen und der Staatenpraxis In der vergröbernden Argumentation der zeitgenössischen Theorie der internationalen Beziehungen gerann das „Protektorat“ zu einer scheinbar flexiblen kolonialpolitischen Institution, die an das politische Interesse der Kolonialregierungen,
Dazu Johnston, Sovereignty, 206. Zur Diskussion um den Begriff der Okkupation auf der Berliner Konferenz siehe die Konferenzprotokolle, in: Martens/Hopf (Eds.), Nouveau Recueil, Vol.10, 333f., 341–348. Zur Diskussion des unterschiedlichen Wortgebrauchs siehe: Crowe, The Berlin West Africa Conference, 178–190; Fisch, Africa as terra nullius, 354–360. 90
Stengel, Die staats- und völkerrechtliche Stellung , 24.
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Zu seinem Begriff des Protektorats siehe Westlake, Chapters on the Principles of International Law,
141, 144, 177f., 184; ebenso Hall, A Treatise on International Law, 126; Lorimer, Institutes, Vol.1, 101. 92
So ausdrücklich beispielsweise im Vertrag zwischen Buganda und dem Vereinigten Königreich vom
10. März 1900. 93
Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 177f.; ebenso Stengel, Deutsche Kolonialpo-
litik, 25. Siehe dazu Anghie, Imperialism, 87–90; Kämmerer, Völkerrecht, 404–409; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 402f. Die Vertragspraxis sah diese Regelung gegenüber Staaten in Afrika schon kurz nach der Berliner Afrika-Konferenz vor, so beispielsweise der französisch-madegassische Vertrag von 1885, Art. II, S.134.
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nicht aber an das Recht gebunden sei. 94 Diese Institution stehe zur Verfügung als Instrument zur Errichtung von Einflusszonen als ein vorübergehendes Areal der Intervention, die zur vollständigen Annexion führen müsse. 95 „Protektorate“ als Institutionen der Kolonialherrschaft seien bestimmt durch das Fortbestehen sogenannter eingeborener Autoritäten, den Verzicht dieser Autoritäten auf Beziehungen zu anderen Staaten als dem Protektoratsträger sowie auf das ius ad bellum, das Zugeständnis der Niederlassung eines residenten Vertreters des Protektoratsträgers, das Bestehen eines Vorrangs der Interessen des Protektoratsträgers über die Gesetze und Sitten der sogenannten Eingeborenen, insbesondere solche Gesetze und Sitten, die die Gouvernementalität des „Protektorats“ beeinträchtigten, mithin „gross misrule, hopeless indebtedness to barbarous practice which would offend the elementary ideas of humanity“. 96 Die mit diesen sogenannten Eingeborenen geschlossenen Verträge stünden einer zügigen Annexion nicht entgegen, da die Vertragspartner der europäischen Kolonialregierungen „native chieftains“ seien, „who very often did not have the remotest knowledge of the true import of the instrument which they were induced to sign“. 97 Zuschreibungen angeblich mangelnder Gouvernementalität und „Zivilisiertheit“ sollten mithin als Vorwand für angebliche Pazifizierungsmissionen und als Grund für den ausdrücklich anerkannten Bruch bestehenden Rechts auf Seiten der Kolonialregierungen dienen können. Gleichwohl galten in der Staatenpraxis nicht alle abhängigen Gebiete als „Protektorate“. Die Insel Hong Kong beispielsweise war „Crown Property“, im Jahr 1842 durch Vertrag in das erbliche Eigentum Königin Viktorias gelangt. 98 Die „Crown Colony“ von Freetown, gegründet im Jahr 1793, an der westafrikanischen Küste (heute in Sierra Leone) 99, seit 1808 unter der Kontrolle eines britischen Gouverneurs, wurde in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts durch eines Reihe von Zessionsverträgen mit benachbarten Regierungen erweitert. 100 Auch die einseitige Erklä-
94 Reinsch, Colonial Government, 109. 95 Ebd.110, 112. 96 Ebd.111. 97 Ebd.112. 98 Britisch-chinesischer Vertrag von Nanjing, Art. III, S.467; dazu Anghie, Imperialism, 72f., 85. 99 Matthews, Voyage; Wadström, An Essay on Colonization; Account of the Colony of Sierra Leone from Its Establishment in 1793; siehe dazu Alldridge, A Transformed Colony; Ferguson, Empire, 118–123. 100 Dazu siehe oben Kapitel 3, Anm.47–49, sowie den zeitgenössischen ethnographischen Bericht von Alldridge, The Sherbro.
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rung britischer Souveränität über die Māori in Aotearoa (Neuseeland) im sogenannten „Vertrag“ von Waitangi konstituierte kein völkerrechtliches Protektoratsverhältnis, sondern britische staatliche Herrschaft. 101 Aber für die meisten übrigen abhängigen Gebiete musste im Sinn der Völkerrechtstheorie Protektoratsstatus auf der Basis bestehender Verträge und häufig gegen deren Wortlaut geltend gemacht werden. 102 Mitunter konnten „Protektorate“ sogar durch bilaterale Verträge errichtet werden über Staaten, die nicht Parteien dieser Verträge geworden waren. So regelte der bilaterale Vertrag zwischen Buganda und dem Vereinigten Königreich vom 10.März 1900 zwar primär die bilateralen Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten, legte aber zugleich die Grenzen des zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gerade erst errichteten „Uganda Protectorate“ fest. Innerhalb dieser Grenzen lagen nach Maßgabe dieses Vertrags nicht nur Buganda, sondern auch dessen Nachbarstaaten Ankole, Toro und Bunyoro sowie einige nördlich gelegene Gebiete. 103 Die später mit Toro
101 „Vertrag“ von Waitangi zwischen Māori und dem Vereinigten Königreich vom 5./6.Februar 1840, 475. Siehe dazu Adams, Fatal Necessity; Kleinschmidt, Legitimität, 287–289; Laubach, Der Vertrag von Waitangi; Osterhammel, Verwandlung der Welt, 717, bezeichnet das Unrechtsdokument als „kein brutales imperialistisches Dekret“ und wundert sich, dass „[d]ennoch“ „Krieg aus dem Vertrag“ resultierte. Anghie, Imperialism, 93–95, verweist auf die Einlassung des amerikanischen Delegierten Kasson während der Berliner Afrikakonferenz, die europäische Expansion nach Afrika solle „on consent“ basieren, und erhebt den Anspruch, Kassons Vorschlag sei von den europäischen Verhandlungspartnern als neuartig empfunden und aufgegriffen worden. Dabei übersieht Anghie, dass der Rekurs auf angebliche Zustimmung der Opfer europäischer Kolonialherrschaft bereits in das Waitangi-Edikt geschrieben worden war. Anders als in Neuseeland bestand nach dem Vertrag zwischen Frankreich und Tahiti (damals die sogenannten „Gesellschaftsinseln“) vom 5.August 1847, Art.1, S.240, Tahiti als souveräner Staat unter französischem „Protektorat“ fort. Die deutsche Regierung schloss noch am 1.November 1876 einen überwiegend gleichen, aus vielen reziproken dispositiven Bestimmungen bestehenden Freundschaftsvertrag mit Tonga, der neben anderem jeweils wechselseitig die Freistellung vom Militärdienst (Art. II, S.118), Garantie der Einreisefreiheit (Art. III, V, VI, S.118–120) und Zulassung des freien Handels (Art. IV, S.119) vorschrieb. Die US-Regierung zog am 2.Oktober 1886 nach und traf ein ebenfalls weitgehend gleiches Abkommen mit Tonga. Diese Verträge wurden durch das Abkommen zwischen Tonga und dem Vereinigten Königreich vom 18.Mai 1900 kassiert, durch das der König von Tonga sich britischem „Protektorat“ unterstellte (Art. II, S.415) und auf alle eigenständigen Außenbeziehungen verzichtete (Art.I, S.415). Die britische Regierung erhielt das Recht, einen konsularischen Vertreter zu entsenden, der nicht befugt sein sollte, in die inneren Angelegenheiten des Königreichs einzugreifen. Da im Jahr 1899 die deutsche Regierung auf ihre aus dem Vertrag von 1876 erwachsenen Rechte verzichtet hatte, reklamierte die britische Seite die Konsulargerichtsbarkeit für alle ausländischen Bürger (nach Art. IV, S.416). 102 Auch für den Bereich französischer Kolonialherrschaft in Afrika, siehe beispielsweise den Vertrag zwischen Frankreich und Wallo von 1819 und den französisch-madegassischen Vertrag von 1885.
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(1900) 104, Ankole (1901) 105 und Bunyoro (1933) 106 geschlossenen Verträge enthielten diese Passagen nicht. Mit Hilfe ihres neugefassten Begriffs des „Protektorats“ gelang es mithin den die Völkerrechtstheorie umsetzenden europäischen Kolonialregierungen, Völkerrechtssubjektivität auf diejenigen souveränen Staaten einzuschränken, die weder Kolonial- noch Protektoratsstatus hatten. Da dieser für die meisten derjenigen Gebiete galt, die im politischen, außerjuristischen Jargon der verschiedenen europäischen Sprachen als „Kolonien“ bezeichnet wurden, war mit der völkerrechtlichen Bestimmung eines Gebiets als „Protektorat“ politisch die Aberkennung von dessen Völkerrechtssubjektivität verbunden. Die Beziehungen zwischen den europäischen Kolonialregierungen und deren „Protektoraten“ blieben nach der Theorie völkerrechtlich, auch wenn die staatliche Verwaltungspraxis dieselben Beziehungen nicht als völkerrechtlich, sondern als innerstaatlich kategorisierte. 107 Da die „Protektora103 Vertrag zwischen Buganda und dem Vereinigten Königreich von 1900, Art.I, S.315f., Art. XXI, S.325 (CTS). Die britische Regierung hatte bereits im Jahr 1893 einen Protektoratsvertrag mit Buganda geschlossen, der aber nicht ratifiziert worden war. Dazu siehe unten Kap. 4, Anm.135. 104 Vertrag zwischen Toro und dem Vereinigten Königreich 1900. 105 Vertrag zwischen Ankole und dem Vereinigten Königreich vom 7. August/25.Oktober 1901; Art. II dieses Vertrags spricht von dem Staat bereits als „Ankole district“ (CTS, 24f.). 106 Vertrag zwischen Bunyoro und dem Vereinigten Königreich von 1933. 107 Bereits nach dem [ersten] Foreign Jurisdiction Act vom 29.August 1843 (6/7 Victoria, c. 94) konnte mit Blick auf den Nanjing-Vertrag von 1842 die britische Krone von Rechtswegen „hold, exercise and enjoy any power or jurisdiction which Her Majesty now hath or may at any time hereafter have within any country or place out of Her Majesty’s dominions in the same and ample manner as if Her Majesty had acquired such power or jurisdiction by cession or conquest of territory“; in Madden/Fieldhouse (Eds.), Select Documents, 13–15, hier 13. Der Erlass folgte der Argumentation des Juristen Scott, Report, 255, der ausdrücklich die aus der Zession Hong Kongs durch den Nanjing-Vertrag folgenden Rechte der britischen Krone als Widerruf der Souveränität über diese Insel durch die Ching-Regierung kategorisierte. Damit war der Erwerb exterritorialer Herrschaftsrechte durch Vertrag, wie etwa den Nanjing-Vertrag von 1842, mit Zession und Eroberung rechtlich gleichgestellt. Westlake, International Law, Vol.1, 125, definierte dementsprechend ausdrücklich „Protektorate“ in seinem Sinn als Regionen, „in which there is no State of International Law, to be protected, but which the power that has assumed it does not yet claim to be internationally its territory, although that power claims to exclude all other states from any action within it“. „Protektorate“ galten ihm folglich zwar als Staaten, jedoch nicht als Subjekte des Völkerrechts, sondern als Objekte der Herrschaft der Kolonialregierungen. Die britische Regierung war gleichwohl noch nach dem Interpretations Act vom Jahr 1889 (52/53 Victoria c. 63) gehalten, zwischen „British Possessions“ als Teilen der Herrschaftsgebiets des englischen Königs und „British Colonies“ als britischen Besitzungen außerhalb des Vereinigten Königreichs zu unterscheiden. Ebenso Westlake, International Law, Vol.1, 22f.; siehe dazu Jenkyns, British Rule, 2, und Kamanda, A Study of the Legal Status of Protectorates, 17, die Westlakes Begriff des „Protektorats“ als für seine Zeit gültig setzten. Umgekehrt befand Despagnet, Essai sur les protectorats, 324, die „Pro-
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te“ in ihrer Mehrzahl durch zwischenstaatliche Verträge zustande gekommen waren, schien das Postulat möglich, dass die aus diesen Verträgen resultierende europäische Kolonialherrschaft legal im Sinn des Völkerrechts und der Anspruch auf Kolonialherrschaft legitim seien. Die sachliche Trennung von Souveränität und Völkerrechtssubjektivität diente indes nicht nur der Scheinlegitimierung des Strebens nach Kolonialherrschaft, sondern auch der politischen Hierarchisierung der souveränen Staaten untereinander. Durch Aberkennung der Völkerrechtssubjektivität der von ihnen abhängigen Staaten schufen die europäischen Kolonialregierungen ein paradoxes System der völkerrechtlichen Ungleichheit, das unter Verweis auf die angeblich mangelnde „Zivilisiertheit“ von Staaten in Afrika, West-, Süd- und Südostasien den etablierten Rechtsgrundsatz der Gleichheit der Souveräne aushebelte. Für die USA war dieser Schluss schon durch das oft zitierte Urteil des Supreme Court vom Jahr 1831 zur Frage der Möglichkeit der Anwendung von Bundesrecht zugunsten der Cherokee in den südöstlichen Appalachen, aber gegen den Bundesstaat Georgia, in dessen Territorium das Gebiet der Cherokee lag, entschieden. 108 Das Gericht hatte sich für nicht zuständig erklärt und dadurch den Cherokee die Möglichkeit einer Anrufung der Bundesregierung gegen Georgia verweigert. Es hatte hingegen den von den Chero-
tektorate“ behielten zwar Völkerrechtssubjektivität, seien aber zur Aufrechterhaltung internationaler Beziehungen nur eingeschränkt in der Lage. Dazu kritisch Lange, Lineages, 27–33; Morris, Protection, 44; Pennell, The Origins. Die „British Colonies“ konnten hingegen höchst unterschiedlichen Herrschaftspraktiken unterworfen sein, wie schon der zeitgenössische Völkerrechtler Taylor, A Treatise, § 117, S.157, notierte: „The English colonial system thus embraces almost every form of government, from the autocratic high commissioner, who legislates for savage Basutoland by the issuance of proclamations merely, up to the complex federal union under which the self-governing communities of Canada control their own destinies with scarcely any interference whatever from the parent state.“ Dies gegen die immer wiederholte Meinung, für das British Empire sei so etwas wie „indirect rule“ generelle Praxis gewesen. So noch neuerdings Gerring/Ziblatt/Gorp/Arévalo, An Institutional Theory, 389–400, 416. 108 Zwischen den Cherokee und den USA bestand seit 1819 ein Zessionsvertrag, demzufolge die Cherokee ihr Gebiet zu räumen hatten. Zuvor hatten die USA mit Verträgen vom 2.Juli 1791, 2.Oktober 1798, 7.Januar 1806 und 14.September 1816 die Cherokee als selbständigen Staat anerkannt. Weder der Supreme Court noch die völkerrechstheoretische Literatur des 19.Jahrhunderts bezogen sich jedoch auf diese Verträge. Zu Verträgen zwischen europäischen Staaten und Native Americans siehe Eick, Indianerverträge; Fisch, Völkerrechtliche Verträge; Jennings, The Ambiguous Iroquois Empire; Langrod, Les traités des Indiens. Die US-Regierung folgte in ihrer Vertragspolitik bis 1831 mithin dem Vorbild der britischen Kolonialmacht, die im 18.Jahrhundert Verträge mit Native Americans abgeschlossen hatte. Dazu siehe als Beispiel den Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen den Huronen und dem Vereinigten Königreich vom 18.Juli 1764.
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kee beabsichtigten Abschluss eines Bündnisses als gegen die Interessen der USA gerichteten Akt bezeichnet, da die Cherokee sich unter den Schutz der Regierung der USA gestellt, sich auf deren Güte und Macht verlassen und den Präsidenten der USA
als „their great father“ angeredet hätten. Da der Supreme Court den Cherokee die Möglichkeit des Abschlusses eines Bündnisses jedoch nicht grundsätzlich bestritt, besaßen die Cherokee diesem Urteil zufolge zwar souveräne Staatlichkeit, die sie aber nicht zur Gestaltung internationaler Beziehungen einsetzen durften. Für den Fall, dass dies geschähe, drohte der Supreme Court mit Krieg. Er verweigerte durch das Urteil den Cherokee Völkerrechtssubjektivität und formte die Beziehungen der Cherokee zu den USA im konventionellen Rechtsbegriff der Trägerschaft eines „Protektorats“ durch die US-Regierung. 109 Die US-Regierung reagierte prompt auf das Urteil und zwang die Cherokee schon im Jahr 1832 zur Umsiedlung in ein Reservat nach Oklahoma. Der bis dahin anerkannte Staat 110 der Cherokee wurde zerstört.
7. Siedlungskolonien und „Protektorate“ als Gegenstände völkerrechtlicher Theoriebildung Der in Heidelberg lehrende Schweizer Jurist Johann Caspar Bluntschli (1808– 1881) 111 formulierte im Jahr 1868 die theoretischen Grundlagen für den Missbrauch des Völkerrechts als Instrument der Legitimierung von Kolonialherrschaft. Für ihn waren „Colonialstaten“ dem „Mutterstate“ untergeordnet, aber durch Zugeständnis des letzteren „halbsouveräne Staten“ geworden. Diesen Begriff der „Colonialstaten“ grenzte Bluntschli ausdrücklich auf europäische Siedlungskolonien wie Kanada und Australien ein. 112 Von diesem „Colonialstaten“ unterschied Bluntschli jedoch „mancherlei Nebenländer“, die „durch Eroberung dem Hauptstate unterworfen“ worden seien. Als Beispiele nannte er „die Ostindischen Länder“ und „Algier“, die
109 30 U. S.1 (1831), http://caselaw.lp.findlaw.com/scripts/getcase.pl?const=US&vol=30&invol=1. Der Text des Urteils ist zitiert in: Taylor, A Treatise, § 136, S.175f. Dazu auch Fiore, Nouveau droit international publique, Nr.343, S.301f.; Calvo, Le droit international, § 71, S.108–110. 110 Dazu siehe den Bericht von Bartram, Travels. 111 Zu Bluntschli, Professor für Staatsrecht an der Universität Heidelberg, siehe Lyons, Internationalism, 216; Neff, War, 168, 264f.; Röben, Johann Caspar Bluntschli; Steiger, Völkerrecht, 69f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 430–433. 112 Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 79, S.95f.
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dem Vereinigten Königreich respektive Frankreich unterstellt seien. In diesen „Nebenländern“, erwartete Bluntschli, sei „es schwerer, dieselben zu statlicher Selbständigkeit herauszubilden, als die eigentlichen Colonialländer“. 113 Bluntschlis Unterscheidung ist bemerkenswert, da sie vor der Berliner Afrikakonferenz, dem „Scramble for Africa“ sowie dem Ausgreifen der europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA auf die gesamte Inselwelt des Südpazifik belegt ist. Für Bluntschli bestand folglich kein Konflikt zwischen dem Recht der zwischenstaatlichen Verträge und der Machtpolitik der Kolonialregierungen. Herrschaft, die nicht auf europäischen Siedlungskolonialismus gegründet war, war für ihn nur als Resultat militärischer Okkupation rechtlich begründbar, und diese schloss Staatlichkeit und Souveränität der Beherrschten ex definitione aus. Bluntschlis „halbsouveräne Staten“ konnten außerhalb Europas mithin nicht aus eigenem Recht bestehen, sondern nur aufgrund von Privilegien der Kolonialregierungen. Das Völkerrecht, wie Bluntschli es konzipierte, blieb als Normensystem zur Regelung der Beziehungen zwischen europäischen Kolonialregierungen und ihren überseeischen Dependenzien ungeeignet. Im Fall der Expansion der Herrschaft der Regierung der USA in Nordamerika hatte nach Bluntschlis Lehre die Regierung der USA keinerlei Veranlassung zur Ausgabe irgendwelcher Privilegien. Folglich war deren Herrschaft über die Cherokee und andere Staaten der Native Americans kein Gegenstand des Völkerrechts. Nach der Berliner Afrikakonferenz wurde diese einfache begriffliche Unterscheidung zwischen Kolonialherrschaft tragenden Staaten und okkupierten „mancherlei Nebenländern“ unhaltbar. Dies geschah sowohl, da die Beschlüsse der Konferenz zwischenstaatliche Verträge zwischen den europäischen Kolonialregierungen und Staaten in Afrika ausdrücklich gültig setzten, als auch weil der schiere geografische Umfang der europäischen kolonialherrschaftlichen Expansion seit der Mitte der 1880er Jahre die verniedlichende Sammelbezeichnung „mancherlei Nebenländer“ als untauglich erwies. Die Völkerrechtstheorie passte sich der durch die Berliner Afrikakonferenz geschaffenen Rechtslage sehr schnell an. Franz von Holzendorff (1829–1889) 114 beispielsweise kam schon im Jahr 1887 zu dem Schluss, dass diejeni-
113 Ebd.§ 80, S.96. Ein Beispiel für einen frühen „Protektorats“-Vertrag im Sinn von Bluntschlis Begriff der „mancherlei Nebenländer“ ist der sogenannte Friedensvertrag zwischen der VOC und dem „Rat“ der Insel Tidore (Molukken) vom 17.Dezember 1783, der in Art.11 (Grewe [Hrsg.], Fontes, 404f.) den Bewohnern von Tidore, die in einem zuvor geführten Krieg gegen die VOC unterlegen waren, „beschirming“ zusagt für den Fall, dass sie sich der Herrschaft der VOC unterwerfen würden.
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gen „Protektorate“, auf die sich die Expansion der europäischen Kolonialregierungen erstreckte, überhaupt nicht als Staaten organisiert seien. Sie seien daher weder „halbsouverän“ noch „überseeische Schutzgebiete“ im Rechtssinn. Denn: „Zunächst kann bei den hier in Betracht kommenden Verhältnissen von neustaatlichen Bildungen auf wüsten oder von Nomadenstämmen bewohnten Gebieten überhaupt keine Rede sein. Vertragsmäßig vereinbarte Angränzung staatlicher Competenzen zwischen Unterstaaten und Oberstaaten wird schon aus dem Grund unmöglich, weil den Häuptlingen barbarischer Völkerstämme die Elementarbegriffe des staatlichen Lebens überhaupt fehlen.“ 115 Holtzendorff ging also davon aus, dass die europäische Wahrnehmung indigener Bevölkerungsgruppen in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und im Südpazifik als vermeintlich „unzivilisierte“ „Nomadenstämme“ nicht nur auf Tatsachen gegründet sei, sondern die Anerkennung dieser Bevölkerungsgruppen als Bewohner von Staaten geradezu mit Notwendigkeit ausschließe. Da in Holtzendorffs Sicht weder klar und linear umgrenzte Staatsgebiete noch sesshafte Bevölkerungen in den Gebieten bestanden, die unter die Kontrolle der europäischen Kolonialregierungen kamen, gab es in diesen Gebieten keine Staaten im Sinn des europäischen juristischen Staatsbegriffs des 19.Jahrhunderts. Die dieser Ansicht entgegenstehenden Wortlaute der zwischenstaatlichen Verträge ließ Holtzendorff nicht gelten, da er in den Vertragspartnern der europäischen Kolonialregierungen keine handlungsfähigen Herrschaftsträger, sondern vermeintlich nicht-gouvernementale Häuptlinge „barbarischer Völkerstämme“ ausmachte. Da den Vertragspartnern der europäischen Kolonialregierungen Gouvernementalität abgehe, seien diese Verträge nicht auf die in diesen Gebieten lebenden sogenannten „Eingeborenen“ zu beziehen, sondern auf dort lebende Europäer und Händler. Die Verträge gewährten, Holtzendorff zufolge, den sogenannten „Eingeborenen“ keinen „Schutz“. 116 Hingegen sei die „Errichtung einer Schutzgewalt“ aufzufassen als eine „zu rechtfertigende Beschränkung der Staatsgewalt des Eingeborenenstaates“ mit „kulturell tiefer stehender Bevölkerung“,
114 Zu Holtzendorff, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität München, siehe Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 132; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 378. 115 Holtzendorff, Staaten, § 27, S.115f.; ebenso Liszt, Das Völkerrecht, § 10, S.98. Anders der Staatsrechtler Rehm, Allgemeine Staatslehre, § 19, S.81, der noch im Jahr 1895 Bluntschli ausschrieb. Zu Liszt (1851–1919) als „Reformer“ und „Liberaler“ siehe Herrmann, Das Standardwerk, 175–252; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 350. 116 Ebenso Lentner, Das internationale Colonialrecht, 42–50.
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urteilte der Münchner Völkerrechtler Karl Gareis (1844–1923). 117 Die Kolonialregierungen schienen somit dazu legitimiert, in den „Schutzgebieten“ sämtliches Land als „herrenlos“ zu betrachten, das nicht als im Privatbesitz von „Eingeborenen“ stehend erkennbar zu sein schien. Dieses von vermeintlichen „Nomaden“ angeblich nicht genutzte Land stehe zur Übereignung an europäische Siedlungskolonisten zur Verfügung. 118 Genauso wie Holtzendorff und Gareis erkannte wenig später Oppenheim den „Protektoraten“ außerhalb Europas den vertragsrechtlich konstituierten Status von Schutzgebieten ab und sah diese stattdessen durch die völkerrechtlichen Verträge als Ziele künftiger Okkupation reserviert. 119 Die europäische „Family of Nations“ konstruierten nicht nur Oppenheim, sondern auch Westlake wie schon Lorimer vor ihnen als Klub, in den Aufnahme durch Kooptation der Mitglieder stattfinde. 120 Bei der Aufnahme sei das religiöse Bekenntnis nicht allein maß-, aber ausschlaggebend. Vertragspartnern der europäischen Kolonialregierungen außerhalb der „Family of Nations“ könne die Gültigkeit des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge nicht garantiert werden. Die Opfer europäischer Kolonialherrschaft seien daher der Okkupation der europäischen Kolonialregierungen unterworfen, auch wenn faktisch anders lautende zwischenstaatliche Verträge bestünden. Oppenheim knüpfte ausdrücklich an Bluntschli an und radikalisierte dessen Position: Die sogenannten „Protektorate“, die europäische Kolonialregierungen durch Verträge mit „chiefs of these tribes“ errichtet hätten, seien lediglich vorgehalten für spätere Okkupation. 121 Die Verträge zwischen Protektoratsträgern und jenen angeblichen „chiefs“ seien mithin ohne jede rechtliche Bindewirkung. Dasselbe brachte Adolf Lasson (1832–1917), Oberlehrer an der Louisenstädtischen Realschule in Berlin, seit 1897 Honorarprofessor für Philosophie an der Universität Berlin, bereits im Jahr 1871 auf die popularphilosophisch einfache pragmatische machtpoli-
117 Gareis, Deutsches Kolonialrecht, 2; zu Gareis siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 439f. 118 Stengel, Deutsche Kolonialpolitik, 25, hier mit ausdrücklichem Bezug auf Entscheidungen der deutschen Kolonialverwaltung in Neuguinea. 119 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 226, S.280f.; Roberts-Wray, Commonwealth, 47, erkannte noch im Jahr 1966 Oppenheims Protektoratsdefintion als gültig an. 120 Lorimer, Institutes, Vol.1, 101: „The sphere of plenary political recognition belongs to all the existing states of Europe, with their colonial dependencies.“ Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 71–75, S.108–114; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 82, 104. 121 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 91, 94, S.136, 140.
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tische Formel: Eine „Verabredung des Mächtigen mit dem Schwachen hat gar keinen Sinn – der Mächtige bricht den Vertrag, der Schwache kann sich nicht widersetzen“. Lasson folgerte aus dieser Behauptung, Staatsverträge seien „so lange vernünftig, als sie das gegenseitige Verhältniss der Macht zwischen dem Paciscierenden im wesentlichen correct ausdrücken“, jedoch ungerecht sei „jeder Vertrag, der den Machtverhältnissen widerspricht“. Nur in einem Universalstaat sei Recht möglich; da dieser aber unmöglich sei, gebe es kein Völkerrecht. Macht setzte, Lasson zufolge, Recht. 122 Die Vertragspartner der europäischen Kolonialregierungen in Afrika, West-, Süd und Südostasien sollten gewissermaßen Staaten zweiter Klasse sein, in ihrer „inneren Interessenvertretung“ sowie auch in ihrer „äusseren Politik beschränkt“: 123 „Die in den Protektoratsverträgen vielfach vorkommende Betonung der Unabhängigkeit des Unterstaates dürfte hier nicht entscheidend sein; maßgebend ist die Natur des Protektorats überhaupt“ 124, dozierte der Münchner Jurist Emanuel von Ullmann. Die Völkerrechtstheorie gruppierte einfach die souveränen Staaten in „Unter-“ und „Oberstaaten“ 125, verzichtete dadurch großzügig auf den sonst im juristischen Schrifttum peinlich genau befolgten Rekurs auf Rechtsquellen und formulierte im Potential. In diesem internationalen System, das durch den Klub der Angehörigen der „Family of Nations“ beherrscht zu sein schien, konnten nicht nur nicht-staatliche Akteure wie die Fernhandelskompanien nicht mehr Träger von Völkerrechtssubjektivität sein, wie noch zu Beginn des 19.Jahrhunderts 126, sondern auch die
122 Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, S.57f., 62f. Wenigstens war Lasson konsequent, indem er die Gültigkeit zwischenstaatlicher Verträge ausschließlich im Rahmen der clausula de rebus sic stantibus geregelt wissen wollte, nicht aber nach der Grundnorm Pacta sunt servanda (65f.). Zu Lasson siehe Lüderssen, Genesis; Steiger, Völkerrecht (1992), 130f.; ders., Völkerrecht (1997), 70–73. 123 Gareis, Institutionen des Völkerrechts, § 15, S.61. 124 Ullmann, Völkerrecht, § 26, S.108; Bonfils, Manuel de droit international public, Nr.545, S.358; Fiore, Nouveau droit international publique, Nr.342, S.301. 125 Holtzendorff, Staaten, § 27, S.115f. 126 Auch nach Aussagen der Völkerrechtstheorie. Siehe Wheaton, Elements, 8.Aufl., § 294, S.313, der zuließ, dass Regierungen souveräner Staaten das ius ad bellum delegieren könnten, und dafür die EIC als Beipiel nannte. Lawrence, The Principles of International Law, § 54, S.79–82, ließ die Fernhandelskompanien nur noch gelten zur Verwaltung von Territorien aus Gewinnmaximierung und bezeichnete sie als „altogether abnormal“ (82). Ebenso kritisch äußerte sich schon Roscher, Kolonien, 419, der „von der Verwerflichkeit eines souveränen Kaufmannsregimentes“ sprach. Reichskanzler Bismarck sprach sich in seiner Reichstagsrede vom 26.Juni 1884 zwar dafür aus, die Ausbeutung der „Protektorate“ gewerblichen Handelsgesellschaften zu überlassen, wollte sie aber der Kontrolle eines vor Ort tätigen Konsuls oder Residenten des
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meisten souveränen Staaten der Welt fanden dort keinen Platz mehr 127. Das Völkerrecht, von seinen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theoretikern als universales Recht bestimmt und aus göttlichem oder Naturrecht abgeleitet, gerann zur billigen Ideologie von Kolonialherrschaft als Manifestation von Ungleichheit. Es verweigerte den Opfern europäischer Kolonialherrschaft in letzter Instanz auch das Recht auf Widerstand. „Das primitive Staatswesen“ darf keinen „Staatsakt vornehmen, welcher den Interessen des Protektorats widerspricht“ 128, behauptete Gareis. Anders gesagt: das Völkerrecht als Ideologie der Kolonialherrschaft ließ als Belligerenten nur Staaten zu, die Völkerrechtssubjektivität besaßen und in dieser Eigenschaft alleinige Akteure im internationalen System zu sein schienen.
8. Verträge als Instrumente zur Legitimierung von Okkupation und zur Delegitimierung von Widerstand gegen Kolonialherrschaft Das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge wurde überdies pervertiert zu einem nicht-militärischen Instrument der herrschaftlichen Expansion. Einige Völkerrechtstheoretiker bestimmten zwischenstaatliche Verträge zum notwendigen Instrument nicht-militärischer Herrschaftsübernahme über die als souveräne Staaten bestehenden „Protektorate“ außerhalb Europas. 129 Die Be-
Deutschen Reichs unterstellt wissen; siehe Böhm/Dove (Hrsg.), Fürst Bismarck, 304. Die novellierte Fassung des Reichsschutzgebietsgesetzes vom 19.März 1888, § 8–10, regelte auch die Verfassung der Kolonialgesellschaften und unterwarf sie der Kontrolle der Reichsregierung. Siehe dazu Koebner, Einführung, 72–74; Sabersky, Inlandsbegriff, 26–28; Schack, Das deutsche Kolonialrecht; ferner die neuere Studie von Fichtner, Die völker- und staatsrechtliche Stellung der deutschen Kolonialgesellschaften, 149–178. 127 So ausdrücklich Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 94, S.139f.; ebenso Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 127; Kunz, Die Anerkennung von Staaten, 18; ders., Zum Begriff der „nation civilisée“, 53f. 128 Gareis, Institutionen des Völkerrechts, § 15 , S.61. 129 Gareis, Deutsches Kolonialrecht, 2: „Ganz ebenso [wie bei den „Protektoraten“ in Europa, H.K.] liegt aber diese Sache da, wo ein europäischer oder sonstiger Kulturstaat eine staatliche Organisation mit eingeborener aber kulturell tiefer stehender Bevölkerung besitzt; einer solchen bereits vorhandenen Territorialgewalt gegenüber ist die Errichtung einer Schutzgewalt aufzufassen als eine – abgesehen von dem Falle kriegerischer Eroberung (occupatio bellica) – nur durch Vertrag (oder Herkommen – wie die Konsulargerichtsbarkeit) zu rechtfertigende Beschränkung der Staatsgewalt des Eingeborenenstaates.“ Ebenso Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 92, S.137f.; Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 144.
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schränkung von deren Staatsgewalt diene „als eine Garantie der Ordnung“. 130 Nicht nur die europäischen Kolonialregierungen, sondern auch die Regierung der USA setzten es ein, um souveräne Staaten zu Objekten des Völkerrechts zu degradieren oder ganz zu zerstören, und zwar durch Abkommen in Diplomform zwischen Souveränen im Sinn der europäischen Völkerrechtslehre. In Nordamerika waren Gegenstand der dispositiven Bestimmungen dieser Verträge in der Regel die Übertragung der Souveränität auf die US-Regierung sowie die Abtretung großer Landstriche, mitunter gegen Kompensation, aber auch ohne diese. Die Native Americans als völkerrechtliche Vertragspartner der US-Regierung nutzten, nach der Logik dieser Abkommen, ihre bestehende Souveränität dazu, diese Souveränität aufzugeben und das von ihnen genutzte Land ganz oder in wesentlichen Teilen zur Nutzung an die US-Regierung abzutreten. In der Sicht der US-Regierung folgten Souveränitätsver-
zicht und Gebietsräumung aus der Forderung, das angeblich durch die Native Americans „as migratory Indian nations“ ohne „international existence“ 131 nicht genutzte Land dem Ackerbau nutzbar zu machen und in Privateigentum zu überführen. 132 Ähnliche Zessionsverträge schloss die britische Regierung mit Herrschern und Regierungen in Afrika in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ab. 133 Für dieses ideologische Konstrukt zur Rechtfertigung der Expansion des von ihr kontrollierten Territoriums griff die US-Regierung auf die frühneuzeitliche Okkupationstheorie zurück, die Francisco de Vitoria bereits im 16.Jahrhundert aus dem angeblichen biblischen Gebot zur Nutzung des Lands abgeleitet und zur Rechtfertigung der Spanischen Eroberungen in Amerika herangezogen hatte. 134 Vitoria indes
130 Gareis, Institutionen des Völkerrechts, § 15, S.61. 131 So ausdrücklich Taylor, A Treatise, § 136, S.175f. 132 Siehe als Beispiele für die Zessionsverträge die Abkommen zwischen den USA und den Cherokee vom 27.Februar 1819; den Sauk and Foxes vom 15.Juli 1830; den Oto, Missouri und Chippewa vom 21. und 16.September 1833; den Kansa vom 14.Januar 1846; den Comanche vom 15.Mai 1846; den Pottowantomie von 1846; den Chippewa vom 2. und 21.August 1847; den Pawnee vom 6.August 1848; dem Stockbridge „Tribe“ vom 24.November 1848; sowie den Oto und Missouri, Omaha, Delaware, Shawnee, Menominee, Iowa, Sauk and Foxes, Kickapoo, Kaskaskia, Peoria, Miami, Creek, Chippewa, Choctaw and Chicksaw, Roguer River, Chasta, Umpqua und Kalapuya, den konföderierten Oto und Missouri, Nisqualli, Puyallup vom 15., 16.März, 6., 10., 12., 17., 18., 30. Mai, 5., 13.Juni, 30.September, 4., 15., 18., 29.November, 9., 26.Dezember 1854. 133 Z.B. der Vertrag zwischen Sherbro Bullom und dem Vereinigten Königreich von 1825, 382. 134 Vitoria, De Indis, Relectio prior, Buch I, Kap. 1, § 4–9, 24, Kap. 2, § 15–16, Kap. 3, § 3–4, S.222–227, 232, 250–255, 259f.; siehe dazu Korman, The Right of Conquest, 25–29.
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hatte seine Argumentation weder als Theorie der „herrenlosen“ Souveränität strukturiert, da er den Native Americans uneingeschränkte Souveränität einschließlich der freien Wahl ihrer Kriegsmittel zugestanden hatte, noch hatte er seine Fassung der Okkupationstheorie als Mittel zur Begründung der vermeintlichen Wirkungslosigkeit des Völkerrechts herangezogen, da er dieses ausdrücklich zur Begründung seiner Ablehnung der Gerechtigkeit des spanischen Eroberungskriegs genutzt hatte. 135 Die US-Regierung und mit ihr die europäischen Kolonialregierungen radikalisierten im Verlauf des 19.Jahrhunderts die älteren Fassungen der Okkupationstheorie. Denn die Zessionsverträge delegitimierten jede Form des militärischen Widerstands seitens derjenigen Herrscher und Regierungen, die Opfer von Kolonialherrschaft und anderen Formen herrschaftlicher Expansion geworden waren. Durch die Zessionsverträge wurde militärischer Widerstand in der Sicht der Regierung der USA und der europäischen Kolonialregierungen zu Rebellion, deren Bekämpfung
innerhalb des staatlichen Rechts stattzufinden hatte. Mit den von ihr abgeschlossenen oder ratifizierten Zessionsverträgen, die eine Extremform der ungleichen Verträge darstellten und häufig erzwungen waren 136, ließ die US-Regierung ihren Vertragspartnern keine Möglichkeit, auch nur die Einhaltung der Verträge einzufordern, geschweige denn Neuverhandlungen zu verlangen. Denn durch die Verträge hörten die Partner der US-Regierung auf, Staaten zu sein. Die US-Regierung brauchte sich selbst daher nicht mehr um die Einhaltung der Grundnorm Pacta sunt servanda zu scheren, da die Native Americans zu Objekten ihrer Innenpolitik geworden waren 137, sogar ohne staatsbürgerliche Rechte beanspruchen zu können.
135 Ebenso noch im 17.Jahrhundert die von John Milton für Oliver Cromwell verfasste Deduktion für den Krieg gegen Spanien vom 26.Oktober 1655, die den Spaniern das Recht zur uneingeschränkten Herrschaft in der „Neuen Welt“ bestritt mit dem Argument, die bloße „Entdeckung“ konstituiere ohne manifeste Besitzergreifung nur einen „Imaginarius ejusmodi Titulus“ (England: Kriegsdeduktion vom 26.Oktober 1655, 554; Grewe [Hrsg.], Fontes, 460). Sowie Locke, Two Treatises, Buch II, Kap. V, § 32, S.308f. (Ausg. von Laslett). Im 18.Jahrhundert Wolff, Jus Gentium, § 291, 308–313, S.226f., 239–246 (darin, § 309, S.241, stellte Wolff ausdrücklich fest, die Inbesitznahme bereits okkupierter Gebiete sei grundsätzlich illegal); Vattel, Le droit des gens, Buch I, Kap. VII, § 81, Kap. XVIII, § 209, Vol.1, 78f., 195; ebenso noch im frühen 19.Jahrhundert Schmelzing, Grundriß, Bd.2 (1819), § 216, S.5f. Anm.2. Siehe dazu Hecker, Eigentum, 165–184; Reibstein, Völkerrecht, 571–609; Thévenaz, Vattel; Tourmé-Jouannet/Ruiz Fabri (Eds.), Impérialisme. 136 Reinsch, Colonial Government, Vf. 137 So ausdrücklich Taylor, A Treatise, § 136, S.175f., der von den Cherokee nach dem Urteil des Supreme Court von 1831 als „domestic dependent nation“ sprach.
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Auch jenseits der von ihnen abgeschlossenen Zessionsverträge verfuhren die europäischen Kolonialregierungen kaum weniger rigoros. Sie setzten das Völkerrecht nicht nur ein zur Scheinlegitimation der Errichtung und Erhaltung von Kolonialherrschaft, sondern auch als Rechtsbasis für Gebietsschacher. 138 Am bekanntesten sind das britisch-deutsch-US-amerikanische Samoa-Abkommen von 1889, der britisch-deutsche Vertrag von 1890, durch den die Aufteilung Ostafrikas in britische und deutsche Herrschaftsgebiete sowie der Austausch von Helgoland und Sansibar geregelt wurden, der britisch-deutsche Vertrag von 1898 über Optionen von Herrschaftsrechten über Gebiete im südlichen Afrika für den im Vertrag avisierten Fall des Zusammenbruchs des portugiesischen Kolonialreichs, das die Entente Cordiale von 1904 vorbereitende britisch-französische Protokoll vom 14.Juni 1898 über die Abgrenzung der beiderseitigen Herrschaftsgebiete entlang des Nigerflusses sowie der britisch-siamesische Vertrag von 1909 über britische Herrschaftsrechte auf der Malaiischen Halbinsel. Vier der fünf Abkommen wurden vollzogen, während der britisch-deutsche Vertrag von 1898 eine Absichtserklärung blieb, da gegen die Erwartung sowohl der britischen als auch der deutschen Regierung das portugiesische Kolonialreich fortbestand. Laut Art.I diente das Samoa-Abkommen vom 14.Juni 1889 der Deklaration der Respektierung der Unabhängigkeit und der Neutralität der Samoanischen Inselgruppe. Tatsächlich stipulierte der Vertrag aber deren Aufteilung unter die drei Kolonialregierungen, ohne dass die betroffene Bevölkerung involviert gewesen wäre. Er verband also die völkerrechtliche Anerkennung der Souveränität und Staatlichkeit Samoas mit dessen Unterstellung unter die „Protektorate“ der beteiligten Regierungen. 139 Ziel des Helgoland-Sansibar-Vertrags war neben der Arrondierung der Herrschaftsgebiete in Ostafrika die Kontrolle küstennaher Gewässer in der Deutschen Bucht. Mit Blick auf das Völkerrecht stellte nicht die Übertragung von Herrschaftsbefugnissen über Helgoland von der britischen auf die deutsche Seite ein Problem dar, sondern die Unterstellung Sansibars unter britische Kontrolle mit deutscher Zustimmung. Denn Helgoland hatte nie Souveränität, geschweige denn Staatlichkeit oder Völkerrechtssouveränität oder beides besessen. Hingegen bestanden zwischen Sansibar einerseits und mehreren europäischen Staaten gültige zwischenstaatliche 138 Eine zeitgenössische Übersicht bot Reinsch, Colonial Government, 104–108. 139 Schlussakte der Samoa-Konferenz vom 14.Juni 1889, 135f.; siehe Kämmerer, Völkerrecht, 400.
III. UNGLEICHHEIT DER SOUVERÄNE UND KOLONIALKRIEG
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Verträge, die durch das britisch-deutsche Abkommen gegenstandslos wurden. Dieser Vertrag griff aber nicht nur in die Regelungen ein, die der Sultan von Sansibar als Souverän und Völkerrechtssubjekt mit europäischen Regierungen getroffen hatte 140, sondern auch in anerkannte Herrschaftsrechte, die der Sultan über Bevölkerungsgruppen auf dem ostafrikanischen Festland in dem der deutschen Seite zugesprochenen „Protektorat“ Tanganyika seit 1895 sowie dem der britischen Seite zugesprochenen, damals so genannten East Africa Protectorate, seit 1920 als Kenya Colony bezeichnet, besaß. Der Vertrag deklarierte diese Herrschaftsrechte als gegenstandslos und unterstellte das Gesamtgebiet von Tanganyika deutscher Kontrolle, wohingegen die Insel Sansibar, das East Africa Protectorate sowie Gebiete im Innern Ostafrikas nördlich und nordwestlich des Viktoriasees unter britische Kontrolle kamen. 141 Der Vertrag wurde ohne den Sultan von Sansibar geschlossen, war folglich ein Abkommen zu Lasten eines unbeteiligten Dritten. Genauso verfuhren die britische und die deutsche Regierung gegenüber dem portugiesischen Kolonialbesitz im südlichen Afrika. 142 Die Wirkungen dieses Vertrags
140 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Sansibar vom 20.Dezember 1885. Dieser Vertrag enthielt seltene reziproke Garantien der Freiheit des bilateralen Handels sowie der Möglichkeit der Entsendung diplomatischer Vertreter (Art. II, IV, S.138, 139, Art. III, S.138f.). Zwischen der britischen Regierung und dem Sultan bestand der Protektoratsvertrag vom 14.Juni 1890, der erst kurz vor dem britischdeutschen Abkommen zustande gekommen war. Zur Anerkennung der Souveränität des Sultans siehe Schwöberl, Stellung, 16f.; Sheriff, Slaves. Noch die Schlussakte der Brüsseler Konferenz über den Sklavenhandel von 1890 ging davon aus, dass „Protektorate“ die Hoheitsgewalt zur Verhinderung des Sklavenhandels besäßen. 141 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich vom 1.Juli 1890, Art. XI, S.282f. Auf Grundlage dieses Vertrags traf die britische Regierung am 14.Dezember 1895 ein Abkommen mit dem Sultan von Sansibar, durch das der Sultan diejenigen kontinentalen Gebiete, über die er alte Rechte hatte, der britischen Verwaltung unterstellte. Die Souveränitätsrechte des Sultans sowie Rechte Dritter sollten ausdrücklich durch diesen Vertrag nicht tangiert sein. Schon zuvor hatte der Sultan einige kontinentale Gebiete an die damalige Imperial British East Africa Company sowie an die Deutsche Ostafrika-Gesellschaft abtreten müssen. Verträge zwischen Sansibar und dem Vereinigten Königreich vom 31.August 1889, vom 4.März 1890 und vom 14.Dezember 1895. Für das Deutsche Reich hatte Peters am 28.Februar 1890 einen dem deutsch-sansibarischen Vertrag von 1885 ähnlichen, reziproken Vertrag mit König („Kabaka“) Mwanga von Buganda geschlossen (siehe Peters, Die deutsche Emin-Pascha Expedition, 168–184, zum Helgoland-Sansibar-Vertrag, den er heftig kritisierte; Abdruck des Vertragstexts, 165f.). Die Reichsregierung ratifizierte diesen Vertrag jedoch nicht, siehe dazu Beazley, Das deutsche Kolonialreich; Dukes, Helgoland; Gray, Early Treaties; ders., Anglo-German Relations; Henderson, German East Africa, 124–132; Jantzen, Ostafrika, 60–62; Johnston, The Uganda Protectorate, 232; Loth, Griff nach Ostafrika; Louis, The AngloGerman Hinterland Settlement; Low, British East Africa, 5–6; Sell, Das deutsch-englische Abkommen, 11, 16; Thomas, More Early Treaties; Peters, Die Gründung von Deutsch-Ostafrika, 262.
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wären bei dessen Vollzug wahrscheinlich noch komplexer gewesen als die des Helgoland-Sansibar-Vertrags. Denn dieser Vertrag betraf eine Vielzahl von Gebieten und Bevölkerungsgruppen sowie den König von Portugal als einen von beiden Vertragsparteien anerkannten Träger von Völkerrechtssubjektivität, ohne dass dieser am Zustandekommen des Abkommens beteiligt war. Der britisch-französische Grenzvertrag von 1898 über Gebiete entlang des Niger regelte den Austausch von Gebieten, die zuvor von jeweils einer Seite als koloniale Territorien reklamiert worden waren und für die gültige zwischenstaatliche Verträge zwischen der britischen und französischen Regierung einerseits sowie Herrschern und Regierungen vor Ort bestanden. Wie der Helgoland-Sansibar-Vertrag griff auch dieses Abkommen in diese gültigen Verträge ein. Sowohl die britische als auch die französische Regierung betrachteten diese Verträge keinesfalls als Quisquilie, da sie sich mit der Schlussakte der Berliner Afrikakonferenz auf die Respektierung der in Verträgen niedergelegten und durch die Konferenz als „Okkupation“ kategorisierten Herrschaftsansprüche verpflichtet hatten. 143 Auf der Basis dieser Konvention bestehende zwischenstaatliche Verträge mit Herrschern und Regierungen in Afrika galten als „Beweis oder Indiz“ dafür, „daß ein Staat früher als ein anderer sich in dem in diesem Vertrag bezeichneten Gebiet festgesetzt, dieses also durch Okkupation für sich erworben hat“. 144 Entsprechend den Regelungen der Berliner Afrikakonferenz enthielt der britisch-französische Vertrag von 1898 einen Artikel, der beide Parteien wechselseitig darauf verpflichtete, „the native chiefs who, having had Treaties with one of them, shall, in virtue of the present Protocoll, come under the sovereignty of the other“, mit „consideration (‚bienveillance‘)“ zu behandeln. 145 Der Vertrag enthält keine Spezifizierung, was mit den Termini technici „consideration“ und „bienveillance“ genau bezeichnet sein sollte. Gleichwohl darf aufgrund der Beschlüsse der Berliner Afrikakonferenz vermutet werden, dass den durch bestehende zwischenstaatliche Verträge gebundenen afrikanischen Herrschern und Regierungen in dem in Betracht stehenden Gebiet gegenüber der Vollzug des neuen Vertrags nicht mitgeteilt werden sollte. Anders gesagt: Der Gebietsschacher sollte still-
142 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über Angola vom 30.August 1898; siehe dazu Zimmerer, Das portugiesische Kolonialreich. 143 Schlussakte der Berliner Afrikakonferenz, Art.34, S.501. 144 Liszt, Völkerrecht, § 10, S.98. 145 Vertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom 14.Juni 1898, Art. VI, S.321.
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schweigend vollzogen, die bestehenden Verträge sollten ebenso stillschweigend kassiert werden. Auch durch diesen Vertrag wurden die betroffenen afrikanischen Herrscher und Regierungen zu Objekten des Völkerrechts. Die britisch-französische Konvention vom 8.April 1904 als Teil der sogenannten Entente Cordiale bestätigte den Vertrag von 1898 und modifizierte ihn zugleich. 146 Als einer der letzten dieser Verträge folgte am 10.März 1909 der britisch-siamesische Vertrag von Bangkok 147 über Gebiete auf der Malaiischen Halbinsel, die bis zum Vertragsabschluss der Kontrolle der siamesischen Regierung unterstanden hatten. Sowohl die britische als auch andere europäische Kolonialregierungen erkannten Siam während des gesamten 19. und 20.Jahrhunderts als souveränen Staat mit Völkerrechtssubjektivität an. 148 Die britische Regierung jedoch beanspruchte die im Vertrag als Staaten bezeichneten Gebiete von Kelantan, Tringganu, Kedak, Perlis sowie nahegelegene Inseln als ihr Herrschaftsgebiet und veranlasste die siamesische Regierung, die ihr zustehenden „rights of suzerainty, protection, administration and control whatsoever“ der britischen Regierung zu übertragen. 149 Diese Gebiete sollten der britischen Regierung zur Arrondierung ihrer Kolonialherrschaft in Südostasien dienen. Auch in diesem Fall waren die von den Regelungen betroffenen Regierungen und Bevölkerungsgruppen nicht in den Vertrag einbezogen, und die betroffenen, als solche ausdrücklich anerkannten Staaten wurden zu Objekten des Völkerrechts. Britische Herrschaft über Teile der Malaiischen Halbinsel wurde durch das Völkerrecht oktroyiert.
9. Zusammenfassung Sowohl die britisch-deutschen Abkommen von 1890 und 1898 als auch die britisch-französischen Abkommen von 1898 und 1904 wie auch das britisch-siamesische Abkommen von 1909 weisen das gemeinsame Merkmal auf, dass sie Verabredungen unter europäischen Kolonialregierungen sowie Diktate der britischen ge146 Konvention zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom 8.April 1904, Art. VIII, S.208f. 147 Vertrag zwischen dem Königreich Siam und dem Vereinigten Königreich vom 10.März 1909, Art.I, S.367f. 148 Ausdrücklich auch in der Präambel zu diesem Vertrag (367). 149 Ebd.Art.I, S.367f.
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genüber der siamesischen Regierung in die Rechtsform zwischenstaatlicher Verträge gossen, die nicht beteiligte souveräne Staaten betrafen. Die europäischen Kolonialregierungen degradierten diese Staaten zu Objekten der zwischen ihnen geschlossenen Verträge und zögerten nicht, auch der siamesischen Regierung diese mindestens fragwürdige Praxis aufzuerlegen. Die Degradierung souveräner Staaten von Subjekten zu Objekten des Völkerrechts war identisch mit der Durchsetzung direkter oder indirekter Kolonialherrschaft. Die Folge der Anwendung dieses Verfahrens war ebenso wie bei der Errichtung von „Protektoraten“ die Delegitimierung jeglichen militärischen Widerstands durch die Opfer. Diese Praxis der Verweigerung von Völkerrechtssubjektivität oder, anders ausgedrückt, völkerrechtlicher Personalität durch zwischenstaatliche Verträge zu Lasten unbeteiligter Dritter widersprach zwar dem damals wie heute gültigen Grundsatz, dass derartige Verträge nichtig sind, stieß aber zeitgenössisch in Europa auf keinen erkennbaren Widerstand. 150
150 Liszt, Völkerrecht, § 5, S.46f., behauptete, nur Staaten seien „Subjekte des Völkerrechts“ und folgerte apodiktisch: „Subjekte des Völkerrechts sind daher nicht: 1. Nomadisierende Stämme. Die mit ihnen geschlossenen Verträge können völkerrechtlich nicht als Rechtstitel für derivativen Erwerb, sondern nur als Beweismittel für tatsächliche Besitzergreifung in Betracht kommen. 2. Die von einzelnen oder von privaten Gesellschaften ausgehenden kolonisatorischen Unmternehmungen.“ Ebenso Fiore, Nouveau droit international publique, Nr.342, S.301: „Les peuples nomads, qu’ont une organisation politique et qui sont représentés par des chefs, ne peuvent pas pretender à la personnalité internationale.“ Taylor, A Treatise, § 134, S.174: „Protected states not persons in international law“. Ullmann, Völkerrecht, § 94, S.313, verkündete: „Übrigens ist seitens der zivilisierten Völker wilden und barbarischen Stämmen nicht einmal beschränkte völkerrechtliche Persönlichkeit eingeräumt“. Ullmann nutzte diese Stellungnahme zur Begründung seiner Ansicht, dass die zwischenstaatlichen Verträge, die zwischen europäischen Kolonialregierungen und den unter deren Herrschaft stehenden „Protektoraten“ geschlossen worden seien, keinerlei „rechtliche Bedeutung“ hätten, und widersprach damit der Lehre, dass diese Verträge die Anerkennung der Souveränität der Vertragspartner belegten. Triepel, Die Zukunft des Völkerrechts, 12, stellte rückblickend sogar die Beschlüsse der Berliner Afrikakonferenz in Frage und pontifizierte: „die Kongoakte von 1885, deren kulturelle Grundgedanken von unseren Gegnern zum Schaden der ganzen weißen Rasse so schmählich missachtet worden sind, kann in ihrer jetzigen Form schwerlich bestehen bleiben. Zahllose Einzelverträge, die unter den Kriegsparteien vor dem Kriege bestanden, werden durch die Friedensschlüsse und später ergänzt oder verändert werden.“ Triepel zufolge sollte der Erste Weltkrieg also auch der Revision des Kolonialbesitzes zugunsten des Deutschen Reichs dienen. Die Praxis des Gebietsschachers verfestigte sich gleichwohl so sehr, dass der Völkerbund in einer 1945 erschienenen amtlichen Darstellung des Mandatssystems dieses auf die Beschlüsse der Berliner Afrikakonferenz zurückführen konnte. Siehe League, The Mandate, 7–13. Kritisch zum Gebietsschacher schon Bonfils, Manuel de droit international public, Nr.545, S.360; Calvo, Le droit international, § 70, S.207f.: „les peuples nomades n’ayant ni territoire propre ni domicile fixe, ne souraient être considérés comme des États, mais on les traite sur le même pied; on conclut même des traits internationaux avec eux.“ Heffter, Völkerrecht, § 70, S.145; Heimburger, Der Erwerb, 71; Anghie, Finding the
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Peripheries; ders., Imperialism, 56–65, 100–107, nimmt diese begriffliche Unterscheidung zwischen Souveränität und Völkerrechtssubjektivität nicht wahr, nimmt daher zu den Verfahren der Aberkennung der Völkerrechtssubjektivität nicht Stellung und muss folglich gegen die Evidenz behaupten, die Völkerrechtstheoretiker des 19.Jahrhunderts hätten den Souveränitätsbegriff als solchen völlig neu definiert. Osterhammel, Verwandlung der Welt, 731, reduziert diesen Prozess der fundamentalen Ideologisierung des Völkerrechts auf dessen scheinbar „technische Normierung durch Verträge“.
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IV. Die Theorie des Kolonialkriegs als Zeugnis für die Wahrnehmung des internationalen Systems
1. Wandlungen des Kriegsbegriffs im frühen 19.Jahrhundert Weder die Militär- noch die Völkerrechtstheorie kannte den Kolonialkrieg nach Wort oder Begriff vor dem 19.Jahrhundert, obschon Kolonien im Sinn von Siedlungskolonien in Amerika bestanden und auch als solche bezeichnet wurden. 1 Militärischer Widerstand gegen Siedlungskolonien und Kolonialherrschaft führte weder sofort noch direkt zur Bildung eines gesonderten Begriffs für die aus diesem Widerstand resultierenden bewaffneten Konflikte. Im Gegenteil blieben diese Konflikte bis in das frühe 19.Jahrhundert Gegenstände des allgemeinen, universalen Kriegsbegriffs des Ancien Régime. Noch Clausewitz kannte weder Wort noch Begriff des Kolonialkriegs 2, sondern bestimmte die Regelform des Kriegs als Konflikt zwischen Völkern. Wie diese Völker politisch organisiert, auf welche Weise sie Krieg zu führen gewohnt waren und in welchem Umfang die Integration der Streitkräfte in sie gelingen konnte, entschied Clausewitz zufolge zwar über Sieg und Niederlage, blieb
1 So beispielsweise im Privileg Jakobs I. vom 10.April 1606 für die Londoner Company of Merchant Adventurers für eine geplante Niederlassung in Amerika. Das Privileg nannte diese Niederlassung „Colony“ und wies ihr „Habitation“ und die Anlage einer „Plantation“ als Zwecke zu. Die Siedlung entstand im Jahr 1607 unter dem Namen Jamestown. Weitere Privilegien folgten am 23.Mai 1609 und am 12.März 1611. Die Siedlung wurde 1624 in die „Royal Colony“ Virginia überführt, nachdem die Handelsgesellschaft bankrottgegangen war. Eine Propagandaschrift des Jahres 1745, die unter dem Titel: The African Trade. The Great Pillar and Support of the British Plantation Trade in America, 13, für Unterstützung des britischen Sklavenhandels durch die britische Regierung warb, differenzierte zwischen „Plantations“ als Stätten der Ausbeutung der Arbeitskraft der versklavten Afrikaner und „our British Colonies“ als den britischer Herrschaft unterstellten Territorien in Amerika. Daneben stand die Bezeichnung „plantation“ auch als Name in Gebrauch. Siehe Bradford, History. 2 Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, Nr.2, S.17 (Ausg. von 1980), 89f. (Ausg. von 1952): „Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“, ohne Einschränkung mit Bezug auf bestimmte Teile der Welt, bestimmte Typen von Kombattanten oder bestimmte Formen bewaffneter Konflikte.
IV . DIE THEORIE DES KOLONIALKRIEGS ALS ZEUGNIS FÜR DIE WAHRNEHMUNG DES INTERNATIONALEN SYSTEMS
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aber für die Definition des Kriegsbegriffs selbst ohne Wirkung. 3 Das souveräne Recht der Wahl der Kriegsmittel galt für alle legitimen Belligerenten in gleichem Maß, blieb damit in der Sicht der Miliärtheorie dem Kalkül der Militärführung unterworfen und folglich dem Wirkungsbereich des Völkerrechts entzogen. Die Vorstellung blieb also Clausewitz fremd, es könne irgendwo in der Welt militärische Konflikte geben, die zwar im Sinn der Militärtheorie wie Kriege geführt würden, aber unter anderen Bedingungen stattfänden als die Kriege zwischen Völkern. 4 Das war zwar bei Clausewitz wie schon in der Frühen Neuzeit eurozentrisch gedacht, ließ aber in der Militärtheorie für eine diskriminierende kulturalistische Differenzierung unter Belligerenten nach vermeintlichem Grad irgendeiner „Zivilisiertheit“ keinen Platz. Während Clausewitz unzweideutig den Vorrang der politischen Führung vor dem militärischen Kommando einforderte, blieb er ebenso fest in seiner Überzeugung, dass die politische Führung die Entscheidungen über die Kriegführung dem militärischen Kommando überlassen solle. 5 Clausewitz sah mithin Krieg und Politik als interdependent, aber nicht als Einheit und wies den Kommandeuren und Feldherrn die Pflicht zu, den Krieg strategisch so zu planen, dass die den Krieg entscheidende „Hauptschlacht“ im Zustand einer „Spannung“ gefochten werden könne. Dies setzte die langfristige Ausrichtung der gesamten Bevölkerung eines Staats auf das Erreichen des gesetzten Kriegsziels voraus. Sowohl die Setzung des Kriegsziels als auch dessen Propagierung unter den Angehörigen des Staatsvolks machte umfangreiche Planungen erforderlich, die lange vor Beginn eines „wirklichen“ Kriegs abzuschließen waren. 6 Sowohl Politik als auch Militärführung hatten, Clausewitz zufolge, die Pflicht, sich auf die Möglichkeit eines künftigen Kriegs ein-
3 Ebd.Buch I, Kap. 1, Nr.25, S.35 (Ausg. von 1980), 109 (Ausg. von 1952); Buch VI, Kap. 6, Nr.3, S.378f. (Ausg. von 1980), 535f. (Ausg. von 1952); Buch VIII, Kap. 3B, S.651–661 (Ausg. von 1980), 858–872 (Ausg. von 1952). 4 Ebd.Buch I, Kap. 2, S.48 (Ausg. von 1980), 112–128 (Ausg. von 1952). Folglich verblieb Clausewitz auch in seinen Ausführungen über den „Kleinen Krieg“ in den Konventionen des 18.Jahrhunderts: Clausewitz, Meine Vorlesungen, 231. Siehe dazu Hahlweg, Guerilla, 38–45; Kunisch, Der kleine Krieg, 5; Paret, Colonial Experience, 53. 5 Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, Nr.24, 26, S.34, 35f. (Ausg. von 1980), 108, 109f. (Ausg. von 1952); Buch VIII, Kap. 6B, S.674–681 (Ausg. von 1980), 888–896 (Ausg. von 1952). 6 Ebd.Buch III, Kap. 17, S.198f. (Ausg. von 1980), 310f. (Ausg. von 1952); Buch IV, Kap. 9, S.229–234 (Ausg. von 1980), 351–357 (Ausg. von 1952). Siehe dazu Creveld, Zukunft, 252–262; Verena Goldt, Zentralbegriffe, 77–91; Gray, War, 25; Kleinschmidt, Spannung; Strachan, Clausewitz on War, 153f.; Wallach, The Dogma, 19; ders., Kriegstheorien, 49f.
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zustellen. Er verwahrte sich gegen die Vorstellung, „selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges [...] immer für eine absolute anzusehen“, denn der „erliegende Staat“ sehe in einem verlorenen Krieg „oft nur ein vorübergehendes Übel“. 7 Die Beendigung eines Kriegs war also keineswegs gleichzusetzen mit der Restitution des Friedens, sondern nur die reversible Unterwerfung eines Belligerenten unter den Willen eines anderen. Das schloss die Möglichkeit eines künftigen Kriegs zwischen denselben Belligerenten ein. Mit letzterer Bestimmung brach Clausewitz mit den Konventionen der Militärtheorie der Frühen Neuzeit. Diese hatte noch in der Tradition der Friedenstheologie des Hl. Augustinus Krieg als temporäre Unterbrechung des gottgewollten Friedenszustands definiert und folglich jede Art der Kriegführung allein aus zuvor erlittenem Unrecht gerechtfertigt und auf das Ziel der Restitution des Friedens orientiert. 8 Auch in den Debatten der Miliärtheoretiker des 18.Jahrhunderts über die Vorzüge und Nachteile der Lineartaktik 9 sowie in den politischen Kontroversen über die Notwendigkeit oder Gefährlichkeit der sogenannten „Stehenden Heere“ 10 als Kampfverbände, die nach Beendigung eines Kriegs stehen blieben 11, kam die Vorstellung zur Sprache, dass diese „Stehenden Heere“ als Kampfverbände den Müßiggang pflegen und den Frieden destabilisieren könnten anstatt ihn zu festigen 12. Noch Kant bezog bekanntlich in dieser Debatte uneingeschränkt Position gegen die Beibehaltung „Stehender Heere“ in Friedenszeiten. 13 Auch die Begründung der Limitierung des Belligerentenstatus auf Souveräne in Europa hatte ihre Letztbegründung in der Orientierung des Kriegs auf die Restitution des Friedens. 14 Denn nur ein 7 Clausewitz,Vom Kriege, Buch I, Kap. 1, Nr.9, S.24 (Ausg. von 1890), 97 (Ausg. von 1952). 8 Augustinus, De civitate Dei, Buch XIX, Kap. 3, 11–14, S.663, 674–682; ders., Quaestionum in Heptateuchum libri VII, Buch 6, Kap. 10, in: Migne, Patrologia Latina, Vol.34, Sp.781; ders., Contra Faustum Manichæum libri XXXII, Buch XXII, Kap. 74, in: Migne, Patrologia Latina, Vol.42, Sp.448; ders., Epistola 189 „ad Bonifacium“, Kap. 6, in: Migne, Patrologia Latina, Vol.33, Sp.856. Übernommen in das Decretum Gratianum 2, 23, 2, can. 2, Corpus Iuris Canonici, 894. Dazu Janssen, Krieg, 571f.; Neff, War, 39–81. Ebenso noch Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. 1. Zur Geschichte der Kriegsdefinitionen siehe auch Rettich, Zur Theorie, 3–36. 9 Siehe dazu oben Kap. 2, Anm.86. 10 Zu dieser Debatte siehe insbesondere Schwoerer, „No Standing Armies!“ 11 Zu diesem Begriff siehe Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 213–224; Wilson, New Approaches, 152. 12 Leibniz, Gedancken, 591. Noch Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, 240, hielt die stehenden Heere für „Polizeiwachen und die Nachtwächter des Staats“, „in China und der Reichsstadt Hamburg“. 13 Kant, Zum ewigen Frieden, 197f. 14 So schon Heinrich von Segusio, Summa, Buch I, Kap. 34, S.313, der nur den Römischen Kaiser als Sou-
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Souverän war rechtlich in der Lage, die bindenden Verpflichtungen von Friedensschlüssen gegenüber den ihm unterstellten Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. Schließlich bestimmten viele Friedensverträge, insbesondere des 17. und 18. Jahrhunderts, die Restitution des Status quo ante unter den Kriegsparteien als ihren Hauptzweck, orientierten mithin den Krieg auf die Restitution des Friedens. 15
2. Die Neubestimmung des Begriffs des „Kleinen Kriegs“ Gleichwohl kannte die Militärtheorie des Ancien Régime spätestens seit der Mitte des 18.Jahrhunderts den schon erwähnten Begriff des „Kleinen Kriegs“. 16 Dieser Begriff begann seit dem frühen 19.Jahrhundert nach Clausewitz Gefechtsformen zu umschließen, die als außerhalb der regulären Kriegführung stehend wahrgenommen wurden, mithin nicht mehr integrale, speziellen Hilfs- und Sondertruppen anvertraute Bestandteile eines größeren strategischen Plans, sondern über die Sicherung von Feldlagern und Nachschubwegen hinaus Elemente eines eigenständigen Kriegsbegriffs waren. Die Neufassung des Begriffs des „Kleinen Kriegs“ als irregulärer Krieg, der auch außerhalb des Kriegsvölkerrechts stattfinden konnte, hatte weitreichende Folgen nicht nur für Strategie und Taktik, sondern auch für die rechtliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. 17 Während des 18.Jahrhunderts war genau zwischen den Gefechtsfeldern der Kombattanten und den Siedlungen der Nichtkombattanten unterschieden worden, auch wenn es vor-
verän und folglich allein legitimen Belligerenten gelten lassen wollte, obschon in der Fehde als „Privatkrieg“ auch nicht-souveräne Herren legitime Belligerenten sein konnten. Dazu Kortüm, Kriegstypus, 90– 92. Später, unter den Bedingungen des europäischen internationalen Systems, argumentierte Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 1, § 4, Kap. 8, § 147, Vol.2, 2f., 114f. genauso, mit dem Unterschied, dass er alle Souveräne als Belligerenten zuließ. Ebd.in Buch III, Kap. 8, § 147, Vol.2, 114f., stellte er fest, Nichtkombattanten sollten von Kriegshandlungen verschont bleiben, solange sie nicht in die Belange der Armeen eingriffen. Unter den Völkerrechtstheoretikern des 19.Jahrhunderts bekannten sich Schmalz, Das europäische Völkerrecht, 228f., und Bonfils, Manuel de droit international public, Nr.1000, S.670, zu dieser Lehre. 15
Kleinschmidt, Establishing Peace; Roll, Politisches Kalkül; Steiger, Vorsprüche.
16
Siehe dazu oben Kap. 2, Anm.45.
17
Clausewitz traf diese Unterscheidung, obschon er annahm, „der Gesamteinfluß, den die Einwohner
des Landes auf den Krieg haben, [sei] nichts weniger als unmerklich“, und Graumsamkeiten gegen Nichtkombattanten als taktisches Mittel rechtfertigte: Vom Kriege, Buch VI, Kap. 6, S.378 (Ausg. von 1980), 535 (Ausg. von 1952).
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kommen konnte, dass eine Siedlung inmitten eines Gefechtsfelds gelegen war. Auch Clausewitz setzte diese Unterscheidung für seine Theorie voraus. 18 Früh erkennbar ist der Wandel der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten in der Praxis der Kriegführung schon um 1800 an der Verschiebung der Bedeutung des Worts Partisan in vielen europäischen Sprachen. Diese wandelte sich vom subsidiären Parteigänger, der auch hinter den feindlichen Linien operieren konnte, zum irregulären Krieger, der nicht an die Konventionen des Kriegsvölkerrechts gebunden zu sein schien. 19 Der Partisan wurde so zum neuen Typ des Kriegers, der keinen Kombattantenstatus benötigte, die Waffen nicht offen zu tragen und sich nicht als Angehöriger einer regulären Armee auszugeben brauchte. Mit dem Einbezug des Kampfes gegen Partisanen im neuen Sinn in den Begriff des „Kleinen Kriegs“ war der Einschluss des irregulären Kriegs in diesen Begriff vollzogen und für den „Kleinen Krieg“ die rechtliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufgehoben. Doch dieser Begriffswandel beschränkte sich nicht auf den Rechtsbereich, wie schon aus dem spanischen Widerstand gegen die französische Okkupation durch Truppen Napoleons deutlich wurde. 20 Auch zur Bezeichnung der nicht-konventionellen Kampftaktiken der damals Widerstand leistenden Bevölkerungsgruppen kam die Rede vom „Kleinen Krieg“ (Guerilla) in Gebrauch. 21 Sie umgriff bereits in der Kriegführung des ersten Jahrzehnts des 19.Jahrhunderts Handlungsweisen, die jenseits des Bedeutungsspektrums des „Kleinen Kriegs“ während des Ancien Régime standen. Insbesondere bezeichnete die Guerilla Kampfhandlungen, die geeignet waren, die Gefechtsfelder in die Siedlungen der Nichtkombattanten hineinzutragen und es den Guerilleros erlaubten, aus der Deckung der Siedlungen reguläre Kampftruppen anzugreifen, wenn diese sich in die Siedlungen begaben. Die Auflösung der
18 Zum Einbezug der Gesamtheit der Einwohner eines Staats in den Kombattantenbegriff siehe auch Bülow, Geist des neuern Kriegssystems, 211f., 225f., 238, 240, 246; Rühle von Lilienstern, Apologie, 62. Zu Rühle siehe Langendorf, Rühle; Strachan, Clausewitz on War, 155. 19 Rink, Vom Partheygänger, 85f.; ders., Die Verwandlung. 20 In seiner Bekenntnisschrift vom Februar 1812 bezog sich Clausewitz ausdrücklich auf die Kriegführung Napoleons in Spanien, als er die grausame Behandlung von kriegsgefangenen Insurgenten durch eine reguläre Armee mit der Begründung rechtfertigte, der Feind könne in diesem Fall nur mit einem höheren Maß an Grausamkeit bezwungen werden, als er selbst anwende. Siehe Clausewitz, Bekenntnisschrift, 733f. Zur Kriegführung in Spanien siehe Pelizaeus, Die anti-napoleonischen Mobilisierungen; ders., Von der staatlichen zur privaten Guerilla; Tone, Partisan Warfare. 21 Hahlweg, Guerilla, 11f., 21–23.
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begrifflichen Trennlinie zwischen den Gefechtsfeldern der Kombattanten und den Siedlungen der Nichtkombattanten zog schließlich den vollständigen Einbezug der Siedlungen der Nichtkombattanten in die Bestimmung der Gefechtsfelder des „Kleinen Kriegs“ nach sich. Dies geschah unter der Bedingung, dass sich die Kommandeure regulärer Streitkräfte entschlossen, systematisch und offensiv den Krieg in die Siedlungen zu tragen, also nicht nur defensiv auf Hit-and-Run-Taktiken der Widerständler zu reagieren. Dadurch hoben sie, wie Rühle von Lilienstern diagnostizierte, „die alte absolute Schranke zwischen Zivil und Militär ohne Vorbehalt auf und bewirkten, dass das Heer nationalisiert, die Nation militarisiert wurde“. 22 Der neue Begriff des „Kleinen Kriegs“ schloss mithin in seiner weitesten Bestimmung die Gesamtheit der Bewohner eines Belligerentenstaats ein. Diese Begrifflichkeit hatte bereits alle Elemente des totalen Kriegs, obschon diese Bezeichnung erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs aufkam. 23 Diese neuen Formen des Kriegs aber waren total nur im Sinn des Totalitätsbegriffs, der in der politischen Theorie des frühen 19.Jahrhunderts bereits Anwendung gefunden hatte. 24 Diese Begrifflichkeit des totalen Kriegs vergröberte die schon aus der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts bekannte Forderung, alle Untertanen eines Herrschers sollten bereit sein, ihr Leben für den Herrscher und den Staat zu opfern 25, in die These, dass die im Staat manifeste kollektive Identität die persönliche Identität der Einzelnen bestimme 26. Der „Kleine Krieg“ als totaler Krieg konnte demnach Bevölkerungsgruppen als Ganze in Mitleidenschaft ziehen.
3. Vom „Kleinen Krieg“ zum Kolonialkrieg: Begriffswandlungen in der Militärtheorie des 19.Jahrhunderts Dieser neue Begriff des „Kleinen Kriegs“ als des totalen Kriegs war zunächst bezogen auf die Kriegführung in Europa, fand aber bereits in den 1830er Jahren Anwendung jenseits der Grenzen dieses Kontinents. Anlass war die französische Okkupati22
Rühle von Lilienstern, Apologie, 68f.
23
Siehe oben Kap. 1, Anm.101.
24
Müller, Die Elemente der Staatskunst, 48. Zu Müller siehe Stollberg-Rilinger, Staat, 240.
25
Abbt, Vom Tode, [6]. Zu Abbt siehe Batscha, Thomas Abbts politische Philosophie; Bröckling, Disziplin,
95–100; Duffy, The Military World, 140. 26
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Fichte, Reden. Zu Fichte als Sicherheitstheoretiker siehe Kleinschmidt, Legitimität, 92–97.
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on von Algier im Jahr 1830 mit den aus ihr folgenden Widerstandsmaßnahmen der betroffenen Bevölkerung. Ohne von der europäischen Begriffsbildung Kenntnis zu haben, aber mit sehr genauer Einsicht in die Begrenzungen der Handlungsfähigkeit regulärer Streitkräfte gingen die Organisatoren des Widerstands, insbesondere Abd el-Kadr, schnell zu Gefechtsformen des Guerilla- oder Partisanenkriegs über 27, die den französischen Invasionstruppen zu widerstehen in der Lage waren. Mangelnde Kenntnis der Topografie sowie der Sprachen und Kulturen der Bevölkerung in und um Algier ließen die französischen Truppen oft in Hinterhalte gelangen, in denen die Widerstandsgruppen der Invasionsarmee zwar insgesamt keine schweren Niederlagen zufügen, sie aber doch punktuell empfindlich treffen konnten. Der preußische Offizier Carl von Decker (1784–1844), Lehrer an der Allgemeinen Königlichen Kriegsschule zu Berlin, der den algerischen Kriegsschauplatz besichtigt hatte, beschrieb diese Gefechtsformen zuerst ausführlich. Zwar fehlt auch in Deckers Analyse noch die Bezeichnung Kolonialkrieg, der Begriff, der hinter dieser später aufkommenden Bezeichnung steht, ist jedoch bereits in seinen Schriften voll ausgebildet. Decker zufolge war der Algerienkrieg kein „regulärer“ Krieg, sondern ein Konflikt zur Durchsetzung der französischen Okkupation gegen eine scheinbar illegal Widerstand leistende Bevölkerung. Diese Bevölkerung galt ihm als nicht-europäische Nomadengruppe und, so schloss er, dem französischen Kommandanten Bugeaud folgend, die französischen Okkupationstruppen seien daher nicht gebunden an das Kriegsvölkerrecht. 28 Zur Bezeichnung des neuen Typs der Kampfhandlungen griff er den im Kriegsschauplatz aufgekommenen Neologismus „Razzia“ auf und verwies darauf, dass in der Kriegskunst und in ihren Theorien „kein Kapitel über die Razzia“ einbeschlossen sei. 29 Das Kriegsvölkerrecht konnte, Decker zufolge, außerhalb Europas nicht gelten, da es an die Anerkennung europäischer Normen und Werte gebunden sei. Der Militärtheoretiker grenzte also gegen den universalistischen Kriegsbegriff der früheren Jahrhunderte den Gültigkeitsbereich des dem Kriegsvölkerrecht zugrunde liegenden Kriegsbegriffs auf die europäische Staatengemeinschaft ein, der höchstens die unter der Kontrolle des Osmanischen Sultans stehenden Streitkräfte, aber nicht die
27 Decker, Algerien, Bd.1, 358–362; Tocqueville, Writings, 70. Siehe dazu Richter, Tocqueville; Rid, Razzia, 618, 623. 28 Decker, Algerien, Bd.2, 104f.; Bugeaud, Par l’épée, 55–58, 125. 29 Ebd.105. Dazu Rid, Razzia, 618–625.
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lokalen Widerstandskämpfer in Nordafrika zuzuordnen seien. Mit dieser Argumentation befand sich der Militärtheoretiker in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie, die auch den Handels- und Friedensverträgen des frühen 19.Jahrhunderts zugrunde gelegt wurde. Diese bestimmten Frieden zwischen europäischen und nicht-europäischen Staaten nicht mehr als Bestandteil der gottgewollten Weltordnung, die ohne menschliches Zutun bestehe, sondern als einen Zustand, der durch einen in Vertragsform gegossenen Willensakt vorsätzlich herbeizuführen sei. 30 Genauso wie das Bestehen eines naturrechtlichen universalen Friedensrechts nunmehr in der Praxis der Vertragsabschlüsse bestritten wurde, verneinte Decker das Bestehen eines allgemeinen universalen Kriegsbegriffs und eines diesem zugrunde liegenden allgemein gültigen Kriegsvölkerrechts. 31 Mit der Unterscheidung zwischen regulärem und irregulärem Krieg erhob die Miliärtheorie den Staatenkrieg zum alleinigen regulären Krieg. Bevölkerungsgruppen, die in der Sicht der europäischen Militärtheoretiker und Kommandeure nicht als Staaten organisiert zu sein schienen und ihnen als angeblich nomadisierende „Stämme“ galten, verweigerten die Miliärtheoretiker folglich nunmehr die Anerkennung als legitime Belligerenten in einem regulären Krieg. 32 Diese Bevölkerungsgruppen, gleichgültig ob sie Widerstand leisteten oder nicht, erschienen den Militärtheoretikern kollektiv als Kombattanten in einem irregulären Krieg. Zwar ließen die Militärtheoretiker zu, dass die Begriffsgrenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sowohl im regulären als auch im irregulären Krieg verwischt sein konnten. Aber dies war in der Sicht der Militärtheoretiker das Resultat des Wirkens unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Ursachen-Folgen-Ketten. Im Fall des regulären Kriegs konnten Nichtkombattanten zu Kombattanten werden, wenn sie sich in der Sicht der Führung regulärer Streitkräfte nicht an die
30
Zum Beispiel der Vertrag zwischen Siam und den USA vom 20.März 1833, Präambel, 212, und der Ver-
trag zwischen Muskat und den USA vom 21.September 1833, Art.I, S.38. 31
Noch im Jahr 1828 hatte hingegen John Crawfurd, britischer Emissär in Südostasien, gefordert, die
„Wirkung der Feuergewehre auf Civilisirung der rohen Volksstämme selbst“ dürfe nicht übersehen werden. Denn der „Besitz dieser Waffen giebt den gebildeteren und handeltreibenden Volksstämmen das Übergewicht über ihre rohen Nachbarn; und so bildet sich dann eine Macht, die nothwendig mehr oder wenig dazu beitragen muß, die Anarchie zu vermindern und Gesetze und Regierung zu verbessern.“ Er befürwortete daher den Handel mit Kriegsmunition. Siehe Crawfurd, Tagebuch, 841. Crawfurds Forderung konnte nur auf der Basis der Annahme gültig sein, dass ein universaler Begriff des Kriegs bestehe, der allgemein gültigen Regeln folge. 32
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Decker, Der Kleine Krieg, 1f.; ebenso Castellane, Souvenirs, 228f. Siehe dazu Vandervort, Wars, 68.
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Normen des regulären Kriegs hielten. Nach dieser Logik reagierten die regulären Truppen also mit der Ausweitung des Kombattantenstatus ihrer Gegner auf deren angeblich irreguläre Kriegführung durch taktische Totalisierung des Kriegs. Im Fall des irregulären Kriegs fand hingegen in der Sicht derselben Theoretiker genau der umgekehrte Prozess statt: Der Widerstand gegen sowohl rechtmäßige Herrschaft als auch militärische Okkupation zog in der Analyse Deckers die aktive Verweigerung des Einsatzes der regulären Kampfmittel durch die regulären Streitkräfte nach sich, die ohne Unterschied jeden Angehörigen der Widerstand leistenden Bevölkerungen als Kombattanten betrachteten. 33 Deckers Argumentation war einseitig, begrenzt auf die Begriffsbildung der in Algerien eingesetzten französischen Okkupationstruppen, und bezog die Wahrnehmung der algerischen Bevölkerungsgruppen nicht ein. Das hauptsächliche Kampfmittel der französischen Okkupationsarmee bestand in einem Komplex von Maßnahmen, die seit den 1830er Jahren mit dem schon erwähnten Neologismus „Razzia“ bezeichnet wurden. Gemeint war die vorsätzliche undifferenzierte Anwendung militärischer Gewalt gegen Bewaffnete wie gegen Nichtbewaffnete, deren militärische Kraft diffus, allgegenwärtig zu sein schien. Die französische Okkupationsarmee vermied daher bewusst jede Regelmäßigkeit der auch vorsätzliche Tötung einschließenden Gewaltanwendung, wählte ihre Ziele ohne erkennbare Kriterien aus, erhob mithin den Mangel an für die Gegner erkennbaren Einsatzmustern zum taktischen Prinzip. Das Ziel der Razzien war es, unter den ortsansässigen Bevölkerungsgruppen Angst zu verbreiten, sie einzuschüchtern und auf diesem Weg davon abzuhalten, die bewaffneten irregulären Kämpfer zu decken, ihnen Unterschlupf zu gewähren und Nachschub zu gewährleisten. 34 Da die Ziele der Razzien nach keinem für deren Opfer erkennbaren Prinzip ausgewählt wurden, mussten sich die betroffenen Bevölkerungsgruppen insgesamt als potentielles Ziel der Anwendung militärischer Gewalt wahrnehmen. Die Okkupationsarmee nahm die Gesamtbevölkerung des unterworfenen Gebiets für den Widerstand in Haftung, der von den in ihrer Sicht irregulären gegnerischen Kämpfern ausging, und hob dadurch in der Wahl ihrer taktischen Mittel die Begriffsgrenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten in Bezug auf die Bevölkerungsgruppen in den okku-
33 Bugeaud, Par l’épée, 125; ders., Discours, 163 ; Decker, Algerien, Bd.2, 104f. 34 Siehe dazu Gottmann, Bugeaud; Porch, Bugeaud; Rid, Razzia; Sullivan, Bugeaud, 126–129; Vandervort, Wars, 65–70.
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pierten Gebieten auf. Der irreguläre Krieg der französischen Okkupationsarmee in Algerien war folglich ein totaler Krieg, zwar nicht dem Wort, wohl aber dem Begriff nach. Zugleich war er unausgesprochen, wiederum dem Begriff nach, ein Kolonialkrieg im Sinn der Anwendung militärischer Gewalt zur Errichtung und Behauptung französischer Herrschaft in einem Teil Nordafrikas. 35 Am Ende des 19.Jahrhunderts systematisierte der in Indien zum Einsatz gekommene britische Nachrichtenoffizier Charles Edward Callwell (1859–1928) den Begriff des Kolonialkriegs unter der Bezeichnung „Small Wars“. Diese Bezeichnung setzte er mit der des irregulären Kriegs gleich. Callwell zufolge sollten „Small Wars“ alle Operationen jenseits der Treffen regulärer gegnerischer Armeen umfassen, insbesondere alle Sorten von „expeditions against savages and semi-civilised races by disciplined troops, [...] campaigns undertaken to suppress rebellions and guerilla warfare in all parts of the world where organised armies are struggling against opponents who will not meet them in the open field“. 36 Er unterschied drei Typen von „Small Wars“. Der erste Typ bestehe in Einsätzen zur Eroberung und Annexionen auf fremdem Boden, der zweite ziele auf die Unterdrückung von Aufständen und gesetzlosem Handeln in bereits eroberten oder annektierten Gebieten, der dritte werde unternommen, um Beleidigungen zu sühnen, Rache gegen Übeltäter zu verüben oder einen gefährlichen Feind zu unterwerfen. 37 Der erste und der zweite Typ seien identisch mit gewöhnlichen Eroberungskriegen, die jedoch in Gebieten außerhalb Europas geführt würden, der dritte hingegen gleiche dem Kampf gegen Guerilleros und Banditen. Unter den bewaffneten Konflikten, die Callwell analysierte, waren der zweite und der dritte am häufigsten vertreten, insbesondere der Sepoy-Aufstand in Indien, die britischen Operationen in Ägypten und im Sudan, die britische „Pazifizierung“ des burmesischen Hochlands sowie das Vorgehen der Regierung der USA
35
Siehe dazu Porch, Introduction, VI.
36
Callwell, Small Wars, 21. Zu Callwell siehe Feichtinger/Malinowski, Konstruktive Kriege?, 290f.; Gray,
War, 246, 254; Mockaitis, British Counterinsurgency; Moreman, Charles Edward Callwell; Walter, Kolonialkriege, 19f.; Wesseling, Colonial Wars, 3–5; ders., Imperialism, 22; ders., European Colonial Empires, 32. 37
Callwell, Small Wars, 25–27. Er traf sich in dieser Zweckbestimmung mit dem deutschen Komman-
deur Gudewill, der im Krieg gegen die Herero und Nama eingesetzt war und dem Chef des Admiralstabs der Marine über die Kriegführung berichtete: „Der Krieg ist in ein zweites Stadium getreten. Die härteste Bestrafung des Feindes ist notwendig als Sühne für die zahllosen, grausamen Morde und als Garantie für eine friedliche Zukunft. Um Ruhe und Vertrauen der Weissen herzustellen, ist völlige Entwaffnung und Einziehung von sämtlichen Ländereien und Vieh einzigstes Mittel.“ Bundesarchiv-Militärarchiv, RM 3 10263, fol.38a. Zitiert nach Zimmermann, Krieg, 48.
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gegen „nomad Red Indians“. 38 Diese bewaffneten Konflikte kategorisierte Callwell als Akte innerstaatlicher Gewaltanwendung, als deren Ziel er die Aufrechterhaltung schon bestehender Kolonialherrschaft ausgab. Kennzeichen der „Small Wars“ sei keinesfalls ein geringerer Umfang der Gewaltanwendung, sondern lediglich die Asymmetrie der militärischen Organisation zwischen den Konfliktparteien. 39 Callwell zögerte nicht, mit „Rache“ und „Sühne für Beleidigungen“ Kriegsgründe anzuerkennen, die das Kriegsvölkerrecht nicht zuließ. 40 Callwells Definition der „Small Wars“ war wesentlich breiter angelegt als jede der älteren Bestimmungen des Kleinen oder irregulären Kriegs. Sie umfasste alle Formen der Anwendung militärischer Gewalt einschließlich Okkupation in der Regel außerhalb Europas, an denen höchstens eine reguläre Armee beteiligt war. Unter den Belligerenten, die Gegner der regulären Armeen waren, gruppierte Callwell nicht-uniformierte Truppen und Kampfverbände, die in seiner Sicht nicht direkt staatlicher Kontrolle unterworfen zu sein schienen. 41 Das tat er auch mit Bezug auf bewaffnete Konflikte, die als Kriege regulärer Armeen mit den in Europa üblichen Kampfmitteln der offenen Feldschlacht, der militärischen Okkupation und der Belagerung geführt wurden, wie beispielsweise der Krieg des Vereinigten Königreichs gegen das als souveräner Staat anerkannte Königreich Ashanti in den Jahren 1873 und 1874, das zu diesem Zeitpunkt weder unter britischer Kolonialherrschaft stand noch durch den Krieg unter diese geriet. Die Erfahrungen in diesem nach seiner eigenen Terminologie völlig regulären Krieg schloss Callwell dennoch in seine Datensammlung zu den „Small Wars“ ein. 42 Für Callwell waren „Small Wars“ aber zugleich Kämpfe europäischer Armeen gegen bewaffnete antikoloniale Widerstandsgruppen aus Bevölkerungen, die er zu „savage tribes“ 43 oder zu einem „uncivilised adversary“ 44 abwertete. Diese Kämpfe bezeichnete er verharmlosend als „expeditions“, verweigerte folglich den Gegnern der europäischen Armeen den Kriegsbegriff und, damit einhergehend, die Anerkennung des Rechtsstatus von Belligerenten. Ebenso subsumierte Callwell Einsätze ge-
38 Callwell, Small Wars, 21f., 26. 39 Ebd.21. 40 So schon Wolff, Grundsätze, § 155, S.98. 41 Callwell, Small Wars, 26: „guerillas and banditti“. 42 Ebd.246f. Dazu unten Kap. 4, Anm.158. 43 Ebd.26. 44 Ebd.90–96. Ebenso noch Colby, How to Fight Savage Tribes, 279, 287; Fuller, The Reformation, 191.
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gen Rebellen und Guerilleros unter die „Small Wars“, mithin in seiner Sicht polizeiliche Befriedungsmaßnahmen gegen Aufständische gegen bestehende Herrschaft. Deren Widerstand erschien ihm also von Anfang an als illegitim. Gemeinsames taktisches Element aller „Small Wars“ war für Callwell die Verweigerung der offenen Feldschlacht, angeblich durch die Gegner der europäischen regulären Armeen. Damit weitete er die der Razzia-Taktik der französischen Okkupationsarmee im Gebiet um Algier zugrunde liegenden Prinzipien aus zur allgemeinen, theoretischen Bestimmung des Kolonialkriegs, da die bewaffneten antikolonialen Widerstandsgruppen sich nicht in Staaten zu organisieren schienen, sondern in „savage tribes“, und sich ebensowenig an die insbesondere für die offene Feldschlacht geltenden Regeln des regulären Kriegs zu halten schienen. Nach dieser Logik war der Kolonialkrieg kein Krieg im Sinn des Kriegsvölkerrechts, schlicht weil die Gegner der europäischen Armeen keine Staaten zu sein schienen und die offene Feldschlacht vermieden. Denn das Kriegsvölkerrecht bestimmte den Krieg im Rechtssinn als Staatenkrieg und ließ nur politisch organisierte, unter der Kontrolle einer Form von Regierung stehenden Insurgenten als Belligerenten zu. 45 Da der Kolonialkrieg in der Auffassung Callwells kein Staatenkrieg war, mithin nicht durch die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts gebunden zu sein schien, fand er statt in der Form von „expeditions“ gegen vermeintlich illegalen Widerstand. Die in den Kolonialkriegen angewandte militärische Gewalt konnte also, in der Sicht dieser Militärtheorie, legal Bewaffnete wie nicht Bewaffnete schädigen, sogar töten. Das Kriegsvölkerrecht blieb für die Kolonialkriege stumpf, die in diesen Kriegen stattfindende Entgrenzung der militärischen Gewalt blieb jenseits der Verhängung von Disziplinarstrafen ungesühnt. Callwells „expeditions“ waren deswegen dem Begriff nach nicht nur Kolonial-, sondern auch totale Kriege 46, denn sie hoben wiederum die Begriffsgrenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten auf. Geradezu zynisch mutet es dennoch an, wenn Callwell die Verantwortung für die Totalität der Kolonialkriege den Opfern von Kolonialherrschaft zuschob: „regular forces were compelled, whether they liked it or not, to conform to the savage method of battle“. 47 45
So ausdrücklich bereits die Schlussakte der Brüsseler Konferenz über die Regeln des Kriegs, 27.August
1874, 134. 46
Zur Nähe des Kolonialkriegs zum totalen Krieg siehe Hochgeschwender, Kolonialkrieg, 270–273, 283f.;
Petersson, Zivilisierungsmission; Wesseling, European Colonial Empires, 33, verwendet den Clausewitz’schen Begriff „people’s war“ (d. i. Volkskrieg). 47
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Callwell, Small Wars, 30f.
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Anders gesagt: weil die Opfer europäischer Kolonialherrschaft autonom über die Wahl ihrer Kampfmittel entschieden, waren in der Sicht Callwells die europäischen regulären Armeen nicht an das Kriegsvölkerrecht gebunden. 48 Überdies diffamierte Callwell die Gegner der europäischen Armeen unter Rückgriff auf den zeitgenössischen Zivilisiertheitsmythos. Ihnen schrieb Callwell „Wildheit“ als scheinbar feststehendes Merkmal angeblich mangelnder Gouvernementalität zu, das polizeiliche Befriedungsmaßnahmen seitens der europäischen Armeen zu erfordern schien. Den Opfern europäischer Kolonialherrschaft sprach die Militärtheorie an der Wende zum 20.Jahrhundert also die Fähigkeit zum Aufbau einer militärischen Organisation ab, die den europäischen Armeen äquivalent erschien. Die Schlussfolgerung war paradox: Weil angeblich die Opfer europäischer Kolonialherrschaft zu schwach waren, um sich den europäischern Armeen in offener Feldschlacht stellen zu können, zogen sie sich nach der militärtheoretischen Analyse seit der französischen Okkupation des Gebiets um Algier auf die Anwendung der Hit-and-Run-Taktik zurück. Weil sie sich der offenen Feldschlacht verweigerten, schienen sämtliche taktischen Mittel gegen die Opfer europäischer Kolonialherrschaft legal zum Einsatz kommen zu können.
4. Der Begriff des Kolonialkriegs im völkerrechtstheoretischen Schrifttum des 19. und frühen 20.Jahrhunderts Die sich im Verlauf des 19.Jahrhunderts vollziehende allmähliche Exemtion des Kolonialkriegs vom zeitgleich entstehenden völkerrechtlichen Normensystem des Staatenkriegs fand auch ihren Niederschlag im zeitgenössischen völkerrechtstheoretischen Schrifttum. In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts enthielten die Handbücher des Völkerrechts keine Hinweise zum Begriff des Kolonialkriegs. So bestimmte der bayerische Staatsrechtler Julius Schmelzing wie Theoretiker seit dem 16.Jahrhundert den Krieg in universalen Kategorien, obschon er den Begriff der Siedlungskolonien kannte und den Erwerb solcher Kolonien als Rechtstitel für Eu-
48 Dass in den Kolonialkriegen praktisch auch Genozid als taktisches Mittel zum Einsatz kommen konnte, dass mithin die Wahl der taktischen Mittel durch europäische Armeen tatsächlich unbegrenzt war, bezeugte der Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Siehe dazu Krüger, Kriegsbewältigung; dies., Warum gingen die deutschen Kolonialkriege, 134–136.
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ropäer konstruierte. 49 Selbst gegen „die unsteten Nomaden, die unsicheren Jäger und Horden-Stämme“ sei Krieg „der Zustand der öffentlichen Feindseligkeiten zwischen freien, selbständigen und unabhängigen Völkern“, urteilte er im Sinn der Naturrechtslehre, obschon er wie seine unmittelbaren Zeitgenossen die Reichweite seiner Darstellung in deren Titel auf Europa beschränkte 50, und grenzte diesen öffentlichen Krieg nur ab gegen den „Privat-Krieg“. Dieser sei, so bestimmte er gemäß der Herrschaftsvertragslehre Hobbes’, aber gegen Grotius und Pufendorf, ein „feindseliger Zustand der von einander unabhängigen Menschen im Naturzustand“. 51 Diese „Privat-Kriege“ konnten nach Schmelzing überall dort nicht mehr stattfinden, wo Staaten durch freiwilligen Vertrag der Bewohner entstanden waren. Sie gehörten folglich in Schmelzings Sicht der Vergangenheit an, während der Staatenkrieg überall auf der Welt stattfinden konnte. Der Typ bewaffneten Konflikts, den Schmelzing „öffentlichen“ Krieg nannte, galt zur selben Zeit Johann Ludwig Klüber (1762–1837), Professor der Rechte an der Universität Heidelberg, als „Völkerkrieg (bellum inter gentes), wenn beide kriegführende Theile Staaten sind“. Dabei setzte er deutlicher als Schmelzing im Sinn des Nationalstaatsgedankens Völker und Staaten begrifflich gleich, ging aber wie Schmelzing von der Voraussetzung aus, dass alle Belligerenten grundsätzlich die freie Wahl der Kampfmittel hätten. Denn Klüber stellte fest, dass zwischen Belligerenten keine „Art von Gewaltthätigkeit“ ausgeschlossen sei. 52 Jeder Krieg sei gerecht, welcher der „Erhaltung äußerer Rechte“ diene. 53 Mithin blieb auch für Klüber, wie schon für die Völkerrechtstheoretiker des 16. bis 18.Jahrhunderts, die Restitution zuvor erlittenen Unrechts der einzige legitime Kriegsgrund. Wenig später sekundierte August Wilhelm Heffter (1796–1880), Professor der Rechte an der Universität Berlin. Genauso universalistisch wie Schmelzing und
49
Schmelzing, Grundriß, Bd.2 (1819), § 216, S.5f. Zu Schmelzing siehe Stolleis, Geschichte des öffentli-
chen Rechts, 198f. 50
Schmelzing, Grundriß, Bd.3 (1820), § 448, S.110f. Vgl. dazu Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 1, § 2,
Bd.2, 1; Schmalz, Das europäische Völkerrecht, 16f., 227f. Siehe dazu Steiger, Völkerrecht (1992), 132f. 51
Schmelzing, Grundriß, Bd.3 (1820), § 448, S.110, mit Verweis auf Wexonius, De bello hominis privato.
So auch Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 13, S.185f. (Ausg. von 1981), 88f. (Ausg. von 1991). Grotius hatte den Krieg von Individuen gegeneinander als zeitgenössischen Typ militärischen Konflikts eingeordnet. Siehe Grotius, De jure belli ac pacis, Buch I, Kap. III, §§ 1–3. Siehe dazu Steiger, Völkerrecht (1992), 132f. 52
Klüber, Europäisches Völkerrecht, § 235, S.383. Zu Klüber siehe Lyons, Internationalism, 216; Mohl, Ge-
schichte, 473–487; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 83–85. 53
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Klüber, Europäisches Völkerrecht, § 237, S.386.
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Klüber nahm Heffter an, Krieg könne „nur unter Parteien eintreten, unter welchen der äußerste Grad der Selbsthilfe erlaubt und möglich ist, hauptsächlich also unter völlig freien, von einander unabhängigen, keiner gemeinsamen höheren Gewalt unterworfenen Parteien, insbesondere ein Staatenkrieg unter souveränen Staaten, sowie gegen staatenlose Personen, z.B. Freibeutern, Filibustier, Seeräuber und dergl.“. 54 Irgendwelche Sonderformen von Kriegen, sei es in bestimmten Teilen der Welt oder zwischen souveränen Staaten in irgendwelchen Schutzgebieten, fanden in Heffters Kriegsdefinition keinen Platz. Bewaffnete Konflikte waren für Heffter nur dann keine Kriege, wenn die Belligerenten einer höheren Herrschaft tragenden Instanz unterstellt und deswegen keine souveränen Staaten waren. Aber auch die sogenannten „Protektorate“ besaßen Staatlichkeit und Souveränität, selbst wenn Letztere durch das Protektoratsverhältnis eingeschränkt sein konnte. 55 Heffters Handbuch wurde in 8.Auflage noch im Jahr 1888 veröffentlicht. Auch der US-Diplomat Henry Wheaton (1785–1848) 56, der für den englischen Sprachraum das bis in die 1860er Jahre am weitesten verbreitete Handbuch des Völkerrechts schrieb, kannte den Kolonialkrieg nicht, sondern definierte universalistisch im Sinn von Schmelzing, Klüber und Heffter Krieg als bewaffneten Konflikt zwischen Völkern als Ganzen im Rahmen des allgemeinen Kriegsrechts. 57 Lediglich das ius ad bellum differenzierte Wheaton, abweichend von seinen Vorläufern im 19.Jahrhundert, bereits nach Graden der von ihm postulierten „Zivilisiertheit“ der Konfliktparteien und schränkte es für die vermeintlich „zivilisierten“ Völker auf die höchsten Machtträger in den Staaten ein. Auch bestimmte Wheaton, Heffters Kriegsdefinition weiter eingrenzend, „semi-sovereign states“ sowie „tributary and vassal states“ als Kategorien von Staaten, deren ius ad bellum durch ihren Protektoratsstatus eingeschränkt sei, und nannte Krakau („freie Stadt“), die Ionischen Inseln (unter britischer Protektoratsträgerschaft), Monaco (unter nominell italienischer
54 Heffter, Völkerrecht, § 114, S.247. Zu Heffter siehe Hueck, Pragmatism; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, 82. 55 Heffter, Völkerrecht, 196. 56 Zu Wheaton siehe The National Cyclopedia of American Biography. Vol.1. New York 1898, 274f.; Lyons, Internationalism, 217. 57 Wheaton, Elements of International Law, 8.Aufl., § 296, S.314; ebenso Taylor, A Treatise, § 449f., S.448f., der den grotianischen Kriegsbegriff für zu breit hielt, da er den Privatkrieg umfasse. Ein derart breiter Kriegsbegriff könne nicht gelten, da „private hostilities“ „now under the ban of civilization“ seien. Zum Begriff des verrechteten Kriegs (bellum legale) siehe Neff, War, 177–195.
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Protektoratsträgerschaft), Kniphausen (unter oldenburgischer Protektoratsträgerschaft) und Ägypten (unter osmanischer Protektoratsträgerschaft) als Beispiele für Erstere sowie die „Berberstaaten“ (unter französischer Protektoratsträgerschaft) sowie die Staaten der Native Americans (unter der Protektoratsträgerschaft der US-Regierung) als Beipiele für Letztere. 58 Aber weder Wort noch Begriff der Kolonien schienen in Wheatons Text auf. Durch das Kriegsvölkerrecht regulierte bewaffnete Konflikte als Kriege zwischen Staaten konnten demnach überall in der Welt stattfinden. Wheatons Handbuch wurde bis in das frühe 20.Jahrhundert in bearbeiteten Fassungen neu aufgelegt. Später im 19.Jahrhundert jedoch verengten Völkerrechtstheoretiker ihre Kriegsdefinitionen stark. Travers Twiss (1809–1897) beispielsweise, der sich ausgiebig mit dem Völkerrechtsstatus des Kongofreistaats befasste und die britische Delegation auf der Berliner Afrikakonferenz beriet 59, wandte sich bereits im Jahr 1863 gegen den universalistischen allgemeinen Kriegsbegriff, den er insbesondere mit dem Werk des Grotius verband. Twiss warf Grotius vor, dieser habe nicht hinreichend genau im Rechtssinn zwischen privatem und öffentlichem Krieg unterschieden. Er wolle nunmehr den Krieg eng definieren als „the subject of special rights between the belligerent parties and neutrals“. 60 Krieg war folglich für Twiss, anders als für Grotius, nicht jede Form des bewaffneten Konflikts, unterschieden nur durch die Legalität der Gewaltanwendung von gewaltfreier gerichtlicher Streitschlichtung, sondern nurmehr diejenige Art bewaffneter Konflikte, die auf Sonderrechten gründete, welche das Völkerrecht Belligerenten und Neutralen zuerkannte. Der Gebrauch dieser Sonderrechte sollte nur außerhalb des Friedenszustands möglich und gebunden sein an die Völkerrechtssubjektivität der Belligerenten. Bei bestehendem Friedenszustand sei es nicht möglich, dass irgendwelche einzelnen Angehörigen einer politischen Gemeinschaft, wie immer diese organisiert sei, sich im Kriegszustand mit anderen Angehörigen derselben Gemeinschaft oder irgendwelchen anderen Gemeinschaften befinden. Denn die Friedenspflicht gelte für alle Angehörigen einer Gemeinschaft und könne nur nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts aufgehoben 58
Wheaton, Elements of International Law, 8.Aufl., § 37f., S.48–51.
59
Zu Twiss, Regius Professor of Civil Law an der Universität Oxford, siehe Koskenniemi, The Gentle Civi-
lizer, 108; Lobban, Travers Twiss; Neff, War, 168. 60
Twiss, The Law of Nations, 45f. Ebenso die als „Lieber Code“ bekannten Kriegsartikel für die Union
Forces vom 24.April 1863, Art 20. So auch noch Bull, The Anarchical Society, 185; Verzijl, International Law, Vol.9A, 7.
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werden. Twiss bot damit eine Neudefinition des Privatkriegs. Dieser sollte, Twiss zufolge, nicht mehr Krieg unter Privatpersonen im Naturzustand sein, sondern die illegitime Gewaltanwendung von Personen, die sich gegen die bestehende Friedenspflicht auflehnten. Das aber war bewaffneter Widerstand gegen die als Staatsgewalt bestehende Herrschaft. Dieser Widerstand war, Twiss zufolge, keinesfalls Krieg, auch dann nicht, wenn sich die einzelnen Widerständler zu größeren Gruppen zusammenfanden. Das Dogma ließ sich mühelos gegen antikoloniale Befreiungsarmeen in „Protektoraten“ und Kolonien wenden. Denn für Twiss konnten Staaten ohne Völkerrechtssubjektivität keine legitimen Belligerenten sein. Während mithin für die Völkerrechtstheoretiker des frühen 19.Jahrhunderts auch „Protektorate“ als souveräne Staaten ihr ius ad bellum nicht grundsätzlich verloren, sondern in der Regel auf bewaffnete Konflikte nur gegen die Protektoratstäger zu verzichten hatten, sollten nach Twiss nur noch Träger von Völkerrechtssubjektivität legitime Belligerenten sein können und dem Kriegsvölkerrecht unterworfen sein. Damit schloss er die Opfer von Kolonialherrschaft von ius ad bellum aus. Auch William Edward Hall (1836–1894) 61 äußerte im Jahr 1880 ähnliche Ansichten. Für ihn war Krieg selbstverständlich Staatenkrieg, den er im Sinn von Wheaton als bewaffneten Konflikt zwischen Völkern bestimmte. Nur Staaten, die Völkerrechtssubjektivität zur völlig freien Bestimmung ihres Handelns auf der Basis geltenden Rechts besäßen, durften seiner Meinung nach Krieg führen. Insurgenten hätten folglich keinen Anspruch auf Anerkennung als legitime Belligerenten durch Regierungen souveräner Staaten als Kriegsgegner. Staaten, die durch freiwilligen Vertrag einen Teil ihrer Souveränität abgetreten und sich auf diesem Weg dem „Protektorat“ eines anderen Staats unterstellt hätten, blieben zwar Staaten, könnten aber ihre Handlungsfreiheit nur noch innerhalb der Grenzen des Protektoratsvertrags ausüben. Das schließe die Möglichkeit der legitimen Kriegführung durch Protektoratsnehmer gegen die Protektoratsträger oder gegen andere souveräne Staaten aus. 62 Im Staatenkrieg seien zwar alle Untertanen der Kriegsgegner Feinde 63, aber der Zu-
61 Zu Hall, Barrister-at-Law und Mitglied des Institute of International Law, siehe Anghie, Imperialism, 75, 80; Holland/Pease-Watkin, William Edward Hall; Higgins, La contribution; Jackson, Quasi-States, 61; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 108; Lyons, Internationalism, 217; Mégret, Savages, 284; Neff, War, 264f. 62 Hall, A Treatise on International Law, § 4, S.19, § 10, S.33–35. Zustimmend Lasson, Princip, 76–84; Nippold, Das Geltungsgebiet, 454; ders., Das Völkerrecht, 341–343. 63 Mit dieser Bestimmung stellte sich Hall, A Treatise on International Law, § 18, S.55–61, gegen die auf dem europäischen Kontinent weithin, aber keineswegs durchgängig akzeptierte, an Rousseau anknüpfen-
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griff auf Privateigentum von Nichtkombattanten und das Vorgehen gegen deren Sicherheit sei durch Kriegsvölkerrecht eingeschränkt. 64 Indem Hall die Gültigkeit des Kriegsrechts auf den Staatenkrieg begrenzte, stellte er ohne weitere Erläuterung bewaffnete Konflikte zwischen Staaten und vermeintlich nicht-staatlichen Widerstandsgruppen, mithin den Kolonialkrieg, außerhalb des Gültigkeitsbereichs des Kriegsvölkerrechts. Deutlicher wurde im Jahr 1889 der baltendeutsche Jurist August Michael von Bulmerincq (1822–1890) 65, der zwar den Krieg als „gewaltsames Rechtsmittel zur Verteidigung des Rechtszustands zwischen Staaten“ begriff 66, aber die Gültigkeit des Völkerrechts insgesamt nicht mehr als naturrechtlich gegebene Tatsache gelten ließ, sondern von der Kooptation eines Staats in die seit Ende des 19.Jahrhunderts oft als „Family of Nations“ bezeichnete Gemeinschaft der Träger von Völkerrechtssubjektivität abhängig machen wollte und als Maßstab zur Bestimmung der Aufnahmefähigkeit die vermeintliche „Zivilisiertheit“ der Staaten setzte. Nur Staaten, behauptete Bulmerincq, die in die „Family of Nations“ kooptiert, mithin als Träger von Völkerrechtssubjektivität anerkannt seien, erachte das Völkerrecht als gleich, unabhängig von der Größe ihres Gebiets und ihrer Machtmittel. 67 Staaten ohne Völkerrechtssubjektivität konnten folglich keine legitimen Belligerenten sein. Wie Twiss widerrief Bulmerincq nicht den Grundsatz der rechtlichen Gleichheit aller Staaten, sondern differenzierte zwischen souveränen Staaten mit Völkerrechtssubjektivität
de Meinung, dass im Staatenkrieg nur die Staaten, nicht aber die Gesamtheit aller einzelnen Bewohner der Konfliktparteien Kriegsgegner seien. Ebenso wie Hall: Halleck, International Law, Kap. XXVI, § 1, S.496. Siehe dazu Rousseau, Du contrat social [Druckfassung], Buch I, Kap. 4, S.124; Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, 35–40; Oppenheim, International Law, Vol.2 (1906), 57, 59; Taylor, A Treatise, § 451, S.449–451; Triepel, Zukunft des Völkerrechts, 25–28, Rousseau und Bluntschli ausschreibend. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 628f., schrieb die Apologetik Triepels aus der Zeit des Ersten Weltkriegs unkritisch ab. Wie Hall argumentierte noch Gray, War, 8. Weitere Nachweise bei Janssen, Krieg, 596f. Siehe dazu auch Niklaus, The Pursuit, 234f. 64
Hall, A Treatise on International Law, § 18, S.55–61.
65
Zu Bulmerincq, Nachfolger Bluntschlis in Heidelberg, siehe Mälksoo, The Context; Stolleis, Geschichte
des öffentlichen Rechts, 439. 66
Bulmerincq, Das Völkerrecht, § 92, S.357; ebenso Martens, Einleitung, § 106, S.477, § 108, S.484. Born-
hak, Anfänge des deutschen Kolonialstaatsrechts, 37, behauptete, die „Schutzgebiete“ hätten kein eigenes „Militärrecht“, seien ohne jedes Militär und daher „auf den Schutz des Reiches angewiesen“. 67
Bulmerincq, Völkerrecht, § 26, S.206; § 24, S.205. Auch Nippold, Geltungsgebiet, 494, sekundierte, in-
dem er behauptete, jedes Mitglied der „Family of Nations“ sei ex definitione ein „zivilisierter“ Staat. Dasselbe noch bei Schwarzenberger, The Growth, 100.
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in der „Family of Nations“ und den vermeintlich außerhalb derselben stehenden Staaten. Völkerrechtssubjektivität galt ihm als Privileg, das an die Zuerkennung einer „Zivilisiertheit“ gebunden sein sollte. Nur vermeintlich „zivilisierte“ Staaten sollten gegeneinander das ius ad bellum ausüben können. Kurze Zeit später ging der britische Jurist Thomas Joseph Lawrence (1849– 1919) 68 noch weiter, wollte nunmehr ausdrücklich den Begriff des Völkerrechts insgesamt nur auf die scheinbar mit „Zivilisiertheit“ ausgestatteten Staaten angewandt wissen und bestimmte dieses als „the rules which determine the conduct of the general body of civilized states in their dealings with one another“. 69 Staaten wollte er, hierin noch enger definierend als Twiss, nur als solche anerkannt sehen, wenn sie „politcal units“ seien, „possessed of proprietary rights or definite portions of the earth’s surface“. „Political units“ ohne Herrschaftsrechte über ein klar abgegrenztes Staatsgebiet hätten keine Staatlichkeit; denn es sei „impossible for a nomadic tribe even if highly organized and civilized to come under its [i. e., the concept of the state, H.K.] provisions“. 70 Wo immer, Lawrence zufolge, europäische Regierungen „Nomaden“ ausmachten, schienen keine Staaten zu bestehen, schien mithin das Völkerrecht nicht zu gelten. Gegen solche vermeintlichen „Nomaden“, die vornehmlich Afrika und den Südpazifik zu bewohnen schienen 71, konnte folglich kein Krieg im Sinn des Völkerrechts stattfinden. An der Wende zum 20.Jahrhundert formulierte John Westlake (1828–1913) 72 dasselbe mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig ließ. Er definierte in Jahr 1907: „War is the state or condition of governments contending by force“, und legte Wert auf die Feststellung, dass er von „governments“ gesprochen habe, nicht von Staaten. Denn auch „insurgents“ könnten Belligerenten sein, vorausgesetzt, sie stünden unter der Kontrolle einer Regierung. 73 Zwar ließ Westlake militärischen
68 Zu Lawrence, Professor für Völkerrecht zunächst in Cambridge und später an der University of Chicago, Mitglied des Institute of International Law, siehe Anghie, Imperialism, 57, 59, 68, 78, 102; Kaemmerer, Völkerrecht, 404–409. 69 Lawrence, The Principles of International Law, § 1, S.1. 70 Ebd.§ 90, S.136. 71 Liszt, Völkerrecht, § 10, S.98. Dasselbe ohne geografische Einschränkung bei Bornhak, Allgemeine Staatslehre, 10. 72 Zu Westlake, Whewell Professor of International Law an der Universität Cambridge, siehe Anghie, Imperialism, 55, 75–80, 84, 87f., 92, 104, 106; Grovogui, Sovereigns, 51f.; Higgins, Contribution; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 127–132, 138f.; Mégret, Savages, 282; Wells, John Westlake. 73 Westlake, International Law, Vol.2, 1.
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Widerstand als Bestandteil seiner Kriegsdefinition zu, die demnach wieder etwas weiter war als diejenigen von Twiss, Bulmerincq und Lawrence. Aber er begrenzte die Fähigkeit zur Kriegführung auf diejenigen Insurgenten, deren politische Organisation eine für Westlake erkennbare Regierung umschloss. Mithin waren auch für Westlake nur diejenigen Insurgenten zugleich legitime Belligerenten, die sich in Staaten mit Regierungen organisiert hatten und als solche gouvernemental, mithin rechtlich in Bezug auf die ihnen unterstellte Bevölkerung handlungsfähig geworden waren. In Kolonien, die Westlake nicht mehr als „Protektorate“ gelten lassen, sondern als abhängige, der Herrschaft der Kolonialregierungen unterstellte, okkupierte Gebiete kategorisiert sehen wollte, schien diese Voraussetzung keinesfalls gegeben. 74 Gegen Widerstand leistende vorgebliche „Wilde“, die nicht in Staaten organisiert zu sein schienen, waren, Westlake zufolge, militärische Gewaltmaßnahmen auch gegen Nichtkombattanten als vermeintliche Pazifizierungsmaßnahmen legitim. Dass zwischen Regierungen in diesen Gebieten und europäischen Kolonialregierungen rechtsgültige zwischenstaatliche Verträge bestanden, die nicht nur die Anerkennung von Staatlichkeit, sondern auch von Souveränität belegten, war Westlake zwar bekannt. Aber er ließ diesen Tatbestand nicht als Gegenargument gegen seine These gelten. Denn diese in den Verträgen als solche kategorisierten Staaten bestünden außerhalb der „Family of Nations“ und daher außerhalb des Gültigkeitsbereichs des Völkerrechts. Mit Berufung auf die Verträge sei daher Widerstand gegen Kolonialherrschaft, Westlake zufolge, nicht zu legitimieren. James Lorimer (1818–1890) 75, Zeitgenosse von Westlake und Lawrence, war genauso wenig zimperlich. Er äußerte sich ausführlich zu der Frage, wie der von ihm so genannte „relative Wert von Staaten“ im Sinn des Völkerrechts zu bemessen sei, setzte also diesen vermeintlichen „Wert von Staaten“, anders als Bulmerincq, nicht als politischen, sondern als Rechtsbegriff voraus, der sogar die Ungleichheit der Staaten begründen zu können schien. 76 Dabei spezifizierte er Gebietsumfang, „Qualität“, Form und Gouvernementalität der Regierung als Messwerte. Staaten mit kleinem
74
Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 177f.; ders., International Law, Vol.2, 59;
ebenso Halleck, International Law, 200. Siehe dazu Kleinschmidt, Legitimität, 290–314. 75
Zu Lorimer, der als Regius Professor of Public Law and of the Law of Nature and Nations an der Uni-
versität von Edinburg lehrte und mit einem Plan zur europäischen Einheit hervorgetreten war (ders., The Institutes of the Law of Nations, Vol.2, 183–299), siehe Anghie, Imperialism, 76; Cairns, James Lorimer; Higgins, Contribution; Hinsley, Power, 134–137; Jenkins, Significance. 76
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Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, Vol.1, 182–215.
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Staatsgebiet, scheinbar ohne „Zivilisiertheit“, besiedelt von vorgeblich „nomadischer“ Bevölkerung und unter vermeintlich nicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung handlungsfähigen Regierungen konnten in zwischenstaatlichen Verträgen zwar als „Staaten“ anerkannt sein, hatten aber auf der Basis dieser Verträge in Lorimers Sicht allein noch keinen Anspruch auf Anerkennung als „gleiche“ Staaten. 77 Denn die „Sphäre“ der „vollständigen politischen Anerkennung“ sei begrenzt auf „alle bestehenden Staaten in Europa mitsamt deren Kolonien und Protektoraten“. 78 Eine Ausdehnung dieser „Sphäre“ war nicht angedacht. Anders gesagt: Lorimer argumentierte wie Westlake, dass Kolonien und „Protektorate“ unter der Herrschaft europäischer Kolonialregierungen zwar Staaten und sogar durch gültige zwischenstaatliche Verträge als solche anerkannt sein mochten, dass sie aber allein deswegen noch nicht in dem vage als „Sphäre“ bezeichneten Gültigkeitsbereich des Völkerrechts bestünden. Lorimer bestimmte also das Völkerrecht als das Hausrecht des europäischen Staatenklubs innerhalb der „Family of Nations“. Für Staaten, denen die Mitgliedschaft in der „Family of Nations“ verweigert wurde, blieb folglich auch das Kriegsvölkerrecht stumpf. Schließlich formulierte Lassa Francis Oppenheim (1858–1919) 79, dessen Lehrbuch aus dem Jahr 1905 noch bis in die 1990er Jahre in Neubearbeitungen aufgelegt wurde, explizit den Grundsatz, Kolonialkrieg sei kein Krieg im Sinn des Völkerrechts. Denn Kolonien seien Bestandteile des Staatsgebiets des „Mutterlands“ 80 und könnten daher nicht „Subjekte völkerrechtlichen Verkehrs“ sein. 81 Zur Untermauerung seines Grundsatzes traf Oppenheim die Unterscheidung zwischen „Protektoraten“ im Sinn des Völkerrechts und „sogenannten Protektoraten“, denen er Völkerrechtsstatus aberkannt wissen wollte. Für die Bestimmung der „Protektorate“ im Völkerrechtssinn knüpfte Oppenheim an die Theorien an, die schon im frühen 19.Jahrhundert formuliert worden waren, wiederholte mithin das Argument, dass 77 Ebd.168–171; ebenso Carnazza Amari, Trattato, 277. 78 Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, Vol.1, 101. Ähnlich schon Schmalz, Das europäische Völkerrecht, 36, der die Aufnahme neuer „Mitglieder des Systems“ an die „Anerkennung der übrigen Mächte“ band, „da unser Völkerrecht gerade auf unseren Sitten, auf unserer Kultur beruht“. 79 Zu Oppenheim, Nachfolger Westlakes als Whewell Professor of International Law an der Universität Cambridge, siehe Anghie, Imperialism, 39, 76, 81, 83, 85, 104, der meint, Oppenheims Völkerrechtsbuch gehöre zu den „most authoritative and distinguished treatises on international law in the English language“ (39); Lyons, Internationalism, 217; Mégret, Savages, 281f.; Schmoeckel, Story; Wells, Lassa Francis Oppenheim. 80 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), 219. 81 Ebd.506.
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„Protektorate“ Souveränität besäßen, da sie Teile ihrer Souveränität kraft zwischenstaatlicher Verträge an andere Staaten hätten abtreten können. 82 Protektoratsträger könnten überdies ihre in den Verträgen niedergelegten Rechte nur wahrnehmen, wenn der Rechtsstatus der „Protektorate“ von anderen souveränen Staaten anerkannt worden sei. Nur auf der Basis einer allgemeinen Anerkennung von „Protektoraten“ durch den Staatenklub in der „Family of Nations“ könne eine rechtsgültige Hierarchie untereinander ungleicher Staaten mit unterschiedlichen Graden von Souveränität entstehen. 83 Diesen Typus von „Protektoraten“ verortete Oppenheim wie die Theoretiker des früheren 19.Jahrhunderts ausschließlich in Europa 84 und wiederholte mit drei zeitbedingten Varianten 85 einige immer wieder genannte Beispiele, deren Zusammenstellung jedoch je nach der nationalen Perspektive eines Autors sehr unterschiedlich gestaltet sein konnte 86.
82
Ebd.§ 92, S.137f.
83
Ebd.§ 94, S.139f.
84
Ebd.
85
Ebd.§ 93, S.139, ließ Oppenheim Andorra und San Marino als „Protektorate“ Frankreichs respektive
Italiens gelten, für Monaco hingegen bestritt er Protektoratsstatus und erkannte es als souveränen Staat an, da Italien die ihm zugestandenen Protektoratsrechte faktisch nie wahrgenommen habe. Kniphausen hatte seinen Protektoratsstatus durch Annexion nach Oldenburg im Jahr 1861 verloren. Die Ionischen Inseln waren im Jahr 1863 durch bilateralen Vertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und Griechenland Bestandteil des Letzteren geworden. 86
So etwa bei Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 78, S.95 (er bezeichnete Krakau als nach Österreich
„einverleibtes Protektorat“, die Ionischen Inseln als griechischer Herrschaft unterstelltes „Protektorat“ und die „Donaufürstentümer“ als „Vasallenstaten der Türkei“. Holtzendorff, Staaten, § 26f., S.107–117, nannte die „Donaufürstenthümer“, Andorra, Monaco, San Marino, Bulgarien, Ostrumelien als „halbsouveräne Staaten in Europa“, Ägypten, Tunis, Madagaskar, Transvaal, Annam/Tongking und das Khanat von Chiwa als „halbsouveräne Staaten außerhalb Europas“. Liszt, Völkerrecht, § 6, S.52–62, verzeichnete ohne chronologische oder begriffliche Trennung Ägypten, Samos, Kreta, Kambodja, Annam, Tunis, Marokko, Madagaskar, Borneo, Sansibar, Tonga, die Malaiische Föderation, „Britisch Indien“, Transvaal, das Khanat Chiwa, das Khanat Buchara und San Marino als „halbsouveräne Staaten“, wobei er für Kambodja, Annam, Tunis, Marokko, Madagaskar, Borneo, Sansibar, die Malaiische Föderation und Buchara Verträge als Rechtsgrundlage der Protektoratsträgerschaft gelten ließ. Phillimore, Commentaries, 100–155, galten als „semi-sovereign“: Kniphausen, Pogliazza (Dalmatien), Moldau, Wallachei, Montenegro, Monaco, die Ionischen Inseln, San Marino, Belgien, Luxemburg, Griechenland, die „Barbary States“, Algier, Tunis, Marokko, Rumänien, Serbien, Zypern, Rumelien, Bosnien-Herzegovina, Bulgarien und Ägypten. Für Bogiževič, Halbsouveränität, 1–84, waren Moldau, die Walachei, Serbien, Montenegro, Bulgarien (Ostrumelien), Samos, Kreta, Ägypten, Algier, Tripolis, Tunis, Krakau, die Ionischen Inseln, Andorra, San Marino, Monaco, Annam, Tonkin, Indische Herrscher, Native Americans, die Damiyō in Japan, Mosquitos, die Suluinseln, Transvaal „halbsouverän“. Despagnet, Essai sur les protectorats, 62–216, führte als „Principaux Protectorates“ an: Genua, Monaco, San Marino, den Rheinbund, die Ionischen Inseln, Krakau, Andorra, Montenegro, Rumänien, Serbien, Bul-
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Dieser völkerrechtlich geregelte Protektoratsstatus komme jedoch den „sogenannten Protektoraten“ nicht zu. Diese lägen außerhalb Europas und seien keine Mitglieder des Staatenklubs in der „Family of Nations“, nicht-christlich und nicht einmal Staaten in einem vorgeblichen Rechtssinn. 87 Die Protektoratsträger könnten diese „sogenannten Protektorate“ nach innerstaatlichem Recht einseitig okkupieren und annektieren, ohne die Anerkennung anderer Träger von Völkerrechtssubjektivität zu benötigen. Denn die Protektoratsträger seien in Bezug auf ihre spezifischen Rechte über diese Gebiete nicht an Abkommen mit anderen Trägern von Völkerrechtssubjektivität gebunden. So erkannte er in der Errichtung eines französischen „Protektorats“ über Madagaskar durch zwischenstaatlichen Vertrag vom 1.Oktober 1895 88 und gegen dessen Wortlaut die Annexion Madagaskars durch Frankreich 89. Auch die übrigen zu dieser Zeit in Afrika bestehenden europäischen „Protektorate“ ließ Oppenheim nicht als solche gelten, auch wenn diese in zwischenstaatlichen Verträgen ausdrücklich als souveräne Staaten anerkannt worden waren. 90 Die Gebiete könnten seiner Ansicht nach nicht mit den europäischen „Protektoraten“ verglichen werden. Denn sie seien nicht als Staaten organisiert, sondern als „tribes“ 91, deren „chiefs“ keine Staatsoberhäupter und folglich keine Angehörigen der „Family of Nations“ seien 92. Sollte auf diese Gebiete die Bezeichnung „Protektorate“
garien, Ägypten, Transvaal, Sansibar, Abessinien, Harrar, Khiva, Samoa, Tahiti, Wallis, Kambodscha, Annam/Tonkin, Tunesien, Madagaskar, die Komoren und Dahomey. Engelhardt, Protectorats, 31–180, listete auf: die Walachei, Moldau, Serbien, Montenegro, Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Zypern, Ägypten, Transsylvanien, die Türkei, den Vatikan, Neapel, Genua, Monaco, San Marino, Venedig (für die Zeit vor 1204), Ragusa, Pogglizza/Rogosnizza, die Ionischen Inseln, Andorra, die Bistümer Toul, Metz und Verdun, die Republik Katalonien, die Republik Saint-Martin, die Republik de Valais, den Rheinbund, Danzig und Krakau. Zu einer bis auf die Nennung der Moldau und der Walachei abweichenden Liste aus dem 18.Jahrhundert siehe oben Kap. 1, Anm.78. 87 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 94, S.139f. 88 Vertrag zwischen Frankreich und Madagaskar vom 1.Oktober 1895, Art.I, S.74. Die Präambel dieses Vertrags erkennt ausdrücklich die Königin Madagaskars, in deren Namen der Vertrag auf madegassischer Seite abgeschlossen ist, als Herrscherin eines souveränen Staats an (ebd.). Auch die Deklaration bezüglich der Inbesitznahme Madagaskars durch Frankreich vom 18.Januar 1896 steht dem nicht entgegen, da in sie der zuvor abgeschlossene Vertrag inseriert ist. 89 Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 94, S.139f. 90 Ebd.§ 94, S.140. 91 Ebd. 92 Ebd.§ 226, S.280f.
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angewendet worden sein, so seien keine „Protektorate“ im Rechtssinn gemeint, sondern Gebiete, die für künftige Okkupation durch die genannten Protektoratsträger reserviert wurden. „Okkupation“ sei ein Rechtstitel wie „Entdeckung“, auch wenn sie mit anderen Wörtern bezeichnet werde. 93 Bewaffnete Konflikte in den „sogenannten Protektoraten“ waren folglich nach Oppenheim keine Kriege, sondern Akte der Niederschlagung von Rebellion, die nicht nach dem Kriegsvölkerrecht, sondern nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht der Protektoratsträger geregelt seien. Kolonialkrieg war daher für Oppenheim die Niederschlagung vermeintlich illegitimen Widerstands gegen die angeblich legitime Staatsgewalt der Protektoratsträger. Oppenheim schränkte also den Kriegsbegriff so rigoros ein wie kaum ein Theoretiker zuvor. Nicht nur schloss er wie Twiss Privatpersonen aus seinem Begriff der legitimen Belligerenten aus, ließ Krieg nur in den wenigen Teilen der Welt stattfinden, in denen Staaten als Träger von Völkerrechtssubjektivität bestanden. Konflikte zwischen „Protektoraten“ in Europa und souveränen Staaten hingegen ließ Oppenheim ausdrücklich zu und verwies als Beleg auf den Krieg zwischen Bulgarien als türkischem „Protektorat“ und Serbien im Jahr 1885. 94 Das Völkerrecht gab auch er aus als Hausrecht des europäischen Staatenklubs in der „Family of Nations“. Zwischen souveränen Staaten und den „sogenannten Protektoraten“ außerhalb des Staatenklubs in der „Family of Nations“ konnte es somit, Oppenheim zufolge, zu keinem Krieg im Sinn des Kriegsvölkerrechts kommen. Den „sogenannten Protektoraten“ fehlte seiner Ansicht nach nicht nur Völkerrechtssubjektivität, sondern auch Staatlichkeit, selbst wenn zwischen den „sogenannten Protektoraten“ und Angehörigen der „Family of Nations“ rechtsgültige zwischenstaatliche Verträge bestanden. Sogar in zeitlicher Hinsicht grenzte Oppenheim zudem seinen Kriegsbegriff ein. Diesen setzte er gültig nur für die Neuzeit und klammerte dadurch das Altertum und das Mittelalter aus. Denn damals seien Kriege zwischen Privatpersonen als Belligerenten üblich gewesen. 95
93
Ebd.; Oppenheim, International Law, Vol.2 (1906), § 57, S.63.
94
Ebd.§ 56, S.58.
95
Ebd.§ 57, S.59; Oppenheim, International Law, Vol.1 (1905), § 30, S.34; Kunz, Anerkennung, 30f., 33, be-
fand apodiktisch: „Anerkennung von Staaten ist mit Aufnahme von Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft nicht identisch.“ Nur „Staaten“ in Sinne des Völkerrechts, denen er Fähigkeit und Intention zur Erfüllung der ihnen obliegenden Rechtspflichten zuzuerkennen bereit war, sollten Aufnahme in die „Family of Nations“ finden dürfen. Heilborn, Anerkennung, 9, grenzte den Begriff der Anerkennung neuer Staaten auf Vorgänge der „Loßreißung vom Mutterlande“ ein. Für die Privatkriege benutzte Oppenheim das Wort
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Militär- und Völkerrechtstheoretiker gingen also an der Wende zum 20. Jahrhundert darin konform, dass sie Kolonialkriege als irreguläre, nicht durch das Kriegsvölkerrecht geregelte, totale Kriege mit der Begründung zu rechtfertigen versuchten, dass die Gegner der regulären, eigentlich an das Kriegsvölkerrecht gebundenen Armeen der europäischen Kolonialregierungen in deren Kolonien und „Protektoraten“ sich weder an die Regeln des Kriegsvölkerrechts zu halten noch die von der Theorie gesetzten Bedingungen für dessen Anwendung zu erfüllen schienen. Dafür konnten sich die Theoretiker seit dem Ende des 19.Jahrhunderts sogar auf positives Völkerrecht berufen, das in den Haager Landkriegsordnungen vom 29.Juli 1899 und vom 18.Oktober 1907 niedergelegt war. 96 Deren Gültigkeitsbereich war beschränkt auf Armeen, Milizen und Freikorps und forderte von Belligerenten die Unterstellung der Kombattanten unter einen verantwortlichen Kommandeur, die Erkennbarkeit der Kombattanten auf Distanz, das offene Tragen von Waffen und die Unterwerfung ihrer Operationen unter das gesetzte und gewohnheitliche Kriegsvölkerrecht. 97 Im Fall einer plötzlichen Invasion seien Bevölkerungsgruppen, die den Invasoren Widerstand leisteten, auch Belligerenten, wenn sie mindestens die vierte Bedingung erfüllten, aber keine Zeit zur Erfüllung der ersten drei Bedingungen vor Beginn der Kampfhandlungen hätten. 98 Damit war die Verweigerung des Kriegsbegriffs, des ius ad bellum und der Anerkennung der Gültigkeit des Kriegsvölkerrechts gegenüber den keine der vier Bedingungen, auch nicht langfristig erfüllenden, antikolonialen Widerstandsgruppen nunmehr legal im Sinn des positiven Völkerrechts, nicht mehr allein Ideologie zur Rechtfertigung von Kolonialherrschaft. Ob die Haager Landkriegsordnung in dieser Hinsicht ein Beitrag zu den Zielen der internationalen Friedensbewegung und zur Fortentwicklung des Völkerrechts war, darf mindestens als fraglich gelten. 99
„Petty War“ (Oppenheim, International Law, Vol.2 [1906], § 60, S.67) in einer, gemessen an der zeitgenössischen Militärtheorie, falschen Bedeutung. Offenkundig war der Jurist mit der Begrifflichkeit des Kleinen Kriegs in der Militärtheorie nicht vertraut. 96 Haager Konferenz, Règlement (1899), 436–442; Règlement (1907), 289–297. 97 Ebd.Art.1, S.436. 98 Ebd.Art.2, S.436. 99 Dahin gehenden Optimismus verbreitete der wohl engagierteste deutsche Anhänger der internationalen Friedensbewegung: Wehberg, La contribution. Siehe dazu auch Merignhac, Les lois. Hingegen bestand der baltische Völkerrechtler Friedrich Fromhold Martens, russischer Delegierter auf der Haager Konferenz von 1899, in seiner Einlassung zum Begriff der Belligerenten auf der Eingrenzung der „principles of international law, as they result from the usages established between civilized nations“ und verweigerte damit,
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Abb.1: Schema des europäischen Gleichgewichts. Nach: Karl Friedrich von dem Knesebeck, Denkschrift betreffend die Gleichgewichts-Lage Europa’s. Berlin 1854.
5. Diskriminierung der Opfer von Kolonialherrschaft in der Theorie der internationalen Beziehungen Die politische Theorie der internationalen Beziehungen verstärkte die Wirkung der Diskriminierung, die die Militär- und Völkerrechtstheorie gegenüber den Opohne in der Konferenz auf Widerstand zu treffen, kategorisch den Opfern von Kolonialherrschaft den Belligerentenstatus (Nachweis bei Rolin, Report, 141). Auch befand der Heidelberger Staatsrechtler Jellinek aus aktuellem Anlass, die Bekämpfung des Boxeraufstands in China finde außerhalb des Völkerrechts statt, da China die „Vorstellung von der Heiligkeit“ der Verträge nicht kenne, die Haager Landkriegsordnung nicht ratifiziert habe und folglich nicht hinreichend „zivilisiert“sei. Siehe Jellinek, China, 492–494. Ebenso zählte Liszt, Völkerrecht, § 1, S.4, China zu den „halbzivilisierten Staaten“. Dazu kritisch Kayaoğlu, Imperialism, 149–189; Mégret, Savages, 308–311, der mit guten Gründen das Kriegsvölkerrecht als „project of Western imperialism“ bezeichnete.
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fern europäischer Kolonialherrschaft artikulierte. Dies geschah durch Modifikation der aus dem 18.Jahrhundert überkommenen Theorie des Gleichgewichts der Mächte. Diese war in ihrer Formulierung beispielsweise durch Vattel rechtlichen Charakters gewesen, hatte mithin Normen der internationalen Politik gesetzt, deren Beachtung durch Herrscher und Regierungen der Staaten eingefordert und als eine Richtschnur zur Bestimmung der Gerechtigkeit von Kriegen gedient. 100 Die gegenüber diesen Annahmen kritischen Theoretiker des frühen 19.Jahrhunderts postulierten hingegen den neuen Grundsatz, dass ein Gleichgewicht der Mächte nicht darauf abgestellt sein könne, um jeden Preis, im Extremfall auch durch Krieg, bestehende Machtverhältnisse zu stabilisieren, sondern vielmehr in der Lage sein müsste, die Schockwirkungen plötzlich auftretender „nationaler Leidenschaften“ der Staaten zu absorbieren. 101 Um diese Leistung erbringen zu können, müsse das Gleichgewicht flexibel sein und auch Veränderungen in der Staatenwelt aushalten können. Anders gesagt: Die Gleichgewichtstheoretiker des 19.Jahrhunderts nahmen die Erwartung von Staatensukzession 102 in ihre Theoriemodelle auf, wohingegen die Theoretiker der internationalen Beziehungen des 17. und 18.Jahrhunderts einen Beitrag zur Verhinderung von Staatensukzession hatten leisten wollen. Der systemische Raum, innerhalb dessen die neugefasste Theorie des Gleichgewichts der Mächte Anwendung fand, blieb noch in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts auf Europa begrenzt. 103 Die im biologistischen Begriff des internationalen Systems des 19.Jahrhunderts angelegte Möglichkeit der Globalisierung des europäischen internationalen Systems wurde seit der Mitte dieses Jahrhunderts genutzt, als die europäischen Kolonialmächte in Konkurrenz um die Errichtung globaler Kolonialreiche traten. Insbesondere die britische Außenpolitik sollte nun nach Meinung britischer Diplomaten auf der Voraussetzung ruhen, dass ein globales Gleichgewicht der Mächte bestehe und dass es Aufgabe der britischen Regierung sei, dem Streben nach Dominanz irgendeiner Macht an jedwedem Ort der Welt durch geeignete Maßnahmen auch militärischer Art entgegenzuwirken. Zwar war diese Ansicht zu Beginn des 20.Jahrhunderts implizit gegen die deutsche Marinerüstung gerichtet, aber explizit
100 Vattel, Le droit des gens, Buch III, Kap. 3, §§ 42–49, Vol.2, 32–43. 101 Brougham and Vaux, Balance of Power. 102 Siehe dazu oben Kap. 3, Anm.8. 103 Knesebeck, Denkschrift; Goldmann, Pentarchie; Maurice, Balance of Military Power.
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in der Phraseologie angeblich unveränderbarer Naturgesetzmäßigkeiten formuliert, die Abweichungen nicht zu gestatten schienen. 104 Nach dieser Fassung der Theorie des Gleichgewichts der Mächte bestanden folglich nur wenige globale Akteure, deren Weltpolitiken als aufeinander bezogen theoretisiert werden konnten. 105 Die Kolonien im untechnischen Wortgebrauch dieser Autoren waren nach dieser Theorie ohne Völkerrechtsstatus und hatten folglich keinen Akteurstatus, auch wenn sich in ihnen souveräne Staaten befanden. Die Programmatik der PanEuropa-Bewegung hielt an dieser politischen Bewertung des Status von Kolonien, ohne jegliche Differenzierung nach deren Rechtsstatus, noch in den 1920er Jahren fest, indem sie kurzerhand den gesamten afrikanischen Kontinent dem von ihr konzipierten europäischen Kontinentalblock zuordnete. 106 Theoretiker der internationalen Beziehungen konzipierten somit ein hierarchisches internationales System mit nur wenigen, in dynamischem Gleichgewicht befindlichen systemischen Akteuren, deren Macht über den Globus als Ganzes zu reichen schien. Den Völkerrechtsbegriff der Gleichheit der Staaten, ohnehin schon durch Lorimer in Frage gestellt, reduzierten diese Theoretiker auf die Beziehungen innerhalb der „Family of Nations“, diese sogar eingrenzend, auf die Beziehungen der europäischen Kolonialregierungen sowie einiger weniger anderer Regierungen etwa Japans und der USA untereinander. 107 Zur Diskriminierung der Opfer europäischer Kolonialherrschaft im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert kam es zudem nicht nur durch die Korruption des Völkerrechts zur Ideologie von Kolonialherrschaft und durch die Konstruktion des diskriminierenden Begriffs des Kolonialkriegs, sondern auch durch Rationalisierungen auf der Basis geglaubter Ergebnisse empirischer sozialwissenschaftlicher, insbesondere ethnosoziologischer Forschung und deren Umsetzung in praktische Politik. Sozialwissenschaftler trugen wesentlich dazu bei, Bevölkerungsgruppen in den unter europäischer Kolonialherrschaft stehenden Gebieten so zu beschreiben, als könne ihnen auf unbestimmte Zeit die Anerkennung von Gouvernementalität verweigert, die Fähigkeit zur Selbstregierung streitig gemacht, die Staatlichkeit in Abrede 104 Crowe, Memorandum; ebenso Grey, Minutes. 105 Dies tat insbesondere Hintze, Imperialismus (1907), 459; ders., Imperialismus (1917), 117. 106 Coudenhove-Kalergi, Das Pan-Europäische Manifest. Siehe dazu Ziegerhofer[-Prettenthaler], Paneuropa; dies./Gehler, Richard Coudenhove-Kalergi. 107 Dickinson, Equality, 105, unter explizitem Verweis auf Lorimer, The Institutes of the Law of Nations, Vol.1, 168–171.
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gestellt oder schlichtweg behauptet werden, die Kulturen der Bevölkerungsgruppen in diesen Gebieten seien geschichtslos, zu Fortschritt ungeeignet und daher dem Untergang geweiht. Ethnografische Beschreibungen in Verbindung mit Bewertungen von Erfahrungen in den Kolonialkriegen gaben die Grundlage für die Politik der Verweigerung der Anerkennung von Gouvernementalität ab. Sie lieferten die scheinbare Faktenbasis für die evolutionistische funktionalistische Ethnosoziologie des 19. Jahrhunderts, die die vermeintlich „wilden“ oder „primitiven“ Kulturen sogenannter „Nomaden“ an den Anfang der Menschheitsgeschichte positionierte, als weder Staaten noch Marktwirtschaft bestanden zu haben schienen. 108 Kulturen, deren Träger nach den im 19.Jahrhundert greifbaren ethnografischen Beschreibungen im Zustand vermeintlicher „Wildheit“ oder „Primitivität“ zu verharren schienen, galten als rezente Manifestationen angeblichen Mangels an „Zivilisiertheit“. 109 Auch diese rezenten Träger vermeintlich „primitiver“ Kulturen konnten in der Sicht dieser Ethnosoziologen weder Staaten ausbilden, noch sich geordneter, das hieß rechtmäßiger Herrschaft unterwerfen, noch sich selbst regieren, noch grundsätzlich mit anderen Gruppen in Frieden leben. Diese Kulturen, in denen mithin Gouvernementalität nicht gegeben zu sein schien, verorteten die Ethnologen des 19.Jahrhunderts insbesondere unter den Native Americans, in Afrika, in Teilen Süd- und Südostasiens sowie im Südpazifik. 110 Die Ethnosoziologie des frühen 20.Jahrhunderts verdichtete die empirischen Befunde, theoretischen Ableitungen und Erfahrungen aus den Kolonialkriegen des 108 So insbesondere Spencer, Principles of Sociology, Vol.1, 482, 485f.; Tylor, Primitive Culture, 32. Reinsch, Colonial Administration, 59f., behauptete, „the constant shifting of the African population“ sei die Ursache für den Mangel an „higher social organization“. Gumplowicz, Rassenkampf, 196–207, Letourneau, Sociology, 453, 473, und Mucke, Horde und Familie, nahmen an, die sogenannten „Horden“ als kleine Gruppen seien am angeblichen „Kampf ums Dasein“ nur mit rudimentären Mitteln beteiligt. Bereits Phillimore, Commentaries, 82, hatte argumentiert: „All hordes or bands of men recently associated together, newly arrived or occupying any previously uninhabited tract or country, though it may be possible that such horde or band may in course of time change its character, and ripen on to a body politic, and have a claim to be recognized as such: to exclude from the legal category of a state.“ Rohrbach, Kolonie, 71, behauptete unter Berufung auf Spencer, Afrikaner hätten sich nicht zur Teilnahme an der Marktwirtschaft entwickeln können und daher sei es „notwendig“, dass „die weiße Nation, der eine Kolonie gehört, sich bereichert“ durch „Verbindung von Bodennutzung und Eingeborenennutzung“. Zur Kritik dieser Ideologien siehe Petersson, Zivilisierungsmission, 39–41. 109 Tylor, Primitive Culture, 32. 110 Ebd.27, 42f., 61.
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19.Jahrhunderts zu einem ethnologischen Kriegsbegriff, der kulturrelativistisch scharf gegen den Kriegsbegriff des Kriegsvölkerrechts abgegrenzt war. Für bewaffnete Konflikte zwischen Angehörigen vorgeblich „primitiver“ Kulturen verwandten die Ethnosoziologen zwar das deutsche Wort Krieg oder dessen Parallelen in anderen europäischen Sprachen, stellten aber den mit diesen Wörtern bezeichneten Begriff außerhalb des Gültigkeitsbereichs des Kriegsvölkerrechts. So glaubte beispielsweise der Ethnosoziologe Maurice Davie in seiner im Jahr 1929 veröffentlichten Studie über die Evolution des Kriegs, unter „Primitiven“ sei „Kannibalismus“ eine häufige Kriegsursache, und verwies als Beleg für diese Aussage auf nicht weiter spezifizierte Befunde aus Melanesien. 111 Dabei kamen auch rassistische Phrasen zur Anwendung, etwa wenn Davie „the Negro race“ als „certainly the most warlike and most accustomed to bloodshed“ kategorisierte. 112 Krieg sei der gruppenbildende Faktor schlechtin unter „savages“, denen weder „discipline“ 113 noch das Rechtsinstitut der „declaration of war“ 114 bekannt sei und deren Taktik in der Hauptsache auf „treachery and ambush“ 115 basiere. Krieg unter diesen „savages“ sei „small war“, da die „savages“ sich nur in kleinen Gruppen organisieren könnten. Folglich sei die Schadenswirkung des Waffengebrauchs begrenzt. 116 Zwar gebe es „evidence of chivalry“ 117, aber im allgemeinen gelte: „Primitive tribes [...] are more warlike than peaceful and their warfare is severe and sanguinary more than it is mild and bloodless.“ 118 Ausdrücklich spezifizierte Davie, „nomadic races“ seien „as a rule more belligerent than agriculturalists“, da sie wegen ihrer unsteten Lebensweise häufig in Konflikt mit anderen Gruppen gerieten. 119 Angehörigen vorgeblich „primitiver“ Kulturen mangelte es in der Sicht der Ethnosoziologie also an Gouvernementalität, und dieser Mangel verhinderte angeblich die Ausbildung staatlicher Herrschaft. Der Ethnosoziologe Bronislaw Kaspar Malinowski (1884–1942) 120 definierte auf der Ba-
111 Davie, Evolution, 67; ebenso Frobenius, Weltgeschichte, 2f.; Reinsch, Colonial Administration, 70. 112 Davie, Evolution, 55. 113 Ebd.163. 114 Ebd.176. 115 Ebd. 116 Ebd.177; ebenso schon Knabenhans, Krieg, 78. 117 Davie, Evolution, 181. 118 Ebd.63; ebenso schon Thurnwald, Ermittlungen, 323–325; ders., Rechtsleben, 40. 119 Davie, Evolution, 63; ebenso Mühlmann, Krieg; Turney-High, Primitive War; Weule, Krieg. 120 Zu Malinowski siehe Kory, Bronislaw Kaspar Malinowski; Kuper, Anthropology; Stocking, After Tylor.
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sis dieser Merkmale den für lange Zeit mit geringfügigen Modifikationen akzeptierten 121 ethnologischen Kriegsbegriff, der bewaffnete Konflikte zwischen unabhängigen Gruppen, unter Einsatz „organisierter“ Streitkräfte und zur Durchsetzung „tribaler“ Ziele umfasste. Diese „tribalen“ Ziele, meinte Malinowski, würden ausschließlich in den Gruppen verfolgt, die Gegenstände ethnologischer Betrachtung seien. 122 Mit diesen Analysen und Definitionen propagierte die sich kulturrelativistisch gebende Ethnosoziologie 123 heterostereotype, auch vom Rassismus geprägte Konstrukte über die von ihr als „primitiv“ kategorisierten Kulturen als nach den Kriterien solider Wissenschaft empirisch erworbenes und daher scheinbar gesichertes Faktenwissen. Diese Konstrukte stellten die ideologische Basis dar, der sich die interessierten europäischen Regierungen zur Aufrechterhaltung ihrer Kolonialherrschaft bedienen konnten. „Eingeborenenpolitik“ setze „Eingeborenenstudium“ voraus, postulierte der Berliner Ethnosoziologe Richard Thurnwald im Jahr 1912 und forderte, die Ethnologie solle Denkweisen der „Eingeborenen“ analysieren, damit deren Arbeitskraft zum Abbau von Mineralien und den Anbau von Rohstoffen für die sogenannten „Kolonialwaren“ gewinnbringend ausgebeutet werden könne. Zur selben Zeit ließen Kolonialregierungen von Amts wegen empirische Daten über Rechtssysteme in Gruppen von „Eingeborenen“ unter ihrer Herrschaft sammeln. 124 121 Siehe dazu Bohannan, Law and Warfare; Divale, Warfare, XVIII; Ferguson, Introduction; ders./Brian/ Farragher, Anthropology; ders., Explaining War; ders./Brian/Whitehead (Eds.), War; Frobenius, Weltgeschichte; Gat, War, 114–132; Hallpike, Functionalist Interpretations; Keegan, War, 24f.; Keeley, Warfare, 3– 23; Mead, War; Otterbein, A History of Research; ders., A Unified Theory; ders., Convergence; ders., The Anthropology of War; ders. The Evolution of War; ders., The Origin of War; Park, The Social Functions; Vayda, Primitive War; ders., Hypotheses; ders., War. 122 Malinowski, An Anthropological Analysis; ebenso schon Frobenius, Weltgeschichte, 3; Knabenhans, Krieg, 37–81. 123 Siehe dazu Rudolph, Der Kulturelle Relativismus. 124 Im Deutschen Reich ging die Initiative zur Sammlung von Daten über das sogenannte „Eingeborenenrecht“ von Rechtswissenschaftlern aus und wurde schließlich im Jahr 1907 vom Reichstag aufgegriffen. Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages (1907). Zu den Datensammlungen siehe Beneke, Entwurf; ders., Fragebogen; Knabenhans, Krieg, 37–81; Kohler, Fragebogen; Post, Fragebogen; Steinmetz/Thurnwald, Ethnographische Fragesammlung. Die Antworten sind erhalten in: Bundesarchiv Berlin, R 1001/4990; die Ergebnisse wurden veröffentlicht in Schultz-Ewert/Adam, Das Eingeborenenrecht; Thurnwald, Ermittlungen; ders., Rechtsleben; ders., Angewandte Ethnologie, 59–60; Wodon, Enquête. – Zur Relevanz der Ethnosoziologie für die Kolonialpolitik siehe schon den Überblick von Leclerc, Anthropologie, sowie die Studien von Boin, Erforschung, 50–87, 98–100; Großfeld/Wilde, Josef Kohler; Hardach, Defining Separate Spheres, 241; Sippel, Der deutsche Reichstag, 719–721, 725f.
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In diesem Sinn leisteten die von der Ethnosoziologie gelieferten Befunde sogar mehr als die Ideologien der Völkerrechtstheorie. Denn während die Völkerrechtstheorien die Kategorien bereitstellten, mit denen die Aberkennung der Völkerrechtssubjektivität legitimiert werden konnte, bot die Ethnosoziologie diejenigen soziopolitischen Argumente, mit denen den Bewohnern in den „Protektoraten“ Gouvernementalität bestritten werden konnte. Anders gesagt: Während die Völkerrechtslehre ideologisch die Errichtung von Kolonialherrschaft untermauerte, dienten die Analysen der Ethnosoziologie der Rechtfertigung des Fortbestands von Kolonialherrschaft auf unbestimmte Dauer. 125
6. Diskriminierung der Opfer von Kolonialherrschaft in der Staatenpraxis Die europäischen Kolonialregierungen setzten das von der empirischen Forschung bereitgestellte scheinbar gesicherte Faktenwissen schnell in die Pragmatik staatlicher Verwaltung um. Nach Abschluss von Protektoratsverträgen oder anderen völkerrechtlichen Maßnahmen zur Errichtung von „Protektoraten“ transferierten die europäischen Kolonialregierungern einseitig die Kompetenz zur Regelung dieser Beziehungen von den Außen- in die Kolonialministerien. 126 Auch dazu liefer-
125 Diese Analysen wirken bis in die unmittelbare Gegenwart indirekt nach. Sie wurden zur Basis der Datenkompilationen „Human Relations Area Files“, die der Ethnologe George Peter Murdock an der Yale University anlegen und zu statistischen Übersichten verdichten ließ; siehe Murdock, Ethnographic Atlas. Murdocks Statistiken, die auf der umstrittenen Annahme basierten, dass „primitive political systems“ „stateless systems“ seien (siehe dazu oben Kap. 1, Anm.84), fanden gleichwohl als Datengrundlage Eingang in die politikwissenschaftliche Theoriebildung über direkte und indirekte Herrschaft. Siehe Gerring/ Ziblatt/Gorp/Arévalo, An Institutional Theory, 416. Nach Murdocks Daten erreichte unter den ehemals britischen Dependenzien „Uganda“ (d. i. die Republic of Uganda), das zwischen 1900 und 1962 unter vermeintlicher „indirect rule“ gestanden hatte, seltsamerweise einen „Stateness“ Index von nur 2,25, weniger als Tanzania mit 2,3, das bis 1918 direkter deutscher Kolonialherrschaft unterworfen gewesen war. Ghana rangierte bei Murdock mit dem hohen Wert 2,45, obwohl das dortige Königreich der Ashanti zwischen 1901 und 1957 unter direkter britischer Kolonialherrschaft gestanden hatte. Offenkundig blieben in Murdocks Datenliste die Rechtsgrundlagen europäischer Kolonialherrschaft unberücksichtigt. 126 Der grundsätzlichen Zuständigkeit der Außenministerien als derjenigen Behörden, denen in den europäischen Kolonialregierungen der Abschluss zwischenstaatlicher Verträge oblag, stand nicht entgegen, dass von Fall zu Fall auch die Kolonialministerien mit einer die bilateralen Beziehungen zu Staaten in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik betreffenden Angelegenheit befasst sein konnten. So re-
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te die Völkerrechtstheorie die Legitimation mit dem schon beschriebenen Griff in die Trickkiste der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung. Obschon die Verträge, die europäische Kolonialregierungen mit Staaten in Afrika-, West-, Süd- und Südostasien geschlossen hatten, nichts an Deutlichkeit dahin gehend zu wünschen übrig ließen, dass sie die Beziehungen zwischen Staaten regeln sollten, behaupteten Völkerrechtstheoretiker einfach, diese Verträge seien so zu deuten, dass „[p]assives Subject des in Schutzbriefen von souveränen Staaten verheißenen Schutzes [...] nicht Staaten, sondern vielmehr private Colonisten, einzelne Individuen oder Unternehmergesellschaften [sind], die dann durch Privilegien zum Zwecke der Sicherung ihrer Handelsoperationen mit Eingeborenen oder der Bodennutzung sowohl gegen Eingeborene als gegen Eingriffe anderer Europäischer Staaten [...] aufgenommen werden“. 127 Nach dieser Lehre waren die Verträge gegen ihren Wortlaut gar nicht zwischen Staaten geschlossen, waren die „Protektorate“ gar nicht auf der Basis des Völkerrechts errichtet worden, sondern wurden einfach als gegeben vorausgesetzt. Die Verträge sollten dann nur dem „Schutz“ europäischer Migranten in den „Protektoraten“ dienen. Die Lehre blieb trotz ihrer mangelnden Fundierung in den Rechtsquellen in ihrer Zeit nahezu unwidersprochen. 128 Die Umstände und Folgen dieses Vorgangs der Verschiebung der Regelungskompetenz aus den Außen- in die Kolonialministerien der europäischen Kolonialregierungen sollen an den Beispielen des Königreichs Buganda in Ostafrika sowie des Königreichs der Ashanti in Westafrika erläutert werden.
klamierte der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain für sich die Kompetenz, Emissionäre abzuweisen, die König Nana Agyeman Prempeh I. im Jahr 1895 nach London entsandt hatte, um die Intentionen der britischen Regierung gegenüber dem unter seiner Herrschaft stehenden Königreich Ashanti zu erkunden. Prempeh sah sich nicht in der Lage, den diesbezüglichen Stellungnahmen des britischen Gouverneurs der Goldküste Glauben zu schenken. Dieser hatte verlautbart, die britische Militärexpedition werde vorbereitet, um die Einhaltung des Vertrags zwischen Ashanti und dem Vereinigten Königreich vom Jahr 1874 zu erzwingen, während Prempeh vermutete, die britische Invasionsarmee solle ihn absetzen. Chamberlain weigerte sich, die Delegation zu empfangen, da sie keine hinreichenden Dokumente zur Beglaubigung ihrer Bevollmächtigung zu besitzen schienen und da er den Gouverneur als den für die Beziehungen zu Ashanti zuständigen Amtsträger betrachtete. Während Prempeh mithin den Streit um die Einhaltung des Vertrags von 1874 in den Bereich des Völkerrechts einordnete, argumentierte Chamberlain kolonialpolitisch, obschon Prempeh als Oberhaupt eines souveränen Staats anerkannt war. Siehe dazu Chamberlains Stellungnahme vor dem britischen Unterhaus, in: Baden-Powell, Downfall, 31–35; Prempeh I, History, 153–158. 127 Holtzendorff, Staaten, § 27, S.115f.; ebenso Rehm, Allgemeine Staatslehre, § 79, S.81. 128 Ausnahme Hornung, Civilisés. Siehe dazu Fisch, Expansion, 292–295, 332–337, 365–369; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 534; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, 109.
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Buganda als Staat im Innern Ostafrikas war in Europa erst seit den späten 1850er Jahren durch arabische Kaufleute bekanntgeworden. Als erster Europäer hatte ihn John Hanning Speke im Jahr 1862 erreicht als Leiter einer Expedition, die die britische Royal Geographical Society zur Erkundung der Quellen des Nils nach Ostafrika entsandt hatte. 129 Seit 1876 waren dort Missionare der Anglikanischen, seit 1877 derRömisch-Katholischen Kirche tätig. 130 Die britischen Interessen vertrat seit 1888 die Imperial British East Africa Company als privilegierte Handelskompanie, der die britische Regierung sowohl die zivile Verwaltung als auch die militärische Kontrolle übertragen hatte. Infolge der Tätigkeit der Missionare bildeten sich rivalisierende Konvertitengruppen, die seit 1892 ihren Konflikt bewaffnet austrugen. Hauptgegenstände des Konflikts waren die Fragen, auf welche Seite der König von Buganda („Kabaka“) Mwanga in der Konkurrenz der Konfessionen treten würde, und unter das „Protektorat“ welcher europäischen Regierung er sich stellen würde. Mwanga hatte nach internen Konflikten bereits im Jahr 1888 bei katholischen Missionaren am Südufer des Viktoriasees Zuflucht gesucht und war dort zum Katholizismus konvertiert. Im Jahr 1889 gelang ihm, angeblich mit britischer Hilfe, die Rückkehr als Kabaka, und er neigte dann dem Anglikanismus zu. Gleich nach seiner Restitution ging Mwanga jedoch den „Schutz“-Vertrag mit dem Deutschen Reich ein, den der Abenteurer Carl Peters ohne Bevollmächtigung seitens der Reichsregierung ausgehandelt hatte. 131 Diese verweigerte die Ratifizierung des Vertrags und trat im Helgoland-Sansibar-Vertrag das Gebiet an die britische Regierung ab. Mwanga aber lehnte es vorerst ab, einen Vertrag mit dem Vereinigten Königreich abzuschließen, willigte aber am 26.Dezember 1890 in einen auf zwei Jahre befristeten Vertrag über die Errichtung eines „Protektorats“ ein. Durch den Vertrag erkannte Mwanga die „suzerainty“ der Imperial British East Africa Company als Trägerin von Protektoratsherrschaft über Buganda an (§ 1f., 11), erlaubte die Niederlassung eines Residenten 129 Zu Spekes Expedition siehe Speke, Journal; ders., The Upper Basin of the Nile; ders., What Led to the Discovery; Grant, A Walk across Africa; ders., Papers. – Speke ging auf einer Route, die bereits im Jahr 1848 vorgeschlagen worden war; siehe Bialloblotzky, Brief; Beke, Failure; ders., Observation; ders., Who Discovered the Sources. 130 Zu frühen Berichten über die Mission der Anglikanischen Kirche siehe Baskerville/Pilkington, Gospel; Felkin/Wilson, Uganda; Hutchinson, Victoria; Harrison, Alexander M. Mackay; Wilson, Missionär; ders., Account; ders., Uganda. 131 Peters, Deutsch-National, 59–63; ders., Die deutsche Emin-Pascha Expedition; ders., Die Gründung von Deutsch-Ostafrika. Dazu Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 232; Perras, Peters, 131–167. Siehe dazu auch oben Kap. 3, Anm.141.
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der Kompanie (§ 3, 8), die Mission (§ 4) und den freien Handel (§ 7), zedierte die Fiskalhoheit einem „Board of Finance“ unter Aufsicht der Kompanie (§ 5), errichtete eine Armee, die die Offiziere der Kompanie nach Vorbild der britischen Regimenter in Indien drillen lassen sollten (§ 6), gestand die Ernennung von Beamten nur nach dem Leistungsprinzip, ohne Rücksicht auf den Glauben zu (§ 9) und verbot Sklavenhandel (§ 10). 132 Im Jahr 1892 entschied sich die Kompanie, militärisch in den Konflikt einzugreifen, hauptsächlich um die Konvertiten, Geistlichen und Einrichtungen der Anglikanischen Kirche zu schützen. Die Einsatztruppen standen unter dem Kommando des Hauptmanns, später Lord Frederick John Dealtry Lugard. 133 Lugard erzwang ein Ende der Kämpfe und kehrte nach London zurück. Die Kompanie jedoch erwies sich als wenig geeignetes Instrument zur Vertretung britischer Interessen, zumal ihr Vermögen zum Einsatz größerer Kampfverbände nicht ausreichte. Die britische Regierung ließ daraufhin die Bedingungen einer Übernahme von Herrschaft im eigenen Recht durch den eigens dorthin entsandten Sonderemissär Sir Gerald Portal prüfen und errichtete im Jahr 1893 ein „Protektorat“ über Buganda, obschon Portal sich im Bericht über seine Mission skeptisch über den Nutzen eines solchen „Protektorats“ geäußert hatte. 134 Im Jahr 1894 schloss Mwanga einen neuen Vertrag. 135 Gleichwohl entsandte die britische Regierung weiterhin Truppen zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche, indem sie Mwanga vorwarf, „einen schlechten Charakter“ zu haben, angeblich „unbeschreibliche Orgien“ zu veranstal-
132 Zum Zustandekommen des Vertrags siehe Lugard, The Diaries, 40–46 (42–45: Abdruck des Vertrags); Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 232. Der Vertrag wurde auf britischer Seite nicht ratifiziert. Siehe dazu auch Kiwanuka, Kabaka; Low, British East Africa; Morris, The Framework of Indirect Rule; Wild, The Uganda Mutiny. 133 Lugard, The Story of the Uganda Protectorate; siehe dazu Kiwanuka, A History of Buganda, 192–270; Hemphill, The British Sphere, 394–399; Low, Uganda, 72–84. 134 Portal, The British Mission. Vertrag Buganda-Vereinigtes Königreich: Provisional Agreement between King Mwanga of Uganda and Sir G[erald] Portal vom 29.Mai 1893, in: Hertslet, Map, Vol.1, 393–395. Art.9 schrieb ausdrücklich vor, dass Mwanga „fully recognise that the protection of Great Britain entails the complete recognition by myself, my Government, and people throughout my Kingdom of Uganda and its dependencies, of all and every international act and obligation to which Great Britain may be a party, as binding upon myself, my successors, and my said Government and people, to such extent and in such manner as may be prescribed by Her Majesty’s Government“. 135 Vertrag zwischen Buganda und dem Vereinigten Königreich vom 27.August 1894, in: Hertslet, Map, Vol.1, 396. Siehe dazu Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 235. In diesen Vertrag ist der Wortlaut der dispositiven Bestimmungen des Vertrags von 1893 inseriert.
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ten und den Vertrag von 1894 zu brechen. 136 Im Verlauf der erneut stattfindenden Kämpfe floh Mwanga abermals im Jahr 1898, wurde aber schnell gefasst, abgesetzt und auf die Seychellen deportiert, wo er im Jahr 1903 verstarb. 137 Die britische Regierung ließ durch ihren Vertreter Trevor Ternan Mwangas zweijährigen Sohn Daudi Chwa als neuen Kabaka einsetzen. In dessen Namen schloss die für ihn die Regentschaft führende Regierung am 10.März 1900 mit dem aus London entsandten „Special Commissioner“ Sir Harry Hamilton Johnston einen neuen Vertrag, der das Köngreich Buganda in das nunmehr neu zu errichtende „Uganda Protectorate“ neben anderen ostafrikanischen Staaten und Gebieten einbezog, diese Staaten und Gebiete jedoch nicht spezifizierte. 138 In dem neuen „Uganda Protectorate“ sollte das Königreich Buganda auf alle früheren Tributzahlungen, die es seitens anderer ostafrikanischer Staaten empfangen hatte, verzichten. 139 Durch den Vertrag verlor Buganda seinen Status als souveräner Staat nicht, sondern nutzte im Sinn des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge seine fortbestehende Souveränität zur Preisgabe seiner Völkerrechtssubjektivität. Buganda wurde, anders als in den früheren Abkommen, auch nicht selbst kraft dieses Vertrags britisches „Protektorat“, sondern Bestandteil einer umfassenden, durch denselben Vertrag erst begründeten Institution, die erst im Text selbst als „Uganda Protectorate“ bezeichnet wurde. Die Darstellung dieses Ablaufs entstammt der Perspektive Johnstons. Diesem zufolge war Mwanga nicht zur Führung einer geordneten Regierung in der Lage, da er angeblich einem unmoralischen Lebenswandel huldigte, Christen verfolgte, im Konfliktfall sich der Verantwortung durch Flucht entzog und gegebene Verspre-
136 Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 224. 137 Macdonald, Soldiering. Dazu Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 238–244; Low, Lion, 21f.; ders., The Fabrication, 84–214. 138 Zu Johnston und dem „Uganda Agreement“ von 1900 siehe Atanda, British Rule; Baxendale/Johnson, Uganda; Casada, Sir Harry Hamilton Johnston; Hangula, Die Grenzziehungen; Hanson, Landed Obligation; Ibingira, The Forging of an African Nation; Ingham, The Making of Modern Uganda; Kabwegyere, The Politics of State Formation; Kiwanuka, Uganda; ders., Kabaka; Low, The Making; ders., Lion Rampant; ders., Fabrication, 57–95, 281–317; McEwen, International Boundaries; Mair, Buganda; Oliver, Sir Harry Johnston, 287–337; Pawlikowá, Buganda; dies., The Transformation of Buganda; dies., Kabaka; Roberts, The Evolution of the Uganda Agreement; Rowe, Land and Politics; ders., The Western Impact; Southwold, Succession; Twaddle, Kakungulu; Wrigley, Kingship. – Johnston legte den Bericht über seine Mission vor unter dem Titel: Report by His Majesty’s Special Commissioner in the Protectorate of Uganda. 139 Britisch-bugandischer Vertrag vom Jahr 1900.
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chen nicht einhielt. 140 In britischer Sicht war mithin Gouvernementalität in Buganda nicht gegeben. Diese Wahrnehmung galt, nicht nur in Johnstons Sicht, sondern auch in der Sicht der zeitgenössischen britischen Tagespresse, als Vorwand für eine Intervention mit dem Ziel der Unterstellung Bugandas unter eine Form britischer Oberherrschaft. Da Johnston der Meinung war, dass die Einhaltung geschlossener Verträge auf der Seite Bugandas ohne britischen militärischen Druck nicht gewährleitet sei, ließ er, auf der Basis der Theorie der „herrenlosen Souveränität“, alles Land, das für ihn nicht erkennbar in Privateigentum stand, der Kontrolle des Kabaka entziehen und der britischen Krone unterstellen. Aus dem „organized and civilised Negro kingdom“, von dem arabische Kaufleute um die Mitte des 19.Jahrhunderts berichtet hatten 141, schien in Johnstons Darstellung ein Staat ohne „Zivilisiertheit“ geworden zu sein, in dem jede „important question affecting the rights or sentiments of the natives“ 142 nur auf der Basis eines letztlich durch militärische Gewaltanwendung erzwingbaren Vertrags mit dem Vereinigten Königreich geregelt werden zu können schien. Die Perspektive Mwangas ist hingegen nicht belegt. Denn er selbst hinterließ, soweit bekannt, keine Aufzeichnungen, weder über die Grundsätze seiner Herrschaftsausübung noch über den Hergang der Deportation aus seiner Sicht. 143 Gleichwohl sollte Buganda für die Sicherung britischer Interessen in Ostafrika eine Sonderrolle gegenüber den anderen Staaten und Gebieten in dem „Protektorat“ zukommen. 144 Im Vertrag selbst fand diese Sonderrolle ihren Ausdruck nicht nur in dem Umstand, dass die Regierung des Königreichs Buganda zum Eintreiben von Steuern für die britische Protektoratsregierung herangezogen werden sollte, sondern auch in der Vorschrift, dass die britische Protektoratsregierung keine Gesetze erlassen dürfe, die gegen den Vertrag und gegen geltendes bugandisches Recht verstießen. 145 Entsprechende Passagen fanden in Verträge keinen Eingang, die die bri140 Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 224, 232, 233. 141 Ebd.Vol.1, 217. 142 Ebd.Vol.1, 248; Rogers, Shall Uganda be Retained?; Thomson, The Uganda Problem; Williams, Uganda. 143 Auch von seinem Enkel Mutesa II., im Amt von 1939 bis 1966, gibt es zu Mwanga keine schriftlichen Aussagen. Siehe Mutesa II, Desecration, 45–59. Der Kabaka scheint zwar aus Mitteilungen seines Vaters geschöpft zu haben, legte aber seiner Beschreibung der Herrschaftszeit Mwangas und der Umstände von dessen Deportation die damals schon gedruckten Tagebücher Lugards sowie die gedruckten Berichte von Portal (siehe oben Kap. 4, Anm.134) und Macdonald (siehe oben Kap. 4, Anm.137) zugrunde. 144 Johnston, The Uganda Protectorate, Vol.1, 248. 145 Buganda-Vertrag, Art.V, S.316.
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tische Regierung später mit den Regierungen von Toro (1900), Ankole (1901) und Bunyoro (1933) innerhalb des „Uganda Protectorate“ schloss. 146 Hingegen verpflichtete sich die Regierung Bugandas durch den Vertrag, die Zustimmung des britischen Monarchen im Fall der Einsetzung eines neuen Kabaka einzuholen. 147 Der britisch-bugandische Vertrag von 1900 enthielt also Regelungen, die Staaten betrafen, die keine Parteien dieses Vertrags waren. Zudem erhielt er seit dem frühen 20.Jahrhundert auch Gültigkeit für Gebiete innerhalb des „Uganda Protectorate“ nördlich von Buganda und Bunyoro, mit deren Herrschern und Regierungen die britische Regierung niemals Verträge abgeschlossen hatte oder abschloss. Gleichwohl gab der Vertrag die rechtliche Grundlage ab für britische Kolonialherrschaft in diesem Teil Ostafrikas. Er behielt Gültigkeit bis zum 9.Oktober 1962, als die auf der Basis des „Uganda Protectorate“ neu entstehende Republik Uganda ihre Unabhängigkeit erlangte. Die Regierung von Buganda schritt zwar nicht zu militärischem Widerstand gegen die britische Protektoratsherrschaft, organisierte aber während der 1950er Jahre wiederholt zivilen Ungehorsam. Buganda blieb folglich auf der Grundlage des Vertrags von 1900 als souveräner Staat bestehen, bis die Republik Uganda als unabhängiger Staat anerkannt wurde. 148 Die britische Regierung war sich des Umstands bewusst, dass Buganda ein souveräner Staat war, denn sie betraute das Foreign Office mit dem Verfahren der Einrichtung des britischen „Protektorats“ und des Vertragsschlusses und transferierte die Kompetenz zur Regelung ihrer Beziehungen mit Buganda erst im Jahr 1907 an das Colonial Office. 149 Mit diesem Schritt war in britischer Sicht die Aberkennung der Völkerrechtssubjektivität auch im praktischen Regierungshandeln verbunden. Die Kompetenzübertragung war jedoch ein einseitiger Willkürakt der britischen Regierung, für welche der Vertrag selbst keine Rechtsgrundlage bot. Die Regierung von
146 Ankole-Vertrag; Toro-Vertrag; Bunyoro-Vertrag. 147 Buganda-Vertrag. 148 Boycott and the Uganda National Movement, 1959; The Lukiiko Memorandum, 1960, in: Low (Ed.), The Mind of Buganda, 195–210. Siehe dazu Pratt, The Politics of Indirect Rule. Insbesondere zu dem Handelsboykott in Buganda im Jahr 1959 siehe Ghai, The Buganda Trade Boycott; Kiwanuka, The Uganda National Movement; Low, The Advent of Populism; ders., Boycott; Maquet, Institutionalisatio. – Connor, Nation-Building, wies darauf hin, dass postkoloniale Staatsgründungen oft mit der Zerstörung präkolonialer Staaten einhergingen, ohne jedoch die vertragsrechtlichen Grundlagen und die einseitigen Änderungen des Status der präkolonialen afrikanischen Staaten durch die europäischen Kolonialregierungen zu berücksichtigen. Desgleichen Craven, The Decolonization, 166–173. 149 Dazu Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 145.
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Buganda akzeptierte den Fait accompli, ohne ihn ausdrücklich anzuerkennen. Dennoch bestand sie auf der Einhaltung des Vertrags von 1900, was den darin festgeschriebenen Sonderstatus Bugandas im „Uganda Protectorate“ betraf. Als beispielsweise in den 1920er Jahren die britische Regierung sich mit dem Gedanken trug, die nach dem Ersten Weltkrieg zusammenliegenden britischen ostafrikanischen Dependenzien der „Kenya Colony“, des „Uganda Protectorate“ und des ihr übertragenen „Tanganyika Mandatory Territory“ des Völkerbunds unter eine übergeordnete, „Closer Union“ genannte Behörde zu stellen 150, intervenierte Daudi Chwa mit Hinweis auf den Vertrag von 1900, stellte die in Artikel V des Vertrags untersagte Veränderung des Rechtsstatus von Buganda im „Uganda Protectorate“ im Fall der Einrichtung der „Closer Union“ fest und äußerte mit ausdrücklichem Bezug auf den Vertrag Widerspruch gegen das Projekt. 151 Die britische Regierung legte schließlich das Projekt auf Eis, da nicht nur der Kabaka von Buganda, sondern auch britische Siedler in Kenia es ablehnten. Die britische und andere Kolonialregierungen änderten den Rechtsstatus ihrer in Kolonien und „Protektoraten“ bestehenden Dependenzien generell einseitig durch machtpolitischen Pragmatismus und schufen damit eine Unrechtserfahrung unter den Opfern europäischer Kolonialherrschaft, die bis in die Gegenwart fortwirkt. 152 Das Völkerrecht erwies sich, trotz komplizierter Theoriegebäude, ungeeignet als praktisches Instrument zur Legitimierung der Änderung des Rechtsstatus der Kolonialherrschaft unterworfener Staaten. Denn es war konstruiert mit dem Ziel, den Fortbestand von Staaten zu gewährleisten. Die im Zusammenhang mit der Errichtung und Verteidigung von Kolonialherrschaft vorgenommenen Änderungen des Rechtsstatus der der Kolonialherrschaft unterstellten Staaten folgten daher nicht aus der Anwendung von Rechtsnormen, sondern aus den Geboten der Machtpolitik. Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich aus Interventionen, die, anders als in Buganda, zur Übernahme der direkten Herrschaft durch die Regierung der USA in Hawaii 153 und von europäischen Kolonialregierungen, beispielsweise durch die briti-
150 Ormsby-Gore, East Africa; Hilton Young, Report; Wilson, Report 19. Siehe dazu Pratt, The Administration of Politics; Rotberg, The Federation Movement. 151 Daudi Chwa II, Kabaka von Buganda, Brief vom 29.Oktober 1927 an W. Ormsby-Gore. 152 Siehe dazu Kleinschmidt, Europa. 153 Für Letztere ist direkte Herrschaftsübernahme durch die Annexion des Königreichs Hawaii im Jahr 1898 belegt. Zur Darstellung der Umstände des Endes hawaiischer Souveränität und Staatlichkeit siehe Lilioukalani, Hawaii, 267–299.
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sche Regierung gegenüber den Ashanti, führten. Bereits im Jahr 1817 schlossen der König („Asantehene“) der Ashanti und die britische Regierung den schon erwähnten ungleichen „Protektorats“-Vertrag. 154 Die britische Seite sicherte sich nicht nur das Recht zu, den Ashanti „protection“ zu gewähren (Art. VII) und neben anderem für die „prosperity of the people“ zu sorgen. Letzteres sollte auch dadurch geschehen, dass der Gouverneur das Recht erhielt, Gesetzesübertretungen zu bestrafen (Art. VIII), während den Ashanti die Pflicht auferlegt wurde, königliche Prinzen und Prinzessinnen zur Erziehung aus Kumasi, der Hauptstadt des Königreichs, in die britische Kolonie Cape Coast Castle an der sogenannten Goldküste zu entsenden, „in full confidence of the good intention of the British Government, and of the benefit to be derived therefrom“ (Art. IX). 155 Auf der Basis dieses Vertrags reklamierte die britische Regierung somit für sich weitgehende Rechte der Protektoratsträgerschaft über einen als souverän anerkennten Staat in Afrika bereits zu einem Zeitpunkt, als die völkerrechtstheoretische Literatur „Protektorate“ ausschließlich in Europa lokalisierte. Die der britischen Regierung eingeräumten Rechte umfassten nicht nur die direkte Intervention in die Strafjustiz der Ashanti, sondern in britischer Auslegung des Begriffs des „Protektorats“ auch den partiellen Verzicht auf das ius ad bellum gegenüber Gebieten, die direkt an der sogenannten Goldküste gelegen waren. Dieser Verzicht blieb zwar in den dispositiven Bestimmungen des Vertrags selbst unausgesprochen, war aber nach britischer Lesart in der undefiniert bleibenden Bezeichnung „protection“ bindend einbeschlossen. Hingegen brachte die britische Seite unmissverständlich ihre Absicht zum Ausdruck, durch ihre Intervention fördern zu wollen, was ihr als Gouvernementalität des Königreichs der Ashanti erschien, ihren Einfluss auf die Politik des Königreichs auszudehnen und die dortigen Märkte für britische Kaufleute zu erschließen. Zudem reservierte sich die britische Regierung mit dem sehr selten bezeugten
154 Siehe dazu Ellis, A History of the Gold Coast, 132–135, der hervorhob (134), dass mit diesem Abkommen zum ersten Mal britische Protektoratsherrschaft vertragsrechtlich begründet worden sei. Zur älteren Geschichte der Beziehungen zwischen der sogenannten Goldküste und insbesondere den Niederlanden und Dänemark siehe Bosman, A New and Accurate Description, 182, 184f.; Dantzig, The Dutch and the Guinea Coast. Siehe dazu McCaskie, State and Society; Emmer, Engelland; Postma, The Dutch Slave Trade; ders., The Dutch in the Atlantic Slave Trade, 56–125; Reindorf, History, 306–322. 155 Vertrag zwischen Ashanti und dem Vereinigten Königreich vom 7.September 1817, 6f. Über die Verhandlungen berichtete auf britischer Seite der Unterhändler Bowditch, der auch den Vertrag abdruckte. Siehe Bowdich, Mission, 118–130, Vertragsabdruck 126–128.
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Recht, auf die Erziehung königlicher Prinzen und Prinzessinnen in den im Gold Coast Castle betriebenen Missionsschulen Einfluss nehmen zu können, die Chance, künftige Generationen von Herrschaftsträgern im Sinn der christlich-europäischen Bildungstraditionen zu formen. Dabei ist bemerkenswert, dass dieses Recht in dem Vertrag von 1817 festgeschrieben wurde, obschon zur selben Zeit wie auch später der britischen Seite die auf Schriftlichkeit basierende bürokratische Herrschaftsform im Königreich Ashanti bekannt war. Es ging der britischen Seite damals also nicht darum, Gouvernementalität mit Einführung schriftlicher Verwaltungspraxis durchzusetzen, sondern um den Oktroi europäischer kultureller Normen und Werte in einem damals in europäischer Perspektive als „zivilisiert“ geltenden Königreich. 156 Die britische wie auch andere Regierungen fühlten sich nicht in jeder Hinsicht an ihre mit afrikanischen Regierungen bestehenden Verträge gebunden. So vereinbarten die britische und die niederländische Regierung im Jahr 1868 die Arrondierung ihrer Einflusszonen in Westafrika, und schließlich trat im Jahr 1872 die niederländische Regierung ihre westafrikanischen Forts an die britische Regierung ab. Letztere integrierte die Forts in ihre Cape Coast Colony. 157 Auf den anderen Seite scheint die Regierung der Ashanti, insbesondere der Asantehene selbst, den im Vertrag nicht ausdrücklich stipulierten Verzicht auf das ius ad bellum nicht als dauerhaft bindenden Gegenstand des Abkommens aufgefasst zu haben. Denn er griff ohne Zögern wiederholt zu den Waffen, zumal gegen die Fante an der Atlantikküste, insbesondere zwischen 1823 und 1831. Belegt ist das Bewusstsein der Diskrepanz zwischen den Rechtsauffassungen der Ashanti und der britischen Regierung hinsichtlich des ius ad bellum jedoch erst im Rückblick aus dem Jahr 1874. In diesem Jahr führte der
156 Zeitgenössische britische Quellen hoben den Gebrauch des Arabischen zum Führen herrscherlicher Akten hervor. Das Vorhandensein umfangreichen Schrifttums notierte noch der britische Kommandeur Wolseley, der im Jahr 1874 Kumasi vorübergehend besetzte; Bowditch, Mission, 232; Dupuis, Journal, 229; Callwell, Small Wars, 246f., zu Wolseley. Siehe dazu Hargreaves, West African States, 211–213; Wilks, Aspects of Bureaucratization; ders., Ashanti Government. 157 Auch in dem auf den Krieg zwischen 1822 und 1831 folgenden Friedensvertrag zwischen dem Königreich der Ashanti, den Fante sowie weiteren „Chiefs“ und dem Vereinigten Königreich vom 27.April 1831 war vom Verzicht auf das ius ad bellum nicht die Rede. Der Asantehene verpflichtete sich, mit allen Vertragsparteien Frieden zu bewahren (Art.I, S.455), sowie zur Sicherung von „lawful commerce“ und der Offenhaltung der Verbindungsstraßen zwischen Kumasi und der Küste. Außerdem verzichtete er auf Tributzahlungen aus benachbarten Königreichen (Art. II, S.455). Zu dem Krieg siehe den zeitgenössischen Bericht von Ricketts, Narrative of the Ashanti War.
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Asantehene abermals Krieg gegen die Fante und obsiegte. Der dortige britische Gouverneur der „Goldküste“, General Garnett Joseph Wolseley, intervenierte schließlich zugunsten der Fante und verlangte den Rückzug der Armee des Asantehene. Als dieser der Aufforderung keine Folge leistete, sondern weiter gegen die Fante vorrückte, lieferten britische Truppen der Ashanti-Armee eine Schlacht und siegten. Wolseley rückte auf Kumasi vor und nahm die Stadt ein. Am 13.Februar 1874 kam ein weiterer Friedensvertrag zustande, den Wolseley im Namen der britischen Königin und König Karkari der Ashanti durch einen Vertreter unterzeichneten. Der Vertrag erlegte den Ashanti Kriegsreparationen in Höhe von 50000 Goldunzen, zahlbar in einer sofortigen Rate von 1000 Unzen sowie später in festzulegenden Raten auf (Art. II). Außerdem mussten die Ashanti auf Tribute verzichten (Art. III), ihre Rechte an der ehemals portugiesischen Festung Elmina an der Küste auf die britische Regierung übertragen (Art. IV), ihre Truppen teilweise zurückziehen (Art.V), die Freiheit des Handels zusichern (Art. VI), wichtige Verbindungsstraßen zwischen Kumasi und der Küste offenhalten (Art. VII) und die Praxis des „Menschenopfers“ beenden (Art. VIII). 158 In britischer Sicht bestand das Königreich der Ashanti gerade durch diesen Friedensvertrag als souveräner Staat mit Völkerrechtssubjektivität fort. Gleichwohl behauptete die britische Seite, zum Zeitpunkt des Vertrags von 1874 sei die Gouvernementalität der Regierung des Königreichs der Ashanti nicht mehr gesichert gewesen. Daher sei eine Intervention in das Königreich als Pazifizierungsmaßnahme erforderlich gewesen, die Briten schoben also die Verantwortung für ihr Handeln den Opfern ihrer Intervention zu. Denn in britischer Wahrnehmung widersprach die Praxis des angeblichen „Menschenopfers“ der vermeintlichen „Zivilisiertheit“. 159 Zudem hatte der Asantehene in britischer Wahrnehmung die zuvor geschlossenen
158 Vertrag zwischen dem Königreich der Ashanti und dem Vereinigten Königreich vom 13.Februar 1874. Die britische Politik gegenüber Ashanti ist dokumentiert in: Parliamentary Papers (1874). Siehe dazu Claridge, A History, 3–193; Ellis, History, 299–353. Zur Kriegsberichterstattung auf britischer Seite siehe Brackenbury, The Ashanti; Henty, The March; Reade, The Story; Stanley, Coomassie. 159 Die britische Regierung schloss eine ganze Serie von Verträgen über die Beendigung sogenannter „Menschenopfer“ mit Sherbro, Suguru, Grand Berely, Doewin, St. Andrew, Grand Lahon, Antonio Lahon, Jack Jacques, Ivory Bay, Old Calabar and Duke Town and Creek Town, Bimbia, Malimba, Otonda, Batanga Benito und Cammas vom 12., 18., 25., 26., 28., 29.Februar, 2., 18/20., 31.März, 4., 7.April und 25.Mai 1848. Noch der britisch-madegassische Vertrag vom 27.Juni 1865, Art. XVIII, untersagte in ähnlicher Weise die Praxis des Gottesurteils durch Verabreichung von Gift und verlangte, dass im Kriegsfall britische Kriegsgefangene weder versklavt noch getötet würden.
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Verträge gebrochen, indem er gegen die Fante an der Küste ohne Genehmigung des britischen Gouverneurs im Cape Coast Castle nicht nur Krieg zur Eintreibung von Tributen geführt 160, sondern sich auch der britischen Aufforderung nach einem Ende der Kampfhandlungen widersetzt hatte. Hinzukam, so ließ die britische Regierung später behaupten, dass die Ashanti auch den Vertrag von 1874 immer wieder gebrochen hätten. Die oktroyierten Reparationen hätten sie nur zum kleinen Teil gezahlt und weiter Krieg geführt, und zwar nicht nur, ohne die Genehmigung des britischen Gouverneurs in Cape Coast Castle einzuholen, sondern auch mit dem angeblichen Ziel, dieses zu bedrohen. Zu ihrer Verteidigung hätten sie eine Delegation nach London entsandt, die man aber wegen vorgeblich unechter Bevollmächtigungen nicht habe empfangen können. 161 Daher, so stellte es britische Propaganda dar, habe die britische Regierung das Königreich der Ashanti im Jahr 1891 unter ihr „Protektorat“ stellen wollen. 162 Als dieser Plan angeblich am Widerstand der Ashanti gescheitert zu sein schien, drangen im Jahr 1896 britische Truppen in einer weiteren Pazifizierungsmission wieder nach Kumasi vor, um von den Ashanti die Einhaltung des Vertrags von 1874 zu erzwingen, insbesondere die Reparationen einzutreiben. Außerdem trug die britische Seite den Vorwand vor, die Herrschenden im Königreich der Ashanti seien Sklavenhalter und kidnappten Menschen aus Nachbarstaaten, um sie in scheinbar orgiastischen Ritualen zu „opfern“. Diese Bedrohung des friedlichen Verkehrs zwischen den Staaten sei „unzivilisiert“ und müsse durch britische Intervention von außen beendet werden. 163 Als der regierende Asantehene Nana Agyeman Prempeh I. die Zahlung des geforderten Betrags in ganzer Höhe zu 160 Die Annahme von Tributen war laut Vertrag zwischen den Ashanti und dem Vereinigten Königreich von 1831, Art. II, S.456, untersagt gewesen. 161 Zur Norm der Vorlage von authentischer Bevollmächtigungen siehe schon Wicquefort, The Embassador, 246, der diese Norm als Bestandteil des von ihm so genannten „Law of Nations“ bestimmte. Die Norm war also Teil des im ius publicum europeum praktizierten völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts. Einerseits verweigerte die britische Regierung dem Königreich der Ashanti die Zugehörigkeit zur „Family of Nations“, andererseits postulierte sie am Ende des 19.Jahrhunderts einfach die globale Gültigkeit von Normen des ius publicum europeum. 162 Entwurf eines Protektoratsvertrags vom 18.Mai 1891, in: Claridge, History, 353–355. Nach dem Vertragsentwurf sollte der Asantehene auf das ius ad bellum verzichten (Art.3), sich friedlicher Streitschlichtung unterwerfen (Art.4), der britischen Seite freien Zugang zum Königreich garantieren (Art.5), einen britischen Residenten akzeptieren (Art.8) und die Straßen benutzbar halten (Art.6). Weitere Darstellung bei Baden-Powell, Downfall, unter Verwendung des offiziellen Berichts über die „expedition“ von 1896 durch Kolonialminister Joseph Chamberlain vor dem britischen Unterhaus. 163 Baden-Powell, Downfall, 22f. Siehe dazu Adjaye, Diplomacy, 142–151.
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verweigern schien, nahmen die in Kumasi stehenden britischen Truppen Prempeh kampflos fest, zwangen ihn zu einer Unterwerfungszeremonie und deportierten ihn zunächst nach Elmina an der Küste, dann nach Sierra Leone sowie im Jahr 1900 auf die Seychellen. 164 Nach der Festnahme Prempehs plünderten die britischen Truppen dessen Palast. 165 Aber auch ohne ihren König fanden sich die Ashanti mit der britischen Herrschaft nicht ab. Nachdem der britische Kommandeur Frederick Mitchell Hodgson ultimativ die Zahlung hoher Kriegsreparationen und die Herausgabe des Goldenen Stuhls, des Herrschafts- und Souveränitätssymbols der Ashanti gefordert hatte, Letzteres wohl in der Absicht, auf diesem Stuhl selbst Platz zu nehmen, erklärten die Ashanti, in Reaktion auf die Forderungen Hodgsons, den Krieg. Dieser sogenannte „War of the Golden Stool“ endete nach mehrtägiger Belagerung Kumasis durch britische Truppen mit der Niederlage der Ashanti. 166 Im folgenden Jahr 1901 annektierte die britische Regierung das Königreich in die unter ihrer Kontrolle stehende Kolonie der Goldküste. 167 Prempeh durfte im Jahr 1924 als Privatperson zurückkehren, während die britische Regierung das Königreich unter eigene Verwaltung durch neuernannte „chiefs“ stellte. 168 Die Vorgänge im Königreich der Ashanti seit 1874 sind, anders als die zeitgenössische britische Intervention in Buganda, auch aus der Sicht des abgesetzten und deportierten Asantehene Prempeh bezeugt. Dieser verfasste drei Berichte in englischer Sprache über die Umstände seiner Deportation. Der erste Bericht ist an die britische Regierung gerichtet und entstand im Jahr 1913 im Zusammenhang mit Prempehs Bemühen, die Aufhebung seines Arrests und seine Rückkehr zu erreichen. Diese Darstellung ist durchgehend apologetisch und deckt sich weitgehend mit den britischen Propagandaberichten. Im Jahr 1922, als seine Rückkehr bereits grundsätzlich sichergestellt erschien, schrieb Prempeh erneut seine Darstellung der Ereignisse seit 1874 nieder. Diese Darstellung war wesentlich detaillierter als diejenige von 1913, scheint für den internen Gebrauch bestimmt gewesen zu sein und ging mit der bri-
164 Prempeh, History, 159, 165. Siehe dazu Claridge, History, 403–422; Agyeman-Duah/Mahoune, The Asante; Metcalf, Great Britain and Ghana; Tordoff, The Exile. 165 Baden-Powell, Downfall, 129. 166 Dazu die zeitgenössische Beschreibung aus britischer Perspektive von Hodgson, The Siege of Kumasi. Die Autorin war Ehefrau des britischen Kommandeurs und bei der Belagerung anwesend. Zur britischen Politik siehe Parliamentary Papers (1896); Boahen, Yaa Asantewaa. 167 Sanderson, Great Britain in Africa, 181f. 168 Siehe dazu die Studie von Busia, The Position of the Chief.
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tischen Politik hart ins Gericht. Die dritte Beschreibung ist undatiert und entstammt offenbar aus der Zeit unmittelbar vor Prempehs Rückkehr. Sie scheint an die Ashanti gerichtet gewesen zu sein. 169 In seinem Text von 1922 bestätigte Prempeh die Tatsache eines Angriffskriegs („invade“) der Armee der Ashanti gegen die Fante im Jahr 1874, den Sieg der Ashanti über die Fante, die britische Intervention („advising“) und die Niederlage der Ashanti-Armee gegen das britische Aufgebot („defeated“). Dann stellte er ausdrücklich fest, dass die britische Seite damals nicht versucht habe, den regierenden Asantehene Karkari gefangen zu setzen, und beschrieb ferner die dispositiven Bestimmungen des Vertrags von 1874 in der Form von vier Regeln („4 rules“), die General Wolseley den Ashanti auferlegt habe. General Wolseley habe die Zahlung von 375000 Pfund Sterling als Kriegsreparation („damnity“, ähnlich Art.I des Vertrags von 1874) verlangt, angeordnet, dass niemand getötet werden dürfe („Not to kill anybody“, ähnlich Art. VIII desselben Vertrags), eine neue Straße zwischen Kumasi und Fominah zu trassieren („trace a new road“, eine Variante von Art. VII desselben Vertrags) und keinen Krieg zu führen oder kein Land zu besetzen ohne die Zustimmung des britischen Gouverneurs an der Küste („Not to make any fight or invade any country without the permission of the English Governor from the Coast“, offenbar nach Art. III desselben Vertrags). Dann fügte Prempeh zu den vier Punkten Anmerkungen bei. König Karkari habe die erste Rate der Reparationen bezahlt; er habe angeordnet, dass niemand getötet werden dürfe; er habe die Straße nach Fominah nicht trassieren lassen, und er habe keinen Krieg geführt. Mithin sagte Prempeh aus, dass drei der vier als „Regeln“ bezeichneten britischen Forderungen aus dem Vertrag erfüllt worden seien. Nach dem Vertrag sei Karkari von den Ashanti abgesetzt und in ein entferntes Dorf deportiert worden. 170 Unter Karkaris Bruder und Nachfolger Bonsu habe der Gouverneur der Provinz Juabin („leader of Juabin province“) gegen den Asantehene rebelliert, der die Rebellion niedergeschlagen habe, ohne zuvor den britischen Gouverneur in Cape Coast Castle zu informieren. Das sei ein Verstoß gegen den Vertrag gewesen. Der besiegte Gouverneur von Juabin habe sich unter britischen Schutz gestellt. Die britische Seite habe daraufhin die Zahlung der Kriegsreparationen verlangt, und Bonsu habe 2400 Pfund Stirling gesandt. König Bonsu habe die Hinrichtung mehrerer Personen 169 Prempeh, History, 147–150 (Text von 1913), 150–159 (Text von 1922), 159–166 (Text von vor 1924). 170 Ebd.151 (Text von 1922).
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angeordnet und dadurch wiederum gegen den Vertrag gehandelt. Auch habe er es weiterhin unterlassen, die Straße nach Fominah zu trassieren. Danach sei es zu einer diplomatischen Kontroverse über einen jungen Mann gekommen, der sich der Verurteilung nach Ashanti-Recht durch Flucht in das Cape Coast Castle entzogen hatte. Bonsu habe die Auslieferung verlangt und nach deren Verweigerung mit Krieg drohen lassen. Die britische Seite habe daraufhin einen Präventivangriff angedroht. Die Angelegenheit sei nach weiterem Streit durch eine Entschuldigung Bonsus und die Zusicherung der Zahlung weiterer Reparationen in Höhe von 8000 Pfund Sterling erledigt worden. Bonsu sei dann trotz britischer Unterstützung durch eine Rebellion abgesetzt worden. Sein Nachfolger Kwakudua II. sei fünf Wochen nach seiner Proklamation zum Asantehene gestorben. Danach habe zehn Jahre Bürgerkrieg („civil war“) geherrscht. 171 Im Jahr 1888 habe der britische Gouverneur zur Wiederherstellung des Friedens die Proklamation Prempehs zum Asantehene unterstützt. Danach, im Jahr 1895, habe der Gouverneur an Prempeh durch ein Truppenkontingent sechs Bedingungen überbringen lassen, die für die weitere Gestaltung der Beziehungen zwischen Prempeh und der britischen Kolonialverwaltung in Cape Coast Castle grundlegend geworden seien. Demnach sollte Prempeh die Errichtung einer Missionsstation in Kumasi zulassen, der Gouverneur würde Prempeh als „King of all the Africans“ einsetzen („appoint“), außer bei Kapitalverbrechen nicht in die Rechtsprechung der Ashanti intervenieren, die Ashanti gegen Angriffe anderer Armeen verteidigen, Prempeh eine jährliche Apanage von 1000 Pfund Sterling sowie der Königin und den „chiefs“ einen nicht spezifizierten Betrag zahlen. Zur Beratung über diese Bedingungen habe er drei Tage nach der Vorlage eine Versammlung einberufen. Während der Versammlung habe der britische Kommandeur die nach Kumasi entsandten Truppen mobilisiert. Prempeh habe daraufhin die Versammlung abgesagt und den Kommandeur zu sich gebeten. Doch der sei nach Cape Coast Castle abgezogen. Weitere Verhandlungen mit dem dortigen Gouverneur seien ergebnislos verlaufen. Daher habe er eine Delegation direkt nach London entsandt, um vor Ort herauszufinden, was die britische Regierung beabsichtige. 172 Diese Delegation sei aber von der britischen Regierung nicht empfangen worden. Unmittelbar nach der Rückkehr der De-
171 Ebd.151f. 172 Zur Diplomatie der Asantehene während des 19.Jahrhunderts siehe Adjaye, Diplomacy; Tordoff, Ashanti, 61–67; Wilks, Ashante, 641–654.
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legation seien britische Truppen nach Kumasi zurückgekehrt und hätten die Stadt besetzt. Der Kommandeur habe die Unterwerfung Prempehs und der Königin gefordert. Dies sei geschehen. Danach habe der Kommandeur die sofortige Zahlung sämtlicher Reparationen gefordert, es seien aber nur 2720 Pfund Sterling verfügbar gewesen. Diese habe er dem Kommandeur zur Zahlung angeboten, aber der habe auf der Zahlung des Gesamtbetrags bestanden. Danach sei er festgenommen und deportiert worden. Das gesamte Königreich der Ashanti werde seither von dem britischen Gouverneur regiert, während er, Prempeh, die Königin und die „chiefs“ drei- oder viermal für dasselbe Vergehen bestraft worden seien. 173 Im dritten Bericht wiederholte Prempeh diese Darstellung in geraffter Fassung und fügte eine Erklärung hinzu, warum er und die Ashanti seiner Gefangensetzung und Deportation keinen Widerstand entgegengesetzt hätten. Er habe wohl geahnt, dass die britischen Truppen im Jahr 1895 nach Kumasi gekommen waren, um ihn gefangenzunehmen. Seine „chiefs“ hätten ihm geraten, Kumasi zu verlassen und die Verteidigung der Stadt der Armee zu überlassen. Das habe er abgelehnt. Denn er sei mit Hilfe des britischen Gouverneurs nach Jahren des Bürgerkriegs Asantehene geworden. Aus Loyalität gegenüber dem britischen Gouverneur und aus Rücksicht auf das Leben seiner Untertanen habe er damals den Kampf vermieden. 174 Die Gegenüberstellung der britischen Propagandaversion mit der Darstellung Prempehs ergibt zunächst einige Gemeinsamkeiten in militärischer Hinsicht. Beide Seiten beschrieben die zwischen ihnen ausgetragenen bewaffneten Konflikte als Kriege im Sinn des Begriffs des Staatenkriegs unter Einsatz regulärer, mit Feuerwaffen ausgerüsteter Armeen. 175 Beide Seiten betrachteten ihre Gegner als souveräne Staaten, mithin als legitime Belligerenten. Keine der beiden Seiten benutzte die Begrifflichkeit des „Kleinen Kriegs“ oder erwähnte Taktiken, die die europäische militärtheoretische Literatur des 19.Jahrhunderts dem „Kleinen Krieg“ zuordnete. 176 173 Prempeh, History, 153–158 (Text von 1922). 174 Ebd.165–166. 175 Baden-Powell, Downfall, 35, zufolge, der Chamberlain zitierte, sollte die Mobilisierung der Streitkräfte der Ashanti verhindert werden, bevor die Soldaten der Ashanti, wie Chamberlain erwartete, „all the preliminary fetish-eating and oath-swearing“ würden abgeschlossen haben können. 176 Chamberlain zufolge sollten die 1895 nach Kumasi entsandten britischen Streitkräfte zahlreich genug sein, „to overawe the natives, who were assembled, be it remembered, under arms, in the villages round about Kumassi“. (Baden-Powell, Downfall, 35). Dazu diente auch eine nicht zum Einsatz gekommene Maxim-Kanone. Der Einsatz von Feuerwaffen in westafrikanischen Armeen ist archivalisch dokumentiert und war schon seit Beginn des 18.Jahrhunderts gut in der europäischen Afrikaliteratur bezeugt. Siehe Bos-
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Hingegen berichteten beide Seiten in übereinstimmender Terminologie über eingesetzte Kampfmittel des regulären Kriegs, nämlich die offene Feldschlacht, die militärische Okkupation von Land und die Belagerung von Siedlungen. Beide Seiten bewerteten die Ergebnisse der Kampfhandlungen bis 1896 gleich, nämlich als militärische Niederlagen der Ashanti. Auch hinsichtlich der strategischen Kriegszielplanung herrschte auf beiden Seiten kaum Dissens. Auf der britischen Seite stand das Ziel der Errichtung einer Form von Oberherrschaft über das Königreich der Ashanti spätestens im Jahr 1895, vor Beginn der „expedition“ nach Kumasi, fest. 177 Prempeh seinerseits berief sich in seinen beiden letzten Berichten auf Informationen, denenzufolge die britische Armee nach Kumasi komme, um den König abzusetzen. 178 Beide Berichte setzten das Recht Prempehs als gegeben voraus, diplomatische Emissäre auch nach London senden zu können 179, und stimmten schließlich darin überein, dass Prempeh sich im Jahr 1896 dem britischen Gouverneur von Cape Coast Castle unterworfen habe 180. Hingegen bestanden zwischen beiden Berichten gravierende Unterschiede in der Bewertung der Kriegsgründe und der Kriegsfolgen. Zwar werteten beide Seiten den Krieg von 1873/74 übereinstimmend als militärische Niederlage der Ashanti und schlossen auf der Basis dieser übereinstimmenden Bewertung einen zwischenstaatlichen Friedensvertrag mit den für die Ashanti abträglichen einseitigen dispositiven Bestimmungen. Aber sie beschrieben die Folgen des Friedensvertrags gegensätzlich. Auf britischer Seite reklamierte Kolonialminister Chamberlain, der erst nach den allgemeinen Wahlen am 7.August 1895 sein Amt angetreten hatte, rückblickend im
man, A New and Accurate Description, 183–187; dazu Inikori, The Import of Firearms; Kea, Firearms and Warfare; Thornton, Warfare. 177 Baden-Powell, Downfall, 30. 178 Prempeh, History, 157 (Text von 1922), 163 (Text von vor 1924). Prempeh interpretierte mithin die britische Intention der Übernahme einer Form von Protektoratsträgerschaft als Absetzung. Seinen Berichten zufolge ließ er deswegen in Cape Coast Castle nachfragen, was die britische Intention sei. Die Antwort, die er demnach erhielt, besagte, die britische Armee werde nach Kumasi kommen „to put all things in order and to hand over all the Ashanti provinces in the hands and control of King Prempeh“ (163). Nach Prempehs Bericht war mithin die britische Antwort auf seine Anfrage eine Lüge, die als solche durch britisches Handeln vor Ort schnell entlarvt wurde. 179 Baden-Powell, Downfall, 32f.; Prempeh, History, 155f. (Text von 1922), 161f. (Text von vor 1924). Chamberlain machte sich gleichwohl darüber lustig, dass Prempehs Emissäre das Siegel für ihr angebliches Beglaubigungsschreiben erst in London hergestellt hätten und benutzte dies zur Begründung dafür, dass er sich geweigert habe, sie zu empfangen. 180 Baden-Powell, Downfall, 123–126; Prempeh, History, 157 (Text von 1922), 163 (Text von vor 1924).
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Jahr 1896 nicht nur angeblich mangelnde Vertragstreue, sondern auch vermeintlichen Mangel an „Zivilisiertheit“ der Ashanti, die, so glaubte Chamberlain anders als europäische Berichterstatter bis 1874, zu schlechter Regierung und ruinösen Kriegen geführt habe. Den Ashanti erkannte er Staatlichkeit ab und diskriminierte sie als „tribe“: „From the date of the war in 1873 and 1874, this district of Africa, which is, I believe, extremely rich – certainly rich in natural resources, probably rich in mineral resources, – has been devastated, destroyed, and ruined by inter-tribal disputes, and especially by evil government of the authorities of Ashanti. No sooner was the present ruler installed as king of the country than he began to make war upon every tribe in the neighbourhood, and the consequent loss of life was great.“ 181
Angesichts der scheinbar schlechten Regierung der Ashanti bestehe keine Vertragstreue auf deren Seite. 182 Daher sei es Aufgabe der britischen Regierung, sich gegenüber den Ashanti Respekt zu verschaffen, nicht zuletzt um anderen, angeblich ebenso „unzivilisierten“ Staaten in Afrika gegenüber die Einhaltung bestehender Verträge zu erzwingen: „No man is safe in the enjoyment of his own property, and as long as that is the case, no one had any inducement to work. But in addition to these general grounds for action being taken against the Ashanti régime, there exist more particular reasons for it in the refusal of the king to carry out the provisions of the treaty of 1874. The danger of allowing treaty contracts to be evaded is fairly well understood among European nations, but the results of slackness or leniency in their enforcement are none the less dangerous when the treaty has been made with an uncivilised potentate, since his neighbours are quick to note any sign of weakness or loss of prestige on the part of the white contracting party, and
181 Baden-Powell, Downfall, 17–23. 182 Die Völkerrechtstheorie sekundierte: Liszt, Völkerrecht, § 10, S.98, behauptete verallgemeinernd: „Nomadisierende Negerstämme sind, auch wenn sie etwa unter erblicher Herrschaft ihrer Häuptlinge stehen, nicht Staaten im Sinn des Völkerrechtes, die mit ihnen geschlossenen Verträge können daher abgeleitete Gebietserwerbungen nicht begründen, sondern lediglich als Beweis oder Indiz dafür verwendet werden, daß ein Staat früher als ein anderer sich in dem in diesen Verträgen bezeichneten Gebiet festgesetzt, dieses also durch Okkupation für sich erworben hat.“ Westlake, Chapters on the Principles of International Law, 144–146, verstieg sich zu der pauschalen Aussage, Afrikaner insgesamt seien zu „simple“, als dass sie den Begriff der Souveränität verstehen könnten.
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they in their turn gain courage to make a stand against the white ruler and his claims over them.“ 183
Besonders betonte Chamberlain den Umstand, dass das Königreich der Ashanti am innerafrikanischen Sklavenhandel beteiligt sei und dass dort Sklaven als Menschenopfer dienten: „The worst part of slavery is, as a rule, the hardships entailed in the slave-caravan marches, which have to be conducted at a forced pace over desert and devious routes, in order to avoid the good intentions of European anti-slavery forces. But in no part of the world does slavery appear to be more detestable than in Ashanti. Slaves, other than those obtained by raids into neighbours’ territory, have here to be smuggled through the various ,Spheres‘, French, German, and English, which are beginning to hem the country in on every side. The climate they are brought to is a sickly one for men bred up-country. They are not required for currency, since gold-dust is the medium here. Nor are they required to any considerable extent as labourers, since the Ashanti lives merely on vegetables, which in this country want little or no cultivation. And yet there is a strong demand for slaves. They are wanted for human sacrifice. Stop human sacrifice, and you deal a fatal blow to the slave trade, while you render raiding an unprofitable game. Up till the time of the expedition raiding had been carried on systematically in direct contravention of the treaty. The expedition was necessary also for the protection of other tribes. Every tribe in the neigbourhood of Ashanti lived in terror of its life from the king, who had on several occasions destroyed, one after another, tribes which had sought our protection. There were at least half a dozen separate tribes under separate kings or chieftains who had been driven out of their country and to a large extent destroyed, the whole trade and commerce being utterly ruined in consequence of the continued raids, made against the representations of the British authorities, by the King of Ashanti. In order to prevent that, from time to time, the British Government took some of the tribes under its protection. In my opinion a great mistake was made in refusing to take under our protection tribes that asked that protection merely in order that they might engage in peaceful commerce, always with the result that the tribe was immediately afterwards eaten up by the tribes of Ashanti. On one occasion the tribes of Ashanti marched into another
183 Baden-Powell, Downfall, 18.
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kingdom which had been taken under the protection of the British Government. We had to send, at considerable expense, an armed force in order to protect these territories. It is true that in the presence of that force the tribes of the King of Ashanti were withdrawn. But it was only under threat of our intervention that they were withdrawn. The finances of the colony have suffered for years by keeping up larger forces in order to protect tribes under our protection. I think I have said enough to show that we should have been wanting in our duty if we had not insisted that this state of things should be stopped.“ 184
Chamberlain rezipierte in radikalisierter Fassung ein in der ethnologischen und soziologischen Literatur des 19.Jahrhunderts gängiges Heterostereotyp über die angebliche Sklavenhalterwirtschaft vorgeblich „unzivilisierter“ Gruppen wie der Ashanti 185 und kombinierte es mit dem Menschenopfermythos. In der Propaganda Chamberlains gerann somit die britische Intervention in das Königreich der Ashanti zu einer Pazifizierungs- und Gouvernementalisierungsmission mit dem Ziel,
184 Ebd.22f. Der Minister berücksichtigte nicht, dass in der Debatte des britischen Parlaments über die Vorbereitung des Kriegs gegen die Ashanti am 12.Dezember 1873 entgegen seiner eigenen Behauptung bereits argumentiert worden war, die angebliche Praxis der Ashanti, Kriegsgefangene zu versklaven, sei im Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft begründet und nicht aus einer Neigung zu „Menschenopfern“. Siehe dazu Maier, Asante. Den Sklavereitopos hingegen transportierte die frühe britische Historiographie über die Ashanti, wie etwa Ellis, History, 205f. Hingegen spielte dieser Topos in der Beschreibung durch Bowditch, Mission, 5–8, keine Rolle. Nach der ihm erteilten Instruktion für seine Mission sollte er hingegen, ganz in der Tradition des 17. und 18.Jahrhunderts, statistische Informationen bereitstellen. Die Instruktion bevollmächtigte Bowditch auch zur Herstellung förmlicher zwischenstaatlicher Beziehungen zwischen dem Königreich der Ashanti und dem Vereinigten Königreich und beauftragte ihn, die Möglichkeit zur Entsendung eines britischen Ministerresidenten anzustreben. 185 Siehe dazu Spencer, Principles of Sociology, Vol.3, 468, 471. Die weite Verbreitung dieses Heterostereotyps bestätigte auch Lugard als britischer Gouverneur des „Protektorats“ Nigeria in seinem „Memo. VI. Slavery“ aus dem Jahr 1918, mithin mehr als zwanzig Jahre nach der Errichtung britischer Kolonialherrschaft in diesem Teil Westafrikas. Lugard stellte klar, dass nicht nur die Verdammung, sondern auch die Aufhebung der vermeintlichen Sklaverei in Afrika Ziel britischer Kolonialherrschaft sei, räumte dann aber ein, dass dieses Ziel nicht habe erreicht werden können, da die Freilassung aller Sklaven in dem „Protektorat“ zur Verarmung sowohl der Sklaven als auch der Sklavenhalter habe führen und ihrerseits die Bekämpfung britischer Kolonialherrschaft durch die Bevölkerung habe verursachen müssen. Daher sei die angebliche Praxis der Sklaverei unter britischer Kolonialherrschaft bestehen geblieben. Siehe Lugard, Revision, 223f. In seinen Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern, ließ Kohler, Fragebogen, 431, unter Nr.25 die Fragen einschließen: „Besteht Sklaverei? Halbsklaverei? Welches ist ihr Ursprung?“, während Post, Fragebogen, 7f., unter Nr IV/ 1.A, über „Unfreie, Hörige, Sklaven“ Erkundigungen einziehen ließ; beide dokumentierten dadurch auch in der Wissenschaft die Erwartung, es könne unter den sogenannten „Naturvölkern“ Sklaverei geben.
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schon in Westafrika bestehende britische Positionen zu sichern und Normen der europäischen Kultur bei den Ashanti durchzusetzen. Dies schien, Chamberlains Argumentation zufolge, nur durch die Anwendung militärischer Gewalt möglich. Nichts von alledem fand sich in Prempehs Berichten. Dieser verwandte einen Souveränitätsbegriff, der sich nicht grundsätzlich von dem der Europäer unterschied, betrachtete sich mithin als Oberhaupt eines Staats, das keiner ausländischen Macht Rechenschaft schuldig und in vollem Besitz des ius ad bellum war. Prempehs Berichte belegen ausdrücklich, dass er sich der Verpflichtung bewusst war, geschlossene Verträge einzuhalten. Die dispositiven Bestimmungen des Friedensvertrags von 1874 waren ihm während seiner Verbannung auf den Seychellen der Sache, wahrscheinlich nicht dem Wortlaut, nach bekannt. 186 Gleichwohl scheint er Schwierigkeiten mit der im Text dieses Vertrags nicht ausdrücklich angesprochenen Bindewirkung über die das Abkommen treffenden Personen hinaus gehabt zu haben. Denn er stellte für Asantehene Bonsu, den Nachfolger Asantehene Karkaris, der den Vertrag auf der Seite der Ashanti geschlossen hatte, fest, dieser habe gegen einen rebellierenden Provinzgouverneur Krieg geführt, ohne zuvor den britischen Gouverneur in Cape Coast Castle zu informieren und habe damit abweichend von dem Vertrag gehandelt. 187 Die Aussage steht ohne jede ausdrückliche Stellungnahme, ob Bonsu gegen den Vertrag verstoßen habe. Prempeh bestätigte lediglich, dass das Handeln eines seiner Vorgänger nicht übereingestimmt habe mit einer der sogenannten „Regeln“, die General Wolseley gegenüber den Ashanti im Jahr 1874 verfügt hatte. Ob diese Regel für die Herrschaftszeit Bonsus seiner Ansicht nach gültig war, sagte Prempeh nicht, er scheint nur den Umstand wiedergeben zu wollen, dass
186 Prempeh, History, 151 (Text von 1922). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Vertragsinhalte an Prempeh oral übermittelt wurden. Insbesondere Wolseleys angebliche Regel Nr.2 („not to kill“) stellt, wohl auf der Basis oraler Übermittlung, eine interpretatio criminalis von Art. VIII des Vertrags von 1874 dar. Danach erschien das sogenannte Menschenopfer nicht als Praxis scheinbar animistischer Rituale, sondern als regulärer legaler Strafvollzug. Zu Art. IV (Verzicht auf die Rechte des Asantehene in Elmina) und Art.V (Truppenrückzug) des Vertrags von 1874 machte Prempeh keine Aussage. 187 „Nana Asafu Egay, the leader of Juabin province (a province under Ashanti) rebelled against King Bonsu and the latter sent an army against him and defeated him and did not first inform the English Governor as stated in rule 4.“ Prempeh, History, 151 (Text von 1922). Im Vergleich mit dem Text des Vertrags von 1874 zeigt sich auch hier, dass der bereits im Jahr 1831 geregelte Verzicht auf Tributzahlungen die Beziehungen des Königreichs der Ashanti zu Nachbarstaaten grundlegend und zum Nachteil der Ashanti veränderte. Der erzwungene Tributverzicht scheint Rebellionen gegen Ashanti nach sich gezogen und folglich die Bellizität des Asantehene erhöht zu haben.
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die britische Seite von der Gültigkeit dieser Regel über die Herrschaftszeit Karkaris hinaus überzeugt gewesen war. Prempehs Darstellung des Vorgangs scheint somit Dissens über die Dauer der Bindewirkung zwischenstaatlicher Verträge zu reflektieren. Während die britische Seite auf der Basis der innerhalb des europäischen öffentlichen Rechts der zwischenstaatlichen Verträge die rechtliche Bindewirkung solcher Abkommen über die Amtszeit der die Abkommen schließenden Herrschaftsträger hinaus postulierte, scheinen die Asantehene die Verpflichtung zur Einhaltung zwischenstaatlicher Verträge ad personam aufgefasst zu haben. Prempeh hatte demnach keinen Grund, einen Verstoß gegen den Vertrag von 1874 nach dem Recht der Ashanti zuzugestehen. Daraus folgte, dass es in der Wahrnehmung der Ashanti zu keinem dauerhaften Verzicht auf das ius ad bellum gekommen war. Schließlich wäre ein solcher Verzicht mit der durch Handeln vollzogenen Unterwerfung des Asantehene unter den britischen Gouverneur identisch gewesen, und dazu kam es erst im Jahr 1896. Des Weiteren differierten beiden Berichte über den Begriff der Tötung auf Befehl des Herrschers. Die britische Seite verwandte die Bezeichnung „human sacrifice“, die den Vollzug eines Rituals ohne jede von ihr erkennbare strafrechtliche Relevanz ausdrückte. Prempeh hingegen sprach von Verhängung der Todesstrafe. Er wusste von der Vereinbarung im Vertrag von 1874, derzufolge Tötungshandlungen nicht mehr stattfinden sollten, und bestätigte, dass Asantehene Karkari den Verzicht auf Tötungen angeordnet habe. Aber unter Asantehene Bonsu sei es wieder zu Tötungshandlungen gekommen, gegen eine weitere Regel General Wolseleys, wiederum ohne den ausdrücklichen Hinweis, dass die Verhängung von Todesurteilen auch unter Bonsu aus dem Vertrag von 1874 untersagt gewesen sei. 188 Auch diesbezüglich scheint in der Sicht der Ashanti keine Bindewirkung des Vertrags von 1874 über die Herrschaftszeit Karkaris anerkannt worden zu sein. Deutlich hingegen waren in Prempehs Schilderung die Folgen der britischen Intervention von 1873 und 1874. Asantehene Karkari, der den Vertrag von 1874 unterzeichnet hatte und ihn umzusetzen bestrebt gewesen war, wurde ebenso wie sein Nachfolger Bonsu gestürzt, und nach dessen Sturz versank das Königreich in eine elf Jahre währende Zeit der Bürgerkriege. Die britischen Interventionen verursachten mithin eine nachhaltige Schwächung der Herrschaftsinstitutionen im Königreich der Ashanti, die, Prempeh zufol-
188 Prempeh, History, 151f. (Text von 1922).
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ge, erst mit seinem Herrschaftsantritt und durch eine weitere britische Intervention beendet werden konnte. Prempeh selbst hatte daher die Aufgabe, das Königreich Ashanti gegen Rebellionen zu stabilisieren. Dazu war Krieg das allein wählbare Mittel. Eine Begrenzung des ius ad bellum als Folge des Vertrags von 1874 anerkannte Prempeh nicht. 189 Nicht weniger bedeutsam waren die Unterschiede zwischen dem britischen Bericht über den sogenannten „War of the Golden Stool“ im Jahr 1900 nach der Deportation Prempehs und Darstellungen desselben Kriegs in der Perspektive der Ashanti. Prempeh schwieg zu diesem Krieg, der in seiner Abwesenheit stattgefunden hatte. Die Darstellung aus britischer Sicht bot Mary Alice Hodgson, Ehefrau des damaligen britischen Gouverneurs in Cape Coast Castle und Kommandeurs der Truppen, die im Krieg eingesetzt waren. Hodgson zufolge hatte der Kommandeur seine Rede in Kumasi, mit der er die Ashanti zur Unterwerfung unter britische Kontrolle bewegen wollte, nicht so gehalten, wie sie in der Perspektive der Ashanti berichtet worden war. Hodgson zufolge hatte der Kommandeur nicht verlangt, auf dem Goldenen Stuhl Platz nehmen zu dürfen. Hingegen war in britischer Sicht die mangelnde Vertragstreue der Ashanti der Kriegsgrund gewesen, die sich der Zahlung der seit 1874 fälligen Kriegsreparationen zu widersetzen schienen. 190 Die Perspektive der Ashanti ergibt sich aus der zeitgenössischen Historiografie sowie aus einer offenbar mündlich tradierten Version. Letztere überlieferte der in der britischen Kolonie tätige „Regierungsethnologe“ Robert Sutherland Rattray in einer im Jahr 1923 veröffentlichten beschreibenden Darstellung des ehemaligen Königreichs, in der er sich auf einen nicht genannten Informanten berief. Dieser, so Rattray, habe die ultimative Forderung nach Herausgabe des Goldenen Stuhls als Kriegsgrund bezeichnet, denn der Stuhl sei keine Sitzgelegenheit, sondern „the shrine of the sunsum or soul of this people“ gewesen. Die Forderung nach Herausgabe des Stuhls sei mithin identisch mit der Forderung nach Preisgabe der Souveränität des Königreichs Ashanti gewesen. Diese Forderung hätten die Ashanti nicht kampflos erfüllen können. 191 Rattray zufolge bestätigte der Informant, dass der Kommandeur seine Rede mit der Forderung nach Herausgabe des Stuhls genauso gehalten hatte, wie sie in der zeitnahen Historiografie gegen das damals schon vorliegende Zeugnis Mary Hodgsons überliefert
189 Ebd.155. 190 Hodgson, Siege of Kumasi, 80f. 191 Rattray, Ashanti, 292.
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worden war. 192 Rattrays Informant argumentierte somit nach einer Logik, derzufolge die Souveränität eines Staats gebunden war an einen Gegenstand, dessen Verlust mit dem Ende des Bestehens des Staats identisch sei. Nach dieser Darstellung hörte das Königreich der Ashanti mit der Niederlage im „War of the Golden Stool“ auf, ein souveräner Staat zu sein. Da Rattray seine Darstellung vor der Rückkehr Prempehs veröffentlichte, kann sein Informant von den Berichten Prempehs über den Ablauf seiner Deportation nichts gewusst haben, sondern muss eine Perspektive formuliert haben, die von der des Königs unabhängig war. Weder erwähnte Prempeh selbst in einem seiner Texte den Goldenen Stuhl, noch knüpfte er die Souveränität des Königreichs an das Vorhandensein eines Gegenstands. Hingegen war in seiner Darstellung die Souveränität des Königreichs mit seiner Unterwerfung unter den britischen Gouverneur und seiner anschließenden, seiner Ansicht nach illegalen Deportation erloschen. 193 Prempeh seinerseits konnte, da er seine Texte auf den Seychellen schrieb, von abweichenden Darstellungen der Ashanti nichts wissen. Hingegen forderte er seine Restitution in der Hoffnung, dass das Königreich der Ashanti als souveräner Staat wiederhergestellt sei, nachdem er aus der Verbannung zurückgekehrt sei. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch, da Prempeh von der im Jahr 1901 vollzogenen Annexion des Königreichs nichts gewusst zu haben scheint. Nach Prempehs Bericht hatte das Königreich Ashanti bis zu seiner Deportation alle Elemente der Staatlichkeit, die nach dem europäischen Staatsbegriff des 19.Jahrhunderts gefordert waren. Die Souveränität seines Staats setzte er als gegeben voraus. Sie schloss das ius ad bellum ebenso ein wie die Fähigkeit der Entsendung bevollmächtigter diplomatischer Emissäre. Abgesehen von der Destabilisierung, die der Vertrag von 1874 bewirkte, änderten sich weder die Herrschaftsstruktur noch die im Königreich geltenden Rechts- und moralischen Normen noch die Grundlagen der Lebensweise der Bevölkerung. Gleichwohl verschob sich das König-
192 Claridge, History, 444f., auf der Basis von Parliamentary Papers (1901). Zum „War of the Golden Stool“ siehe auch Myatt, The Golden Stool. 193 Prempeh, History, 158 (Text von 1922): „Now the whole Ashanti is governed and ruled by the Governor as we do not see why King Prempeh and his Queen and chiefs should be made prisoner, that is be punished 3 or 4 times for same offense.“ Letztere Aussage bezog sich auf die Behauptung der britischen Seite, Prempeh müsse gefangengesetzt werden, um die Zahlung der gesamten Kriegsreparationen nach dem Vertrag von 1874 sicherzustellen. Dazu Baden-Powell, Downfall, 131: „The king could produce about a twentieth part of what had been promised. Accordingly, he was informed that he together with his mother and chiefs, would now be held as prisoners, and deported to the Gold Coast. [...] Their arrest was complete.“
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reich Ashanti in europäischer Wahrnehmung von einem bürokratischen Staat in ein Gebilde aus scheinbar „unzivilisierten“ „tribes“, die zu selbständiger Regierung nicht in der Lage zu sein schienen. In Verlauf des 19.Jahrhunderts änderten sich mithin die Grundlagen europäischer Wahrnehmung afrikanischer Staaten, nicht diese selbst.
7. Der Begriff des Kolonialkriegs als Ausprägung der europäischen Heterostereotypen der „Primitivität“ Die stehende Rede in der Militär- und Völkerrechtstheorie sowie in der politischen Propaganda des 19. und frühen 20.Jahrhunderts davon, dass Kolonialkriege der Sache nach als bewaffnete Konflikte gegen angeblich „halb-“ oder „nicht-zivilisierte“ oder „wilde“ „Nomaden“ geführt würden, verweist auf die zeitgenössischen Heterostereotype scheinbarer „Primitivität“, die in Europa gegenüber Bevölkerungsgruppen in Afrika, West-, Süd-, Südostasien und dem Südpazifik in Gebrauch standen. Diese angeblich „wilden Stämme“ schienen in europäischer Wahrnehmung in einem Naturzustand wie Tiere zu leben 194, aus dem sie sich nur unter der Bedingung des Bestehens von Kolonialherrschaft auf eine „weltgeschichtliche Laufbahn“ 195 begeben zu können schienen. Unter Rückgriff auf diese in der Militär- und Völkerrechtstheorie weitergetragenen Heterostereotype konstituierten die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA sich selbst eine Art exklusiver Klub, der andere Staaten und Bevölkerungsgruppen diskriminierte, die Welt als Ganze auszumachen schien und in der Hauptsache aus dem Vereinigten Königreich, Russland, den USA, Italien, Frankreich und dem Deutschen Reich bestand. Weltpolitik, so schien es Otto Hintze im Jahr 1907, ergab sich aus den von Diplomaten, Militär- und Völkerrechtstheoretikern konstruierten und rekonstruierten Bezügen zwischen politischen Entscheidungen dieser Kolonialregierungen. 196 Außerhalb des Klubs bestand scheinbar ein größerer Kreis von Staaten, die als Angehörige
194 Dieses Heterostereotyp ist schon im 16.Jahrhundert belegt. So schrieb bereits Tuccaro, Trois dialogues, fol.13v, Menschen, denen die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Unterwerfung unter das Recht zu mangeln schien, lebten wie Tiere im Naturzustand. Ebenso La Perrière, The Mirrovr of Policie, fol.G IIr. 195 Richter, Weltmission, 8; ebenso noch Fallers, Bantu, 37–45. 196 Hintze, Imperialismus (1907); ders., Imperialismus (1917).
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der „Family of Nations“ gelten und als Gemeinschaft der „zivilisierten“ Staaten ausgegeben werden sollten. In diesem Kreis fanden sich an der Wende zum 20. Jahrhundert alle Mitglieder des Klubs der Kolonialregierungen, diejenigen Staaten, deren Bevölkerungen sich seit langem zum Christentum bekannten, mithin die übrigen souveränen und „halb-souveränen“ Staaten Europas und Amerikas, sowie nach liberalen Theoretikern auch Australien und Kanada, sowie Japan, Siam, Liberia und das Osmanische Reich als nicht-christliche Staaten. Diesen Mitgliedern der „Family of Nations“ wurde Völkerrechtssubjektivität zuerkannt, dem Rest der Welt hingegen blieben dieser Status verwehrt, die Fähigkeit zur uneingeschränkten Selbstregierung und das ius ad bellum verweigert. Innerhalb der „Family of Nations“ schien ein Staatenklub zu bestehen, der die Regeln des Völkerrechts als sein Hausrecht bestimmte. Nicht nur Theorien des Kriegs und des Völkerrechts transportierten diese Systemwahrnehmung weiter in das 20.Jahrhundert, sondern insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg auch die sogenannten realistischen Theorien der internationalen Beziehungen. Diese Theorien erhoben mit machtpolitischen Argumenten die von Völkerrechtstheoretikern des späten 19.Jahrhunderts vorformulierte Möglichkeit der unter Bedingungen der Kolonialherrschaft bestehenden Ungleichheit souveräner Staaten zum Strukturprinzip des von ihnen konstruierten internationalen Systems 197, und förderten noch in der Zeit des Kalten Kriegs Denkspiele mit dem Ziel der Begrenzung des internationalen Systems auf fünf, mitunter sogar nur auf zwei als systemische Akteure anerkannte Großmächte 198. Den Status systemischer Akteure sollten, diesen Theorien zufolge, nur Mitglieder des sich im 19.Jahrhundert konstituierenden, global agierenden Staatenklubs reklamieren können. Militärund Völkerrechtstheorie gerannen zu Instrumenten der Diskriminierung derjenigen, denen Theoretiker wie politische Entscheidungsträger die Kooptation in den Klub verwehrten. Die Theorie der internationalen Beziehungen hat sich von diesem Denkmuster nicht immer erfolgreich befreien können.
197 So ausdrücklich Kaufmann, Das Wesen, 195, der behauptete, das Gleichheitsrecht bedeute „im Sinne einer inhaltlichen Gleichheit an Macht und Recht einen Unsinn, und in dem Sinne der formalen Gleichheit der Rechtsfähigkeit, nichts anderes als eine Tautologie gegenüber dem Begriffe der Völkerrechtssubjektivität“. 198 Gilpin, War, 29f.; Gulick, Europe, 4f.; Kaplan, System, 28–30, 36–43; Singer/Small, The Composition, 236; Thompson, On Global War, 14; Wallace, War, 3; Waltz, Theory, 40–45. Siehe dazu Kleinschmidt, The Balance of Power.
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V. Krieg, Verträge und Ideologien der Diskriminierung
Die in vorstehender Untersuchung thematisierten Fragen nach der theoretischen Rechtfertigung der Handhabung gültiger zwischenstaatlicher Verträge in der Phase kolonialherrschaftlicher Expansion des 19. und frühen 20.Jahrhunderts, nach der theoretischen Ausgrenzung des Begriffs des Kolonialkriegs aus dem allgemeinen Kriegsbegriff und nach den Wirkungen der Militär- und Völkerrechtstheorie auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen in diesem Zeitraum haben den Blick freigegeben in die Abgründe der zeitgenössischen militär-, politik- und rechtsrelevanten Theoriebildung. Dabei waren keinesfalls Pamphlete der Propagandisten irgendwelcher Interessen von Kolonialvereinen Gegenstände der Untersuchung, sondern in der Hauptsache Darstellungen und Analysen von Fachwissenschaftlern und fachlich qualifizierten Theoretikern, die, sofern sie aus dem englischen Sprachraum stammten, Einstellungen vertraten, welche in der Regel vom Gedankengut des Liberalismus geprägt waren. Trotz allgemein gehaltener Bekenntnisse zur Notwendigkeit der Anerkennung der rechtlichen Gleichheit der Staaten, formulierten Völkerrechtstheoretiker Ideologien, mit deren Hilfe Regierungen von Staaten scheinbar legitim diskriminiert werden konnten, wenn diese Staaten in den während des 19. und frühen 20.Jahrhunderts von europäischen Kolonialregierungen und der Regierung der USA „okkupierten“ „Zonen“ lagen. Diese Ideologien zur Rechtfertigung von Kolonialherrschaft über Staaten, die durch zwischenstaatliche Verträge als Souveräne anerkannt worden waren, gründeten in dem als erwiesene Tatsache hingestellten Heterostereotyp, dass die unter Kolonialherrschaft stehenden oder gelangenden Bevölkerungsgruppen in einem Naturzustand verharrten und folglich als „Wilde“ oder „Halb-“ oder „Unzivilisierte“ gelten könnten. Als wesentliches Merkmal dieses scheinbaren Naturzustands galt das Bestehen kleiner, als „Stämme“ oder „tribes“ bezeichneter Verwandten- oder Nachbarschaftsgruppen, denen spezifische, dauerhafte Herrschaftsinstitutionen zu mangeln schienen. Folglich seien diese vermeintlichen „Stämme“ oder „tribes“ zur Selbstregierung, regulärer Kriegführung in offener
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Feldschlacht und zur Aufrechterhaltung des Friedens nicht fähig. 1 Die Theoretiker sprachen diesen „Stämmen“ oder „tribes“ die Möglichkeit endogenen Wandels ab und folgerten, deren vermeintliche „Zivilisierung“ könne nur durch Oktroi der Kolonialregierungen herbeigeführt werden. Dieses Denkschema fand an der Wende zum 20.Jahrhundert auch Anwendung in der europäischen Politik gegenüber Staaten wie die Königreiche der Ashanti in West- und Buganda in Ostafrika, die in früheren europäischen Berichten als „zivilisiert“ bezeichnet worden waren. Die Völkerrechtstheoretiker zogen denselben Schluss auch entgegen dem Wortlaut zahlreicher zwischenstaatlicher Verträge, die zwischen den europäischen Kolonialregierungen und Regierungen in den unter Kolonialherrschaft stehenden oder gelangenden Weltteilen geschlossen worden waren und in der Sicht der Völkerrechtstheorie als rechtsgültig zu gelten hatten. Die Völkerrechtstheoretiker empfahlen in der Regel nicht die offene Kassierung dieser Verträge, sondern behalfen sich in ihrer Mehrheit mit dem vorgeschobenen Argument, die Regierungen, mit denen die Kolonialregierungen die Verträge geschlossen hätten, seien Regierungen von Staaten bestenfalls dem Wort nach, aber keine zu staatlichen Handlungen befähigten und befugten Völkerrechtssubjekte. Da die unter der Kontrolle dieser Regierungen stehenden Bevölkerungen als angebliche „Nomaden“ im Naturzustand zu leben schienen, kannten sie angeblich keine Begriffe der Staatlichkeit, Gouvernementalität der Regierungen sei nicht gegeben, und folglich könnten die bestehenden Verträge überhaupt nicht auf diese Bevölkerungsgruppen bezogen sein. Hingegen seien die „Subjekte“ dieser Verträge, gegen deren Wortlaut, europäische Kolonisten oder Kaufleute in diesen Teilen der Welt. Mit derselben Argumentation wurde es möglich, die Anwendbarkeit des Kriegsvölkerrechts auf bewaffnete Konflikte in den „Protektoraten“ in Abrede zu stellen. Militär- und Völkerrechtstheoretiker verengten dazu den Kriegsbegriff auf Konflikte zwischen Staaten und verweigerten den Opfern europäischer Kolonialherrschaft die Anwendung dieses engen Kriegsbegriffs. Aus der Verweigerung des Kriegsbegriffs für bewaffnete Konflikte zwischen europäischen Kolonialregierungen und Regierungen in den „Protektoraten“ folgte die Aberkennung sowohl des ius ad bellum als auch des ius in bello Letzteren gegenüber. Das bedeutete insbesondere, dass für die Gegner der europäischen Armeen die begriffliche Unterscheidung zwischen
1 Zusammenfassend, noch im Jahr 1975, Service, Origins, 47–70, insbes. 49, 59.
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Kombattanten und Nicht-Kombattanten als irrelevant kategorisiert wurde. Auch sollten in der Sicht der Militär- und Völkerrechstheoretiker des 19. und frühen 20.Jahrhunderts die unter europäische Kolonialherrschaft geratenen Regierungen und Bevölkerungen weder legitimen Widerstand gegen die Protektoratsträger leisten dürfen noch die Einhaltung der Regeln des europäischen Kriegsvölkerrechts für sich beanspruchen können. Wenn die diesen Widerstand ausführenden Streitkräfte die offene Feldschlacht zu vermeiden und zum Einsatz regulärer Armeen außer Stande schienen, sollten alle Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts wirkungslos bleiben können, die die Begrenzung des Kriegs auf Kombattanten erforderten. Nach dieser Lehre war Widerstand gegen Kolonialherrschaft identisch mit Widerstand gegen die Staatsgewalt. So konnten neben den berüchtigten „Razzien“ sogar nicht sühnbare Gewaltakte und Genozid zu völkerrechtlich unbedenklichen Maßnahmen werden, selbst wenn sie, wie etwa der Krieg gegen die Herero und Nama, gegen innerstaatliches, hier deutsches Recht verstießen. Militär- und Völkerrechtstheoretiker dieser Zeit ließen die Opfer europäischer Kolonialherrschaft als Täter erscheinen, denen sie das Kriegsvölkerrecht legitim verweigern zu können schienen. Schon Callwell als zeitgenössischer Militärtheoretiker wies jedoch warnend auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass harsches Vorgehen der Kolonialregierungen gegen Widerstand seitens der Opfer auf die Kolonialherrschaft über längere Frist destabilisierend wirken werde. 2 Die europäischen Kolonialregierungen ignorierten diesen Rat. Sie griffen hingegen die Rechtfertigungslehren der Völkerrechtstheorie auf und transferierten die Kompetenz zur Gestaltung ihrer Beziehungen zu ihren Vertragspartnern in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie im Südpazifik einseitig aus dem Bereich der Außenministerien in den der Kolonialministerien, sofern sie sich dazu entschieden, ihre Vertragspartner als nachgeordnete, weisungsgebundene Institutionen in den dort nunmehr bestehenden „Protektoraten“ amtieren zu lassen. Geschah Letzteres, gerieten in der Wahrnehmung der Opfer europäischer Kolonialherrschaft die bestehenden Verträge in Widerspruch zur tatsächlichen Herrschaftspraxis. Insbesondere konnte es zum Konflikt der Wahrnehmung der Staatlichkeit und der Souveränität der unter Protektoratsträgerschaft gelangenden Staaten kommen. Während die europäischen Kolonialregierungen nach Errichtung der „Protektorate“ ihre Beziehun-
2 Callwell, Small Wars, 26.
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gen zu ihren Vertragspartnern in Kategorien innerstaatlichen Rechts bestimmten, hielten die Regierungen der Opfer europäischer Kolonialherrschaft an dem, in den Vertragstexten festgeschriebenen völkerrechtlichen Status ihrer Staaten fest. Protektoratsträgerschaft, die sich außerhalb des Rechtsrahmens der Verträge zu manifestieren schien, galt folglich in der Sicht der Opfer als Vertragsbruch. Nicht immer förderte diese Wahrnehmung die Bereitschaft zu militärischem Widerstand, bedingte aber in der Regel zivilen Ungehorsam. An den Beispielen Bugandas und des Königreichs der Ashanti lässt sich erkennen, dass das Bewusstsein der Baganda, der Ashanti sowie anderer Bevölkerungsgruppen im „Uganda Protectorate“ und in der Kolonie der Goldküste, Opfer von Diskriminierung geworden zu sein, bis in die Zeit nach Beendigung der Kolonialherrschaft andauerte und Faktor der Destabilisierung der postkolonialen Staaten nicht nur in Uganda und Ghana, sondern auch anderswo geworden ist.
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Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
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Zeitschriftensiglen
AA
American Anthropologist
AFGK
Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst
AfK
Archiv für Kulturgeschichte
AJS
American Journal of Sociology
AV
Archiv des Völkerrechts
BMN
Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden
CTS
Parry, Clive (Ed.), The Consolidated Treaty Series. 231 Vols. Dobbs Ferry 1969–1981.
GG
Geschichte und Gesellschaft
HZ
Historische Zeitschrift
JAH
Journal of African History
JbbGOE
Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
JHIL
Journal of the History of International Law
ODNB
Oxford Dictionary of National Biography
RC
Recueil des Cours
UJ
Uganda Journal
ZHF
Zeitschrift für historische Forschung
ZRG GA
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
ZRG KA
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung
ZEITSCHRIFTENSIGLEN
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