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German Pages 563 [566] Year 2016
Diskriminiert – vernichtet – vergessen Behinderte in der Sowjetunion, unter nationalsozialistischer Besatzung und im Ostblock 1917–1991
Geschichte Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von
alexander friedman und rainer hudemann
Diskriminiert – vernichtet – vergessen Herausgegeben von Alexander Friedman und Rainer Hudemann
Diskriminiert – vernichtet – vergessen Behinderte in der Sowjetunion, unter nationalsozialistischer Besatzung und im Ostblock 1917–1991 Herausgegeben von Alexander Friedman und Rainer Hudemann
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: DTP +TEXT, Eva Burri Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11266-6 (Print) ISBN 978-3-515-11273-4 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Ein Forschungsprojekt und sein Kontext: Vorwort ...........................................
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Alexander Friedman und Rainer Hudemann Behinderten- und Krankenmorde im Kontext von Vernichtungspolitik, gesellschaftlicher Diskriminierung und wissenschaftlicher Ausgrenzung Eine Einführung ................................................................................................
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I. QUELLENLAGE Sergej Zhumar Quellen zum Gesundheitswesen in weißrussischen Archiven ..........................
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II. BEHINDERTE UND KRANKE IN DER UDSSR VOR DEM DEUTSCHEN EINMARSCH Vasili Matokh Behinderte in der Sowjetunion vor dem deutschen Überfall. Das Beispiel Weißrussland................................................................................
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Vasili Matokh Sowjetische Behindertengenossenschaften in der Zwischenkriegszeit ............
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Viktoria Latysheva Psychiatriewesen in Vicebsk vor und nach der Oktoberrevolution ..................
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III. MEDIZINER UND MEDIZINISCHE BILDUNG IN DER SOWJETUNION DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND NACH KRIEGSAUSBRUCH Andrei Zamoiski und Johannes Wiggering Zwischen sowjetischer Medizin und Volksdeutschtum: Der Internist Theodor Hausmann......................................................................
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Johannes Wiggering und Andrei Zamoiski Zwischen Gelehrtentum und Totalitarismus: Der Neurologe Michail Krol’ .... 107 Andrei Zamoiski Weißrussische Psychiater vor dem Krieg und unter der deutschen Okkupation........................................................................................................ 125
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Inhaltsverzeichnis
Johannes Wiggering Nicht nur für die Medizin. Der Aufbau einer Medizinischen Fakultät an der Weißrussischen Staatsuniversität in den 1920er Jahren ......................... 161 Alexander Friedman Medizinische Bildung für „Weißruthenen“: Die „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy unter der deutschen Okkupation .. 179 IV. GESUNDHEITSWESEN ZWISCHEN PROPAGANDA UND WIRKLICHKEIT Andrei Zamoiski Ärzte in der sowjetischen Propaganda vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR................................................................................................... 199 Alexander Pesetsky „Ich werde Kinder für Stalin gebären“: Mütter- und Kinderfürsorge in der sowjetischen Propaganda der 1930er Jahre. Das Abtreibungsverbot (1936) und seine „Volksbesprechung“ .............................................................. 211 Alexander Pesetsky Kinder im Fokus von Politik und Propaganda in der Zwischenkriegszeit und im Krieg ..................................................................................................... 227 Vasili Matokh Behindertenbilder der sowjetischen Vorkriegs-Propaganda ............................. 235 Alexander Friedman „Narr in Christo“ und „Dummkopf“. Zur Rezeption des russischen Zaren Fëdor I. (1557–1598) im Zarenreich und in der stalinistischen Sowjetunion... 249 Svetlana Burmistr „Die Pflicht zur Gesundheit“. Nationalsozialistische Gesundheitspolitik und Propaganda in der „Minsker Zeitung“ ....................................................... 259 Viktoria Silwanowitsch „Wie man sich im Sommer vor Ruhr und Darminfektionen schützen kann“. Das Gesundheitswesen in der russischsprachigen NS-Besatzungspresse 1941–1944......................................................................................................... 275 Elizaveta Slepovitch Informelle soziale Beziehungen und Medizin in Sowjetweißrussland ............. 295
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V. EUGENIK – „RASSENHYGIENE“ – „EUTHANASIE“ Gerhard Baader Eugenik, Rassenhygiene und „Euthanasie“ ...................................................... 311 Björn M. Felder Nationalsozialistische Krankenmorde in Estland, Lettland und Litauen und die baltische Eugenik der Zwischenkriegszeit 1918–1944 ........................ 321 Andrei Zamoiski Eugenik und „Rassenhygiene“ im weißrussisch-sowjetisch-polnischdeutschen Spannungsfeld .................................................................................. 341 VI. BEHINDERTEN-, KRANKEN- UND KINDERMORD IN DEN BESETZTEN SOWJETISCHEN GEBIETEN Dmytro Tytarenko Medizinische Betreuung und nationalsozialistische Krankenmorde in der Ukraine unter der deutschen Okkupation ............................................... 355 Boris N. Kovalev Vernichtung von psychisch kranken und behinderten Menschen unter der deutschen Okkupation im Nordwesten Russlands ............................................ 373 Alexander Friedman „Objektiv unausweichliche Maßnahmen“. Die Ermordung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in den besetzten sowjetischen Gebieten: Die Beispiele Šumjači (Gebiet Smolensk) und Makar’evo (Gebiet Leningrad) ............................................................................................ 385 Alexander Friedman Krankenmorde im Raum Minsk 1941 und ihre Aufarbeitung in der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland ................................ 395 Andrei Zamoiski Einheimische Mediziner und die nationalsozialistischen Krankenmorde in der Stadt Mahilëŭ .......................................................................................... 415 Viktoria Latysheva Einzelschicksale in Kriegsalltag und Tod. Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in Weißrussland .................................................. 423 Viktoria Latysheva Krankentötungen in Westweißrussland ............................................................. 429 Vasili Matokh Die Lage der körperlich Behinderten in den besetzten weißrussischen Gebieten ............................................................................................................ 433
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Viktoria Latysheva / Alexander Friedman / Alexander Pesetsky Die Wehrmacht, die deutsche Zivilverwaltung und die Ermordung geistig behinderter Kinder in Čėrven’ (Gebiet Minsk) im Mai 1942................ 453 Christoph Rass Kinder und Kranke als „unnütze Esser“. Der Umgang der deutschen 9. Armee mit der Zivilbevölkerung Weißrusslands 1943/44 ............................ 459 VII. UMGANG MIT KRANKENMORDEN UND WEITEREN NS-VERBRECHEN IN DER UDSSR NACH 1945 Anatolij V. Šarkov Sowjetische Strafverfolgung nationalsozialistischer Kriegsverbrechen. Zur Vernichtung psychisch kranker Menschen in Weißrussland ...................... 481 Volha Bartash Let the Victims Speak. Memories of Belarusian Roma as Sources for Holocaust Studies ........................................................................................ 499 VII. PSYCHISCH KRANKE UND BEHINDERTE MENSCHEN IM OSTBLOCK NACH DEM KRIEG UND IM POSTSOWJETISCHEN RAUM Alexander Friedman „Der wahre sozialistische Mensch“. Der sowjetische Kampfflieger Aleksej P. Mares’ev (1916–2001) und seine Rezeption in der DDR ............................. 511 Herbert Wohlhüter Menschen mit geistiger Behinderung und chronisch psychisch Kranke in der Republik Belarus nach dem Zerfall der UdSSR ..................................... 523 Rainer Hudemann Faktoren der Überlebenschancen von Behinderten und psychisch Kranken in Kriegssituationen: Ein Nachwort .................................................................. 537 Karte: Weißrussland in seinem Umfeld ........................................................... Abkürzungen .................................................................................................... Autorinnen und Autoren ................................................................................... Orts- und Namensregister .................................................................................
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EIN FORSCHUNGSPROJEKT UND SEIN KONTEXT: Vorwort Alexander Friedman und Rainer Hudemann
Kranke und behinderte Menschen sind während des Zweiten Weltkrieges in sehr großer Zahl umgekommen. Sie wurden teilweise Opfer gezielter Mordaktionen. Die Umstände, unter denen sie zu Tode kamen, waren jedoch ebenso vielfältig wie die Faktoren, welche auf ihre Lebensbedingungen und ihren Tod einwirkten. Dieses Buch präsentiert in konzentrierter Form die Ergebnisse des weißrussischdeutschen Forschungsprojektes „Kranken- und Behindertenmorde in Weißrussland 1941–1944“, welches die Gerda Henkel Stiftung während zweieinhalb Jahren 2009– 2012 im Rahmen ihres Sonderprogramms zur Förderung des Historiker-Nachwuchses in Russland, der Ukraine, Moldawien und Weißrussland ermöglicht hat. Weißrussland im Krieg wurde zum Ausgangspunkt für das bald breiter angelegte Projekt. Angesichts seiner geographischen Lage zwischen Russland und Europa, seiner historischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, seiner multiethnischen Bevölkerung und nicht zuletzt aufgrund der wichtigen Rolle von Juden in der Geschichte dieses Landes verdient Weißrussland eine besondere Aufmerksamkeit der europäischen Geschichtsforschung, die ihm aber selten zuteilwird. Im Zuge der Arbeiten erwies sich rasch, dass das engere Geschehen den Weg wies zu weitaus breiteren Problemstellungen. Weißrussland, in dem sich sowjetische, weißrussische, russische, polnische, jüdische und deutsche Einflüsse verflochten, wurde damit über den Spezialfall hinaus zu einem besonders gut geeigneten Beispiel, um die Folgen des Ersten Weltkrieges, die turbulente Zwischenkriegszeit und die blutige Kriegsepoche 1939 bis 1945 in Osteuropa exemplarisch zu untersuchen. An diesem Beispiel lassen sich in der Forschung bislang weniger beachtete Grundprobleme der Situation von Kranken und Behinderten in der stalinistischen Sowjetunion, der Massenmord an kranken und behinderten Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten und die Aufarbeitung dieser Verbrechen in der UdSSR, im Ostblock und in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 herausarbeiten. Die Projektleiter und Herausgeber sind vielen Persönlichkeiten, welche das Projekt unterstützt haben, zu Dank verpflichtet. Das Projekt entstand auf Initiative des langjährigen stellvertretenden Leiters der v. Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld-Bethel, Pastor Herbert Wohlhüter (Bielefeld), der sich seit Anfang der 1990er Jahre in der Behindertenarbeit im postsowjetischen Raum engagiert, die wissenschaftliche Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen psychisch kranke und behinderte Menschen in Weißrussland anregte und die Forschergruppe mit großem persönlichem Einsatz unterstützte.
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Alexander Friedman und Rainer Hudemann
Das Forschungsprojekt ging von den gezielten Mordaktionen von SS und Wehrmacht aus, zu denen Alexander Friedman 2005 maßgebliche Aktenbestände in Weißrussland aufgefunden hatte. Die Forschergruppe bestand aus Dr. Viktoria Latysheva (Minsk), cand. phil. Vasili Matokh (Minsk), cand. phil. Alexander Pesetsky (Minsk), cand. phil. Elizaveta Slepovitch (Saarbrücken/Regensburg), und Dr. Andrei Zamoiski (Minsk/Berlin). Sie wurde von Dr. Alexander Friedman (Saarbrücken/Heidelberg/Luxemburg) geleitet. Die Gesamtleitung des am Historischen Institut der Universität des Saarlandes angesiedelten Projekts übernahm Professor Dr. Dr. h. c. Rainer Hudemann (Universität des Saarlandes und Université Paris-Sorbonne). Parallel zum Projekt setzten sich die Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Winkler (Trier) und der Mediziner Priv.-Doz. Dr. Gerrit Hohendorf (München) mit dem Psychiatriemord in Mahilëŭ (Mogilev) auseinander; von ihren laufenden Arbeiten grenzte die Forschergruppe ihre eigenen Arbeitsschwerpunkte ab. In Minsk eröffnete 2009 der seinerzeitige Direktor des Nationalarchivs Weißrusslands, Dr. Vjačeslav D. Selemenev, der Forschergruppe ausgezeichnete Arbeitsbedingungen, ohne die dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können. Der Dank dafür gilt ebenso der ehemaligen Direktorin des Staatsarchivs des Gebietes Minsk, Frau Elena V. Kušnova. In Minsk erfuhren wir wichtige Unterstützung ebenfalls durch Oberst Professor Dr. Anatolij V. Šarkov. Zusätzlich zu der großzügigen und sehr engagierten Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung, in der insbesondere Herr Oleg Mironciuc und Frau Dr. Anna-Monika Lauter in allen Fragen und Schwierigkeiten stets kompetente und verständnisvolle Ansprechpartner waren, wurden die Arbeiten in der Startphase unterstützt durch das Internationale Bildungs- und Begegnungszentrum IBB (Dortmund und Minsk) und in der Folgezeit gefördert durch die Union-Stiftung Saarbrücken, den Minister für Wissenschaft und Kultur des Saarlandes sowie in großem Umfang, einschließlich der Vorbereitung der Publikationen nach Auslaufen der GHS-Förderzeit, durch die Universität des Saarlandes. Das Projekt eröffnete weißrussischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern zugleich die Möglichkeit, ihre Forschungen in internationaler wissenschaftlicher Verflechtung zu erarbeiten und auf internationaler Ebene zu präsentieren. Während der Förderzeit fanden mehrere Workshops und internationale Tagungen in Bethel bei Bielefeld, Saarbrücken und Heidelberg, an der Universität Paris-Sorbonne, in Luxemburg, Weißrussland und Österreich statt, in denen die Forschergruppe ihre aktuellen Projektergebnisse vorstellte und das Interesse an diesem Themenfeld schärfen konnte. Die Forschergruppe vernetzte sich auf diese Weise mit etablierten Historikern und Nachwuchswissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, Israel, Großbritannien, Schweden, Polen sowie aus dem postsowjetischen Raum, die sich mit der bolschewistischen und nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, mit den NS-Verbrechen gegen psychisch kranke und behinderte Menschen, mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Osteuropa und weiteren für das Projekt relevanten Themenkomplexen beschäftigen. Es entstanden dadurch gute wissenschaftliche und persönliche Kontakte, die neue Perspektiven für internationale Zusammenarbeit eröffnen. Mehrere deutsche und ausländische Wissenschaftler aus diesem Netzwerk steuern dankenswerterweise Bei-
Ein Forschungsprojekt und sein Kontext:
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träge zu dem vorliegenden Buch bei. Eine besonders intensive Kooperation bestand mit dem von Professor Dr. Heinz-Dietrich Löwe geleiteten Projekt „Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941– 1944“ (Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Heidelberg, 2010– 2012). Für umfangreiche Hinweise in der Schlussphase des Projekts danken wir Professor Dr. Thomas Bohn (Gießen) und Professor Dr. Alfons Kenkmann (Leipzig). Die Beiträge der Autorinnen und Autoren aus Weißrussland, Russland und der Ukraine wurden ursprünglich in russischer Sprache geschrieben. Die Übersetzungen fertigten Dr. paed./RUS Elena Tregubova, cand. phil. Elizaveta Slepovitch und cand. phil. Ina Metzner an. Elena Tregubova trug aus ihrer wissenschaftlichen Erfahrung auch viel bei zu den interkulturellen Hintergründen der Schwierigkeiten, welche die Texte und Übersetzungen aufwarfen. Die beiden Herausgeber erhielten bei der Überarbeitung und Vereinheitlichung der Beiträge besondere Unterstützung durch cand. phil. Michelle Klöckner, Mirka Borchardt und Anja Wolff. An den komplizierten Redaktionsarbeiten beteiligten sich zu unterschiedlichen Zeiten weiterhin Lennart Bohl, Esther Spicker und Jasmin Nicklas. Ihnen allen danken wir mit großem Nachdruck für ihre Sorgfalt, ihre Geduld und ihre unermüdliche Einsatzbereitschaft. Die Drucklegung der Ergebnisse wurde ermöglicht durch die erneute großzügige Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung. Die Ziele des Forschungsprojektes beschränken sich nicht allein auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen psychisch kranke und behinderte Menschen. Es soll zugleich in der westlichen Gesellschaft die Aufmerksamkeit für die dramatische Geschichte Weißrusslands, der Ukraine und anderer postsowjetischer Staaten im 20. Jahrhundert stärken, zu weiteren Forschungen anregen, einen Beitrag zur Diskussion über die Lage von behinderten und psychisch kranken Menschen in der ehemaligen UdSSR leisten und möglicherweise darüber hinaus auch positive Veränderungen in der Situation dieser Bevölkerungsgruppen fördern. Wir widmen diesen Band den sowjetischen Behinderten und psychisch Kranken, die in der stalinistischen Epoche diskriminiert und nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR vernichtet wurden und in der UdSSR, wie größtenteils im übrigen Ostblock, als Opfer des Nationalsozialismus vergessen blieben. Düsseldorf und Saarbrücken, im Juli 2015
Alexander Friedman und Rainer Hudemann
BEHINDERTEN- UND KRANKENMORDE IM KONTEXT VON VERNICHTUNGSPOLITIK, GESELLSCHAFTLICHER DISKRIMINIERUNG UND WISSENSCHAFTLICHER AUSGRENZUNG Eine Einführung Alexander Friedman und Rainer Hudemann Der erste Weltkrieg, die bolschewistische Oktoberrevolution und der Zerfall des Zarenreiches sowie die Kriegsniederlage der Mittelmächte und der Zusammenbruch der Donaumonarchie führten zu einer gravierenden territorial-politischen Umgestaltung Nord- und Osteuropas: In Finnland, im Baltikum und in Polen entstanden unabhängige Staaten.1 Zwischen 1919 und 1921 führte Polen einen Krieg gegen Sowjetrussland, der zur Aufteilung der weißrussischen und ukrainischen Gebiete zwischen Warschau und Moskau führte. Westweißrussland und die Westukraine gehörten zum „östlichen Grenzland“ Polens (Kresy Wschodnie). In Ostweißrussland (Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik, BSSR) und in der Ostukraine (Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, USSR) etablierten die Bolschewiki ihre Gewaltherrschaft und trieben ihr kommunistisches Experiment voran. Die Kriegs- und Revolutionswirren der Jahre 1914–1921 trafen Weißrussland und andere Gebiete des ehemaligen Zarenreiches sehr hart und hinterließen verheerende Spuren. Zahlreiche Einwohner kamen ums Leben oder mussten fliehen. Die wirtschaftliche Lage und der Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechterten sich dramatisch. Die Zahl behinderter und kranker Menschen sowie verwahrloster Kinder wuchs rasch an. Das Gesundheitssystem brach zusammen. In medizinischen Einrichtungen fehlten Medikamente und qualifizierte Fachkräfte. Nach der Errichtung der bolschewistischen Herrschaft war die sowjetische Führung bestrebt, das zerstörte Gesundheitssystem möglichst schnell wieder aufzubauen und die medizinische Ausbildung sowie Versorgung zu verbessern. Die bolschewistische Propaganda setzte sich mit diversen gesundheitspolitischen und medizinischen Themen auseinander, wie in diesem Buch dargelegt wird. Die sowjetische Berichterstattung hatte einen ambivalenten Charakter: Man pries die Erfolge des Gesundheitswesens und verwies stolz auf die Regimetreue des qualifizierten medizinischen Personals sowie auf die erstklassige Betreuung von Kin1
Konzentrierte problemorientierte Überblicke über die Forschungslage und die einzelnen Aspekte der Geschichte Weißrusslands geben die Beiträge in Dietrich Beyrau u. Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen 2001. Umfassend zum Forschungsstand Manfred Hildermeier, Die Sowjetunion 1917–1991, Neuaufl. München 2014, sowie in Gesamtdarstellung ders., Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998.
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Alexander Friedman und Rainer Hudemann
dern, schwangeren Frauen sowie behinderten und psychisch kranken Menschen. Gleichzeitig wurden gravierende Missstände in einzelnen medizinischen Einrichtungen, Behinderten- und Kinderheimen nicht verheimlicht und schonungslos kritisiert. Die Situation im ausländischen Gesundheitswesen wurde verzerrt dargestellt, um die sowjetische Entwicklung positiv dagegen abheben zu können. In der von der Außenwelt abgeschotteten sowjetischen Gesellschaft suggerierte die bolschewistische Agitprop eine katastrophale gesundheitliche Situation außerhalb der UdSSR, insbesondere in Polen und dort vor allem in den Kresy Wschodnie, in denen es tatsächlich akute strukturelle Probleme im Gesundheitswesen gab. Seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 und bis zum Hitler-Stalin-Pakt, der wenige Tage vor dem deutschen Angriff auf Polen 1939 eine kurze Phase intensiver deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit und Scheinfreundschaft einleitete und die Angliederung Westweißrusslands und der Westukraine durch die UdSSR sowie ihren Zusammenschluss mit Sowjetweißrussland und der Sowjetukraine ermöglichte, galt das „Dritte Reich“ in der Sowjetunion als wichtigster Feind und gefährlichster Gegner: In dieser „barbarischen“ Diktatur seien rassistische, antisemitische und „rassenhygienische“ Theorien fest verankert, würden Kommunisten, Juden und zahlreiche weitere Menschen verfolgt, psychisch kranke und behinderte sowjetische Zivilisten und Kriegsgefangene getötet und zudem „Lebensraum im Osten“ gefordert. Weißrussland, Westrusssland, die Ukraine und das Baltikum, die die Nationalsozialisten als Kernstück ihres „Lebensraumes im Osten“ betrachteten, wurden von der Wehrmacht bereits in der Anfangsphase des Krieges besetzt. Diese „Bloodlands“ (Timothy Snyder)2 wurden zwischen 1941 und 1944 zu einem wesentlichen Schauplatz der nationalsozialistischen Massenmordpolitik, der Juden, Roma, sowjetische Kriegsgefangene, psychisch kranke und behinderte Menschen sowie andere Zivilisten zum Opfer fielen. Schon in der Anfangsphase des Krieges wurden einzelne Behinderte und psychisch Kranke von der Wehrmacht und SS-Einheiten getötet. Im weiteren Kriegsverlauf fanden große Vernichtungsaktionen in Krankenhäusern und Behindertenheimen statt. Psychisch kranke und behinderte sowjetische Kriegsgefangene sowie auch Kinder wurden als „unnütze Esser“, „lebensunwertes Leben“ und „Quellen der Seuchengefahr“ wahrgenommenen und gezielt durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Polizeibataillone und weitere deutsche Einheiten ermordet. Durch die „Rassenhygiene“ geprägte deutsche Ärzte, die deutsche Zivilverwaltung sowie einheimische Verwaltungen und Ordnungsdienste wirkten bei den Krankentötungen mit. Einheimische Ärzte, Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen wurden für die Durchführung der Mordpolitik instrumentalisiert. Einzelne von ihnen beteiligten sich am Massenmord freiwillig. Die Besatzungspresse, welche die deutsche Gesundheitspolitik feierte und das „rassenhygienische“ Gedankengut verbreitete, berichtete über die Mordaktionen in Psychiatrien, 2
Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. Zu den militärischen und administrativen Zusammenhängen siehe in diesem Buch vor allem auch die Beiträge von Christoph Rass für Weißrussland und Björn M. Felder für das Baltikum.
Behinderten- und Krankenmorde im Kontext von Diskriminierung und Vernichtung
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Behinderten- und Kinderheimen in der Regel nicht. Sie beschuldigte vielmehr die Rote Armee und die Partisanen, Kinder und Frauen systematisch getötet zu haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die sowjetische sowie die west- und ostdeutsche Justiz mit den Behinderten- und Krankentötungen in der UdSSR auseinander. Trotz der juristischen (Teil-)Aufarbeitung wurden die „Euthanasie“-Verbrechen – ebenso wie die Vernichtung von Juden und Roma – in der Sowjetunion nach dem Krieg aber öffentlich kaum thematisiert. Während vor allem die Shoah, aber auch der Porajmos und die „Euthanasie“-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, in Westeuropa, in den USA und auch zum Teil in der DDR, der Volksrepublik Polen und anderen Ostblockstaaten nach und nach aufgearbeitet wurden, spielte die Tragödie von Juden und Roma, geschweige denn die Vernichtung psychisch kranker und behinderter Menschen, im offiziellen sowjetischen Bild des „Großen Vaterländischen Krieges des Sowjetvolkes gegen die deutsch-faschistischen Besatzer“ so gut wie keine Rolle.3 Das Ausbleiben einer historischen Aufarbeitung der Behinderten- und Krankenmorde lässt sich nicht zuletzt auf das diskriminierende Bild psychisch kranker und behinderter Menschen in der sowjetischen Gesellschaft und auf die behindertenfeindliche Stimmung in der Sowjetunion zurückführen. Die Erforschung der Krankenmorde wurde außerdem durch zwei weitere, aus sowjetischer Sicht sensible Aspekte erschwert: 1) Im Gegensatz zu Kinderheimen wurden Psychiatrien und Behindertenheime meistens auch dann nicht evakuiert, wenn dies zeitlich und logistisch möglich gewesen wäre. Denn im sowjetischen Hinterland benötigte man in erster Linie Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie – psychisch kranke und behinderte Menschen überließ man lieber den Besatzern. 2) Die deutschen Besatzer (Wehrmacht, Einsatzgruppen, etc.) waren die treibende Kraft der Mordpolitik, in die aber auch das einheimische Pflegepersonal verwickelt wurde. Dessen Rolle wurde in den wenigen sowjetischen Publikationen über den Patientenmord ausgeblendet oder nur am Rande behandelt. BEHINDERTEN- UND KRANKENTÖTUNGEN IN DER FORSCHUNG Aus der breitgefächerten Forschung zu den Fragestellungen dieses Buches seien hier nur einige wenige inhaltliche und methodische, in erster Linie Weißrussland im Krieg betreffende Akzentsetzungen stellvertretend angesprochen. Weitere Literatur über die sowjetische Sozialpolitik, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in den besetzten sowjetischen Gebieten und zusätzliche relevante Themenkomplexe, insbesondere auch aus der im Westen wenig bekannten sowjetischen und postsowjetischen Forschung, wird in den einzelnen Beiträgen dieses Buches genannt und diskutiert. Die Politik der „Euthanasie“ im „Dritten Reich“ und ihre Vernetzung mit der internationalen Entwicklung der Eugenik ist seit dem Engagement der Psychiater um Alexander Mitscherlich im Heidelberger Universitäts-Klinikum – noch kurz 3
Einen Zugang zu den zahlreichen Analysen der Problematik bietet z. B. Zvi Gitelman (Hrsg.), Bitter Legacy. Confronting the Holocaust in the USSR, Bloomington 1997.
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Alexander Friedman und Rainer Hudemann
zuvor eine der Stätten der Morde – in der unmittelbaren Nachkriegszeit und verstärkt seit den 1960er Jahren ein fester Bestandteil der NS-Forschung. In diesem Buch arbeitet Gerhard Baader, einer der Pioniere dieser Forschung, die Zusammenhänge heraus.4 Die wichtigste sowjetische Studie über die Krankenmorde in den besetzten Gebieten erschien 1965 in einer medizinischen Fachzeitschrift und wurde lediglich von einem kleinen Kreis von Fachleuten rezipiert: Der Psychiater Dmitrij D. Fedotov thematisierte in seinem Beitrag die großen Mordaktionen in Weißrussland, Russland, in der Ukraine und im Baltikum. Seine Studie diente als Grundlage für die Publikationen über den Patientenmord in der UdSSR, die in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland5 und in der DDR6 erschienen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden zwar die bereits bekannten Mordaktio4
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Siehe dazu nach wie vor grundlegend die umfassenden Publikationen von Hans-Walter Schmuhl, darunter insbesondere: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, Göttingen 1987 (prägnante Strukturierung der älteren Forschung ebd., S. 12–18), sowie ders., Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1927–1945, Göttingen 2005; ders., Frank Schneider, Petra Lutz u. a. (Hrsg.), Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus, Berlin u. Heidelberg 2014; Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003. Gerrit Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013. Forschungsbilanz: Robert Jütte, Wolfgang U. Eckart, Hans-Walter Schmuhl u. Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. „Der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation“ gibt seit den 1980er Jahren laufend Informationen über die Forschung [www.ak-ns-euthanasie.de], die hier nicht in extenso wiedergegeben werden. Die bei Manuskriptabschluss noch nicht publizierte Tagung 2014 des Arbeitskreises in Poznań über „Medizin im besetzten Polen im Schatten des Nationalsozialismus“ berührte besonders eng einige der Fragestellungen des vorliegenden Buches. Vgl. u. a. Volker Rieß, Die Anfänge der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in den Reichsgauen Danzig-Westpreussen und Wartheland, 1939/40, Frankfurt/M. 1995. Zur Entwicklung der Eugenik siehe unter anderem Stefan Kühne, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 22014; mit rechtswissenschaftlicher Akzentsetzung: Ignacio Czeghun, Erich Hilgendorf u. Jürgen Weitzel (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie 1850–1945. Frühformen, Ursachen, Entwicklungen, Folgen, Baden-Baden 2009; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Darmstadt 1997; Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, Neubearb. Frankfurt/M. 2010; Götz Aly, Die Belasteten. Euthanasie 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt/M. 2013. In Frankreich ist um die Frage verhungerter Patienten in den Psychiatrien während der deutschen Besatzung in den letzten Jahren eine breite Kontroverse ausgebrochen, ausgehend von den Werken von Isabelle von Bueltzingsloewen, u. a. L’hécatombe des fous. La famine dans les hôpitaux psychiatriques français sous l’occupation, Paris 2007. Angelika Ebbinghaus u. Gerd Preissler, Die Ermordung psychisch kranker Menschen in der Sowjetunion. Dokumentation, in: Götz Aly u. a., Aussonderung und Tod. Die Klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin [West] 1985, S. 75–107. Genadij Ivanovič Caregorodcev u. Natalia Decker, Zu den Folgen der faschistischen Politik für das Gesundheitswesen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den zeitweilig okku-
Behinderten- und Krankenmorde im Kontext von Diskriminierung und Vernichtung
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nen in Minsk und Mahilëŭ sowohl in postsowjetischen als auch in westlichen Abhandlungen ansatzweise behandelt.7 Jedoch blieb eine umfassende und systematische Untersuchung der deutschen Vernichtungspolitik gegen psychisch kranke und behinderte Menschen in der Sowjetunion ein Desiderat der Forschung und konnte erst im Rahmen des weißrussisch-deutschen Forschungsprojekts „Kranken- und Behindertenmorde in Weißrussland 1941 bis 1944“ umfassender in Angriff genommen werden. Erster Weltkrieg, der russische Bürgerkrieg und der polnisch-sowjetische Krieg markierten eine Etappe in dem langfristigen Zerfall der gesellschaftlichen und administrativen Strukturen Weißrusslands, der in den stalinistischen „Säuberungen“ der 1930er Jahre, der Aufteilung Polens und Annexion Westweißrusslands durch die Sowjetunion 1939–1941 und der deutschen Besatzung 1941–1944 seine katastrophalen Höhepunkte fand. In der permanenten Radikalisierung von Gewalt und Gegengewalt sanken die Chancen der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg immer weiter, sich durch Positionierungen auf der einen oder anderen Seite der jeweiligen Fronten in Schutz zu bringen, zumal diese Fronten immer unklarer und durchlässiger wurden, sich zusehends überlagerten und immer neu mit einander verschränkten. Mit Kategorien wie „Kollaboration“ oder „Widerstand“ ist die politische und gesellschaftliche Realität der besetzten Gebiete im Krieg nicht zu erfassen. Die extreme Komplexität der sich nach Regionen und Zeitpunkten permanent wandelnden, kollektiven und individuellen Situationen hat Bernhard Chiari auf breiter Quellenbasis prägnant auf den Punkt gebracht und umfassend herausgearbeitet, wie fundamental die gesellschaftlichen Strukturen Weißrusslands seit dem Ersten Weltkrieg sukzessive und in ständig fortschreitender Radikalisierung zerstört wurden.8 Hier liegt einer der maßgeblichen Hintergründe für die Situation von Behinderten
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pierten Gebieten der Sowjetunion, in: Achim Thom, Genadij Ivanovič Caregorodcev (Hrsg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin [Ost] 1989, S. 417–429. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941–1944, Hamburg 21999, S. 1067–1069; Mary V. Seeman, The Fate of Psychiatric Patients in Belarus During the German Occupation, in: International Journal of Mental Health 35, Heft 3, Fall 2006, S. 75–79; Aleksandr Fridman (= Alexander Friedman), Mogilev – vozmožnyj centr uničtoženija evropejskogo evrejstva?; ders., Prestuplenie i nakazanie: poslevoennye sudebnye processy v FRG i v GDR, sowie ders. u. Inna Šenderovič, Uničtoženie pacientov Mogilevskoj psicholečebnicy – put’ k sozdaniju novogo pokolenija dušegubok, in: Aleksandr Litin (Hrsg.), Istorija Mogilevskogo evrejstva. Dokumenty i ljudi, Mahilëŭ 2009, Bd. 2, Teil 2, S.146 f., 190–197, 203–205; Ulrike Winkler u. Gerrit Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“. Die Ermordung der Psychiatriepatientinnen in Mogilew 1941/42, in: Babette Quinkert, Philipp Rauh u. Ulrike Winkler (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950, Göttingen 2010, S. 75–103. Zur Ukraine siehe P. T. Petrjuk u. A. P. Petrjuk, Psichiatrija pri nacizme: ubijstva duševnobol’nych na vremenno okkupirovannych territorijach SSSR. Soobšcenie 7, in: Psichične zdorov’ja 2 (2012), S. 77–89. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland, Düsseldorf 1998. Vgl. zum engeren Bereich der Shoah auch Martin Dean, Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–1944, Basingstoke u. a. 2001. Vgl. zum Besatzeralltag in Weißrussland Stephan Lehnstaedt, Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944, München 2010.
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und Kranken in Weißrussland unter deutscher Besatzung. Ob und wie Behinderte in die Gewalt- und Mordspiralen hineingezogen wurden, hing auch von ihrer Position in den jeweiligen Gesellschaften ab. Die Region war durch die vielfältige Struktur ihrer Bevölkerung in sich ohnehin höchst heterogen. Die Grenzwechsel verstärkten bereits die Heterogenität der Gesamtregion, lösten als solche aber kleinräumigere gewachsene kulturelle und soziale Strukturen noch nicht völlig auf. Deren sukzessive Zerstörung wurde bewirkt durch die sich gegenseitig verstärkenden Folgen der durch den Hitler-StalinPakt ermöglichten sowjetischen Annexion 1939 mit den anschließenden sowjetischen Massendeportationen sowie den auf sie folgenden Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht seit Juni 1941.9 Das Scheitern des deutschen Blitzkrieges bewirkte sowohl eine weitere Radikalisierung als auch die Freisetzung von neuen Gewaltspiralen durch die weithin herrschende, durch ideologische Parolen10 nur ungenügend verdeckte deutsche Konzeptionslosigkeit in der Durchführung der insgesamt beabsichtigten, rücksichts- und schrankenlosen Ausbeutung des Landes. Der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung, seit Jahrzehnten ein Schwerpunkt der Forschung, war der relativ am zielstrebigsten verfolgte Teil einer Vernichtungspolitik, welche nach und nach alle Teile der Bevölkerung erfasste.11 Verwüstungen durch die Besatzungsmacht, durch die von ihnen eingesetzten einheimischen Einheiten in Polizei und anderen Institutionen12 und durch die ab 1942 rasch wachsenden sowjetischen Partisanenverbände13 vernichteten weitere grundlegende Segmente der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Ordnung und hinterließen 1944 ein weithin zerstörtes Land. Nach derzeitigen, in neueren Forschungen erhöhten Schätzungen sind in dem sich ständig steigernden Massenmorden und Massensterben wohl etwa 30 % der weißrussischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg umgekommen.14 Christian Gerlach hat die Planungen, administrativen Strukturen, internen Prozesse und praktischen Maßnahmen der Besatzungsherrschaft detailliert 9 10 11
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Mit stärker auf die Besatzungsmächte orientiertem vergleichendem Blick siehe dazu Alexander Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn u. a. 2009. Babette Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944. Die deutsche „geistige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn u. a. 2009. Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn u. a. 2006; Christian Ingrao, Les chasseurs noirs. La brigade Dirlewanger, Paris 22009; Petra Rentrop, Tatorte der „Endlösung“. Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez, Berlin 2011. Leonid Rein, The Kings and the Pawns. Collaboration in Byelorussia during World War II, New York u. Oxford 2011. Grundlegend zu diesem Komplex: Bogdan Musial, Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit, Paderborn u. a. 2009. Siehe z. B. Oleg Lickevič, Ljudskie poteri Belarusi v vojne, in: Belaruskaja dumka 5 (2009), S. 92–97. Zur methodischen Schwierigkeit der divergierenden Schätzungen siehe Natal’ja Gojšik, Die Verluste der weißrussischen Bevölkerung im Großen Vaterländischen Krieg nach Einschätzung der weißrussischen und deutschen Geschichtsschreibung, in: Olga Kurilo u. Gerd-Ulrich Herrmann (Hrsg.), Täter, Opfer, Helden. Der Zweite Weltkrieg in der weißrussischen und deutschen Erinnerung, Berlin 2008, S. 139–148.
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untersucht und sowohl die Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und SS-Formationen als auch die Mäander und Nuancen ihrer Divergenzen herausgearbeitet; er hebt unter anderem die ökonomischen Ausbeutungsziele hervor, die in der konkreten Radikalisierung für die meisten Akteure ein stärkeres Gewicht hatten als ideologische Stereotype.15 Dieter Pohl legt in seinem ebenfalls umfassenden Buch den Schwerpunkt auf die Praxis der Besatzung.16 Die allgemeinen Kontroversen um die Rolle der Wehrmacht in den Kriegsverbrechen wurden in der Forschung seit den 1960er Jahren – vor allem durch die großen Werke von Manfred Messerschmidt und Klaus-Jürgen Müller – angestoßen,17 allerdings in der breiten deutschen Öffentlichkeit erst seit der „Wehrmachtsausstellung“ 1995, doch dann mit großem Echo und vehement geführt.18 In den genannten und vielen anderen Werken wird aber längst nicht mehr diskutiert, ob die Wehrmacht überhaupt an Kriegsverbrechen mitwirkte, sondern wie, unter welchen genauen Umständen und Einflüssen und in welchem Umfang.19 Der hier skizzierte Kontext wirkte in vielfältigen Formen auf die Schicksale von Behinderten und Kranken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.
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Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 7). Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, mit konzentrierter Strukturierung der Forschung. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933– 1940, Stuttgart 1969, 21988. Hannes Heer u. Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941– 1944, Hamburg 1997; Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 21981, Neuausg. Bonn 1997; Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995. Zu den weiteren wichtigsten Arbeiten mit einem Schwerpunkt auf der deutschen Besatzungsund Verbrechenspolitik gehören unter anderem die Publikationen von Christian Hartmann, insbesondere: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009; ders. u. a., Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München 2009; ders. (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht : Bilanz einer Debatte, München 22014; Rolf-Dieter Müller u. Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999; Jörn Hasenclever, Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943, Paderborn u. a. 2010; Jürgen Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München 2007. In Kooperation von Geschichtswissenschaft und Sozialpsychologie: Sönke Neitzel u. Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/M. 2011. – Perspektiven der russischen Forschung vereinen die Beiträge in: Gabriele Gorzka u. Knut Stang (Hrsg.), Der Vernichtungskrieg im Osten. Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion – aus Sicht russischer Historiker, Kassel 1999.
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ZUM AUFBAU DES BUCHES Dem weißrussisch-deutschen Projekt „Kranken- und Behindertenmorde in Weißrussland 1941 bis 1944“, dessen zentrale Ergebnisse bisher nur zu einem geringen Teil veröffentlicht sind20 und in diesem Buch in deutscher Sprache vorgelegt werden, lag das von Alexander Friedman und Rainer Hudemann entwickelte methodisch-analytische Konzept zugrunde. Die bisherigen Arbeiten über die NS-Kran20
Folgende Projektpublikationen liegen zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches bislang vor: Alexander Friedman, Mosche Dajan in der kommunistischen Propaganda der 1960er und 1970er Jahre. Ein Beitrag zur Erforschung des Antisemitismus und des Behindertenbildes im Ostblock, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 11 (2012), S. 151–164; ders., „Professor Mamlock“: Der sowjetische Spiefilm über das Schicksal eines jüdischen Medizinprofessors in Nazideutschland (1938) und seine Rezeption, in: Thomas Beddies, Susanne Doetz u. Christoph Kopke (Hrsg.), Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus – Entrechtung, Vertreibung, Ermordung, Berlin u. München 2014, S. 226–239; ders., „Wir müssen den Feind restlos vernichten. Und wir werden ihn vernichten!“. Aufstieg und Fall des stellvertretenden Volkskommissars des Inneren der UdSSR Leonid M. Zakovskij (1894–1938). Eine Fallstudie über Gewalt in der stalinistischen Sowjetunion, in: Frank Jacob (Hrsg.), Diktaturen ohne Gewalt? Wie Diktatoren ihre Macht behaupten, Würzburg 2014, S. 149–178; ders., Das Phänomen Anatolij Kašpirovskij: Alternative Medizin in der Sowjetunion während der Perestrojka-Epoche und im postsowjetischen Raum, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 13 (2015), S. 145–159; ders., „Unser Beethoven“. Rezeption des Komponisten und seiner Musik in der Sowjetunion vor dem deutschen Überfall 1917–1941, in: Yvonne Wasserloos u. Sabine Mecking (Hrsg.), Zwischen Inklusion und Exklusion? ‚Deutsche’ Musik in Europa und Nordamerika 1848–1945, Göttingen (erscheint 2015). Andrei Zamoiski, Professor Semën Vol’fson – sluga i žertva stalinskoj filosofii, in: Joanna Schiller-Walicka (Hrsg.), Rozprawy z dziejów oświaty, Bd. L, Warschau 2013, S. 179–185; ders., Dzënnik Kastusja Jarmilava – malavjadomaja krynica z časoŭ njameckaj akupacyі Belarusі, in: Arché 1 (2013), S. 338–346; ders., Vrači-evrei vo vremja pogromov (1919–1921) (na primere Sovetskoj Belorussii), in: Viktorija V. Močalova (Hrsg.), Materialy XX meždunarodnoj ežegodnoj konferenii po iudaike, Bd. II (46), Moskau 2013, S. 269–277; ders., Pamjati professora Lazarja Jakovlevičа Sitermana (1894–1941), in: Ėduard A. Val’čuk u. a. (Hrsg.), XII-ja meždunarodnaja naučno-praktičeskaja konferencija po istorii mediciny i farmacii, Hrodna 2012, S. 255–257; ders., Evgenika v mežvoennoj Pol’še i severo-vostočnyh voevodstvach, in: Igor’ Kim u. a. (Hrsg.), Rossijsko-pol’skij istoričeskij al’manach, Bd. VI, Stavropol’-Volgograd 2012, S. 38–45. Vasilij M. Matoch (= Vasili Matokh), Invalidy na territorii Belarusi vo vremja nacistskoj okkupacii 1941–44 gg. (po materialam Gosudarstvennogo archiva Minskoj oblasti), in: Aljaksandr A. Kavalenja u. Sjarhej Ja. Novikaŭ (Hrsg.), Belarus’ i Hermanija: historyja i sučasnasc’: matėryjaly Mižnarodnaj navukovaj kanferėncyi, Minsk 8 krasavika 2010, Minsk 2010, S. 174– 179; ders., Antisemitizm v medicinskich učreždenijach v BSSR v dovoennyj period (po materialam Gosudarstvennogo archiva Minskoj oblasti), in: Tsayshrift 8 (2013), S. 65–72. Viktorija A. Latyševa (= Viktoria Latysheva), Psichiatrija Belarusi kak ob’ekt istoričeskogo issledovanija, in: Aljaksandr H. Kachanoŭski (Hrsg.), Aktual’nyja prablemy ajčynnaj i susvetnaj historii, Minsk 2012, S. 170–174; dies., Ljudi s ograničennymi vozmožnostjami v SSSR: 1920–1930-e gg., in: Vladimir I. Adamuško u. a. (Hrsg.), Istoričeskoe nasledie Belarusi: vyjavlenie, sochranenie i izučenie, Minsk 2013, S. 89–96; dies., „Smert’ iz žalosti“ – prestupnaja politika na territorii okkupirovannoj Homel’ščiny, in: A. M. Kusko (Hrsg.), 1943 god na Gomel’ščine, Homel’ 2013, S. 107–115.
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kenmorde in den besetzten sowjetischen Gebieten konzentrieren sich auf die Rekonstruktion der großen Mordaktionen, deren Ursachen, Ablauf und Folgen. Dagegen wurde in dem Forschungsprojekt „Behinderten- und Krankenmorde in Weißrussland“ beschlossen, die nationalsozialistische Mordpolitik in ihrem Ausmaß, ihrer Bedeutung und ihren Auswirkungen in den breiten Kontext der sowjetischen, deutschen, weißrussischen, ukrainischen und polnischen Geschichte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zu stellen und somit neue Perspektiven für die Analyse der nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten zu erschließen. Morde an Behinderten und Kranken wurden nicht ausschließlich in einem normen- und regelungsfreien Raum entgrenzter Vernichtungspolitik verübt. Die Situation in den 1920er und 1930er Jahren beeinflusste in vielfältiger Weise die Umfeldbedingungen der Morde der Besatzungsjahre. Auch die weitgehende Tabuisierung des Geschehens durch die Sowjetunion nach 1945 hängt mit der Situation der psychisch Kranken und der geistig und körperlich Behinderten sowohl in der Zwischen- als auch in der Nachkriegszeit zusammen. Chancen des Überlebens und Todesgefahr während des Krieges waren vielfältig verflochten mit medizinischen und gesellschaftlichen Diskussionen und Normen. Auf dem Land waren die Bedingungen auch für die Morde häufig anders als in der Stadt. Behinderung konnte in den stalinistischen Säuberungen ebenso wie unter der deutschen Vernichtungspolitik Schutz vor Tod oder im Gegenteil erhöhte Gefahr bringen. Internationale und sowjetinterne Diskussionen über Eugenik und über die Stellung von Behinderten und psychisch Kranken in der Gesellschaft hatten ebenso ihr Gewicht wie die Konfiguration sowjetischer Gesundheitspolitik. Ausbildung und Berufsbild von Ärzten und Pflegepersonal kamen gleichermaßen zur Wirkung wie unterschiedliche Formen und Grade von Kollaboration mit der Besatzungsmacht. Im Zuge der deutschen Besatzungspolitik war auch die Gesundheitspolitik höchst widersprüchlich: Auf der einen Seite standen Ansätze zu einer als konstruktiv proklamierten, allerdings stets auf Vassalisierung der sowjetischen Bevölkerung zielenden Strukturpolitik wie beispielsweise in der exemplarischen und propagandistisch breit ausgeschlachteten Ausbildung von Krankenpersonal in der weißrussischen Stadt Baranavičy (Friedman) oder in der Einführung einer Krankenversicherung noch im Februar 1944 (Burmistr). Auf der anderen Seite standen die gleichzeitigen großen Mordaktionen in Minsk und Mahilëŭ und eine Fülle von anderen Kranken-, Säuglings- und Behinderten-Morden in unterschiedlichsten Kontexten. Kontinuitäten und Diskontinuitäten über die scheinbar scharfen, in den gesellschaftlichen Konturen aber bisweilen diffuser verlaufenden Brüche 1939, 1941 und 1944 hinweg gehörten zu den zentralen Fragestellungen dieses Projektes. Auch die Wahrnehmung des Geschehens und der gesellschaftliche Umgang mit ihm hängen damit zusammen. Propaganda spielte eine zentrale Rolle, auch sie aber in unterschiedlicher Weise. Dank sehr hoher eigener Arbeitsintensität, guter persönlicher Kontakte und der raschen breiten Unterstützung durch Archivverwaltungen in Weißrussland erschloss die Forschergruppe ein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial deutscher und sowjetischer Provenienz in Archiven und Bibliotheken in Weißrussland, Russ-
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land, Polen, Litauen und Deutschland. Ein wesentlicher Teil dieser Quellen wurde im Rahmen des Projekts zum ersten Mal ausgewertet. Viele Beiträge dieses Buches beruhen primär auf den im postsowjetischen Raum teilweise zugänglichen und im Westen bisher unbekannten Quellen. Die Priorität wurde auf die größtmögliche Nutzung des durch die zuständigen Archivverwaltungen unerwartet großzügig und rasch eröffneten Zugangs zu den Quellen gelegt. Denn während der gesamten Projektlaufzeit konnte nicht fest davon ausgegangen werden, dass ein solch breiter Zugang dauerhaft gegeben sein würde. Es ging also in erster Linie darum, diese ungewöhnliche Forschungschance extensiv zu nutzen. Die Auswertung umfangreicher Quellenbestände sowjetischer Provenienz stellt eine wichtige Leistung des Projekts dar. Deutsche Quellen wurden aus deutschen Archiven, insbesondere aus den deutschen und sowjetischen Nachkriegsprozessen, sowie aus den in den postsowjetischen Staaten inzwischen zugänglichen deutschsprachigen „Beuteakten“ hinzugezogen, doch war dies im Rahmen eines zweieinhalbjährigen Projektes nicht im vollen gewünschten Umfang zu leisten. Andere Forschungen werden künftig daher sicherlich noch weitere ergänzende Ergebnisse liefern können. Das Forschungsprojekt bestand aus mehreren Teilprojekten, in denen das sowjetische Gesundheitssystem, die Lage von Medizinern sowie psychisch kranken und behinderten Menschen vor und nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR, die Darstellung von Ärzten und Patienten in der bolschewistischen und nationalsozialistischen Propaganda, die Eugenik-Debatte während der Zwischenkriegs- und Kriegszeit, die medizinische Bildung vor und unter der deutschen Okkupation und als Kernfragestellung die Kranken- und Behindertenmorde der Kriegsjahre sowie der ambivalente Umgang mit diesen Verbrechen in der Sowjetunion nach 1945, der DDR und der Bundesrepublik behandelt wurden. Sie strukturieren auch den Aufbau des vorliegenden Buches. Einen Einblick in die propagandistische Nutzung gesundheitspolitischer Themen für die Stabilität des stalinistischen Regimes unter den Bedingungen der Repressionen der 1930er Jahre geben die von Alexander Pesetsky zutage geförderten vielfältigen Berichte – in der Presse wie durch den NKVD – über die „Volksbesprechung“ zum Abtreibungsverbot (1936), in die Themen wie Scheidung, Unterhaltspflicht, Kindergeld und medizinische Gefahren einbezogen wurden. Die Vermutung, dass dies auch eine Art Ventil- und Ablenkungsfunktion hatte, liegt nahe. Die Analyse der stalinistischen Agitprop setzt Pesetsky fort in seinem Beitrag über die propagandistische Instrumentalisierung von Kindern in der UdSSR vor dem deutschen Überfall sowie durch die nationalsozialistische Okkupationspresse in den von der Wehrmacht besetzten sowjetischen Gebieten. Die stalinistische und die nationalsozialistische Propaganda griffen das Thema „Kinder“ gezielt auf, um sich jeweils als besonders „menschenfreundlich“ zu profilieren, den Kriegsgegner möglichst negativ darzustellen und die Sympathie der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Das Thema zeigt die vielfältige Überlagerung der Propaganda-Ebenen von inner-sowjetischer Propaganda mit dem Propagandakrieg zwischen den beiden Kriegsparteien. Zugleich ist besonders interessant, wie die NKVD-Berichte beispielsweise die Verbitterung der ehemaligen „Kulaken“ wiedergeben und deren
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psychologische und materielle Schwierigkeiten schildern, Hilfe von dem Staat anzunehmen, der ihre wirtschaftliche, wenn nicht physische Existenz vernichtet hatte. Welche Vorstellungen über die Medizin und Mediziner wurden in der Sowjetunion und insbesondere in Sowjetweißrussland während der Zwischenkriegszeit verbreitet? Dieser Frage geht Andrei Zamoiski nach. Die stalinistische Propaganda konstruierte ein Idealbild der „selbstlosen qualifizierten Mediziner“ und suggerierte gleichzeitig, die Situation der Ärzte und des Pflegepersonals im kapitalistischen Ausland sei verheerend. Die Besuche westlicher Mediziner in der Sowjetunion wurden gesteuert und deren positive Berichte im Westen ihrerseits in der sowjetischen Propaganda wieder eingesetzt als Beweis für die eigene Leistungsfähigkeit. In einem weiteren Beitrag beschäftigt sich Zamoiski mit der Berufsgruppe der Psychiater und ihrer Situation in Weißrussland vor 1941. Der Verfasser erarbeitet dabei ein – auch regional – differenziertes Bild der Rekrutierungs- und Arbeitsbedingungen von Psychiatern im Vergleich mit der allgemeinen Lage von Ärzten. Er zeigt die politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen, administrativen, wissenschaftlichen und berufsständischen Komponenten auf, welche auf die Situation des Gesundheitswesens und insbesondere der Psychiatrie vor dem deutschen Einmarsch einwirkten. In seiner weiteren Studie über die Eugenik und „Rassenhygiene“ im weißrussisch-sowjetisch-polnisch-deutschen Spannungsfeld stellt Zamoiski fest, dass diverse eugenische Theorien sowohl in der Sowjetunion als auch in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt waren. Sowjetische Eugeniker wurden in den 1930er Jahren aber verfolgt. Die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ und die NS-„Euthanasie“ wurden in der sowjetischen antifaschistischen Propaganda der 1930er Jahre verurteilt. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR wurden die Ärzte und auch andere Einwohner/innen der besetzten Gebiete jedoch direkt mit der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ konfrontiert: die Besatzungspresse verbreitete das eugenische bzw. „rassenhygienische“ Gedankengut. Manche einheimischen Psychiater und andere Mediziner wirkten bei den nationalsozialistischen Patientenmorden nun mit. Zamoiski analysiert die hoch komplexen Umfeldbedingungen exemplarisch am Beispiel der Stadt Mahilëŭ und besonders der Ärzte Nikolaj Stepanov, Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač, ihrer Tätigkeit unter deutscher Okkupation und ihrem Schicksal nach 1945. Die Entwicklung des Psychiatriewesens in Sowjetweißrussland vor 1941 und die Ermordung psychisch kranker Menschen während des Krieges steht ihm Fokus der Beiträge von Viktoria Latysheva. In einer Fallstudie über das Psychiatriewesen in der Stadt Vicebsk vor und nach der Oktoberrevolution zeigt sie, dass sich die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung im Norden Sowjetweißrusslands in der Zwischenkriegszeit nach und nach verbessert hat. Unter deutscher Okkupation wurde das in der Sowjetzeit aufgebaute psychiatrische System liquidiert. Es kam zu einer rasanten Verschlechterung der psychiatrischen Gesundheit der Bevölkerung. Latysheva thematisiert die Krankentötungen in Vicebsk und Westweißrussland, wo Wehrmachtseinheiten und die Sicherheitspolizei mehrere Mordaktionen in Psychiatrien organisierten. Schwerpunktmäßig erfolgten diese gezielten Mordaktionen in der frühen Phase der Besatzung.
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Die Lage körperlich behinderter Menschen in Weißrussland und in weiteren sowjetischen Gebieten während der Zwischenkriegszeit und unter deutscher Okkupation steht im Mittelpunkt der Beiträge von Vasili Matokh. Er beleuchtet die Entstehung und Entwicklung des sowjetischen Systems der Sozialfürsorge, hebt dessen Klassencharakter hervor und betont, dass die sowjetische Führung bestrebt war, die Arbeitskraft von Behinderten möglichst effizient – etwa im Rahmen politisch instrumentalisierter Behindertengenossenschaften – zu verwenden. Der sich in diesen Jahren entwickelnden internationalen Zusammenarbeit der Genossenschaften waren durch die politische Instrumentalisierung allerdings Grenzen gezogen. Die arbeitsfähigen behinderten Menschen wurden in der sowjetischen Presse als integrierte, „gleichberechtigte“ und „glückliche“ Bürger/innen gelobt, die ihren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten würden. Die von der staatlichen Hilfe abhängigen, arbeitsunfähigen behinderten Menschen wurden hingegen ausgegrenzt, in oft berüchtigte Behindertenheime abgeschoben und in der Propaganda als „Zurückgebliebene“ stigmatisiert. Matokh zeigt die – oft vergeblichen – Kämpfe von Behinderten um eine Verbesserung ihrer materiellen und gesellschaftlichen Situation. Eindrucksvoll arbeitet er an dramatischen Einzelbeispielen heraus, wie behinderte „Klassenfeinde“ von der Betreuung ausgeschlossen wurden und in welchem Umfang auch Behinderte sowie Personen aus der Behinderten-Sozialverwaltung zu Opfern der stalinistischen „Säuberungen“ wurden. Matokh und Latysheva zeigen die wichtigsten Gemeinsamkeiten der nationalsozialistischen Mordpolitik gegen psychisch kranke und geistig und körperlich behinderte Menschen: Dieser Mordpolitik fielen sowohl Patienten aufgelöster psychiatrischer Einrichtungen und Bewohner von geschlossenen Behindertenheimen zum Opfer als auch außerhalb spezieller Einrichtungen untergebrachte, psychisch kranke sowie geistig und körperlich behinderte Menschen. Letztere hatten – sofern sie weder Juden noch Roma waren – deutlich bessere Überlebenschancen als Psychiatriepatienten und behinderte Heimbewohner. Im Bestreben, Gebäude von Psychiatrien und Heimen zu beschlagnahmen, „Ballastexistenzen“, „unnütze Esser“, „lebensunwerte Leben“ zu beseitigen und Seuchengefahren zu verringern, konzentrierten sich die deutschen Täter auf „leicht greifbare“ stationäre Patienten und Heimbewohner. Psychisch kranke, geistig und körperlich behinderte Nichtjuden und Nicht-Roma, die nicht stationär behandelt wurden und nicht in Behindertenheimen wohnten, wurden nicht selten von „rassenhygienisch“ geprägten Besatzern getötet, die auf eigene Initiative handelten. Ein systematischer flächendeckender Kranken- und Behindertenmord – wie etwa im Falle der Juden – war im Krieg dagegen nicht beabsichtigt. Im Kriegsalltag waren psychisch kranke und behinderte Menschen auf Hilfe ihrer Verwandten, Bekannten und barmherziger Mitbürger/innen angewiesen. Latysheva betont, dass psychisch kranke und geistig behinderte Menschen mit der Unterstützung einheimischer Verwaltungen nicht rechnen konnten. Matokh zeigt, dass einheimische Verwaltungen immerhin in einzelnen Fällen bereit waren, körperlich behinderte Menschen mit Beihilfen und Renten zu unterstützten. Behindert und krank aus Deutschland zurückkehrende Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter hatten allerdings geringere Chancen auf Unterstützung als solche, die auf der Partisanenseite kämpften.
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Mit dem tragischen Schicksal behinderter Menschen unter deutscher Okkupation beschäftigt sich auch Alexander Friedman in seiner Fallstudie über die von der deutschen Sicherheitspolizei organisierten und in der Sowjetunion kaum thematisierten Mordaktionen in Šumjači (Gebiet Smolensk, November 1941) und Makar’evo (Gebiet Leningrand, Dezember 1941 oder Januar 1942). In Šumjači wurden geistig behinderte Kinder getötet. In Makar’evo kamen kranke, körperlich und geistig behinderte Frauen ums Leben. Friedman zeigt, dass die sowjetische Seite weder das Kinderheim in Šumjači noch das Behindertenheim in Makar’evo evakuiert hatte, obwohl sie genug Zeit dafür hatte. Die Anstalten wurden von den Sowjets in einem sehr schlechten Zustand hinterlassen. Als treibende Kraft des Massenmordes fungierten sowohl in Šumjači als auch in Makar’evo deutsche Ärzte. Die Vorbereitung des Patientenmordes, dessen Ziele, Ablauf, juristische und historische Aufarbeitung in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland sowie dessen propagandistische Instrumentalisierung in der UdSSR nach 1945 veranschaulicht Friedman am Beispiel der Krankentötungen im Raum Minsk im Herbst und Dezember 1941. Er betont, dass die Krankentötungen dort zustande kamen, weil die SS und die deutsche Zivilverwaltung die „rassisch minderwertigen“ Psychiatriepatienten für „unnütze Esser“ hielten, ihre Arbeitskraft nicht mehr brauchten und die Gebäude der Anstalten für eigene Zwecke beschlagnahmen wollten. Auf persönlichen Befehl des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, wurden in Minsk außerdem die neue Tötungsmethode der Sprengung sowie die Vergasung erprobt. Um sich zu entlasten und eine schnelle und „reibungslose“ Durchführung der Mordaktionen zu gewährleisten, verwickelten die deutschen Täter einheimische Mediziner und andere Menschen in ihre Verbrechen. Während eine begrenzte juristische Aufarbeitung dieser Bluttaten in der Sowjetunion unmittelbar nach dem Krieg und in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre erfolgte, spielte der Patientenmord in der sowjetischen Erinnerungskultur nur eine marginale Rolle. Im offiziellen sowjetischen Bild des „Großen Vaterländischen Krieges“ kam dem Kampfflieger Aleksej Mares’ev eine beachtliche Bedeutung zu. Der ambivalente Umgang mit Behinderten und Kriegsinvaliden im Zarenreich, in der stalinistischen Sowjetunion und im Ostblock wird von Alexander Friedman in seinen Fallstudien über den geistig behinderten Moskauer Zaren Fëdor I. (1557–1598) und den legendären sowjetischen „Flieger ohne Beine“ Aleksej P. Mares’ev (1916–2001) erforscht. Am Beispiel des „geistesschwachen Moskauer Herrschers“ zeigt Friedman in der stalinistischen Sowjetunion tradierte ältere, behindertenfeindliche Klischees und Stereotype auf. Der Fall Mares’ev und die Rezeption dieses Veteranen in der DDR verdeutlicht die propagandistische Instrumentalisierung einzelner Behinderter und Kriegsinvaliden im Ostblock und das hinter dem „eisernen Vorhang“ fest verankerte Idealbild der „nützlichen“ Behinderten, die keine Belastung für die sozialistische Gesellschaft sein wollten. Im Hinblick auf die Entwicklung des Gesundheitswesens und der medizinischen Bildung in den besetzten sowjetischen Gebieten erscheint die Geschichte der „Mittelschule für medizinisches Personal“ in der westweißrussischen Stadt Baranavičy besonders interessant. Diese im Frühjahr 1942 eröffnete Schule sollte
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die – vor allem durch die Vernichtung jüdischer Fachkräfte verursachte – akute Personalnot in medizinischen Einrichtungen lindern. Alexander Friedman schildert die Ausbildung des medizinischen Personals und das Schulleben. Er geht auf Schüler/innen, Verwaltung und Dozenten ein, berichtet über Kontakte zwischen Schüler/ innen und sowjetischen Partisanen und analysiert die Darstellung der Lehranstalt in der nationalsozialistischen Propaganda. Diese Schule situierte sich an der hoch widerspruchsvollen Schnittstelle zwischen Vernichtungspolitik einerseits und dem Versuch des Aufbaus eines zum nationalsozialistischen Deutschland orientierten und von ihm dominierten „Weißruthenien“ andererseits. Das Projekt „Behinderten- und Krankenmorde in Weißrussland“ bestand aus miteinander vernetzten Einzelprojekten. In der Quellensicherungsarbeit ergänzten die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich gegenseitig. Auch in der Ausarbeitung einzelner Themenkomplexe arbeiteten sie eng zusammen. So befassen sich Viktoria Latysheva, Alexander Pesetsky und Alexander Friedman mit dem Heim für geistig behinderte Kinder in der Stadt Čėrven’ (Gebiet Minsk). Es wurde von den Besatzern als „gänzlich unproduktive Einrichtung“ wahrgenommen und im Mai 1942 durch die Sicherheitspolizei auf Verlangen der deutschen Militärund Zivilverwaltung aufgelöst, wobei die Kinder getötet wurden. Die Sicherheitspolizei betrachtete die Aktion im Kinderheim als lästige und wohl unangenehme Aufgabe, deren Ausführung sie zu verschieben versuchte; sie ging im Kern auf das ständig erneute Insistieren des Abteilungsleiters Gesundheit und Volkspflege beim Generalkommissariat „Weißruthenien“ Dr. Hans Wolfgang Weber zurück und nicht auf eine systematische Kindermordpolitik. Andrei Zamoiski und Johannes Wiggering geben in den Biographien der Ärzte Theodor Hausmann und Michail Krol’ konkrete Einblicke in Karrieren und ihre Blockaden im stalinistischen System, in die internationale Ausstrahlung von in Sowjetweißrussland tätigen Spitzenkräften, in die Zerstörung vieler Arztexistenzen durch den Einmarsch 1941 und in die daraus folgenden massiven Schäden im weißrussischen Krankenversorgungssystem. In ihrem Beitrag über den Baltendeutschen Hausmann reflektieren die Autoren außerdem den Ärzte-Alltag unter nationalsozialistischer Okkupation und analysieren ein Beispiel für das Selbstverständnis eines prominenten deutschen Artes zwischen den Fronten. Das Buch stellt die Krankheits- und Behindertensituation in der Sowjetunion und insbesondere in Weißrussland in ihren vielfältigen breiten Kontext. Johannes Wiggering hebt den Einfluss des Ersten Weltkrieges und der Nationsbildung in Sowjetweißrussland auf die Entwicklung der medizinischen Ausbildung in dieser Sowjetrepublik hervor. Er verweist auf eine starke Stellung jüdischer Ärzte im Ausbildungssystem Sowjetweißrusslands und verdeutlicht somit die gravierenden Folgen der nationalsozialistischen Judenvernichtung für das weißrussische Gesundheitssystem. Elizaveta Slepovitch schildert die informellen sozialen Beziehungen (Blat) als Faktor, welcher die Entwicklung des sowjetischen Gesundheitswesens im 20. Jahrhundert maßgeblich beeinflusste und gerade im Zweiten Weltkrieg eine große Rolle spielte. Gerhard Baader beleuchtet die Geschichte der Eugenik, der „Rassenhygiene“ und der „Euthanasie“ vor und im „Dritten Reich“ und betont, dass die „Euthanasie“
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die Vorstufe zum Genozid am europäischen Judentum markierte. Christoph Rass zeigt, dass Behinderte ebenso wie Kranke, Mütter mit Kleinkindern und Alte zu den Bevölkerungsgruppen gehörten, deren relatives Gewicht im Verlauf der Besatzungsherrschaft in dem Maße anwuchs, wie die arbeitsfähige Bevölkerung ausgekämmt und in andere Regionen oder nach Deutschland deportiert worden war. So wurden Typhus-Kranke in weißrussischen „Seuchendörfern“ in der Endphase der deutschen Okkupation ihrem Schicksal überlassen, bei Rückzugsbewegungen Schwache zurückgelassen und dem Tod zwischen den Fronten ausgeliefert wie bei Azaryčy. Eine Ausbreitung der Typhusepidemie wurde in diesem Fall von der Wehrmacht gezielt gefördert; Matokh zeigt ähnliches bereits für frühere Zeiträume. Der Blick auf andere Verfolgungskontexte erlaubt es im Vergleich, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den spezifischen Überlebensbedingungen und -chancen von Behinderten und psychisch Kranken schärfer zu konturieren. Volha Bartash erweitert die Thematik dieses Buches um die Verfolgung der Roma und stützt sich dabei in erster Linie auf systematische Gespräche mit Überlebenden und Angehörigen der Folgegenerationen. Wie viele Juden, hatten die Roma aufgrund der konventionelleren Formen deutscher Besatzung im Ersten Weltkrieg die hereinbrechenden Verbrechen meist nicht erwartet und sich daher nicht in Sicherheit zu bringen versucht. Ihre Überlebenschancen hingen stark davon ab, wie weit sich einzelne Gruppen vor dem Krieg in Teile der weißrussischen Gemeinschaft – vor allem Dorfgemeinschaften – integrieren konnten oder nicht. Nicht zuletzt unterschieden auch die deutschen Mordbefehle – oft der Wehrmacht – mehrfach zwischen nicht sesshaften Roma, welche mit der Begründung von Spionagetätigkeit und damit einer Gefährdung der Kampfhandlungen zu vernichten seien, und sesshaften, die längere Zeit noch geschont wurden. Der Beitrag gibt damit einen Einblick in den kulturellen Hintergrund des Ausmaßes der Mordaktionen gegen Roma und Romani. Viktoria Silwanowitsch und Svetlana Burmistr nehmen sich der wenig erforschten nationalsozialistischen Besatzungspresse an. Burmistr legt die weitgehende Ausblendung der Behinderten aus der sehr aktiven Gesundheits-Berichterstattung der deutschsprachigen Minsker Zeitung dar – welche ihrem Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“ entsprach. Die berufliche (Re-)Integration von Kriegsversehrten – ein Begriff des „Dritten Reiches“ – beruhte über die Motivation des Arbeitskräftemangels hinaus, welches die Autorin in der Minsker Zeitung verfolgt, auf der Militarisierung der Gesellschaft, welche – entgegen dem Ziel der beruflichen Reintegration in den bisherigen Beruf wie in der Weimarer Republik – seit 1938 die Versehrtenversorgung nach der militärischen Leistung staffelte. Bemerkenswert ist beispielsweise die Erwähnung von „ausmerzenden“ – auch dies ein Begriff der NS-Sprache – erb-biologischen Maßnahmen in der Minsker Zeitung im Januar 1944. Erbgesundheit stand auch bei der Ehevermittlung von Verwundeten im Zentrum. Das von Silwanowitsch anhand von Publikationen der russischsprachigen Besatzungspresse ausführlich thematisierte Engagement der Mediziner für die Seuchenvor- und -fürsorge ist vor dem Hintergrund des von Christoph Rass geschilderten systematischen Einsatzes der Typhusepidemien für die Vernichtung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung zu sehen. In den Analysen Silwanowitschs kommt besonders eindrucksvoll der Zynismus der nationalsozialistischen
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Propaganda zum Ausdruck, der indirekt das klare Unrechtsbewusstsein der Besatzer widerspiegelte. Sie zeigt zugleich das Spannungsverhältnis zwischen Schutz der Gesundheit der eigenen Truppen und des deutschen Verwaltungspersonals einerseits und der Versorgung der Bevölkerung andererseits und gibt damit einen weiteren Einblick in den Lebensalltag unter der Besatzung. Friedmans Analyse der Pflegepersonalausbildung in Baranavičy unterstreicht die Bedeutung solcher Ambivalenzen in der deutschen Besatzungspolitik. Das Buch stellt auch die Krankentötungen selbst in den breiten Zusammenhang solcher Mordaktionen in den weiteren besetzten Gebieten. Björn M. Felder analysiert die Mordpolitik im Baltikum und beleuchtet die Verbreitung eugenischer Theorien in diesem Teil Europas. Um den Ablauf der Mordpolitik in Lettland, Estland und Litauen und ihre Besonderheiten zu erklären, behandelt Felder die NS-Herrschaft und ihre Verwaltungsstrukturen im Baltikum. Ähnlich wie in Weißrussland und in Russland war die deutsche Sicherheitspolizei beim Patientenmord im Baltikum federführend. Die deutsche Zivilverwaltung beeinflusste die Durchführung der Krankenmorde. Die einheimische „Selbstverwaltung“ fungierte als Handlanger des Massenmordes, etwa bei der sogenannten „Hungereuthanasie“. Auf die Krankenmorde in der Ukraine geht Dmytro Tytarenko ein. Im Fokus seiner Analyse steht die extrem schwierige Position des ärztlichen Personals zwischen Schutz durch ihre Betätigung und Kollaborationsverdacht nach der Befreiung. Er zeichnet die vielfältigen Komponenten der oft langfristigen tiefen Traumatisierungen der einheimischen Bevölkerung nach. Boris Kovalev wertet in seinem Beitrag über die Krankenmorde im Nordwesten Russlands erstmals umfangreiche Bestände von lange Zeit gesperrten Akten aus Archiven des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB aus. Er bestätigt die aktive Rolle deutscher Ärzte bei den Morden und zeigt die Mechanismen der Beteiligung sowjetischen Krankenpersonals – Ärzte und Helfer – auf. Die ausführlichen Quellenzitate aus der Praxis der Nachkriegs-Untersuchungen zeichnen in diesem Beitrag ein Spektrum sowohl des Zeugenverhaltens als auch der Situationen, in denen die Morde erfolgten. Deutsche medizinische Erfahrungen mit „Euthanasie“ wurden unmittelbar auf das sowjetische Gebiet übertragen. Die Mechanismen der Beteiligung einheimischen Krankenpersonals – Ärzte und Helfer – sind in diesem Beitrag sowie bei Zamoiski gut nachzuverfolgen. Die Schwierigkeit der Quelleninterpretation wird in allen Beiträgen deutlich. Zeugenaussagen lassen sich häufig vergleichen mit weiteren Dokumenten, aus Prozessakten oder anderen Quellen. Gesicherte Detail-Ergebnisse liefern sie nicht immer. In den sowjetischen Nachkriegsprozessen hatten die Kranken- und Behindertenmorde in Weißrussland nur eine geringe Bedeutung, wie Anatolij Šarkov aufgrund einer minutiösen und vollständigen Auswertung der Kriegsverbrecherprozesse in Weißrussland feststellt: nur drei Verurteilungen wurden damit begründet. Die Randposition von Behinderten in der Sowjetgesellschaft wird dadurch bestätigt. Šarkov legt ausführlich dar, weshalb Prozesse nach sowjetischen Kriterien weitgehend akzeptabel erscheinen konnten, und Matokh bestätigt in seinem Beitrag über die Behinderten unter der Besatzung in nuancierter Beweisführung die – allerdings bedingte – Verwendbarkeit von Zeugenaussagen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der frühen Zeit. Doch nutzte das bundesdeutschen Ermitt-
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lungs- und Strafverfolgungsbehörden wenig, wenn von sowjetischer Seite in späteren Jahren übermittelte Unterlagen oft systematisch „gereinigt“ wurden und damit – ob indirekt oder absichtlich, ist nicht immer ersichtlich – Verurteilungen verhinderten oder das Strafmaß niedrig ansetzen ließen, weil die Beweise nicht ausreichten oder fehlten. Alexander Friedman zeichnet durch genaue Vergleiche der originalen sowjetischen und der in die Bundesrepublik übermittelten Unterlagen sowie der Strafurteile exemplarisch nach, über welche Informationen die sowjetischen Strafverfolgungsbehörden verfügten und in welcher Form – etwa in der Vertuschung der gezwungenen Beteiligung weißrussischen medizinischen Personals an Patientenmorden – sie bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden übermittelt oder vorenthalten wurden. Der sowjetische Antisemitismus nach 1945 kommt in den Vorgängen ebenso zum Ausdruck wie oft das Bestreben, einen faschistischen Charakter der Bundesrepublik zu beweisen. Was hat sich in Weißrussland in der Situation von Behinderten seit 1991 verändert? Dieser Frage geht Herbert Wohlhüter auf der Grundlage seiner jahrzehntelangen eigenen Tätigkeit vor Ort nach. Er untersucht den postsowjetischen Diskurs über behinderte und psychisch kranke Menschen und konstatiert eine sich anbahnende, langsame Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppen. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Krankenmorde in Weißrussland“ wurden zahlreiche bisher in der Forschung unbekannte Quellen aufgespürt und ausgewertet. Sergej Zhumar bestätigt in seinem detaillierten Überblick über Aktenbestände zum Gesundheitswesen in weißrussischen Archiven ein großes Potential für die weitere Erforschung der in diesem Buch aufgegriffenen Themenfelder. PROBLEME DER BEGRIFFLICHKEIT UND ÜBERSETZUNG Das binationale Projekt hatte sich mit einer Fülle von semantischen Schwierigkeiten konstruktiv auseinanderzusetzen. Sie resultierten teilweise aus den unterschiedlichen rechtlichen und Sozialleistungssystemen in der Sowjetunion und in der deutschen sozialpolitischen Tradition. In ihnen kamen zum andern tief greifende kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zum Ausdruck. Sie bargen für alle am Projekt Beteiligten besonders interessante und bereichernde Erfahrungen. Orts- und Personennamen erscheinen bei den hier angesprochenen Gegenständen in der Literatur und oft auch in den Quellen in zahlreichen Sprachen: Weißrussisch, Russisch, Polnisch, Litauisch, Estnisch, Lettisch, Ukrainisch, Deutsch sind die am meisten betroffenen Sprachen. Die Herausgeber haben entschieden, die Fassung der jeweils inhaltlich betroffenen Sprache bzw. Kultur und die wissenschaftliche Transliteration zu verwenden. Daher erscheint ein sehr großer Teil der Ortsnamen in Weißrussisch und nicht im in Deutschland gewohnteren Russisch (z. B. Mahilëŭ statt Mogilev bzw. Mogiljow). Im Text sind besonders bekannte andere Schreibweisen in der Regel in Klammern zusätzlich angegeben; im Register erscheinen die Namen in mehreren Sprachen. Die deutsche Schreibweise der Namen
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von in sowjetischen Quellen erwähnten deutschen, österreichischen oder sudetendeutschen Tätern konnte nicht immer zweifelsfrei festgestellt werden; in diesen Fällen werden sie in der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben. Einige Kernbegriffe illustrieren die Übersetzungsschwierigkeiten im engeren Sinn und die – letztlich von den Herausgebern getroffenen – sachlichen Entscheidungen über die Verwendung von Kernbegriffen in diesem Buch. Russische Begriffe wurden solchen Kernbegriffen häufig in wissenschaftlicher Transliteration beigegeben, um dem Leser die Nachprüfung zu erleichtern, wo und wie solche Entscheidungen getroffen wurden. Wenige besonders relevante Beispiele seien hier einleitend erläutert. Unter dem Begriff „Behinderte“ werden in diesem Buch Menschen erfasst, „die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ (Bleidick und Hagemeister).21 In der Sowjetunion hat sich der Begriff invalidy eingebürgert, der auch im postsowjetischen Raum fest verankert bleibt. Invalide war im Deutschen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der Fachbegriff für Altersrentner in der deutschen Arbeiterrentenversicherung („Invalidenversicherung“). Er wird im Deutschen umgangssprachlich darüber hinaus häufig im engeren Sinn verwendet für Kriegsinvalide, also behinderte Kriegsopfer, oder für völlig arbeitsunfähige zivile Behinderte. Seit der Begründung der modernen deutschen Sozialleistungssysteme nach 1883 veränderte und verändert sich auch diese Begrifflichkeit stetig. Der Begriff Kriegsversehrte bürgerte sich durch die nationalsozialistische Kriegsopferversorgung ein, welche Kriegsopfer auch mit Mitteln der Semantik gesellschaftlich „aufzuwerten“ suchte: Orientierte sich die Kriegsopferversorgung in der Weimarer Republik sowohl als System als auch mit dem Begriff der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ an der (Re-)Integration der „Kriegsbeschädigten“ in das zivile Arbeitsleben, so trat mit der Militarisierung der Kriegsopferversorgung nach der Gründung der Wehrmacht im März 1935 die „Versehrtheit“ an die Stelle. Im Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz wurde 1938 die am Grad der Erwerbsfähigkeit bemessene „Grundrente“ abgelöst durch das „Versehrtengeld“, welches der Rente den Charakter eines Ehrensoldes für militärische Leistungen verleihen sollte. Zahlreiche Leistungen wurden nun nicht mehr an der früheren Stellung im Zivilleben bemessen, sondern primär nach der militärischen Leistung und der Verletzungsart. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet diese NSKonnotation des Versehrtenbegriffs allmählich in Vergessenheit und der Begriff setzte sich umgangssprachlich weitgehend durch, an Stelle des älteren InvalidenBegriffes und neben dem Begriff Kriegsopfer.22 21 22
Ulrich Bleidick u. Ursula Hagemeister, Einführung in die Behindertenpädagogik, Bd. 1, Stuttgart u. a. 61998, S. 12, mit vertiefter Behandlung der Definitionsproblematik. Rainer Hudemann, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945–1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988, S. 394 ff.; Robert Weldon Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War 1919–1939, Ithaca, N. Y., u. London 1984.
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Als invalidy („Invaliden“) galten in der UdSSR sowohl Menschen mit Behinderungen als auch Kriegsinvaliden (Kriegsversehrte, Kriegsbeschädigte).23 Die Übersetzung bemüht sich grundsätzlich um Verwendung der deutschen Begrifflichkeit, soweit der Kontext solche Differenzierungen erlaubt. Auf die gegenwärtige Situation in Weißrussland und im postsowjetischen Raum, die ebenfalls semantisch besonders charakteristisch ist, geht Herbert Wohlhüter in seinem Beitrag genauer ein. In einigen Beiträgen wird der Arbeitseinsatz von Behinderten impliziert negativ konnotiert, weil ihr Arbeits-Beitrag zum Aufbau des Sozialismus im Zentrum der Behindertenpolitik stand – was in der Praxis vielfach bedeutete: zu Lasten einer Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen. Die Herausgeber haben auch dies nicht verändert, weil es zu den kulturellen Perzeptionen gehört, welchen dieses Buch gleichfalls Ausdruck geben soll. Im internationalen Vergleich ist die Konnotation viefältiger. Die angesprochene berufliche (Wieder-)eingliederungspolitik für Kriegsopfer und Zivilbehinderte der Weimarer Republik beispielsweise sollte sowohl der Entstehung einer Parallel-Gesellschaft aus ehemaligen Kriegsteilnehmern entgegenwirken als auch Behinderten eine anerkannte Position in der Gesellschaft geben. Andrei Zamoiski zeigt in seinem Beitrag über die weißrussischen Psychiater, dass diese Diskussion durchaus auch in der Sowjetunion geführt wurde, aber der Arbeitseinsatz selbst für die Betroffenen vielfach hart war und vor allem seit der stalinistischen „Wende“ von 1929 im Vordergrund von Politik und Propaganda stand. In der UdSSR waren viele – allerdings bei weitem nicht alle – (chronisch) psychisch kranken Menschen in geschlossenen Psychiatrien untergebracht. Hinzu kommt der bekannte sowjetische Missbrauch von Psychiatrien zur Ausschaltung tatsächlicher oder vermuteter politischer Gegner, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine weitere Besonderheit betrifft den im deutschen Kontext selteneren sowjetischen/russischen Begriff social’noe obespečenie (Sozialfürsorge, Soziale Fürsorge), der in den Analysen des sowjetischen Sozialleistungssystems eine wichtige Rolle spielt. Er erfasst im sowjetischen System Leistungen, die in Deutschland organisatorisch und semantisch getrennt waren. Fürsorge oder Sozialfürsorge sind die älteren Begriffe für die an der Bedürftigkeit orientierte spätere Sozialhilfe, die in der Bundesrepublik 2005 verschmolzen wurde mit der Arbeitslosenhilfe. Versorgung war in der Zeit, welche Gegenstand dieses Buches ist, primär der Begriff für die Kriegsopferversorgung; auf einem anderen Feld erfasst er bis heute die Pensionen in der Beamtenversorgung. Sozialversicherung bezeichnet grundsätzlich Leistungen, die auf einem Arbeitsverhältnis mit Beitragszahlung beruhen. Behinderte in der Sowjetunion konnten, wie vor allem Matokh in diesem Buch im einzelnen darlegt, unter jede dieser Kategorien oder unter mehrere zugleich fallen – soweit sie überhaupt Leistungen erhielten und nicht mit unterschiedlichsten Begründungen aus dem gesamten System herausfielen, wie etwa als Angehörige des vorrevolutionären Systems betrachtete Bürger oder viele aus Deutschland verletzt oder krank 23
Vgl. dazu auch Claudia Radünzel, Das Wortfeld Behinderter im Deutschen und seine russischen Entsprechungen, Frankfurt/M. 1998, besonders eindrücklich die Synopse S. 188.
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zurückkehrende, der Kollaboration beschuldigte Zwangsarbeiter. Die allmähliche Aus- und häufige Umgestaltung des sowjetischen Sozialleistungssystems sowie das sich ständig steigernde Chaos von Kriegführung und Besatzungsherrschaft wirkten sich auch unmittelbar in solchen, nur scheinbar rein semantischen Schwierigkeiten aus; sie machen es zusätzlich schwierig und häufig unmöglich, in der Übersetzung zu entscheiden, unter welchen deutschen amtlichen Begriff Behinderte in der jeweiligen Situation fielen. Interkulturelle Anmerkungen24 Die Beiträge dieses Buches spiegeln manche Unterschiede in der Herangehensweise von Historikern in den jeweiligen Ländern wider. Unterschiede in der Tradition des wissenschaftlichen Schreibens zwischen Forschern, die sprach- und disziplinenbedingt verschiedenen Wissenschaftskulturen angehören, und die daraus resultierenden Missverständnisse und Fehleinschätzungen stellen eine bekannte Tatsache dar und sind inzwischen selbst zum Forschungsgegenstand geworden. Beispielsweise untersuchte das von Professor Dr. Peter Auer 2001–2004 an der Universität Freiburg geleitete Projekt „Gattungen wissenschaftlichen Diskurses im interkulturellen Kontakt“ (2001–2004) die Diskurstraditionen bei der Gestaltung von Vorträgen, Diskussionsbeiträgen und Zeitschriftenaufsätzen in der Bundesrepublik Deutschland und im postsowjetischen Raum. Konstatiert wurden dort unter anderem Differenzen in der rhetorischen Struktur und in der Textgliederung: Während deutschsprachige Aufsätze beispielsweise die Entwicklung des Themas linear verfolgen, „unterbrechen“ osteuropäische Wissenschaftler ihre Texte oft durch Zusatzinformationen ohne unmittelbar erkennbaren Bezug zum Hauptthema, welche der Argumentationsunterstützung dienen, oder reihen unterschiedliche Themenblöcke abrupter aneinander.25 Auch wird Emotionen ein vergleichsweise größerer Raum belassen. Der Leser dieses Buches sollte sich gelegentlich daran erinnern, welch ungeheure Belastung die jahrelange Befassung mit den Details der grauenvollen Verbrechen für die Forscherinnen und Forscher mit sich bringt, und umso mehr für junge NachwuchswissenschaftlerInnen. Das ist kein spezifisch postsowjetisches Problem – alle Betreuer von Forschungsarbeiten zur Geschichte des „Dritten Reiches“ haben das ständig, zusätzlich zu den „rein“ wissenschaftlichen Problemen, vor Augen zu haben. Zudem geht es in diesem Buch selten um – scheinbar abstrakte – Gesamtzahlen. Es geht um eine nahezu unendlich erscheinende Kette von individuellen 24
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In diesen Abschnitt ist ein eigener Beitrag von Elena Tregubova eingegangen, welche die interkulturellen Probleme des Projektes auf der Grundlage ihrer Übersetzungen zahlreicher Beiträge dieses Buches als Linguistin wissenschaftlich reflektiert und in die gemeinsamen Überlegungen mit den Herausgebern eingebracht hat. Peter Auer u. Harald Baßler (Hrsg.), Reden und Schreiben von Wissenschaftlern, Frankfurt/M. 2007. – Zu den interkulturellen Erfahrungen gehörte ebenfalls, dass einige der osteuropäischen Autorinnen und Autoren Wert darauf legten, manche eigenen Zitierregeln beizubehalten und sie im Band nicht vollständig anzugleichen.
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Schicksalen, von denen eines grauenhafter als das andere ist. Die Forschergruppe hat sich damit seit 2009 intensiv auseinandergesetzt. Dies ist insofern kein interkulturelles Problem, als alle Forscher damit konfrontiert sind, die sich mit dem „Dritten Reich“ und mit der Fülle seiner Verbrechen befassen. Es ist aber ein Problem, das sich in diesem Forschungsprojekt besonders stark gestellt hat. Analytische Distanz zu einem solchen Universum von Diskriminierung, Leiden und Tod zu wahren ist schon für Forscherinnen und Forscher schwer, welche durch westliche Ausbildungssysteme geprägt sind. Für NachwuchswissenschaftlerInnen, die aus den Nachfolgesystemen der Sowjetunion kommen, von ihrer Ausbildung her stärker durch deskriptive Herangehensweisen geprägt sind und oft Mitglieder ihrer engsten Familie, andere Verwandte oder Freunde ihrer Familien hinter dem Geschehen sehen, ist es noch um ein Vielfaches schwieriger. Eine ihrer Aufgaben, die kaum befriedigend zu lösen war, sahen die beiden Herausgeber darin, in der gemeinsamen Arbeit der Forschergruppe einerseits kulturelle und erfahrungsbedingte Divergenzen nicht einfach zu nivellieren; sie sind zudem Kernbestandteile des Projektkonzeptes. Andererseits sollten im Sinne dieses Kooperationsprojektes die unterschiedlichen Herangehensweisen und Erfahrungshorizonte doch zusammengeführt werden. Die Manuskripte der engeren Forschergruppe wurden in diesem Sinne in Zusammenarbeit und im Einvernehmen mit den AutorInnen überarbeitet. Daraus ergab sich eine Herangehensweise, die Elena Tregubova mit dem Begriff „Übertragen“ statt „Übersetzen“ von Texten beschreibt. Die dabei gewonnenen Erfahrungen stellen für die Projektbeteiligten über das engere Themenfeld hinaus eine hoch interessante interkulturelle Bereicherung dar. Dieses Buch zeigt an vielen Stellen – beispielsweise in den Beiträgen von Alexander Friedman, Andrei Zamoiski und Johannes Wiggering –, wie eng der wissenschaftliche und intellektuelle Austausch zwischen der Region des heutigen Belarus und der deutschen Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert gewesen ist, den die deutsche Mordpolitik zerstörte. Daran möchte dieses Buch indirekt und auf bescheidener Ebene wieder anknüpfen, indem in gemeinsamer Arbeit einige der furchtbarsten Ereignisse aufgearbeitet werden, welche die Völker so tief getrennt haben.
I. QUELLENLAGE
QUELLEN ZUM GESUNDHEITSWESEN IN WEISSRUSSISCHEN ARCHIVEN Sergej Zhumar AKTENLAGE ZUR VORKRIEGSZEIT Die staatlichen Archive von Weißrussland enthalten umfangreiche Aktenbestände zur Lage und Entwicklung der Medizin und des Gesundheitswesens in Weißrussland während der Zwischenkriegszeit. Allerdings bestehen auch große Lücken für den Zeitraum von Mitte der 1930er bis Anfang der 1940er Jahre. Sie sind vor allem darauf zurückzuführen, dass der größte Teil der Dokumente zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion noch nicht von staatlichen Archiven erfasst worden war, sondern dezentralisiert über die Registraturen von Ämtern und anderen Institutionen verstreut blieb. Daher ging ein großer Teil der Dokumente aus dieser Zeit bereits 1941 verloren. Die Dokumente aus der Zeit der Okkupation Weißrusslands 1941 bis 1944 stellen keinen geschlossenen Korpus dar. Zum einen gibt es so genannte „Beuteakten“, die nur fragmentarisch erhalten sind. Diese umfassen Dokumente medizinischer Einrichtungen, der Abteilungen für Gesundheitswesen der Gebietskommissariate und der weißrussischen Lokalverwaltungen. Informationen über das Gesundheitswesen liefern auch die Akten der Partisanenbewegung, die sehr viel besser erhalten sind. Für das Gesundheitswesen in Weißrussland während der Zwischenkriegszeit sind die Bestände des Nationalarchivs der Republik Belarus (NARB) von größtem Interesse. Mit ihren statistischen Informationen, Korrespondenzen, Berichten, Protokollen etc. stellen sie recht universelle Quellen dar, die zum Teil die Bestände der staatlichen Gebietsarchive wesentlich ergänzen. Bestände der Gebietsarchive enthalten wiederum eine Vielzahl von situativen, „punktuellen“ Informationen auf lokaler Ebene. Zur ersten, zentralen Ebene: dem Nationalarchiv. Die im NARB verwahrten Dokumente zur Vorkriegszeit betreffen zunächst den Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen der BSSR (Bestand 46), der auch die Akten des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR aus der Zeit vor 1941 enthält. Er ist bei weitem nicht vollständig: Nur 746 Akteneinheiten für die Zeit von 1919 bis 1941 sind erhalten. Zum Vergleich: Der Bestand 44 des Volkskommissariats für Arbeit enthält für den Zeitraum von 1919 bis 1933 3388 Akteneinheiten. Im Bestand 46 findet man langfristige Fünfjahrespläne der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Republik sowie Jahrespläne. Der allerletzte Plan stammt aus dem Jahr 1941.1 1
Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 46, O. (=Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (=Delo) [Akte] 577, L. (=List) [Blatt] 3–9.
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Zahlreicher sind diese Pläne sowie Berichte über die Planerfüllung in den Beständen des Zentralexekutivkomitees der BSSR, des ZK der KP(b)B und des NKVD der BSSR. Da die Gebiets-, Rayon- und Bezirksabteilungen für Gesundheitswesen der lokalen Exekutivkomitees ihre Pläne und Berichte an das Volkskommissariat zur wechselseitigen Abstimmung und Genehmigung schickten, ist eine bedeutende Zahl von ihnen erhalten geblieben. Daneben lassen sich Berichte und Informationen über die medizinische Hilfe für die Bevölkerung sowie Fragebögen medizinischer Einrichtungen finden. Kopien von Erlassen und Beschlüssen des Zentralexekutivkomitees (CIK) und des Rats der Volkskommissare (SNK) der BSSR – die Originale sind teilweise in den Beständen des CIK und des SNK erhalten – sind von keinem großen Interesse, denn sie wurden fast alle veröffentlicht und sind in den entsprechenden Periodika zu finden. Viel seltener zugänglich sind dagegen Informationen über die Arbeit der kollegialen Organe des Volkskommissariats für Gesundheitswesen. Im Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen sind fast alle Protokolle der Kollegien des Volkskommissariats aus den 1920er Jahren bis Anfang der 1930er Jahre erhalten geblieben, für die spätere Zeit nur teilweise. Sie spiegeln die Debatten der Leitungsebene über die wichtigsten Probleme des Gesundheitswesens wider. Berichte, Anweisungen und Korrespondenzen vor allem aus den 1920er Jahren beleuchten zum großen Teil den Kampf gegen Epidemien, die Durchführung von antiepidemischen Maßnahmen wie zum Beispiel die Pockenschutzimpfung, die Organisation der hygienischen Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung, die hygienischen Zustände in Städten und auf dem Land sowie die Untersuchung der Wohnverhältnisse der Bevölkerung. Unter den Dokumenten des Volkskommissariats für Gesundheitswesen sind bei der Abteilung für Hygiene und Epidemiologie des CIK der BSSR auch Beratungsprotokolle erhalten, bei denen es um die Ratifizierung der Sanitätskonvention zwischen der RSFSR, der USSR und der BSSR einerseits sowie Polen, Lettland und Estland andererseits geht. Im Bestand 46 finden sich weiter viele Dokumente über die Mutter- und Kinderfürsorge, den Bau von Kindergärten und Kinderkrippen und ihre Versorgung mit Lebensmitteln, über die Unterstützung für junge Mütter, die Überprüfung von Kindereinrichtungen sowie die ärztliche Untersuchung und Körpererziehung der Arbeiterjugend. Von großem Interesse sind statistische Berichte und Informationen zu verschiedenen Fragen des Gesundheitswesens, Dokumente über die Arbeit der ärztlichen Kontrollkommissionen und Berichte über die Tätigkeit der einzelnen Krankenhäuser. Sehr informativ sind Materialien der regionalen und republikweiten Kongresse von Mitarbeitern des Gesundheitswesens. So sind hier Unterlagen des I. Allweißrussischen Kongresses 1922 erhalten geblieben, auf dem in erster Linie Fragen der Bekämpfung so genannter sozialer Krankheiten (Tuberkulose etc.) behandelt wurden. Hier findet sich u. a. ein Vortrag „Bericht des Leiters der psychiatrischen Abteilung des sowjetischen Gouvernementkrankenhauses [Minsk] über die Entwicklung und Lage des Psychiatriewesens in Weißrussland“.2 2
NARB, F. 46, O. 1, D. 335, T. (=Tom) [Band] 2, L. 40–45.
Quellen zum Gesundheitswesen in weißrussischen Archiven
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Beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen wurde ab 1923 die Abteilung für Handel mit medizinischen Produkten (Belmedtorg) eingerichtet, die 1930 in die Hauptverwaltung der Apotheken umgewandelt wurde (Bestand 47, NARB). Die wichtigsten Dokumente dieses Bestandes sind Sitzungsprotokolle der Leitung dieser Organisation, ihre Planungs- und Berichtsdokumentation sowie Informationen über den Import von medizinischer Ausstattung, über die Anzahl und Lage der Apotheken und das Medikamentensortiment. Viele wichtige Themen, die direkten oder indirekten Bezug zum Gesundheitswesen haben, werden in den Beständen des NARB behandelt, die weder Bestände medizinischer Einrichtungen noch der spezialisierten staatlichen Gesundheitsbehörden sind. So enthalten die oben erwähnten Bestände des CIK der BSSR und des SNK der BSSR viele Informationen und Denkschriften, Entwürfe über die Perspektiven, Aufgaben und Lage der ländlichen Medizin, Bekämpfung illegaler Behandlungsmethoden („Quacksalberei“), Entwicklung und Umsetzung der sanitären Normen, Stellenpläne und Listen der medizinischen Einrichtungen etc. Beispielsweise findet sich im Bestand des CIK der BSSR (Bestand 6) das Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Stadtsowjets in Mahilëŭ vom 19./20. August 1931; dort wurde nicht nur die Frage „der Arbeit des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ“3 behandelt, sondern auch die Verordnung des Kollegiums des Volkskommissariats für Gesundheitswesen über die Organisation einer zentralen psychiatrischen Klinik verabschiedet.4 Im Bestand des SNK der BSSR (Bestand 7) gibt es Dokumente über den Abbau der Verwaltungs- und Führungskräfte der medizinischen Einrichtungen und die Aufstockung des Ärztepersonals sowie über die Krankenversicherung und Behandlung von Kriegsinvaliden. Außerdem finden sich einige Dokumente über das Volkskommissariat für Gesundheitswesen: zur Arbeit des Wissenschaftlichen Medizinischen Beirats, über die Schaffung einer Kommission zur Bekämpfung von Krebskrankheiten, sowie Berichte „Über die Verbesserung der psychiatrischen Hilfe in der BSSR“ (1924), „Über die Organisation und Ausstattung der psychiatrischen Kliniken in der BSSR“5 etc. Viele wertvolle Dokumente sind im Bestand des Volkskommissariats für Arbeiter- und Bauern-Inspektion enthalten (Bestand 101). Dieses fungierte als ein universelles Kontrollorgan, das die Tätigkeit aller staatlichen und öffentlichen Organisationen überwachte. Der Bestand betrifft unter anderem den Zustand der ländlichen medizinischen Versorgung, die Verbesserung des Vergütungssystems von Medizinern, Berichte über die Überprüfung medizinischer Einrichtungen und über die Arbeit des Volkskommissariats für Gesundheitswesen (etwa für das Jahr 1922). Einen Schwerpunkt bildet hier die psychiatrische Behandlung in Weißrussland: Berichte über die Arbeit der Klinik für Nervenkrankheiten an der Weißrussischen Staatsuniversität für 1924/1925,6 Stellenpläne des psychiatrischen Krankenhauses in Minsk, der psychiatrischen Gesundheitsfürsorgestelle und des Sanatoriums für 3 4 5 6
NARB, F. 6, O. 1, D. 2503, L. 134–136. NARB, F. 6, O. 1, D. 335, Т. 2, L. 337. NARB, F. 7, O. 1, D. 19, L. 26–27; D. 95, L. 1–5. NARB, F. 101, O. 1, D. 2889, L. 329–338.
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Nervenkranke 1929/1930, die Verordnung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen vom 4. November 1929 „Über die Ordnung zur Einweisung von Kranken zur speziellen Behandlung“8 etc. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Stellenpläne vom Volkskommissariat für Arbeiter- und Bauern-Inspektion genehmigt wurden.7 Weitere relevante NARB-Bestände sind zu nennen. Im Bestand des Komitees für die Wirtschaftsplanung der BSSR (Gosplan, Bestand 31) sind Titellisten für den Bau von medizinischen Einrichtungen enthalten, Informationen über die Zahl der Krankenhäuser und Kliniken, eine Reihe von Abrechnungsbelegen einer Planungsart, die vom Volkskommissariat für Gesundheitswesen eingingen, darunter auch der Entwicklungsplan der psychiatrischen Hilfe in der BSSR für 1929/1933.8 Der Bestand des Volkskommissariats für Finanzen (Bestand 93) enthält die Finanz- und Haushaltspläne der Institutionen des Gesundheitswesens (u. a. der psychoneurologischen Gesundheitsfürsorgestellen in Minsk, Vicebsk und Homel’ sowie der psychiatrischen Kolonie in Navinki bei Minsk),9 Informationen über staatliche Ausgaben für Gesundheitswesen und Ausgabenpläne des zentralen therapeutischen Fonds.10 Im Bestand des Volkskommissariats für Arbeit (Bestand 49) sind Dokumente zu den Arbeitsbedingungen der Ärzte und des medizinischen Hilfspersonals erhalten geblieben, ebenso Materialien der ärztlichen Kontrollkommissionen und Expertenkommissionen zur Feststellung des Behinderungsgrades von Menschen mit Behinderungen. Andere Bestände des NARB sind weniger wichtig, denn sie betreffen relativ spezielle Fragen. So gibt es im Bestand des Weißrussischen Kolchoszentrums (Belkolchozcentr, Bestand 338) Dokumente über Kuraufenthalte und die Organisation der Behandlung von Kolchosbauern; im Bestand des Zentralrats der Gewerkschaften Weißrusslands (Bestand 265) befinden sich Kostenpläne des gewerkschaftlichen therapeutischen Fonds, Materialien über die Vergütung von Medizinern, medizinische Hilfe für arbeitende Mütter usw. Zur zweiten, regionalen Ebene: In allen Gebietsarchiven gibt es Bestände der Abteilungen für Gesundheitswesen der Exekutivkomitees der lokalen Sowjets. Die Zusammensetzung der Dokumentation entspricht im Großen und Ganzen der zentralen Ebene, doch spiegeln die Inhalte zugleich die regionalen Besonderheiten wider: Verordnungen, Rundschreiben, Verfügungen der höheren Instanzen, regionale Pläne der Entwicklung des Gesundheitswesens und Berichte über ihre Erfüllung, Protokolle der Sitzungen und Beratungen von Ärzten, Berichte, Vorträge und Korrespondenzen über die Arbeit der medizinischen Einrichtungen, die Erkrankungshäufigkeit der Bevölkerung, die Seuchenbekämpfung, den Bau von Krankenhäusern und Ambulatorien etc. Gouvernementsabteilungen für Gesundheitswesen existierten nur in den frühen 1920er Jahren. In Minsk sind keine Dokumente dieser Abteilung erhalten geblieben, in Mahilëŭ nur vier Akteneinheiten. Die Bestände der 7 8 9 10
NARB, F. 101, O. 1, D. 3527, L. 49–50, 75–77. NARB, F. 31, O. 1, D. 268, L. 269–37. NARB, F. 93, O. 1, D. 7981, L. 171–176; D. 1366, L. 124–127, 143–146, 161–164, 424–426. NARB, F. 93, O. 1, D. 5849, L. 1–501.
Quellen zum Gesundheitswesen in weißrussischen Archiven
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Abteilungen in Homel’ und Vicebsk sind hingegen umfangreich: Im Staatsarchiv des Gebiets Homel’ blieben 1423 Akteneinheiten erhalten, im Staatsarchiv des Gebiets Vicebsk 1187 Akteneinheiten. Nach der Schaffung von Rayons wurden die „Gouvernementsabteilungen für Gesundheitswesen“ in „Rayonabteilungen für Gesundheitswesen“ umbenannt. Über diese Abteilungen gibt es allerdings viel weniger Dokumente. Die meisten finden sich im Staatsarchiv des Gebietes Minsk: 546 Akteneinheiten aus den Jahren 1924/1930. Alle Dokumente der Gebietsgesundheitsbehörden (Oblast’) gingen während des Zweiten Weltkriegs verloren. Die einzige Ausnahme ist das Gebiet Vicebsk. Dort sind ca. 750 Akteneinheiten aus den Amtsarchiven der Rayonabteilungen für Gesundheitswesen in Vicebsk und Polack erhalten. Der Polacker Bestand ist besonders wichtig, da er die Dokumente aus den 1930er Jahren bis 1938 enthält. Darüber hinaus sind wie durch ein Wunder zwei Dutzend Akteneinheiten aus den Jahren 1940 und 1941 aus der Abteilung für Gesundheitswesen des Gebietssowjets in Homel’ überliefert. Die Amtsarchive der Rayons wurden fast alle während des Krieges vernichtet. Besonders betroffen ist in dieser Hinsicht das Gebiet Minsk, in dem nur einzelne Akteneinheiten übrig geblieben sind, so genannte „Spuren der Bestände“. Alle erhaltenen Bestände, die sich jetzt in den Staatsarchiven der Gebiete Homel’, Mahilëŭ und Vicebsk befinden, enden de facto mit den Jahren 1921 bis 1926. So gibt es fast keine Dokumente aus dem Bereich des Gesundheitswesens aus den 1930er Jahren in staatlichen Gebietsarchiven. Nur fragmentarisch sind Dokumente der Gebietsgesundheitsbehörden der ehemaligen westweißrussischen polnischen Woiwodschaften Nowogródek und Polesie erhalten geblieben. Sie befinden sich neben extrem dünnen und kaum informativen Beständen einzelner Kliniken in staatlichen Archiven der Gebiete Brėst und Hrodna. Allerdings sind einige wichtige Ausnahmen zu nennen. Das Volkskommissariat für Verkehr der UdSSR hatte sein eigenes Gesundheitssystem. Im Staatsarchiv des Gebiets Homel’ ist der einzigartige Bestand der Abteilung für Gesundheitswesen des Vorstands der Westlichen Eisenbahn (Bestand 38) erhalten geblieben, der aus 1155 Akteneinheiten besteht. Diese Dokumente ermöglichen eine Erforschung des Gesundheitssystems in dieser Branche bis in die frühen 1930er Jahre. Eine weitere wichtige Ausnahme ist der Bestand des Ersten Sowjetischen Krankenhauses in Sluck, der sich im Staatsarchiv des Gebiets Minsk (Bestand 2005) befindet. Dieses Gebietsarchiv ist das einzige Archiv, in dem es umfangreiche Bestände sowjetischer Krankenhäuser gibt. Jeder dieser Bestände in anderen Archiven hat nicht mehr als ein bis zwei Akteneinheiten. Dagegen umfasst der Bestand 2005 90 Akteneinheiten für 1936 bis 1940, d. h. für den Zeitraum, der fast „leer“ in Bezug auf Informationen zur Medizin ist. Bemerkenswert ist, dass auch die Bestände der Parteiorgane nur teilweise diese Lücke im Bereich des Gesundheitswesens abdecken. Somit wird deutlich, dass die Kriegszeit die schlimmste Zeit für die Archive Weißrusslands war, die Zeit der Okkupation 1941 bis 1944. Dennoch spiegeln sich in einer Reihe von Archivbeständen aus dieser Zeit Elemente des Aufbaus eines neuen Systems der Gesundheitsfürsorge – statt des alten zerstörten Systems – in den 1941 besetzten Gebieten Weißrusslands wider. Dieses System hatte einen vorübergehenden Notcharakter sowohl von Seiten der Besatzungsbehörden (dem ers-
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ten System) als auch auf Seiten der Widerstandsbewegung (dem zweiten System). Diese Maßnahmen und die ihnen entsprechenden Entscheidungen schlugen sich in den „Beute- und Partisanenbeständen“ der Staatsarchive Weißrusslands nieder. DIE ÜBERLIEFERUNG DER KRIEGSJAHRE Unter den sogenannten „Beutebeständen“, die mehr als 60.000 Akteneinheiten enthalten und die in den staatlichen Archiven zu Beginn der 1950er Jahre ziemlich chaotisch, vermutlich unter hohem Zeitdruck, eingeordnet wurden, sind 18 Bestände spezialisierter medizinischer Einrichtungen. Alle 18 Bestände befinden sich nicht im NARB, sondern in staatlichen Gebietsarchiven. Im Nationalarchiv der Republik Belarus gibt es keinen „medizinischen“ Bestand. Allerdings gerade im NARB wird der Großteil der erhalten gebliebenen Verordnungs- und Instruktionsdokumente sowie Berichte über die Lage des Gesundheitswesens in den besetzten Gebieten verwahrt. In dieser Hinsicht ist in erster Linie der Bestand des Generalkommissariats „Weißruthenien“ (Bestand 370) zu nennen, bei dem die Abteilung Gesundheit und Volkspflege (manchmal in den Akten als „Abteilung für Gesundheitswesen“ bezeichnet) arbeitete. Die Dokumente dieser Abteilung sind relativ gut erhalten geblieben, jedoch sind sie zu vereinzelt und manchmal ohne jegliches System in den Akteneinheiten eingeordnet. Trotzdem bieten sie Informationen über die Organisationsgrundlagen des Gesundheitswesens in den besetzten Gebieten, über die Politik der deutschen Zivilverwaltung, weißrussischer Stadtverwaltungen, des durch die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats kontrollierten „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“; über stationäre medizinische Einrichtungen, Ambulatorien und Sanitätsstellen, die Zusammensetzung des medizinischen Personals, Materialkosten, den hygienischen Zustand von Städten, Dörfern und Einrichtungen, Statistik der Morbidität und Mortalität usw. Ein besonderes Anliegen der Behörden war immer die hygienisch-epidemiologische Situation. So finden sich hier Unterlagen beispielsweise über die Entwicklung epidemischer Krankheiten in den Jahren 1941 bis 1944.11 Zum Bestand gehören Korrespondenzen mit medizinischen Einrichtungen, statistische Berichte, die von Gebietskommissaren, Leitern der lokalen Abteilungen für Gesundheitswesen, Chefärzten von Krankenhäusern und Ambulatorien vorbereitet und weiter geleitet wurden, Kontrollakten von medizinischen Einrichtungen, Listen und Personalakten ihrer Mitarbeiter etc. Fragen des Gesundheitswesens wurden mehrmals auf verschiedenen Beratungen und Sitzungen behandelt, von denen hier Protokolle erhalten sind. Das wichtigste Dokument ist das Stenogramm der Beratungen der Führungsspitze des Generalkommissariats „Weißruthenien“ am 8.–10. April 1943 in Minsk. Es ist eines der zentralen Dokumente, welches die Politik der Besatzer in Weißrussland 1941 bis 1944, Besonderheiten des Besatzungsregimes, die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete, den Kampf gegen die Partisanenbewegung usw. dokumentiert. Die Vorträge 11
NARB, F. 370, O. 1, D. 159, L. 1–167.
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der Teilnehmer, unter ihnen Generalkommissar Wilhelm Kube, liefern sehr interessante Informationen zu einzelnen Aspekten der Gesundheitsfürsorge in „Weißruthenien“.12 Interessant ist in diesem Bestand u. a. auch der Satzungsentwurf einer öffentlichen Organisation, die nie geschaffen wurde: einer „Nationalvereinigung junger weißruthenischer Ärzte“ aus dem Jahr 1944.13 Der Bestand des Gebietskommissariats Minsk (Bestand 393) ist für den Gegenstand dieses Beitrags noch informativer als der Bestand des Generalkommissariats „Weißruthenien“. Er enthält Verordnungen des Gebietskommissars von Minsk über die Registrierung des medizinischen Personals, die Schaffung von Abteilungen für Gesundheitswesen bei den Gebietskommissariaten und ihre Ausstattung mit Personal (1941),14 über die Verlegung des Medizinischen Instituts von Minsk nach Mahilëŭ, die Arbeit der Medizinischen Schule in Barysaŭ, eine Verordnung zur Bezahlung medizinischer Leistungen und Tarifsätze für Behandlungen,15 Vorschriften für Ärzte und Mitarbeiter der Abteilung Gesundheitswesen,16 Stellenpläne von Gesundheitseinrichtungen, Ausgabenpläne für den Unterhalt von Krankenhäusern und Ambulatorien etc. Sehr aussagekräftig ist ebenfalls der Bestand der Reichsdirektion der Eisenbahnen des Verkehrsministeriums, in dem z. B. der Befehl des „Militärkommandanten Weißrusslands“ vom 8. Oktober 1941 über die Organisation des Sanitätsdienstes17 überliefert ist. In weiteren NARB-Beständen schlug sich auch die Organisation von Lazaretten und die Behandlung von Militärangehörigen im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte und in Minsk nieder. Der einzige Bestand unter den oben erwähnten 18 Beständen der Staatlichen Gebietsarchive, der einen Bezug zu Verwaltungsorganen hat, ist der Bestand der Sanitätsabteilung der Stadtverwaltung von Mahilëŭ (Staatsarchiv des Gebiets Mahilëŭ, Bestand 271). Hier finden sich 101 Akteneinheiten, in denen es entsprechende Richtlinien, Informationen über die Sanitätslage und Erkrankungshäufigkeit in Mahilëŭ, über die Aufnahme und Entlassung von Kranken und Verwundeten, Listen von Ärzten der Stadt, Dokumente über die Inventur von Medikamenten usw. gibt. Die anderen 17 Bestände beziehen sich auf einzelne medizinische Einrichtungen – Krankenhäuser, Lazarette, Ambulatorien. Die meisten von ihnen umfassen nicht mehr als ein bis drei Akten. Unter ihnen der Bestand des Stadtkrankenhauses in Baranavičy (Staatsarchiv des Gebiets Brėst, Bestand 673), der aus 60 Akteneinheiten besteht, hauptsächlich aus Krankenakten (weder vor noch nach dem Krieg wurden Krankenakten in staatliche Verwahrung übergeben). Der Bestand des Stadtkrankenhauses in Mahilëŭ (Staatsarchiv des Gebiets Mahilëŭ, Bestand 495) enthält in erster Linie Krankenakten, und zwar in sehr großer Zahl: Die fast 9.000 Akteneinheiten stellen eine einzigartige historische, auch quantitativ auswertbare Quelle dar. Der Bestand der einzigen medizinischen Militäreinrichtung: des Lazaretts der 12 13 14 15 16 17
NARB, F. 370, O. 1, D. 1395, L. 1–162. NARB, F. 370, O. 1, D. 610, L. 46–47. NARB, F. 393, O. 3, D. 3, L. 22. NARB, F. 393, O. 1, D. 10, L. 15; D. 391, L. 3–39. NARB, F. 393, O. 1, D. 104, L. 23–27. NARB, F. 378, O. 1, D. 69, L. 8.
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SS-Truppen in Minsk (Staatsarchiv des Gebiets Minsk, Bestand 699) umfasst 108 Akteneinheiten. Das zweite „System“ des Gesundheitswesens, das halb spontan, halb organisiert in den besetzten Gebieten funktionierte, war das System der medizinischen Fürsorge in einigen Partisanengebieten. Neben der Hilfe für einzelne Kranke in ländlichen Gebieten wurden auf Initiative von Sanitätsdiensten der Partisanengruppen antiepidemische Maßnahmen durchgeführt: Die Partisanenleitung machte sich Sorgen wegen der Seuchengefahr. Allerdings war dabei die Behandlung verwundeter Partisanen vorrangig. Fast alle Bestände der Partisanenbrigaden (im Gegensatz zu Beständen der Partisanenabteilungen) enthalten Dokumente mit Informationen über Zahl und Behandlung von Verwundeten sowie über die Verfügbarkeit von medizinischem Personal und Medikamenten. An dieser Stelle ist insbesondere auf die Sanitätsabteilung des „Weißrussischen Stabs der Partisanenbewegung“ hinzuweisen. Es gibt keinen speziellen Bestand für Dokumente der Sanitätsabteilung, aber die medizinische Betreuung der Partisanen ist im Bestand des „Weißrussischen Stabs der Partisanenbewegung“ (Bestand 3500, NARB) sehr gut dokumentiert. Am interessantesten sind hier Statistiken, Korrespondenzen und analytische Dokumente in Bezug auf unterschiedliche organisatorische und medizinische Fragen. Dabei geht es vor allem um die Lieferung von Medikamenten, Verbandsmaterial, medizinischen Instrumenten und Personal durch die Transportflieger sowie um die Ausstattung von Feldlazaretten, Evakuierung von Verwundeten usw. Die Dokumente der Weißrussischen Staatsarchive aus den Jahren 1920 bis 1944 können weitgehend durch spezielle Dokumente aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation und dem Russischen Staatlichen Militärarchiv ergänzt werden. Dies betrifft vor allem die 1930er Jahre, denn im Staatsarchiv der Russischen Föderation sind im Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen der UdSSR umfangreiche Korrespondenzen, Pläne, Berichte etc. erhalten, die dort aus Weißrussland eingingen. Wenngleich die Quellenlage für die Jahre der Besatzung weitaus ungünstiger ist als für die Zwischenkriegszeit, so ist es mit all diesen Materialien möglich, ein umfassendes Bild des Gesundheitssystems in Weißrussland zu rekonstruieren und in Bereichen zu forschen, die mit der medizinischen Thematik direkt oder indirekt zusammenhängen. Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
II. BEHINDERTE UND KRANKE IN DER UDSSR VOR DEM DEUTSCHEN EINMARSCH
BEHINDERTE IN DER SOWJETUNION VOR DEM DEUTSCHEN ÜBERFALL Das Beispiel Weißrussland Vasili Matokh Es liegen bereits eine Reihe von Studien sowjetischer, russischer und ausländischer Soziologen, Historiker und Rechtswissenschaftler vor, die sich der sozialen und rechtlichen Lage von Behinderten im Zarenreich und in der UdSSR widmen.1 Allerdings wurde in diesen Publikationen die Behindertenproblematik in der UdSSR lediglich im Hinblick auf die Geschichte der sowjetischen Sozialfürsorge und auf die sowjetische Sozialpolitik erfasst. Stellvertretend können die Arbeiten von Vic George und Nick Manning „Socialism, Social Welfare and the Soviet Union“2 oder Publikationen russischer Autoren wie Elena Jarskaja-Smirnova und Pavel Romanov,3 Olga Šek4 und Michail Kuznecov5 angeführt werden. Die Situation von Behinderten im russischen Zarenreich und in der UdSSR vor dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere von Kriegsinvaliden der Sowjetunion während der Nachkriegszeit wurden von Beate Fieseler thematisiert.6 Einige russische Historiker be1
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Vic George u. Nick Manning, Socialism, Social Welfare and the Soviet Union, London 1980; B. Q. Madison, Social Welfare in the Soviet Union, Stanford 1968; ders., Contributions and Problems of Soviet Welfare Institutions, in: Social Problems, Vol. 7, No. 4: Symposium on Social Problems in the Soviet Union (Spring, 1960), S. 298–307; T. V. Zal’cman, Stanovlenie i razvitie sistemy pomošči ljudjam s invalidnost’ju v Rossii 1861–1917 gg., Moskau 2008. George u. Manning, Socialism, Social Welfare and the Soviet Union (Anm. 1). Zur Problematik der Übersetzung des umfassenden russischen Begriffs invalidy siehe die Einleitung zu diesem Buch. P. V. Romanov u. E. R. Jarskaja-Smirnova (Hrsg.), Nužda i porjadok: istorija social’noj raboty v Rossii, XX v., Saratov 2005; dies. (Hrsg.), Sovetskaja social’naja politika 1920–1930-сh godov: ideologija i povsednevnost’, Moskau 2007. O. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR, in: Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Nužda i porjadok (Anm. 3), S. 375–396. M. A. Kuznecov, Pravovoe polоženie invalidov po sluсhu v Rossii (vtoraja polovina XIX – načalo XXI veka): avtoreferat dissertacii na soiskanie učenoj stepeni kandidata juridičeskiсh nauk, Moskau 2008. Beate Fieseler, Stimmen aus dem gesellschaftlichen Abseits: Die sowjetrussischen Kriegsinvaliden im Tauwetter der fünfziger Jahre, in: Osteuropa 52 (2002), S. 945–962; dies., Der Kriegsinvalide in sowjetischen Spielfilmen der Kriegs- und Nachkriegszeit (1944–1964), in: Bernhard Chiari, Matthias Rogg u. Wolfgang Schmidt (Hrsg.), Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München 2003, S. 199–222; dies., Arme Sieger. Die Invaliden des Großen Vaterländischen Krieges, in: Osteuropa 55 (2005), S. 207–217; dies., „Niščie pobediteli“: invalidy Velikoj Otečestvennoj vojny v Sovetskom Sojuze, in: Neprikosnovennyj Zapas 40/41 (2005), S. 290–297; dies., Razvitie gosudarstvennoj pomošči invalidam v Rossii ot pozdnej
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schäftigten sich auch mit der Geschichte der Behörden und Einrichtungen, welche vor und nach der Oktoberrevolution in der einen oder anderen Form für die staatliche Behindertenpolitik zuständig waren.7 Neben diesen Untersuchungen werden Beiträge weißrussischer Autoren herangezogen, welche einzelne Fragen der Sozialfürsorge für Behinderte sowie die Sozialpolitik im polnischen Westweißrussland während der Zwischenkriegszeit behandeln.8 Eine erhebliche Anzahl von Statistiken entstammt sowjetischen Nachschlagewerken auf dem Gebiet der Sozialfürsorge, veröffentlicht sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Archivquellen dienten Akten des Staatsarchivs des Gebietes Minsk und des Nationalarchivs Weißrusslands: Bestände des Zentralexekutivkomitees der BSSR, des Zentralkomitees der KP Weißrusslands und des Gebietsparteikomitees von Minsk, von regionalen Abteilungen für Sozialfürsorge und von Behindertenheimen. Sie enthalten Schriftwechsel, Memoranden, Bescheinigungen, Berichte, Rundschreiben und andere Unterlagen. Diese Dokumente liefern umfangreiche Informationen über die Sozialversicherung und Sozialfürsorge in der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg. Des Weiteren wurden mehrere statistische Berichte des Volkskommissariats für Sozialwesen der BSSR aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation für Wirtschaft benutzt. Einzelne Fakten aus der Geschichte der Sozialfürsorge für Behinderte in der Sowjetunion stammen aus sowjetischen Fachzeitschriften für Behinderte und für Mitarbeiter zuständiger Behörden. Dies sind die Allunionsperiodika Kooperacija invalidov („Das Genossenschaftswesen der Behinderten“, herausgegeben seit 1928) und Žizn’ gluchonemych („Das Leben von Gehörlosen“, herausgegeben seit 1933). Benutzt wurden außerdem Ausgaben einiger Moskauer und regionaler Zeitungen sowie weißrussischer Zeitschriften aus der Zwischenkriegszeit. Im Folgenden wird die Lage der Behinderten in der Sowjetunion und insbesondere in Weißrussland vor 1941 auf zwei Ebenen betrachtet: zunächst auf der Ebene der offiziellen Ideologie, also der Prinzipien für den staatlichen Umgang mit Behinderten, und sodann auf der Ebene von deren praktischer Umsetzung in der Alltagsrealität. Dementsprechend werden zuerst die Hauptprinzipien der Versorgung von Behinderten in der Sowjetunion dargestellt. Danach wird die Entwicklung der Sozialfürsorge in der UdSSR am Beispiel Sowjetweißrusslands geschildert und abschließend werden einige wichtige Aspekte des Alltagslebens von Behinderten in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit thematisiert. Die Lage sowjetischer Behinderter wird zwar überwiegend anhand von Beispielen aus der BSSR analysiert, da für den vorliegenden Beitrag vor allem Quellen aus weißrussischen Archiven und Bibliotheken herangezogen wurden. Der Einsatz
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Rossiskoj imperii do stalinskoj „revoljucii sverchu“, in: I. V. Narskij u. a. (Hrsg.), Opyt mirovych vojn v istorii Rossii. Sbornik statej, Čeljabinsk 2007, S. 49–64. Zal’cman, Stanovlenie i razvitie sistemy pomošči ljudjam s invalidnost’ju v Rossii (Anm. 1). E. І. Paškovіč, Sіstėma sacyjal’naha zabespjačėnnja nasel’nіctva na dalučanyсh da Pol’ščy zaсhodnebelaruskісh tėrytoryjaсh (1921–1939 gg.), in: Vestnik Polockogo gosudarstvennogo universiteta, 1 (2008), S. 34–42; N. U. Jurkevіč, Prašu raboča-sjaljanskuju іnspekcyju…: skarhі і zajavy hramadzjan Belarusі (1920–1930-ja hh.), Minsk 2009.
Behinderte in der Sowjetunion vor dem deutschen Überfall
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sowjetischer Nachschlagewerke und Allunionszeitschriften ermöglicht es aber, für die gesamte Sowjetunion gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Hervorzuheben ist weiterhin die Schwierigkeit, statistische Angaben aus Sowjetweißrussland zu verwenden. Vor dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Territorium Weißrusslands dreimal: Zur ersten Vergrößerung kam es 1924, die zweite erfolgte 1926, die dritte durch die Angliederung Westweißrusslands 1939. Daher ist zu berücksichtigen, dass sich beispielsweise statistische Daten für das Jahr 1922 auf ein weitaus kleineres Territorium beziehen als entsprechende Angaben für das Jahr 1927 und auf ein noch kleineres im Vergleich zu 1940 bzw. 1941. Aus diesem Grund erscheint es nicht möglich, eine Übersichtsstatistik über die Entwicklung aller Gebiete der BSSR für die Zeit vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR zu erstellen. Beim Zitieren offizieller Statistiken wird daher stets die Jahreszahl angegeben. ALLGEMEINE PRINZIPIEN DER SOWJETISCHEN SOZIALFÜRSORGE FÜR BEHINDERTE Im Russischen Zarenreich der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildete die Unterstützung von Behinderten einen Teil der gemeinnützigen Tätigkeit von Privatpersonen und gesellschaftlichen Organisationen.9 Diese Tätigkeit wurde als „gesellschafltiche Wohlfahrtspflege“ (obščestvennoe prizrenie) oder „Wohltätigkeit“ (blagotvoritel’nost’) bezeichnet.10 Die Regierung der Bolschewiki wandte sich vollkommen ab von diesen Traditionen des Zarenreiches.11 Wohltätigkeit wurde in der bolschewistischen Ideologie betrachtet als „Hilfe, die durch Vertreter der herrschenden Klassen der Ausbeutergesellschaft lediglich in heuchlerischer Absicht geleistet wurde“.12 Die Bürgschaft für soziale Hilfe übernahm nun der Staat – alle öffentlichen sowie privaten Organisationen, die vor der Oktoberrevolution auf diesem Gebiet tätig gewesen waren, wurden aufgelöst, ihr Eigentum verstaatlicht.13 Lebina, Romanov und Jarskaja-Smirnova unterscheiden folgende Entwicklungsstufen in der sowjetischen Sozialpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg: 1) „utopische“ Periode oder Zeit des „Kriegskommunismus“ und des Bürgerkriegs 1917– 1921; 2) „urbane“ Periode oder Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“ 1921– 1927; 3) „industrielle“ Periode oder die Periode der Fünfjahrespläne Stalins ab
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M. Firsov, Istorija social’noj raboty v Rossii: tendencii stanovlenija, in: Romanov u. JarskajaSmirnova, Nužda i porjadok, S. 74 f. M. Romm, Ponjatijnyj apparat otečestvennogo prizrenija: genezis, specifika, tradicija, in: Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Nužda i porjadok (Anm. 3), S. 229. Social’noe obespečenie v RSFSR k desjatoj godovščine Oktjabrja (1917–1927), Moskau 1927, S. 3. Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 5, Moskau 1950, S. 278. P. G. Nazarov, Istorija invalidnoj i сhudožestvennoj promkooperacii v Rossii, Čeljabinsk 1994, S. 5–6.
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1927.14 Diese Etappen unterscheiden sich voneinander sowohl in der Gesetzgebung über die Sozialfürsorge als auch durch die Richtlinien der Sozialpolitik bezüglich Behinderter. Zur Zeit des „Kriegskommunismus’“ wurde die Entwicklung der Sozialpolitik durch eine große Anzahl von Kriegsverletzten aus dem Ersten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg und dem sowjetisch-polnischen Krieg (1919 bis 1921) geprägt. Eine Rente war nur für einen begrenzten Kreis von Invaliden der Roten Armee vorgesehen – leitend war das Prinzip der Verdienste um den sozialistischen Staat.15 Die Verordnung des Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 8.12.1921 führte den Begriff der „Arbeitsfähigkeit“ (trudosposobnost’) Behinderter ein – die physische Fähigkeit, irgendeiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Somit wurde der Begriff „Behinderung“ durch die Arbeitsfähigkeit bestimmt.16 Die Bolschewiki betonten, wie wichtig die werktätige Beteiligung der Bürger am gesellschaftlichen Aufbau sei. Die Verfassung der RSFSR aus dem Jahre 1918 erklärte Arbeit zu einer Pflicht aller.17 Die Losung „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ war unter der Bezeichnung „Arbeitsprinzip“ auch bei der Sozialfürsorge in der BSSR gut bekannt.18 Die sowjetrussische Verfassung von 1918 definierte weiterhin „klassenfremde“ Personen (Gutsbesitzer, Kapitalisten u. a.), welchen das Wahlrecht entzogen sowie das Recht auf Sozialleistungen jeder Art verweigert wurde – sogar im Falle einer eingetretenen Behinderung.19 Für die Periode der „Neuen Ökonomischen Politik“ sind folgende Entwicklungen kennzeichnend: Der Kreis von Sozialfürsorgeberechtigten wurde abrupt vermindert,20 die Behindertenrenten wurden schrittweise angehoben21 und es entstand und entwickelte sich eine neue Form der Arbeitsbeschaffung für Behinderte – die so genannten Behindertengenossenschaften.22 Während der Periode der „Stalinschen Fünfjahrespläne“ mit ihren ehrgeizigen Industrialisierungsplänen für das gesamte Land stieg die Bedeutung von bis dahin 14 15 16 17 18
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N. Lebina, P. Romanov u. E. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’: social’naja politika v sovetskoj dejstvitel’nosti, 1917–1930-e gody, in: Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Sovetskaja social’naja politika (Anm. 3), S. 21–67. S. Vasin u. T. Maleva, Invalidy v Rossii – uzel staryсh i novyсh problem, in: Pro et Contra 3 (2001), S. 81 ff. RSFSR, Sobranie uzakonenij i rasporjaženij rabočego i krest’janskogo pravitel’stva, Moskau 1917–1924, Nr. 79 (1921), Artikel 672. A. A. Lipatov u. N. T. Savenkov (Hrsg.), Istorija Sovetskoj Konstitucii, (V dokumentaсh), 1917–1956, Moskau 1957, S. 146. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über grundlegende Aufgaben des Systems der Sozialfürsorge für das Jahr 1925, Gosudarstvennyj arсhiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. (= Fond) 478, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 39, L. (= List) [Blatt] 52–61; ebd. für die Jahre 1924–1925, GAMn, F. 478, O. 1, D. 3, L. 372–374ob. Lipatov u. Savenkov, Istorija Sovetskoj Konstitucii (Anm. 17), S. 155. Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 36. Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 12; Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii, 1919–1923 gg., Minsk 1924, S. 37. Dve zadači, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 12 (1929), S. 1; Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 12.
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nicht eingesetzten Arbeitskraftressourcen, darunter auch Behinderten, schlagartig an.23 Zur wichtigsten Aufgabe der Organe der Sozialfürsorge wurde deren aktive und planmäßige Arbeit zur zweckmäßigen und fundierten Ausbildung und Arbeitszuweisung von Behinderten erklärt.24 Um den einzelnen Betrieben Behinderte zuzuweisen, wurden planmäßige Verteilungsschlüssel eingeführt.25 Dabei wurde das „Klassenprinzip“ beibehalten – es war untersagt, „Sozialfremde“ zu vermitteln.26 Während der gesamten Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg galt die sozialpolitische Priorität in der UdSSR der städtischen Bevölkerung, also Arbeitern und Angestellten. Die soziale Absicherung von Bauern (die den überwiegenden Bevölkerungsanteil ausmachten) war dagegen mangelhaft. Behinderte Bauern wurden durch gesellschaftliche Komitees (obščestvennye komitety) versorgt – später Unterstützungskassen der Kolchosen (kolchoznye kassy vzaimopomošči), deren Budget sich aus Beiträgen der Kolchosbauern zusammensetzte, sodass bei Geldmangel jegliche Hilfe ausbleiben konnte.27 Eine garantierte Alters- oder Arbeitsunfähigkeitsrente erhielten Bauern erst ab 1964, nachdem ein entsprechendes Gesetz verabschiedet worden war,28 obgleich die Verfassung das Recht aller Bürger auf Sozialleistungen im Alter oder bei eingetretener Arbeitsunfähigkeit bereits 1936 verkündet hatte.29 Im Jahre 1927 zählte man in der BSSR ca. 1,5 Mio. Mitglieder bei fast 1.800 Bauernkomitees mit Unterstützungskassen.30 Die Komitees halfen bedürftigen Bauern – vorwiegend den Familien von Rotarmisten und Kriegsversehrten – mit Saatgut, Pferden oder Kühen zum Bestellen von Äckern und mit Viehfutter aus. Die staatlichen Behinderten- und Invalidenrenten beschränkten sich lediglich auf die städtische Bevölkerung; dies weckte bei Behinderten auf dem Lande Unzufriedenheit und motivierte sie, in die Stadt umzusiedeln.31 Die Gestaltung der Sozialfürsorge prägte die in der UdSSR verbreitete Auffassung, die Invalidität bzw. Behinderung sei eine persönliche Tragödie; der Behinderte wurde als eine Person betrachtet, die der staatlichen Fürsorge bedurfte und unfähig war, eigenständig zu leben und über sich selbst zu bestimmen.32 Diese Herangehensweise wird auch als die „medizinische“ bezeichnet, da diese Wahrnehmung von Behinderung die Aufmerksamkeit auf die medizinische Diagnose der Pathologie oder der Dysfunktion lenkt, Behinderte erhalten hierbei einen Kran-
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Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’(Anm. 14), S. 41. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 381. V. Lebedeva, Novyj podсhod k invalidnoj masse, in: Social’noe obespečenie 7 (1931), S. 18– 20. P. Veržbilovskij, V pomošč’ nizovomu rabotniku social’nogo obespečenija, Moskau 1934, S. 6. Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 56 f. V. N. Michalkevič, Zakon o pensijaсh i posobijaсh členam kolсhozov v dejstvii, Moskau 1966. Konstitucija SSSR, in: Social’noe obespečenie 1 (1937), S. 10. A. A. Kraŭčanka u. N. F. Rydzeŭskі, Sacyjal’nae zabespjačėnne ŭ Saveckaj Belarusі, Mіnsk 1977, S. 104. Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 13; Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 61. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 387.
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kenstatus.33 Russische Wissenschaftler sind der Ansicht, dieses Wahrnehmungsmuster habe sich in Russland bereits vor der Oktoberrevolution etabliert – in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.34 Eine solche Beurteilung von Behinderung sowie die ausschlaggebende Rolle des Staates bei der sozialen Versorgung bestimmten den paternalistischen Charakter der sowjetischen Sozialpolitik hinsichtlich Behinderter. Die Art und der Umfang der Sozialleistungen wurden durch spezielle staatliche Kommissionen festgelegt, in denen Angestellte der Sozialbehörden sowie Ärzte saßen.35 Der Sowjetstaat erklärte die „Sorge für Behinderte“ zu seiner Pflicht.36 Eine solche Art gegenseitiger Beziehung zwischen Staat und Behinderten ging von einer Abhängigkeit der Behinderten vom Staat aus.37 Russische Wissenschaftler definieren den Kern der sowjetischen Sozialpolitik als eine Verbindung aus „(Für-) Sorge und Kontrolle“.38 Die Bestimmung der Behinderung durch den Begriff der „Arbeitsfähigkeit“ – eingeführt unter dem Einfluss der kommunistischen Ideologie – legte die Zweitrangigkeit von Kriegsinvaliden und Behinderten in der Sowjetgesellschaft fest, und zwar als Unterhaltsbezieher, die auf Kosten der Werktätigkeit anderer Bürger lebten.39 Der Ausschluss Behinderter aus dem öffentlichen Raum kann als Hauptmerkmal ihrer Stellung in der UdSSR angesehen werden, darauf weisen einige Studien hin.40 Allerdings änderte sich die Ursache im Laufe der Zeit. In der Vorkriegszeit – mit der Primäraufgabe, die Arbeitskraft von Behinderten zu mobilisieren – war deren Ausschluss aus dem öffentlichen Raum überwiegend durch fehlende behindertengerechte Ausstattung von Bauten und Räumen sowie der Verkehrsinfrastruktur bedingt. In der Sowjetpresse dieser Zeit finden sich Vorschläge vereinzelter Enthusiasten zur Anpassung der sozialen Umgebung an die Bedürfnisse Behinderter, wie zum Beispiel das Einrichten spezieller Hörgeräte für Schwerhörige in Theatern und Kinos.41 Dennoch wurden diese lediglich als unterhaltsame technische Neuerungen geschildert, die Frage nach der Gestaltung einer vollwertigen „barrierefreien Umgebung“ stellte sich nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete dieser Ausschluss dagegen einen festen Bestandteil der Sozialpolitik und war darauf ausgerichtet, die sowjetische Gesellschaft als eine Gemeinschaft geistig und körperlich gesunder Menschen darzustellen. Man förderte daher die Ausgrenzung Behinderter,
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E. R. Jarskaja-Smirnova u. Ė. K. Naberuškina, Social’naja rabota s invalidami, Sankt Petersburg 2005, S. 18–21. Zal’cman, Stanovlenie i razvitie sistemy pomošči ljudjam s invalidnost’ju v Rossii (Anm. 1), S. 18. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 375, 379. P. Ruben, Sovetskaja vlast’ zabotitsja ob invalidaсh, in: Kooperacija invalidov 11 (1937), S. 21–23. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 385. Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 21–67. Valerij Fefelov, V SSSR invalidov net!…, London 1986, S. 101. Ebd., S. 101 ff.; Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 375–396. Radio – na službu gluсhim, in: Žizn’ gluсhonemyсh 1 (1934), S. 25.
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indem ein Netzwerk aus Internaten, speziellen Ausbildungsstätten und anderen geschlossenen Anstalten aufgebaut wurde.42 SOZIALFÜRSORGE FÜR BEHINDERTE IN DER BSSR 1920–1930 Während der Periode des „Kriegskommunismus“ und des Bürgerkriegs erfolgte die Gestaltung der „revolutionären“ Sozialfürsorge in Weißrussland unter einem mehrfachen Wechsel von Besatzungsmächten. Der Aufbau sowjetischer Sozialbehörden begann erst nach dem Ende der deutschen Okkupation im Dezember 1918.43 Das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR wurde Anfang 1919 gegründet.44 Bis zum Beginn des sowjetisch-polnischen Krieges konnte es lediglich einige wenige Monate agieren, danach wurde es nach Smolensk evakuiert und dort aufgelöst.45 Nach dem Ende der polnischen Besatzung 1920 kehrte das Volkskommissariat für Sozialfürsorge nach Minsk zurück und begann erneut mit seiner Arbeit. Zu dieser Zeit bestanden die Aktivitäten der Sozialbehörden im Wesentlichen aus der Unterstützung der Opfer von Judenpogromen und Raubüberfällen. In diesem Tätigkeitsbereich kooperierte das Volkskommissariat für Sozialfürsorge mit dem American Jewish Joint Distribution Committee und dem Jüdischen Gesellschaftlichen Komitee zur Unterstützung von Pogromopfern.46 Nach Angaben des Volkskommissars für Sozialfürsorge der BSSR, M. A. Mar’jasin, aus dem Jahre 1922 litten zwischen 1919 und 1921 117 Ortschaften der BSSR unter Pogromen: 1.100 Menschen wurden getötet, etwa 7.000 verletzt, viele wurden dabei zu Invaliden. Der Gesamtschaden durch Pogrome und Raubüberfälle wurde auf fast 9 Mio. Rubel der Vorkriegszeit geschätzt.47 Die Hilfe an Bedürftige jeglicher Art, darunter auch an Behinderte, erfolgte vorwiegend in „Naturalien“ – in Form von Lebensmitteln und Kleidungsstücken, denn unter den Bedingungen einer ständigen Inflation besaß Geld „keinerlei Bedeutung“.48 Das Volkskommissariat für Sozialwesen half den Bedürftigen auch mit Baumaterialien, Geschirr, Brennholz, Seife und Eintrittskarten für Badeanstalten.49 Nach Angaben der Leitung des Volkskommissariats für Sozialfürsorge leistete zwischen 1922 und 1923 auch die American Relief Administration (ARA) der weiß42 43 44 45 46 47 48 49
Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 383. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 5. G. V. Filončik, Zabota – gosudarstvennaja, Minsk 1987, S. 10. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 6. Ebd., S. 6, 70; Ė. G. Ioffe, Džojnt v Belarusi, Minsk 1999, S. 27–32; M. Botvinnik, Pervye šagi Evobščestkoma v Sovetskoj Belorussii (1920–1923), in: Belarus’ u ХХ stagoddzі, 3 (2004), S. 46–56. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 6 f. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über grundlegende Aufgaben des Systems der Sozialen Sicherung für die Jahre 1924–1925, GAMn, F. 478, O. 1, D. 3, L. 372–374ob. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 11.
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russischen Bevölkerung – darunter Behinderten – Hilfe in Form von Lebensmitteln. Die ARA versorgte die 1922–1923 in der BSSR gegründeten Behindertenenanstalten fast vollständig mit Kleidung und Bettwäsche.50 Nach Einschätzung des weißrussischen Autors Aljaksandr Lukašuk belief sich die amerikanische Hilfe an Weißrussland auf über 14.440 Tonnen an Lebensmitteln, Medikamenten, Kleidungsstücken und Gerätschaften im Wert von über 2.730.000 US-Dollar nach damaligen Preisen.51 Als zentrales Gesetz über die Sozialfürsorge während des „Kriegskommunismus’“ fungierte die „Verordnung über die soziale Versorgung der Werktätigen“ vom 31.10.1918. Diese sah die Versorgung aller Werktätigen vor, die weder fremde Arbeit ausbeuteten noch über andere Einnahmequellen verfügten.52 Die Sozialbehörden verzeichneten alle Hilfsbedürftigen, Behinderten, Alten, Obdach- und Arbeitslosen.53 Im Jahr 1921 erhielten 276.000 Menschen oder 10 bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Weißrusslands Renten und Leistungen.54 Die Leitung des Volkskommissariats für Soziafürsorge der BSSR beurteilte diese Erscheinung als „vollkommen unnormal“, denn bei einer so großen Anzahl werde das „Klassenprinzip“ nicht befolgt und die Durchschnittsrente sei sehr niedrig. Diese betrug Anfang 1923 circa ein bis zwei Goldrubel.55 Bis 1932 galt in der UdSSR (einschließlich der BSSR) die Verordnung des Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 8.12.1921 mit der Festlegung von sechs Behindertengruppen.56 Der ersten Gruppe wurden arbeitsunfähige und pflegebedürftige Behinderte zugeordnet; der zweiten Gruppe arbeitsunfähige nicht pflegebedürftige Behinderte; die dritte Gruppe bildeten Behinderte, die nicht im Stande waren, „einer beruflichen Tätigkeit regelmäßig nachzugehen“. Zur vierten, fünften oder sechsten Gruppe (je nach Einschränkung der Arbeitsfähigkeit) zählten Personen, deren Arbeitsfähigkeit und Berufsqualifikation infolge einer Erkrankung oder eines Traumas weniger umfangreich nachgelassen hatte.57 Im Jahre 1932 wurden die 4., 5. und 6. Gruppe für irrelevant erklärt, so dass Sozialbehörden ab dann nur noch die ersten drei Gruppenbezeichnungen anwendeten.58 Nach dem Ende des „Kriegskommunismus’“ und mit dem Beginn der „Neuen Ökonomischen Politik“ schlugen die Sozialbehörden einen „harten Kurs“ ein: Die Anzahl der eine Rente oder Unterstützung beziehenden Bürger galt es zu verringern, indem einigen Bürgern das Bezugsrecht entweder wegen ihrer Arbeitsfähig-
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Ebd, S. 12, 29. A. Lukašuk, Pryhody ARA ŭ Belarusі, Prag 2005, S. 21, 472–475. RSFSR, Sobranie uzakonenij (Anm. 16), Nr. 58 (1918), Artikel 637. A. N. Vinokurov, Social’noe obespečenie (Ot kapitalizma k kommunizmu), Moskau 1921, S. 10. Filončik, Zabota – gosudarstvennaja (Anm. 44), S. 10 f. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 37. RSFSR. Sobranie uzakonenij, Nr. 79 (1921), Artikel 672. I. L. Baevskij, Praktika social’nogo straсhovanija v SSSR, Moskau 1926, S. 163–165. A. Alekseevskij, O kruge lic, imejuščich pravo na kooperirovanie v našej sisteme, in: Kooperacija invalidov 19–20 (1932), S. 10–11.
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keit oder auf Grund der „falschen“ Klassenzugehörigkeit entzogen wurde.59 Infolge der „Säuberungsaktion“ unter den Rentnern konnte die durchschnittliche Behindertenrente in der BSSR zu Beginn des Jahres 1924 auf 10 Goldrubel erhöht werden. Im Jahr 1923 unterstützte das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR 314 den ersten drei Gruppen zugeordnete Behinderte sowie 1.376 Familienangehörige mit Renten. Zudem bezogen mehr als 1.500 Behinderte ihren Unterhalt von gesellschaftlichen Komitees.60 Einheitliche und verbindliche Rententarife für Behinderte wurden erst 1926 eingeführt; als Berechnungsgrundlage diente der Durchschnittslohn von Arbeitern und Angestellten.61 Zuvor bestimmten örtliche Verwaltungsbehörden über die Rentenhöhen, sodass diese je nach Stadt und Region große Unterschiede aufwiesen.62 Zu den Kernaktivitäten sowjetischer Sozialbehörden bei der Unterstützung Behinderter vor dem Zweiten Weltkrieg gehörten die Gründung von Behindertenheimen und die Arbeitsbeschaffung bei Behinertengenossenschaften oder in den Behindertenwerkstätten der Sozialbehörden. Für die Notwendigkeit, „Behinderte in die Werktätigkeit miteinzubeziehen“, wurden sowohl soziale als auch medizinische Argumente angeführt. Ein Mitarbeiter des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR, der Arzt S. A. Puzyrijskij, wies in einem Aufsatz „Der Einfluss von Arbeitstätigkeit auf die Psyche Behinderter“ (publiziert im Anhang des Berichts des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR für den Kongress der Sowjets der BSSR 1924) darauf hin, dass Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie seit längerer Zeit erfolgreich angewendet werde, und vertrat die Überzeugung, eine angemessene Beschäftigung vermöge „seelische und körperliche Erkrankungen von Behinderten“ zu heilen. Nach Stand des Jahres 1923 existierten in der BSSR sieben Werkstätten: 3 Schusterwerkstätten, 2 Nähereien, 1 Tischlerei und 1 Flechtwerkstatt für Blinde. Insgesamt wurden so 112 Personen beschäftigt. Ein qualifizierter behinderter Schuster wurde dabei monatlich im Durchschnitt mit 20 Goldrubeln entlohnt; die Durchschnittsrente für Behinderte betrug ca. 10 Goldrubel. Des Weiteren wurden in der BSSR einige landwirtschaftliche Kolonien für Behinderte gegründet, doch erfuhren diese kaum Zuspruch, da die Arbeit in der Landwirtschaft für Behinderte als zu anstrengend angesehen wurde.63 Was die Behindertenheime anbelangt, so zählte die BSSR im Jahre 1923 insgesamt 16 dieser Heime, in denen insgesamt 808 Personen (davon 438 in Minsk) wohnten.64 In diese Behindertenheime wurden alleinstehende Behinderte und pflegebedürftige Ältere aufgenommen.65 Einen Einblick in die Zusammensetzung der 59 60 61 62 63 64 65
Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 12. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 37, 39. Dakladnaja zapіska Narodnaha Kamіsaryjata sacyjal’naha zabjaspečannja BSSR ab stanovіščy sacyjal’naha zabjaspečannja ŭ Belaruskaj SSR, Minsk 1928, S. 3. Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 14. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 9 f., 13, 30 f., 33–36, 61–64. Ebd., S. 27. Vorschrift über staatliche Versorgung der arbeitsunfähigen Familienmitglieder von Militärangehörigen, der Kriegsinvaliden und von einigen anderen arbeitsunfähigen Personenkategorien
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Heimbewohner geben statistische Berichte des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR. Am Vorabend der Angliederung von Westweißrussland (1939) gab es in der BSSR 18 Behindertenheime mit 2.092 Plätzen. Die Plätze waren zu ca. 90 % belegt. Alle Heime waren „allgemeiner“ Art, d. h. sie beherbergten Behinderte und Kriegsinvalide unterschiedlichster Art – Blinde, Gehörlose, Alte, Kriegs- oder Arbeitsverletzte. Die Mehrheit der Heimbewohner bildeten alte Menschen (44 % der Heimbewohner waren über 60 Jahre alt). Darüber hinaus gehörten 76 % der Heimbewohner der ersten bzw. der zweiten Behindertengruppe an – es sei daran erinnert, dass solche Behinderten als vollkommen arbeitsunfähig galten. Obwohl die Heimleitung vor die Aufgabe gestellt wurde, Behinderte mit höchstmöglicher Effizienz zu beschäftigen, gingen lediglich sieben Prozent einer Beschäftigung nach, alle anderen bezogen ihren Unterhalt ausschließlich vom Staat.66 In Westweißrussland, welches bis 1939 zu Polen gehörte, wurden Behinderte und Kriegsinvaliden vorwiegend durch öffentliche Wohltätigkeit sowie die örtliche Selbstverwaltung versorgt. 1932 wurden 21 von insgesamt 46 Heimen für Erwachsene – gelegen in den östlichen Woiwodschaften Polens – durch die örtliche Selbstverwaltung und 10 durch religiöse Vereinigungen unterstützt. Auf dem Territorium von Westweißrussland gab es keine staatlich finanzierten Behindertenheime, obgleich deren Anzahl in Polen beträchtlich war. Insgesamt fielen die Fördermittel für die Behindertenversorgung in Westweißrussland deutlich geringer aus als in den zentralen und westlichen Woiwodschaften Polens.67 Nach der Angliederung Westweißrusslands durch die BSSR wurden alle privaten und gesellschaftlichen Institutionen für die Versorgung Behinderter verstaatlicht.68 Zeitgleich zur Bildung sowjetischer Machtorgane wurde die Sozialfürsorge nach sowjetischem Muster eingeführt und ein Netzwerk von Behindertenheimen aufgebaut.69 Zum 1. Januar 1940 zahlte das Volkskommissariat für Sozialfürsorge Renten an über 58.000 Behinderte, Alte, Kriegsinvaliden und Opfer von Arbeitsunfällen sowie deren Familienangehörige.70 Darunter fielen auch so genannte Ehrenrentner sowie „Helden der Arbeit“. Am Vorabend des deutschen Überfalls auf die
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(1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 73, L. 7–10; Dasjahnennі і сhіby raboty sobezaŭ, in: Komunar Mahіlëŭščyny v. 27.12.1939, S. 4. Statistischer Bericht des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über den Zustand der Behindertenheime in der BSSR für das Jahr 1939, Rossijskij gosudarstvennyj arсhiv ėkonomiki [Russisches Staatsarchiv für Wirschaft] (nachfolgend RGAĖ), F. 1562, O. 18, D. 190, L. 103–104. Paškovіč, Sіstėma sacyjal’naha zabespjačėnnja (Anm. 8), S. 40. Anordnung des Rates der Volkskommissare der BSSR v. 11.2.1940 über die Verstaatlichung der Gebäude und der Ausstattung aller Alten- und Behindertenheime im Besitz von Wohltätigkeitsorganisationen und anderen Gesellschaften und über die Aufnahme behinderter und alter Menschen auf dem Territorium der westlichen Gebietskörperschaften der BSSR in die staatliche Fürsorge, GAMn, F. 1p, O. 2а, D. 41, L. 143–145. Doma invalidov v zapadnyсh oblastjaсh BSSR, in: Za obrazcovuju dorogu v. 22.11.1940, S. 1; Ab dzjaržaŭnym bjudžėce BSSR na 1941 hod, in: Komunar Mahilëŭščyny v. 2.4.1941, S. 3. Zusammengefasster Jahresbericht des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über die Anzahl und Zusammensetzung der Rentner, die ihre Rente über die Organe der Sozialfürsorge beziehen, Stand 1.1.1940, RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 190, L. 98–100.
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UdSSRs zählte die BSSR (mit Westweißrussland) 40 Behindertenheime mit über 4.000 Bewohnern.71 DIE MATERIELLE VERSORGUNG VON BEHINDERTEN IN DER BSSR DER 1920ER UND 1930ER JAHRE Die materielle Versorgung von Behinderten war insbesondere in den Bürgerkriegsjahren sehr problematisch. So trug ein Artikel in der Vicebsker Zeitung Izvestija Vitebskogo gubernskogo Soveta rabočich, krest’janskich, krasnoarmejskich i batrackich deputatov („Nachrichten des Vicebsker Gouvernementssowjets der Arbeiter-, Bauern-, Rotarmisten- und Tagelöhnerabgeordneten“) vom 17. März 1920, der von der Überprüfung eines der städtischen Behindertenheime berichtete, die bezeichnende Überschrift „Zwei Stunden in der Hölle“.72 Der Zeitungsartikel wies auf die unzureichende Lebensmittelversorgung, den unhygienischen Zustand von Gebäuden und Räumlichkeiten, das völlige Fehlen medizinischer Betreuung sowie auf Lebensmittelunterschlagungen durch die Heimverwaltung hin. Es ist anzumerken, dass in der Nähe der Stadt Vicebsk zu dieser Zeit die Frontlinie verlief. Bis zum Beginn der „Neuen Ökonomischen Politik“ blieb die Behindertenversorgung in der BSSR unzureichend. Das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR musste einräumen, dass 1922 lediglich 50 Prozent der Heimbewohner mit der notwendigen Kleidung ausgestattet waren und die Versorgung mit Lebensmitteln lediglich 75 bis 80 Prozent des vorgesehenen Umfangs erreichte. Bis 1924 unterstützte die ARA weißrussische Behinderte mit zusätzlichen Verpflegungsrationen.73 In vielen Behindertenheimen in der Provinz blieben – laut Revisionsakten – unhygienische Zustände an der Tagesordnung.74 Heimbewohner richteten gemeinsame Beschwerdebriefe an örtliche Verwaltungsorgane wegen fehlender Versorgung mit Medikamenten, Kleidung und Schuhwerk.75 Besagte Verwaltungsorgane meldeten ihrerseits, die medizinische Verpflegung der Behinderten bleibe aus und die Heime seien überfüllt.76 Gleichzeitig galten einige Behindertenheime in der Provinz als vorbildlich.77 Im Allgemeinen lässt sich aber feststellen, dass die materielle Versor71 72 73 74 75 76
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E. T. Hucenkova, Socyjal’nae zabespjačėnne ŭ Belaruskaj SSR za hady Soveckoj ulady, Mіnsk 1957, S. 14. Dva časa v adu, in: Izvestija Vitebskogo gubernskogo Soveta rabočiсh, krest’janskiсh, krasnoarmejskiсh i batrackiсh deputatov v. 17 März 1920, S. 2. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 13, 29. Protokoll der Überprüfung der Arbeit des Behinderten- und des Altenheims in Barysaŭ (28.12.1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 91, L. 26–26ob. Gemeinschaftliche Eingabe der Bewohner des Altenheims in Barysaŭ über die schlechte Versorgungssituation (1926), GAMn, F. 478, O. 1, D. 91, L. 20. Schreiben des Leiters des Altenheims in Barysaŭ an die Barysaŭer Rayonabteilung für Sozialfürsorge (Okt. 1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 56, L. 76; Schreiben der Rayonabteilung für Sozialfürsorge in Barysaŭ an die Rayonabteilung Gesundheit (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 10, L. 120. Verordnung durch die Minsker Gebietsabteilung für Sozialfürsorge (1925), GAMn, F. 477, O. 1, D. 34, L. 54.
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gung von Behinderten in der UdSSR vor dem Zweiten Weltkrieg zu wünschen übrig ließ, zum Teil beträchtlich. So richteten die Bewohner eines Minsker Behindertenheims 1929 einen gemeinsamen Brief an die Verwaltungsbehörden: Sie klagten, dass sie halb verhungerten, und baten um eine anderthalbfache Erhöhung des täglichen Lebensmittelbetrags pro Kopf – von 30 auf 45 Kopeken.78 Nachdem sie nichts erreicht hatten, verfassten sie erneut ein Schreiben, in dem sie nun beinahe um eine Verdoppelung des Lebensmittelbetrages baten – um eine Erhöhung auf 55 Kopeken.79 Im Jahre 1940 behauptete die Zeitschrift Rabotnіca і kalhasnіca Belarusі („Arbeiterin und Kolchosbäuerin Weißrusslands“), für die Versorgung der Bewohner des Staražoŭski-Behindertenheims (Minsk) stünden jährlich und pro Kopf 2.500 Rubel zur Verfügung (fast sieben Rubel pro Tag).80 Doch lässt sich die tatsächliche Situation Behinderter erst unter Berücksichtigung der starken Inflation des Rubels Ende der 1930er Jahre und eines totalen Mangels an Gütern des täglichen Bedarfs angemessen beurteilen. Die sowjetische Politik hinsichtlich der Höhe von Behindertenrenten wird gut veranschaulicht durch die Tatsache, dass vorübergehend arbeitsunfähig erkrankte Bürger im Vergleich zu langfristig arbeitsunfähigen (Behinderten) deutlich bessere Lebensbedingungen genossen:81 Die monatliche Behindertenrente in der UdSSR betrug zwischen 1924 und 1928 31 bis 36 Prozent des Durchschnittslohns, dagegen erreichte die Unterstützung bei einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit 95 Prozent des Durchschnittslohns.82 Behinderte wurden lediglich mit dem Lebensnotwendigen versorgt. So stellte 1929 ein älterer Bewohner eines der Behindertenheime der Stadt Minsk bei der Minsker Stadtabteilung für Sozialfürsorge einen Antrag auf Zahnprothesen auf staatliche Kosten. Er habe nur noch fünf Zähne übrig und sei damit außerstande, die ihm im Behindertenheim vorgesetzte Nahrung aufzunehmen. Sein Antrag wurde offiziell abgelehnt, „auf Grund fehlender Mittel“.83 DIE DISKRIMINIERUNG VON BEHINDERTEN Trotz der verkündeten Gleichstellung in der Sozialfürsorge veranlassten Überlegungen wirtschaftlicher und ideologischer Art die bolschewistische Regierung in den 1920er und 1930er Jahren zu einer Differenzierung der Sozialfürsorgesätze in Form und Höhe – darunter auch derjenigen für Kriegsinvaliden und Behinderte.84 In der Praxis führte dies zu verschiedenen Formen der Diskriminierung. Zu erwähnen ist hier vor allem die Diskriminierung nach dem Klassenprinzip – „klassen78 79 80 81 82 83 84
Gemeinsame Erklärung der Bewohner des Minsker Behindertenheims an die Minsker Gebietsabteilung für Sozialfürsorge (1928), GAMn, F. 477, O. 1, D. 86, L. 28–28ob. Gemeinsame Erklärung der Bewohner des Minsker Behindertenheims an die Minsker Gebietsabteilung für Sozialfürsorge (18.5.1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 126, L. 48. Starasc’, jakaja ne paloсhae, in: Rabotnіca і kalhasnіca Belarusі 8 (1940), S. 13. Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 36. George u. Manning, Socialism, Social Welfare and the Soviet Union (Anm. 1), S. 35. Eingabe des Behinderten Fal’kovskij (1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 126, L. 30. Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 61.
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fremde“ Bürger wurden nicht in die Sozialfürsorge einbezogen. Im Jahre 1927 arbeitete beispielsweise die gehörlose Tochter eines ehemaligen Gutsherrn, Bel’kevič, in einer Minsker Behindertengenossenschaft. Die örtliche Sozialbehörde empfahl ihre Entlassung als „fremdes Element“; dass Bel’kevič genauso viel wie alle anderen leistete, spielte dabei keine Rolle.85 In den 1920er Jahren wurden unmittelbar aus dem Staatsbudget ausschließlich Invaliden des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs finanziert.86 Arbeitsbehinderte wurden aus den Fonds für Sozialversicherung unterstützt.87 Dementsprechend unterschieden sich die Rententarife für Kriegsinvaliden und Arbeitsbehinderte sowie deren festgelegte Beihilfen. Für die Ernährung von Kriegsinvaliden in Behindertenheimen der BSSR wurden 1923 täglich 2662 kcal vorgeschrieben, für die der Arbeitsbehinderten dagegen nur 2237 kcal. An Kleidungsstücken und Bedarfsgegenständen erhielten Kriegsinvaliden ebenfalls mehr im Vergleich zu den Arbeitsbehinderten. Und während 1922 die allgemeine Versorgung der Bewohner von Behindertenheimen mit Kleidung lediglich 50 Prozent der Norm erreichte, war die Versorgung von Kriegsinvaliden mit Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen zu 75 Prozent gedeckt.88 Der Entlastung des Staatsbudgets der UdSSR in den 1920er Jahren diente auch die diskriminierende Verordnung über eine zweijährige Anmeldefrist bei den Sozialbehörden. Sollte der Verlust der Arbeitsfähigkeit länger als zwei Jahre in der Vergangenheit liegen, erlosch das Anrecht des Behinderten auf soziale Fürsorge.89 Die Denkweise des Staates wird in einem Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der RSFSR an örtliche Sozialbehörden (darunter auch an weißrussische) deutlich erkennbar: Das Rundschreiben erklärte, sollten die noch nicht angemeldeten Behinderten – wie beispielsweise Invaliden des Ersten Weltkriegs, dessen Ende sechs Jahre zurück lag – bis dato ohne staatliche Hilfe ausgekommen sein, so würden sie dies auch in Zukunft schaffen.90 Als Paradebeispiel kann der Fall von Ivan Golikov, wohnhaft in Vicebsk, angeführt werden. 1921 erblindete er im Alter von 30 Jahren. Da alleinstehend, überlebte er anfangs ausschließlich dank der Hilfe seiner Freunde. Nur durch Zufall erhielt er einen Hinweis und stellte einen Rentenantrag; dieser wurde allerdings abgelehnt, da der Verlust der Arbeitsfähigkeit länger als zwei Jahre in der Vergangenheit lag. Nicht einmal 12 Jahre Dienstzeit vermochten das zu ändern. Die Behördengänge des Blinden blieben ohne Erfolg. Golikov wandte sich mehrmals an das Zen85 86 87 88 89 90
Bemerkungen zur Vorschrift des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR (1928), GAMn, F. 477, O. 1, D. 124, L. 57–58. Gosudarstvennoe obespečenie žertv vojny i kontrrevoljucii v RSFSR, in: Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 18–25. Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 11), S. 9; Baevskij, Praktika social’nogo straсhovanija (Anm. 57), S. 157 f. Narodnyj komissariat social’nogo obespečenija Belorussii (Anm. 21), S. 13, 28 f. Ausführungsverordnung zum Dekret des Rats der Volkskommissare der RSFSR vom 8.12.1921 über die soziale Versorgung Behinderter, GAMn, F. 478, O. 1, D. 3, L. 263–264. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der RSFSR (20.9.1924), GAMn, F. 478, O. 1, D. 3, L. 251–252.
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tralexekutivkomitee der BSSR und erklärte, er könne es nicht glauben, „dass ein erblindeter Werktätiger in der UdSSR zum Verhungern verdammt ist“.91 1926 ordnete das Volkskommissariat für Sozialfürsorge schließlich an, Golikov in ein Behindertenheim einzuweisen.92 In einer ähnlichen Lage befanden sich auch zahlreiche andere Menschen mit Behinderungen.93 Bei Ausbildung und Arbeitsvermittlung kam es ebenfalls zu Diskriminierungen. Die Anzahl von Arbeitsplätzen in den Behindertenwerkstätten und Behindertengenossenschaften war begrenzt. Das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR empfahl daher, Invaliden des Bürgerkriegs, also Veteranen der Roten Armee,94 bei der Ausbildung und Arbeitsvermittlung als „klassenbewusst“ und „politisch zuverlässig“ zu bevorzugen. Andere Behinderte konnten ihr Recht auf Ausbildung und Arbeit oftmals nicht geltend machen – 1929 richteten einige Behinderte entsprechende Beschäftigungsanträge an die Sozialbehörden und erhielten aus Minsk die Rückmeldung, es gebe keine freien Plätze.95 Insbesondere wurden die Rechte von Blinden und Gehörlosen verletzt. Erstmals statistisch erfasst wurden diese Behindertengruppen erst 1924/25.96 Im Jahre 1928 waren beim Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR rund 3.000 Blinde und 2.400 Gehörlose angemeldet.97 Der Weißrussische Blindenverband (Belorusskoe obščestvo slepych) wurde erst 1928 gegründet, der Weißrussische Gehörlosenverband entstand 193198 (in der RSFSR entsprechend 1923 und 1926). Diese Vereinigungen beschäftigten sich mit der Ausbildung und Arbeitsvermittlung von blinden und gehörlosen Behinderten und führten entsprechende Propagandatätig91 92 93 94
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Eingabe von I. K. Golikov an das Zentralexekutivkomitee der BSSR (1925), Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv Weißrusslands] (nachfolgend NARB), F. 6, O. 1, D. 1059, L. 53. Schreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR an das Zentralexekutivkomitee der BSSR (1926), NARB, F. 6, O. 1, D. 1059, L. 55. Brief einer Gruppe Kriegsverletzter des Ersten Weltkrieges an das Zentralexekutivkomitee der BSSR (1926), NARB, F. 6, O. 1, D. 1059, L. 135. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über die Zuteilung Behinderter in eine technische Fachschule zur Ausbildung (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 397–398; Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über die Zuteilung Behinderter in die technische Fachschule für Behinderte, Smolensk (1924), GAMn, F. 478, O. 1, D. 5, L. 127. Schriftwechsel der Minsker Gebietsabteilung für Sozialfürsorge mit Behinderten (1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 126, L. 155–156, 171. Verordnung des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über die gleichberechtigte Versorgung von Gehörlosen mit Kriegsinvaliden und Arbeitsbehinderten (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 129; Tätigkeitsbericht der Barysaŭer Rayonsabteilung für Sozialfürsorge vom 1.1.1924 bis 1.11.1925, GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 642–650; Schreiben einer Gebietsabteilung für Sozialfürsorge an das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR zur Frage der Aufnahme von gehörlosen Behinderten in die soziale Versorgung (1926), GAMn, F. 478, O. 1, D. 94, L. 107; Dakladnaja zapіska Narodnaha Kamіsaryjata sacyjal’naha zabjaspečannja BSSR (Anm. 61), S. 4. Dakladnaja zapіska Narodnaha Kamіsaryjata sacyjal’naha zabjaspečannja BSSR (Anm. 61), S. 4. Kraŭčanka u. Rydzeŭskі, Sacyjal’nae zabespjačėnne ŭ Saveckaj Belarusі (Anm. 30), S. 104.
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keiten durch. Das Ergebnis dieser Aktivitäten blieb in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als bescheiden. So zählte Weißrussland Anfang 1941 ca. 10.200 gehörlose Behinderte, von denen jedoch lediglich 12 Prozent (1.240) Mitglieder im Weißrussischen Gehörlosenverband waren.99 Die Arbeitsvermittlung von blinden und gehörlosen Behinderten gestaltete sich in der BSSR sehr schwierig. 1935 waren bei den Behindertengenossenschaften lediglich 86 Blinde und 90 Gehörlose beschäftigt – von mehreren Tausend.100 Einige Behinderte bevorzugten es, eigenständig nach Ausbildung und Beschäftigung zu suchen – ungeachtet aller zu erwartenden Schwierigkeiten: 1927 teilten drei blinde Behinderte aus der Stadt Barysaŭ der Sozialbehörde mit, sie begäben sich eigenmächtig nach Moskau, um zu versuchen, Plätze in einer Blindenschule zu erhalten.101 Im Jahr 1929 konnten einige in Minsk beschäftigte Blinde keine Unterkunft finden. Das Behindertenheim konnte sie nicht aufnehmen, da sie ein Gehalt erhielten und daher verpflichtet waren, selbst für ihre Unterkunft aufzukommen.102 Andererseits weigerten sich auch Vermieter, Unterkünfte an Behinderte zu vergeben, da sie nicht glaubten, Mieten in voller Höhe erhalten zu können.103 Die Verteilungsfunktion des Staates im sowjetischen System der Sozialfürsorge führte dazu, dass besonders diejenigen von sozialer Hilfe profitierten, die räumlich nahe an deren Quelle saßen. So erfasste die Sozialfürsorge der UdSSR und der BSSR vor dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich die Stadtbewohner unter Behinderten und Kriegsinvaliden.104 Im Jahre 1933 räumten die Sozialbehörden im weißrussischen Rayon Barysaŭ ein, die Mehrheit der gehörlosen Rayonbewohner beherrsche die Gebärdensprache nicht und sei daher nicht in der Lage, frei zu kommunizieren.105 Im Jahre 1938 stellte die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych fest, die nahezu einzige Betreuungsform von Gehörlosen seien noch immer die Treffen mit den Vertretern des Weißrussischen Gehörlosenverbandes; diese Treffen fänden jedoch nur selten statt und dauerten lediglich ein paar Stunden, im besten Fall einen Tag.106 Bei diesen kurzen Begegnungen konnten die Verbandsvertreter lediglich ihre Erfolgsberichte über den Aufbau des Sozialismus vortragen und – je nach Möglichkeit – die lebenswichtigsten Fragen und Probleme der Gehörlosen thematisieren. Gelegentlich führten schlechte Gesetzeskenntnisse provinzieller Sozialar99 V. Rusovič, Nekotorye itogi, in: Žizn’ gluсhonemyсh 2 (1941), S. 9. 100 Kak rabotaet belorusskaja kooperacija invalidov, in: Kooperacija invalidov 6 (1935), S. 11–12. 101 Eingabe einer Gruppe Behinderter an die Barysaŭer Rayonabteilung für Sozialfürsorge (1927), GAMn, F. 478, O. 1, D. 102, L. 12. 102 Verordnung der Minsker Rayonabteilung für Sozialfürsorge über den Ausschluss berufstätiger Behinderter aus Behindertenheimen (1927), GAMn, F. 477, O. 1, D. 69, L. 2. 103 Eingabe blinder Behinderter an die Minsker Rayonabteilung für Sozialfürsorge zur Frage der Gewährung einer Unterkunft (1927), GAMn, F. 477, O. 1, D. 59, L. 84–85; Briefwechsel des Weißrussischen Blindenverbandes mit der Minsker Rayonsabteilung für Sozialfürsorge über die Zuweisung einer Unterkunft an blinde Behinderte (1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 126, L. 11–11ob, 13–13ob. 104 Lebina, Romanov u. Jarskaja-Smirnova, Zabota i kontrol’ (Anm. 14), S. 56. 105 Borisovskij likbez gluchonemyсh, nužno rasširit’, in: Žizn’ gluсhonemyсh 7 (1933), S. 10. 106 Rabota v derevne, in: Žizn’ gluсhonemyсh, 7 (1938), S. 3; Zadači obščestv gluсhonemyсh, in: ebd., 5–6 (1938), S. 1.
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beiter zur Verletzung von Behindertenrechten. Im Jahre 1929 konstatierte die Minsker Rayonabteilung für Sozialfürsorge, in einigen Teilen des Rayons seien die Behindertenrenten irrtümlicherweise um 25 Prozent zu niedrig berechnet worden.107 Folgt man Presseberichten, kam es in der BSSR auch im Alltag zur Diskriminierung von Behinderten. 1935 berichtete die Zeitung Kamunist („Kommunist“) aus der Stadt Babrujsk über den Fall eines gehörlosen Arbeiters, den sein Werkmeister zur Schmiergeldzahlung gezwungen hatte.108 Der Behinderte wusste nicht, an wen er sich wenden sollte, und richtete seine Beschwerdebriefe an eben jenen Werkmeister, der das Schmiergeld von ihm erpresst hatte. Diskriminierung konnte auch nach ethnischen Kriterien erfolgen: 1936 schrieb die Zeitung Rabočij („Arbeiter“), die Leitung des Behindertenheimes in Dujanaŭka im weißrussischen Rayon Homel’ unterschlage Lebensmittel der Bewohner und toleriere Fälle von Antisemitismus: Ein Heimmitarbeiter habe eine behinderte Jüdin zusammengeschlagen; außerdem sei des Öfteren das Schimpfwort „Judenfratze“ (žid) im Gebrauch.109 Eine der Möglichkeiten für Behinderte ihre Rechte zu wahren bestand darin, sich an die zuständigen Mitarbeiter der Sozialbehörden zu wenden. Die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych berichtete mehrmals über Georgij Sakodynec, einen Mitarbeiter der Bychaŭer Abteilung für Sozialfürsorge (Gebiet Mahilëŭ):110 Sakodynec bekämpfe engagiert den Bürokratismus und setze sich aktiv gegen die Verletzung von Rechten Gehörloser in der Region ein; er verlange von den Behörden und Arbeitgebern vor Ort, Arbeits- und Sozialgesetze zu befolgen, und führe Kultur- und Propagandaarbeit unter den Behinderten durch. Solche Mitarbeiter gebe es jedoch viel zu wenige, als dass die Durchsetzung von Behindertenrechten hätte beträchtlich verbessert werden könnten.111 Die Möglichkeiten von Behinderten, ihre Interessen durch eine unmittelbare Beteiligung an der Gesetzgebung durchzusetzen, waren noch eingeschränkter als die der restlichen Bevölkerung der UdSSR. Als Beispiele lassen sich die Gehörlosenkongresse in der BSSR anführen. Vor dem Zweiten Weltkrieg fanden drei solcher Tagungen statt. Dabei konnten die Teilnehmer, mindestens in der Theorie, der Regierung ihre Probleme unmittelbar mitteilen und auf Mängel in der staatlichen Sozialfürsorge hinweisen.112 So brachte man etwa zur Sprache, dass in der BSSR ein effizient funktionierendes System zur Ausbildung und Arbeitsvermittlung Gehörloser fehle. Die Vertreter der staatlichen Verwaltungsorgane jedoch, die für die
107 Rundschreiben der Minsker Rayonabteilung für Sozialfürsorge (1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 124, L. 23. 108 Pel’man zajmaecca vymahacel’stvam, in: Kamunist v. 17.1.1935, S. 4. 109 Bezobrazija v dome invalidov, in: Rabočij v. 9.7.1936, S. 3. 110 Po-stalinski zabotit’sja o ljudjaсh, in: Žizn’ gluсhonemyсh 1 (1936), S. 6–7; G. Sakodynec, Byсhovskaja organizacija gluсhonemyсh, in: ebd. 4 (1940), S. 23. 111 Vyvesti iz otstavanija belorusskuju organizaciju, in: Žizn’ gluchonemych 12 (1934), S. 22. 112 Tretij s”ezd gluсhonemyсh Belorussii, in: Žizn’ gluсhonemyсh 7 (1940), S. 12.
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Behebung solcher Missstände zuständig waren, ignorierten diese Kongresse völlig.113 Eine weitere Methode, mit der sowjetische Behinderte um ihre Rechte kämpften, waren Eingaben und Beschwerdebriefe an Verwaltungs- und Pateikontrollorgane. Mitunter wandten sich die Behinderten sogar an die obersten Führungsinstanzen. Im Jahre 1926 schrieb ein Minsker obdachloser behinderter Jugendlicher an das Zentralexekutivkomitee der BSSR und bat um Hilfe;114 der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees der BSSR Aljaksandr H. Čarvjakoŭ veranlasste persönlich, den Jugendlichen in ein Behindertenheim aufzunehmen.115 An das Zentralexekutivkomitee der BSSR wandten sich Behinderte auch mit Fragen der Versorgung mit Prothesen.116 Es zeugt indirekt auch von der Ineffizienz des Staatsapparates, wenn Behinderte sich selbst in unbedeutenden Alltagsfragen gezwungen sahen, ihre Angelegenheiten mit Beamten der Republik- oder sogar der Allunionsregierung zu klären. So mussten einige Behinderte nach der Antragsstellung auf ihre Renten monatelang warten, gelegentlich auch länger.117 Im Archivbestand der Arbeiter- und Bauerninspektion beim Zentralexekutivkomitee der BSSR sind Beschwerdebriefe von Behinderten erhalten geblieben: Bemängelt wurden etwa verschleppte Rentenauszahlungen und verzögerte Ausstellung von Warenbezugsscheinen, Probleme bei Wohnungs- und Alltagsfragen oder die Verweigerung der Aufnahme in Behindertenheime durch örtliche Behörden.118 Ein treffendes Beispiel für den Bürokratismus im Umgang mit Behinderten stellt der Fall eines behinderten Schullehrers in der Stadt Krupki im Minsker Gebiet dar. Im März 1939 beantragte er bei der Minsker Sozialbehörde zwei Armprothesen, beziehungsweise ihre Anfertigung in Moskau oder Leningrad, da solche Prothesen in der BSSR damals nicht hergestellt werden konnten. Zwei (!) Jahre nahm die Korrespondenz der Sozialbehörde mit verschiedenen Ämtern in Anspruch, die Prothesen erhielt der Lehrer am Ende dennoch nicht. Er wandte sich daher mit einem Beschwerdebrief an das Minsker Gebietskomitee der Partei, woraufhin der Leiter der Minsker Sozialbehörde entlassen wurde.119 Ob der Lehrer seine Prothesen vor dem Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ erhielt, ist nicht be-
113 Ebd.; Vyjti iz uzkiсh ramok svoej organizacii, in: Žizn’ gluсhonemyсh 9 (1936), S. 6–7. 114 Eingabe des Obdachlosen Nikifor Zyl’ an das Zentralexekutivkomitee der BSSR (12.2.1926), NARB, F. 6, O. 1, D. 1057, L. 4–5. 115 Anordnung des Zentralexekutivkomitees der BSSR über die Aufnahme des Obdachlosen Nikifor Zyl’ in ein Behindertenheim (22.02.1926), NARB, F. 6, O. 1, D. 1057, L. 10. 116 Schreiben des Zentralexekutivkomitees der BSSR an das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR (9.1.1926), NARB, F. 6, O. 1, D. 1059, L. 43. 117 Iz pisem rabočich, in: Kommunist v. 29.7.1925, S. 3; Gde pomošč’ krasnym invalidam?, in: Kommunist v. 6.5.1925, S. 3. 118 Jurkevіč, Prašu raboča-sjaljanskuju іnspekcyju (Anm. 8), S. 45–185. 119 Sitzungsprotokoll des Minsker Gebietskomitees der KP(b)B, GAMn, F. 1p, O. 1а, D. 174, L. 316–316ob.
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kannt. Der Kampf gegen den Bürokratismus in der Behandlung behinderter Bürger schaffte es nicht selten auf die Seiten der Sowjetpresse.120 POLITISCHE REPRESSION BEHINDERTER IN DER BSSR DER 1920ER UND 1930ER JAHRE Wie alle Sowjetbürger wurden sowohl Kriegsinvalide und Behinderte als auch Angestellte von Sozialbehörden Opfer politischer Repressionen. Die oben erwähnte Diskriminierung nach dem Klassenprinzip war kennzeichnend für die sowjetische Sozialfürsorge für den gesamten Zeitraum vor dem Zweiten Weltkrieg. In der BSSR wurden Ende der 1920er Jahre intensive „Säuberungen“ von so genannten „fremden Elementen“ unter Rentnern und Heimbewohnern durchgeführt. In nur 18 Monaten (1929/30) wurden in der BSSR 5.647 Staatsrentenbezieher überprüft, 309 von ihnen, so genannten „sozialfremden Elementen“, wurde dabei das Rentenanrecht abgesprochen.121 Im Behindertenheim in Čėrven’ wurde im Jahr 1929 einigen Behinderten der Anspruch auf staatliche Versorgung und einen Platz im Heim aberkannt, da sie zu den „Ehemaligen“ (Vertreter ehemaliger „Ausbeuterklassen“ aus der Zeit vor der Oktoberrevolution) gezählt worden waren. Darunter befanden sich auch ein ehemaliger orthodoxer Priester und eine Rabbinerwitwe.122 Bereits 1927 hatten die Parteiorgane der BSSR die Vorschriften der Sozialbehörden über Leistungen für Behinderte und Arbeitsunfähige scharf kritisiert.123 Die Bolschewiki hielten es für unzulässig, dass nach dieser Vorschrift alle Behinderten und Kriegsopfer unterstützt wurden, darunter auch verschiedene „feindselige Elemente“ wie beispielsweise Familienmitglieder gefallener Offiziere der zaristischen Armee. Das Ausmaß der Repressionen schwankte von sozialer Diskriminierung über Inhaftierung bis hin zur Ermordung. 1937 wurde der Volkskommissar für Sozialfürsorge der BSSR, Janis Ašak (ein Lette), verhaftet. Die Anklage bezichtigte ihn – wie auch zahlreiche andere leitende Sowjetfunktionäre – des für das sowjetische Verwaltungssystem typischen Amtsmissbrauchs: Zuteilung von Erholungsreisen in staatliche Sanatorien an Freunde und Verwandte, Missbrauch von Finanzmitteln u. a. Unter diesen Anschuldigungen gab es zunächst keine ausreichend schwerwiegenden. Doch des Weiteren wurde Ašak auch „politischer“ Verbrechen beschuldigt, 120 S. P. Liberman u. B. A. Icikson, 120-ja stat’ja Konstitucii SSSR, in: Social’noe obespečenie 1 (1937), S. 16–17. 121 Schriftwechsel der Hauptverwaltung für Sozialversicherung beim Volkskommissariat für Arbeit der BSSR mit Versicherungskassen über die Ergebnisse der Säuberung des Bestandes der Rentner von sozialfremden Elementen (1930), NARB, F. 45, O. 1, D. 485, L. 3–3ob. 122 Schreiben der Verwaltung des Behindertenheims in Čėrven’ an die Rayonabteilung für Sozialfürsorge (1929), GAMn, F. 477, O. 1, D. 126, L. 195; Schreiben der Rayonabteilung für Sozialfürsorge in Čėrven’ an das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR (1929), GAMn, F. 477, O.1, D. 126, L. 197. 123 Bemerkungen zur Dienstanweisung des Volkskommissariats für Sozialfürsorge über Fragen der Sozialfürsorge (1928), GAMn, F. 477, O. 1, D. 124, L. 57–58.
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was das Schicksal fast aller von Repressionen betroffenen Sowjetbürger besiegelte. Zu diesen politischen Anschuldigungen zählten: Einstellung ehemaliger Bundisten (Mitglieder bzw. angebliche Sympathisanten der jüdischen Arbeiterpartei „Bund“) und „Trotzkisten“, Tolerierung von „Klassenfeinden“ im Sozialwesen der BSSR, Deckung von „Schädlingen“ und „Verunreinigung“ von Behindertenheimen durch „feindselige Elemente“, die im Bürgerkrieg oder bei der Arbeit verletzte Rotarmisten schikanierten, sowie Verordnung von Ehrenrenten für Personen, welche später zu „Volksfeinden„ und „Spionen“ erklärt worden waren.124 Im Jahre 1938 wurde Ašak zum „lettischen Spion“ erklärt, verurteilt und erschossen.125 In Vicebsk wurde durch den NKVD der BSSR die Strafsache einer „konterrevolutionären Schädlingsorganisation“ fingiert; diese wurde angeblich durch den Leiter des örtlichen Behindertengenossenschaftswesens, den Juden Uruchim Nechamin angeführt: Er strebe die Zerstörung des Systems des Behindertengenossenschaftswesens an, um „die Sowjetmacht bei den Werktätigen zu diskreditieren“.126 Im Jahre 1937 inszenierte der NKVD der Stadt Leningrad „die Strafsache der Gehörlosen“; es wurden 54 Behinderte verhaftet, darunter der Vorstand des Leningrader Gehörlosenverbandes. Die inhaftierten Personen wurden der Gründung einer „faschistischen Terroristengruppe“ bezichtigt. Einer der Verhafteten, der gehörlose politische Emigrant aus Deutschland, Al’bert Bljum (Albert Blum), hatte von seinen Verwandten deutsche Zigaretten zugeschickt bekommen. Die Zigarettenschachteln enthielten die im damaligen Deutschland üblichen propagandistischen Sammelbildchen, welche dann den Anlass zur Inhaftierung boten. Bljum wurde zum „Gruppenanführer“ und „Gestapoagenten“ erklärt. Die Gehörlosen wurden mit Hilfe von Gebärdendolmetschern verhört und mit Folter und Schlägen zu den erwünschten Aussagen gezwungen. Im Dezember 1937 wurden 34 der verhafteten Gehörlosen (darunter zehn Frauen) zum Tod durch Erschießen verurteilt, das Urteil für weitere 19 Behinderte lautete auf zehn Jahre Lagerhaft.127 Ähnlich große Strafsachen, in denen Menschen mit Behinderungen involviert waren, sind für die BSSR bisher nicht bekannt. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Hauptorganisator der Leningrader Strafsache, Leonid Zakovskij (Chef der Leningrader NKVD-Verwaltung), vorher zwei Jahre lang den NKVD der BSSR geleitet hatte. Im Laufe dieser Zeit hatte er einen umfangreichen Prozess um das
124 Schriftliche Parteiberichte über Verletzungen der Rechtsordnung in der Tätigkeit des Volkskommissars für Sozialfürsorge der BSSR Ja. Ašak (2.8.1937, 21.8.1937), NARB, F. 4p, O. 1, D. 12078, L. 26–27, 138–139. 125 Leanid Marakoŭ (Hrsg.), Rėprėsavanyja lіtaratary, navukoŭcy, rabotnіkі asvety, hramadskіja і kul’turnyja dzejačy Belarusі, 1794―1991, in: Ėncyklapedyčny davednіk. Bd. III, Buch I, Mіnsk 2004, S. 112–113. 126 Schriftlicher Bericht des NKVD der BSSR über die Verunreinigung von Parteiorganisationen, Betrieben und Kolchosen in der Sttadt Vicebsk und im Rayon Vicebsk durch sozialfremde Elemente (1937), NARB, F. 4p, O. 1, D. 12058, L. 166. 127 A. Ja. Razumov (Hrsg.), Leningradskij martirolog, 1937–1938: kniga pamjati žertv političeskich repressij, Bd. 4: 1937 god, Sankt Petersburg 1999, S. 675–678.
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„Weißrussische Nationalzentrum“ angestrengt, zu dessen Opfern eine Reihe weißrussischer Persönlichkeiten des nationalen und kulturellen Lebens zählten.128 Begünstigte eine Behinderung die Chancen, den politischen Repressionen zu entkommen? Es ist bekannt, dass der Vorstand des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens im Vergleich zur Industriekooperation wesentlich geringer von Repressionen betroffen war.129 Interessant ist auch das Schicksal des Direktors des Weißrussischen Akademieinstituts für Philosophie und Recht Semën Vol’fson. Seine bevorstehende Verhaftung ahnend, setzte Vol’fson 1938 seine Beziehungen ein, um in eine Psychiatrie eingewiesen zu werden. Dank einer vorgetäuschten psychischen Erkrankung entging er der Verhaftung, ließ die schlimmsten Repressionszeiten vorübergehen und setzte 1940 seine Forschungs- und Publikationstätigkeiten fort. Vol’fson kam während der Besetzung Weißrusslands durch die Nationalsozialisten 1941 ums Leben.130 ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in den 1920er und 1930er Jahren in der UdSSR ein Sozialfürsorgesystem für Behinderte galt, das sich deutlich vom vorrevolutionären System unterschied. Das neue System fußte auf dem Prinzip persönlicher Verdienste um den sozialistischen Staat, der das ausschließliche Recht auf soziale Unterstützung seiner Bürger besaß. Keinerlei private oder öffentliche Initiative wurde in diesem Bereich zugelassen. Sozialfürsorge besaß einen „Klassencharakter“: Behinderte mit einer „klassenfremden“ Herkunft konnten keine Leistungen in Anspruch nehmen. Die sowjetische Sozialfürsorge durchlief einige Entwicklungsperioden: Mit dem wachsenden Bedarf der Sowjetwirtschaft an Arbeitskräften stieg das Interesse des Staates an der Beschäftigung von Behinderten. Der Invaliditätsbegriff wurde in der UdSSR durch die Arbeitsfähigkeit des jeweiligen Bürgers definiert. Die Mitarbeit beim Aufbau der neuen Gesellschaft galt als ehrenhafte Pflicht eines jeden vollkommen oder auch nur teilweise arbeitsfähigen Bürgers. Dies führte zum Ausschluss von arbeitsunfähigen Behinderten aus der Gesellschaft und zu ihrer Isolation in Behindertenheimen. Aus der Zeit vor der Oktoberrevolution übernahm die Sowjetunion die „medizinische“ Sicht auf das Invaliditätsphänomen, welche die Abhängigkeit der sowjetischen Behinderten von den Mitarbeitern des Sozial- und des Gesundheitswesens prägte.
128 U. I. Adamuška, Palityčnyja rėprėsii 20–50-yсh hadoŭ na Belarusi, Mіnsk 1994, S. 61–62; Alexander Friedman, „Wir müssen den Feind restlos vernichten. Und wir werden ihn vernichten!“. Aufstieg und Fall des stellvertretenden Volkskommissars des Inneren der UdSSR Leonid M. Zakovskij (1894–1938). Eine Fallstudie über Gewalt in der stalinistischen Sowjetunion, in: Frank Jacob (Hrsg.): Diktaturen ohne Gewalt? Wie Diktatoren ihre Macht behaupten, Würzburg 2014, S. 149–178. 129 Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 13), S. 21 f. 130 Alexander Friedman, Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941: Propaganda und Erfahrungen, Stuttgart 2011, S. 357.
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Zu den Grundformen der Sozialfürsorge in der UdSSR zählten Rentenbezüge, die Aufnahme in Behindertenheime, Ausbildung und Arbeitsvermittlung in staatlichen Betrieben sowie bei dem Behindertengenossenschaftswesen. Das Hauptaugenmerk sowjetischer Sozialpolitik galt vorwiegend der Unterstützung seiner arbeitsfähigen Bevölkerung und hatte unzureichende Leistungen an Kriegsinvaliden und Behinderte zur Folge; dies zeigte sich sowohl in den niedrigen Behindertenrenten als auch in der unzureichenden Versorgung von Behindertenheimen. Schwierigkeiten wirtschaftlicher und Überlegungen ideologischer Art führten zu verschiedenen Diskriminierungsformen in der sowjetischen Gesellschaft: nach dem Klassenprinzip ebenso wie wirtschaftlicher und rechtlicher Art. Diskriminierung erfolgte ebenfalls im Alltag, jedoch lässt sich deren Ausmaß angesichts des Mangels repräsentativer Quellen schwer festlegen. Wie alle Sowjetbürger konnten auch Kriegsinvaliden und Behinderte Opfer politischer Repressionen werden. Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
SOWJETISCHE BEHINDERTENGENOSSENSCHAFTEN IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Vasili Matokh Das sowjetische Behindertengenossenschaftswesen ist ein Thema, das von sowjetischen wie postsowjetischen und westlichen Historikern kaum erforscht wurde. 1950 erschien ein kurzer Überblick von S. Michajlov über die Geschichte des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens.1 Allerdings enthält diese Arbeit fast keine konkreten Informationen und Zahlen und ist weitgehend unkritisch, was für die Wissenschaftstradition der stalinistischen Epoche typisch ist. So stellte sie eher ein Informationsblatt für die Arbeiter im sowjetischen Genossenschaftssystem dar. Unter den gegenwärtigen russischen Historikern, die sich mit dem sowjetischen Behindertengenossenschaftswesen beschäftigten, kann vor allem auf Pavel G. Nazarov hingewiesen werden, der in den 1990er Jahren eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte des russischen und sowjetischen Genossenschaftswesens einschließlich des Behindertengenossenschaftswesens veröffentlichte.2 Die diskriminierende Einstellung gegenüber dem Behindertengenossenschaftswesen war in der UdSSR bereits zu Beginn seiner Gründungsphase zu beobachten. Sowjetische Ökonomen und Wirtschaftshistoriker befassten sich nicht mit diesem Themenfeld, weil sie das Behindertengenossenschaftswesen weniger für eine wirtschaftliche Tätigkeit als vielmehr für eine Form der Sozialfürsorge hielten. Im Falle der BSSR verschärfte sich diese Tendenz dadurch, dass die Erfolge des Behindertengenossenschaftswesens in diesem Teil der UdSSR viel bescheidener waren als in Sowjetrussland und in der Sowjetukraine.3 Das Behindertengenossenschaftswesen wird in keinem der zahlreichen Beiträge erwähnt, die in einer umfangreichen „Genossenschaftsanthologie“ in Charkiv 1925 veröffentlicht wurden.4 Auch in der ausführlichen Arbeit eines Dozenten der Weißrussischen Staatsuniversität, Samuil Pėŭzner, die 1929 in Minsk in weißrussischer Sprache erschien, findet das Behindertengenossenschaftswesen keinerlei Er-
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S. Michajlov, Kooperacija invalidov RSFSR [Das Behindertengenossenschaftswesen der RSFSR], Moskau 1950. P. G. Nazarov, Istorija invalidnoj i chudožestvennoj promkooperacii v Rossii [Die Geschichte der Behinderten- und Künstlerindustriegenossenschaftswesen in Russland], Čeljabinsk 1994. Invalidnaja kooperacija Belorussii, in: Koopėracyjnae žyc’cë 1–2 (1926), S. 33–35; Kooperacija invalidov Belorusskoj SSR, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 3–4 (1928), S. 25; Kak rabotaet belorusskaja kooperacija invalidov, in: Kooperacija invalidov 6 (1935), S. 11–12. S. Pėŭzner u. V. Cellarius (Hrsg.), Kooperativnaja chrestomatija [Genossenschaftsanthologie], Charkiv 1925.
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wähnung.5 Presseerzeugnisse des weißrussischen sowjetischen Genossenschaftswesens, die Aufschluss über das Behindertengenossenschaftswesen in der Republik geben könnten, sind in weißrussischen Bibliotheken nur fragmentarisch erhalten geblieben. So sind in den Bibliotheken der Republik Belarus nur vier Ausgaben der Zeitschrift Koopėracyjnae žyc’cë („Das Genossenschaftsleben“), die in den 1920er Jahren auf Weißrussisch in Minsk herausgegeben wurde, erhalten. Ihre Nachfolgerin, die Zeitschrift Kaapėracyja BSSR („Das Genossenschaftswesen der BSSR“), erschien nur zwei Jahre, von 1929 bis 1930. Daher muss als Hauptquelle für die Erforschung der Geschichte des Behindertengenossenschaftswesens in der gesamten Sowjetunion und auch in der BSSR die amtliche Zeitschrift des Allrussischen Genossenschaftsverbandes der Behinderten Bjulleten’ Vsekoopinsojuza („Bulletin des Allrussischen Genossenschaftsverbandes der Behinderten“) dienen, die ab 1928 herausgegeben wurde. Ab 1931 hieß sie Kooperacija invalidov („Das Genossenschaftswesen der Behinderten“). Sie war die einzige Zeitschrift dieser Art in der UdSSR, weswegen sie in allen Republiken verbreitet wurde und eine Art Sprachrohr der staatlichen Politik in Bezug auf Menschen mit Behinderungen darstellte. Die Zeitschrift publizierte aktuelle Nachrichten über die Entwicklung des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens, Artikel über das Leben von behinderten Menschen in den kapitalistischen Ländern sowie ideologische Materialien und Regierungsverordnungen. Dieses Periodikum war ein wichtiger Teil der bolschewistischen Propaganda, die Menschen mit Behinderungen in der Sowjetunion erreichen sollte. Für diesen Beitrag wurde auch eine Reihe von Broschüren ausgewertet, die zum größten Teil in den 1920er Jahren, in der Anfangsphase des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens, herausgegeben wurden. Sie enthalten statistische und rechtliche Informationen über das Genossenschaftswesen und spiegeln die sowjetische Politik hinsichtlich des (Behinderten-) Genossenschaftswesens wider. Einige Dokumente des Staatsarchivs des Gebietes Minsk illustrieren auch die Politik der Führung der BSSR in Bezug auf das Behindertengenossenschaftswesen. Die erhalten gebliebenen Quellen bestimmen den Inhalt dieses Beitrags: Es werden Geschichte und Besonderheiten der Entwicklung des Behindertengenossenschaftswesens in den 1920er und 1930er Jahren, in erster Linie am Beispiel der Russischen Sowjetrepublik, unter die Lupe genommen. Auch die Besonderheiten der Entwicklung des Behindertengenossenschaftswesens in der BSSR werden näher beleuchtet. Eine gesamtsowjetische Statistik in Bezug auf das Behindertengenossenschaftswesen kann dagegen an dieser Stelle leider nicht präsentiert werden, weil nie ein unionsweites Führungsorgan existierte, das eine solche Statistik hätte führen können.
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S. Pėŭzner, Koopėracyja, jae sutnas’c’, rolja, vidy i formy ŭ kapitalistyčnych krainach, u SSSR i ŭ BSSR [Genossenschaftswesen, sein Wesen und seine Rolle, sowie Arten und Formen in kapitalistischen Ländern, in der UdSSR und der BSSR], Minsk 1929.
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DIE ENTSTEHUNG DES BEHINDERTENGENOSSENSCHAFTSWESENS IN DER UDSSR Die Einstellung der Bolschewiki gegenüber dem Genossenschaftswesen als einer Form der sozialwirtschaftlichen Tätigkeit war ambivalent. Im Laufe der Zeit und je nach sozialökonomischer Konjunktur änderten sich die Ansichten der Führung Sowjetrusslands über die Rolle des Genossenschaftswesens deutlich. In der Zeit des Kriegskommunismus (1917–1920) wurde das System des Genossenschaftswesens des ehemaligen Russischen Reiches teilweise liquidiert, teilweise verstaatlicht.6 Grund dafür waren die Widersprüche zwischen den freiwilligen Grundprinzipien des Genossenschaftswesens und der Politik der Zwangsverteilung, die die bolschewistische Regierung verfolgte.7 Allerdings zwang die schwere Krise in Wirtschaft und Gesellschaft, zu der die Politik des Kriegskommunismus geführt hatte, die Bolschewiki 1921 zur Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP), die die Nutzung von Marktmechanismen vorsah. Unter diesen Bedingungen wurde das Genossenschaftswesen zu einer natürlichen Form der Verwirklichung des Sozialismus erklärt. Die Entwicklung der Ansichten der Bolschewiki über das Genossenschaftswesen spiegeln die Werke Vladimir I. Lenins wider. In der Broschüre O produktovom naloge („Über die Naturalsteuer“, 1921) bezeichnete Lenin das Genossenschaftswesen noch als eine Form des Staatskapitalismus, während er in seinem Artikel O kooperacii („Über das Genossenschaftswesen“, 1923) feststellte, dass das Genossenschaftswesen mit dem Sozialismus identisch sei. Lenin hob hervor: „Aber ein System zivilisierter Genossenschaftler bei gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, beim Klassensieg des Proletariats über die Bourgeoisie – das ist das System des Sozialismus.“8 Das sowjetische Genossenschaftswesen der Zwischenkriegszeit, von der bolschewistischen Propaganda als „neues“, „revolutionäres“ Genossenschaftswesen bezeichnet, unterschied sich wesentlich vom westlichen, so genannten „alten“, „kompromisslerischen“ Genossenschaftswesen. Seine Organisation unterstand der strengen Kontrolle des Staates, der ihm von Anfang an weniger wirtschaftliche als vielmehr politische Ziele vorschrieb, nämlich den Privatvermittler zwischen dem Produzenten und Verbraucher zu beseitigen, die Privatproduzenten und Vermittler somit aus dem Markt zu verdrängen und dadurch den Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft zu gewährleisten.9 Das Prinzip der politischen Neutralität und Unabhängigkeit des Genossenschaftswesens, das im Westen proklamiert wurde, 6 7 8
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P. N. Sevruk, Kooperacija v Sojuze SSR [Genossenschaftswesen in der UdSSR], Moskau 1926, S. 27–28. B. D. Bruckus, Ėkonomija sel’skogo chozjajstva: narodnochozjajstvennye osnovy [Ökonomie in der Landwirtschaft: Volkswirtschaftliche Grundlagen], Berlin 1923. V. I. Lenin, O kooperacii, in: ders., Polnoe sobranie sočinenij [Gesammelte Schriften], Bd. 45, 5. Aufl., Moskau 1970, S. 369–377. Deutsch: Über das Genossenschaftswesen, in: W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 3, 8. Aufl., Berlin [Ost] 1970, S. 858–866, Zitat S. 862. Ders., Über die Naturalsteuer, in: ebd., S. 667–703. Sevruk, Kooperacija v Sojuze SSR (Anm. 6), S. 21.
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wurde in der Sowjetunion von Anfang an abgelehnt. Im Gegenteil betonten sowjetische Ökonomen, dass sich in der UdSSR das Genossenschaftswesen unter staatlicher Leitung zu einem Ganzen mit der Staatswirtschaft verbinde.10 Einer der Ideologen des Behindertengenossenschaftswesens war der russische Revolutionär und sowjetische Staatsmann Nikolaj A. Miljutin, von 1921 bis 1924 Volkskommissar für Sozialfürsorge der RSFSR. In seinen Memoiren erwähnte er, dass Lenin mit ganzem Herzen die Idee der Gründung des Behindertengenossenschaftswesens unterstützte. Laut Miljutin schlug Lenin vor, für die Mitglieder der Behindertengenossenschaften einen gekürzten Arbeitstag einzuführen, Behindertengenossenschaften von Steuern zu befreien und ihnen kostenlos Arbeitsräume zur Verfügung zu stellen.11 Das Behindertengenossenschaftswesen verfolgte sowohl praktische als auch ideologische Ziele. Die Gewährung der Möglichkeit für behinderte Menschen, sich selbst und ihre Familienmitglieder durch eigene Arbeit zu versorgen, bedeutete nicht zuletzt auch eine Einsparung staatlicher Mittel. In ideologischer Hinsicht hob die Zeitschrift Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 1929 hervor: „Indem wir Invaliden des Bürgerkriegs genossenschaftlich organisieren, zeigen wir, dass ihre militärischen Verdienste um den sowjetischen Staat nicht vergessen worden sind“. Der Autor des Artikels merkte an, dass es äußerst wichtig sei, dass sich die Behinderten durch das Genossenschaftswesen am „sozialistischen Aufbau“ beteiligten und „weiterhin der Sache unseres sowjetischen Staates dienen“.12 DIE ENTWICKLUNG DES SOWJETISCHEN BEHINDERTENGENOSSENSCHAFTSWESENS VOR DER „GROSSEN WENDE“ (1921 BIS 1929) Am 8. Dezember 1921 erließ der Rat der Volkskommissare der RSFSR ein Dekret „Über die Sozialfürsorge der Behinderten“, das unter anderem den Aufbau des Behindertengenossenschaftswesens vorsah. Gerade dieses Dekret markierte den offiziellen Anfang des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens, obwohl die erste Sitzung der Beauftragten erst im Dezember 1923 stattfand.13 Das zeigt, dass das Behindertengenossenschaftswesen in Sowjetrussland in dieser Zeit vor allem als eine Form der Sozialfürsorge wahrgenommen wurde.14 Die ersten Genossenschaften entstanden in Russland in den 1920er Jahren, in Weißrussland 1921. Diese Genossenschaften wurden in der Regel mit Hilfe staatlicher Versorgungsbehörden geschaffen. Ihre Hauptaufgabe war die Anstellung be10 11 12 13 14
Pėŭzner, Koopėracyja (Anm. 5), S. 40–43; Pėŭzner u. Cellarius, Kooperativnaja chrestomatija (Anm. 4), S. 511–513. N. A. Miljutin, Po zadanijam Lenina [Nach den Aufgaben Lenins], Moskau 1972, S. 23–24. Dve zadači, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 12 (1929), S. 1. Michajlov, Kooperacija invalidov (Anm. 1), S. 33; Nazarov, Istoria promkooperacii (Anm. 2), S. 6. A. F. Dembskij, Kooperacija invalidov kak sistema social’nogo obespečenija [Das Behindertengenossenschaftswesen als System der Sozialfürsorge], Charkiv 1925, S. 4.
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hinderter Menschen: Behinderte, die den Genossenschaften beitraten, erhielten keine Rente, wodurch staatliche Gelder eingespart werden konnten.15 Die Genossenschaften beschäftigten sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Lebensmitteln und Konsumgütern. Für die Organisation der Produktion unter den Bedingungen der für die UdSSR typischen, kaum mechanisierten Arbeit durften auch Arbeiter ohne Behinderungen eingestellt werden, aber ihre Zahl sollte einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtzahl der Genossenschaftsmitglieder nicht überschreiten (der Prozentsatz variierte je nach Beschäftigungsart der Genossenschaft). Im Falle der Überschreitung dieses Prozentsatzes wurden der Genossenschaft der Behindertenstatus sowie alle mit ihm verbundenen Vergünstigungen in Bezug auf Steuer und Kredite entzogen.16 Ursprünglich wurden in solche Genossenschaften ausschließlich Kriegsinvaliden aufgenommen, weil so genannte Arbeitsbehinderte von Versicherungskassen und Menschen mit angeborener Behinderung von Versorgungsbehörden versorgt werden sollten. Aber ab Ende 1923 wurden fast alle Kategorien von Behinderten inklusive ihrer Familienmitglieder, Rentner und auch Familienangehörige gefallener Rotarmisten in die Genossenschaften aufgenommen. Das Interesse von Behinderten und Rentnern am Genossenschaftswesen ist dadurch zu erklären, dass die durchschnittliche Monatsrente nach Regierungsbeschlüssen 1924 und 1925 beispielsweise in der USSR nur ca. 18 Rubel ausmachte, während das monatliche Durchschnittsgehalt in einer Genossenschaft dagegen ca. 30 Rubel betrug.17 Die institutionelle Organisation des Behindertengenossenschaftswesens begann 1923, als in Russland die Allrussische Behindertengenossenschaftsgesellschaft (Vserossijskoe invalidnoe kooperativnoe obščestvo, VIKO) und in Weißrussland die Weißrussische Behindertengenossenschaftsgesellschaft (Belorusskoe invalidnoe kooperativnoe obščestvo, BIKO) gegründet wurden. Mitte der 1920er wurden sie in den Allrussischen Genossenschaftsverband der Behinderten (Vserossijskij sojuz kooperativnych ob’edinenij invalidov, Vsekoopinsojuz) und den Weißrussischen Genossenschaftsverband der Behinderten (Belorusskij sojuz kooperativnych ob’edinenij invalidov, Belkoopinsojuz) umbenannt.18 Diese Organisationen leiteten die Behindertengenossenschaften und ihre Vereinigungen in Russland und Weißrussland, waren Vermittler der staatlichen Politik in diesem Bereich und kontrollierten ihre Umsetzung. Das weißrussische sowjetische Behindertengenossenschaftswesen entwickelte sich langsamer als das ukrainische und russische. Zum 1. Oktober 1925 gab es in der BSSR offiziell 8.842 behinderte Menschen, von denen nur 424 (4,7 %) genossenschaftlich organisiert waren.19 Unter diesen stammten nur 14 Menschen vom Land, das heißt das Behindertengenossenschaftswesen entwickelte sich in der BSSR fast ausschließlich in den Städten. Zum Vergleich: In der 15 16 17 18 19
Social’noe obespečenie v RSFSR k desjatoj godovščine Oktjabrja (1917–1927), Moskau 1927, S. 12; Dembskij, Kooperacija invalidov (Anm. 14), S. 31. Ob obloženii nalogami kooperacii invalidov, in: Kooperacija invalidov 21–22 (1932), S. 9–11. Dembskij, Kooperacija invalidov (Anm. 14), S. 34–35. Invalidnaja kooperacija Belorussii, in: Koopėracyjnae žyc’cë 1–2 (1926), S. 33–35. Invalidnaja kooperacija Belorussii, in: ebd., S. 34.
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Ukraine waren am 1. Juli 1925 17,43 % der Behinderten genossenschaftlich organisiert.20 Noch im Jahr 1928 gab es in der BSSR ca. 100 Behindertengenossenschaften mit insgesamt nur 2.000 Mitgliedern. Dies lag unter anderem daran, dass sich in Weißrussland schon seit der Zeit des Russischen Reiches vor allem in der Kleinindustrie eine gewisse Mechanisierung der Arbeit, wenn auch auf niedrigem Niveau, entwickelt hatte. Dies verhinderte, dass die Arbeitskraft von Menschen mit Behinderungen in solchen Unternehmen eingesetzt werden konnte. Die Leitung des weißrussischen Behindertengenossenschaftswesens war zudem überzeugt, dass dessen Entwicklung auch wegen mangelnder Vergünstigungen, Kredite, Rohstoffe und Industriewaren gehemmt wurde. Viele Vergünstigungen, die die Regierung der BSSR offiziell gewährte, konnten wegen der widersprüchlichen zentralsowjetischen Gesetzgebung nicht in Anspruch genommen werden.21 Zum Vergleich: In der RSFSR gab es 1926 52.000 Mitglieder im Behindertengenossenschaftswesen, von denen 69 % die Invaliditätsgruppe I, II oder III hatten. 60 % der Genossenschaften beschäftigten sich mit der Herstellung von Waren. Am meisten verbreitet waren Bäckerei- (25 % aller Genossenschaften) und landwirtschaftliche Genossenschaften (31 %). Zudem gab es auch Schusterei-, Fleischerei-, Schneiderei- und Seifensiedergenossenschaften.22 Neben diesen Problemen, die nur für Weißrussland typisch waren, war das Behindertengenossenschaftswesen in der gesamten Sowjetunion mit einer Reihe anderer Schwierigkeiten konfrontiert. In den 1920er Jahren musste es gegen die diskriminierende Haltung staatlicher Einrichtungen und lokaler Behörden kämpfen, die es für eine Form der sozialen Behindertenfürsorge, nicht für eine Form der Genossenschaft hielten. So sahen sich lokale Beamte nicht verpflichtet, Behindertengenossenschaften finanziell und administrativ zu unterstützen, wie sie es im Falle gewöhnlicher Genossenschaften taten. Die entsprechenden Regierungsbeschlüsse über die Behindertengenossenschaften wurden vor Ort häufig ignoriert.23 Im April 1928 merkten einige Redner auf der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR in ihren Vorträgen zur Sozialfürsorge an, dass sich die Volkskommissariate und Wirtschaftsbehörden kaum an die Regierungsverordnungen über das Behindertengenossenschaftswesen hielten. Die Vortragenden fragten sogar provokativ, ob das Land überhaupt Behindertengenossenschaften brauche.24 Als Ergebnis verabschiedete der Rat der Volkskommissare der RSFSR am 16. August 1928 die Verordnung „Über die Maßnahmen zur Gewährleistung der Entwicklung des Genossenschaftswesens der Behinderten“.25 Die Verordnung verwies auf die Not20 21 22
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Dembskij, Kooperacija invalidov (Anm. 14), S. 21. Kooperacija invalidov Belorusskoj SSR, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 3–4 (1928), S. 25. Kooperacija invalidov RSFSR za 1924–1925 gg.: kratkij obzor dejatel’nosti pravlenija VIKO i sostojanija nizovoj seti [Das Behindertengenossenschaftswesen der RSFSR 1924–1925: Kurzer Überblick über die Tätigkeit des Vorstands des Allrussischen Behindertengenossenschaftsgesellschaft und die Situation an der Basis], Мoskau 1926, S. 25–38. Dembskij, Kooperacija invalidov (Anm. 14), S. 67–75. Pered novoj polosoj, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 2 (1928), S. 1–2. V. A. Alekseevskij, Kooperacija invalidov: sbornik zakonodatel’nych i vedomstvennych materialov [Das Behindertengenossenschaftswesen: Sammlung von Gesetzgebungs- und amtlichen
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wendigkeit der Befolgung der Regierungsverordnungen zu Fragen der Genossenschaften von Behinderten und stellte sie den üblichen Genossenschaften in vielen wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen gleich. Eine ähnliche Verordnung wurde auch von der Regierung der BSSR 1929 verabschiedet.26 Ein weiteres Problem war, dass sich der Staat von Anfang an in die Tätigkeit der Behindertengenossenschaften einmischte, was den Grundsätzen der genossenschaftlichen Demokratie widersprach. Die staatliche Kontrolle war in fast allen Bereichen zu spüren. Der Eintritt in die Behindertengenossenschaften war formell freiwillig, jedoch gab es Pläne und Anweisungen für Versorgungsbehörden und die Führung des Behindertengenossenschaftswesens hinsichtlich der Zahl der Behinderten, die den Genossenschaften beitraten, damit auf eine Rente verzichteten und somit staatliche Mittel einsparen sollten.27 Auf der anderen Seite musste man sich zunächst einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, wenn man als behinderter Mensch selbst der Genossenschaft beitreten wollte. Die Ärztekommission traf die Entscheidung, wo und wie die untersuchte behinderte Person angestellt werden könne und ob sie überhaupt das Recht habe, in einer Behindertengenossenschaft zu arbeiten.28 Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Behindertengenossenschaftswesens wurde maßgeblich durch die bolschewistische Politik eingeschränkt. Dies zeigt das Beispiel der Privathändler, mit denen die Behindertengenossenschaften nicht zusammenarbeiten durften. Die lokalen Behörden verabschiedeten mehrmals Verordnungen, die den Behindertengenossenschaften jede wirtschaftliche Zusammenarbeit mit privaten Händlern als „Klassenfeinden“ verboten, auch wenn es für das Genossenschaftswesen gewinnbringend gewesen wäre.29 In der BSSR wurde 1928 die Erteilung von Patenten für die Organisation von Lotterien an behinderte Menschen untersagt.30 Ebenfalls misstrauisch war die Regierung der BSSR gegenüber
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Materialien], Мoskau 1932, S. 15–16. Pastanova SNK BSSR ab zaсhadaсh da zabjas’pečan’nja raz’vіc’cja kaapėracyі іnvalіdaŭ, in: Kaapėracyja BSSR 8 (1929), S. 34–35. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der RSFSR vom 20.9.1924 über das Verfahren bei der Auszahlung staatlicher Renten, Gosudarstvennyj arсhiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. (= Fond) 478, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 3, L. (= List) [Blatt] 251–252; K pjatiletnemu planu razvitija kooperacii invalidov RSFSR. Kooperirovanie novych kadrov i social’naja baza, in: Kooperacija invalidov 4–5 (1929), S. 5; Zadači sistemy kooperacii invalidov vo vtorom pjatiletii, in: Kooperacija invalidov 13 (1932), S. 1–4. Direktivnoe pis’mo narkoma social’nogo obespečenija RSFSR M. Šaburovoj o porjadke raboty vračebno-trudovych ėkspertnych komissij, in: Kooperacija invalidov 8 (1938), S. 31–33. Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR vom 28.1.1928 über das Verbot des Ankaufs von Fleisch für Behindertenheime und -genossenschaften bei Privatunternehmern, GAMn, F. 477, O.1, D. 122, L. 5; Rundschreiben der Allrussischen Behindertengenossenschaftsgesellschaft vom 2.3.1929 über das Verbot des Handels von Behindertengenossenschaften mit Privatunternehmern, GAMn, F, 477, O. 1, D. 124, L. 1. Rundschreiben des NKVD der BSSR vom 28.1.1928 über das Verbot der Patentvergabe zur Organisation von Lotterien an Behinderte, GAMn, F. 477, O. 1, D. 122, L. 7.
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behinderten Hausierern, die auf diese Weise individuell Handel trieben.31 Offiziell wurde das mit dem Bestreben erklärt, die Verbreitung von Privateigentum bzw. „merkantilen“ Tendenzen im Behindertengenossenschaftswesen zu verhindern.32 Man glaubte, dass das relativ leicht verdiente Geld zur „Deklassierung“ der Behinderten und ihrer Wandlung zu Privathändlern führen werde. Damit lässt sich auch die sowjetische staatliche Politik der Einschränkung des Handels im Behindertengenossenschaftswesen und seine Umorientierung auf produzierende Tätigkeiten Ende der 1920er Jahre erklären.33 Charakteristische Merkmale der sowjetischen Behindertengenossenschaften in den 1920er Jahren waren einerseits eine hohe Fluktuation von Behinderten und häufige Selbstauflösungen der Genossenschaften andererseits. Viele behinderte Menschen arbeiteten aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und harten Arbeit nur für eine kurze Zeit. Der Allrussische Genossenschaftsverband der Behinderten gab 1928 zu: „Die Arbeitsbedingungen in Behindertengenossenschaften […] sind selbst für gesunde Menschen hart“.34 1925/26 lösten sich in der RSFSR 50 % aller Behindertengenossenschaften und 1926/27 weitere 30 % auf. Aus den noch verbliebenen Behindertengenossenschaften traten 1926/27 45 % aller Mitglieder aus.35 Zu Beginn des ersten stalinschen Fünfjahresplans (1929) erzielte das Behindertengenossenschaftswesen trotz aller ideologischen und bürokratischen Hindernisse gewisse wirtschaftliche Erfolge. 1929 arbeiteten in russischen Behindertengenossenschaften ca. 65.000 Menschen, von denen 80 % in Städten wohnten, 42 % Kriegsinvaliden waren, 43 Prozent Arbeitsbehinderte und 75 % der I., II. oder III. Invaliditätsgruppe angehörten. In der Produktion arbeiteten 35.000 Mitglieder der Behindertengenossenschaften, im Handel 27.000. Von allen genossenschaftlichen Systemen der UdSSR war das Genossenschaftswesen der Behinderten das kleinste: Sogar in der Genossenschaft der Fischer gab es zu dieser Zeit 80.000 Mitglieder.36 1927 betrug die durchschnittliche monatliche Rente der Kriegsinvaliden und Arbeitsbehinderten in der RSFSR zwischen 14 und 19 Rubel, das durchschnittliche Monatsgehalt eines behinderten Menschen in der Genossenschaft dagegen 69 Rubel.37 In der BSSR belief sich die Rente eines Kriegsinvaliden der II. Gruppe im 31 32 33 34 35 36 37
Rundschreiben des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR vom 22.3.1926 über die Notwendigkeit des Zusammenschlusses einzelner, über kostenlose Lizenzen Handel treibender Behinderter in Handelsgenossenschaften, GAMn, F. 478, D. 1, O. 38, L. 149–150. Nezdorovoe javlenie, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 2 (1928), S. 12; Nado izžit’ nezdorovyj uklon, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 1 (1929), S. 11. Novyj kurs. Nužna korennaja reorganizacija сhozjajstvennoj dejatel’nosti sistemy, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 10–11 (1929), S. 16–17. V. Slepcov (Hrsg.), Kooperacija invalidov RSFSR: obzor dejatel’nosti kooperacii invalidov v 1926–1927 gg. [Das Behindertengenossenschaftswesen der RSFSR: Überblick über die Tätigkeit des Behindertengenossenschaftswesens 1926–1927], Moskau 1928, S. 17. Postanovlenie kollegii NK RKI RSFSR „O kooperacii invalidov“, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 3 (1929), S. 11. Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 2), S. 14. Slepcov, Kooperacija invalidov (Anm. 34), S. 85.
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Januar 1928 auf 11 Rubel38, das durchschnittliche Monatsgehalt eines genossenschaftlich organisierten Behinderten auf ca. 50 Rubel.39 DIE ENTWICKLUNG DES BEHINDERTENGENOSSENSCHAFTSWESENS DER UDSSR 1929–1941 In der Entwicklung des Behindertengenossenschaftswesens gab es vor dem Krieg zwei wichtige Etappen: die 1920er und die 1930er Jahre, oder die Zeit vor und die Zeit nach der „Großen Wende“. 1929 erklärte die sowjetische Regierung die „Große Wende“ – eine Politik der beschleunigten Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft, und kündigte die Aufstellung einer starken und modernen Armee an. Diese anspruchsvollen Ziele erforderten die Mobilisierung aller Arbeitskräfte. Unter diesen Bedingungen wurden behinderte Menschen als wichtige Arbeitsressource gesehen und die Behindertengenossenschaften als die am besten geeignete Organisationsform, um diese Ressource ausnutzen zu können. Seit den späten 1920er Jahren wandelten sich die Behindertengenossenschaften von einer privaten Unternehmensform zu einem Bestandteil der sowjetischen Planwirtschaft. Auch die Aufgaben und Ziele der Behindertengenossenschaften änderten sich. Jetzt bestand deren Funktion nicht mehr in der Fürsorge für Behinderte, sondern in deren Beteiligung am Aufbau des Sozialismus. Der Bjulleten’ Vsekoopinsojuza veröffentlichte im Mai 1929 einen Leitartikel mit dem bezeichnenden Titel „An der Wende“.40 Die Ausgabe spiegelte die wichtigsten Aufgaben wider, die die Regierung dem Behindertengenossenschaftswesen zudachte. Die erste Aufgabe war es, die Vorgaben des ersten staatlichen Fünfjahresplans zu erfüllen, nach denen die Zahl der Mitglieder der Behindertengenossenschaften in der RSFSR zum Jahr 1933 150.000 Personen erreichen sollte, das heißt dreimal so viele wie 1928.41 Der Bruttoproduktionswert der Behindertengenossenschaften in der RSFSR sollte sich zum Ende des Fünfjahresplans vervierfacht haben – von 125 auf 500 Millionen Rubel. Die zweite Aufgabe betraf die Umorientierung der Behindertengenossenschaften auf die Produktionstätigkeit und den kleinen Einzelhandel mit Waren aus eigener Produktion.42 Behinderte durften Waren nur in Buden, Kiosken und Zelten verkaufen. Alle stationären Geschäfte, die der Behindertengenossenschaft gehörten, wurden anderen Arten von Genossenschaften übergeben, und behinderten Menschen, die in diesen Geschäften arbeiteten, wurde gekündigt.43 Die dritte Aufgabe lag in der Organisation des sozialistischen Wettbe38 39 40 41 42 43
Parady іnvalіdam, in: Belaruskaja vëska v. 15.1.1928, S. 4. Pomošč’ invalidam vojny, in: Rabočij v. 19.1.1928, S. 7. Na perelome, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 1. Kooperirovanie novyсh kadrov i social’naja baza, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 5. Proizvodstvo i melkorozničnuju torgovlju – na pervyj plan, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 15. Likvidiruem lavočnuju torgovlju, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 1 (1930), S. 9–10; Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 2), S. 13.
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werbs im Behindertengenossenschaftswesen, was die Arbeitsproduktivität erheblich steigern sollte.44 Die vierte Aufgabe war die „Säuberung“ des Behindertengenossenschaftswesens von so genannten „Schädlingen“ und „fremden Elementen“.45 Nach dem Beschluss des Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 23. April 1930 wurde die Oberaufsicht über die Behindertengenossenschaften den Volkskommissariaten für Sozialfürsorge der Unionsrepubliken übergeben. Mit Fragen ihrer Planung und der Regulierung ihrer Tätigkeit sollten sich ab diesem Zeitpunkt die Obersten Räte für Volkswirtschaft und die Volkskommissariate für Handel der jeweiligen Unionsrepubliken beschäftigen.46 Damit kam das Behindertengenossenschaftswesen seit 1930 als ein ökonomisches System unter die vollständige Kontrolle des Staates. Die Änderungen betrafen auch ideologische Bestimmungen. 1930 verabschiedete die Regierung der RSFSR eine Verordnung über das Genossenschaftswesen von Behinderten.47 In der Erklärung dazu, die in der Zeitschrift Kooperacija invalidov veröffentlicht wurde, hob man besonders hervor, dass ihr Hauptzweck jetzt die „Einbeziehung der behinderten Menschen in die Sache des sozialistischen Aufbaus“ sei und das frühere Hauptziel (Verbesserung der materiellen Lage der Behinderten) jetzt nicht mehr „das Ziel an sich“, sondern den höheren Aufgaben der Fünfjahrespläne Stalins untergeordnet sei. Damit wurden Behinderte praktisch aufgefordert, zugunsten des Staates auf die hohen genossenschaftlichen Löhne zu verzichten.48 Im September 1929 erließ das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der RSFSR ein Rundschreiben über die Regelung der Löhne in Behindertengenossenschaften.49 Hatten Genossenschaftsmitglieder früher ihre Löhne relativ zum Gewinn der Genossenschaft erhalten, so wurden jetzt feste Stundenlöhne eingeführt, die den Durchschnittslohn der jeweiligen Branche im Land nicht übersteigen durften. 1929 begann die „Massensäuberung“ der Genossenschaften von „klassenfremden“ behinderten Menschen.50 Es wurde proklamiert, dass „nach der Säuberung in unserem ganzen System kein einziger von den Bürgerrechten Ausgeschlossener bleiben soll“.51 Gerade mit der Anwesenheit der von den Bürgerrechten Ausgeschlossenen (lišency) (ehemalige Gutsbesitzer, Fabrikbesitzer, Offiziere der zaristischen Armee, Geistliche und andere Personen, denen das Wahlrecht entzogen worden war) erklärte die sowjetische Regierung offiziell die hohe Kaderfluktuation im Behindertengenossenschaftswesen und die große Zahl der aufgelösten Genossenschaften. Gleichzeitig wurde der Kampf gegen „negative“ Erscheinungen angekün44 45 46 47 48 49 50 51
Podnimem arteli na socialističeskoe sorevnovanie, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 17. Gonite čuždyсh ljudej iz artelej!, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 20. Alekseevskij, Kooperacija invalidov (Anm. 25), S. 8. Ebd., S. 8–14. Novoe položenie o kooperacii invalidov, in: Kooperacija invalidov 3 (1931), S. 15 f. Alekseevskij, Kooperacija invalidov (Anm. 25), S. 95–97. Gonite čuždyсh ljudej iz artelej!, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4–5 (1929), S. 20–22. Ustranim naši nedočety. Za general’nuju čistku rjadov kooperacii invalidov, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 2 (1929), S. 13.
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digt, zu denen eine aktive Handelstätigkeit der Behindertengenossenschaften und hohe Gehälter ihrer Mitglieder gezählt wurden. So erreichte beispielsweise das Monatsgehalt in einigen Behindertengenossenschaften in Moskau bis zu 300 Rubel, während in der Industrie das durchschnittliche Gehalt 65 Rubel betrug, im Handel 64 Rubel und im Behindertengenossenschaftswesen in der RSFSR 73 Rubel.52 Nazarov schätzt die Zahl der Ende 1929 bzw. Anfang 1930 „gesäuberten“ Mitglieder der russischen Behindertengenossenschaften auf 5 % der Gesamtanzahl, d. h. über 3.000 Menschen.53 1930 wurde in der Zeitschrift Bjulleten’ Vsekoopinsojuza eine neue Rubrik „Schwarze Liste“ eröffnet, in der Informationen über die Leiter des Behindertengenossenschaftswesens publiziert wurden, die „die Linie der Partei verzerrten“. Die „Säuberung“ der Genossenschaften von „klassenfremden“ behinderten Mitgliedern löste jedoch mitnichten die Probleme. 1934 traten den Genossenschaften 64.098 Menschen bei, während gleichzeitig 63.731 Menschen austraten, womit die Personalfluktuation 99 % erreichte.54 Der Leiter des Allrussischen Genossenschaftsverbandes der Behinderten, P. Provotorov, merkte 1939 in einem Vortrag auf dem 7. Kongress der Behindertengenossenschaften der RSFSR an, dass zwischen 1934 und 1939 320.000 Menschen aus diesen Genossenschaften ausgetreten waren.55 Die Ursachen der Massenkündigungen der Behinderten seien vor Ort weder untersucht noch bekämpft worden. In seinem Vortrag sagte aber auch er nichts über die Gründe dieses Phänomens und darüber, wie man dem entgegenwirken könne. Die Kaderfluktuation in den Behindertengenossenschaften blieb in den 1930er Jahren eines der wichtigsten Probleme,56 aber jetzt wurden in der Regel „Schädlinge“ dafür verantwortlich gemacht.57 Die wirtschaftliche Tätigkeit des Behindertengenossenschaftswesens in den 1930er Jahren entwickelte sich ziemlich erfolgreich dank Steuerermäßigungen und einer großen Nachfrage nach Massenkonsumgütern, die vor allem von behinderten Menschen hergestellt wurden.58 1934 wurde eine neue Verordnung über das Genossenschaftswesen der Behinderten verabschiedet, die ihnen mehr Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen gewährte als zuvor und einige Einschränkungen im Bereich des Handels aufhob.59 Gerade der Handel brachte nämlich den größten Teil 52 53 54 55 56 57 58 59
Vykorčevyvaem korni „malyševščiny“, korni pravogo uklona v moskovskoj sisteme, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 9 (1929), S. 7–8. Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 2), S. 15. Rešitel’no perestroit’ vsju rabotu kooperacii invalidov, in: Kooperacija invalidov 5 (1935), S. 4–7. Kooperacija invalidov RSFSR k svoemu 7 s”ezdu, in: Kooperacija invalidov 12 (1939), S. 8–16. Bystro i ėnergično naverstat’ upuščennoe, in: Kooperacija invalidov 2 (1938), S. 15–17. V arteljaсh Omskogo koopinsojuza ne zabotjatsja o ljudjaсh, in: Kooperacija invalidov 2 (1938), S. 27–28; Kooperacija invalidov RSFSR k svoemu 7 s”ezdu, in: ebd. 12 (1939), S. 8–16. Bol’še širpotreba, in: Kooperacija invalidov 5–6 (1932), S. 3; Vystavka produkcii kooperacii invalidov, in: ebd. 7 (1939), S. 16–17; Osvoenie novinok širpotreba, in: ebd. 1 (1940), S. 16; Michajlov, Kooperacija invalidov (Anm. 1), S. 35. Novoe položenie o kooperacii invalidov, in: Kooperacija invalidov 6 (1934), S. 29–30.
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des Gewinns der Behindertengenossenschaften, obwohl die Mehrheit der Behinderten bereits in der Produktion arbeitete. 1936 produzierten die Behindertengenossenschaften der RSFSR Waren im Wert von 775 Millionen Rubel, der Handel brachte 815 Millionen Rubel ein, Speisegaststätten dagegen nur 200 Millionen Rubel. 1938 waren es entsprechend 1061, 1163 und 171 Millionen Rubel.60 Im Jahr 1940 schließlich gab es in den Behindertengenossenschaften der RSFSR 232.000 Mitglieder.61 Das System der Behindertengenossenschaften der BSSR war im Vergleich zum russischen „zurückgeblieben“. Zum 1. Januar 1935 umfasste es 55 Genossenschaften mit 3.343 Mitgliedern, davon waren 2.468 Menschen behindert, von denen nur 86 blind und 90 gehörlos waren – und das, obwohl es nach Angaben der Leitung des weißrussischen Behindertengenossenschaftswesens in der BSSR bis zu 10.000 ausschließlich blinde Behinderte gab. Behindertengenossenschaften waren in nur 39 von 90 Rayons der BSSR aktiv. Die Gründe für diese ziemlich schwache Entwicklung waren nach wie vor die mangelnde staatliche Versorgung mit Rohstoffen und die mangelhafte Unterstützung seitens der staatlichen Organisationen, vor allem seitens des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR.62 1938 waren in der BSSR 6.125 Menschen in 83 Genossenschaften organisiert.63 Im Jahr 1940 schließlich existierten in der Republik mehr als 100 Behindertengenossenschaften, in denen mehr als 7000 Menschen arbeiteten.64 Die Repressionen der 1930er Jahre trafen die Genossenschaften der Behinderten weniger als die anderen Genossenschaften. Die sowjetische Presse, insbesondere die Zeitschrift Kooperacija invalidov, berichtete nicht über große „Entlarvungen“ von „Saboteuren“ und „Spionen“ im System des Behindertengenossenschaftswesens. Es ist zu vermuten, dass die Einschätzung der Behindertengenossenschaft als eine Organisation der Sozialfürsorge sie vor übermäßigen Säuberungen und Repressionen schützte. Wie Nazarov anmerkte, gelang es unter allen sowjetischen Genossenschaften allein den Behindertengenossenschaften, nach 1932 noch einen Kongress (1939) abzuhalten.65 Zu einer großen ideologischen Kampagne am Vorabend des deutschen Angriffs auf die UdSSR wurde die Mobilisierung aller Arbeitskräfte, einschließlich der Behinderten, die in Genossenschaften tätig waren. Anfang 1939 verabschiedete die sowjetische Regierung einen Erlass über die „Stärkung der Arbeitsdisziplin“ in Betrieben. Die Zeitschrift der Behindertengenossenschaften reagierte darauf sofort mit Berichten über die angeblich große Begeisterung über diese Maßnahme in ihren
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Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 2), S. 21. Kooperacija invalidov RSFSR k svoemu 7 s”ezdu, in: Kooperacija invalidov 12 (1939), S. 8–16. Kak rabotaet belorusskaja kooperacija invalidov, in: Kooperacija invalidov 6 (1935), S. 11–12. Vse vozmožnosti uveličenija vypuska širpotreba imejutsja, in: Kooperacija invalidov 9 (1938), S. 23. G. V. Filončik, Zabota – gosudarstvennaja, Minsk 1987, S. 43. Nazarov, Istorija promkooperacii (Anm. 2), S. 22.
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Kreisen.66 1940 verabschiedete die Regierung eine Reihe von Erlassen: Das Fernbleiben von der Arbeit und verspätetes Erscheinen wurden strafrechtlich verboten, außerdem wurde die 56stündige Arbeitswoche eingeführt, unter anderem auch im Behindertengenossenschaftswesen. Die Zeitschrift Kooperacija invalidov publizierte wieder Berichte über die große Bereitschaft der Behinderten, diese Gesetze zu befolgen und aktiv für das Wohl des Sozialismus zu arbeiten.67 Es wurden auch Artikel über drastische Strafen veröffentlicht, die bei mangelnder Arbeitsdisziplin und für das Herstellen fehlerhafter Produkte drohten.68 Ebenso gab es Meldungen darüber, wie Betroffene zur Verantwortung gezogen wurden: Im Oktober 1940 wurde ein Artikel über den Direktor der Limonadenfabrik der Gehörlosen-Gesellschaft in Batumi (Georgien) veröffentlicht, der wegen eines zu geringen Anteils an Zucker in der Limonade zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.69 Leider findet man in den ausgewerteten Quellen keine Informationen darüber, wie die behinderten Menschen der UdSSR diese Mobilisierungsgesetze tatsächlich wahrnahmen. DIE INTERNATIONALE TÄTIGKEIT DES SOWJETISCHEN BEHINDERTENGENOSSENSCHAFTSWESENS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Die Zusammenarbeit der sowjetischen Genossenschaft mit dem Internationalen Genossenschaftsbund (International Co-operative Association, ICA), der die Entwicklung der Genossenschaften in der Welt förderte, begann erst einige Jahre nach der Gründung des Genossenschaftswesens in der UdSSR. Dies lag daran, dass sich die 1895 gegründete ICA lange weigerte, das sowjetische Genossenschaftswesen anzuerkennen, weil es seiner Auffassung nach nicht unabhängig vom Staat und damit keine freiwillige und politisch neutrale Vereinigung von Bürgern war.70 Eine ähnliche Situation war auch in Bezug auf das Genossenschaftswesen der Behinderten zu beobachten. Erst 1927 auf dem Kongress in Brüssel wurde der Allrussische Genossenschaftsverband der Behinderten (Vsekoopinsojuz) als Mitglied der „Internationalen der Kriegsopfer und ehemaligen Frontkämpfer“ (Internationale des Anciens Combattants et Victimes de la Guerre, IAC) aufgenommen. Die IAC war 1920 in Genf durch den französischen kommunistischen Schriftsteller Henri Barbusse gegründet worden. Ihre Aufgabe war der „Kampf gegen den Krieg“.71 Bezeichnen66 67 68 69 70 71
Rabotat’ polnyj rabočij den’, Postanovlenie otvečaet našim želanijam, Ešče bol’še budem ukrepljat’ mošč’ našej Rodiny, in: Kooperacija invalidov 1 (1939), S. 8–10. Na blago Rodiny, in: Kooperacija invalidov 6 (1940), S. 5; Za železnuju disciplinu truda!, in: ebd. 8–9 (1940), S. 18–19. Dezorganizatorov proizvodstva – k otvetu!, in: Kooperacija invalidov 7 (1940), S. 27; Bespoščadno karat’ dezorganizatorov proizvodstva, in: ebd. 10 (1940), S. 3–4. Brakodel polučil po zaslugam, in: Kooperacija invalidov 10 (1940), S. 31. Mіžnarodny koopėracyjny sajuz і koopėracyja BSSR, in: Koopėracyjnae žyc’cë 10 (1926), S. 3–4; Pėŭzner u. Cellarius, Kooperativnaja chrestomatija (Anm. 4), S. 591–594; Social’noe obespečenie v RSFSR (Anm. 15), S. 73. Desjat’ let bor’by, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 6 (1930), S. 23–24.
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derweise trat das sowjetische Behindertengenossenschaftswesen gerade der prokommunistischen IAC bei. Im Rahmen des Völkerbundes war bei der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf 1924 auf Initiative des Franzosen René Cassin eine internationale Organisation ähnlicher Art gegründet worden: die auf gemeinsame Arbeit aller ehemaligen Kriegsgegner zielende CIAMAC (Conférence Internationale des Associations de Mutilés et Anciens Combattants).72 Aber auf den Seiten der Zeitschrift Kooperacija invalidov wurde sie als „eine internationale Organisation von Behinderten, in der die Führung zu kompromisslerischen und faschistischen Elementen gehört“ beschrieben.73 Die Zusammenarbeit des Vsekoopinsojuz und der IAC war von Widersprüchen geprägt. Die Tätigkeit des Vsekoopinsojuz auf der internationalen Bühne bestand ausschließlich im Lob der Errungenschaften der Sowjetunion und in Anti-Kriegsund Revolutions-Propaganda. 1929 sprach der Sekretär des Exekutivkomitees der IAC Hans Richter in der westlichen Presse einige für die Führung des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens unangenehme Fragen an. Richter bemerkte, dass westliche Delegationen von Kriegsveteranen und -versehrten während ihrer Reise in die UdSSR Postadressen mit Mitgliedern der sowjetischen Behindertengenossenschaften ausgetauscht hätten. Der Zweck dieser Delegationen sei u. a. die Aufnahme enger Beziehungen mit sowjetischen behinderten Menschen gewesen. Doch blieben alle Briefe der westlichen Behinderten und Veteranen an behinderte Menschen in der UdSSR ohne Antwort. Richter fragte zwar nicht nach den Gründen, aber es ist offensichtlich, dass die Briefe aus Europa ihre Adressaten einfach nicht erreichten oder die Antworten der sowjetischen Behinderten abgefangen wurden. Die sowjetische Regierung und ihre Sicherheitskräfte kontrollierten alle Kontakte mit dem Westen streng. Richter äußerte, wenn auch zurückhaltend, sein Missfallen darüber, dass die Führung der sowjetischen Behindertengenossenschaft trotz ihrer Versprechen nichts für die Verbreitung internationaler IAC-Mitgliedsbücher unter den sowjetischen Behinderten tue. Er stellte fest, dass der IAC unter den sowjetischen Behinderten so gut wie unbekannt bleibe, deswegen scheitere die vollwertige Zusammenarbeit der Behinderten Europas und der Sowjetunion.74 Bezeichnenderweise wurden in den Publikationen der sowjetischen Presse alle Kritikpunkte Richters de facto zugegeben. So wurde festgestellt, dass 1929 die Beziehungen zwischen der IAC und dem Vsekoopinsojuz nur auf der Führungsebene existierten. Einfache sowjetische Behinderte wussten nichts über die IAC, auch wenn sie ihre Mitgliedsbeiträge bezahlten. In der UdSSR gab es bis Anfang der 1930er Jahre keinerlei russischsprachige Literatur über die IAC.75 Bereits im Sommer 1930 wurde aber Richter, vermutlich nicht ohne aktive Beteiligung der UdSSR, des Amtes als Sekretär der IAC enthoben. In der sowjetischen Presse wurde er als „Opportunist“ und „Verräter“ verunglimpft, der dem politischen Kampf den Kampf 72 73 74 75
Internacional žertv vojny (IAS) i ego zadači, in: Kooperacija invalidov 7 (1932), S. 15–17. SIAMAK i podgotovka vojny, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 10–11 (1929), S. 27–28; Internacional žertv vojny (IAS) i ego zadači, in: Kooperacija invalidov 7 (1932), S. 15–17. Čto trebuet IAC ot russkiсh invalidov, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 1 (1929), S. 13–15. Vnimanie voprosam internacional’noj svjazi, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 2 (1929), S. 17.
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für „materielle Interessen der Behinderten“ vorgezogen habe.76 Die Leitung der IAC wurde „kompromisslerischer Haltungen“ beschuldigt.77 Nach Meinung der sowjetischen Presse habe die IAC der Revolutions- und Anti-Kriegs-Propaganda nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, das heißt genau jenen Tätigkeiten, mit denen sich der Vsekoopinsojuz auf der internationalen Bühne am aktivsten befasste.781934 wurden in der Zeitschrift Kooperacija invalidov einige Artikel über die IAC veröffentlicht, die die internationale Arbeit im sowjetischen Behindertengenossenschaftswesen veranschaulichten. Es ging darin um die Notwendigkeit, die Basisorganisationen der sowjetischen IAC-Abteilung zu institutionalisieren und entsprechend eine Satzung zu entwerfen. Dies zeigt, dass in den vorangegangenen Jahren in dieser Hinsicht keinerlei Fortschritte gemacht worden waren. Unter den im Bereich der internationalen Arbeit besonders mangelhaft entwickelten Genossenschaften wurde übrigens auch die weißrussische Behindertengenossenschaft erwähnt.79 Offensichtlich war die extrem geringe Beteiligung der breiten Masse der sowjetischen Behinderten an internationalen Aktivitäten mit dem mangelnden Interesse der sowjetischen Führung zu erklären. Eine reale und enge Zusammenarbeit sowjetischer Behinderter mit Behinderten in Europa war von den Bolschewiki weder gewollt noch geplant. Die internationalen Beziehungen des Vsekoopinsojuz wurden ausschließlich als Chance für die Propaganda im Westen gesehen und die IAC diente lediglich als Deckmantel. Dabei hingen die Schwankungen der internationalen Aktivitäten des Vsekoopinsojuz offensichtlich mit den Veränderungen in der Außenpolitik der sowjetischen Regierung zusammen. Das rein propagandistische Interesse der sowjetischen Führung an der Zusammenarbeit mit westlichen Behindertenorganisationen wird auch am Beispiel von Publikationen der Zeitschrift Kooperacija invalidov von 1929 deutlich. Im Sommer dieses Jahres kam es im Fernen Osten zum bewaffneten Konflikt zwischen der Sowjetunion und China. Die sowjetische Führung befürchtete, dass sich die Westmächte zugunsten Chinas einmischen könnten. So wurden in dieser Zeit Artikel mit emotionsgeladenen Appellen veröffentlicht, die internationalen Beziehungen zwischen behinderten Menschen der UdSSR und des Westens zu stärken; internationale Behindertenorganisationen wurden aufgerufen, gegen den Krieg zu kämpfen.80 Die August-Ausgabe des Bjulleten’ Vsekoopinsojuza erschien unter den Leitsätzen „Wir wollen die Initiative der Kriegsinvaliden des Westens zum Kampfe gegen den neuen imperialistischen Krieg und den Krieg gegen die Sowjetunion aufrütteln!“81 und „Wir wollen unseren Verpflichtungen gegenüber der Internationalen der Kriegsopfer und Frontkämpfer 76 77 78 79 80 81
Položenie IAC i predatel’stvo Riсhtera, in: Kooperacija invalidov 7 (1931), S. 12. Itogi rasširennogo plenuma IAC, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 9 (1930), S. 22–23. Položenie IAC i predatel’stvo Riсhtera, in: Kooperacija invalidov 7 (1931), S. 12. O novyсh formaсh raboty s IAC, in: Kooperacija invalidov 2 (1934), S. 33; Ser’ezno i vdumčivo provedem vybory upolnomočennyсh IAC, in: ebd. 5 (1934), S. 31; 1 avgusta – antivoennyj proletarskij den’, in: ebd. 7 (1934), S. 29–30. Vojna imperialističeskoj vojne!, Ukrepim internacional’nye svjazi, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 7 (1929), S. 1–3; Bolee čem kogda-libo bud’te načeku!, in: ebd. 9 (1929), S. 16. Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 7 (1929), S. 5.
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nachkommen und die internationalistische Erziehung unter den genossenschaftlich organisierten Massen der Behinderten stärken!“82 Aber als später offensichtlich wurde, dass der Westen nicht in den Konflikt eingreifen würde, verschwanden solche internationalen Aufrufe schnell wieder aus dem Periodikum. Nach 1936 wurden kaum noch Artikel über die Tätigkeit der ausländischen sozialdemokratischen und kommunistischen Behindertenorganisationen publiziert. In der Presse wurde auch die Frage nach der Beteiligung sowjetischer Behindertenorganisationen an der internationalen Antikriegsbewegung nicht mehr thematisiert. ZUSAMMENFASSUNG Zu Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges konnte das Behindertengenossenschaftswesen in der UdSSR erhebliche wirtschaftliche Erfolge vorweisen. 1940 hatten die Behindertengenossenschaften der RSFSR 232.000 Mitglieder. Der Wert der jährlich produzierten Waren lag bei über einer Milliarde Rubel. Gleichzeitig gab es in der RSFSR aber offiziell 290.000 arbeitslose Behinderte allein in der III. Invaliditätsgruppe.83 Das sowjetische Behindertengenossenschaftswesen sah sich mit folgenden Problemen konfrontiert: Einem niedrigen Organisations- und Mechanisierungsgrad der Arbeit, einer mangelhaften, den Bedürfnissen behinderter Menschen kaum angepassten Transport- und Industrie-Infrastruktur und schlechten Arbeitsbedingungen. Das alles verhinderte die Heranziehung der Arbeitskraft von Menschen mit schweren Behinderungen (nach sowjetischer Terminologie „Invaliden der I. und II. Invaliditätsgruppe“) im sowjetischen Behindertengenossenschaftswesen. Die Mehrheit der arbeitsfähigen behinderten Menschen war vor dem Krieg nicht mit einbezogen. Dies wurde neben den genannten Problemen auch durch die Mängel der sowjetischen Gesetzgebung in diesem Bereich verhindert, durch das schlecht organisierte Ausbildungs- und Beschäftigungssystem für behinderte Menschen und durch die allgemeine Schwerfälligkeit der sowjetischen Verwaltung. Die Beschäftigung von Menschen mit schweren Behinderungen (etwa von blinden und gehörlosen Arbeitern) in Genossenschaften war die Ausnahme. Ein Musterbeispiel hierfür war das ĖMOS-Werk in Moskau („Elektromechanische Vereinigung von Blinden“), das elektrische Motoren und Ventilatoren herstellte. Aber es gab nur sehr wenige solcher Betriebe.84 Menschen mit Behinderungen hätten sich besser und erfolgreicher in genossenschaftlichen Handelsunternehmen organisieren können, aber eine solche Form des Genossenschaftswesens wurde von der sowjetischen Regierung aus ideologischen Gründen abgelehnt.
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Ebd., S. 11. Kooperacija invalidov RSFSR k svoemu 7 s“ezdu, in: Kooperacija invalidov 12 (1939), S. 8–16. Slepeckaja artel’ ĖMOS – krasnoznamennaja, in: Kooperacija invalidov 8 (1934), S. 14–15; Vozvraščennye k žizni, in: ebd. 1 (1938), S. 22–24.
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In der Entwicklung der Genossenschaften der Behinderten gab es vor dem Krieg zwei wichtige Etappen: die 1920er und die 1930er Jahre, oder die Zeit vor und die nach der „Großen Wende“. In den 1920er Jahren sollte das sowjetische Behindertengenossenschaftswesen nach dem Konzept ihrer Initiatoren zwei Probleme lösen: eine annehmbare Lebensqualität für Menschen mit Behinderungen gewährleisten und sie durch Arbeit in den Aufbau des Sozialismus einbeziehen. In dieser Zeit wurde das Behindertengenossenschaftswesen in der UdSSR als eine Form der Behindertenfürsorge und nicht als eine Unternehmensform verstanden. In den 1930er Jahren wurden behinderte Menschen im Rahmen der Mobilisierung aller Arbeitskräfte als wichtige Arbeitskraftressource gesehen. Das Behindertengenossenschaftswesen wandelte sich von einer Form der Sozialfürsorge zu einem Bestandteil der sowjetischen Planwirtschaft. Es wurde offiziell erklärt, dass die Hauptaufgabe jetzt nicht mehr die Fürsorge für Behinderte sei, sondern deren Beteiligung am Aufbau des Sozialismus durch selbstlose Arbeit zum Wohle des sozialistischen Vaterlandes. Die Entwicklung des Behindertengenossenschaftswesens blieb in der BSSR von Anfang an hinter dem Sowjetrusslands und der Sowjetukraine zurück. Die Führung des weißrussischen Behindertengenossenschaftswesens wies vor dem Krieg auch ständig auf die mangelnde wirtschaftliche und organisatorische Unterstützung seitens der weißrussischen Regierung hin. Das sowjetische Behindertengenossenschaftswesen war trotz seiner Widersprüche ein einzigartiges Beispiel in der Geschichte der Genossenschaftsbewegung und Sozialfürsorge in der ganzen Welt. Eine solch massive und zielgerichtete Beschäftigung von behinderten Menschen in verschiedenen Bereichen der Produktion und des Handels wurde durch die Politik der sowjetischen Regierung ermöglicht, die ihrerseits durch sowohl wirtschaftliche wie ideologische Überlegungen motiviert war. Teil dieser Politik war auch die Zusammenarbeit des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens mit internationalen Organisationen der Kriegsinvaliden und -veteranen. Dabei muss jedoch betont werden, dass die Mitgliedschaft in internationalen Behindertenorganisationen von der sowjetischen Führung ausschließlich für die Verbreitung kommunistischer Propaganda genutzt wurde. Übersetzung: Elizaveta Slepovitch und Dr. Elena Tregubova
PSYCHIATRIEWESEN IN VICEBSK VOR UND NACH DER OKTOBERREVOLUTION Viktoria Latysheva Die Entwicklung des Psychiatriewesens in Weißrussland im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist bislang kaum erforscht. Diese Forschungslücke versucht die vorliegende Fallstudie zu schließen. Sie beschäftigt sich mit der ostweißrussischen Stadt Vicebsk und insbesondere mit der Entstehung der in den weißrussischen Gebieten ersten psychiatrischen Abteilung im Gouvernement-Krankenhaus von Vicebsk vor dem Ersten Weltkrieg. Die Geschichte dieser Abteilung im Ersten Weltkrieg und die Gründung der speziellen psychiatrischen Klinik (1921) werden beleuchtet. Ein Ausblick geht auf das Schicksal psychisch kranker Menschen in Vicebsk nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR ein. Hier zeigt das Beispiel Vicebsk, wie schwierig eine genaue Rekonstruktion der Morde an bestimmten Orten sein kann. In manchen Fällen erscheint sie – jedenfalls im Rahmen der breit gestreuten Quellenbestände, die für dieses Projekt ausgewertet werden konnten – weitgehend aussichtslos. DAS PSYCHIATRIEWESEN IN VICEBSK VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Nach den polnischen Teilungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gehörten die Gebiete der heutigen Republik Belarus zum Russischen Zarenreich. Mit der psychiatrischen Fürsorge befassten sich in diesem Staat sowohl kirchliche als auch staatliche Institutionen – die von Katharina II. 1775 ins Leben gerufenen Ämter der gesellschaftlichen Fürsorge – sowie private Wohltätigkeitsorganisationen. In Vicebsk nahm das Amt der gesellschaftlichen Fürsorge seine Tätigkeit 1802 auf. Es betreute auch das Gouvernement-Krankenhaus, in dem 1843 eine psychiatrische Abteilung mit zunächst insgesamt sechs Betten eröffnet wurde.1 Die Abteilung, die sich im Laufe der Zeit vergrößert hatte, befand sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges in einer schwierigen Situation: Die Psychiatrie war überfüllt und die Einrichtung einer speziellen psychiatrischen Klinik im Raum Vicebsk wurde diskutiert. Eine außerhalb der Stadt auf einem gepachteten Gut eröffnete Außenstelle der Abteilung konnte die Lage nicht entscheidend verbessern. Die 1
Siehe hierzu einen Bericht, der 1844 in der Gesundheitsverwaltung der Stadt Vicebsk vorgestellt wurde. Nacional’nyj istoričeskij archiv Respubliki Belarus’ [Historisches Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NIAB), F. (= Fond) 2513, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 1050, L. (= List) [Blatt] 7.
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von den Vicebsker Psychiatern entworfenen Erweiterungspläne konnten aufgrund des Kriegsausbruchs nicht umgesetzt werden.2 Mit den bescheidenen finanziellen Mitteln, die der Abteilung zur Verfügung standen, ließ sich eine qualifizierte Behandlung der Patienten nicht gewährleisten – die staatliche Unterstützung und die privaten Spenden reichten dafür nicht aus. Zudem waren die medizinischen Leistungen entgeltlich und für viele Kranke unerschwinglich.3 Nach dem Kriegsbeginn 1914 verschärfte sich die Situation im Psychiatriewesen in Vicebsk zusätzlich. Die allgemeine wirtschaftliche Lage und insbesondere die Lebensmittelversorgung verschlechterten sich in der Frontstadt dramatisch. Diese Tatsache, gepaart mit dem für Russland zunehmend unerfreulichen Kriegsverlauf, traumatisierte die Bevölkerung und führte zum rasanten Anstieg psychischer Erkrankungen unter Zivilisten und Militärangehörigen. Die Zivilisten, die sich in der psychiatrischen Abteilung behandeln ließen, stammten sowohl aus dem Raum Vicebsk selbst als auch aus den westlichen Gouvernements des Zarenreiches. Dabei handelte es sich um zahlreiche Flüchtlinge, die – von der zaristischen Armee aus den Gebieten, denen die deutsche Okkupation drohte, zwangsweise evakuiert – ihr Zuhause und ihre Habseligkeiten verloren hatten, sich in einer fremden Umgebung nicht zurechtfinden konnten und aus diesem Grund psychisch krank wurden.4 Bemerkenswert ist, dass die Patienten der psychiatrischen Einrichtungen aus den besetzten Gebieten (etwa Wilna) nach Vicebsk evakuiert und in der dortigen Psychiatrieabteilung untergebracht wurden.5 Im Gegensatz zur Sowjetmacht nach dem deutschen Überfall 1941 ließ die zaristische Regierung die Kranken nicht im Stich, obgleich ihre physische Existenz nicht – wie unter der nationalsozialistischen Okkupation weniger als drei Jahrzehnte später – in Gefahr war. In Bezug auf psychisch kranke Militärangehörige ist zu betonen, dass diese Patientengruppe in der Regel besser als Zivilisten versorgt wurde, denn man hoffte auf ihre schnelle Heilung und die damit verbundene Rückkehr an die Front.6 Eine besondere Patientengruppe stellten Ausländer dar: Einzelne österreichische Kriegsgefangene, die in der Abteilung behandelt wurden, ebenso wie eine Französin, die sich aus unbekannten Gründen in Vicebsk aufhielt. Sie war 1918 in
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Vgl. Doklady Vitebskoj gubernskoj zemskoj upravy gubernskomu zemskomu sobraniju, Vicebsk 1912, S. 2 f. ; Berichte, die in der Beratung von Vertretern der Abteilung Volksgesundheit am 15.–18.9. 1918 vorgetragen wurden. Gosudarstvennyj archiv Vitebskoj olbasti [Staatsarchiv des Gebiets Vicebsk] (nachfolgend GAVt), F. (= Fond) 64, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 9, L. (= List) [Blatt] 51, 51ob. Vgl. Bericht über den Zustand der Abteilung Psychiatrie in Vicebsk [1918], GAVt, F. 64, O. 1, D. 4, L. 61, 62. Vgl. Berichte, die in der Beratung von Vertretern der Abteilung Volksgesundheit am 15.–18. September 1918 vorgetragen wurden (Anm. 2), L. 52 ob. Vgl. ebd., L. 53. Vgl. Schreiben des Leiters der Heilunterabteilung an den Leiter der 173. Evakuierungsstelle [1920] GAVt, F. 64, O. 1, D. 343, L. 2, 3.
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die Abteilung aufgenommen worden und starb kurz danach, worauf ihre Habseligkeiten versteigert wurden, um die Behandlungskosten zu decken.7 EINRICHTUNG DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK In ihrer Sorge um die Situation in der Psychiatrieabteilung stellte die Abteilungsleitung 1917 in einem Bericht resigniert fest, dass „auf eine Abnahme der Fälle […] keine Hoffnung“ bestehe. „Im Gegenteil wird sich ihre Anzahl jedes Jahr vergrößern. Ein solch großes Ereignis von Weltbedeutung wie der aktuelle Krieg, der alle Lebensbereiche erschüttert, wird ohne Zweifel eine Steigerung der Anzahl von Geisteskranken bewirken“.8 Diese Prognose sollte sich schon bald bewahrheiten: 1917 wurden in der psychiatrischen Abteilung insgesamt 1.831 und ein Jahr später bereits 3.723 Patienten behandelt.9 Unter diesen Umständen versuchten die Mediziner, möglichst viele Kranke nach Hause zu entlassen und ihre Versorgung ihren Familienangehörigen zu überlassen. Diese umstrittene Maßnahme wurde mit dem Verweis auf eine familiäre Umgebung begründet, die den „Zustand der Geisteskranken effizient und positiv beeinflussen“ werde. Die Stadtverwaltung erklärte sich bereit, diejenigen Familien, die sich selbst um ihre geisteskranken Angehörigen kümmerten, finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig wollten die Mediziner ihre ehemaligen Patienten nicht ihrem Schicksal überlassen: Im Falle der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes oder einer schlechten Behandlung durch ihre Familienangehörigen sollten die Kranken sofort wieder in die psychiatrische Abteilung überführt werden. Auf diese Weise verließen insgesamt 100 von etwa 360 Psychiatriepatienten die Einrichtung. Weitere 42 Kranke wurden in die Psychiatrie der Stadt Slov”jan’sk (Gouvernement Charkiv) überwiesen.10 Diese Maßnahmen hatten in der von der turbulenten Kriegsepoche stark gezeichneten Stadt jedoch nur eine kurzfristige Wirkung. Bereits im Herbst 1918 wollte man die überfüllte psychiatrische Abteilung erneut entlasten, indem ein Teil der Patienten nach Smolensk und Moskau verbracht werden, die „Schwerkranken“ aber in Vicebsk bleiben sollten. Es ist unbekannt, ob diese Pläne tatsächlich verwirklicht wurden.11 Die Tatsache, dass ein Zehntel der Patienten aus der Abteilung im April 1919 einen provisorischen Unterschlupf in einem Vicebsker Behindertenheim fanden, bald jedoch – nachdem ihre medizinische Versorgung dort nicht mehr
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Vgl. Register der Abteilung Volksgesundheit des Gebietsexekutivkomitees Vicebsk (18.9.1918), GAVt, F. 64. O. 1, D. 4, L. 132, 132ob. GAVt, F. 64. O. 1, D. 4, L. 137ob. Vgl. Berichte 15.–18.9.1918 (Anm. 2), L. 49, 49ob. Vgl. ebd., L: 51; Abteilung für gesellschaftliche Fürsorge, Bericht über die Betreuung von Kranken in Familien (1917), GAVt, F. 64, O. 1, D. 4, L. 134, 134ob. Berichte 15.–18.9.1918 (Anm. 2), L. 54; Protokoll der Beratung von Ärzten mit dem Leiter des Roten Kreuzes in der Westkommune, F. Ja. Il’ičëv am 20.9.1918, GAVt, F. 64, O. 1, D. 9, L. 20.
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gewährleistet werden konnte – ins Gouvernement-Krankenhaus rückverlegt wurden,12 spricht eher dagegen. Bereits 1917 vertraten sowohl die Mediziner als auch die Gesundheitsfunktionäre der Stadt übereinstimmend die Ansicht, eine große spezialisierte psychiatrische Klinik mit 400 Betten sei in Vicebsk unbedingt vonnöten.13 Die Klinik wurde nach dem Ende des polnisch-sowjetischen Krieges 1921 eröffnet. Die neue Psychiatrie musste eine Reihe akuter Probleme bewältigen: Überbelegung der Anstalt, Personalknappheit sowie Mangel an Medikamenten, Ausrüstung, Kleidung, Bettwäsche und Lebensmitteln. Bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurden jedoch mehrere bemerkenswerte Erfolge erzielt: Die Psychiatrie zog in ein renoviertes Gebäude in der Krankenhaus-Straße. Etwa 1000 Patienten (und nicht 400, wie ursprünglich geplant) wurden in den Männer-, Frauen- und Kinderabteilungen untergebracht und von vier Ärzten betreut. Die Anstalt erwarb eine moderne medizinische Ausrüstung und wendete eine breite Palette von Therapien (Elektrotherapie, Physiotherapie, Massage, Bäder) sowie insbesondere die in der UdSSR stark verbreitete Arbeitstherapie an. Zu diesem Zweck wurden eine Tischlerei und eine Näherei in der Anstalt eingerichtet, die sowohl für das Krankenhaus als auch für die Stadt produzierten. Oftmals wurden die Kranken auch entlohnt.14 Die Klinik, die ab 1924 der Psychiater I. L. Genkin leitete, galt als die beste psychiatrische Einrichtung Sowjetweißrusslands.15 Die für das weißrussische Gesundheitswesen der Zwischenkriegszeit charakteristischen Schwierigkeiten im Bereich der Lebensmittel-, Kleidungs- und Bettwäscheversorgung wurden allerdings auch in dieser Anstalt nicht behoben und blieben noch in den späten1930er Jahren weiter aktuell.16 Bemerkenswert ist, dass die Klinik großen Wert auf die Heilung psychisch kranker Kinder legte. Für geistig behinderte Kinder wurde in Vicebsk noch 1919 ein spezielles Internat eröffnet, das sechs Jahre später zum „Weißrussischen Institut für geistig behinderte Kinder“ ausgebaut wurde.17 In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich Vicebsk damit zu einem wichtigen Zentrum der Psychiatrie in Sowjetweißrussland. Die Klinik, das „Weißrussische 12
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Vgl. Schreiben des Arztes Kantorovič an die Vicebsker Gouvernementsabteilung der BauernArbeiter-Inspektion v. 4.5.1920, GAVt, F. 64, O. 1, D. 537, L. 188; Schreiben der Vicebsker Gouvernementsabteilung für soziale Versorgung an den Arzt Kantorovič [April 1920], GAVt, F. 64, O. 1, D. 537, L. 189–192. Vgl. Berichte der Abteilung für soziale Versorgung über die Situation von psychisch Kranken, GAVt, F. 64, O. 1, D. 4, L. 139, 144. Vgl. Berichte über die Situation in der Psychiatrie und deren Ausgaben (1922), GAVt, F. 64, O. 1, D. 484, L. 15–17. Vgl. Lilija. A. Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Konec XVIII veka – 1960 g.), Minsk 1970, S. 168. Vgl. Bericht des Sektorleiters Psychiatrie des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR, Rapoport, an den stellvertretenden Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR, Propper-Geraščenkov (vor September 1937), Staatsarchiv der Russischen Föderation (nachfolgend GARF), F. 8009p, O. 5, D. 50, L. 7, 7ob. Vgl. Gosudarstvennoe učreždenie obrazovanija „Vspomogatel’naja škola № 26 goroda Vitebska“. Istorija školy, http://special-school-26.oct-vit-roo.by/?page=history-school (25.3.2015).
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Institut für geistig behinderte Kinder“ und die 1934 eröffnete medizinische Hochschule mit einem Lehrstuhl für Psychiatrie (Lehrstuhlinhaber Professor Aleksej A. Smirnov) und einer ihm unterstellten Psychiatrieabteilung im Gebietskrankenhaus „11. Tag der Sowjets“ (120 Betten) trugen entscheidend dazu bei.18 PATIENTENMORDE IN VICEBSK Während die Ermordung der Juden und weitere NS-Verbrechen im Raum Vicebsk inzwischen eingehend erforscht sind, blieb das Schicksal der Psychiatriepatienten aus der Stadt lange Zeit unbekannt. Eine von der weißrussischen Medizinhistorikerin Lilija A. Kostejko aufgespürte Quelle beleuchtet dieses Kapitel der nationalsozialistischen Herrschaft in Vicebsk. Es handelt sich um die Nachkriegsvernehmung des ehemaligen Chefarztes der Vicebsker Psychiatrie Genkin durch die sowjetische Staatsanwaltschaft. Der Mediziner berichtete, dass die Psychiatriepatienten des Gebietskrankenhauses bereits in der Anfangsphase des Krieges ermordet worden seien. Federführend für den Massenmord sei ein deutscher Arzt gewesen, der die Kranken nach und nach durch Scopolamin- und Strychnin-Injektionen eigenhändig getötet habe. Die Patienten, welche die Absicht des Mediziners begriffen und Widerstand geleistet hätten, seien von den aufgebrachten „Deutschen“ mit Stöcken bis zum Tode niedergeknüppelt worden. Die noch am Leben gebliebenen Insassen seien mit Scopolamin und Strychnin vergiftet worden.19 Die im Rahmen dieses Beitrages zugängliche Quellengrundlage macht trotz der Evidenz der grauenhaften Ereignisse die Interpretation schwierig. Welche Ziele – Vernichtung „nutzloser Esser“, Beschlagnahmung des Gebäudes, medizinische Experimente – verfolgten die Besatzer? Welche deutsche Einheit hat in der Klinik gewütet? Wirkten die deutsche Militärverwaltung und die einheimische Stadtverwaltung bei den Mordaktionen mit? Welche Rolle spielte das einheimische medizinische Personal? Was passierte mit geistig behinderten Kindern und Psychiatriepatienten des Gebietskrankenhauses? Diese Fragen bleiben trotz breiter Forschung in den weißrussischen Archiven ohne Antwort. Unbekannt ist auch die Zahl der Opfer des nationalsozialistischen Psychiatriemordes in Vicebsk. Berücksichtigt man die Tatsachen, dass die Anstalt Ende 1940 insgesamt 739 Patienten hatte20 und dass die Kranken nicht evakuiert worden waren, obgleich die Sowjets bis zur Besetzung der Stadt am 11. Juli genügend Zeit für die Evakuierung gehabt hätten, kann davon ausgegangen werden, dass Hunderte von psychisch kranken Menschen in Vicebsk in der zweiten Jahreshälfte 1941 ums Leben kamen.
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Vgl. Jaŭhen A. Klimjancënak, Medycina i achova zdaroŭja ŭ Vicebsku ŭ 1917–1941 hh., in: Artur I. Pacjajun (Hrsg.), Pamjac: Chist.-dak. chronika Vicebska, Bd. 2, Minsk 2003, S. 268. Vgl. Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Anm. 15), S. 234. Vgl. Angaben des Volkskommissariats der UdSSR für Gesundheitswesen über die Vicebsker Psychiatrie (Ende 1940), GARF, F. R-8009, O. 6, D. 128, L. 17.
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ZUSAMMENFASSUNG Die Geschichte der psychiatrischen Klinik in Vicebsk begann im Jahr 1843. In die damals eröffnete psychiatrische Abteilung des Gouvernement-Krankenhauses wurden psychisch kranke Patienten aus der Stadt und aus dem Gouvernement Vicebsk aufgenommen. Die Zahl der Kranken überstieg die Kapazitäten der Einrichtung, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in einer schwierigen finanziellen Lage befand und die Patienten daher entgeltlich behandelte. Nach dem Kriegsausbruch 1914 kam es im Gouvernement Vicebsk zu einem rasanten Anstieg psychischer Erkrankungen, wobei die psychiatrische Abteilung zahlreiche Kranke aus dem Raum Vicebsk, ebenso wie Militärangehörige und Flüchtlinge aus von Deutschland besetzten Gebieten beherbergte. Angesichts der dramatischen Überbelegung der Anstalt und der chronischen Probleme im Bereich der Lebensmittelversorgung versuchte die Krankenhausleitung einen Teil der Patienten zu entlassen bzw. in andere psychiatrische Einrichtungen zu versetzen. Die Eröffnung einer speziellen psychiatrischen Klinik in Vicebsk markiert eine Zäsur in der Geschichte des Psychiatriewesens in Weißrussland. Die Etablierung des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule und die von ihm betreute psychiatrische Abteilung im Gebietskrankenhaus verbesserten die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung im Raum Vicebsk erheblich. Unter der deutschen Okkupation wurden zahlreiche psychisch kranke Menschen in Vicebsk getötet. Die zur Verfügung stehenden Quellen ermöglichen es jedoch nicht, eine Opferzahl oder die Einzelheiten der Mordaktionen (Zugehörigkeit der Täter, Rolle der deutschen Militärverwaltung) zu rekonstruieren. Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
III. MEDIZINER UND MEDIZINISCHE BILDUNG IN DER SOWJETUNION DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND NACH KRIEGSAUSBRUCH
ZWISCHEN SOWJETISCHER MEDIZIN UND VOLKSDEUTSCHTUM: DER INTERNIST THEODOR HAUSMANN Andrei Zamoiski und Johannes Wiggering Theodor Hausmann (russ. Fedor Oskarovič Gausman, geb. 20. Oktober 1868, gest. 1944), Facharzt für Innere Medizin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Weißrussischen SSR sowie Mitbegründer der medizinischen Wissenschaft in der BSSR, genoss bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion international hohes Ansehen als Wissenschaftler. Dank vorrevolutionärer Kontakte trug er enorm zur Entwicklung der weißrussisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen im Bereich der Medizin bei, in Sowjetweißrussland selbst gelang ihm dank unbestrittener Leistungen eine beachtliche Karriere. Während des Krieges geriet er jedoch unter Kollaborationsverdacht. Die sowjetische Geschichtsschreibung versuchte später, die „unerwünschten“ Vorkommnisse im Leben Theodor Hausmann während der Okkupation, insbesondere seine Kontakte mit den deutschen Behörden in Minsk, zu verschweigen. Der folgende Beitrag zeichnet Leben und Karriere eines Mediziners nach, der sich um Forschung und internationalen Wissenstransfer verdient machte, doch unter den Bedingungen der deutschen Besatzung mit später scharf kritisierten Mitteln um seine Existenz kämpfen musste – ein persönliches Schicksal, welches die Medizin vor und während der Besatzungszeit um durchaus tragische biografische Dimensionen erweitert. In der Forschung ist Hausmann bisher kaum beachtet worden. Theodor Hausmann wurde in einer baltendeutschen lutherischen Familie im estnischen Gouvernement Hrodna geboren. Nach dem Abitur wurde er 1888 in die Medizinische Fakultät der Universität Dorpat aufgenommen, wo er der Fakultätsleitung durch herausragende Leistungen auffiel, jedoch musste er sein Studium noch vor der Promotion für eine fünfjährige Dienstzeit als Militärarzt im Bezirk Warschau unterbrechen. Das Interesse für die medizinische Wissenschaft führte ihn im Anschluss daran zunächst nach Berlin, wo er unter dem Internisten Carl Ewald von 1901 bis 1902 als Assistent am Kaiserin-Augusta-Hospital arbeitete. Den Grad eines Doktors der Medizin erwarb Hausmann im Jahr 1905 an derselben Universität, an welcher er sein Studium begonnen hatte, die nun allerdings als Universität Jur’ev firmierte. Hier erhielt er eine Anstellung als leitender Laborant am Institut für Pathologie und Gerichtsmedizin, die ihm als Mitglied des Russischen Roten Kreuzes und Russischen Roten Halbmonds auch eine Dienstreise in die Mandschurei ermöglichte.1 1
Vgl. Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N. Peresada, Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta 1921–1996. Biografičeskij spravočnik [Lehrstuhlinhaber und Professoren des Minsker medizinischen Instituts 1921–1996. Biografisches Nachschlagewerk], Minsk 1999, S. 176; Curriculum Vitae in der universitären Personal-
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Im Anschluss an seine Promotion ging Hausmann nach Orel, wo er zu Methoden der Palpations-(Abtastungs-)Diagnostik des Magen-Darm-Trakts forschte und publizierte. Von 1909 bis 1911 war er Leiter der chemischen und bakteriologischen Beratungsstelle im Gouvernementskrankenhaus in Tula. Im Rahmen dieser Tätigkeit führte er Studien zum Problem der Magen-Syphilis durch, zwei Arbeiten zu diesem Thema wurden in Berlin veröffentlicht.2 Diese Arbeiten beförderten Hausmanns Ruf in Deutschland und ebneten ihm den Weg nach Rostock, wo er von 1911 bis 1913 als Assistent an der Klinik des Internisten Friedrich Martius arbeitete, und sodann nach Berlin an die 2. Medizinische Klinik der Charité unter Friedrich Kraus, wo er auch selbst unterrichtete. Für seine Verdienste um die russische medizinische Wissenschaft wurde ihm 1912 der Doktortitel honoris causa durch die Vladimir-Universität in Kiew verliehen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Hausmann jedoch gezwungen, Deutschland zu verlassen. In Russland wurde er umgehend zum Militärdienst eingezogen und diente als Internist in Lazaretten in Moskau; inmitten der folgenden revolutionären Umbrüche erhielt er 1918 die Stelle eines Privatdozenten in der therapeutischen Klinik der Medizinischen Fakultät der 1. Moskauer Universität, wo er zugleich als Berater am Staatlichen Institut für Haut- und Geschlechtskrankheiten arbeitete.3 KLINIKLEITER IN MINSK Anfang Juni 1924 setzte sich Hausmann mit einer Bewerbung für den Posten des Leiters der therapeutischen Lehrklinik der Weißrussischen Staatsuniversität (BGU) in Minsk gegen alle Mitbewerber durch.4 Diese Ende 1922 eröffnete Einrichtung der Medizinischen Fakultät (MedFak) der BGU hatte die schwierigen ersten Jahre ihres Aufbaus gemeistert und sollte nun personell erweitert werden. Mit der Berufung Hausmanns stieg die medizinisch-wissenschaftliche Qualität der Lehrklinik merklich: Er setzte nicht nur die Einführung modernster Untersuchungsmethoden durch, sondern widmete sich auch intensiv der Erforschung von Tuberkulose und Syphilis sowie schädlicher Auswirkungen verschiedener Krankheiten auf die inne-
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akte Theodor Hausmanns aus dem Jahr seiner Einstellung (1924), ferner Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 205, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 3, D. (= Delo) [Akte] 1599, L. (= List) [Blatt] 22–23ob. Hausmanns genaues Todesdatum 1944 ist nicht bekannt. Theodor Hausmann, Die methodische Intestinalpalpation mittels der topographischen Gleit- u. Tiefenpalpation, Вerlin 1910; ders., Die syphilitischen Tumoren der Oberbauchgegend, insbesondere des Magens, und ihre Diagnostizierbarkeit, Вerlin 1911. Gausman [=Hausmann], Fedor Oskarovič, in: Nikolaj A. Semaško (Hrsg.), Bol’šaja Medicinskaja Ėnciklopedija [Großes medizinisches Fachlexikon], Bd. 6, Moskau 1929, S. 861–862; Bijahrafija zaslužanaha dzejača navuki akadėmika F. A. Hausmana. Zbornik prac, prysvečany 35-hadovamu jubileju navukova-praktyčnaj dzejnasci akadėmika F. A. Hausmana [Festschrift zum 35-jährigen Jubiläum der wissenschaftlichen Tätigkeit des Akademikers F. A. Hausmann (weißruss.)], Minsk 1932, S. 3–10; ferner NARB, F. 205, O. 3, D. 1599, L. 22ob-23. Personallisten der BGU des akademischen Jahres 1924/25, NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 41– 43. Diese Listen verzeichnen Hausmann darüber hinaus als parteilos.
Zwischen sowjetischer Medizin und Volksdeutschtum: Der Internist Theodor Hausmann
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ren Organe. Der bisherige Leiter der Klinik, Sergej Melkich, immerhin zeitweiliger Dekan der MedFak und verantwortlich für den Aufbau des wichtigen TuberkuloseZentrums, musste sich zunächst mit einer Position unterhalb jener des international angesehenen Kollegen begnügen, was jedoch nicht lange andauern sollte: Die Kapazitäten der MedFak und ihrer Kliniken wurden Mitte der 1920er Jahre beträchtlich aufgestockt und 1927 war die Einrichtung einer weiteren therapeutischen Klinik abgeschlossen. Melkich leitete nunmehr die 1., Hausmann die 2. therapeutische Lehrklinik; beide Einrichtungen teilten sich eine Belegschaft von sieben Fachassistenten sowie elf examinierten Medizinern in der fachärztlichen Weiterbildung.5 Konflikte gab es innerhalb dieser Belegschaft durchaus, und sie berührten auch den Direktor Hausmann. Im Juni 1927 musste dieser vor dem Dekanat der MedFak Stellung nehmen zu ernsthaften Anschuldigungen gegen seine Mitarbeiter, welche angeblich für ihre Dienste beträchtliche persönliche Entlohnungen verlangt, sich also selbst auf Kosten schwer kranker Patienten auf ganz und gar „unsozialistische“ Weise bereichert hätten. Hausmann stellte den Sachverhalt ein wenig anders dar: Behandlungen sowie Laboruntersuchungen gegen Entlohnung, also auf eigene Rechnung, seien den Ärzten der Klinik seit 1925 durchaus erlaubt gewesen, mit der Auflage, dass „die Hälfte der Einnahmen zugunsten des Labors verwendet wurden, dabei waren die Mitarbeiter verpflichtet, die Untersuchung kostenlos durchzuführen, wenn die Umstände es erforderten“ (z. B. der Patient mittellos war); diese Praxis hatte Hausmann Kraft seiner Autorität als Direktor der Klinik selbst ins Leben gerufen.6 Kritik daran regte sich erst, als ein Patient über zu hohe Forderungen für eine Magensaftanalyse beim Dekanat der MedFak klagte. Hausmanns Ausführungen zufolge verbarg sich dahinter ein Komplott: Ein Assistent der Klinik habe versucht, einen unliebsamen Kollegen zu diskreditieren, indem er den ursprünglich zahlungsfähigen und -willigen Patienten zu einer überzogenen Beschwerde angestachelt habe. Pikantes Detail: Besagter Patient war von Hausmann selbst nach einer Privatuntersuchung an das Labor zwecks Magensaftanalyse überwiesen worden. Zwar entschärften Hausmanns Darlegungen den „Skandal“, die Praxis des ärztlichen Nebenerwerbs bestätigte er jedoch, wobei seine aktive Beteiligung daran offensichtlich war. Ein solches Arrangement war nach den Rahmenbedingungen der NÖP nicht direkt illegal, es widersprach jedoch der Idee kostenloser medizinischer Versorgung, vor allem bot es vielfältige Möglichkeiten zur persönlichen Vorteilnahme und damit ideologisch-moralische Angriffsflächen – wie der Vorfall um den magenkranken Patienten bewies.7 Neben seinen Pflichten an der Lehrklinik übernahm Hausmann auch Ämter und Verantwortung in anderen Gremien. So lektorierte er das Themenfeld der inneren 5 6 7
Vgl. Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j gadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi (1921–1927) [Weißrussische Staatsuniversität zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution (weißruss.)], Festschrift, Minsk 1927, S. 41 ff. Schreiben Hausmanns an das Dekanat der MedFak (am 25. Juni 1927), NARB, F. 4, O. 1, D. 4127, L. 30–32. Vgl. ebd., besonders L. 31. Zur Praxis des Blat – oft Naturallohn – in der sowjetischen Medizin s. den Beitrag von Elizaveta Slepovitch in diesem Band.
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Krankheiten als Redaktionsmitglied der medizinischen Fachzeitschrift Belaruskaja Medyčnaja dumka („Weißrussischer medizinischer Gedanke“). Seine Stellung als Leiter der Klinik brachte ferner die Mitgliedschaft im noch nicht lange bestehenden wissenschaftlichen medizinischen Beirat der BSSR mit.8 Ebenso wie viele seiner Professorenkollegen beteiligte er sich darüber hinaus an den Sitzungen der wissenschaftlichen Gesellschaft der Minsker Ärzte.9 INTERNATIONALE AUFMERKSAMKEIT Theodor Hausmann pflegte gute Kontakte mit deutschen Kollegen, von denen manche sicher noch aus seiner Zeit in Berlin und Rostock stammten; auch in Deutschland genoss er das Ansehen eines hochqualifizierten Experten der inneren Medizin. Im Herbst 1930 wurde er eingeladen, im Rahmen der alljährlichen internationalen ärztlichen Fortbildungskurse in Karlovy Vary/Karlsbad eine Reihe von Vorträgen zu halten und zuvor auf einem Naturforscherkongress in Königsberg zu referieren. Eine solche Auslandsreise erforderte so zahlreiche Kontrollen und Genehmigungen durch die sowjetischen Behörden und Sicherheitsdienste, dass die Ausreisegenehmigung für Hausmann letztendlich zu spät erteilt wurde; er konnte am Kongress in Königsberg nicht teilnehmen und traf erst mit Verspätung in Karlsbad ein. Der sowjetische Apparat, welcher der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit keinen großen Stellenwert einräumte, schädigte so das Ansehen seiner eigenen Wissenschaft – und dies war kein Einzelfall. Die ausländischen Kollegen brachten den Forschungsergebnissen Hausmanns enormes Interesse entgegen, und auch in seiner Funktion als Vertreter der sowjetischen Wissenschaft wurde ihm in Karlsbad ein herzlicher Empfang bereitet. Hausmann hielt dort (auf Deutsch) einen vielbeachteten Vortrag über präzise Palpationsverfahren, eine Untersuchungsmethode, die in den meisten europäischen Kliniken, wo man ganz auf Röntgenverfahren setzte, kaum angewandt wurde. Hausmann hob hervor, dass dies der erste Vortrag eines Vertreters der russischen bzw. sowjetischen Wissenschaft in der Geschichte der Karlsbader Fortbildungskurse überhaupt gewesen sei. Er erhielt daraufhin eine erneute Einladung nach Königsberg und besuchte die dortige Universität, wo er Vorträge hielt und Übungen zur Palpation für die Ärzte der deutschen Kliniken und des Stadtkrankenhauses durchführte.10 Nach seiner Rückkehr berichtete Hausmann schriftlich der Leitung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR und urteilte, dass Ausstattung und Organisation der noch jungen Kliniken in Minsk weit hinter den medizinischen 8 9 10
Vortrag des Volkskommissars für Gesundheitswesen Barsukov auf dem 6. Allweißrussischen Kongress der Gewerkschaften, in: Belaruskaja Medyčnaja dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke] 9–12 (1927), S. 180. Wissenschaftliche Gesellschaft der Minsker Ärzte der Jahre 1925 (Sitzungsprotokoll), in: Belaruskaja Medyčnaja dumka 7–9 (1926), S. 161; sowie entsprechendes Sitzungsprotokoll für das Jahr 1928, Einzelpublikation Minsk 1929, S. 86. Bericht Hausmanns über die Dienstreise ins Ausland (November 1930), NARB, F. 46, O. 2, D. 56а, L. 72–72ob.
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Einrichtungen Deutschlands, vor allem Königsbergs, zurückblieben. Er präsentierte einen Musterplan der dortigen therapeutischen Universitäts-Poliklinik, um den Ausstattungskomfort der Bettenzimmer ebenso sehr zum Vorbild zu erklären wie die Laborkapazitäten, die auch experimentelle Untersuchungen ermöglichten. Besonders pries er die Wasserversorgung der Krankenhäuser, die Verfügbarkeit von Telefonen für die interne Kommunikation und die dazugehörigen Lichtsignalanlagen, die eine optimale und ökonomische Organisation der Arbeitsabläufe ermöglichten. Hausmann hob ferner hervor, dass jede Klinik ihre eigene Abteilung für Hydro- und Physiotherapie besäße und es Räumlichkeiten für spezielle therapeutische Maßnahmen (z. B. Inhalatorien) gebe, und obendrein gleich mehrere Röntgengeräte. Die wohlwollende Haltung der deutschen und tschechischen Kollegen ihm gegenüber führte er nicht auf seine eigene Person zurück, sondern auf eine positive Einstellung gegenüber sowjetischen Wissenschaftlern im Allgemeinen, was ihn zur Anregung einer intensiveren künftigen Zusammenarbeit auf der Basis gegenseitigen Austauschs bewog.11 Die Vorschläge, die in Hausmanns Bericht enthalten sind, zeugen von seinen medizinisch-wissenschaftlichen Ambitionen und sehr hohen Ansprüchen, die angesichts der sowjetweißrussischen Gegebenheiten jedoch völlig unrealistisch waren. Seine Anregung, die Planung künftig zu erbauender Kliniken ihren wissenschaftlichen Leitungen zu übertragen, die dies nach den jeweiligen medizinischen Erfordernissen unternehmen sollten, erscheint aus heutiger Betrachtung von geradezu arroganter Naivität.12 Die medizinischen Behörden der BSSR waren zu Beginn der 1930er Jahre mit zahllosen ungelösten Problemen und einer Umstrukturierung des Gesundheitssystems hin zu einer noch zentralisierteren Ausrichtung mehr als beschäftigt und schenkten Hausmanns Bericht keinerlei Aufmerksamkeit; gerade diese striktere Zentralisierung ließ die Idee einer gestaltenden oder planenden Rolle von Klinikleitungen absurd erscheinen. Darüber hinaus hätte ein Vorgehen wie in Deutschland die Kosten für Aufbau und Organisation der sowjetischen medizinischen Einrichtungen drastisch erhöht. Im sowjetischen System lag das Hauptaugenmerk nicht auf qualitativen, sondern auf quantitativen Verbesserungen der Gesundheitsversorgung: Es zählten die Erhöhung der Bettenzahl, Fragen des Komforts und der Effizienz blieben zweitrangig.13 Im Hinblick auf die Ausstattung mit medizinischem Gerät setzte auch die eigene Industrieproduktion enge Grenzen. So konnten z. B. Röntgenapparate sowjetischer Fertigung bei weitem nicht in der erforderlichen Stückzahl geliefert werden, entsprachen schon längst überholten Konstruktionsprinzipien und wiesen gravierende technische Mängel auf.14 Vergleiche mit 11 12 13 14
Brief Hausmanns an das Volkskommissariat für Gesundheitswesen Weißrusslands (ohne Datum, gegen Ende 1930), NARB, F. 46, O. 2, D. 56а, L. 73. Ebd., L. 74. Hierzu und zum folgenden siehe den Beitrag von A. Zamoisky über die Psychiater im vorliegenden Band. Brief des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR an den Rat der Volkskommissare der UdSSR über die Reorganisation der Produktion der Röntgenapparatur № 036–24 (am 14. Januar 1940), Rossijskij gosudarstvennyj archiv ėkonomiki [Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft, Moskau] (nachfolgend RGAĖ), F. 4372, O. 38, D. 1347, L. 39.
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deutschen Verhältnissen konnten ab Mitte der 1930er Jahre zudem als „Verunglimpfung“ des sowjetischen Gesundheitssystems interpretiert werden. In den 1930er Jahren befand sich Hausmanns wissenschaftliche Karriere auf ihrem Zenit. Bis zur Besetzung von Minsk durch nationalsozialistische Truppen blieb er Lehrstuhlinhaber für Spitaltherapie des Staatlichen Medizinischen Instituts Minsk (Minski Dzjaržaŭny Medycynski Instytut), welches durch Verselbstständigung aus der MedFak hervorgegangen war. 1931 wurde ihm der Titel eines „Verdienten Wissenschaftlers der BSSR“ verliehen. Zum Jubiläum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wurde 1932 in Minsk ein Sammelband herausgegeben, der Beiträge sowjetischer sowie europäischer und US-amerikanischer Kollegen enthielt.15 1933 folgte seine Ernennung zum Mitglied der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften und einigen Quellen zufolge auch ein Vorschlag für den Nobelpreis des Jahres 1934. Hausmann nahm an zahlreichen wissenschaftlichen Kongressen teil und vertrat beispielsweise im Mai 1934 die Wissenschaftler der Weißrussischen SSR auf einem internationalen Antirheuma-Kongress in Moskau.16 Auch mit dem hohen Rang eines Akademiemitglieds setzte Theodor Hausmann seine Forschungsarbeit fort, konzentrierte sich immer mehr auf Methoden der Behandlung und Prophylaxe von Tuberkuloseerkrankungen und veröffentlichte 1939 eine Arbeit über die Probleme der extrapulmonalen (außerhalb der Lunge auftretenden) Tuberkulose, deren Verdienst darin bestand, dieses Problem speziell aus internistischer Perspektive zu analysieren.17 Anfang 1940 erhielt Hausmann auch den Titel eines Professors des Medizinischen Instituts. Nach der Annexion des bis dahin polnischen Westweißrussland durch die UdSSR hielt er dort gemeinsam mit anderen führenden Wissenschaftlern aus der BSSR Vorträge, um westweißrussische Mediziner mit Struktur, Aufgaben und Prinzipien der „sowjetischen Medizin“ vertraut zu machen.18 UNTER DEUTSCHER BESATZUNG Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, der die Weißrussische SSR unmittelbar traf, kam für die politische Leitung der Republik gänzlich unerwartet: Ihre Bemühungen, bedeutende Personen ins sowjetische Hinterland zu evakuieren, scheiterten vielfach angesichts der völlig unzureichenden Organisation, mit der Folge, dass zahlreiche Vertreter der Minsker Intelligenz, unter ihnen Theodor Hausmann, in der 15 16 17 18
Zbornik prac, prysvečany 35-hadovamu jubileju navukova-praktyčnaj dzejnasci akadėmika F. A. Hausmana [Festschrift zum 35-jährigen Jubiläum der wissenschaftlichen Tätigkeit des Akademiemitglieds F. A. Hausmann], Minsk 1932. B. Kogan, Meždunarodnyj antirevmatičeskij kongress [Internationaler Antirheuma-Kongress], in: Pravda v. 7.5.1934, S. 6. F. Gausman, Problema vnelegočnogo tuberkuleza, patogenez i profilaktičeskoe lečenie ego s pomoščju tuberkulina [Das Problem der extrapulmonalen Tuberkulose, ihre Pathogenese und Präventivbehandlung mit Tuberkulin], Minsk 1939. Vgl. Chronika [Chronik], in: Belorusskij Medicinskij Žurnal [Weißrussische medizinische Zeitschrift] 1–2 (1940), S. 150.
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besetzten Stadt verblieben. Für Hausmann bedeutete dies den weitgehenden Zusammenbruch seines Lebens- und Arbeitsumfeldes, ja seiner Existenzgrundlage: Seine Einkünfte aus den Tätigkeiten an der 2. therapeutischen Klinik und der Akademie der Wissenschaften – beides staatliche Einrichtungen – entfielen unmittelbar, ebenso jene aus seiner „Privatpraxis“. Sein angespartes Vermögen fiel seinen eigenen Angaben zufolge einem Großbrand zum Opfer, der das Gebäude seiner Bank vernichtete. Hausmann, inzwischen über 70 Jahre alt, war plötzlich arbeits- und nahezu mittellos. Darüber hinaus wurden die Gebäude der Akademie, in welchen sich Hausmanns Wohnung befand, von der Wehrmacht beschlagnahmt. Zwar setzte man ihn und seine Frau nicht auf die Straße, sehr wohl jedoch die Hausmeister der Akademie, was bei Winteranbruch 1941/42 zu irreparablen Schäden an Heizung und Wasserversorgung in Hausmanns Wohnblock führte. Die Überwinterung unter solchen Bedingungen führte bei dem nicht mehr sehr rüstigen Hausmann zu anhaltenden gesundheitlichen Problemen. Ein minimales Einkommen konnte er sich erst nach Monaten durch eine beratende Tätigkeit im „russischen Stadthospital“ sichern.19 Aus seinen baltendeutschen Wurzeln hatte Hausmann zeitlebens nie einen Hehl gemacht: Sämtliche Personalunterlagen seit seiner Einstellung in Minsk gaben „Deutsch“ als seine Nationalität an und dokumentierten seine Beherrschung der deutschen (wie auch der polnischen und französischen) Sprache.20 Noch im Winter Anfang 1942 wandte er sich unter Verweis auf die „volksdeutsche“ Herkunft seiner Familie aus dem estländischen Pernau an die deutschen Besatzungsbehörden mit der Bitte um eine Pension oder eine einträglichere Tätigkeit, zugleich jedoch mit dem Wunsch, wie andere Volksdeutsche auch ins „Altreich“ umgesiedelt zu werden – eine Perspektive, auf die Hausmann offenbar zunächst fest vertraute.21 Dazu kam es jedoch nicht: Da Hausmann keinen Anspruch auf eine Pension im „Dritten Reich“ zugebilligt wurde und seine Arbeitsfähigkeit in Frage stand, verweigerte man ihm die Umsiedlung und gestand ihm lediglich eine bescheidene finanzielle Unterstützung zu. Doch die Not des Mediziners wurde noch größer: Der harte Winter hatte seine Spuren hinterlassen, der nunmehr 74-jährige Hausmann musste sich dringend einer Blasenoperation unterziehen. Auf eigene Kosten reiste er Ende Juli 1942 nach Berlin und ließ dort diesen Eingriff durchführen; für die Operation selbst und den dreimonatigen Aufenthalt in Berlin kam laut Hausmann ein in München lebender Neffe auf. Diese Zeit in der Hauptstadt des Deutschen Reiches nutzte Hausmann, um neue Kontakte zu den deutschen Gesundheitsbehörden zu knüpfen, besonders solchen, die Einfluss auf seine Situation in Minsk nehmen konnten. Er erreichte, dass man ihm eine besser bezahlte Stellung im geplanten Deutschen Zi19 20 21
Schreiben Hausmanns an den Stadtkommissar in Minsk (am 22. Oktober 1943), NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 73–74ob. Personalstatistik der BGU aus dem Jahr 1925 mit Angaben von Nationalität, Geburtsort und Sprachkenntnissen, NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 40. Schreiben des Reichskommissariats Ostland an den Generalkommissar für „Weißruthenien“ mit Bitten um Anweisungen im Falle Hausmanns (am 16. März 1942), NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 73–74ob sowie L. 59; Pernau ist hier die deutsche Bezeichnung der heutigen estnischen Stadt Pärnu.
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villazarett der besetzten weißrussischen Stadt in Aussicht stellte, erfuhr jedoch zugleich, dass seine Umsiedlung ins Reich auch an seiner Ehefrau Marie Hausmann gescheitert war, die keinen „Volksdeutschen“-Status besaß.22 Zurück in Minsk, verbesserte sich Hausmanns Lage ein wenig. Im November 1942 nahmen die deutschen Behörden sein Angebot an, Fachbücher auf Grundlage seiner neuesten, bislang unveröffentlichten Forschungsergebnisse zur Tuberkulosebehandlung für die deutsche Wissenschaft zu verfassen. Im Gegenzug erhielten er und seine Frau deutsche Lebensmittel-Bezugskarten. Der geplante Umzug in eine bessere Unterkunft kam jedoch nicht zustande, und das Ehepaar sah sich zu einem weiteren Winter in derselben kaum beheizten Wohnung gezwungen. Ende Dezember erkrankte Hausmann erneut, ironischerweise an bronchialer Tuberkulose, die ihn für Monate ans Bett fesselte. Den schwierigen Lebensunterhalt zu meistern blieb allein Aufgabe seiner Ehefrau. Den versprochenen Posten als Arzt im Deutschen Zivillazarett, welches im März 1943 eröffnet wurde, konnte Hausmann nicht antreten, vielmehr wurde er dort umgehend als Patient aufgenommen. Durch diese stationäre Behandlung verpasste er einen möglichen Umsiedlungstermin im April 1943. Zwar erkannten die deutschen Behörden nunmehr seinen Wert als Wissenschaftler an und genehmigten die Umsiedlung, wobei Hausmann als Endziel Prag anstrebte (wo seine Frau Verwandtschaft hatte), durch seine Erkrankung war er jedoch schlicht nicht transportfähig. Im Mai bewerkstelligte Marie Hausmann den Umzug des Ehepaares in eine geeignetere Wohnung.23 Die Umsiedlung blieb dennoch Hausmanns Ziel, ein nächstes Zeitfenster hierfür zeichnete sich im Frühjahr 1944 ab. Auswandererkarten hatten er und seine Frau bereits erhalten, und Hausmann zufolge warteten inzwischen „im Reiche“ wichtige wissenschaftliche Aufträge auf ihn. Die deutschen Behörden in Minsk ließen sich dazu bewegen, ihm trotz Krankheit einen Teil seines Arztgehalts sowie weitere Zuwendungen auszuzahlen und versprachen sogar, für den Transport seiner privaten Fachbibliothek zu sorgen. So schienen sich die Aussichten Hausmanns zu verbessern – allerdings nur, bis die Ermordung des Generalkommissars von „Weißruthenien“, Wilhelm Kube, durch weißrussische Partisanen am 22. September 1943 die Organe der Besatzungsmacht in akute Unruhe versetzte. Inmitten der folgenden Verstärkung des „Bandenkampfes“, der einherging mit einer merklichen Machtverschiebung zugunsten der SS, drohte der Fall des umzusiedelnden Wissenschaftlers Hausmann schlicht in Vergessenheit zu geraten.24 Bis zum Ende des Jahres 1943 musste dieser mehrfach dringend um Berücksichtigung bitten, zuletzt in geradezu unterwürfigen Worten und mit sichtbar schwacher Handschrift.25 Offenbar zu Beginn des Jahres 1944 konnte er schließlich Minsk verlassen und seine Reise Richtung Prag antreten, doch hohes Alter und Krankheit holten ihn schon bald ein; we22 23 24 25
Wie Anm. 20, NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 73 f. Ebd. L. 74. Bernhard Chiari, Weißrussland im Zweiten Weltkrieg 1939–1944, in: Dietrich Beyrau u. Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen 2001, S. 408–425, hier S. 416 f. Vgl. NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 86, 19. Dezember 1943.
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nig später im Jahr 1944 verstarb Theodor Hausmann in Innsbruck bei einer Gallenblasenoperation infolge einer Bauchfellentzündung.26 URTEILE UND VERURTEILUNGEN Hausmanns Aktivitäten beziehungsweise sein bloßer Aufenthalt im besetzten Minsk führten posthum zu vernichtender Kritik von Seiten der Kommunistischen Partei Weißrusslands. Man beschuldigte ihn nicht nur der einfachen Kollaboration: Der Sekretär des ZK der KPB, Pantelejmon Panamarėnka, ging wenige Monate nach Ende der Besatzung sogar so weit, ihm auf Grundlage von Gerüchten eine leitende Tätigkeit an der Spitze des Magistrats der okkupierten Stadt zu unterstellen. Zwar sahen sich jene Angehörigen der sowjetischen Intelligenz, die nicht aus Minsk evakuiert worden waren, fast unausweichlich mit Kollaborationsvorwürfen konfrontiert, im Falle Hausmanns kamen allerdings sein ethnischer Hintergrund und seine Verbindungen, gar seine Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden erschwerend hinzu. Über die Art dieser Kontakte existierten offenbar auf sowjetischer Seite während und nach Ende des Krieges weit mehr Vermutungen als sichere Erkenntnisse.27 Ob Hausmann freiwillig in Minsk verblieben war oder seine Evakuierung scheiterte bleibt unklar, was die sowjetische Propaganda nicht daran hinderte, ihn schon im Juni 1942 zum „Verräter des sowjetischen Volkes“ zu erklären. Außer Hausmann wusste der Sowjetapparat zunächst nur von einem weiteren Akademiemitglied, welches in Minsk verblieben war: dem Althistoriker Nikolaj Nikol’skij, welcher sowjetoffizieller Lesart zufolge unter der Okkupation Kontakte mit den deutschen Behörden konsequent vermieden hatte und sich später von Partisanen aus der Stadt evakuieren und ins sowjetische Hinterland verbringen ließ – ganz anders als Hausmann, bei dem die Deutschen allerdings Ähnliches befürchtet hatten.28 Die Gerüchte und Vermutungen über Hausmanns Verhältnis zur Besatzungsmacht waren so zahlreich, dass sie schon im Herbst 1942 das Interesse der sowjetischen Geheimdienste weckten. Jene befragten zu diesem Thema Partisanen, darun26 27
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Zmačinskaja, Mal’kovec u. Peresada, Zavedujusčie kafedrami (Anm. 1), S. 177. Vgl. den Bericht der Abteilung für Propaganda und Agitation des ZK der KP(b)B an den Leiter der Verwaltung für Propaganda und Agitation des ZK der VKP(b) G. F. Aleksandrov über Propaganda- und Agitationsarbeit unter den Bedingungen der Evakuierung vom 27. Juni 1942, in: Ljudmila S. Gatagova u. a. (Hrsg.), CK VKP(b) i nacional’nyj vopros [Das ZK der VKP(b) und die nationale Frage], Bd. 2: 1933–1945, Moskau 2009, S. 680. Vgl. Bescheinigung des N. M. Nikol’skij über die Extraktion seiner Familie durch die Partisanen-Brigade „Razgrom“ [„Zerschlagung“] (am 18. November 1950), NARB, F. 1393, O. 1, D. 48, L. 64; ferner Vladimir I. Gulenko u. Michail F. Šumejko, Kak my prišli k partizanam. Pracy histaryčnaha fakul’tėta BDU [Wie wir zu Partisanen kamen. Arbeiten der historischen Fakultät der Weißrussischen Staatsuniversität], Minsk 2008, S. 155. Zu den Befürchtungen der deutschen Behörden vgl. NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 81. Die Informationen der Sowjetpropaganda waren darüber hinaus nachweisbar unvollständig, da mindestens zwei weitere Akademiemitglieder in Minsk verblieben waren: Der Rechtsmediziner Ivan T. Titov sowie der Neuropathologe Daniil A. Markov.
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ter Juden, die aus dem Minsker Ghetto entkommen waren. Deren Aussagen zufolge war Hausmann nicht an der Verwaltung der Stadt beteiligt und hielt sich fern von jenen Vertretern der Intelligenz, die mit den Besatzungsbehörden kollaborierten. Er habe sich nur mit medizinischer Arbeit beschäftigt und sei allenfalls an der Gründung des Lazaretts für die Bedürfnisse der deutschen Verwaltung aktiv beteiligt gewesen. In der „Weißruthenischen wissenschaftlichen Gesellschaft“ (BNT), die von den Besatzern geschaffen worden war, um die lokale wissenschaftliche Elite zu gewinnen, sei Hausmann 1942 engagiert gewesen, habe jedoch keine bedeutende Rolle gespielt.29 Die Korrespondenz zwischen Hausmann und den deutschen Behörden wurde von den Untersuchungsorganen offenbar sehr unzulänglich ins Russische übersetzt – so schienen jene in völliger Unkenntnis z. B. über Hausmanns krankheitsbedingte, mehrmonatige Reise nach Berlin 1942 zu verbleiben. Seine Bereitschaft, an die Besatzungsbehörden gerichtete Schreiben mit „Heil Hitler“ zu schließen, rückte ihn in den Augen der Strafverfolger unvermeidlich in ein negatives Licht.30 Im November 1947 wurde Theodor Hausmann per Beschluss der Hauptversammlung der Akademie der Wissenschaften der BSSR der Titel eines Akademiemitglieds entzogen, er wurde „entgradet“. Man beschuldigte ihn, mit dem Feind zusammen gearbeitet und somit „den hohen Titel eines sowjetischen Bürgers und folglich den hohen Rang der Akademie in Verruf gebracht zu haben“.31 Konkretere Anschuldigungen erhob die Akademie nicht, es genügte der Verdacht der Illoyalität gegenüber dem Sowjetregime während der Besatzungszeit. Ob dieser Entscheidung Informationen zu Grunde lagen, die der Akademie von Seiten der Strafverfolgungsbehörden zugetragen wurden, kann nur vermutet werden. Diese Maßnahme fügte sich allerdings ein in die zeitgleiche Kampagne des sogenannten „Kampfes gegen Kosmopolitismus“: Das sowjetische Regime prangerte dabei Fachleute an, die Verbindungen mit westlichen wissenschaftlichen Kreisen pflegten bzw. gepflegt hatten. In der poststalinistischen Zeit wurde Theodor Hausmann unter Berücksichtigung seiner wissenschaftlichen Verdienste und wohl auch aufgrund von Bemühun-
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Aufzeichnung eines Gesprächs des Leiters der Informationsabteilung der Aufklärungsabteilung des Weißrussischen Stabs der Partisanenbewegung I. S. Kravčenko mit dem Partisanen R. M. Bromberg vom 8. Oktober 1942, in: Inna P. Gerasimova u. Vjačeslav D. Selemenev (Hrsg.), Vyžit’–podvig. Vospominanija i dokumenty o Minskom getto [Das Überleben ist Heldentat. Erinnerungen an und Dokumente über das Minsker Ghetto], Minsk 2008, S. 117. Die seinen Ruf untergrabenden Dokumente – die oben erwähnte Korrespondenz – wurden von MGB-Mitarbeitern übersetzt, vgl. Bescheinigung des MGB der BSSR zur Archivakte des Oberfahndungsbeamten der Abteilung „A“ des MGB der UdSSR, Major Efanov, und der Übersetzerin Puchova vom 26. Juni 1952, NARB, 370 F. 1, O. 148а, L. 1. Aufgrund von Kollaborationsvorwürfen wurden auch der Leiter des Torfinstituts der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften G. I. Annufriev und das korrespondierende Mitglied M. V. Dokukin entgradet, vgl. Vladimir I. Kuz’menko u. Nikolaj V. Tokarev, Politika nemeckofašistskich okkupacionnych vlastej v otnošenii naučnoj intelligencii Belarusi 1941–1944 [Die Politik der nationalsozialistischen Besatzungsbehörden gegenüber der wissenschaftlichen Intelligenz Weißrusslands 1941–1944], Minsk 2007, S. 47.
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gen ehemaliger Kollegen und Studenten rehabilitiert.32 Seitdem ist sein Beitrag zum Aufbau des Gesundheitssystems der BSSR unbestritten, besonders in der medizinischen Forschung und Ausbildung, wofür er mehr als 130 wissenschaftliche Arbeiten beigesteuert hatte. Nicht wenige davon wurden auch in Deutschland veröffentlicht, wo man sich ebenso wie in anderen Ländern Europas für seine Forschungsergebnisse sehr interessierte. Theodor Hausmanns Verhalten während der Besatzungszeit muss aus heutiger Sicht als ambivalent beurteilt werden: Einerseits zeigte er keinerlei Scheu, sich an die Besatzungsmacht zu wenden und unter Verweis auf seine baltendeutsche Ethnizität um Hilfe zu bitten. Er war nicht nur zur aktiven Kooperation bereit, indem er seine wissenschaftlichen Kenntnisse in deutsche Dienste stellte, sondern strebte auch die Umsiedlung ins „Altreich“ an – womit allerdings das von den Deutschen ebenfalls annektierte Tschechien gemeint war. Seine Handlungen erfüllen insofern aus bolschewistischer Perspektive durchaus den Tatbestand der Kollaboration, im weiteren Sinne sogar den des Verrats, da Hausmann offensichtlich Ergebnisse sowjetischer medizinischer Forschung zu seinem eigenen Vorteil an die nazideutsche Wissenschaft weitergab. Auf der anderen Seite bleibt zu berücksichtigen, dass hohes Alter, Mittellosigkeit und die Bindung an seine nichtdeutsche Ehefrau ihm kaum eine andere Wahl ließen als die Unterstützung durch die Besatzer zu suchen und hierfür das einzige Pfand einzusetzen, welches ihm verblieb: Seine wertvollen wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Dieser Handel blieb aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands eng begrenzt, weder war er den Deutschen von großem Nutzen, noch erhielt er wirklich luxuriöse Zuwendungen. Schaden für andere Sowjetbürger dürfte durch sein Verhalten nicht entstanden sein. Über seine Haltung zur Judenvernichtung wiederum hat Hausmann, der vor dem Krieg jahrzehntelang von zahlreichen jüdischen Kollegen und Bekannten umgeben war und von der Existenz des Minsker Ghettos mit Sicherheit Kenntnis hatte, keinerlei Äußerungen oder Hinweise hinterlassen. Seine scharfe Verurteilung in den Nachkriegsjahren, als das Sowjetregime und dessen Strafverfolgungsbehörden ihn geradezu als „Hauptkollaborateur“ der besetzten Stadt Minsk darstellten, fügt sich in das ideologisch-propagandistische Klima dieser Jahre und ist angesichts des ambivalenten Verhaltens Hausmanns insofern nachvollziehbar. Umso bemerkenswerter ist, dass dieses Urteil nicht im Geringsten die Verdienste Theodor Hausmanns für die weißrussische, sowjetische und europäische Medizin vergessen machen konnte, die bis heute die offizielle Erinnerung an diesen Arzt und Forscher prägen.
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Sein Name wurde in biografischen Nachschlagewerken erwähnt, jedoch wurde seine Tätigkeit während der Okkupation nicht thematisiert, vgl. Gausman, Fedor Oskarovič, in: Pjatro U. Broŭka u. a. (Hrsg.), Belorusskaja SSR: Kratkaja ėnciklopedija. Biografičeskij spravočnik [Weißrussische SSR: Kurzes Lexikon. Biografisches Nachschlagwerk], Bd. 5, Minsk 1982, S. 141.
ZWISCHEN GELEHRTENTUM UND TOTALITARISMUS: DER NEUROLOGE MICHAIL KROL’ Johannes Wiggering und Andrei Zamoiski Michail Borisovič Krol’ (1879–1939) ging in die Geschichte der sowjetischen Medizin ein als Begründer der weißrussischen Schule der Neuropathologie. Er gilt ferner als einer der Gründerväter der Weißrussischen Staatsuniversität und des Minsker Medizinischen Instituts, der ersten medizinischen Hochschulen in der Weißrussischen SSR. Im Laufe der 1930er Jahre stieg der Neurologe schließlich bis an die Spitze des sowjetischen Gesundheitssystems auf, und zwar zu einer Zeit, die von Repressionen und tiefem Misstrauen der Parteielite Ärzten gegenüber gekennzeichnet war. In der Forschung wurden sein Leben und seine wissenschaftliche Tätigkeit bisher nicht systematisch analysiert. Im Folgenden wird der akademische Werdegang Michail Krol’s geschildert. Zugleich wird das stellenweise greifbare Bild des Arztes und Intellektuellen mit dem dazu vielfach im Widerspruch stehenden Eindruck eines dem Sowjetregime treu ergebenen Funktionärs verglichen und versucht, den Gründen für diese Ambivalenz auf die Spur zu kommen. AUFSTIEG ZWISCHEN MINSK UND MOSKAU Michail Krol’ wurde am 18. Februar 1879 als Sohn eines jüdischen Beamten in der Stadt Minsk geboren. Obwohl er selbst seine jüdische Herkunft bis zu seinem Lebensende als solche anzugeben pflegte, scheint es sich bei seiner Familie um bereits weitgehend säkularisierte Juden gehandelt zu haben, denn das traditionelle Kriterium, nach dem auch die Volkszählungen des Russischen Kaiserreiches die Nationalität seiner Untertanen erfasste, traf auf Michail Krol’ nicht zu: Die jiddische Sprache beherrschte er eigenen Angaben zufolge nicht, sondern gab als Muttersprache stets Russisch an.1 Dank der Stellung seines Vaters und der damit einhergehenden finanziellen Sicherheit der Familie stand Michail Krol’ der höhere Bildungsweg offen: 1896 wurde er für seinen Abschluss des Gymnasiums im lettischen Libau mit einer Goldmedaille ausgezeichnet und begann sein Studium an der medizinischen Fakultät der Universität Moskau – angesichts der dort streng begrenzten 1
Personalstatistiken der Weißrussischen Staatsuniversität aus dem Jahr 1925 mit Angaben der Herkunft und Sprachkenntnissen, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 205, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 144, L. (= List) [Blatt] 40. Lebenslauf oder andere Personalunterlagen Krol’s sind kaum erhalten, so dass nur Grundrisse seines frühen Ausbildungsweges rekonstruiert werden können.
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Aufnahme von jüdischen Studenten (drei Prozent der Gesamtstudierendenschaft) bereits eine beachtliche Leistung.2 Nach Ende seines Studiums arbeitete Krol’ in einem Moskauer Krankenhaus, seine dortige Tätigkeit in einer ambulanten neurologischen Beratungsstelle sowie auf der neurologischen Station spiegelt bereits jene Spezialisierung wieder, die ihm zu einer erfolgreichen Karriere verhelfen sollte. Sein wissenschaftlicher Betreuer und Mentor, der Leiter der neuropathologischen Klinik Lazar’ Minor, zählte zu den Vorkämpfern der russischen Schule der Neuropathologie, die sich dank ihres Begründers Aleksej Koževnikov gerade als eigenständige Disziplin zu entwickeln begann.3 Zu dieser Gründergeneration zählte fortan auch Krol’ selbst. Die Unterstützung Minors verschaffte ihm eine Stelle zunächst als Arztpraktikant, später als Assistent in der Klinik für Nervenkrankheiten der Moskauer Höheren Frauenschule.4 In seinen Forschungen beschäftigte sich Krol’ vor allem mit der Lokalisation von Gehirnfunktionen. Die Ergebnisse seiner Arbeit stellte er 1911 auf dem ersten Kongress des Russischen Verbandes der Psychiater und Neuropathologen in Moskau vor, zwei Jahre später auch auf einem internationalen Kongress in London.5 Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kehrte Krol’ in seine Geburtsstadt Minsk zurück, wo er eine psychiatrische Station des russischen Roten Kreuzes und des russischen Roten Halbmonds leitete. Hier wurde sowohl Militärangehörigen als auch der Zivilbevölkerung psychiatrische und neurologische Hilfe geleistet, eine Arbeit unter schwierigsten Bedingungen, da kaum Psychiater zur Verfügung standen und der Alltag in der bald frontnahen Stadt zahllose Erschwernisse für die medizinische Versorgung mit sich brachte.6 Es bleibt unklar, ob die Auswirkungen der revolutionären Umstürze, die bevorstehende deutsche Besatzung von Minsk oder andere Faktoren Krol’ 1917 zu einer Rückkehr nach Moskau bewogen, zweifellos aber konnte er hier auf die Unterstützung früherer Kollegen sowie seines Lehrers Lazar’ Minor vertrauen. Tatsächlich erhielt er den Posten eines Dozenten am Lehrstuhl für Nervenkrankheiten der Höheren Frauenschule in Moskau, wo er sich auf Lehre und Forschung konzentrieren konnte. In rascher Folge erlangte er den akademischen Grad eines Doktors der Medizin sowie nach seiner Habilitation den Professorentitel (1918). Dies erfolgte inmitten einer Phase reformativer Um2
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Libau ist der deutsche Name der heutigen lettischen Hafenstadt Liepāja. Zu den Zulassungsbeschränkungen für Juden im Russischen Reich vgl. Solomon Kacenbogen, Pravovoe položenie evreev v Belorussii nakanune revoljucii 1917 [Die rechtliche Stellung der Juden in Weißrussland am Vorabend der Revolution 1917], in: Trudy Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta [Arbeiten der Weißrussischen Staatsuniversität] (nachfolgend Trudy BGU) 8–9 (1926), S. 189–200, hier S. 192 f. Zu Lazar’ Minor (1855–1942), dessen Familie aus dem litauisch-weißrussischen Grenzland stammte, vgl. Lazar’ Solomonovič Minor, in: Nikolaj A. Semaško (Hrsg.), Bol’šaja Medicinskaja Ėnciklopedija [Großes medizinisches Fachlexikon] Bd. 18, Moskau 1931, S. 396. 1930 wurde diese Hochschule in das 2. Medizinische Institut Moskau umgestaltet. Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N. Peresada, Zavedujusčie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta 1921–1996 [Lehrstuhlinhaber und Professoren des Minsker Medizinischen Instituts 1921–1996], Minsk 1999, S. 6 f. Postanovlenija sanitarnogo soveta Komiteta Zapadnogo fronta [Verfügungen des Sanitätsrates des Komitees der Westfront], 3.–8. Juni 1917, Minsk 1917, S. 8 f.
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brüche des nunmehr sowjetischen Gesundheitssystems, welches von manchen Professoren, im sowjetischen Sprachgebrauch sogenannten „bürgerlichen Spezialisten“, boykottiert wurde.7 Die Verleihung hoher Grade an Michail Krol’ darf dennoch vor allem als Anerkennung seiner Forschungen besonders zu Fragen der Physiologie des Nervensystems durch die Moskauer akademischen Kreise verstanden werden; dieses Themenfeld war für die sowjetische ebenso wie die internationale Neurologie von enormer Aktualität, und Krol’ hatte die nicht alltägliche Gelegenheit, die Forschung auf diesem Feld voranzutreiben. Mehr noch als seine wissenschaftliche Reputation dürfte die Herkunft Michail Krol’s aus Minsk, der Hauptstadt der 1920 dauerhaft etablierten Weißrussischen SSR, zu seiner Mitarbeit in der zentralen Moskauer Planungskommission für die Gründung einer Weißrussischen Staatsuniversität geführt haben.8 Zwar gehörte er nicht deren „Provisorischer Leitung“ an, die von Moskau aus die administrative Grundsteinlegung orchestrierte, jedoch erwiesen sich seine Kenntnisse sowohl der Stadt Minsk wie auch der medizinischen Strukturen und nicht zuletzt seine Vernetzung im Moskauer Gesundheitssystem als unverzichtbar: Die angedachte Hochschule sollte auch eine medizinische Fakultät umfassen, um endlich dem notorischen Ärztemangel der weißrussischen Gebiete durch ein entsprechendes Ausbildungszentrum abzuhelfen.9 Krol’ gehörte den „Professoren-Kommissionen“ an, die im Dezember 1920 und erneut im April 1921 von Moskau nach Minsk reisten, um die Gegebenheiten vor Ort in Augenschein zu nehmen und auf der Basis dieser Eindrücke den Aufbau einer Universität zu planen bzw. das Fortschreiten dieser Pläne zu kontrollieren. Der gebürtige Minsker erkannte klar die Tragweite dieses Vorhabens, ging doch der Aufbau einer medizinischen Fakultät Hand in Hand mit dem fast völligen Neuaufbau des weißrussischen Gesundheitssystems überhaupt.10 Neben seinem Engagement bei der Evaluation vor Ort brachte Krol’ sich auch in die Planungen und die Organisation selbst ein, vor allem in der Ausarbeitung von Lehrplänen und der schwierigen Suche nach geeigneten Lehrkräften für die Medizinische Fakultät (MedFak) der Weißrussischen Staatsuniversität (BGU). Doch für längere Zeit sollte unter den nach Minsk berufenen Medizinern nur ein einziger als wirklich renommiert hervorstechen: Michail Krol’ selbst. Den letztendlichen Grund für seine Entscheidung, in seine Geburtsstadt zurückzukehren und dort für die junge Universität, die medizinische Lehre und die Neurologie Pionierarbeit zu leisten, 7 8 9 10
Vgl. Zmačinskaja, Mal’kovec u. Peresada, Zavedujusčie kafedrami (Anm. 5), S. 6. Vgl. Oleg A. Janovskij, Die Gründung der Weißrussischen Staatsuniversität 1921 und ihre Rektoren bis 1937, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 124–136, hier S. 126. Die „Provisorische Leitung“ bestand aus den Historikern Vladimir Pičeta und Fëdor Turuk sowie dem Parteifunktionär Zachar Grinberg. Michail Krol’, Peršyja kroki pa arhanizacyi mėdfaku BDU [Erste Schritte zur Organisation der MedFak der BGU (weißruss.)], in: Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j hadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi 1921–1927 [Weißrussische Staatsuniversität zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution 1917–1927 (weißruss.)], Festschrift, Minsk 1927, S. 47–51; sowie ders., 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija v BSSR [Zehn Jahre höherer medizinischer Ausbildung in der BSSR], in: Desjat’ let Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta [Zehn Jahre Weißrussische Staatsuniversität], Festschrift, Minsk 1931, S. 40–52.
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teilen Krol’s schriftliche Hinterlassenschaften nicht mit. Es gibt keinen Anlass, an seinen aufrichtigen Bestrebungen zu zweifeln, seine Fähigkeiten in ein bitter nötiges Projekt in einem medizinisch unterentwickelten Gebiet einzubringen, mit dem ihn seine eigene Vita verband. Zugleich aber bot sich ihm hier die Chance, ein weites Feld für künftige Forschungen zu erschließen, während ihm die schlimmsten Härten der neu an die BGU berufenen Lehrkräfte erspart blieben: Standen in Minsk auch für Professoren in den ersten Monaten nur wenige notdürftig hergerichtete und nicht immer beheizte Wohnungen zur Verfügung, so betraf dies weniger Krol’, der auch nach der feierlichen Eröffnung (11. Juli 1921) und selbst dem Beginn des Lehrbetriebs (30. Oktober 1921) seinen alten Wohnsitz in Moskau beibehielt, um weitere Fachkräfte für die medizinische Fakultät der BGU anzuwerben.11 NICHT NUR MEDIZIN Einen Einblick in seine Gedankenwelt und womöglich auch sein professionelles Selbstverständnis gab Michail Krol in seiner Rede „Denken und Sprache“ (Myšlenie i reč’) zur Eröffnungsfeier der BGU, welche später als Aufsatz veröffentlicht wurde.12 Darin befasste er sich, ausgehend vom Krankheitsbild der Aphasie (Sprachstörungen infolge von Hirnschäden), mit Fragen der Sprachwahrnehmung und Sprachbildung sowie den dafür notwendigen Erinnerungs- und Verarbeitungsleistungen des Gehirns. Aufbauend auf Erklärungs- und Forschungsansätzen benachbarter Disziplinen, führte Krol’ seine Überlegungen über die Grenzen des Sensualismus wie auch der Assoziationspsychologie hinaus, bezog Argumente der Linguistik mit ein und versuchte, sich in seinen Darlegungen dem Moment des Formulierens von Gedanken anzunähern, welche er als aktive Leistung definiert wissen wollte. Die Wahl eines solchen Themas sowie die Ausführungen dazu lassen einen Mediziner in der Tradition des „klassischen“ Gelehrtentums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erahnen: Krol’ beschränkte sich nicht auf die physiologischen Aspekte der Neurologie, sondern erschloss mit seinen Überlegungen den Grenzbereich von Medizin, Psychologie, Sprachwissenschaft und Philosophie. Dabei bezog er sich unter anderem auf die „Würzburger Schule“, eine zeitgenössische Forschungsrichtung der deutschen Denkpsychologie, und hierbei besonders auf den Sprachpsychologen und -theoretiker Karl Bühler.13 Doch nicht nur aktuelle deutsche Wissenschaftsdiskurse schlugen sich in Krol’s Argumentationen nieder; die Überlegungen Wilhelm von Humboldts zur Bedeutung der Sprache flossen darin ebenso ein wie Impulse diverser weiterer deutscher und anderer nichtrussischer Wissenschaftler, womit Krol’ seine profunden Kenntnisse der westlichen Wissenschaft rund um sein
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Krol’, Peršyja kroki pa arhanizacyi mėdfaku BDU (Anm. 10), S. 47–51, hier S. 51. Michail Krol’, Myšlenie i reč’ [Denken und Sprache], in: Trudy BGU 1 (1922), S. 1–13. Neben Bühler gelten Oswald Külpe, Narziß Ach, Otto Selz und Karl Marbe als Begründer der Würzburger Schule, vgl. hierzu Wilhelm Janke, Hundert Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie, Göttingen 1999.
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Fachgebiet bezeugte.14 Dabei machte er seine besondere Verbundenheit mit der deutschen Wissenschaftskultur und Literatur deutlich, indem er Goethes Mephisto zu Wort kommen ließ, der in Gestalt des Faust den Schüler mit zweifelhaftem Rat bedenkt: „In den Worten verbirgt sich die Wissenschaft; In Worten findet ihr den rechten Weg; in den Tempel der Weisheit zu gelangen.“ Die maliziöse Antwort Mephistos auf die Nachfrage des Schülers, ob dem Wort nicht stets ein Sinn beigeordnet sein sollte, ist Krol’ dabei besonders wichtig: „Wo der Sinn fehlt, ist das kein Problem; ihn ersetzen wir durch das Wort; Über Worte lässt sich streiten, Aus Worten ein System bereiten; Das Wort: die Grundlage der Religion; Heilig für uns ist des Wortes Ton.“15 Mit diesen spöttischen Worten des Mephisto nähert sich der Neurologe seinem Hauptanliegen an, welches er zum Abschluss seiner Rede als Appell vorbringt: „Unter dem Begriff ‚Arbeit‘ wird häufig die körperliche Arbeit verstanden und völlig übersehen, dass das Denken, und der Ausdruck von Ideen, ebenfalls eine aktiver Arbeitsprozess ist, dem eine nicht weniger privilegierte Stellung als der körperlichen Arbeit gebührt. Es wird ihrem Wesen nicht gerecht, wenn in der Schule und manchmal auch im öffentlichen Leben die geistige Arbeit und ihre Vertreter in viel geringerem Maße soziale Wertschätzung erfahren als die physische Arbeit […]. Diese Unterschätzung der geistigen Arbeit ist zutiefst beklagenswert. Die Ziele nicht nur einer Hochschule, sondern sämtlicher Arbeit sollte einschließen: 1) die Entwicklung unabhängigen Denkens, 2) die Entwicklung der Fähigkeit, klar und angemessen, aber möglichst mit allen Details, seine Gedanken mitzuteilen, und 3) den Leitsatz des Mephisto: ‚Wo es keinen Sinn gibt, ersetzen wir mühelos das Wort‘. Die heranwachsende Generation sollte nicht nur aus der Erfahrung lernen, nicht nur passiv Zusammenhänge assoziieren; sie muss dazu angehalten werden zu denken, das Wahrgenommene zu verstehen, sich hineinzuversetzen in jegliche Phänomene, sie aktiv zu erleben. Und wenn diese Eigenschaft bei jeder bewussten Person erforderlich ist, dann ist sie für zwei Berufsgruppen unbedingt empfehlenswert: Für den Lehrer und für den Arzt.“16
Man mag Krol’s Interpretation des Faust als idiosynkratisch empfinden, sein Plädoyer für die geistige Arbeit und das unabhängige Denken ebenso wie der unverhohlene Rekurs auf deutsche Wissenschaft und Kultur zeugen jedoch eindeutig vom Selbstbild eines Intellektuellen und Mediziners gleichermaßen. Zugleich drängt sich die Frage auf, ob derlei Ansichten und Bezüge der Karriere eines Universitätsprofessors im weiteren Verlauf der frühsowjetischen Geschichte zuträglich sein würden.
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Unter anderem werden der deutsche Philosoph August Messer, der deutsche Psychologe Richard Müller-Freienfels, der französische Neurologe Pierre Marie, der spanische Neurologe Santiago Ramón y Cajal und der US-amerikanische Linguist William D. Whitney direkt oder indirekt zitiert, vgl. Krol’, Myšlenie i reč’ (Anm. 12). Krol’ zitiert eine russische Version des Faust, die hier in möglichst wörtlicher (Rück-)Übersetzung wiedergegeben wird, jedoch vom deutschen Original durchaus abweicht, vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Zeile 1990–1999, im Gegensatz zu Krol’, Myšlenie i reč’ (Anm. 12), S. 12 f. Krol: ebd., S. 13.
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NATIONALE UND INTERNATIONALE VERDIENSTE Nicht nur die Suche nach Lehrkräften für die MedFak hielt Michail Krol’ bis Anfang 1924 in Moskau, und damit fern von „seiner“ Universität, die in Minsk ihre ersten schwierigen Jahre überstand: Seit einem unbestimmten Zeitpunkt des Jahres 1923 war er an der Beratung und Behandlung des Oberhaupts des sowjetischen Staates, Vladimir Lenin, beteiligt und somit einer der wenigen sowjetischen Fachleute, die ausreichendes Vertrauen genossen, um neben ausländischen Ärzten an Konsilien zur Genesung des „Führers des Weltproletariats“ teilzunehmen.17 Lenin war seit seinem dritten schweren Schlaganfall im März 1923 ans Bett gefesselt und Krol’ als einer der führenden Neuropathologen in Moskau eine naheliegende und politisch offenbar unbedenkliche Wahl in Behandlungsfragen. Dieses Engagement am Krankenbett Lenins scheint Krol’ auch in den folgenden Jahren einen gewissen politischen Kredit verschafft zu haben. Der Tod Lenins am 21. Januar 1924 entband ihn von diesbezüglichen Verpflichtungen und ermöglichte es ihm, endlich den Platz an der Spitze der MedFak der BGU einzunehmen. In Minsk wurden sowohl der Arzt wie auch der Professor Michail Krol’ unverändert dringend gebraucht. Zwar hatte er bereits 1921 offizielle Funktionen im Fakultätspräsidium und das Amt des Dekans übernommen, doch dies hatte sich wegen seines Moskauer Wohnsitzes schnell als unpraktisch erwiesen: Krol’ selbst bemerkte später ironisch, dass man ihn bestenfalls als „fiktiven Dekan“ der MedFak habe bezeichnen können, und er gab dieses Amt bis zu seiner dauerhaften Übersiedlung nach Minsk wieder ab.18 Dennoch war der erfolgreiche Aufbau von Lehrstühlen und Lehrkliniken, gerade im Hinblick auf die Auswahl und Verpflichtung von Dozenten, in großem Maße den organisatorischen Fähigkeiten Krol’s zu verdanken. Ebenso bedeutsam war sein Einfluss auf die Anpassung der Lehrpläne für das Medizinstudium an die nicht ganz plangemäßen Realitäten der jungen MedFak.19 Die nunmehrige Präsenz Krol’s in Minsk und ebenso die Hinzugewinnung weiterer Fachleute gaben bedeutende Impulse für die Entwicklung der weißrussischen Schule der Neurologie: Im Oktober 1924 übernahm Krol’ die Leitung des Lehrstuhls für Nervenkrankheiten sowie der Neurologischen Klinik mitsamt ihres Instituts für Physikalische Behandlungsmethoden.20 Sein persönlicher Forschungs17
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Diese Funktion wurde immer öfter nach dem Krieg im Zuge der verstärkten Mythologisierung von Leben und Tod Lenins erwähnt, vgl. Krol’, Michail, in: Pjatro U. Broŭka u. a. (Hrsg.), Belorusskaja SSR. Kratkaja ėnciklopedija. Biografičeskij spravočnik [Weißrussische SSR. Kurzes Lexikon. Biografisches Nachschlagwerk], Bd. V, Minsk 1982, S. 334. Krol’, Peršyja kroki pa arhanizacyi mėdfaku BDU (Anm. 10), S. 51. Krol’ arbeitete hierbei Unterrichtsmethoden aus, vgl. K voprosu o metode prepodavanija na medfakul’tetach (1924) [Zur Frage der Unterrichtsmethode an medizinischen Fakultäten (1924); Problema podgotovki sel’skich vračej (1925) [Das Problem der Vorbereitung der Landärzte (1925)] sowie Medicinskij Fakul’tet Gosudarstvennogo Universiteta [Die Medizinische Fakultät der Staatlichen Universität], in: Belaruskaja medyčnaja dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke] 9–12 (1927), S. 43–60. Moisej A. Chazanaŭ, Klinika nėrvovych chvarob i instytut fizyčnych mėtadaŭ ljačėn’nja NKAZ i BDU [Die Klinik für Nervenkrankheiten und das Institut für Physikalische Behand-
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schwerpunkt war fortan die Verbreitung von viralen Neuroinfektionen: Tollwut, Fleckfieber, Lepra und russische Enzephalitis; in der klinischen Praxis intensivierte er seine Studien der Funktionen des Nervensystems.21 Weiterhin bestand eine enge Anbindung an die Moskauer Neurologische Klinik Lazar’ Minors, Krol’s Lehrer und Mentor. Die Hauptforschungsrichtung der Minsker Neurologischen Klinik insgesamt richtete sich auf die Verbreitung von Nervenkrankheiten unter der jüdischen und weißrussischen Bevölkerung der BSSR, hierbei wurden zum Vergleich Daten der Moskauer Kollegen verwendet.22 Diese Forschungen folgten einem von Krol’ formulierten Leitgedanken: „Nervenkrankheiten sind zum großen Teil soziale Krankheiten“.23 Offensichtlich wurden bei den Studien zu diesen Fragen auch Daten über die materiellen und ökonomischen Lebensbedingungen der entsprechend ihrer Ethnizität erfassten Patienten erhoben – eine Praxis, die bald schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Neben seinen Tätigkeiten an der BGU beteiligte sich Michail Krol’ aktiv an den Sitzungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Minsker Ärzte, in deren Rahmen er gemeinsam mit Moisej Chazanov, einem Mitarbeiter seiner Klinik, Vorträge über Nervenkrankheiten und den Stand der neurologischen Behandlungsmöglichkeiten in der Republik hielt.24 In beratender Funktion besuchte er darüber hinaus zu mehreren Gelegenheiten weitere Städte der BSSR, unter anderem Homel’, Vicebsk und Mahilëŭ. Mehr noch als seine Mitarbeiter entfaltete Krol’ bald eine rege Publikationstätigkeit: Er veröffentlichte wissenschaftliche Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften und übernahm zugleich die Aufgabe der Außendarstellung der MedFak – seine Aufsätze zu deren erfolgreicher Errichtung und Ausgestaltung wurden hier bereits mehrfach zitiert. Doch auch Moisej Chazanov und Daniil Markov, die beide unter Krol’ arbeiteten und forschten, taten sich bald mit eigenen Veröffentlichungen hervor.25 Nicht wenige dieser Werke erschienen auch in deutscher Sprache: Unter den rund 50 Werken, die zwischen 1924 und 1928 publiziert wurden, waren beachtliche elf, die sich an das deutschsprachige Fachpublikum wandten;
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lungsmethoden des Volkskommissariats für Gesundheit und der BGU (weißruss.)], in: Belaruskaja mėdyčnaja dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke (hier weißruss.)] 1 (1929), S. 83–89. Michail Krol’ war für die wissenschaftlichen Inhalte dieses Periodikums als Fachlektor verantwortlich. Michail Krol’ u. Frida Bogorad, Nervnye zabolevanija v Belorussii po materialam kliniki nervnych boleznej BGU i NKZ [Nervenkrankheiten in Weißrussland anhand der Materialien der Klinik für Nervenkrankheiten der BGU und des Volkskommissariats für Gesundheitswesen], in: Belaruskaja medyčnaja dumka 7–9 (1926), S. 44–67. Krol’ u. Bogorad, Nervnye zabolevanija v Belorussii (Anm. 21), S. 56. Chazanaŭ, Klinika nėrvovych chvarob i instytut fizyčnych mėtadaŭ ljačen’nja (Anm. 20), S. 84. Moisej A. Poljak u. Ilja M. Flekel (Hrsg.), Naučnoe Obščestvo Minskich Vračej 1928 g. (Protokoly zasedanij) [Wissenschaftliche Gesellschaft der Minsker Ärzte 1928 (Protokolle der Sitzungen)], Minsk 1929, S. 86. Vgl. Daniil Markov, Varianty patologičeskich refleksov s podošvennym sgibaniem pal’cev i ich značenie [Varianten pathologischer Reflexe bei der Plantarflexion der Zehen und ihre Bedeutung], Minsk 1929, mit einem Vorwort Michail Krol’s; zu Chazanaŭ vgl. Anm. 20.
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sowohl Krol’ als auch Markov beherrschten diese Sprache sicher.26 1929 erschien aus der Feder Krol’s „Die Neuropathologischen Syndrome“ im angesehenen Berliner Julius Springer Verlag. Diesem Kompendium der Nervenkrankheiten und ihrer Diagnostik stellte er folgende Bemerkungen voran: „Das diesem Buche zugrunde liegende Material stammt fast ausschließlich aus der Nervenklinik der Weißrussischen Staatsuniversität Minsk. [ ] Die weitestmögliche Aufmerksamkeit wurde den neuesten Errungenschaften geschenkt, auf welche unsere Neurologie stolz sein kann. [ ] Beim Abschluß dieser Arbeit ist es mir ein Bedürfnis, vor allem den hiesigen Institutionen – und besonders der jungen Universität – zu danken, die mir hier eine Arbeitsstätte geschaffen, wie ich sie mir besser nicht wünschen kann. Zum herzlichsten Dank fühle ich mich meinen lieben Mitarbeitern an der Klinik verpflichtet. Sie haben mich bei dem Organisationswerk der jungen Nervenklinik tatkräftig unterstützt. Dieses Buch ist der Niederschlag unserer gemeinsamen Arbeit.“27
Auch in seinen folgenden Darstellungen fand Krol’ immer wieder Lob und namentliche Würdigung für seine Mitarbeiter, deren Studien in das Werk eingeflossen waren, und ebenso mitfühlende Worte für Patienten mit besonders schmerzhaften Leiden – beides keine Selbstverständlichkeit in der medizinischen Fachliteratur. Seine ausdrückliche Lobpreisung der sowjetweißrussischen neurologischen Forschung in dieser für den deutschen Sprachraum vorgesehenen Publikation deutete hingegen einen Vorzeichenwechsel seiner Arbeits- und Publikationsbedingungen an, der sehr viel deutlicher wird, wenn man Krol’s für das Sowjetfachpublikum verfasste Arbeiten vor und nach 1928 vergleicht. WANDEL DES SINNS UND DER WORTE Die Weißrussische Staatsuniversität feiert bis heute ihre Genese anlässlich verschiedener Jubiläen traditionell in Form von Festschriften – kleinen Sammelbänden, die in der Zwischenkriegszeit neben einer allgemeinen Abhandlung auch Beiträge namhafter Wissenschaftler enthielten. 1927, zur zehnten Jährung der Oktoberrevolution, verfasste Michail Krol’ für eine solche Festschrift den Aufsatz „Erste Schritte zur Organisation der MedFak der BGU“ (Peršyja kroki pa arhanizacyi mėdfaku BDU). In weißrussischer Sprache würdigte er darin die Meilensteine besagter Entwicklung, hier findet sich auch die zitierte ironische Bezeichnung des „fiktiven Dekans“.28 Vier Jahre später trug er einen vergleichbaren Artikel zur Festschrift anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der BGU selbst bei: „Zehn Jahre höherer medizinischer Ausbildung in der BSSR“ (10 let vysšego medicinskogo obrazovanija v BSSR). Die Unterschiede zwischen beiden Beiträgen beschränken sich nicht auf die Sprache (nunmehr Russisch), sondern erwecken den Anschein eines 26 27 28
Chazanaŭ, Klinika nėrvovych chvarob (Anm. 20), S. 88; zu den Sprachkenntnissen vgl. NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 40 (wie Anm. 1) sowie Markov, Varianty patologičeskich refleksov (Anm. 25), der erheblich auf deutsche Fachliteratur rekurrierte. Michael Kroll [sic], Die neuropathologischen Syndrome. Zugleich Differentialdiagnostik der Nervenkrankheiten, Berlin 1929, hier zitiert aus dem Vorwort, datiert auf den 12. März 1929. Vgl. Anmerkung 11.
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tiefgreifenden Sinneswandels des nach wie vor renommierten Neurologen. Plötzlich erkannte Krol’ in den Gründungsjahren der MedFak (1921 bis 1928) vor allem einen Kampf gegen die „Restauration des Kapitalismus“ sowie die Bedrohung durch „weißrussische Nationaldemokraten“, „jüdische Nationalisten“ sowie „Großmacht-Chauvinisten“, welche das Funktionieren der MedFak mutwillig beeinträchtigten, indem sie ihre Forschungsergebnisse und Publikationen auf „groben Empirismus und Eklektizismus“ gründeten. Noch interessanter sind die Beispiele, die der Neurologe hierfür gerade im Bereich der medizinischen Forschung stichpunktartig anführt: „Die Begründung der Besonderheit des Tay-Sachs-Syndroms in ultranationalistischem Geiste, [sowie] nationalistische Untersuchungen der jüdischen Unterschicht, die einer sozialhygienischen Umfrage unterzogen wurden.“29 Offensichtlich verdammte Krol’, der einstige Verfechter unabhängigen Denkens und wissenschaftlichen Fortschritts, hier Forschungen, die zwischen 1924 und 1927 von ihm persönlich angestoßen worden waren, seinen eigenen Leitideen folgten und für die er auch administrativ verantwortlich gewesen war. Was war passiert? Die BGU, und mit ihr die MedFak, hatten sich seit 1924 im Fokus der nationalpolitischen Lenkungsmaßnahmen der Weißrussischen SSR befunden, unter dem programmatischen Begriff der „Weißrussifizierung“ (belarusizacyja) umfasste dies vor allem eine Aufwertung der weißrussischen Sprache zur Amts- und Wissenschaftssprache, aber auch die Förderung von Literatur und anderen Kulturfeldern – freilich immer nach den Maßgaben der sozialistischen Staatsideologie. Auch die jüdische Nationalität wurde in ähnlichem Sinne gefördert, allerdings strikt säkular definiert und somit auch auf kulturelle und sprachliche Aspekte beschränkt. Michail Krol’s Beitrag zur Festschrift aus dem Jahr 1927 ist vor diesem Hintergrund zu verstehen: als Beitrag zur Verquickung von Weißrussifizierung und Medizin.30 Auch die erwähnten Forschungen an der Neurologischen Klinik, die zwischen der amtlichen Herkunft der BSSR differenzierten und sich auf die weißrussische und jüdische Ethnizität konzentrierten, waren mit dieser politischen Linie problemlos vereinbar. Ab 1927 jedoch vollzog die Politik in dieser Frage, befeuert durch das Nachrücken ideologisch radikalisierter (Nachwuchs-)Kader in allen öffentlichen Institutionen, eine völlige Kehrtwende: Engagement im Sinne der Weißrussifizierung stand nunmehr unter dem Generalverdacht des „Nationaldemokratismus“ (verkürzend: Nacdėm), ein Vorwurf, der Exponenten des Kultur,Wissenschafts- und Politikbetriebs ebenso traf wie wohl auch Michail Krol’. Mit welchen Maßnahmen oder Warnungen der berühmte Neurologe konfrontiert wurde, lässt sich heute nur noch erahnen. Michail Krol’ sollte im weiteren Verlauf seiner ungebrochen erfolgreichen Karriere niemals wieder Thesen wie in seiner Rede zur 29
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Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija v BSSR (Anm. 10), S. 42–47. Beim TaySachs-Syndrom handelt es sich um eine vererbliche Chromosomenmutation, die bei betroffenen Kindern zu neuronalen Defekten aufgrund von Stoffwechselstörungen bei einer maximalen Lebenserwartung von vier Jahren führt; diese Chromosomenmutation tritt bei Aschkenasim überproportional häufig auf. Hierzu sowie zur Sozialhygiene vgl. den Artikel von J. Wiggering zur Geschichte der MedFak in diesem Band. Vgl. Michail Krol’ hatte noch 1925 angegeben, des Weißrussischen gar nicht mächtig zu sein, NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 40.
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Eröffnung der BGU 1921 vertreten oder Forschungsparadigmata mit nationalpolitischer Angriffsfläche formulieren. 1930 wurde er vielmehr Mitglied der Kommunistischen Partei. Sein Beitrag zum Jubiläumsband 1931 muss als Abbitte in Form von scharfer, wenn auch nicht namentlicher Selbstkritik verstanden werden. Offenbar entging er durch diese beiden Schritte härteren Sanktionen, was längst nicht allen hochrangigen Wissenschaftlern gelang: Der Historiker Vladimir Pičeta, ebenso sehr „Gründungsvater“ der gesamten BGU wie Krol’ dies für die MedFak war, hatte sich in seinen Arbeiten zur weißrussischen Geschichte nicht zu ausreichenden Anpassungen an die neue Ideologie bereitgefunden und bezahlte dies mit dem Verlust seines Postens im Oktober 1929 sowie seiner Verhaftung, Verurteilung und Verbannung ein knappes Jahr später.31 Allein solche Beispiele aus Krol’s engster Umgebung illustrieren den Druck, unter welchem der Neurologe gestanden haben muss. Krol’ wählte nicht, wie manche seiner gleichermaßen exponierten Kollegen, den Rückzug in unverfängliche Bereiche der Forschung und ärztlichen Praxis, sondern beugte sich und erbrachte bemerkenswerte Anpassungsleistungen, wodurch er Schaden von seiner Person und Karriere ebenso abwendete wie von der Institution, deren Aufbau er die vorangehenden sieben Jahre gewidmet hatte. Allerdings existierte zum Erscheinungszeitpunkt seines selbstkritischen Beitrags die MedFak als solche gar nicht mehr; sie war bereits ein Jahr zuvor, zum Ende des akademischen Jahres 1929/30 verselbstständigt worden und firmierte nun unter dem Namen „Staatliches Medizinisches Institut Minsk“ (Minski Dzjaržaŭny Medycynski Instytut) – den Posten des Direktors bekleidete Michail Krol’. Mit dieser Ausgliederung, die auch anderen Fakultäten wiederfuhr, versuchte man den Vorgaben des ersten Fünfjahresplans gerecht zu werden, der eine beträchtliche quantitative Steigerung des (in diesem Fall ärztlichen) Ausbildungsvolumens postulierte. Wiederum stand der Direktor Krol’ vor erheblichen Organisationsproblemen, nicht unähnlich jenen ein Jahrzehnt zuvor, doch diesmal unter erheblich stärkerem politischem Druck. Mehr Studierende mussten bei strenger „sozialer Selektion“ nach „Klassenmerkmalen“ immatrikuliert und zugleich akzeptable materielle Ausbildungsbedingungen geschaffen werden. In beiden Belangen wurden mitunter radikale Maßnahmen ergriffen; so propagierte man beispielsweise die „Mobilisierung aller Mikroskope“ in verschiedensten medizinischen Einrichtungen zugunsten der Bedürfnisse der Studierenden, was allerdings kaum über den Mangel an hochwertiger Laborausrüstung hinweg täuschen konnte, die zudem häufig aus dem Ausland importiert werden musste.32 Hinsichtlich der durch die Parteilinie diktierten 31
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Zu Vladimir Pičeta vgl. Oleg A. Janovskij, Gründung der Weißrussischen Staatsuniversität (Anm. 8), S. 129 ff.; Rainer Lindner, Nationalhistoriker im Stalinismus. Zum Profil der akademischen Intelligenz in Weißrußland 1921–1946, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47 (1999), S. 187–208; sowie Aleh A. Janoŭski (= Oleg Janovskij) u. Artur G. Zel’ski (Hrsg.), Historyja Belaruskaha Dzjaržaŭnaga universitėta ŭ bijahrafijach jaho rėktaraŭ [Die Geschichte der Weißrussischen Staatlichen Universität anhand der Biografien ihrer Rektoren (weißruss.)], Minsk 2001, S. 8–28. Vgl. NARB, F. 218, O. 1, D. 251, L. 12, Briefwechsel mit dem Allunionsverband Technologieimport aus dem Jahr 1931; ebenso L. 15, Briefwechsel mit dem Volkskommissariat für Außenhandel 1932.
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Personalpolitik, also der „Säuberung“ von Studierenden, sind konkrete Einzelfälle nachweisbar, in denen unter Krol’s Direktorat „klassenfremde Elemente“ exmatrikuliert wurden, so im Mai 1931, als der Zweitsemester I. S. (der seine wahre soziale Herkunft verheimlicht hatte) des Instituts verwiesen wurde.33 In seinem zitierten Artikel aus demselben Jahr befürwortete Krol’ diese Politik nachdrücklich und dürfte in den Augen des Parteistaats so seine Vertrauenswürdigkeit unterstrichen haben – umso mehr, da an den sowjetischen Akademien der Wissenschaften durchaus Proteste gegen diese Politik laut wurden, so durch den renommierten Physiologen Ivan Pavlov.34 Von Krol’ war dergleichen nicht zu befürchten, stattdessen engagierte er sich durch ehrenamtliche Arbeit und war zudem Mitglied des Minsker Stadtsowjets, scheute also die Nähe zur aktiven Politik keineswegs.35 Seine Leistungen würdigte die Republik, indem sie ihm Anfang der 1930er Jahre den Titel eines „Verdienten Wissenschaftlers der BSSR“ verlieh. AM NERV DER SOWJETMEDIZIN Die Leitung des Moskauer Instituts für Psychoneurologie wurde 1931 abgesetzt und ihre Arbeit generell für gescheitert erklärt. Infolge dieser Maßnahme ergab sich in der Hauptstadt der UdSSR von einem Augenblick auf den anderen ein akuter Bedarf an regimetreuen wissenschaftlichen Autoritäten der einschlägigen Disziplinen, die vorzugsweise auch organisatorische und administrative Erfahrungen vorweisen sollten, da die neue Institutsleitung zunächst eine grundlegende Umstrukturierung aller Arbeitsprozesse zu leisten hatte. Hinzu kamen spezifische wissenschaftliche Anforderungen: Unter behördlichem Druck hatten die führenden Köpfe der Psychiatrie und Neurologie eingestehen müssen, dass zwischen der theoretischen Neuropathologie und der neurologischen Praxis bislang unüberbrückbare Lücken klafften. Es fehlte an verlässlichen und präzisen Daten über die soziale Dynamik von Nervenleiden.36 Für Michail Krol’, der diesem Anforderungsprofil perfekt entsprach, bot sich durch eine Rückkehr nach Moskau die Möglichkeit eines weiteren Karriereschritts. 1932 trat er die Nachfolge seines Lehrers Lazar’ Mi33
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Das sowjetische Regime verweigerte Kindern, deren Eltern das Wahlrecht entzogen worden war, das Recht auf Hochschulbildung, also Kindern von Kaufleuten, reichen Bauern, ehemaligen Aristokraten etc. Zu Slavinskij vgl. NARB, F. 218, O. 1, D. 117, L. 16, Aktennotiz zur Exmatrikulation aus dem Weißrussischen Staatlichen Medizinischen Institut, Mai 1931. 1925 gab Ivan Pavlov demonstrativ seine Stelle an der Militärmedizinischen Akademie in Leningrad auf, nachdem Studenten aus „bourgeoisen“ Familien exmatrikuliert worden waren. Seinen Entschluss begründete Pavlov damit, dass er selbst aus der Familie eines Geistlichen stammte. Er missbilligte ferner, dass Akademiemitglieder der Kommunistischen Partei beitraten. Vgl. hierzu Viktor Topoljanskij (Hrsg.), Skvoznjak iz prošlogo. Vremja i dokumenty [Zugluft aus der Vergangenheit. Zeit und Dokumente], St. Petersburg 2006, S. 135 f. Krol’, Michail Borisovič, in: Bol’šaja Medicinskaja Ėnciklopedija [Großes medizinisches Fachlexikon], Bd. XIV, Moskau 1930, S. 767 f. Zum Institut für Psychoneurologie der Kommunistischen Akademie vgl. Sovetskaja nevrologija, psichiatrija, psichogigiena [Sowjetische Neurologie, Psychiatrie, Psychohygiene] 1–2 (1932), S. 59.
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nor als Leiter des Lehrstuhls für Nervenkrankheiten des 2. Medizinischen Instituts in Moskau an. Doch nicht nur in der Lehre waren seine im Sinne des Regimes verlässlichen Dienste gefragt: Krol’ übernahm zugleich den Posten des „verantwortlichen Redakteurs“ der Fachzeitschrift „Sowjetische Neuropathologie, Psychiatrie und Psychohygiene“.37 Unter seiner Leitung musste das Redaktionskollegium die Zeitschrift entsprechend der „Generallinie“ der Partei neu ausrichten. Dies bedeutete, im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie frühere „Fehler“ (z. B. „reaktionäre“ Theorien über die Erkrankungshäufigkeit innerhalb der Arbeiterklasse) richtigzustellen und in Zukunft zu verhindern.38 Ferner war man verpflichtet, ausgiebig über die Erfolge psychoneurologischer Einrichtungen in der Sowjetunion zu berichten, die Erfahrungen der besten „Stoßarbeiter“ hervorzuheben und dergleichen mehr.39 Krol’, gemäß der zeitgenössischen Terminologie ein „ideologisch [der Parteilinie, J. W. A. Z.] nahestehender Psychoneurologe“, war für die Zensur der Zeitschrift hauptverantwortlich; „feindliche und oberflächliche“ Artikel, sogenannte „Schundliteratur“, durfte keinesfalls den Weg in dieses Periodikum finden, welches auch in der Ausbildung des Nachwuchses der neurologischen und psychiatrischen Fachbereiche eingesetzt wurde.40 Unter Michail Krol’s Leitung wurde die Zeitschrift den Erwartungen der Partei offenbar gerecht und avancierte zu einem zuverlässigen Medium zur Außendarstellung der sowjetischen Gesellschaft der Psychoneurologen und psychiatrischen Einrichtungen der UdSSR. Diese Redaktionstätigkeit illustriert nicht nur den Karriereaufstieg Krol’s, dem aufgrund seiner ideologischen Zuverlässigkeit immer mehr Verantwortung übertragen wurde, sondern auch die Art und Weise, wie die Politisierung und Kontrolle der Medizin vorangetrieben wurde – der Parteistaat durchdrang immer totalitärer die Institutionen und Organisationen der sowjetischen Gesellschaft. Krol’, der 1933 zum Leiter der Klinik für Nervenkrankheiten des Allunionsinstituts für Experimentelle Medizin aufstieg, lobte diese Aufmerksamkeit der Partei für psychoneurologische Fragen sowie das System der auf Prävention bedachten Sowjetmedizin selbst. 1934 folgte für ihn die Berufung zum Vorsitzenden der Moskauer Gesellschaft der Neurologen und Psychiater und im Jahr darauf der Sprung an die Spitze des Vorstands der Allunionsgesellschaft der Neurologen und Psychiater. Ziel dieser Gesellschaft war die Einbindung ihrer Mitglieder in aktive Maßnahmen (bzw. Kampagnen) zum Aufbau des Sozialismus und die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft 37 38 39
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Ab 1936 unter leicht verändertem Titel: Nevropatologija, psichiatrija i psichogigiena [Neuropathologie, Psychiatrie und Psychohygiene]. Krol’ selbst hatte in „Die neuropathologischen Syndrome“ (1929) noch die negativen Auswirkungen körperlicher Schwerstarbeit auf das Nervensystem zu einer häufigen Ursache vieler Nervenleiden erklärt. Die entsprechenden Beschlüsse der 17. Parteikonferenz und die Aufgaben der Zeitschrift finden sich ebendort: Sovetskaja nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 1–2 (1932), Bd. I, S. 1–9, hier besonders 6 ff. Zur Redaktion zählten ferner herausragende sowjetische Psychiater jener Jahre, wie Vladimir A. Giljarovskij, Evgenij K. Sepp und Pëtr B. Gannuškin. Vgl. God 1936 [Jahr 1936], in: Nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 1 (1936), S. 3 f. Zur Ausbildung von Psychiatern siehe den Beitrag von A. Zamoiski in diesem Band.
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der UdSSR.41 In dieser Funktion konnte Krol’ einen Mangel beheben, den er zwei Jahre zuvor selbst kritisiert hatte, nämlich den Mangel an Allunionskongressen für Neurologen und Psychiater, deren letzter 1927 stattgefunden hatte.42 Die Ausrichtung von Veranstaltungen dieser Art wurde auf sein Betreiben intensiviert. Michail Krol’ war an der Spitze des medizinischen Sowjetapparats angekommen, er gehörte nunmehr zur Nomenklatura, was sich auch in seiner mehrmaligen Wahl zum Abgeordneten des Moskauer Stadtsowjets zeigte. Dieses Ehrenamt muss als förmliche Anerkennung nicht nur seiner wissenschaftlichen Leistungen, sondern mehr noch seines gesellschaftlichen Status’ verstanden werden.43 BLICKE NACH WESTEN Seit den frühen 1930er Jahren schränkte der Sowjetstaat Kontakte seiner Wissenschaftler mit ausländischen Instituten immer mehr ein. 1935 wurde sowjetischen Forschern strikt verboten, ihre Arbeiten ohne ausdrückliche Erlaubnis des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften ins Ausland zu schicken oder gar dort zu publizieren.44 Kongressbesuche im Ausland wurden durch Ausreiseerschwernisse meist unmöglich gemacht; die UdSSR wurde auch in Wissenschaftsbelangen zu einem geschlossenen Land. Michail Krol’ betrafen solche Restriktionen jedoch nicht: Er genoss das Privileg, noch immer uneingeschränkt internationale Tagungen und Kongresse besuchen zu können.45 Bereits 1931 hatte Krol’ am I. Internationalen Neurologischen Kongress in Berlin teilgenommen und die Größen der deutschen und internationalen Wissenschaft auf diesem Gebiet kennengelernt, vier Jahre später besuchte er psychoneurologische Kliniken in England, Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei.46 Bereits in der Zwischenzeit hatte er sich mit zunehmend kritischen Urteilen über die westliche Wissenschaft in sowjetischen Fachperiodika zu Wort gemeldet und ihr Anfang 1933 attestiert, die Ausbildung von Medizinern, speziell Neurologen und Psychiatern, zu vernachlässigen – im Gegen-
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Vgl. O zadačach Vserossijskogo obščestva nevropatologov i psichiatrov [Über die Aufgaben der Allrussischen Gesellschaft der Neurologen und Psychiater], in: Sowetskaja nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 1 (1935), Bd. IV, S. 187. Vgl. Michail Krol’, Uspechi sovetskoj nevrologii za 15 let [Fortschritte der sowjetischen Neurologie während der (letzten) 15 Jahre], in: Sovetskaja nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 1 (1933), Bd. II, S. 1–9. Vgl. Daniil Markov, Akademik M. B. Krol’. Nekrolog [Akademiemitglied M. B. Krol’. Nachruf], in: Medicinskij Žurnal BSSR [Medizinische Zeitschrift der BSSR] 10–11 (1939), S. 142 f. Vgl. Michail E. Abramenko, Zdravoochranenie BSSR. Stanovlenie sovetskoj sistemy 1917– 1941 [Das Gesundheitswesen der BSSR. Die Entwicklung des sowjetischen Systems 1917– 1941], Homel’ 2005, S. 112. Vgl. Eine Liste der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die 1934 ins Ausland entsandt wurden (o. J.), Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. 8009, O. 10, D. 79, L. 90. Vgl. Michail Krol’, Zagraničnye vpečatlenija 1935 [Auslandseindrücke 1935], in: Nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 2 (1936), Band V, S. 321–330, hier S. 321.
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satz zur Sowjetunion, die beträchtlich darin investiere.47 Nach seiner Reise durch West- und Zentraleuropa 1935 fiel sein Urteil noch deutlich schärfer aus. Der Vorwurf, die deutsche Wissenschaft kranke seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ an den Grundübeln der Krise des Kapitalismus, nämlich an zunehmend faschistoiden Haltungen in Verbindung mit grassierender Arbeitslosigkeit, umreißt die Grundhaltung des sowjetischen Agitprop jener Jahre. Krol’ wiederum tat zunächst nichts anderes, als diese Generalkritik auf die Spezialbereiche der Neurologie und Psychiatrie zu beziehen: Er führte alle konstatierten negativen Entwicklungen in der Arbeit deutscher und österreichischer medizinischer Forschungszentren auf Finanzierungskürzungen und einen extrem schädlichen Einfluss nationalsozialistischer Ideologie auf die Wissenschaft zurück. Im Weiteren erhob er jedoch konkretere Vorwürfe, die seine Kenntnisse der zeitgenössischen wissenschaftlichen Kreise wiederspiegeln: Er kritisierte, dass Neurologen und Psychiater „nichtarischer Herkunft“ Deutschland gezwungenermaßen verlassen mussten. Namentliche Erwähnung fanden Kurt Goldstein und Friedrich H. Levy, die in die USA emigrieren und dort ihre Arbeit fortsetzen konnten, ferner Wilhelm Mayer-Gross und Ludwig Guttmann (emigriert nach Großbritannien), Max Bielschowsky (Niederlande) sowie Felix Georgi (Schweiz). Krol’, als Jude selbst „Nichtarier“, beklagte bitter den Verlust, welchen die deutsche Neurologie durch diese Vertreibungspolitik hinnehmen musste, und umso mehr, als nach der Emigration führender wissenschaftlicher Köpfe mitunter auch ihre Einrichtungen geschlossen wurden, wie im Falle der Frankfurter Klinik Kurt Goldsteins. Andere „nichtarische“ Neurologen verloren ihre Position, verblieben aber in Deutschland und konnten nur noch privat praktizieren, wofür Krol’ die Beispiele Paul Schusters und Arthur Simons’ anführte; in allen Fällen nahm der Sowjetmediziner durchaus Anteil am Schicksal der betroffenen Kollegen und zeigte auf, wie deren Lebens- und Karrierewege andernorts weitergingen.48 Gezielte Kritik übte Krol’ an den Schwerpunktsetzungen der nationalsozialistisch beeinflussten deutschen Forschung, wie beispielsweise an der Konzentration auf Fragen der Genetik, Sterilisation und chronisch unheilbaren Krankheiten, also der Entwicklung hin zur „Rassenhygiene“.49 VERTRAUENSWÜRDIGKEIT Im selben Artikel hob der Neurologe voller Stolz hervor, dass einige berühmte westliche Fachleute die Entwicklung der sowjetischen Medizin überaus positiv bewerteten und gar Interesse zeigten, in der UdSSR zu arbeiten. Die Namen dieser 47 48 49
Krol’, Uspechi sovetskoj nevrologii za 15 let (Anm. 42), S. 1–9. So die Möglichkeit für Mayer-Gross und (den späteren Sir Ludwig) Guttmann, ihre Arbeit am Londoner Maudsley Hospital fortzusetzen, oder Bielschowskys Tätigkeit in einer psychiatrischen Privatklinik in Utrecht, vgl. Krol’, Zagraničnye vpečatlenija 1935, S. 322. Ebd., S. 323. Zu den Erfahrungen Krol’s mit sozialhygienischen Studien und deren ideologischen Fallstricken vgl. auch den Artikel von Johannes Wiggering zur MedFak im vorliegenden Band.
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Kollegen nannte Krol’ nicht, ebenso wenig wie er positive Aspekte der europäischen Forschung jener Jahre erwähnte – allzu leicht hätte er dadurch den Vorwurf der Sympathie für „bourgeoise“ Wissenschaftsschulen auf sich ziehen können.50 Ebenfalls 1935 trug Krol’ auf einem internationalen neurologischen Kongress in London als Vorsitzender der sowjetischen Delegation vor, ihm wiederfuhr sogar die Ehre, zum Vizepräsidenten dieses Kongresses gewählt zu werden. In seiner (für das sowjetische Fachpublikum verfassten) Zusammenfassung der dort erzielten Arbeitsergebnisse merkte Krol’ an, dass er weder bedeutende Vorträge noch neue Standpunkte gehört habe, aber in vielen Laboratorien und Kliniken Europas und der USA interessante Forschungsarbeiten im Bereich der Neuropathologie durchgeführt würden. Er betonte gar die Wichtigkeit des persönlichen Austauschs zwischen Kollegen über neue Methoden und Ansätze neurologischer Forschung, wie ihn internationale Konferenzen und Kongresse ermöglichten – inmitten der zunehmenden Spionageangst in der UdSSR, welche die wissenschaftliche Isolierung und die Distanzierung von westlichen Kollegen noch verstärkte, eine bemerkenswerte Aussage: Alle Vorsicht und die langgeübte politische Konformität schienen die wissenschaftliche Aufgeschlossenheit Michail Krol’s noch nicht vollkommen erstickt zu haben.51 Zum Ende der 1930er Jahre war der Mediziner, Wissenschaftler und Funktionär Krol’ endgültig an der Spitze der sowjetischen akademischen Hierarchie angelangt. Er amtierte als Vorsitzender der Expertenkommission der Höheren Attestationskommission für die Bereiche Neurologie und Psychiatrie ebenso wie als stellvertretender Vorsitzender der medizinisch-wissenschaftlichen Beiräte der Volkskommissariate der BSSR und der UdSSR. Während des „Großen Terrors“ blieb er von den Repressionen, welche die gesamte Gesellschaft erfassten, verschont, worin sich wohl das ungebrochene Vertrauen der Behörden in seine Person ausdrückte. Von 1934 bis 1938 war Michail Krol’ Chefarzt des Krankenhauses der 4. Hauptverwaltung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR – eine medizinische Einrichtung speziell für die Bedürfnisse der Parteielite und Nomenklatura. Zu Zeiten politischer „Hexenjagden“, steter Paranoia in Bezug auf medizinisches Personal und omnipräsenter Repressionen bedeutete ein solcher Posten nicht nur Prestige, sondern vielmehr auch ein erhebliches Risiko. Im Falle Krol’s darf seine Einsetzung vor allem als erneuter Vertrauensbeweis verstanden werden, ein Vertrauen, das ihn in der Folge tatsächlich vor Angriffen schützte. Noch kurz vor seinem Tod am 6. August 1939 wurde Michail Krol’ zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ernannt.52 Auch nach seinem Ableben stand sein Name wie schon zu seinen Lebzeiten demonstrativ für die Erfolge der sowjetischen Neurologie. In den Nachkriegsjahren wurden Werke, die unter seiner Herausgeberschaft erschienen waren, neu aufgelegt und dienten als Lehrbü50 51 52
Näher dazu siehe den Beitrag von Andrei Zamoiski zu Psychiatern in diesem Band. Vgl. Krol’,Vtoroj Meždunarodnyj Nevrologičeskij Kongress v Londone [II. Internationaler Kongress in London], in: Sovetskaja nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 12 (1935), Bd. IV, S. 126–129. Markov, Akademik M. B. Krol’. Nekrolog (Anm. 43), S. 142 f.
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cher für Medizinstudierende. Michail Krol’ bereicherte die Fachwelt um mehr als 120 wissenschaftliche Werke, darunter zahlreiche Aufsätze für medizinische Fachzeitschriften oder Enzyklopädien sowie mehrere Monographien.53 Zusammen mit anderen führenden Neurologen und Psychiatern hatte er zudem das zweibändige „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“ vorbereitet.54 WORTE UND WERTE Wie erklärt sich diese bemerkenswert erfolgreiche Karriere unter den wechselhaften Voraussetzungen des frühen 20. Jahrhunderts? Michail Krol’ erhielt eine klassische medizinische Ausbildung und konnte vor dem Ersten Weltkrieg in einer der besten neurologischen Kliniken des Russischen Reiches unter Anleitung der führenden Wissenschaftler jener Zeit lernen und praktizieren. Die Protektion des begabten Nachwuchsmediziners durch den einflussreichen Professor Lazar’ Minor dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass dieser seine Karriere auch während der revolutionären Umbrüche weiter vorantreiben konnte. Unbestritten sind Krol’s Verdienste um die medizinische Hochschulbildung in der jungen Weißrussischen SSR: Sein persönliches Engagement und seine beachtlichen organisatorischen Leistungen halfen der medizinischen Fakultät der BGU, die ersten Schritte in einer schwierigen Aufbauphase zu meistern, während im Fortlauf der 1920er Jahre das bemerkenswerte wissenschaftliche Niveau der weißrussischen Medizin nicht zuletzt auf Krol’s Forschungs- und Führungsleistungen beruhte. Auch die verschiedenen Fachkliniken, die ab 1923 in Anschluss an die MedFak aufgebaut wurden, verdankten ihren erfolgreichen Start sowohl Krol’ als auch der zunächst erstaunlich pragmatischen und konstruktiven Bildungs- und Gesundheitspolitik der jungen BSSR bis 1927. Inmitten eines gewaltigen, wenn auch dringend nötigen Aufbaus medizinischer Infrastruktur waren rasante Karrieren keine Seltenheit, doch jene Krol’s sollte sich auch als nachhaltig erweisen. Inwieweit seine Beteiligung an der Krankenbehandlung Lenins Einfluss auf seinen weiteren Werdegang hatte, lässt sich anhand der Quellen heute nicht mehr ermessen. Michail Krol’s eklektische Zitate, mit denen er sich 1921 auf die fragwürdige Weisheit des Mephisto berief, holten ihn spätestens mit der Kehrtwende in der sowjetischen Nationalitätenpolitik 1927 ein. Eine ideologisch radikalisierte Partei änderte Worte und Sinn der staatstragenden Lehre gleichermaßen, und das, was Michail Krol’ aus Mephistos Worten herauslesen wollte, nämlich die autonome 53
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Die wichtigsten Werke Krol’s umfassten: Nevropatologičeskie sindromy [Neuropathologische Syndrome], Moskau/Leningrad 21936; Učebnik nervnych boleznej [Lehrbuch der Nervenkrankheiten], Moskau/Leningrad 31939 (zusammen mit Michail S. Margulis und Nikolaj I. Propper-Graščenkov). Das Lehrbuch wurde vom Institut zur Erforschung der höheren Nerventätigkeit der Kommunistischen Akademie beim Zentralexekutivkomitee der UdSSR von führenden Neurologen und Psychiatern des Landes ausgearbeitet (31 Autoren). Rezensenten bewerteten das Lehrbuch sehr hoch für seine Verständlichkeit und Originalität, vgl. Rezensionen in Nevrologija, psichiatrija, psichogigiena 8 (1934), Bd. III, S. 153.
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sprachliche Deutungshoheit und -fähigkeit des denkenden Individuums, wurde von politischer Seite kurzerhand neu gedeutet als Illegalität des freien Denkens; aus Worten wurde ein System bereitet – und zur letztgültigen, nicht mehr legitim hinterfragbaren Wahrheit erklärt. Doch statt „in den Tempel der Weisheit“ führte diese marxistisch-leninistische Wahrheit unweigerlich in den Totalitarismus. Als Direktor des Medizinischen Instituts in Minsk erlebte Krol’ diese Entwicklung mit und ließ sich zu deren Vollstrecker machen. Man mag zu seinen Gunsten anführen, dass keinerlei Fälle überliefert oder auch nur zu erahnen sind, wo Krol’ selbst die (üblen) Mechanismen des neuen Systems, z. B. Denunziationen, aktiv zur Förderung seiner Karriere einsetzte. Andererseits kamen ihm die Auswirkungen dieser Praxis persönlicher Angriffe und Paranoia auch ohne deren aktiven Einsatz zugute. Er war ein passiver Nutznießer jenes Regimes, das zahlreiche seiner Kollegen um Amt, Freiheit oder gar das Leben brachte. Man tut dem Gedenken an den verdienstvollen Arzt, Forscher und Lehrer Michail Krol’ nicht unrecht, wenn man ihn, neben vielen anderen, als Konformisten charakterisiert, der gewissenhaft leistete, was das stalinistische Regime von seinen Wissenschaftlern erwartete. Der Sowjetapparat dankte ihm diese Treue mit einem weitreichenden Vertrauen: Eine Grundvoraussetzung, um exponierte Führungspositionen im sowjetischen Gesundheitssystem der späteren 1930er Jahre ohne akute Gefahr für die eigene Person einnehmen zu können. Dieses „integrierte“ Verhältnis von Wissenschaftler und System funktionierte zu beiderseitigem Nutzen. Michail Krol’ verdankte ihm eine außerordentlich hohe Position in der Hierarchie der Sowjetwissenschaft sowie die seltene Gelegenheit, den Austausch mit der westlichen Wissenschaftslandschaft fortzusetzen. Im Gegenzug erhielt der Sowjetstaat einen verlässlichen Funktionär im Gesundheitssystem, dessen medizinische Kompetenz ebenso außer Frage stand wie seine politische Loyalität und der auch das Ansehen der sowjetischen Medizin auf internationalem Parkett beträchtlich förderte. Der interessanteste Zeitraum in Michail Krol’s Biografie, jener Zeitpunkt zwischen 1927 und 1930, als der einstmalige Verfechter unabhängigen Denkens und wissenschaftlichen Fortschritts sich dem Diktat einer Partei unterwarf, die im Allgemeinen und in der Wissenschaft im Besonderen jegliche Freiheit ihrer Ideologie unterordnete, bleibt leider schwer fassbar. Der 1931 von Krol’ verfasste Beitrag, in dem dieser zuvor so kritisch denkende und jeder Doktrin fernstehende Arzt erstmals die aggressiven Parteiparolen wiedergab, zeigt die paranoide und erdrückende Atmosphäre jener Zeit, in der die UdSSR endgültig zum totalitären Staat wurde.
WEISSRUSSISCHE PSYCHIATER VOR DEM KRIEG UND UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION Andrei Zamoiski Die Entwicklung der sowjetischen Psychiatrie wurde sowohl in der westlichen als auch in der postsowjetischen Forschung behandelt.1 Insbesondere wurde der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion thematisiert.2 Unter neuesten Forschungen ist vor allem auf Paul Wankes Studie über die sowjetische Militärpsychiatrie3 und auf Jurij A. Aleksandrovskijs dreibändige Geschichte der Psychiatrie in Russland und in der Sowjetunion hinzuweisen.4 Die Geschichte der Psychiatrie in Weißrussland ist wenig erforscht.5 In der vorrevolutionären Zeit konzentrierte sich psychiatrische Hilfe in Weißrussland auf die Gouvernementszentren Minsk, Hrodna, Vicebsk, Wilna und Mahilëŭ. Administrativ war sie jedoch dezentralisiert und wurde von unterschiedlichen Behörden verwaltet. Psychiatrische Einrichtungen wurden von Stadtverwaltungen (manchmal mit staatlichem Zuschuss), vom Innenministerium, vom Amt für Militär und Verkehr, von verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen, der orthodoxen Kirche und den Zemstvos (Landständen) unterhalten.6 Vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich ein Netz psychiatrischer Einrichtungen in Weißrussland. 1907 wurden die psychiatrische Klinik in Mahilëŭ und die Kolonie für chronisch Kranke in Sen’kava gegründet, die psychiatrischen Abteilungen der Gouvernementskrankenhäuser in Vicebsk und Minsk sowie im jüdischen Krankenhaus in Minsk wurden erweitert.7 Die Zahl der Psychiater in Weißrussland war sehr ge-
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Siehe beispielsweise Michail E. Abramenko, Zdravoochranenie BSSR. Stanovlenie sovetskoj sistemy 1917–1941, Homel’ 2005. Siehe etwa Sidney Bloch u. Peter Reddaway, Soviet psychiatric abuse: The shadow over world psychiatry, London 1984; dies., Psychiatric terror: How Soviet psychiatry is used to suppress dissent, New York 1977; Tadeusz Nasierowski, Psychiatria polityczna w Rosji Sowieckiej do 1951 roku, in: Postępy Psychiatrii i Neurologii 5 (1996), S. 153–170. Paul Wanke, Russian/Soviet Military Psychiatry, 1904–1945, London u. New York 2005. Jurij A. Aleksandrovskij, Istorija otečestvennoj psichiatrii, Bd. 1–3, Moskau 2013. Vgl. etwa L. Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Konec XVIII veka – 1960 g.), Minsk 1970, Vasilij Giljarovskij, Dostiženija sovetskoj psichiatrii za 15 let i eё bližajšie perspektivy, in: Sovetskaja nevropatologija, psichiatrija i psichogigiena [Sowjetische Neuropathologie, Psychiatrie und Psychische Hygiene] (nachfolgend SNPP) 2 (1932), S. 8 ff.; L. Prozorov, Ėtapy razvitija nevropsichiatričeskoj organizacii v RSFSR, in: ebd. 5 (1934), Heft III, S. 134 f. Pamjatnaja kniga Vilenskoj gubernii. 1915 god, Wilna 1915, S. 142; Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Anm. 5), S. 8; Abramenko, Zdravooсhranenie BSSR (Anm. 1), S. 11 f., 26.
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ring, es gab nur vereinzelte.8 Da keine eigene medizinische Lehranstalt existierte, handelte es sich bei den Psychiatern vor allem um Absolventen europäischer und russischer Universitäten.9 Die Psychiater des ehemaligen Zarenreiches orientierten sich in erster Linie an der deutschen und an der französischen psychiatrischen Schule. Die Sprache der wissenschaftlichen Psychiatrie war Deutsch, der Großteil der Arbeiten in diesem Bereich wurde auf Deutsch verfasst.10 DIE MITARBEITER DER PSYCHIATRISCHEN EINRICHTUNGEN IN DER ZEIT DER REVOLUTIONÄREN UMBRÜCHE 1914–1921 Während des Ersten Weltkrieges waren die weißrussischen Gebiete zwischen den kriegführenden Parteien aufgeteilt, was negative Auswirkungen auf die psychiatrische Versorgung der Zivilbevölkerung hatte. Ein Teil der Psychiater wurde in die Armee einberufen oder nach Osten evakuiert.11 Nach dem Rückzug der deutschen Truppen und der Errichtung des Sowjetregimes wurde das Gesundheitswesen reformiert. Alle den Zemstvos untergeordneten medizinischen Einrichtungen wurden dem Volkskommissariat für Gesundheitswesen übergeben.12 Auch private Kliniken wurden verstaatlicht, so beispielsweise das jüdische Krankenhaus in Minsk mit seiner psychiatrischen Abteilung. Im neuen sowjetischen Gesundheitssystem war die im Sommer 1918 gegründete Neuropsychiatrische Sektion beim Rat des Ärztekollegiums für Fragen der psychiatrischen Versorgung zuständig. Ihr Personal stellte den Kontakt zu den psychiatrischen Krankenhäusern her und unterstützte sie finan-
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1902 waren im Zarenreich von 22 199 Ärzten 410 Psychiater (2 %), die vor allem in Sankt Petersburg, Moskau und Charkiv arbeiteten, vgl. dazu: A. Šereševskij, Psichiatrija v Peterburge XVIII–XIX stoletija, Leningrad 1983, S. 19. Im April 1923 mussten sich die Absolventen ausländischer Universitäten und diejenigen, die Fremdsprachen beherrschten, registrieren. Verordnung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen Nr. 453 vom 18. April 1923, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 101, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 2108, L. (= List) [Blatt] 43. Edward Shorter (Hrsg.), A Historical Dictionary of Psychiatry, New York 2005, S. 10. 1915 wurde die psychiatrische Abteilung des Gouvernementskrankenhauses in Minsk mit dem Arzt S. Makarevič an der Spitze nach Ufa evakuiert, vgl. dazu: Vrač Stanislav Vikent’evič Makarevič, in: Belaruskaja Medyčnaja Dumka [Weißrussischer Medizinischer Gedanke] (nachfolgend BMD) 3 (1928), Heft IV, S. 163. Siehe auch die Erklärung des stellvertretenden Volkskommissars für Gesundheitswesen der Litauisch-Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LitBel SSR) über die Rückkehr des evakuierten Krankenhauses in Novaja Vilejka in die Ukraine (16.3.1919), Arhiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii [Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation] (nachfolgend AVP RF), F. (= Fond) 4, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 501, D. (= Delo) [Akte] 54749, L. (= List) [Blatt] 7ob. Verordnung Nr. 4 des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der Litauisch-Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LitBel SSR) vom 9. Mai 1919, NARB, F. 808, O. 1, D. 4, L. 88; Dokumente des jüdischen Krankenhauses in Minsk vom 9. März 1919, NARB, F. 808, O. 1, D. 1, L. 6–6ob.
Weißrussische Psychiater vor dem Krieg und unter der deutschen Okkupation
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ziell.13 Die Psychiater in Minsk mussten mit geringsten finanziellen Mitteln und unter der ständigen Gefahr der Eskalation der Kriegshandlungen arbeiten. Im März 1919 hielt der Arzt Michail Slepjan einen Vortrag über die Notwendigkeit des Aufbaus einer Sonderklinik für Kinder mit neurologischen und psychischen Erkrankungen, was sich in der Kriegszeit allerdings als unmöglich erwies.14 Bis zum Sommer 1920 wurde ein großer Teil des weißrussischen Territoriums von polnischen Truppen besetzt. Die polnische Besatzungsverwaltung legte großen Wert auf antiepidemische Maßnahmen und beschäftigte sich nur wenig mit dem Problem der psychiatrischen Versorgung.15 Die psychiatrische Klinik und das medizinische Personal in Minsk wurden lediglich von der Stadtverwaltung unterstützt. Auch die Bitte der jüdischen Gemeinde, ihr das Krankenhaus zurückzugeben, wurde nicht erfüllt, denn es zählte nun als städtisches Krankenhaus.16 Gleichzeitig registrierten die Bolschewiki auf dem von ihnen kontrollierten Territorium das medizinische Personal, um es entweder in die Rote Armee einzuziehen oder in Gebiete abzukommandieren, die von Epidemien betroffen waren.17 Ab Februar 1919 wurde ein zu spätes Erscheinen zur Arbeit ohne triftigen Grund mit einer Geldstrafe belegt. Wurde der eigene Beruf nicht ausgeübt oder verschleiert, so wurde der Beschuldigte vor ein Militärtribunal gestellt.18 Dabei waren Fragen der psychiatrischen Hilfe nicht vorrangig; Psychiater wurden ebenso zur Bekämpfung von Epidemien herangezogen wie andere Mediziner.19 13
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Mitglieder der Sektion waren die bekannten russischen Psychiater P. P. Kaščenko, I. I. Zacharov, L. А. Prozorov, А. V. Rachmanov u. a.; vgl. M. Gurevič, Psichiatrija, in: Nikolaj Semaško (Hrsg.), Bol’šaja medicinskaja ėnciklopedija [Große medizinische Enzyklopädie], Bd. 27, Moskau 1933, S. 667. Sitzungstagebuch des Kollegiums der Minsker Gouvernementssanitätsabteilung vom 27. März 1919, NARB, F. 808, O. 1, D. 6, L. 3. Sprawozdanie dla sejmowej komissii Zdrowia 1921, Archiwum Akt Nowych w Warszawie [Zentralarchiv für moderne Akten in Warschau] (nachfolgend AAN), Z. (= Zespól) [Bestand] 15, T. (= Teczka) [Akte] 90, K. (= Kartka) [Blatt] 11–17; Report of Medical officer M. D. James (March 1922), The National Archives, Kew, UK, CAB/24/136, P. 154; Tyfus plamisty [Typhus], in: Ziemia Brzeska: dwutygodnik, poświęcony polityce, literaturze, sprawom miejscowym i okolicy 5 (1920), S. 4–5. S. Balkovec, Pervye šagi sovetskogo zdravoochranenija v Belorussii (Vospominanija učastnika), in: BMD 9–12 (1927), Heft III, S. 28–29. Personalakten von Dr. Michail Slepjan (1918–1919), Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. Р-4094, O. 2, D. 642, L. 2–3; Im Oktober 1919 beschloss das Politbüro der VKP(b) „Vorkehrungen zu treffen, um in größerem Umfang Ärzte aus ihren gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen zu entlassen und an die Front zu schicken“, vgl. Protokoll des Politbüros vom 23. Oktober 1919, Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii [Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte] (nachfolgend RGASPI), F. 17, O. 3, D. 32, L. 1. Verordnung Nr. 8 des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 18. Februar 1919, NARB, F. 808, O. 1, D. 4, L. 28; Obligatorische Bestimmung der Außerordentlichen Sanitätskommission beim Rat der Volkskommissare der BSSR vom 10. Februar 1921, NARB, F. 6, O. 1, D. 30, L. 78. Der Psychiater Semen Voločkovič leitete die Desinfektionsabteilung im Volkskommissariat für Gesundheitswesen, vgl. Anordnung Nr. 78 des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der
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Während des sowjetisch-polnischen Krieges führte die Mobilisierung und Evakuierung des medizinischen Personals nach Osten zu einem akuten Mangel an medizinischem Personal in Weißrussland. Die Situation wurde außerdem durch die Umtriebe krimineller Banden und durch antijüdische Pogrome verschärft. Mobile Ärztegruppen gingen in die betroffenen Gebiete, um den Opfern medizinische Nothilfe zu leisten.20 Allerdings konnte der Bevölkerung in vielen Gebieten keine psychiatrische Hilfe zur Verfügung gestellt werden, denn es gab keine Fachärzte in der Provinz.21 Nach dem Pogrom in der Ortschaft Krasnapolle wurden psychisch Kranke ohne Warteliste ins psychiatrische Krankenhaus in Mahilëŭ eingewiesen.22 Während der Zeit des „Kriegskommunismus“ und des Bürgerkrieges wurde die Grundlage des sowjetischen Systems der psychiatrischen Hilfe geschaffen: Es wurde verstaatlicht. Die Kriege und Reformen der Bolschewiki verschlechterten die Lage der Mediziner; effektiv wurden sie zu öffentlichen Bediensteten, dem Volkskommissariat für Gesundheitswesen unterstellt. Es kam zu Unruhen, weil Gehälter nicht ausgezahlt wurden, wie beispielsweise im Mai 1921 im Krankenhaus für Infektionskrankheiten in Minsk.23 PSYCHIATER IN DER ZEIT DER „NEUEN ÖKONOMISCHEN POLITIK“ (NÖP) 1921–1928 Nach dem Krieg musste das Gesundheitssystem wieder aufgebaut werden; die Ukraine und Weißrussland waren von den Kriegshandlungen am Schwersten betroffen. Die Leitung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen sah sich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, da viele Fachleute in die Armee eingezogen worden waren.24 In der ersten Hälfte der 1920er Jahre arbeitete das Volkskommissariat eine Organisationsstrategie für die psychiatrische Versorgung aus, wobei es sich an
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BSSR, NARB, F. 808, O. 1, D. 2, L. 16. Vortrag von Dr. Raisky und Dr. Rafelkes auf einer Versammlung der öffentlichen Organisationen in Homel’ vom 20. Februar 1921, YIVO Archives in New York (nachfolgend YIVO), 81/106, P. 8584; Z. Ostrovskij, Evrejskie pogromy 1918–1921, Moskau 1926, S. 69–70. Report „Minsk“ by Lt. L. Gerstenzang to Polish Branch of JDC (28. August 1919), American Jewish Joint Distribution Comittee Archives, NY AR 191921/4/36/3, File 261, p. 327; Report on Mozyr, Minsk Gubernia (22. Juni 1923), NY AR192132/4/30/4, File 501, p. 3. L. Miljakova (Hrsg.), Kniga pogromov. Pogromy na Ukraine, v Belorussii i evropejskoj časti Rossii v period Graždanskoj vojny 1918–1922 gg. (Sbornik dokumentov), Moskau 2007, S. 656. Erläuterungsschrift zum Haushaltsplan der medizinischen Abteilung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen Litbel SSR (Mai 1919), NARB, F. 808, O. 1, D. 10, L. 23; Verordnung der Sitzung des Kollegiums des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 27. Mai 1921, NARB, F. 6, O. 1, D. 30, L. 289. Brief des Chefarztes D. Urvancov an das Kommissariat für Gesundheitswesen der BSSR mit der Bitte um Freistellung des Arztes М. Slepjan (23.Dezember 1920), NARB, F. 46, O. 2, D. 18, L. 20; Schreiben des Kommissariats für Gesundheitswesen der BSSR an die Kommission für Abordnungen der Militärärzte ins Bürgeramt bei der Hauptsanitätsabteilung vom 23. Dezember 1920, NARB, F. 46, O. 2, D. 18, L. 19.
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den Erfahrungen zentraler psychiatrischer Einrichtungen in Russland orientierte. Weißrussische Psychiater wurden nach Russland geschickt, um dort Erfahrungen zu sammeln. Nachdem Michail Slepjan die Kolonien für psychisch Kranke in Moskau und Petrograd besucht hatte, schlug er vor, die psychisch kranken Patienten aus dem Krankenhaus in Minsk in die neue psychiatrische Abteilung in der Sowchose Astrašycki Haradok zu verlegen, wo die Gründung einer Kolonie nach dem Vorbild Navinkis, einer Kolonie für psychisch Kranke in Minsk, geplant war. Allerdings war der genannte Psychiater zugleich Leiter des Gesundheitsamtes in Minsk und wollte durch die Verlegung von Patienten in die Provinz vor allem die Frage der „Überbelegung“ der Minsker Krankenhäuser lösen.25 Auf Grund des Mangels an ausgewiesenen Fachleuten stellte das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der BSSR Psychiater aus Russland ein. Im Februar 1923 wurde der Psychiater G. Gol’blat Leiter der psychiatrischen Abteilung des 2. Krankenhauses in Minsk. Als Berater in psychiatrischen Fragen machte er Vorschläge zur Verbesserung der Lage der psychiatrischen Versorgung in der Republik: Als dringlichste Aufgabe sah er die Überwindung des Mangels an Krankenpflegern. Tatsächlich kam die Führung der BSSR den Bedürfnissen nach psychiatrischer Versorgung nach: Beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen wurde die Abteilung „Neuropsychiatrische Beratung“ gegründet, die sich mit der Organisation der psychiatrischen Versorgung in der Republik beschäftigen sollte.26 Im März 1924 wurden während der „ersten Erweiterung“ der BSSR die Gebiete Mahilëŭ und Vicebsk sowie ein Teil des Gebietes Homel’ angeschlossen, die von der RSFSR im Januar 1919 annektiert worden waren. In Vicebsk und Mahilëŭ befanden sich psychiatrische Krankenhäuser, was die Engpässe in der psychiatrischen Versorgung ein wenig linderte.27 Allerdings wurden die Pläne des Volkskommissariats für Gesundheitswesen und der lokalen Behörden zur Gründung von psychiatrischen Kliniken – häufig auch „Kolonien“ genannt – in Babrujsk und
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Schreiben des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR Nr. 227 an den Vorsitzenden der Stadtabteilung für Gesundheitswesen Dr. M. Slepjan (Februar 1923), NARB, F. 46, O. 1, D. 427, L. 107; Bericht des Vorsitzenden der Stadtabteilung für Gesundheitswesen Dr. M. Slepjan an das Präsidium des Minsker Stadtexekutivkomitees vom 8. April 1924, NARB, F. 46, O. 2, D. 38, L. 3; Bericht des Minsker Stadtexekutivkomitees (1. Januar – 1. September 1922), Minsk 1922, ebd., L. 6; Brief der Stadtabteilung für Gesundheitswesen in Minsk an die Verwaltung des Weißrussischen Roten Kreuzes vom 24. April 1923, NARB, F. 254, O. 1, D. 11, L. 35; Verfügung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen Nr. 227 vom 23. Juli 1921, NARB, F. 6, O. 1, D. 30, L. 393. Bericht des Arztes G. O. Gol’blat an den Kongress der Gesundheitsabteilung (8.4.1924), NARB, F. 46, O. 1, D. 427, L. 114–118; Verordnung Nr. 433 des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 10. Februar 1923, NARB, F. 101, O. 1, D. 2108, L. 23; Verordnung Nr. 438 des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 1. März 1923, NARB, F. 101, O. 1, D. 2108, L. 24; Handschriftlicher Entwurf der Verordnung Nr. 197 über die Gesundheitsabteilung (1923), NARB, F. 46, O. 1, D. 427, L. 112. Protokoll der Beratung bei der Minsker Gesundheitsabteilung vom 24. Juni 1925, Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 463, O. 1, D. 76, L. 80.
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Homel’ nie umgesetzt.28 Der Hauptgrund war möglicherweise der Mangel an finanziellen Mitteln. Ausländische Wohltätigkeitsorganisationen leisteten in diesem Bereich substantielle Hilfe. In Minsk war auf Initiative des Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) und der lokalen jüdischen Intelligenzija die Jüdische Vereinigung für Medizin und Hygiene (EMSO) tätig.29 Die Unterstützung durch Joint trug zur Verbesserung der medizinischen Versorgung bei, auch hinsichtlich der psychiatrischen Behandlung in Städten mit einem bedeutenden Anteil an jüdischer Bevölkerung. Es war vorgesehen, psychiatrische Einrichtungen zu finanzieren und die Bettenzahl für die Aufnahme jüdischer Patienten in Minsk und Homel’ zu erhöhen.30 Doch seit dem Ende der 1920er Jahre kontrollierte der Staat das öffentliche Leben der Bevölkerung zunehmend strenger. Medizinische Gesellschaften gerieten unter die Kontrolle des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR, des Roten Kreuzes oder anderer Hilfsvereine, oder sie wurden sogar ganz geschlossen. So wurde im April 1930 auch die EMSO auf Parteibeschluss liquidiert.31 Auf Druck des sowjetischen Regimes musste Joint seine Tätigkeit in der UdSSR gänzlich einstellen. Während der Zeit der NÖP arbeiteten in Weißrussland führende Fachleute, meist jüdischer und russischer Herkunft. Eine wichtige Maßnahme seitens der medizinischen Fakultät der BGU (Weißrussische Staatliche Universität) zielte auf die Erhöhung der Ärztezahl durch die Aufnahme von Studenten ländlicher Herkunft und aus ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung, die früher von diesem Beruf nicht einmal hätten träumen können.32 Die Politik der Weißrussifizierung (belarusizacyja), die in der Zeit der NÖP aktiv durch die Regierung betrieben wurde, trug zur Stärkung der Rolle der weißrussischen Sprache bei. Der Volkskommissar für Gesundheitswesen Michail Barsukoŭ erkannte, wie wichtig es für den Ausbau der Gesundheitsversorgung in ländlichen Gebieten war, dass das medizinische Personal der weißrussischen Sprache mächtig war.33 Die erweiterten Studienmöglichkeiten 28
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Nervno-psiсhiatričeskaja bol’nica v Bobrujske, in: Kommunist [Babrujsk] v. 15.3.1925, S. 6; Bericht des Beraters der Rayongesundheitsabteilung S. Štejngauz über die Organisation der psychiatrischen Hilfe des Rayons Homel’ für 1926/1927, Gosudarstvennyj arhiv Gomel’skoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Homel Homel’] (nachfolgend GAGom), F. 114, O. 1, D. 23, L. 2. Insgesamt waren 1929 mit der Unterstützung Joints in den Städten mit einem großen Anteil jüdischer Bevölkerung 47 medizinische Gesellschaften tätig, vgl. Dr. Rosen’s report vom 10. Mai 1939, YIVO, RG 358/38, Р. 3, Report of Agro-Joint (10.9.1929), YIVO, RG 358/29, p. 3. Kostenplan der Hilfe von lokalen jüdischen öffentlichen Organisationen bei der Bekämpfung von Nervenerkrankungen und psychiatrischen Erkrankungen für 1926–1927, YIVO, RG 358/291, p. 12. Resolution nach dem Bericht von Livšic über die Tätigkeit der EMSO (April 1930), NARB, F. 4p, O. 21, D. 238, L. 55. M. Garbel’, Medicinskij personal Belorussii [Medizinisches Personal Weißrusslands], Minsk 1928, S. 11. Michail Barsukov (= Michail Barsukoŭ), Za dva goda (Stroitel’stvo zdravoochranenija v BSSR za 1925–1926 gg.): doklad na 2-m Vsebelorusskom s’’ezde učastkovych vračej i rabotnikov zdravoochranenija, Minsk 1927, S. 46; Materialien der Nationalkommission der BSSR über die nationale Politik in der Republik (1927), NARB, F. 701, O. 1, D. 71, L. 8.
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an der medizinischen Fakultät verbesserten einerseits die Karrierechancen der weißrussischen Jugend und trugen andererseits zum Zustrom junger weißrussischer Spezialisten an psychiatrische Einrichtungen bei. Die Weißrussin Ol’ga Ol’ševskaja beispielsweise machte 1928 nach dem Studium an der Weißrussischen Staatlichen Universität ein Praktikum in der psychiatrischen Klinik in Minsk, schon ein Jahr später wurde sie Leiterin der Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ.34 DIE PSYCHIATRIE IN DEN JAHREN DER ERSTEN FÜNFJAHRESPLÄNE STALINS Nach der NÖP gab es neue Tendenzen im sowjetischen Gesundheitswesen: Die staatliche Planung wurde eingeführt, sowohl in der Wirtschaft als auch im Gesundheitswesen. Der Kurs der Partei stellte die Psychiater wie auch die anderen Mediziner vor neue Aufgaben. Bereits im November 1927 beauftragte das Volkskommissariat für Gesundheitswesen eine Sonderkommission unter der Leitung von Professor Aleksandr Lenc, einen Fünfjahresplan zur Organisation der psychiatrischen Versorgung in der Republik zu entwerfen.35 Psychiater sollten von nun an auch Hilfe in Gesundheitszentren von Industriebetrieben leisten. Allerdings war die Umsetzung dieser Pläne in der BSSR von vornherein unrealistisch, da es nicht genug qualifiziertes Personal gab.36 Als Psychiater arbeiteten daher auch bekannte Neurologen (Isaj Sapir, Moisej Сhazanov u. a.). In dieser Hinsicht blieb Weißrussland hinter anderen Republiken zurück. Noch 1930 mangelte es in der Republik nach Schätzungen des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR an ungefähr 1.500 Ärzten.37 Das Problem war auch, dass unter den Personen, die medizinische Bereiche leiteten, nicht nur Ärzte, sondern viele Partei- oder Komsomol-Funktionäre waren, die in medizinischen Fragen und in der Organisation des Gesundheitswesens oft nicht kompetent genug waren.38 So hatten die Volkskommissare Ivan Surta und Pavel Buračėŭski nicht nur keinerlei medizinische Ausbildung, sondern auch überhaupt keine Erfahrungen im Gesundheitswesen, als sie auf diesen Posten berufen wurden. Umgekehrt konnten auch Krankenhausleitungen, wie die des psy34
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Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N. Peresada (Hrsg.), Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta (1921–1996): biografičeskij spravočnik [Lehrstuhlinhaber und Professoren des Minsker medizinischen Instituts 1921–1996], Minsk 1999, S. 232. Doklad NKZ Michaila Barsukova na 6 Vsebelorusskom s”ezde profsojuzov, in: BMD 9–12 (1927), Heft III, S. 180. Offiziell betrug ihre Anzahl 1,5 Prozent, während es in der Republik 900 Ärzte gab, vgl. Garbel’, Medicinskij personal Belorussii (Anm. 32), S. 30. Dokumente der Organisationsgruppe des Volkskommissariats für die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion der BSSR über die Kontrolle der Tätigkeit des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 22. Februar 1930, NARB, F. 101, O. 1, D. 3070, L. 6. Protokoll Nr. 62 der Sitzung des Sekretariats des ZK der KP(b)B vom 16. März 1933, NARB, F. 4p, O. 1, D. 6421, L. 246.
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chiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ, die Arbeit der einzelnen Abteilungen wegen der Inkompetenz einiger Ärzte nicht reibungslos organisieren.39 PSYCHIATER UND PATIENTEN – PROBLEMATISCHE BEZIEHUNGEN Die humanere Behandlung psychisch kranker Patienten, wie sie von der sowjetischen Propaganda gerne dargestellt wurde, war kein Verdienst der sowjetischen Psychiatrie. Sie war bereits in den Zemstvos praktiziert worden.40 Allerdings gab es in den 1920er Jahren in der praktischen und wissenschaftlichen Psychiatrie tatsächlich eine allmähliche Wende in Bezug auf die Ansichten über psychische Erkrankungen. Sie wurden nicht (mehr) als ein Stigma gesehen, das den Patienten entwürdigte.41 Der ehemalige Patient sollte in die Familie und die Gesellschaft reintegriert werden. Ausländische Ärzte zeigten sich erstaunt darüber, dass sowjetische Ärzte die Krankheitsgeschichten von Patienten, auch der psychisch Kranken, nicht geheim hielten. In der sowjetischen Gesellschaft wurde die Idee verbreitet, der Hauptgrund für psychische Erkrankungen läge in existentieller Unsicherheit – ein Phänomen, das es in der Sowjetunion nicht gebe und das nur für kapitalistische Länder typisch sei, wo die Menschen verhungerten.42 Besondere Aufmerksamkeit wurde der sozialen Rolle des Psychiaters zuteil. Der berühmte russische Psychiater Pёtr Gannuškin meinte, dass Psychiater auch gesellschaftliche Prozesse untersuchen sollten.43 Medizinisches Personal müsse sensibel für die Probleme der Patienten sein und dürfe keine Vorurteile gegenüber psychisch kranken Patienten haben. Diese Veränderungen in der psychiatrischen Hilfe wurden von der Bevölkerung geschätzt, es gab mehr Vertrauen in medizinische Einrichtungen, auch in psychiatrische.44 Tatsächlich jedoch unterschied sich die Realität wesentlich von der sowjetischen Propaganda. Im Juli 1928 informierte die Zeitung Rabočij („Arbeiter“) über gravierende Probleme in der psychiatrischen Klinik in Mahilëŭ, über die Pflichtvergessenheit des medizinischen Personals, unwürdiges Verhalten gegenüber den Patienten, Trunksucht, Schlägereien usw. Das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der BSSR ergriff Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung, einigen Krankenschwestern und Pflegern wurde wegen ihres groben Umgangs mit Patien39 40 41 42 43 44
Akte über die Kontrolle der Tätigkeit des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ vom 12. Dezember 1933, NARB, F. 4p, O. 1, D. 6063, L. 35. Evgenij Kopystynskij, Zadači Mogilevskogo Gubernskogo Zemstva v oblasti organizacіi psichіatričeskoj pomošči naselenіju Mogilevskoj Gubernіi v Belorussіі, Mahilëŭ 1918, S. 8. Irina Sirotkina, Klassiki i psichiatry. Psichiatrija v rossijskoj kul’ture konca XIX – načala XX vekov, Moskau 2008, S. 208–209. Mariėtta Šaginjan, O psichiatrii, in: Pravda v. 10.2.1935, S. 6. Pёtr Gannuškin, Psiсhiatrija. Eё ob”em, zadači, prepodavanije, Moskau 1924, S. 37. G. Papernyj, K voprosu o podbore personala psichiatričeskich bol’nic, in: V. M. Kogan (Hrsg.), Medicinskie rabotniki. Social’no-gigieničeskie i kliničeskie očerki. Trudy komissii po izučeniju truda i byta medrabotnikov, Charkiv 1926, S. 88–98; Bericht des Beraters der Rayonsabteilung für Gesundheitswesen Štejngauz über die Organisation der psychiatrischen Hilfe für die Bevölkerung im Rayon Homel’ für die Jahre 1926/1927, GAGom, F. 114, O. 1, D. 23, L. 2.
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ten und ihrer antisemitischen Haltung gekündigt. Ein neuer Chefarzt wurde eingestellt und neue Maßnahmen für eine bessere Arbeitsdisziplin unter den Ärzten wurden eingeführt.45 Einen der Gründe für diese Vorkommnisse sah die Verwaltung in der „ungenügenden“ kulturellen Arbeit mit dem medizinischen Personal. Im Krankenhaus in Mahilëŭ etwa gab es aufgrund mangelnder finanzieller Mittel keinerlei kulturelle Angebote für die Mitarbeiter.46 Die Misshandlung psychisch Kranker seitens des medizinischen Personals wurde für verschiedene psychiatrische Einrichtungen der UdSSR zum Problem.47 Die Hauptursache hierfür lag in der Personalauswahl: Häufig war das medizinische Personal ungeeignet und überfordert, dazu kamen Stressmomente wie ständiger Lärm und die konstante Gefahr, von psychisch kranken Patienten angegriffen zu werden. Die Arbeit im Krankenhaus wurde auch als Mittel zur „Umerziehung“ von Andersdenkenden eingesetzt; Menschen, die aus religiösen oder politischen Gründen dem Militärdienst entgehen wollten, wurden in Infektionskrankenhäuser strafversetzt, in denen ein ständiges Ansteckungsrisiko herrschte. So wurden gläubige Baptisten während des „Kriegskommunismus“ als Krankenwärter in das psychiatrische Krankenhaus in Mahilëŭ geschickt. Auf Grund ihrer pazifistischen Ansichten weigerten sie sich, in der Armee zu dienen; doch auch die Arbeit in solchen Krankenhäusern schien ihnen nicht vereinbar mit ihrem Glauben, weil sie oft mit Gewalt verbunden war.48 Anfang der 1930er Jahre wurde das Verhältnis zwischen dem Personal und den Patienten durch die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation im Land, die daraus resultierende schwierige finanzielle Lage der Bevölkerung und den damit einhergehenden Hunger noch problematischer. Auf Grund der Unterernährung erhöhte sich die Todesrate unter den Patienten, die schlichtweg an Erschöpfung starben. Die Hungersnot führte zu verschärften Konflikten: den Patienten wurden Lebensmittel gestohlen, dabei wurde teilweise auch Gewalt angewendet. Unter diesen Mangelbedingungen musste das medizinische Personal Hauswirtschaft erlernen, um die Krankenhäuser mit Lebensmitteln zu versorgen; auch musste das Krankenhauspersonal an landwirtschaftlichen Arbeiten, wie etwa Saat- und Erntekampagnen, teilnehmen und Patenkolchosen besuchen. Am psychiatrischen Krankenhaus in Mahilëŭ wurde beispielsweise geplant, eine Schweine- und Kuhfarm zu organisieren, auf der auch die Patienten arbeiten sollten.49 45 46 47 48
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Maks Šilo, Gniloj pokoj v Pečerske. Lečebnica, v kotoroj ne lečat, in: Rabočij [Minsk] v. 4.7.1928, S. 3; „Rabočij“ pomog. Gniloj pokoj v Pečerske narušen, in: Rabočij [Minsk] v. 25.7.1928, S. 5. Maks Šilo, Gniloj pokoj v Pečerske (Anm. 45). Beschwerde von V. Apuchtin an die Staatsanwaltschaft der BSSR vom 24. Oktober 1928, NARB, F. 701, O. 1, D. 82, L. 2–5. Verordnung des Volksgerichts in Minsk vom 7. Juni 1922, NARB, F. 750, O. 1, D. 20, L. 17; Sammelbericht der Gouvernementssonderkommission in Homel’ vom 1. Dezember 1920, in: M. Alejnikova u. a. (Hrsg.), Gomel’skaja gubernija. 1919–1926 gg.: dokumenty i materialy [Gouvernement Homel’. 1919–1926: Dokumente und Materialien], Minsk 2009, S. 127. Akte über die Kontrolle der Tätigkeit des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ vom 20. Dezember 1933, NARB, F. 4p, O. 1, D. 7566, L. 35–48; Protokoll der Sitzung der Chefärzte
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BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN PSYCHIATERN UND DER MACHT Das Misstrauen der bolschewistischen Führung gegenüber der Intelligenzija betraf auch Ärzte. Ein großer Teil von ihnen unterstützte das neue System nicht; ihre Ansichten waren oft liberal, wie es für russische Intellektuelle typisch war. Vladimir Lenin beschuldigte Ärzte, von der Rückkehr zur bourgeoisen Ordnung zu träumen.50 Medizinern der alten Schule warf die Regierung vor, dass sie die Aufgaben der neuen sowjetischen Medizin nicht verstünden.51 Der Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR Michail Vladimirskij plädierte 1930 dafür, schneller neue Kader auszubilden, weil die ältere Generation von Ärzten eine „bourgeoise“ Medizin praktiziere und alte Zeiten idealisiere.52 Einigen Professoren wurde vorgeworfen, sie sympathisierten mit ausländischen „bourgeoisen“ Theorien. Auch die weißrussischen Wissenschaftler A. Lenc und I. Sapir wurden öffentlich kritisiert.53 Psychiater sollten (nach Ansicht der Staatsführung) für die „Reinheit“ der marxistisch-leninistischen Theorie kämpfen und das Eindringen feindlicher „reaktionärer“ Theorien in die sowjetische Wissenschaft verhindern.54 Psychiater wurden beschuldigt, nicht dem Prinzip des „Klassenansatzes“ zu folgen. Iosif Šmuklerman, Arzt der psychiatrischen Klinik in Mahilëŭ, wurde etwa zum Vorwurf gemacht, dass er Kolchosbauern zusammen mit „sozial fremden Elementen“ („Kulaken“ und Händlern) in einem Krankenzimmer untergebracht hatte.55 Einige Psychiater trugen diesen Veränderungen in der sowjetischen Gesellschaf Rechnung. Um ihre Zustimmung zu beweisen, trat eine Reihe prominenter Fachleute der bolschewistischen Partei bei. Die Abkehr von liberalen Prinzipien markierte auch die „Bitte eines Lehrers“, des berühmten sowjetischen Psychiaters Lev Rozenštejn, an seine Schüler, sich nicht an verschiedenen politischen Strömungen innerhalb der Partei zu beteiligen. So wies der Ausbilder junge Ärzte an, sich in der veränderten politischen
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der medizinischen Einrichtungen in Minsk vom 31. März 1930, NARB, F. 305, O. 1, D. 664, L. 73; Einsatzplan des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ für das Jahr 1932, NARB, F. 305, O. 2, D. 159, L. 8. Rede Lenins auf dem Zweiten Allrussischen Kongress der Mitarbeiter der Sanitätsabteilung des Verbands „Vsemediksantrud“ vom 1. März 1920, in: Vladimir Il’ič Lenin, Polnoe Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. 40, Moskau 1974, S. 188. Michail Barsukov (= Michail Barsukoŭ), Devjataja godovščina Oktjabr’skoj revoljucii i Sovetskoe Zdravoochranenie, in: BMD 12–13 (1926), Heft II, S. 9; Dokumente der Organisationsgruppe des Volkskommissariats für die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion der BSSR über die Kontrolle der Arbeit des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR vom 22. Februar 1930, NARB, F. 101, O. 1, D. 3070, L. 72–73. Vortrag von M. F. Vladimirskij im „Haus der Ärzte“ über die Aufgaben im Bau von Kolchosen und die Aufgaben der Ärzte vom 11. Februar 1930, RGASPI, F. 357, O. 1, D. 121, L. 17. D. Stolbun u. A. Šmarjan, Pis’mo tov. Stalina i zadači nevropsichiatričeskogo fronta, in: SNPP 1–2 (1932), Heft I, S. 4–5. Rešenija XVII partijnoj konferencii (k planu raboty na 1932 god), in: SNPP 1–2 (1932), Heft I, S. 1–5. Akte über die Kontrolle der Tätigkeit des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ, 20. Dezember 1933, NARB, F. 4p, O. 1, D. 7566, L. 36.
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Situation „richtig“ zu verhalten.56 In den 1930er Jahren verstärkte sich die ideologische „Erziehung“ des medizinischen Personals. So waren im psychiatrischen Krankenhaus in Mahilëŭ 15 Mitarbeiter Mitglieder des politischen Arbeitskreises, was wohl mehr mit Pflicht und Zwang, als mit ehrlichem Interesse zu tun hatte. Die allgemeine Militarisierung des Lebens machte auch vor psychiatrischen Einrichtungen nicht halt. So wurde zum Beispiel in der Kolonie Navinki anlässlich der so genannten „Vorošilover Stafette“ 1934 ein militärischer Arbeitskreis geschaffen. Eine weitere Belastung für das medizinische Personal war – bei niedrigen Löhnen und hohen Preisen – auch die verbindliche Teilnahme an verschiedenen sowjetischen Anleihen und Lotterien. Unter dem Vorwand der Förderung des medizinischen Personals wurden verschiedene Wettbewerbe für das beste Krankenhaus, die beste Brigade usw. veranstaltet. Allerdings waren die Ergebnisse mehr ideologischen Charakters. So erhielt das medizinische Personal des psychiatrischen Krankenhauses in Vicebsk die ihnen zustehenden Prämien nicht und sah sich zu einer Beschwerde bei der Gewerkschaft gezwungen.57 Auch unter den Psychiatern gab es Konflikte: Es kam vor, dass Kollegen sich gegenseitig denunzierten oder anonyme Artikel schrieben. Im August 1936 veröffentlichte die Zeitung Rabočij einen Artikel des Psychiaters M. Litvin, in dem er den Leiter der psychiatrischen Klinik G. Gol’blat kritisierte.58 Offenbar konnte Litvin nicht akzeptieren, dass er nach der Promotion in Minsk in die psychiatrische Klinik in Mahilëŭ geschickt worden war, was eine Versetzung auf einen deutlich niedrigeren Posten bedeutete. Er beschuldigte Gol’blat in erster Linie, dass er „bourgeoise“ Theorien unterstütze und den „Klassenkampf“ auf dem Land falsch interpretiere, insbesondere weil er die „klassenkämpferisch inspirierten“ Brandstiftungen auf den Dörfern zum Werk psychisch kranker Menschen erkläre.59 Noch in der Zeit der Massenkollektivierung und Beseitigung des „Kulakentums“ hatte man nämlich Brandstiftungen als Sabotageakte gegen die sozialistische Wirtschaft verurteilt. Verleumderische Artikel in der Presse können als Indikator für zunehmende Repressionen und die steigende Angst davor angesehen werden. Ärzte, und auch
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V Institute Nevropsichiatričeskoj profilaktiki (pis’mo gruppy učenikov), in: SNPP 5 (1934), Heft III, S. 160. Dokumente über die Kontrolle des Kollektivvertrags mit den Mitarbeitern des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ (1934), NARB, F. 305, O. 1, D. 156, L. 7; Informationen über die Durchführung der Vorošilover Stafette durch den Zentralvorstand des Verbandes „Vsemediksantrud“ vom 20. Januar 1934, NARB, F. 305, O. 1, D. 880, L. 11; Brief der Mitarbeiter des psychiatrischen Krankenhauses in Vicebsk an die Zentrale Leitung der Gewerkschaft (23. Dezember 1934), NARB, F. 305, O. 1, D. 887, L. 47. G. Gol’blat wurde 1929 Professor in Minsk. Ihm wurde angeboten, den Lehrstuhl für Psychiatrie des medizinischen Instituts in Tomsk zu übernehmen, doch 1934 wurde er zum Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie des medizinischen Instituts in Minsk ernannt, vgl. Zmačinskaja, Zavedujuščie kafedrami (Anm. 34), S. 230. Brief des Arztes G. Gol’blat (BSSR) zu seiner Rechtfertigung als Antwort auf den Artikel Litvins „Feindliche Verbreitungen von Prof. Gol’blat“ (August 1936). GARF, F. Р-8009, O. 1, D. 47, L. 86ob.
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Psychiater, waren ständig Repressionen ausgesetzt.60 Für die Zeit der NÖP waren allerdings relativ milde Strafen typisch.61 So wurde der Psychiater Semen Voločkovič im September 1921 für die „Unterlassung einer Anzeige“ verhaftet und danach zu zwei Jahren Haft im Arbeitslager verurteilt.62 Während des „Großen Terrors“ der 1930er Jahre wurden eine ganze Reihe von Mitarbeitern psychiatrischer Einrichtungen verhaftet. 1937–1939 gab es die größten Verluste unter dem medizinischen Personal, auch unter bekannten Psychiatern und Neurologen. Es wurden sowohl Ärzte als auch Krankenpflegerinnen und -pfleger verfolgt, u. a. aus ethnischen Gründen (Letten, Deutsche, Polen).63 In Mahilëŭ beispielsweise verhaftete man den Direktor der psychiatrischen Klinik Jakov Gutin und den Leiter der neurologischen Abteilung des Krankenhauses, Professor Isaj Sapir; ihnen wurde antisowjetische Propaganda und Spionage vorgeworfen.64 Der berühmte Psychiater Michail Slepjan, der als Mitglied einer „konterrevolutionären Organisation“ verhaftet wurde, starb in der Haft. Die Zahl der Mediziner und Tierärzte, die Opfer von Repressionen wurden, könnte bei annähernd Tausend liegen.65 PSYCHIATRISCHE WISSENSCHAFT IN WEISSRUSSLAND: ERRUNGENSCHAFTEN UND HERAUSFORDERUNGEN Die Fortschritte in der Entwicklung der Psychiatrie in der BSSR waren signifikant. Nicht nur die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung wurde verbessert, sondern auch die Bedingungen für die Weiterentwicklung der psychiatrischen Wissenschaft. Ausländische Psychiater wurden angeworben, ein Lehrstuhl für Psychiatrie wurde gegründet. 1930 nahm das Referat für Psychoneurologie und Psychophysiologie, geleitet von A. Lenc, seine Arbeit an der weißrussischen Akademie der Wissenschaften auf. Eines der Forschungsthemen waren die Möglichkeiten und Chancen der Arbeitstherapie. In der Fachpresse wurde sie als „ein mächtiges Instrument der sowjetischen Psychiatrie“ proklamiert und eine aktivere Anwendung in allen psychiatrischen Einrichtungen gefordert.66 Die Ärzte O. Ol’ševskaja und Ju. Segal’ 60 61 62 63
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Dies betrifft die Zeit des Kriegskommunismus, der NÖP und der Repressionen der 1930er Jahre und der Nachkriegszeit. Zirkular Nr. 85 des Volkskommissariats für Justiz der BSSR vom 29.7.1934 über die Übergabe an das Gericht des höheren medizinischen Personals, NARB, F. 750p, O. 1, D. 687, L. 11. Leanid Marakoŭ (Hrsg.), Rėprėsavanyja medycynskіja і vetėrynarnyja rabotnіkі Belarusі, 1920–1960, Mіnsk 2010, S. 131. Opfer der „nationalen Operationen“ des NKVD wurde eine Krankenschwester des psychiatrischen Krankenhauses in Minsk, die Lettin Al’vida Vajsman, die im Oktober 1937 wegen der „Spionage für Polen“ verhaftet und im NKVD-Gefängnis in Minsk zu Tode gequält wurde, vgl. Marakoŭ, Rėprėsavanyja medycynskіja i vetėrynarnyja rabotniki (Anm. 62), S. 127. Aleksandr Litin (Hrsg.), Istorija Mogilevskogo evrejstva. Dokumenty i ljudi, Buch 2, Teil 1, Mahileŭ 2006, S. 306. Marakoŭ, Rėprėsavanyja medycynskіja і vetėrynarnyja rabotnіkі (Anm. 62), S. 553. Fragen der Arbeitstherapie in psychiatrischen Krankenhäusern (Dezember 1936), GARF, F. Р-8009, O. 1, D. 47, L. 7; L. Dobrovol’skaja, K voprosu trudoustrojstva i trudoterapii v uslovijach ambulatorii, in: SNPP 6 (1935), Heft IV, S. 143.
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veröffentlichten einen Artikel zu Fragen der aktiven Arbeitstherapie. Die Erkenntnis, dass eine akute psychische Krankheit an sich keine Kontraindikation für die Anwendung der aktiven Arbeitstherapie sei, war umstritten und nicht zuletzt auch politisch motiviert.67 In der Praxis wurden allerdings nicht immer die Prinzipien einer humanen Arbeitstherapie angewendet. Im psychiatrischen Krankenhaus in Mahilëŭ setzte man Patienten zum Beispiel für schwere Haushaltsarbeit ein, was nicht im Einklang mit den „neuen“ Behandlungsmethoden stand. Laut einigen Ärzten hatte die Forschungsarbeit im „Republikanischen Psychiatrischen Krankenhaus“ in Mahilëŭ ein eher niedriges qualitatives Niveau: Die Qualifikation der meisten Ärzte sei nicht ausreichend, und es bestehe auch kein Interesse, diese zu verbessern. Auch führende Spezialisten der Republik zeigten keine Initiative. Professor Lenc, der mehrmals das Krankenhaus besuchte, um Mitarbeiter zu beraten, weigerte sich zum Beispiel, Vorträge zu halten und schwere Fälle zu untersuchen.68 In der Vorkriegszeit übernahmen sowjetische Psychiater nach und nach die Lehren des Mediziners und Physiologen Ivan Pavlov, der von der sowjetischen Propaganda zum Gründer der modernsten, „einzig wahren“ materialistischen Lehre über die höhere Nerventätigkeit erklärt wurde.69 In Weißrussland wurde die Pavlovsche Lehre von dessen Schüler Lenc am Lehrstuhl für Psychiatrie in Minsk verbreitet. Zusammen mit seinem Kollegen Aleksej Smirnov versuchte Lenc, die Pavlovsche Methode zur Untersuchung psychischer Erkrankungen auf Menschen von unterschiedlichem Alter, Geschlecht, Beruf, sozialem Status und Talent zu übertragen.70 Smirnov setzte die Propagierung der Pavlovschen Schule am Medizinischen Institut in Vicebsk fort, wo er 1935 den Lehrstuhl für Psychiatrie übernahm.71 Eine Aspirantur am Medizinischen Institut in Minsk sollte hochqualifizierte Fachkräfte im Bereich der Psychiatrie vorbereiten, aber es gab nur sehr wenige Doktoranden. Der Lehrplan enthielt neben speziellen medizinischen und psychiatrischen Fächern auch das Fach „Dialektischer Materialismus“ und Fremdsprachen. Doktoranden unter-
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Ju. Segal’ u. O. Ol’ševskaja, O differencirovannom primenenii trudovoj terapii psičicheski bol’nych, in: SNPP 5 (1935), Heft IV, S. 145–152. Zu der Kategorisierung arbeitseinsatzfähiger Behinderter und den politischen Einflüssen darauf siehe auch den Beitrag von Vasili Matokh über Behinderte in der BSSR in diesem Band. Berichte der Ärzte L. Aleksandrova und Gerasimovič. Akte über die Kontrolle der Tätigkeit des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ, 20. Dezember 1933, NARB, F. 4p, O. 1, D. 7566, L. 42. V. Topoljanskij, Skvoznjak iz prošlogo: vremja i dokumenty. Issledovanija, Sankt Petersburg 2006, S.135; Tadeusz Nasierowski, Psychiatria polityczna w Rosji Sowieckij do 1951 roku [Political Psychiatry in Soviet Russia before the year 1951], in: Postępy Psychiatrii i Neurologii 5 (1996), S. 466. A. Lenc u. A. Smirnov, Metodika uslovnych sljunootdelitel’nych refleksov v primenenii k vzroslym ljudjam (normal’nym duševnobol’nym) [Die Methodik der bedingten Speichelabsonderungsreflexe in Anwendung bei Erwachsenen (Gesunden und Geisteskranken)], Minsk 1928, S.149; A. Lenc, Psichiatričeskij i fiziologičeskij metod v psichiatrii, in: BMD 4–6 (1926), Heft II, S. 72–76. O. Bekiš (Hrsg.), Vitebskomu ordena Družby narodov medicinskomu institutu 60 let, Vicebsk 1995, S. 74.
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richteten die Medizinstudenten in den Grundlagen der Psychiatrie.72 Dienstreisen ins Ausland konnten nur mit Genehmigung der Staatlichen Planungskommission der BSSR unternommen werden, da die Leitung eine mögliche Flucht des Personals fürchtete.73 Trotz der erheblichen Fortschritte in der Psychoneurologie blieb die BSSR in wissenschaftlicher Hinsicht eine Provinz. Führende Psychiater und Neurologen der Republik bekamen attraktivere Angebote aus anderen Forschungszentren der UdSSR, so wie beispielsweise Lenc, der 1934 nach Leningrad ging, wo er zwei Lehrstühle für Psychiatrie an verschiedenen Hochschulen übernahm.74 EINSTELLUNG GEGENÜBER DER PSYCHIATRIE IM AUSLAND Ausländische psychiatrische Forschungsansätze spiegelten sich in der sowjetischen Fachpresse wider. Auf der einen Seite entlehnte die sowjetische Psychiatrie wichtige Errungenschaften aus der praktischen westlichen Psychiatrie, auf der anderen Seite kritisierten sowjetische Psychiater ihre westlichen Kollegen aus ideologischen Gründen. Laut führenden Psychiatern übernahm die sowjetische Psychiatrie die wertvollsten Errungenschaften der „bourgeoisen“ Wissenschaft.75 Trotz Zensur und Kontrolle informierte die Fachpresse über westliche psychiatrische Kliniken und wissenschaftliche Schulen, vor allem über deutsche.76 In der Epoche der intensiven deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit vor der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland veröffentlichten weißrussische Neurologen und Psychiater ihre Arbeiten auf Deutsch.77 Nach 1933 änderte sich die Situation. So nahm G. Gol’blat 1936 seine frühere Aussage zurück, dass es in Deutschland bessere Forschungsbedingungen gebe als in der UdSSR.78 Ein enger Kontakt zwischen sowjetischen Psychiatern und ihren Kollegen im Ausland wurde durch die zunehmende Abschottung der UdSSR von der Außenwelt verhindert. Informationen über ausländische wissenschaftliche Veranstaltungen gelangten über das Büro der Auslandssanitätsinformation in Moskau an die sowjetische medizinische Gemeinschaft. Das Büro wählte zusammen mit dem Volkskommissariat für Gesundheitswesen der Sowjetunion interessante Tagungen und Kongresse aus und stellte 72 73 74 75 76 77 78
Programm des praktischen Unterrichts der Psychiatrie-Doktoranden vom 10. Februar 1932, NARB, F. 218, O. 1, D. 92, L. 4. Lehrplan und -programm im Fach Psychiatrie des Doktoranden S. Е. Bruk (1932), NARB, F. 218, O. 1, D. 92, L. 3; E. Šiško, Razvitie vysšego medicinskogo obrazovanija v BSSR (1921–1961), Minsk 1961, S. 47. Zmačinskaja, Zavedujuščie kafedrami (Anm. 34), S. 229. M. Gurevič u. A. Šmarjan, Itogi konferencii po šizofrenii v Moskve 20–23 ijunja 1932, in: SNPP 8 (1932), Heft I, S. 454. Chronika. V obščestve nevropatologov i psichiatrov, in: SNPP 1 (1932), Heft I, S. 141. M. Chazanaŭ, Klіnіka nėrvovych chvarob і Іnstytut fіzyčnych mėtadau ljačjen’nja NKAZ і BDU, in: BMD 1 (1929), Heft V, S. 88. Brief des Arztes G. Gol’blat (BSSR) zu seiner Rechtfertigung als Antwort auf den Artikel Litvins „Feindliche Verbreitungen von Prof. Gol’blat“ (August 1936), GARF, F. Р-8009 O. 1, D. 47, L. 86ob.
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Listen der sowjetischen Teilnehmer zusammen.79 Während des „Großen Terrors“ 1937–1938 mussten selbst berühmte sowjetische Professoren die Wichtigkeit ihrer Teilnahme an internationalen Konferenzen zur Psychiatrie nachweisen.80 In dieser Zeit wurden darüber hinaus sogar Medizinstudenten bespitzelt – von Mitarbeitern einer Sondereinheit der Geheimdienste.81 Die Entscheidung, deutsche Ärzte jüdischer Herkunft aufzunehmen, die gezwungen waren, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen, war ein ideologischer Schritt der sowjetischen Führung. Eine wichtige Rolle in den Verhandlungen spielte wiederum Joint, durch dessen Vermittlung diese Ärzte in die Sowjetunion kamen.82 Sie wurden zur Arbeit in medizinische und gesundheitliche Einrichtungen in der gesamten UdSSR geschickt. Die emigrierten Psychiater wurden über die Provinzkrankenhäuser der RSFSR (Kostroma, Ivanovo etc.) verteilt. In die BSSR als Grenzrepublik wurden diese Ärzte allerdings nicht geschickt.83 DIE LAGE DER SOWJETISCHEN PSYCHIATRIE IN DER ZWEITEN HÄLFTE DER 1930ER JAHRE Trotz des Versuchs, eine Reihe von ungelösten Problemen im Bereich der Psychiatrie zu verschleiern, verstärkte sich die Kritik seitens der Ärzte in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. So berichtete die Fachpresse in der ersten Hälfte des Jahrzehnts über Probleme in der Entwicklung der Psychiatrie in der Sowjetunion, vor allem über den Mangel an medizinischem Personal. Ein Artikel der berühmten Journalistin Mariėtta Šaginjan in der Pravda im Februar 1935 sollte die sowjetische Öffentlichkeit auf den unvermeidlichen Umbau der Psychiatrie vorbereiten: eine Modernisierung der Forschungslaboratorien und Sanatorien und die Erhöhung der Zahl der psychiatrischen Krankenhäuser.84 Im März 1935 wurde auf der Allrussischen Beratung von Vertretern der Gebiets- und Rayonabteilungen für Gesundheitswesen in Moskau betont, dass viele psychiatrische Krankenhäuser keinen einzigen Arzt hätten. Weder die Ausstattung noch die Bedingungen könnten neue Mitarbeiter locken.85 Die Probleme in der Entwicklung der Psychiatrie und der Ausbildung neuer Mitarbeiter wurden erneut auf dem zweiten Allrussischen Kongress der Neurologen 79 80 81 82 83 84 85
Brief des Direktors des Büros der Auslandssanitätsinformation Prof. Bronner, 29. Juni 1937, GARF, F. P-8009, O. 10, D. 23, L. 231. Brief der Prof. Raisa Ratner (Leningrad) an das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR, 20. Mai 1937, GARF, F. P-8009, O. 10, D. 23, L. 173. Hierzu siehe Rudol’f Pichoja (Hrsg.), Lubjanka: VČK – OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – KGB (1917–1960). Spravočnik, Moskau 1997, S. 247. Carola Tischler, Crossing Over: The Emigration of German-Jewish Physicians to the Soviet Union after 1933, in: Susan G. Solomon (Hrsg.), Doing Medicine Together. Germany and Russia Between the Wars, Toronto 2006, S. 469 ff. Listen ausländischer Ärzte, die zum Arbeiten in die UdSSR kamen (1937), GARF, F. Р-8009, O. 10, D. 79, L. 21–35. Šaginjan, O Psichiatrii (Anm. 42). Zakrylos’ vserossijskoe soveščanie psichiatrov, in: Pravda v. 23.3.1935, S. 6.
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und Psychiater in Moskau im Dezember 1936 angesprochen. Es wurde offiziell anerkannt, dass es nicht genug Psychiater in der Sowjetunion gebe, obwohl sich ihre Zahl allein in Russland im Vergleich zur vorrevolutionären Zeit verdreifacht hatte.86 Auch führende sowjetische Psychiater bemängelten die Psychiatrie in der BSSR. Der Psychiater V. Giljarovskij, der die Republik 1937–1938 besuchte, kritisierte die Situation der jungen medizinischen Kader und den Mangel an Nachwuchswissenschaftlern. In den psychiatrischen Krankenhäusern in Minsk und Mahilëŭ gab es keine Praktikanten oder Doktoranden. Er schlug daher vor, dort regelmäßige monatliche Beratungen und Konsultationen mit führenden Fachkräften aus Moskau und Assistenten aus seiner eigenen Klinik in der Hauptstadt zu organisieren. Im Oktober 1938 war Giljarovskij dann auch offizieller Gutachter bei der Verteidigung der Dissertation der weißrussischen Ärztin Judif’ Segal’.87 Der Leiter der Abteilung für Psychiatrie beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR, A. Rapoport, erkannte einen weiteren wichtigen Grund für den Mangel an Fachkräften in der weißrussischen Sowjetrepublik: Er stellte fest, dass das mittlere medizinische Personal der BSSR nicht über dieselben Vergünstigungen verfüge, wie das für das medizinische Personal anderer Sowjetrepubliken üblich war, etwa zusätzliche Urlaubstage zum Ausgleich der mit ihrer Tätigkeit verbundenen Gesundheitsrisiken.88 Trotz der wertvollen Ratschläge ausgewiesener Fachleute beschränkten sich die Maßnahmen der Führung der BSSR und des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der Republik in erster Linie darauf, die Bettenzahl in psychiatrischen Krankenhäusern zu erhöhen und psychiatrische (Arbeits-)Anstalten zu erweitern – und hatten damit einen eher quantitativen Charakter.89 Nicht berücksichtigt blieben dagegen qualitative Probleme, wie etwa bei der Versorgung und Ausbildung der Ärzte, sowie die mangelnde internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Psychiatrie. Entsprechend konnte die BSSR nicht allein ihre psychiatrischen Einrichtungen mit qualifiziertem Personal versorgen. In der Kinderabteilung im psychiatrischen 86 87 88
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Resolution des Zweiten Allunionskongresses der Neuropathologen und Psychiater in Moskau 25.–29. Dezember 1936, GARF, F. Р-8009, O. 1, D. 47, L. 1a. Bericht von V. A. Giljarovskij an den Abteilungsleiter für Psychiatrie des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR А. М. Rapoport (9. Oktober 1938), GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 59, L. 5–6. Bericht des Abteilungsleiters für Psychiatrie des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR A. M. Rapoport an den stellvertretenden Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR N. I. Propper-Geraščenkov (9. Oktober 1938), GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 59, L. 7–7оb. Pastanovy SNK BSSR pra perspėktyŭny plan narodnaj haspadarkі і kul’turnaha budaŭnіctva BSSR na 1928/29–1931/32 hady, Minsk 1928, S. 16; Vortrag von Livšic über die Lage im Gesundheitswesen auf dem Lande auf der Sitzung des Büros des ZK der KP(b)B (16. Juli 1926), NARB, F. 4p, O. 1, D. 2533, L. 696–697; Barsukov, Za dva goda (Anm. 33), S. 14; Erläuterungsschrift von M. Barsukoŭ zum Kostenplan des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR für 1926/27, NARB, F. 265, O. 1, D. 2091, L. 55; Bericht des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR an das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR über die Entwicklung der Volkswirtschaft Weißrusslands im Bereich des Gesundheitswesens für den 3. Fünfjahresplan (1938), NARB, F. 46, O. 1, D. 574, L. 5.
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Krankenhaus in Mahilëŭ gab es beispielsweise keinen Arzt, die Oberschwester übernahm dessen Aufgaben.90 Daher kamen immer wieder auch Absolventen medizinischer Hochschulen aus anderen Sowjetrepubliken in die Republik.91 In den 1930er Jahren, mit der zunehmenden Isolierung der UdSSR, wurden Informationen über die Lage der psychiatrischen Versorgung zur Geheimsache. Der Kampf gegen Spionage führte zu einem Generalverdacht. Im März 1937 erregte ein in der Ukraine herausgegebener Sammelband über psychiatrische Einrichtungen in der UdSSR – inklusive Informationen über Bettenanzahl u. a. – die Aufmerksamkeit des weißrussischen Volkskommissars Pavel Buračėŭski. Wie er in einem Brief an das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR im März 1937 darlegte, war er besorgt, dass diese Informationen als geheim eingestuft sein könnten.92 Jedoch half ihm auch derartige vorauseilende „Wachsamkeit“ nicht: Ein Jahr später wurde er wegen „Sabotierung der psychiatrischen Versorgung“ in der Republik angeklagt, als „Volksfeind“ eingestuft und später hingerichtet.93 Den ehemaligen Leitern des Volkskommissariats für Gesundheitswesen, Ivan Surta und Pavel Buračėŭski, wurde unter anderem Spionage und „Sabotage“ der Entscheidungen der Partei im Bereich des Gesundheitswesens vorgeworfen, außerdem wurden sie für den Mangel an Ärzten in der Provinz verantwortlich gemacht. Der neue Volkskommissar für Gesundheitswesen, Kuz’ma Kisjalëŭ, schrieb alle Versäumnisse und Fehler der früheren Leitung zu, insbesondere die ungelöste Frage der Verteilung des medizinischen Personals. Absolventen des medizinischen Instituts wurden zwar aufs Land geschickt, aber dort blieben sie nicht lange. Die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen waren nicht vergleichbar mit denen in der Stadt, weswegen sich viele Ärzte unter verschiedenen Vorwänden weigerten, zur Arbeit aufs Land zu gehen.94
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Überprüfung der Kinderabteilung des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ (24.–25. Oktober 1938), NARB, F. 4p, O. 1, D. 12077, L. 27. Liste der Mediziner in Partisanengruppen des Gebiets Mahilëŭ vom 1. Juni 1946, NARB F. 1450, O. 2, D. 98, L. 197, 204. Brief des Volkskommissars für Gesundheitswesen der BSSR P. Buračėŭski über die Herausgabe des Sammelbandes „Probleme der Organisation der psychiatrischen Hilfe“ vom 9. März 1937, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 54, L. 30. Bericht des Abteilungsleiters für Psychiatrie des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR A. M. Rapoport an den stellvertretenden Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR N. I. Propper-Geraščenkov (vom 9. Oktober 1938), GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 59, L. 7–7оb. Kuz’ma Kiselev (= Kuz’ma Kisjalëŭ), Očerednye zadači zdravoochranenija v BSSR, in: Medicinskij Žurnal BSSR 1–2 (1938), Heft I, S. 8–12; Brief von Ivan Surta vom 8. März 1934, NARB, F. 4p, O. 1, D. 7566, L. 87; Bescheinigung des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR (1933), NARB, F. 4p, O. 1, D. 8919, L. 7; Rezoljucija respublikanskogo soveščanija aktiva rabotnikov zdravoochranenija po dokladu Narkoma Zdravoochranenija ob osnovnych zadačach na 1939 g., Minsk 1939, S. 2. Zu Buračėŭski und Kisjalëŭ siehe Alexander Friedman, Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941: Propaganda und Erfahrungen, Stuttgart 2011, S. 115–117.
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PSYCHIATER IN WESTWEISSRUSSLAND 1918–1941 In den annektierten östlichen Woiwodschaften Polens wurde seit Herbst 1939 das sowjetische Gesundheitssystem eingeführt. Dabei war die Lage der medizinischen und psychiatrischen Versorgung im westlichen Weißrussland nicht so aussichtslos, wie die sowjetische Propaganda glauben machen wollte,95 obwohl der Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal in Ostpolen tatsächlich ein akutes Problem dargestellt hatte.96 Der Aufbau einer umfassenden psychiatrischen Versorgung war gerade in dieser Region durch die besonders starken Zerstörungen während des Ersten Weltkrieges behindert worden. Die Ärzte kämpften gegen Infektionskrankheiten – Folgen des Krieges und der Wirtschaftskrise. Es galt vor allem, eine Ausbreitung von Epidemien zu verhindern, was dank der massiven internationalen Unterstützung möglich wurde.97 Auf den regionalen Ärztekongressen wurde für die Schaffung eines Krankenhauses für psychisch kranke Patienten aus mehreren Woiwodschaften plädiert.98 Die Eröffnung einer spezialisierten psychiatrischen Klinik in Choroszcz in der Nähe von Białystok 1929 verbesserte die Situation deutlich.99 Der berühmte polnische Psychiater Stanisław Deresz trug als Direktor zur Entwicklung der Klinik bei, indem er auf verschiedenen Konferenzen die aktuellen Probleme der polnischen Psychiatrie offen ansprach. Vor dem deutschen Überfall auf Polen befanden sich etwa 2.000 Psychiatriepatienten in Choroszcz (davon 900 in der Anstalt, die restlichen Patienten wurden von der Bevölkerung betreut). Im September 1939 kamen zirka 400 evakuierte Patienten aus Warschau hinzu.100 Auf die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung im Land wirkte sich die Weltwirtschaftskrise negativ aus, da sie zu einer Reduzierung des staatlichen Budgets für das Gesundheitswesen führte. Gleichzeitig kam es zu einer deutlichen Verringerung der Anzahl psychiatrischer Einrichtungen, weil insbesondere gesellschaftlich, privat oder durch die lokalen Selbstverwaltungen geführte Einrichtungen infolge der Krise schließen mussten.101 Unter anderem deshalb waren bei der 95 Siehe etwa Dva svety – dzve sistėmy, in: Komunіstyčny šljach [Krupki] v. 1.5.1938, S. 4. 96 Józef Bednarz, Stan opieki lekarskiej nad psychicznie chorymi w Polsce, Warszawa 1927, S. 7. 97 Sprawozdanie dla sejmowej komissii Zdrowia 1921, AAN, Z. 15, T. 90, K. 11–17; Report of Polish Ministry of Preparatory Work Concerning the Peace Conference „The Eastern provinces of Poland. Poland’s Rights and Interests“ (London, March 1944), AAN (Collection of Hoover Institution Archives), Sygn. (= Sygnatura) [Signatur] 41/247, K. 11. 98 Zjazd Lekarzy Powiatowych w Nowogródku (26 i 27 stycznia 1929), AAN, Z. 15, T. 492, K. 2 ff.; Bericht der Tagung der Rayonärzte der Woiwodschaft Nowogródek vom 13. Oktober 1925, AAN, Z. 15, T. 491, K. 2–5. 99 W. Borawski u. M. Heyman, Budowa Wojewódzkiego Białostockiego Zakładu Psychiatrycznego w Choroszczy, Warschau u. Choroszcz 1930, S. 4. 100 Tadeusz Nasierowski, Zagłada osób z zaburzeniami psychicznymi w okupowanej Polsce. Początek ludobójstwa, Warschau 2008, S. 196; Stanisław Deresz, Szkolenie personelu pielęgniarskiego dla zakładów psychiatrycznych, in: M. Kozłowski (Hrsg.), Przegląd szpitalnictwa: poświęcony pierwszemu ogolnopolskiemu zjazdowi w sprawach szpitalnictwa i pierwszej polskiej wystawie szpitalnictwa 2–4.X.1938, Warschau 1939, S. 139. 101 Opieka nad kalekami. Referat Dr. Witolda Recklewskogo 1933, AAN, Z. 15, T. 530, K. 24; Z. Landau u. J. Tomaszewski, Zarys historii gospodarczej Polski 1918–1939, Warschau 1999, S. 229.
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Ankunft der Bolschewiki psychiatrische Einrichtungen nicht gleichmäßig verteilt gewesen: Fünf östliche Woiwodschaften hatten keine einzige Einrichtung für psychisch kranke Patienten mehr. Dorthin schickte die Führung der BSSR Ärzte und Absolventen der medizinischen Fakultäten, insbesondere in die Grenzgebiete.102 Dies hing jedoch nicht nur mit dem Mangel an medizinischem Personal zusammen, sondern auch mit dem Misstrauen gegenüber den lokalen, insbesondere den polnischen, Kadern. Der NKVD enttarnte eine „Geheimorganisation“, in der auch Mediziner vertreten waren; ihnen wurde vorgeworfen, Sabotageakte gegen die neue Regierung geplant zu haben.103 Im November 1939 wurden der Leiter des Krankenhauses in Choroszcz, S. Deresz, der Neurologe Stanisław Hrynkiewicz und andere Ärzte durch den NKVD verhaftet. Am 18. Dezember 1940 beschloss das ZK der KP(b)B das Gebäude der überfüllten Anstalt in Choroszcz dem Westlichen Sondermilitärbezirk zu übergeben. Die Patienten sollten auf andere sowjetische Psychiatrien verteilt werden oder in Choroszcz unter Betreuung der Bevölkerung bleiben. 464 psychisch Kranke wurden im Juli 1941 von der Wehrmacht vernichtet.104 PSYCHIATER AM VORABEND DER DEUTSCHEN OKKUPATION 1941 war die medizinische Versorgung in der BSSR besser als in anderen Sowjetrepubliken.105 Fast alle ländlichen medizinischen Stationen waren mit Ärzten besetzt,106 eine umfangreiche Ausbildung von Krankenschwestern und -pflegern
102 Verordnung des ZK der KP(b)B „Über Maßnahmen zur Festigung der Grenzregionen“ vom 27. Juli 1940, NARB, F. 4р, O. 1, D. 1568, L. 41–44; Liste der Genossen, die auf Anweisung des ZK KP(b)B zur Arbeit in die westlichen Gebiete der BSSR geschickt wurden vom 1. Februar 1940, Gosudarstvennyj archiv obščestvennych ob’edinenij Gomel’skoj oblasti [Staatsarchiv für gesellschaftliche Organisationen des Gebiets Homel’] (nachfolgend GAOOGO) F. 702, O. 8, D. 49, L. 4, 8, 15. 103 Sondermitteilung des NKGB der Litauischen SSR Nr. 1/947 (3. Mai 1941), Lietuvos Ypatingasis Archyvas [Litauisches Sonderarchiv] (nachfolgend LYA), F. К-1, O. 10, D. 5, L. 93. 104 Anordnung des Zentralkomitees der KPB(b) „Platzierung der militärischen Einheiten in den westlichen Regionen des Weißrussischen SSR“ (18. Dezember 1940), NARB, F.4p, O. 1, D. 15115, L.6; Vortrag Prof. Vladimir Akkermans auf einer Beratung von Psychiatern bei der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR vom 30.11.1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 31; Nasierowski, Zagłada osób z zaburzeniami psychicznymi w okupowanej Polsce (Anm. 100), S. 195 f., 199; ders., In the Abyss of Death: The Extermination of the Mentally Ill in Poland During World War II, in: International Journal of Mental Health, Vol. 35 (2006), No. 3, S. 50–61, hier: S. 57; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 21999, S. 1067. 105 Anfang 1941 gab es 4216 Ärzte, von denen 65 % im östlichen Teil der Republik tätig waren, vgl. M. Gal’perin (Hrsg.), Zdravoochranenie BSSR v cifrach na 1.1.1941, Minsk 1941, S. 17 f. 106 Brief des Leiters der Abteilung Gesundheitswesen des Staatsplankomitees beim Rat der Volkskommissare der UdSSR, N. N. Morozov, an den stellvertretenden Leiter des Staatsplankomitees beim Rat der Volkskommissare der UdSSR über die Verfügung des Rats der Volkskommissare vom 23. Januar 1941 Nr. 150 „Über die Ersetzung von ländlichen medizinischen Stationen
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war in Gang gebracht worden.107 Gleichzeitig wirkten sich die Kriegsvorbereitungen der sowjetischen Führung auch auf das Gesundheitssystem aus. Mediziner mussten sich an der „Verteidigungsarbeit“, der Vorbereitung auf Kampfhandlungen, beteiligen. In Krankenhäusern, darunter auch in psychiatrischen, wurden spezielle Seminare durchgeführt, wo beispielsweise der Gebrauch von Gasmasken erklärt oder Vorträge über giftige Substanzen gehalten wurden. In der Fachpresse erhöhte sich die Zahl der Materialien über (Kriegs-)Verletzungen, oft griff man hier Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg auf. Im Auftrag des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR wurde Anfang 1941 eine Bestandsaufnahme des medizinischen Personals durchgeführt.108 Die Einberufung von medizinischem Personal in die Rote Armee erschwerte die Situation in vielen Krankenhäusern. Die medizinische Verwaltung warnte, dass dadurch eine Verschlechterung der gesundheitlichepidemiologischen Situation drohe.109 Trotzdem gab es zu Beginn der deutschen Besatzung in der BSSR eine wissenschaftliche Basis, die aus Mitarbeitern der medizinischen Institute in Minsk und Vicebsk und anderer medizinischer Einrichtungen bestand.110 In der unmittelbaren Vorkriegszeit war unter den wissenschaftlichen Kadern eine hohe Mobilität zu beobachten gewesen, was zur Weiterentwicklung der Psychiatrieschulen in verschiedenen Teilen der UdSSR und zum Wissenstransfer beigetragen hatte. Minsk als neues Zentrum für Psychoneurologie lockte Spezialisten an, viele sowjetische Fachleute kamen hierher. 1939 wurde der renommierte Irkutsker Experte Vladimir Akkerman zum Leiter des Lehrstuhls für Psychiatrie am Minsker Medizinischen Institut.111 Möglicherweise bekam die Ärztin Natal’ja Akimova, Absolventin des Medizinischen Instituts in Irkutsk, die Stelle in der Kolonie Navinki auf seine Empfehlung hin. In der Psychiatrie kamen Frauen zu bedeutenden wissenschaftlichen Ergebnissen. Dabei handelte es sich um junge Kader; Mitarbeiterinnen, die nach der Revolution Karriere gemacht hatten.112 Der
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durch Ärzte“, Rossijskij gosudarstvennyj archiv ėkonomiki [Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft] (nachfolgend RGAĖ), F. 4372, O. 41, D. 1515, L. 68. A. Lipmanova, Medicinskie kadry v BSSR, in: Medicinskij Žurnal BSSR 3–4 (1939), Heft II, S. 123; Stenogramm eines Gesprächs über die Vorbereitung des medizinischen Personals beim Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR G. Kaminskij vom 29. Januar 1937, GARF, F. Р-8009, O. 1, D. 82, L. 12. Anordnung des Leiters des Mobilisierungsreferats der Gebietsabteilung für Gesundheitswesen beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der BSSR, Antaškevič, vom 17. Januar 1941, GAGom, F. 1223, O. 1, D. 18, L. 1. Brief des Leiters der Gebietsabteilung für Gesundheitswesen ans Kriegskommissariat in Homel’ vom 4. Februar 1941, GAGom, F. 1223, O. 1, D. 15, L. 1. Bekiš, Vitebskomu ordena Družby narodov (Anm. 71), S. 74; Chronika, in: Medicinskij Žurnal BSSR 3–4 (1940), Heft III, S. 91–96. Seine medizinische Ausbildung hatte er in Paris erhalten, wo er in der berühmten psychiatrischen Klinik Hôpital de la Salpêtrière praktizierte. Er forschte u. a. über den französischen Psychiater Pierre Janet und seine Theorien, vgl. V. Akkerman, Učenie Janet o bredoobrazovanii, in: SNPP 4 (1935), Heft IV, S. 149–169. R. Raskina, Tri slučaja gipertrichoza u duševno-bol’nych (Iz psichiatričeskoj kliniki BGU), in: BMD 12–13 (1926), Heft II, S. 101–106; Chronika, in: Medicinskij Žurnal BSSR 4–5 (1938), Heft I, S. 12.
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Aufstieg im beruflichen Leben hing mit der Geschlechterpolitik der Bolschewiki zusammen: Massenhaft wurden Frauen an den medizinischen Hochschulen der UdSSR aufgenommen. Doch hing dieser Zustrom an Frauen nach Meinung einiger Ärzte auch damit zusammen, dass der Beruf des Arztes in der Sowjetunion aus materieller Sicht nicht sehr attraktiv für Männer war.113 Ärztinnen in Krankenhäusern führten die gleichen Tätigkeiten aus wie Männer, sie wurden ebenfalls zum Einsatz in die Provinz geschickt, führten gesundheitliche Arbeitskreise, wurden Abgeordnete usw. Ausländische Beobachter stellten einen erheblichen Anteil von Frauen unter der sowjetischen Ärzteschaft fest.114 Jedoch war psychiatrische Hilfe für die Bevölkerung in der Sowjetunion noch immer der unterentwickeltste Bereich des Gesundheitswesens. In allen psychiatrischen Kliniken mangelte es nach wie vor an medizinischem Personal. Problematisch war auch die Disparität in der Vergütung von Ärzten und Sanitätern, welche doppelt so viel wie junge psychiatrische Ärzte verdienten.115 Die materielle Lage des medizinischen Personals änderte sich kaum, obwohl einige Verbesserungen in der Lebensmittelversorgung zu beobachten waren.116 Nach Aussage führender sowjetischer Psychiater hatte Weißrussland im Vergleich zu Russland und der Ukraine, trotz der allgemein guten medizinischen Versorgung, am Vorabend der deutschen Besatzung noch immer ein defizitäres Netz an psychiatrischen Einrichtungen.117 Zwar war die Zahl der Psychiater auf Grund der Ausbildung von jungen Fachleuten, der Anwerbung aus anderen Städten der UdSSR sowie den Psychiatern in Choroszcz gestiegen.118 Doch war die sowjetische medizinische Verwaltung bis 1939 nicht in der Lage, neue psychiatrische Einrichtungen zu schaffen, mit Ausnahme der Kolonie Navinki nahe Minsk. 1941 wurde die psychiatrische Versorgung „dezentralisiert“ und in den Industriestädten Homel’, Mazyr, Vorša, Baranavičy, im Raum Lida und Pinsk wurden kleine Psychiatrien eröffnet.119 Eine psychiatrische Klinik in Homel’, die zur Verbesserung der psychiatrischen Versor113 Garbel’, Medicinskij personal Belorussii (Anm. 32), S. 11. 114 Ein anonymer englischer Autor, der im Sommer 1936 die UdSSR besuchte, beschrieb seine Eindrücke in der Abhandlung „Medicine in Russia today. Inter-Hospital Socialist Society, London 1937“, GARF, F. Р-8009, O. 1, D. 53, L. 21. 115 Bericht des Prof. M. Gurevič „Psychiatrische Hilfe in der UdSSR 1939/40“ auf der Sitzung der Chefärzte psychiatrischer Krankenhäuser des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR vom 19.–20. Mai 1940, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 209, L. 7, 93. 116 Minna Lapidus, Čelovek v tragičeskie minuty istorii. Vospominanija vrača [Der Mensch in den tragischen Momenten der Geschichte. Erinnerungen einer Ärztin], in: Aljaksandr Fjaduta (Hrsg.), Asoba і čas. Belaruskі bіjahrafіčny al’manach [Persönlichkeit und Zeit. Weißrussischer Biographischer Almanach], Bd. 2, Minsk 2010, S. 177–178. 117 Vortrag Prof. V. Akkermans auf einer Beratung von Psychiatern bei der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR vom 30. November 1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 32. 118 Anfang 1941 betrug die Anzahl der Psychiater in den westlichen Gebieten 25, darunter 22 im Gebiet Białystok. In anderen Gebieten gab es nur vereinzelte oder gar keine Psychiater, RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 194, L. 2–5; zur Anzahl der Ärzte in den westlichen Gebieten der BSSR (1941) vgl. Gal’perin, Zdravoochranenie BSSR v cifrach (Anm. 105), S. 17–18. 119 Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Anm. 5), S. 10.
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gung in der südlichen Region beitragen sollte, wurde letztlich nicht eröffnet.120 Vielleicht hing dies nicht so sehr mit wirtschaftlichen Gründen zusammen, sondern eher mit politischen und ideologischen: Die Parteiführung beschäftigte sich vornehmlich mit Problemen des Gesundheitswesens in den westlichen, gerade angeschlossenen Gebieten. Die sozialpolitischen und wirtschaftlichen Probleme im Land spiegelten sich in der Situation der psychiatrischen Einrichtungen und in der Lage ihrer Mitarbeiter wider. Viele Probleme, vor allem den Personalmangel und die defizitäre materielle Versorgung, konnte die Leitung des Gesundheitswesens bis zur deutschen Besetzung nicht lösen. Erheblichen Schaden nahm das Gesundheitssystem, einschließlich der Psychiatrie, auch und besonders durch die Repressionen der 30er Jahre. PSYCHIATER WÄHREND DER DEUTSCHEN OKKUPATION (1941–1944) Das gesamte Territorium der BSSR wurde Ende Sommer 1941 besetzt. Es herrschten Angst und Verwirrung. Einige Ärzte gingen nicht zur Arbeit, andere befanden sich in einem Schockzustand. Der Krieg trennte Familien. Ein Teil der Psychiater wie auch andere Mediziner wurden in die Rote Armee eingezogen.121 Aufgrund des raschen Vormarsches der deutschen Truppen wurde das medizinische Personal lediglich aus den östlichen Regionen der Republik evakuiert, vor allem aus den Gebieten Homel’, Vicebsk und Mahilëŭ. Überstürzt verließ die Parteiführung Minsk in den ersten Kriegstagen, ohne jedoch die Evakuierung der Bevölkerung zu organisieren. Einige Mediziner verließen mit ihren Familien die Krankenhäuser, wie beispielsweise die gesamte Leitung des 2. städtischen Krankenhauses, und überließen dabei die Patienten ihrem Schicksal. Andere folgten dem Eid des Hippokrates und setzten ihre Arbeit fort: Das ohne Leitung gebliebene 2. Krankenhaus in Minsk, das außerdem Brandschäden erlitten hatte, wurde auf eigene Initiative durch den Psychiater Sergej Afonskij weiter geleitet. Er verhinderte die Plünderung des Krankenhauses und organisierte die Ernährung des Personals und der Patienten.122 Schon in den ersten Wochen entwickelte die Besatzungsverwaltung ein Verwaltungssystem für das Gesundheitswesen in den besetzten Gebieten. Die Ärzte oblagen der Registrierungspflicht und waren der deutschen Militärverwaltung gegenüber persönlich verantwortlich.123 Im August 1941 wurden in der Kolonie Navinki
120 Bericht von V. А. Giljarovskij an den Abteilungsleiter für Psychiatrie beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR, А. М. Rapoport (9. Oktober 1938), GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 59, L. 6. 121 Aus dem 2. Krankenhaus wurden zwei Psychiater ins Kriegskommissariat abberufen: A. К. Plavinskij und N. A. Abramava, vgl. Rachil’ Rappoport, Ostat’sja soboj, in: Vyžit’-podvig: vospominanija i dokumenty o Minskom getto, Minsk 2008, S. 8. 122 Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 121), S. 15; Boris Gimel’štejn, Poslednij evrej mestečka Grozovo, in: Lev Zlobin (Hrsg.), Ostalos’ za kadrom i meždu strok, Minsk 2009, S. 85. 123 Befehl Nr. 1 des Befehlshabers der Heeresgruppe Mitte vom 7. Juni 1941, NARB, F. 1440, O. 3, D. 953, L. 2–3.
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die Psychiater L. Protasevič und T. Afonskaja zu Abteilungsleitern ernannt.124 Im Oktober 1941 kamen Anordnungen über die Schaffung einer Gesundheitskammer und über die Neuregelung der Berufe im Gesundheitswesen. Für die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit benötigten Mediziner von nun an eine Approbation, ohne die eine Arbeit als Arzt nicht mehr möglich war.125 Die weißrussische Gesundheitskammer machte eine Bestandsaufnahme der verbliebenen sowjetischen medizinischen Kader.126 Mitte Dezember 1942 wurden im Generalkommissariat „Weißruthenien“ 487 Ärzte registriert.127 Die Besatzungsverwaltung erfasste auch die ethnische Zusammensetzung an den medizinischen Einrichtungen.128 Anfang 1942 wurden in Minsk fünf weißrussische Psychiater registriert.129 Juden wurden nicht berücksichtigt, für sie galten Sonderbestimmungen. Im psychiatrischen Krankenhaus in Mahilëŭ, das im Hinterland der Heeresgruppe Mitte lag, gab es im Herbst 1941 nur drei Psychiater. Die Deutschen machten unter dem medizinischen Personal Juden, Kommunisten, Komsomolzen und Personen ausfindig, die mit dem früheren System sympathisierten. Von August 1941 bis Mitte Januar 1942 wurde das Krankenhaus durch den Psychiater Aleksandr Stepanov geleitet, der den jüdischen Chefarzt Meer Klipcan ersetzte.130 Auch Denunziationen waren weit verbreitet. Der Leiter der Abteilung Gesundheit und Volkspflege beim Generalkommissariat „Weißruthenien“ Hans Wolfgang Weber wurde von seiner Dolmetscherin darüber informiert, dass eine Sanitäterin der Kolonie Navinki vor dem Krieg Leiterin einer Komsomol-Gruppe gewesen sei.131 Die gegenseitige Hetze unter dem medizinischen Personal sowie zwischen den verschiedenen Nationalitäten (zum Beispiel zwischen weißrussischen Ärzten und Polen oder Russen) wurde durch die Deutschen gefördert; es kam ihren Interessen durchaus entgegen.132 124 Auszug aus dem Befehl des Direktors Rempler (August 1941), NARB, F. 370, O. 1, D. 141а, L. 4. 125 Anordnung über die Gründung der Gesundheitskammer vom 17. Oktober 1941, NARB, F. 393, O. 1, D. 104, L. 11, 16–19; Aktenvermerk des Reichskommissars für das Ostland „Gesundheitsdienst in Weißruthenien“ vom 26. Juli 1943, Bundesarchiv Berlin (nachfolgend BArch) R 90/296, fol. 38 ff. 126 Insgesamt waren 1944 neun Mitarbeiter in dieser Einrichtung tätig, vgl. Liste der Mitarbeiter der Gesundheitskammer beim Generalkommissariat „Weißruthenien“ vom 18. Februar 1944, NARB, F. 370, O. 6, D. 172, L. 3. 127 Brief des Abteilungsleiters Gesundheit und Volkspflege Weber an den Gebietskommissar Minsk zur Bestimmung der Anzahl des medizinischen Personals vom 17. Dezember 1941, NARB, F. 370, O. 1,D. 149, L. 8. 128 In medizinischen Einrichtungen gab es Mitarbeiter unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, vgl. Belegschaft des Kinderkrankenhauses (November 1941), NARB, F. 370, O. 1, D. 149, L. 30. 129 Unter den Psychiaterinnen in Minsk waren О. Ol’ševskaja, N. Akimova, L. Protasevič u. a., vgl. Ärzte, medizinisches Personal und Krankenanstalten in Minsk (Liste) (1941), BArch R 90/325, fol. 14–25. 130 Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 64), S. 193 f. 131 Generalkommissar für Weißruthenien Abt. IIe an den Gebietskommissar Minsk-Stadt (1941), NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 136. 132 Brief von M. Sidarčuk und P. Achrėmčyk an die Redaktion der „Belaruskaja hazėta“ vom 1. September 1942, NARB, F. 370, O. 1, D. 141а, L. 4.
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In den besetzten Gebieten wurden seit den ersten Besatzungstagen jüdische Mediziner ermordet, obwohl die Deutschen zunächst dringend Fachkräfte und insbesondere auch Psychiater benötigten.133 Im Januar 1942 beispielsweise bat der Stadtkommissar in Minsk das Generalkommissariat „Weißruthenien“, den Arzt Berkovskij in einem Krankenhaus einzustellen, weil man dort einen Psychiater brauchte.134 Das medizinische Personal musste unter entsetzlichen Umständen arbeiten; die hygienischen Bedingungen waren sehr schlecht und die Sterblichkeitsrate hoch. Die Psychiaterin R. Rappoport hielt ihren Beruf im Minsker Ghetto geheim, weswegen sie die Vernichtungsaktionen gegen das medizinische Personal überlebte.135 In anderen Städten wurde es jüdischen Ärzten mit seltenen Spezialisierungen erlaubt, einige Zeit außerhalb des Ghettos zu wohnen und in privaten Praxen zu arbeiten. In Brėst erhielten nur sechs Ärzte dieses Recht, darunter der renommierte polnische Neurologe Bernard Kalwaryjski.136 Dies war eine temporäre Lösung der Besatzungsbehörden, die wegen der steigenden Krankheitsraten in den von ihnen kontrollierten Gebieten besorgt waren. Die meisten Mediziner der Ghettos teilten das Schicksal ihrer Patienten, die während der Massenvernichtungsaktionen ermordet wurden.137 So wurde der Psychiater Rubinčik ermordet, der möglicherweise der Arzt der am Vorabend der Besatzung in Lida eröffneten Psychiatrie gewesen war.138 Nur einigen wenigen Ärzten gelang es, den Holocaust in Verstecken und Partisanentruppen zu überleben. KOLLABORATION IM MEDIZINISCHEN UMFELD In den sowjetischen Gebieten, die vom Feind besetzt waren, stellte Kollaboration keine Ausnahme dar, sondern war ein weit verbreitetes Phänomen. Im medizinischen Umfeld gab es sowohl Ärzte, die für die Besatzer als auch solche, die für die Befreiung kämpften. Einige Mediziner kollaborierten bewusst mit den Besatzungs133 Schreiben Dr. Wegeners an den Reichskommissar für das Ostland über jüdische Fachärzte vom 20. September 1941, BArch R 6/387, fol. 1–4; Schreiben des Generalkommissars für Weißruthenien an den Reichskommissar für das Ostland „ Austausch von jüdischen Fachärzten durch russische bzw. weißruthenische Fachkräfte“ (28. Januar 1942); BArch 90/324, fol. 137, 138.; Besprechung am 6. März in Minsk (10. März 1942), BArch 90/324, fol.140–142; Schreiben an das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete über den Einsatz weißruthenischer Ärzte aus der Emigration anstelle jüdischer vom 11. Mai 1942, BArch 90/324, fol. 147, 148. 134 Brief des Stadtkommissars von Minsk an den Generalkommissar „Weißrutheniens“ vom 14. Januar 1942, NARB, F. 370, O. 1, D. 148а, L. 37. 135 Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 121), S. 20. 136 Evgenij Rozenblat, Mediki-evrei, in: Ilja Al’tman (Hrsg.), Cholokost na territorii SSSR: Ėnciklopedija, Moskau 2009, S. 576. 137 Der Chefarzt des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ, Meer Klipcan, wurde von Mitarbeitern versteckt, aber schließlich doch an die Deutschen verraten, vgl. I. Bondareva, V okkupacii bol’nych ne brosili, in: Medicinskij vestnik v. 19.8.2010, S. 11; Vospominanija Zoi Gulevič i Ally Ulanovoj [Erinnerungen von Zoja Gulevič und Anna Ulanova], in: Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 64), S. 194 f. 138 Akte der sowjetischen Sonderkommission über die NS-Verbrechen in Lida (17. August 1944), NARB, F. 861, O. 1, D. 6, L. 7.
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behörden, wobei sie unterschiedliche Motive hatten. Eine kleine Gruppe bildeten beispielsweise aus der Emigration zurückgekehrte weißrussische Ärzte. Im Oktober 1941 stellte sich der zurückgekehrte Arzt Ivan Ermačėnka an die Spitze des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“, das sich mit Fragen der Sozialfürsorge beschäftigte, u. a. mit der Hilfe für Kranke und Verwundete. Im besetzten Minsk genoss er die Unterstützung des Generalkommissars „Weißrutheniens“ Wilhelm Kube, der zur Erweiterung der Tätigkeit des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“ beitrug.139 Die Ärzte des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“ leisteten nicht nur der lokalen Bevölkerung und Flüchtlingen medizinische Hilfe, sondern beteiligten sich auch an den medizinischen Untersuchungen von Personen, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit abtransportiert wurden.140 Eines der Motive dabei war die als persönliche Kränkung empfundene Behandlung durch das sowjetische Regime. Eine weitere Gruppe von Kollaborateuren bildeten Mediziner, die aus ideologischen Gründen Gegner des sowjetischen Regimes waren. Dabei handelte es sich um lokale Mediziner und Absolventen des Minsker medizinischen Instituts, die sich bewusst mit dem neuen Regime arrangierten.141 Einige Mediziner gaben die medizinische Praxis auf, weil sie für sich neue Perspektiven sahen. Die Psychiaterin Nadzeja Abramava beispielsweise vermied auf diese Weise die Einberufung in die Rote Armee und wurde zur Funktionärin des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“, später des „Weißruthenischen Jugendwerkes“.142 Sie kannte die nationalsozialistische Haltung gegenüber psychisch Kranken und vermied es daher, Fragen der Psychiatrie anzusprechen. Stattdessen beschäftigte sie sich mit Angelegenheiten der Hygiene und Gesundheitsvorsorge. Auf ihre Veranlassung wurde die Jugend des „Weißruthenischen Jugendwerkes“ im Rahmen der Kampagne zur Verbesserung von Hygienestandards in Schulen und Wohngebäuden, zur Kontrolle der hygi139 In der Emigration, in der er sich seit Anfang der 1920er Jahre befunden hatte, betätigte er sich politisch. Er war Vertreter der Exilregierung der 1918 ausgerufenen Weißrussischen Volksrepublik. 1929 begann er seine medizinische Ausbildung an der Universität Prag. Am Vorabend der deutschen Angriffs auf die UdSSR beschäftigte er sich mit der Organisation weißrussischer Ärzte in den von den Deutschen kontrollierten Gebieten, vgl. Aufruf des Generalkommissars für Weißruthenien Wilhelm Kube an die städtische und ländliche Bevölkerung vom 22. Oktober 1941, NARB, F. 370, O. 5, D. 1, L. 12b; Dr. Wegeners Schreiben an das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete über weißruthenische Ärzte für das Selbsthilfewerk vom 12. Januar 1942, BArch R 90/324, fol. 135–136; Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an den Reichsmininister für die besetzten Ostgebiete über Dr. Johann Ermatschenko, ehemaliger Leiter des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“ vom 7. August 1943, BArch R 6/106, fol. 36; Ermatschenkos Schreiben an Rosenberg vom 17. Januar 1944, BArch R 6/106, Bl. 45– 55. 140 Brief des Leiters des „Weißruthenischen Selbsthilfewerkes“ Ivan Ermačėnka an den Generalkommissar für Weißruthenien über die Schaffung einer medizinischen Kommission zur Untersuchung von Menschen, die nach Deutschland abtransportiert werden sollen (16. Dezember 1942), NARB, F. 384, O. 1, D. 64, L. 82. 141 Zum Beispiel Aljaksej Mjacel’ski in Kapyl’, vgl. Erinnerungen des Leiters der Untergrundkomsomolorganisation in Kapyl’, Ivan Zinevič, über die Tätigkeit der Untergrundkämpfer in Kapyl’ (Dezember 1999), NARB, F. 1393, O. 1, D. 40, L. 18. 142 Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 121), S. 12.
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enischen Zustände in Minsker Schulen herangezogen.143 Die durch die Deutschen unterstützte Idee lokaler Ärzte, höhere medizinische Ausbildungseinrichtungen wiederaufzubauen, wurde erst in der letzten Phase der Besatzung in die Tat umgesetzt. Die Besatzungsbehörden räumten ein, dass das vor dem Krieg in Minsk existierende medizinische Institut völlig zerstört worden sei und nicht wiederaufgebaut werden könne.144 Nikolaj Stepanov, der das Vertrauen der deutschen Militärverwaltung genoss, wurde Anfang April 1943 zum Direktor des „Wissenschaftlich-methodologischen Instituts“ in Mahilëŭ ernannt.145 Ziel des Institutes war es, „den Ärzten eine umfassende medizinische Qualifikation zu geben“.146 Einige Lehrstühle sollten den Mitarbeitern des ehemaligen Minsker Medizinischen Instituts anvertraut werden. Der erste Jahrgang sollte seine Ausbildung am Vorabend der Befreiung Weißrusslands im Juli 1944 abschließen. Auf Grund des Vormarsches der Roten Armee und der Befreiung von Mahilëŭ flohen einige Mitarbeiter des Medizinischen Instituts nach Novaja Vil’na.147 Eine Besonderheit der Kollaboration im medizinischen Umfeld war die (ethische) Verpflichtung des medizinischen Personals, unabhängig von den Machtverhältnissen Hilfe zu leisten. Oft kollaborierten die Mediziner auch aus materieller Not mit den Besatzern. Eine Arztstelle in einer Garnison, einer Besatzungseinrichtung oder bei der Eisenbahn bedeutete ein mehr oder weniger stabiles Einkommen. Die Höhe der Gehälter für das medizinische Personal wurde nach dem jeweiligen Spezialisierungsgrad festgelegt. Die Gehälter des unteren und mittleren medizinischen Personals, wie auch eines Teils der Ärzte in zivilen Krankenhäusern, entsprachen nicht der Lebensrealität. Auch vor dem Krieg waren die Löhne niedrig. Die Tarife, die von den Besatzungsbehörden festgelegt wurden, waren zwar höher, wurden jedoch während der Besatzungszeit durch steigende Nahrungsmittelpreise entwertet.148 Ärzte baten die Gesundheitsbehörden und das „Weißruthenische Selbsthilfewerk“ um Unterstützung, insbesondere um Kleidung, Schuhe, Geld und Le-
143 Da belaruskich hramadzjan! [An die Bürger „Weißrutheniens“. Aufruf des „Weißruthenischen Jugendwerks“] (14.11.1943), NARB, F. 385, O. 2, D. 44, L. 62–63. 144 Seuchenbekämpfung bei Mensch und Tier in den besetzten Ostgebieten (März 1942), Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv [Russisches Staatliches Militärarchiv] (nachfolgend RGVA), F. 1358, O. 4, D. 4. L. 23. 145 Zu Stepanov siehe den Beitrag von A. Zamoiski über die Psychiater in Mahilëŭ in diesem Band. 146 Memorandum des Senats des Wissenschaftlich-methodologischen Instituts (Mahilëŭ) in Novaja Vil’na vom 16. Mai 1944, NARB, F. 381, O. 1, D. 37, L. 11, 16. 147 Zur Erhöhung des Status des Instituts, mit Zustimmung des Hauptsanitätsoffiziers beim Befehlshaber „Weißrutheniens“ und des „Weißruthenischen Zentralrates“ am 11. Mai 1944 wurde beschlossen, einen wissenschaftlichen Senat in Novaja Vil’na (im Kriegslazarett 943) zu gründen, vgl. Protokoll des Wissenschaftlich-methodologischen Instituts (Mahilëŭ) in Novaja Vil’na vom 1. Mai 1944, NARB, F. 381, O. 1, D. 37, L. 9. 148 Löhne und Gehälter in der russischen Gemeindeverwaltung vor dem 22. Juni (Tscherwen, 14.8.1941), NARB, F. 409, O. 1, D. 3, L. 8; Löhne und Gehälter in der Kommunalverwaltung (Tscherwen, 14.8.1941), NARB, F. 409, O. 1, D. 3, L. 7.
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bensmittel.149 Insgesamt waren die Ärzte, die der alten vorrevolutionären Intelligenzija angehörten, nicht auf die Verschlechterung ihrer finanziellen Lage vorbereitet und daher in einer schwierigen Situation.150 DIE ARBEITSBEDINGUNGEN VON PSYCHIATERN IM ZUSAMMENBRUCH DER PSYCHIATRISCHEN VERSORGUNG Die Vernichtungsaktionen gegen psychisch Kranke führten zum Zerfall der medizinischen Belegschaften in den psychiatrischen Einrichtungen. Im Herbst 1941 begann man im Raum Minsk mit ihrer Auflösung. Im Oktober, nach der Auflösung der psychiatrischen Klinik in der Kolonie Navinki, mussten 23 Krankenschwestern und fünf Krankenpfleger in andere medizinische Einrichtungen versetzt oder zum Arbeitsamt geschickt werden.151 Auf Grund der Ermordung ihrer Patienten während der nationalsozialistischen Aktionen, kann von einem kollektiven psychologischen Trauma des medizinischen Personals psychiatrischer Einrichtungen gesprochen werden.152 Die Ärzte mussten die Patienten, die umgebracht werden sollten, selbst auswählen, und ein Teil des Pflegepersonals musste sie zum Ort ihrer Ermordung begleiten.153 Einige Krankenpfleger und Ärzte kündigten, andere versuchten, die Vernichtungspolitik zu sabotieren.154 Nach dem „Verschwinden“ von Patienten wurde das medizinische Personal in andere Krankenhäuser versetzt, so die Psychiaterin O. Ol’ševskaja, die eine Stelle im Infektionskrankenhaus in Minsk bekam. Im Februar 1942 wurden auch Krankenschwestern der psychiatrischen Abteilung des 2. Krankenhaus in ein anderes Krankenhaus versetzt.155 Die Gebäude der psychiatrischen Abteilungen wurden von den Deutschen nach ihren Bedürfnissen genutzt, vor allem als Lazarette. Am 22. Januar 1942 wurde auch die psychiatrische
149 Der Arzt Michail Budaj, der im Rayon Minsk tätig war, bat, ihm in Form eines Anzugs zu helfen, denn er habe kein Geld einen neuen zu kaufen, vgl. Eingabe des Arztes Michail Budaj an das Minsker Gebietskommissariat vom 16. September 1943 über die Leistung materieller Hilfe, NARB, F. 393, O. 1, D. 567, L. 1. 150 Siehe zu Prof. Hausmann den Beitrag von J. Wiggering und A. Zamoiski in diesem Band. 151 In der Kolonie verblieben noch 20 Krankenschwestern und ein Krankenpfleger, vgl. Generalkommissar für Weißruthenien Abt. IIe Dr. We/Ba. an den Gebietskommissar Minsk-Stadt vom 2. Oktober 1941, NARB, F. 370, O.1, D. 141a, L. 136. 152 Weber gab nach dem gemeinsamen Rundgang mit dem Arzt Sergej Afonskij durch das 2. Krankenhaus zu, dass die psychiatrische Abteilung liquidiert werden sollte, was 400 Betten frei machen würde, vgl. Besichtigung des Zivilkrankenhauses II, Chefarzt Dozent Afonsky am 23. September 1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141а, L. 58. 153 Vernehmungsprotokoll von Ol’ga Ol’ševskaja vom 20. Dezember 1945, NARB, F. 861, O. 1, D. 8, L. 46. 154 Vernehmungsprotokoll von Е. Т. Koroleva, Oberkrankenschwester der 2. städtischen Klinik vom 18. Juli 1944, NARB, F. 861, O. 1, D. 63, L. 17–17оb. 155 Vernehmungsprotokoll von Е. Т. Koroleva, Oberkrankenschwester der 2. städtischen Klinik vom 19. Dezember 1945, NARB, F. 861, O. 1, D. 8, L. 41.
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Klinik in Mahilëŭ nach der Ermordung aller Patienten aufgelöst, in den Gebäuden wurden deutsche Soldaten untergebracht.156 Die Evakuierung von Medizinern, die Ermordung der jüdischen Psychiater und der psychisch kranken Patienten sowie die Verlegung des medizinischen Personals in andere Krankenhäuser führten zum schrittweisen Zerfall der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung im besetzten Weißrussland. Die Schließung der psychiatrischen Kliniken und die deutsche Überwachung machten die Tätigkeit der Psychiater praktisch unmöglich. Nach der Schließung der psychiatrischen Klinik in Mahilëŭ arbeitete deren ehemaliger DirektorAleksandr Stepanov als Chefarzt einer Poliklinik, wo er auch in seiner Funktion als Psychiater und Neurologe Patienten aufnahm. In einem Brief informierte A. Stepanov den Leiter der Gesundheitsabteilung in Mahilëŭ, Nikolaj Stepanov, darüber, dass die Auflösung der Klinik viele soziale Probleme hervorrufe. Es gebe immer mehr Anfragen aus der Bevölkerung nach medizinischer Hilfe für psychisch kranke Menschen. Ein erheblicher Teil der Patienten brauche nicht nur eine herkömmliche Behandlung, sondern müsse im Notfall in einer speziellen Einrichtung isoliert werden; eine solche Einrichtung gab es jedoch nicht. Der Psychiater Stepanov stellte die wohl eher rhetorische Frage, was er mit Patienten tun solle, für die die Isolation in einer psychiatrischen Klinik erforderlich werden würde.157 Die Psychiater arbeiteten unter der Aufsicht der Deutschen und ihrer Helfershelfer. Die Ärztin Ol’ga Ol’ševskaja beispielsweise untersuchte die psychisch kranken Patienten, die ins Infektionskrankenhaus kamen, und erstellte spezielle Gutachten für sie. Abteilungsleiter Weber forderte, dass sie ihm oder dem Leiter der Gesundheitskammer in Minsk, dem Arzt Andrej Krajnov158, über alle Patienten mit „psychiatrischer Diagnose“ Bericht erstattete.159 Für Patienten mit Infektionskrankheiten sollte dies nicht gelten. O. Ol’ševskaja fälschte die Diagnosen vieler psychisch kranker Patienten und rettete sie somit vor der Ermordung.160 Eine Möglichkeit, während der Okkupation weiterhin ihren Beruf auszuüben und ihr materielles Überleben zu sichern, war für einige Psychiater die Arbeit in einer privaten Praxis. Andere Ärzte arbeiteten in der medizinischen Verwaltung der Städte. Die Psychiaterin Natal’ja Akimova zum Beispiel wurde stellvertretende Direktorin der wissenschaftlichen Abteilung der Minsker medizinischen Schule und beaufsichtigte somit nun die Leistungen der Schüler.161 Mit dieser Arbeit verdiente man zwar relativ 156 Bondareva, V okkupacii bol’nych ne brosili (Anm. 137), S. 11. 157 Siehe den Beitrag von A. Zamoiski über Psychiater in Mahilëŭ in diesem Band. 158 Andrej Krajnov stammte aus Russland und war Mitarbeiter der „Weißruthenischen Gesundheitskammer“ beim Generalkommissariat. Er wurde gefangengenommen und arbeitete mit den Besatzern zusammen. In der Zeit des „Großen Terrors“ war er politisch verfolgt worden, vgl. dazu: Biographie des Arztes A. Krajnov (1943), NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 208. 159 Gutachten der Ärztin Ol’ga Ol’ševskaja über den Verbleib der Patientin L. im Infektionskrankenhaus vom 4. Juli 1943, NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 248. 160 Vernehmungsprotokoll von Ol’ga Ol’ševskaja vom 20. Dezember 1945, NARB, F. 861, O. 1, D. 8, L. 46. 161 Liste über Leistungen der Schüler der Minsker medizinischen Schule für das 3. Quartal 1943 (1943), NARB, F. 370, O. 6, D. 32, L. 11.
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wenig, dafür aber zuverlässiger als in einer privaten Praxis. Ein Psychiater des ehemaligen Krankenhauses in Mahilëŭ, Nikolaj Pugač, wurde stellvertretender Leiter des Gesundheitszentrums der Stadt, arbeitete aber auch weiterhin in der Poliklinik. Aus finanziellen Überlegungen heraus machte er eine Umschulung zum Dermatologen und Venerologen, was während der Besatzungszeit mit ihren weit verbreiteten Geschlechtskrankheiten der „rentablere“ Beruf war.162 Psychiater waren gezwungen, Überlebensmöglichkeiten zu finden, deswegen arbeiteten einige – entgegen ihrem Hippokratischen Eid – der deutschen Verwaltung zu. PSYCHIATER IN WIDERSTANDSORGANISATIONEN Schon in den ersten Wochen der Besatzung formierte sich in einer Reihe medizinischer Einrichtungen Widerstand gegen das Besatzungsregime. In Krankenhäusern verschiedener Städte entstanden Untergrundgruppen. Trotz des Mangels an Medikamenten besorgten Mediziner in Ghettos Medikamente für die Untergrundkämpfer, sie knüpften Kontakte zu ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Partisanen und versorgten sie mit Medikamenten und Kleidung.163 In der psychiatrischen Klinik in Mahilëŭ organisierten die Mitarbeiter unter der Leitung des Nervenarztes Makar Kuvšinov eine Untergrundgruppe. Der Gruppe gelang es, vierzig psychisch kranke Patienten zu retten: unter dem Vorwand eines Spaziergangs wurden sie aus der Stadt hinaus gebracht. Am 24. Juli 1943 jedoch wurden Kuvšinov und andere Mitglieder seiner Gruppe in der Gaskammer des Vernichtungslagers Maly Trascjanec hingerichtet.164 Auf Grund mangelnder Erfahrungen in der Untergrundarbeit wurden viele solcher patriotischen Gruppen von den deutschen Sicherheitskräften enttarnt und liquidiert. Diejenigen, die den Verhaftungen entgehen konnten, suchten Zuflucht in den Wäldern und wurden Teil der wachsenden Partisanenbewegung. Unter den Medizinern in Partisanentruppen befanden sich zunächst vor allem ehemalige Militärärzte, die der Gefangenschaft entgangen oder aus Kriegsgefangenenlagern geflohen waren. Viele von ihnen stiegen in der medizinischen Hierarchie der Partisanenformationen zu Brigadeärzten auf. Eine besondere Gruppe unter den Medizinern in Partisanenverbänden stellten Ärzte aus dem sowjetischen Hinterland dar; sie genossen das besondere Vertrauen des Partisanenkommandos.165 Auch jüdische Ärzte trugen wesentlich zur medizini162 Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 64), S. 196. 163 Relacja Abrachama Gedalego Doktorczyka (1946), Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego [Archiv des Jüdschen Historischen Instituts, Warschau] (nachfolgend AŻIH), Z. (=Zespól) [Bestand] 301, T. (=Teczka) [Akte] 1483, K. (= Kartka) [Blatt] 2. 164 Bondareva, V okkupacii bol’nych ne brosili (Anm. 137), S. 11. 165 Brief des Leiters der Personalabteilung des Weißrussischen Stabs der Partisanenbewegung, Romanov, an den Leiter der Personalabteilung der militärischen Sanitätshauptverwaltung (GVSU) der Roten Armee über die Abordnung des Arztes N. Kostylev hinter die Front (April 1943), NARB, F. 1450, O. 1, D. 201, L. 33; Protokoll der Sitzung des Untergrund-Rayonkomitees der KP(b)B in Vaŭkvaysk vom 21. Januar 1944, NARB, F. 1332, O. 1, D. 11, L. 2.
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schen Versorgung der Partisanentruppen bei. Erst ab dem zweiten oder dritten Besatzungsjahr konnte man in die Partisanentruppen aufgenommen und selbst Partisan werden Aber der frühere Chefarzt des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ, Meer Klipcan, konnte sich beispielsweise nicht zu diesem schwierigen Schritt entscheiden. Aus dem Ghetto gelangten Häftlinge meist mit der Hilfe spezieller Führer zu den Partisanentruppen. Einige fanden ihren Weg zu den Partisanen aber auch selbst und auf eigene Gefahr. Gleichzeitig konnten Antisemitismus und falsche Verdächtigungen zu Tragödien innerhalb der Partisanengruppen führen. Das Kommando der Partisaneneinheiten erhielt und verbreitete zum Beispiel Informationen über angebliche Vergiftungen von Mitgliedern der Partisanenbrigaden durch Agenten der deutschen Geheimdienste. Aufgrund eines solchen Verdachts wurde der jüdische Medizinstudent Rubenčik von Partisanen erschossen.166 Eine genaue Zahl der Psychiater in den Partisanentruppen ist nicht bekannt, denn in den Listen wurden sie allgemein als Ärzte geführt167, so wie etwa Rachil’ Rappoport, die als Allgemeinärztin erfasst wurde, als sie im Herbst 1943 zu den Partisanen kam.168 Als die Frontlinie näher rückte, gingen die Mediziner scharenweise in die Wälder, so wie zum Beispiel Aleksandr Stepanov, Nikolaj Pugač und Marija Platnickaja, Psychiater des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ. Sie und Vertreter des mittleren medizinischen Personals stießen im Dezember 1943 mit ihren Familien zu den Partisanen.169 Der Aufenthalt in einer Partisanentruppe war mit vielen Risiken verbunden: Epidemieausbrüche unter Partisanen und Zivilisten, militärische Operationen gegen den Feind, Strafaktionen gegen die Partisanentruppen und die Familienlager in den weißrussischen Wäldern seitens der Besatzungsmacht – die Partisanen schwebten in ständiger Lebensgefahr.170 Die psychiatrische Hilfe wurde hintangestellt, dringender waren die chirurgische und therapeutische 166 Al’tman, Cholokost na territorii SSSR (Anm. 136), S. 74, 337; Vospominanija Zoi Gulevič i Ally Ulanovoj, in: Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 64), S. 194; Inna Gerasimova (Hrsg.), Kogda slova kričat i plačut: Dnevniki Ljali i Berty Bruk, Minsk 2004, S. 21–24; Mitteilung über das Eindringen von Deutschen in die Partisanengruppen (46 Ärzte und Arzthelfer) zur Massenvergiftung von Partisanen, Partisanenbrigade „1. Mai“ (12. November 1943), NARB, F. 1399, O. 1, D. 566, L. 12; Leonid Smilovitsky, Antisemitism in the Soviet Partisan Movement, 1941–1944: The Case of Belorussia, in: Holocaust and Genocide Studies 20 (2006), S. 219. 167 In den Partisanentruppen, die auf dem Territorium Weißrusslands tätig waren, gab es 2665 Mediziner, darunter ca. 580 Ärzte, vgl. Liste der Mediziner in Partisaneneinheiten der BSSR (1944), NARB, F. 1450, O. 1,D. 199, L. 215–237; O. Kul’panovič, Žizn’ i pamjat’, in: Voprosy organizacii i informacii zdravoochranenija 4 (2009), S. 84. 168 Liste der Mediziner in Partisaneneinheiten der BSSR (1944), NARB, F. 1450, O. 1, D. 199, L. 216. 169 Liste der Mediziner in Partisanengruppen im Gebiet Mahilëŭ vom 1. Juni 1946, NARB, F. 1450, O. 2, D. 98, L. 197, 204. 170 Bericht des Chefs des Sanitätsdienstes des Verbandes, Chefchirurg Michail Tarasov an den Ukrainischen Stab der Partisanenbewegung (Sommer 1943), Central’nij deržavnij archіv hromads’kich ob’jednan’ Ukrajini [Zentralarchiv für gesellschaftliche Organisationen der Ukraine] (nachfolgend ZDAGO), F. 66, O. 1, D. 8, L. 18–20; Ibragim Drujan, Kljatvu sderžali. Memuary, Minsk 1979, S. 151 ff.; Ales’ Adamovič, Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], Bd 1, Minsk 1981, S. 616–617.
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Versorgung sowie Sanitätsarbeit. Psychiater leisteten alle mögliche medizinische Hilfe für Partisanen und Zivilisten. R. Rappoport beispielsweise leistete in einem Romalager im Naliboki-Wald Geburtshilfe, was eine schwierige Aufgabe darstellte, weil sie wenig Erfahrung in diesem Bereich hatte und es in den Einheiten an Fachliteratur mangelte. Die Partisanen hielten auch Fälle von Geisteskrankheiten unter der Zivilbevölkerung fest.171 Während der Besatzung wurden alle psychiatrischen Kliniken liquidiert, viele Patienten fielen der Vernichtungspolitik zum Opfer. Auch viele Mediziner selbst wurden ermordet, darunter die Ärzte S. Afonskij, O. Gutkovskaja, M. Klipcan, M. Kuvšinov und andere. Das medizinische Personal der psychiatrischen Einrichtungen wurde von den Besatzungsbehörden in andere Krankenhäuser geschickt oder entlassen. Ärzte und das mittlere medizinische Personal waren gezwungen, in anderen als ihren eigenen Fachbereichen zu arbeiten.172 Für jüdische Mediziner war die einzige Rettungschance die Flucht aus dem Ghetto. Soweit Mediziner kollaborierten, ist das oft damit zu erklären, dass die sich dem Hippokratischen Eid verpflichtet fühlten und ihre Patienten nicht im Stich lassen wollten. PSYCHIATER IM BEFREITEN WEISSRUSSLAND (1944–1946) Nach der Befreiung Weißrusslands (Oktober 1943 – Juli 1944) gehörte der Wiederaufbau der medizinischen Versorgung für die Zivilbevölkerung zu den wichtigsten Aufgaben des Gesundheitswesens. Als erstes wurden die Infektionskrankenhäuser wieder eröffnet, denn im befreiten Gebiet stellten Epidemien ein großes Problem dar.173 In vielen Rayons, vor allem im westlichen Teil der Republik, wurde die Situation dadurch verschärft, dass viele Ärzte nach Polen abwanderten. Der Volkskommissar für Gesundheitswesen der BSSR erklärte den Mangel an medizinischem Personal außerdem damit, dass manche Mediziner von sowjetischen Straforganen verhaftet worden waren.174 Die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht wurde von der sowjetischen Führung als Verrat angesehen, und jeder Mediziner konnte nach der Befreiung Weißrusslands als Komplize der Besatzer gelten. Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen des besetzten Gebietes wurden „gefiltert“, d. h. 171 Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 121), S. 67; Mitteilung des Hauptmanns der Staatssicherheit N. Gorochov im Gebiet Homel’ an den Leiter des Weißrussischen Stabs der Partisanenbewegung, Kalinin, vom 2. September 1943, NARB, F. 1450, O. 2, D. 965, L. 6; Liste der medizinischen Literatur für den Weißrussischen Stab der Partisanenbewegung (1943), NARB, F. 1450, O. 1, D. 201, L. 7. 172 Fragebögen und Personalakten des medizinischen Personals (August 1943), NARB, F. 370, O. 6, D. 123, L. 2. 173 Erklärungsschreiben zum Jahresbericht der Stadtgesundheitsabteilung in Homel’ für 1944, GAGom, F. 1222, O. 2, D. 5, L. 1; Brief der Sanitätsverwaltung der 2. Weißrussischen Front an den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare der BSSR P. Panamarėnka (1945), NARB, F. 46, O. 6, D. 1, L. 61–63. 174 Brief des Volkskommissars für Gesundheitswesen der BSSR М. Kavalёnak an den Rat der Volkskommissare der BSSR vom 4. März 1945, NARB, F. 46, O. 6, D. 4, L. 45.
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von NKGB-Mitarbeitern verhört. So wurde im November 1944 der Neurologe Stanisław Hrynkiewicz verhaftet und später erschossen.175 Auch jene Mediziner, die mit Widerstandsgruppen zusammen gearbeitet hatten, standen keinesfalls außerhalb jeglichen Verdachts, auch sie wurden überprüft. Sehr ausführlich beschäftigten sich die sowjetischen Straforgane mit denjenigen, die mit dem nationalen polnischen, litauischen, ukrainischen und weißrussischen Untergrund verbunden gewesen waren. So wurden die beiden Psychiater Nikolaj Pugač und Aleksandr Stepanov aus Mahilëŭ verurteilt, obwohl sie Partisanentruppen angehört hatten.176 Die sowjetischen Behörden verhafteten auch einige Juden, die die Okkupation überlebt hatten. Sie wurden der „Kollaboration“ beschuldigt.177 Der Aufbau der psychiatrischen Versorgung in Weißrussland war mit ähnlichen Problemen verbunden, wie sie auch in den Territorien auftraten, die von der Besatzung verschont geblieben waren. Psychiatrische Einrichtungen waren zerstört oder umfunktioniert worden, es gab nicht genug Mediziner, usw. Einige Fachleute, wie A. K. Plavinskij, waren damals als Militärärzte tätig.178 Andere Ärzte, die zu Beginn des Krieges evakuiert worden waren, arbeiteten in Krankenhäusern in Russland oder anderen Republiken. Die Psychiater Vladimir Akkerman und Judif’ Segal’ leiteten abwechselnd den Lehrstuhl für Psychiatrie in Iževsk.179 1944 war in Jaroslavl’ das Weißrussische Medizinische Institut in Betrieb genommen worden, an dem V. Akkerman den Lehrstuhl für Psychiatrie leitete.180 Die evakuierten Psychiater arbeiteten häufig als Berater in Lazaretten.181 Nicht nur mussten die zerstör175 Der Neurologe Hrynkiewicz (weißruss. Stanislaŭ Hrynkevič), eine wichtige Persönlichkeit der weißrussischen Nationalbewegung, hatte an der Medizinischen Fakultät der Universität Wilna studiert und arbeitete in der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Poznań. Zur Weiterbildung wurde er an das Deutsche Forschungsinstitut für Psychiatrie in München geschickt. Er arbeitete unter der Leitung von Professor Spielmeyer. Von 1936 bis zur sowjetischen Okkupation war er Leiter der neurologischen Abteilung und des biochemischen Labors im psychiatrischen Krankenhaus in Choroszsz. Während der Okkupation wurde er Professor für Psychiatrie und Neurologie am Medizinischen Institut in Mahilëŭ, das von Kollaborateuren gegründet wurde. Er wurde von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und im Minsker Gefängnis eingekerkert, danach nach Mahilëŭ verlegt, wo er erschossen wurde. Vgl. Żyćcopis Stanisłava Hrynkieviča. Vilnia [Autobiographie] vom 2. Mai 1944, NARB, F. 381, O. 1, D. 37, L. 18–18ob; Protokoll der erweiterten Sitzung des Präsidiums der Weißruthenischen Gesellschaft für Wissenschaft in Minsk (3. Juni 1944), NARB, F. 381, O. 1, D. 37, L. 5; Marakoŭ, Rėprėsavanyja lіtaratary, navukoŭcy, rabotnіkі asvety, hramadskіja і kul’turnyja dzejačy Belarusі 1794–1991. Ėncyklapedychny davednіk u troch tamah, Bd. 1, Minsk 2003, S. 277. 176 Hierzu siehe den Beitrag von Andrei Zamoiski über Psychiater in Mahilëŭ. 177 Lilija Astrovljančik, Tri sestry na granice getto, in: Zlobin, Ostalos’ za kadrom (Anm. 122), S. 198. 178 Liste der Auszeichnungen von A. K. Plavinskij, Central’nyj archiv Ministerstva oborony RF [Zentralarchiv des Ministeriums für Verteidigung der Russischen Föderation] (nachfolgend ZAMO), F. 33, O. 690155, D. 3127, L. 266. 179 V. Belousova u. V. Lekomcev, Psichiatričeskaja pomošč’ v Udmurtii v voennyj period, in: M. Kabanov u. V. Kovalev (Hrsg.), Sovetskaja psichiatrija v gody Velikoj Otečestvennoj vojny: Sbornik naučnych trudov, Leningrad 1985, S. 39. 180 Zmačinskaja, Zavedujuščie kafedrami (Anm. 34), S. 230–232. 181 V. Žarko u. a. (Hrsg.), 90 let zdravoochraneniju Respubliki Belarus’, Minsk 2009, S. 41.
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ten psychiatrischen Kliniken wiederaufgebaut werden, auch der Mangel an medizinischem Personal war ein Problem. Es wurden Fachleute herangezogen, die die Okkupation überlebt hatten: R. Rappoport, N. Akimova, O. Ol’ševskaja, die zur Chefärztin der Psychiatrie in Navinki ernannt wurde.182 Anfang 1945 wurden psychiatrische Einrichtungen in Minsk, Mahilëŭ, Homel’ und Baranavičy eröffnet.183 Während des Krieges war die medizinische Hilfeleistung für die Zivilbevölkerung signifikant zurückgegangen, was vor allem auf die Einberufungen der Mediziner in die Armee zurückzuführen war. Im November 1945 wurde die Psychiatrie auf einer Beratung von Psychiatern in Moskau, wie in den Vorkriegsjahren auch, als der rückständigste Bereich im sowjetischen Gesundheitssystem bezeichnet.184 Im Rahmen des Fünfjahresplans zur Entwicklung der psychiatrischen Versorgung sollte das psychiatrische Netz wieder aufgebaut und die hohe Sterblichkeitsrate unter den Patienten gesenkt werden.185 Den Mangel an Psychiatern sollte die Ausbildung neuer Kader beheben. Die Psychoneurologische Fakultät in Charkiv konnte nicht einmal die Ukraine ausreichend mit Psychiatern versorgen, geschweige denn Weißrussland.186 Hier war die Situation sehr schwierig, im ganzen Land arbeiteten insgesamt nur zehn Psychiater, zwei von ihnen hatten außerdem gesundheitliche Probleme. Die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung sollte zudem durch die Dezentralisierung des Systems verbessert werden. Der Plan sah vor, kleine Kliniken für fünfzig Betten in neun Regionen des Landes zu eröffnen. Innerhalb von zwei Jahren (1945–1946) wurden neue psychiatrische Kliniken in den Provinzstädten Hrodna, Brėst und Homel’ eröffnet. Mit dem Problem des Personalmangels beschäftigten sich das Volkskommissariat für Gesundheitswesen und führende Psychiater der Republik. Professor Vladimir Akkerman wählte persönlich sieben Mitarbeiter für die neue psychiatrische Klinik in Brėst aus.187 Allmählich wurde auch die wissenschaftliche Grundlage wieder aufgebaut. Dank V. Akkerman wurde der Lehrstuhl für Psychiatrie am Medizinischen Institut
182 Vernehmungsprotokoll von Ol’ga Ol’ševskaja (20. Dezember 1945), NARB, F. 861, O. 1, D. 8, L. 46; Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 121), S. 68. 183 Insgesamt 275 für die ganze Republik, vgl. Gesundheitseinrichtungen in der BSSR zum 1. Januar 1945, RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 285, L. 81. 184 Stenogramm einer Beratung von Psychiatern bei der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR vom 30. November 1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 3–5. 185 Bericht des Oberinspektors der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR, Solov’ev, vom 30. November 1945, GARF, F. P-8009, O. 5, D. 249, L. 12–15. 186 Von 1941 bis 1944 reduzierte sich die Zahl der Psychiater in der Ukraine von 432 auf 116, vgl. Bericht von Prof. Frumkin „Über Probleme in der Organisation der psychiatrischen Hilfe in der Ukraine“, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 30; Bericht des Oberinspektors der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR, Solov’ev (1945), GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 17. 187 Vortrag von Prof. V. Akkerman auf einer Beratung von Psychiatern bei der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR in Moskau vom 30.11.1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 32.
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in Minsk wieder eröffnet, den er selbst bis 1950 leitete.188 Abgesehen von den zahlreichen Fällen von Kriegsverletzungen mussten sich die Ärzte auch wieder mit Aufgaben der „Friedenszeit“ befassen. In wissenschaftlicher Hinsicht wurde Hirnschäden als Folge von Kriegsverletzungen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ein wichtiges Thema war auch eine bessere Ausbildung des medizinischen Personals.189 Professor V. Akkerman und seine Kollegen begannen 1945 mit einer für diese Zeit neuen Methode der Psychosebehandlung mit Hilfe spezieller Ausrüstung. Da es keine inländischen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema gab, studierte das Klinikpersonal die Werke amerikanischer Autoren. Dies ermöglichte es bald, auch Ärzte in den psychiatrischen Kliniken in Minsk, Mahilëŭ und Vicebsk anzuleiten. Die Methode der Arbeitstherapie wurde wieder eingeführt, obwohl sie auf Grund der geringen Patientenanzahl im psychiatrischen Krankenhaus der BGU als unwirksam eingestuft worden war. Allerdings mussten die Ärzte diese Methode auf Befehl „von oben“ und daher nicht zuletzt aus politischen Gründen anwenden.190 1946 gab es in Weißrussland 18 Psychiater, fünfmal weniger als vor dem Krieg.191 Dank der Rückkehr der evakuierten Mediziner und der Ausbildung neuer Kader gelang es der Republik, die Lage der psychiatrischen Versorgung zu verbessern. Zum Ende der 1940er Jahre war die Zahl der Psychiater bereits auf 44 Personen gestiegen. Staatliche Investitionen in das Gesundheitssystem trugen auch zur Erweiterung des Netzes an psychiatrischen Einrichtungen bei. Zum Ende des Jahres 1955 gab es in allen Regionen der Republik Psychiatriekrankenhäuser. Fünf Jahre später hatte sich die Zahl der Psychiater erneut verdoppelt.192 Sowohl hinsichtlich des Ausbaus der Infrastruktur als auch in der Ausbildung von Ärzten bedeutete diese Zeit einen Durchbruch in der Entwicklung der weißrussischen Psychiatrie. In der zweiten Hälfte der 1940er bzw. Anfang der 1950er Jahre wurden die sowjetische Wissenschaft und auch die Psychiatrie im Zuge des „Kalten Krieges“ von den ideologischen Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft gezogen. Der 188 Neben Mitarbeitern, die bereits vor dem Krieg tätig gewesen waren (R. Rappoport, A. Plavinskij), begannen die neuen Ordinatoren L. Priklad und D. Prokopčik am Lehrstuhl zu arbeiten, vgl. Bericht Prof. V. Akkermans über die Tätigkeit der psychiatrischen Klinik des Weißrussischen medizinischen Instituts für 1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 263, L. 35. 189 Vortrag des Psychiaters Aleksandr Šmar’jan auf einer Beratung von Psychiatern bei der Verwaltung der städtischen Krankenhäuser beim Volkskommissariat für Gesundheitswesen der UdSSR vom 30. November 1945, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 249, L. 5. 190 Bericht Prof. V. Akkermans über die Tätigkeit der psychiatrischen Klinik des Weißrussischen Medizinischen Instituts für das Jahr 1946, GARF, F. Р-8009, O. 5, D. 263, L. 7, 8. 191 Jahresbericht des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR über das Netz, die Tätigkeiten und Kader der medizinischen Einrichtungen in der BSSR, Tabelle „Medizinische Kader der BSSR“ (1946), RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 320, L. 60. 192 Psychiatrische Hilfe für die Bevölkerung der BSSR leisteten: zehn Krankenhäuser, zwei psychiatrische Kliniken der medizinischen Institute in Minsk und Vicebsk und drei Gesundheitsfürsorgestellen in Homel’, Minsk und Mahilëŭ. Die Zahl der Psychiater verzehnfachte sich innerhalb von zehn Jahren auf 180, vgl. Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Anm. 5), S. 13.
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„Kampf gegen den Kosmopolitismus“ – eine unter anderem antisemitische Kampagne – traf den Gesundheitssektor empfindlich. Juden hatten seit jeher einen wichtigen Platz im weißrussischen Gesundheitswesen eingenommen, sowohl in der medizinischen Wissenschaft als auch in der Psychiatrie.193 Vor dem Krieg waren einige Leiter des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ jüdisch gewesen.194 Der staatliche Antisemitismus hatte in der UdSSR schon Ende der 1930er Jahre eingesetzt: Ende 1938 forderte die Parteiführung Weißrusslands, das Personal im Gesundheitswesen zu „säubern“; unter den „Menschen, denen in politischer Hinsicht nicht vertraut werden kann“, dominierten vor allem Personen jüdischer Herkunft.195 Zum traurigen Höhepunkt der Antisemitismuskampagne unter Stalin entwickelte sich die so genannte „Ärzteverschwörung“. Eine Gruppe von Medizinern wurde in Moskau unter dem absurden Vorwurf verhaftet, sie hätten die Führungsspitze des Landes zu vergiften versucht. Auch in Minsk ging im Januar und Februar 1953 unter den jüdischen Ärzten die Angst vor bevorstehenden Verhaftungen um. In allen Krankenhäusern wurden nichtjüdische Ärzte und Patienten gegen jüdische Ärzte aufgehetzt, letztere wurden ohne jeglichen Grund entlassen. Bei den Treffen der medizinischen Belegschaften mussten sie sich antisemitische Ausfälle seitens der Leitung und einiger Mitarbeiter gefallen lassen. Stalins Tod entspannte jedoch die Situation im Land und der antisemitische Prozess gegen die angeklagten Ärzte fand letztlich nicht statt.196 Seit den 1950er Jahren wurden auch verstärkt Dissidenten verfolgt.197 Das sowjetische Strafverfolgungssystem zog vermehrt Psychiater heran, die den KGB dabei unterstützten, sowjetische Dissidenten, Personen, die ins Ausland ausreisen wollten, sowie Bürger, die gegenüber der sowjetischen Regierung und der Sozialordnung der UdSSR kritisch eingestellt waren, unter psychologischen Druck zu setzen.
193 Chronika, in: Medicinskij Žurnal BSSR, 1–2 (1938), Heft I, S. 169. 194 Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 64), S. 306. 195 Auskunft der Abteilung „Führende Parteiorgane“ der VKP(b) über die „Verunreinigung“ des Apparats des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der UdSSR vom 27. November 1938, in: Aleksandr N. Jakovlev (Hrsg.), Gosudarstvennyj antisemitizm v SSSR. Ot načala do kul’minacii. 1938–1953 [Staatlicher Antisemitismus in der Sowjetunion. Vom Anfang bis zum Höhepunkt. 1938–1953], Moskau 2005, S. 15–16. 196 Gennadij Kostyrčenko, Tajnaja politika Stalina. Vlast’ i antisemitizm, Moskau 2003, S. 642– 643; Lapidus, Čelovek v tragičeskie minuty istorii (Anm. 117), S. 179–184; Mark Tajc u. Jurij Tajc, Otec i syn сhirurgi, in: Zlobin, Ostalos’ za kadrom (Anm. 122), S. 220. 197 Im sowjetischen Samizdat, im Ausland und in der zeitgenössischen russischen Literatur gab es viele Werke, die das Wesen der sowjetischen Strafpsychiatrie widerspiegelten, vgl. Bloch u. Reddaway, Soviet psychiatric abuse. the shadow over world psychiatry (Anm. 1), darunter auch das Werk des Dissidenten Vladimir Bukovskij, I vozvrasčaetsya veter [Und der Wind kehrt zurück], New York 1978.
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Andrei Zamoiski Tabelle: Entwicklung der Anzahl der Psychiater in der BSSR (1930–1960).
Jahr 1930 1933 1934 1935 1936 1937 1940 1941 1946 1955 1960 Anzahl 15 18 24 29 42 44 77 82 18 180 367 Quellen: Gal’perin, Zdravoochranenie BSSR v cifrach (Anm. 105), S. 17–18, Abramenko, Zdravooсhranenie BSSR (Anm. 1), S. 98, Lipmanova, Medicinskie kadry v BSSR (Anm. 107), S. 121–126; NARB, F. 46, O. 1, D. 572, L. 40; Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Anm. 5), S. 13.
ZUSAMMENFASSUNG Vor der Oktoberrevolution verfügte Weißrussland über ein kleines Netzwerk psychoneurologischer Anstalten mit einer geringen Anzahl von Psychiatern. Die turbulente Kriegsepoche 1914 bis 1921 beeinflusste negativ das weißrussische Psychiatriewesen, wobei es vor allem an qualifizierten Fachkräften mangelte. In der Zwischenkriegszeit bildeten zunächst die Medizinische Fakultät der Staastuniversität Weißrusslands und später auch die medizinischen Hochschulen in Minsk und Vicebsk Psychiater aus. Zudem kamen die Fachkräfte aus anderen Sowjetrepubliken nach Weißrussland. Dadurch verbesserte sich die Situation im weißrussischen Psychiatriewesen. Der Personalmangel konnte allerding nicht vollständig behoben werden. Die wirtschaftliche Lage von Ärzten und vor allem von Krankenschwestern und Krankenpflegern sowie ihre Arbeitsbedingungen blieben schlecht. Ab Anfang der 1930er Jahre standen sowjetische Psychiater und andere Mediziner unter der starken ideologischen und politischen Kontrolle der sowjetischen Führung, die bestrebt war, die „schädlichen westlichen Einflüsse“ auf das sowjetische Psychiatriewesen zu unterbinden. Die sowjetische Presse setzte sich mit der Entwicklung der Psychiatrie und Medizin im Nationalsozialismus auseinander. Nach der Angliederung der ehemals ostpolnischen westweißrussischen Gebiete wurden polnische Kader in Westweißrussland durch sowjetische Mediziner zum Teil ersetzt. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR wurden das sowjetische System der psychiatrischen Hilfe und das Netzwerk psychiatrischer Anstalten vernichtet. Viele Ärzte, die nicht evakuiert werden konnten – insbesondere Juden –, haben die Okkupation nicht überlebt. Manche Ärzte beteiligten sich am antifaschistischen Partisanenkampf. Andere Ärzte wirkten bei den nationalsozialistischen Verbrechen mit. Nach dem Krieg wurden psychiatrische Anstalten eröffnet. Die Zahl der Psychiater wuchs kontinuierlich. Während die Juden vor dem Krieg eine wichtige Rolle im weißrussischen Psychiatriewesen spielten, dominierten nach dem Krieg die Weißrussen sowie die aus Russland und der Ukraine stammenden Fachkräfte. Der spätstalinistische Antisemitismus prägte die Entwicklung der Medizin und Psychiatrie in Weißrussland nach dem Krieg. Die Psychiatrie wurde außerdem im Kampf gegen Regimegegner missbraucht.
NICHT NUR FÜR DIE MEDIZIN. DER AUFBAU EINER MEDIZINISCHEN FAKULTÄT AN DER WEISSRUSSISCHEN STAATSUNIVERSITÄT IN DEN 1920ER JAHREN Johannes Wiggering Die Weißrussische Staatsuniversität (russ. Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet, weißruss. Belaruski Dzjaržaŭny Universitėt, kurz BGU) in Minsk sowie ihre Medizinische Fakultät können ihre Ursprünge auf unterschiedliche Planungen und Zielsetzungen zurückverfolgen. Dass die Geschichte beider Institutionen zunächst im Verbund verlaufen sollte, war angesichts separater Vorgeschichten nicht so selbstverständlich, wie es dem westeuropäischen Historiker vielleicht erscheint, der eine Medizinische Fakultät als normalen Bestandteil einer Volluniversität wahrnehmen mag. Die Geschichten der BGU und ihrer Medizinischen Fakultät (medicinskij fakultet, allgemein kurz MedFak genannt) trennten sich darüber hinaus knapp ein Jahrzehnt nach ihrem gemeinsamen Start bereits wieder, da letztere als eigenständiges Institut ausgegliedert wurde. Osteuropahistorikern, welche von einer Vorliebe des sowjetischen Bildungswesens für separate Fachinstitute ausgehen, stellt sich somit die Frage, warum dieses Medizinische Institut überhaupt in die Gründung einer Staatsuniversität eingebettet wurde. Der vorliegende Beitrag befasst sich schwerpunktmäßig mit den neun Jahren (1921–30), in welchen die MedFak als wesentlicher Bestandteil der neu ins Leben gerufenen Universität von Grund auf aufgebaut und organisiert wurde. Die Umstände, welche zur gemeinsamen Gründung auf der Basis ursprünglich getrennter Planungen führten, erfordern zeitliche Rückgriffe bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonders breiter Raum wird im Folgenden den Schilderungen der ersten Jahre des Aufbaus der MedFak gewidmet, da die hierzu überlieferten Informationen zur Organisation des medizinischen Ausbildungswesens und zu den Forschungsinhalten, auf welche von Beginn an Wert gelegt wurde, für das Thema dieses Buches von besonderer Bedeutung sind. Einbezogen wird ebenso der sich einspielende, „normale“ Lehrbetrieb der MedFak in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sowie, in knapper Form, das Weiterbestehen der Fakultät als separates Ausbildungsinstitut. Abschließend seien einige Punkte nochmals hervorgehoben, die von besonderer Bedeutung für die anschließende Zeit der deutschen Besatzung sind.
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IDEEN UND URSPRÜNGE Die Idee einer weißrussischen Universität war begründet in der jahrhundertelangen Situation der weißrussischen Gebiete als westlichste, rural geprägte Peripherie des Zarenreiches, wobei Minsk kaum mehr war als eine Provinzstadt ohne akademische Institutionen. Die Bevölkerungsstruktur dieser Gebiete war ausgesprochen heterogen, die Angehörigen der weißrussischen Nationalität wohnten zur Zeit der Volkszählung 1897 zu 98 Prozent auf dem Land bzw. in Dörfern, wobei der Begriff „weißrussisch“ (belaruski) als Attribut zur Selbstidentifikation kaum üblich (zeitweise gar verboten) war, man bezeichnete sich bis ins 20. Jahrhundert als „Hiesige“ (tutėjšyja).1 Die Städte blieben ein russisch, polnisch und vor allem jüdisch geprägter Raum, letzteres eine Folge des sogenannten Ansiedlungsrayons für Juden (čerta evrejskoj osedlosti), der auch Weißrussland umfasste.2 „Nationalität“ definierte sich hierbei zumeist über die Muttersprache. Ein eher kleiner Kreis weißrussischer Intellektueller begann ab 1906, dem noch kaum entwickelten weißrussischen Nationsgedanken vor allem mit der Zeitung Naša Niva („Unsere Flur“) einen Kommunikationsraum zu schaffen.3 In diesem Zusammenhang wurde, unter Verweis auf andere Staaten und deren Hochschulen in West- und Osteuropa, erstmals die Forde1
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Einen knappen historischen Überblick hierzu bietet David R. Marples, Die Sozialistische Sowjetrepublik Weißrussland (1917–1945), in: Dietrich Beyrau u. Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen 2001, S. 135–152; zur Selbstidentifikation ferner Rainer Lindner, Weißrussland (Belarus’), in: Thomas M. Bohn u. Dietmar Neutatz (Hrsg.), Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 342–348, hier auch zahlreiche weiterführende Literaturverweise; Immer noch wertvoll: Nicholas Vakar, Belorussia. Making of a Nation, Cambridge (Mass.) 1956. Zum Ansiedlungsrayon vgl. Norbert Franz u. Wilfried Jilge, Das Zarenreich von den Teilungen Polens bis zur Oktoberrevolution, in: Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps u. Hiltrud Wallenborn (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd.1, Darmstadt 2001, S. 178– 195, die im Ansiedlungsrayon nichts anderes als „ein groß dimensioniertes Ghetto“ (S. 180) sehen; ferner Verena Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert, Köln u. a. 2008; Zur Gesetzgebung für Juden im Ansiedlungsrayon vgl. Mikola Iwanou, Die jüdische Welt in Weißrußland vom Ende des 19. Jahrhundert bis zum Holocaust, in: Beyrau und Lindner, Handbuch der Geschichte Weißrußlands (Anm. 1), S. 392– 407; sowie Solomon Kacenbogen, Pravovoe položenie evreev v Belorussii nakanune revoljucii 1917 [Die rechtliche Stellung der Juden in Weißrussland am Vorabend der Revolution 1917], in: Trudy Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta [Arbeiten der Weißrussischen Staatsuniversität] 8–9 (1926), S. 189–200, hier S. 189 f. (sämtliche Übersetzungen aus dem Russischen und Weißrussischen, soweit nicht anders angegeben, durch den Verfasser). Die Zeitung Naša Niva erschien zunächst von 1906 bis 1915 in Wilna [Vilnius], vgl. Hermann Bieder, Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert, in: Beyrau u. Lindner, Handbuch der Geschichte Weißrußlands (Anm. 1), S. 451–471; dazu sowie zur weißrussischen Intelligenz auch Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, hier besonders S. 96–117; „Naša Niva“-Artikel mit Bezug zur Geschichte der BGU finden sich editiert in: Sjarhej Chodzin u. Vasil’ Stražaŭ, Pamjac’ i Slava. Belaruski dzjaržaŭny universitėt 1921–1941 [Erinnerung und Ruhm. Die Weißrussische Staatliche Universität 1921–1941 (weißruss.)], Minsk 2006, S. 21– 28.
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rung nach einer Universität erhoben, die ein Zentrum weißrussischer Kultur und damit ein Katalysator der nationalen Identitätsfindung werden sollte; dementsprechend nahmen bei diesen Überlegungen die Kultur-, Sprach- und Geisteswissenschaften den größten Raum ein. Die zaristische Administration zeigte sich für solche Pläne bis 1917 wenig aufgeschlossen.4 Hinter dem Wunsch nach einer medizinischen Ausbildungsstätte verbarg sich schiere Not. Möglichkeiten zum Studium der Medizin gab es im gesamten Ansiedlungsrayon kaum, und in seinem weißrussischen Teil gar nicht.5 Ein solcher Bildungsweg führte zwangsläufig aus Weißrussland hinaus, ob nach Tartu (Jur’ev) oder Odessa innerhalb des Ansiedlungsrayons, nach Moskau, St. Petersburg oder andere russische Metropolen, oder nach Westen, u. a. an die deutschen Universitäten. Jede dieser Optionen setzte neben der nötigen Schulbildung persönliche Mobilität und die Fähigkeit voraus, finanzielle Hürden zu überwinden, Voraussetzungen, die am häufigsten von jungen Juden erfüllt wurden, für welche wiederum zusätzliche administrative Hürden bestanden.6 Wem dies gelungen war, dem bot sich nach der erfolgreichen Ausbildung zum Arzt nur wenig Anreiz, nach Weißrussland zurückzukehren, wo es zwar besonders in ländlichen Gegenden einen enormen Bedarf, doch kaum attraktive Verdienstmöglichkeiten für Ärzte gab. Dies galt umso mehr für Absolventen, die an ihrem Ausbildungsort Neigung, Befähigung und Chancen entdeckten, sich der Medizin in den Bereichen Forschung und Ausbildung zu verschreiben. Die Stadt Minsk, in der erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein ärztlicher Notdienst und eine medizinische Nachtbereitschaft eingerichtet worden waren (bei einer Bevölkerung von über 100.000 Einwohnern im Jahr 1913), konnte hier kaum Anziehungskräfte entwickeln.7 Dort war man sich dieses Problems, ebenso wie in anderen weißrussischen Städten, nur zu bewusst: Die Minsker Duma wandte sich ebenso wie jene von Vicebsk, Mahilëŭ und Wilna mit der wiederholten Bitte an die Administration Zar Nikolaus’ II., wenigstens „eine Universität mit nur einer Medizinischen Fakultät“ eröffnen zu können – erfolglos.8 Im Verlauf des 4
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Vgl. David R. Marples, Die Sozialistische Sowjetrepublik Weißrußland (1917–1945), in: Beyrau und Lindner, Handbuch der Geschichte Weißrußlands (Anm. 1), S. 133–152, hier S. 136; Jozef Lichtensztul, The White Ruthenian Problem in Eastern Europe, in: Quarterly Bulletin of the Polish Institute of Arts and Sciences in America (Einzelreprint 1944), S. 9–14. Auch dann nicht, wenn man Wilna dem historisch weißrussischen Raum hinzurechnet; die dortige Universität war 1831 infolge von Aufständen durch die zaristische Regierung geschlossen worden, vgl. Oleg Janovskij, Die Gründung der Weißrussischen Staatsuniversität 1921 und ihre Rektoren bis 1937, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 124–136, hier S. 124 f. Vgl. Kacenbogen, Pravovoe položenie evreev (Anm. 2), S. 192 f.- Der Begriff „Jude“ beruhte in Weißrussland, wie in manchen anderen osteuropäischen Staaten, auf der amtlichen Statistik. Vgl. Sachar Schybeka, Das „alte“ Minsk, in: Beyrau u. Lindner, Handbuch der Geschichte Weißrußlands (Anm. 1), S. 308–318, hier S. 310 f., der sich wiederum bezieht auf Zachar V. Šibeko und Sofija F. Šibeko, Minsk. Stranicy žizni dorevoljucionnogo goroda [Seiten des Lebens der vorrevolutionären Stadt], Minsk 1990, S. 111–123. Fëdor F. Turuk, Universitetskaja Letopis’ [Universitätschronik], in: Trudy Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta (Trudy BGU) 1 (1922), S. 175–207, Zitat: S. 179; vgl. auch Aleh A. Janoŭski, Belaruski Universitėt. Ad Idėi da ŭvasablennija [Weißrussische Universität. Von der
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Ersten Weltkrieges rückte die Front immer näher an Minsk heran und machte Teile Weißrusslands zum Schlachtfeld. Dies führte zur Einrichtung von mehreren Lazarett-Krankenhäusern in der Stadt, die ab 1915 auch Sitz des Kommandostabes der russischen Westfront war; auf dem Land verschärfte sich durch die Kampfhandlungen die bereits mangelhafte medizinische Versorgungslage noch weiter.9 Die Revolutionen des Jahres 1917 in Russland ließen darauf hoffen, dass jedwede neue Autorität den Anliegen weißrussischer Kultur und Medizin gegenüber aufgeschlossener sein könnte, als es die zaristische gewesen war. Doch die Provisorische Regierung Kerenskijs unterließ solche Schritte, und nach der Oktoberrevolution erstarkten in Weißrussland die Unabhängigkeitsbewegungen. Aus diesen heraus formulierte im Dezember 1917 der Kultur- und Bildungsausschuss des Allweißrussischen Kongresses erneut den Vorschlag einer „Weißrussischen Universität“. Als Standort war zwar Wilna angedacht, jedoch vereinte dieser Plan erstmals die Idee einer Universität mit der einer medizinischen Ausbildungseinrichtung als Fakultät.10 Die Besetzung von Minsk sowie weiter Teile Weißrusslands durch Truppen des kaiserlichen Deutschland Ende Februar 1918 brachte ein vorläufiges Ende der Kampfhandlungen (zu denen auch Luftangriffe auf die Stadt gehört hatten) und damit eine kurzzeitige Atempause für die Krankenhäuser und Lazarette. Mit dem Ziel einer weißrussischen Nationsbildung wurde gut einen Monat später, am 25. März 1918, eine Weißrussische Volksrepublik (BNR) ausgerufen – aber unter den Bedingungen deutscher Besatzungsherrschaft. Diese Republik, bis heute eine wichtige Referenz weißrussischer Staatlichkeit, blieb jedoch „ein Produkt der Mittelmächte“, und es lag nicht in der Absicht der deutschen Besatzungsmacht, die BNR beim Aufbau einer Universität zu unterstützen.11 Die bisher dafür erstellten Konzepte gerieten jedoch keineswegs in Vergessenheit. Die deutsche Besatzung, und mit ihr die BNR, sollten nur bis zum Ende des Jahres 1918 Bestand haben. Auf den Abzug der deutschen Truppen folgte die Einnahme Minsks durch die Rote Armee am 10. Dezember 1918. Am 1. Januar wurde in Smolensk eine Sozialistische Sowjetrepublik Weißrussland (SSRB, seit 1922 BSSR) ausgerufen. Deren Zentrales Exekutivkomitee (ZK) sollte letztlich die Ent-
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Idee zur Verwirklichung (weißruss.)], in: A. U. Karuzin u. a., Vybranyja navukovyja pracy Belaruskaga Dzjaržaŭnaha Universitėta [Ausgewählte wissenschaftliche Arbeiten der Weißrussischen Staatsuniversität (weißruss.)], Minsk 2001, S. 9–18. Im Überblick vgl. zur staatlichen Gesundheitspolitik im Zarenreich im europäischen Vergleich Calixte Hudemann-Simon, Die Eroberung der Gesundheit 1750–1900, Frankfurt/M. 2000 (Europäische Geschichte). Zur militärischen Situation in den weißrussischen Gebieten während des Ersten Weltkriegs siehe Sachar Schybeka, Die Nordwestprovinzen im Russischen Reich 1795–1917, in: Beyrau u. Lindner, Handbuch der Geschichte Weißrußlands (Anm. 1), S. 119–134; zur Situation im ruralen Raum vgl. Alexander Kachanouski, Bauernschaft im Wandel, ebd. S. 247–257, besonders S. 255 f.; speziell zu Minsk siehe Schybeka, Das „alte“ Minsk (Anm. 7), S. 312 f.; ferner J. Turonak, Belarus’ pad njameckjaj akupacyjaj [Weißrussland unter deutscher Besatzung (weißruss.)], Minsk 1993, S. 12–20. Vgl. Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 457, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 2, L. (= List) [Blatt] 33–35; editiert in Chodzin u. Stražaŭ, Pamjac’ i Slava (Anm. 3), S. 28–33. Marples, Sozialistische Sowjetrepublik Weißrußland (Anm. 1), S. 136.
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scheidung für die Gründung einer Universität treffen – diese sollte in Minsk, der einstweiligen Hauptstadt Sowjetweißrusslands erfolgen, und zwar unter staatlicher Trägerschaft, wie es ein Dekret vom 25. Februar 1919 festschrieb.12 Zur Umsetzung dieser Pläne war man jedoch auf Hilfe aus Moskau angewiesen – und dafür musste mit dem Verlust der Planungsautonomie bezahlt werden. Eine Kommission in Moskau besaß fortan die Richtlinienkompetenz und stellte von Anfang an klar, dass sämtlichen Planungen marxistisch-leninistische Leitideen zugrunde liegen würden. Diese Pläne sahen konkret fünf Fakultäten vor, neben je einer für Gesellschaftswissenschaften, Philologie, Agrar- sowie Naturwissenschaft auch eine für Medizin.13 AUFBAU NACH PLAN? So konkret die Pläne bereits geworden waren, so empfindlich wurden sie durch den polnisch-sowjetischen Krieg gestört, der Weißrussland erneut zum Kriegsgebiet machte. Er resultierte in einer weiteren, diesmal polnischen Besatzung bis Juli 1920. Während dieser Zeit ruhten sowohl in Moskau als auch in Minsk die Arbeiten der Planungskommissionen für eine weißrussische Universität. Es war jene aus Minsk, welche sich nach Abzug der polnischen Besatzer erneut und mit Erfolg an die Moskauer Kollegen wandte, um das Projekt wiederzubeleben.14 Um die Lage in der weißrussischen Stadt richtig einschätzen zu können, entschied sich die Moskauer Kommission zur Entsendung einer Professorendelegation im Dezember 1920 und einer weiteren im März 1921. Unter den abgesandten Professoren befand sich der Neurologe Michail B. Krol’, der die Voraussetzungen für den Aufbau einer Medizinischen Fakultät prüfen sollte. Krol’, der selbst aus der weißrussischen Hauptstadt stammte, kam zu einem niederschmetternden Urteil: „In Minsk zeugte die Masse der zerstörten Häuser noch von der polnischen und deutschen Besatzung. Die Gebäude, welche die Weißpolen vor ihrem Abzug in Brand gesteckt hatten, rauchten noch […].“15 Die Evaluationen machten deutlich, vor welch enormer Auf12
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Das Dekret wurde in der Zeitschrift Izvestija CIK Sovetov Belorussii [Nachrichten des Zentralen Exekutivkomitees der Räte Weißrusslands] vom 6. März 1919 veröffentlicht, vgl. auch Janovski, Die Gründung der Weißrussischen Staatsuniversität (Anm. 5), S. 125, Alternativ ausformulierten Konzepten, z. B. zur Errichtung separater Fachhochschulen (vgl. NARB, F. 205, O. 1, D. 1, L. 1–4), wurde damit eine Absage erteilt. NARB; F. 4, O. 1, D. 131, L. 3–4, 22. März 1919, Zum Aufbau der BSSR nach sozialistischen Prinzipien siehe auch Rascislaŭ Platonaŭ, Palityki. Idėi. Lësy. Hramadzjanskija pazicyi va ŭmovach narastannja idėolaha-palityčnaga dyktatu ŭ Belarusi 20–30-х gadoŭ [Politik. Ideen. Schicksale. Zivile Positionen in einer sich verschärfenden ideologiepolitischen Diktatur in Weißrussland in den 20er und 30er Jahren (weißruss.)], Minsk 1996. NARB, F. 205, O. 1, F. 1, L. 17–22, Kommissionssitzungsprotokolle, 18. Juli bis 18. August 1920. Michail B. Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija v BSSR [Zehn Jahre höherer medizinischer Ausbildung in der BSSR], in: Desjat’ let Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta [Zehn Jahre Weißrussische Staatsuniversität], Jubiläumsband, Minsk 1931, S. 40–52, hier S. 40; Zu Krol’ siehe ebenfalls Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N.
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gabe man stand, in Krol’s Worten: „Die ersten Schritte zur Organisation der Medizinischen Fakultät in dieser Phase des Wiederaufbaus waren eng mit der Organisation eines Gesundheitssystems in Weißrussland im Allgemeinen und in Minsk im Besonderen verknüpft“.16 Der geplanten Medizinischen Fakultät kam hierbei die Funktion eines Generators zu; Ziel musste es sein, beinahe aus dem Nichts heraus einen Ausbildungskreislauf qualifizierter Mediziner zu initiieren – dies erforderte enorme Anfangsinvestitionen. Die Evaluationsergebnisse vor Augen, versuchte man auf drei Gebieten die wichtigsten Grundlagen zu schaffen: Erstens waren Lehrpläne für die geplanten Fakultäten einschließlich der medizinischen zu erstellen. Ihre Erarbeitung durch die Moskauer Kommission, der auch Vertreter des Volkskommissariats für Bildung (NarKomPros) angehörten und aus der bald eine „Provisorische Leitung der Weißrussischen Staatsuniversität“ hervorging, sollte die Konformität der Lehrpläne mit der marxistisch-leninistischen Doktrin sicherstellen. Zweitens mussten in Minsk die logistischen Voraussetzungen für einen universitären Lehrbetrieb geschaffen werden, was sich im Falle des Medizinstudiums als umso schwieriger erwies, als hierbei die Praxisnähe betont werden sollte: Man erhielt lediglich alte Fabrik- und Schulgebäude zur Verfügung gestellt sowie bescheidene Geldmittel für deren Instandsetzung und für die Anschaffung der notwendigsten Ausstattung.17 Am entscheidendsten war drittens die Gewinnung von qualifizierten Lehrkräften: den künftigen Professoren und Dozenten – auch diese Aufgabe fiel allgemein der „Provisorischen Leitung“ und für den Bereich der Medizin dem ihr zuarbeitenden Michail Krol’ zu.18 Die Personalfrage sollte noch auf Jahre hinaus das größte Problem der jungen Staatsuniversität bleiben und die Gestalt ihrer Fakultäten nachhaltig prägen. Statt der geplanten fünf konnte man zunächst nur zwei Studienfakultäten realisieren, eine Gesellschaftswissenschaftliche (fakultet obščestvennych nauk, kurz FON) sowie die unverändert dringend benötigte Medizinische (MedFak). Hinzu kam eine Arbeiterfakultät (RabFak), an welcher Studienanwärtern aus der Arbeiter- und Bauernschicht das häufig fehlende Schulwissen vermittelt wurde, als Vorbereitung auf das eigentliche Studium. In dieser Zusammensetzung, also tatsächlich nur als Rumpf der angestrebten Universität, wurde die BGU am 11. Juli 1921 feierlich eröffnet. Da die Organisations- und Instandsetzungsarbeiten zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen waren, begann der Unterricht an der MedFak erst Anfang November, doch selbst dann bestand noch eine tiefe Kluft zwischen dem Anspruch der in Moskau formulierten Lehrpläne und dem, was in Minsk tatsächlich geleistet werden konnte. Um diese Kluft zu überbrücken, wählte die Leitung der BGU einen
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Peresada, Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo Medicinskogo Instituta 1921–1996 [Lehrstuhlinhaber und Professoren des Medizinischen Instituts Minsk 1921–1996], Minsk 1999, S. 4 f.; ferner den Krol’ gewidmeten Beitrag von J. Wiggering und A. Zamoiski in diesem Band. Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 40. NARB, F. 6, O. 1, D. 6, L. 3 sowie F. 205 O. 1, D. 1, L. 17–22; vgl. auch Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 41. NARB, F. 205, O. 1, D. 6, L.9, Stellenausschreibung der Provisorischen Leitung in Moskau.
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pragmatischen Ansatz: Was als Medizinische Fakultät betrieben und bezeichnet wurde, war tatsächlich etwas anderes, man könnte auch sagen: mehr als das.19 Im Vergleich zu normalen Universitätsgründungen in anderen Ländern zu Friedenszeiten sah die MedFak sich in vielerlei Hinsicht mit besonderen Bedingungen konfrontiert. Das betraf sowohl Teile der Studieninhalte wie den Aufbau von Lehrkliniken neben den Kliniken. Die 387 Studierenden, die ab November 1921 ihr Medizinstudium an der MedFak aufnahmen, begannen, nicht anders als Studierende heute, mit dem Erlernen der Grundlagen der Anatomie, genauer: der Osteologie (Knochenlehre). Nach Ablegen einer Prüfung in diesem Grundfach, frühestens nach drei Monaten, erlernten sie weitere Bereiche der Anatomie, wie Muskel- und Eingeweidelehre, direkt am Seziertisch. Bittere Ironie der Umstände: Die schlechte medizinische Versorgung der BSSR begünstigte hierbei die Ausbildung der Medizinstudierenden – es stand, wie ein Bericht der Universitätsleitung lakonisch feststellt, ein „Überfluss an Leichenmaterial“ zur Verfügung.20 Es gelang ebenso, für den Studienbeginn neben dem nötigen osteologischen Anschauungsmaterial auch einen Grundstock an Lehrbüchern, Schautafeln und anatomischen Tabellen bereitzustellen. An den 18 Seziertischen, die zur Verfügung standen, wurden die Erstsemester, meist über 160 von ihnen zugleich, von der kleinen, nur langsam wachsenden Zahl von Ärzten und Anatomen angeleitet, die man hatte einstellen können.21 Während die ersten Phasen medizinischer Ausbildung in der Anatomie also unter erschwerten, aber letztlich noch tragfähigen Bedingungen begonnen werden konnten, musste an anderer Stelle noch weitaus mehr improvisiert werden. Die Einrichtung von Laboren, Hörsälen und Lehrkabinetten allein für die Medizin erwies sich als logistisch und finanziell ebenso unmöglich wie ein umfassender Unterricht in spezielleren Bereichen wie der Pharmakologie. Gelöst wurde dieses Problem durch die Integration der benachbarten naturwissenschaftlichen Disziplinen als Abteilungen innerhalb der MedFak. Die „Medizinische Fakultät“ umfasste damit auch jeweils einen Lehrstuhl für Botanik, Zoologie, Mathematik sowie anorganische Chemie – es wäre also treffender, von einer „Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät“ zu sprechen. Der offizielle Name gab jedoch wieder, welches Ziel dabei 19
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Grundlegende Informationen und Daten wie den Termin der Eröffnungsfeier bieten die Jubiläumsbände, die während und nach der Sowjetherrschaft immer wieder zu Jahrestagen dieser Gründung veröffentlicht wurden; exemplarisch: Desjat’ let Belorusskogo Gosudarstvennogo Universiteta (Anm. 15), S. 3 sowie Belorusskij gosudarstvennyj universitet imeni V. I. Lenina [Weißrussische Staatliche Lenin-Universität], Minsk 1961, S. 12; Abweichend nennt V. A. Belyj u. a., Belorusskij gosudarstvennyj universitet imeni V. I. Lenina [Weißrussische Staatliche Lenin-Universität], Minsk 1982, S. 5, den 30. Oktober 1921, also den Beginn der Lehrveranstaltungen an FON und MedFak, als Gründungsdatum. Solomon Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet za 1921–22 akad. god. [Die Weißrussische Staatsuniversität im akademischen Jahr 1921–22], Minsk 1922, S. 22–28, hier S. 24. Die Angaben über das Medizinstudium der Jahre 1921–23 beruhen auf Kacenbogin, Belorusskij Gosudarstwennyj Universitet (1922) (Anm. 20), mit der Titelergänzung „Itogi i perspektivy“ [Ergebnisse und Perspektiven] ebenfalls publiziert als Beitrag in: Trudy BGU 2–3 (1922), S. 326–364; sowie ders., Belorusskij Gosudarstwennyj Universitet za 1922–23 akad. god. [Die Weißrussische Staatsuniversität im akademischen Jahr 1922–23], Minsk 1923, S. 25–43.
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absolute Priorität besaß: Die Ausbildung von Medizinern. In der Anfangszeit der BGU, wenigstens während der ersten beiden akademischen Jahre (1921–23), wurden die naturwissenschaftlichen Abteilungen konsequent in die humanmedizinische Ausbildung eingebunden; so führte der Chemiker Boris M. Berkengejm die Medizinstudierenden in die Grundlagen der Pharmakologie ein, der Zoologe Anatolij V. Fedjušin in die Kunst des Präparierens und dergleichen mehr.22 Nur langsam konnte man solche Provisorien durch die Besetzung vakanter Planstellen abbauen, der Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal blieb noch auf Jahre hinaus spürbar. Michail Krol’ war, seinen eigenen Worten zufolge, zunächst nur „fiktiver Dekan“ der MedFak, denn er behielt noch für etwa zwei Jahre seinen Wohnsitz in Moskau bei, von wo aus er Lehrkräfte für den Aufbau in Minsk zu gewinnen suchte.23 Erst zum Ende des akademischen Jahres 1922/23 konnte zumindest von einer Annäherung an die ursprünglichen, zunächst eher utopischen Lehrpläne die Rede sein – in den frühen 1920er Jahren konnten solche den Umständen anzulastenden Säumnisse noch offen eingeräumt werden. Durch die Einbindung der Naturwissenschaften gelang es bis 1923, ein grundlegendes Lehrangebot auch für die nächsten Jahrgänge von Neustudierenden zu gewährleisten. Die ersten beiden Studienjahre oder „Kurse“ waren als zwar theoretisches, aber mit praktischen Übungen durchsetztes Grundstudium angelegt und umfassten neben allgemeiner Anatomie, organischer wie anorganischer Chemie sowie Physiologie auch Histologie (Gewebelehre) und Embryologie. Der Lehrkräftemangel brachte auch kurioses hervor; so konnte die Histologie zwar in Spezialbereichen, nicht jedoch in ihren Grundlagen vermittelt werden. Nach dem erfolgreichen Durchlaufen dieses Grundstudiums setzten die zukünftigen Sowjetmediziner ihr Studium zu einem großen Teil in den Lehrkliniken der MedFak fort.24 Mit dem Aufbau zweier Lehrkliniken, auch als „propädeutische“ bzw. „Fakultätskliniken“ bezeichnet, wurde parallel zum Aufbau der MedFak selbst begonnen, also vor und größtenteils während des laufenden akademischen Jahres 1921–22. Wie auch im Fall der Lehrgebäude leisteten zunächst die Lehrkräfte und Studierenden aufwendige Instandsetzungsarbeiten. Die dabei erzielten Erfolge dienten dem Rektor Vladimir I. Pičeta, einem Historiker, als Argument, um für den Erwerb weiterer Ausstattungen Mittel bei dem Zentralexekutivkomitee der BSSR zu beantra-
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Kacenbogin, Belorusskij Gosudarstwennyj Universitet (1923) (Anm. 21), S. 26 f.; zu Berkengeim und Fedjušin siehe ferner A. U. Karuzin u. a., Prafesary i daktary navuk Belaruskaga Dzjaržaŭnaga Universitėta [Professoren und Doktoren der Wissenschaft der Weißrussischen Staatsuniversität (weißruss.)], Minsk 2001, S. 25 f. bzw. 289. Michail Krol’, Peršyja kroki pa arhanizacyi mėdfaku BDU [Erste Schritte zur Organisation der MedFak der BGU (weißruss.)], in: Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j hadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi (1921–1927) [Weißrussische Staatsuniversität zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution (weißruss.)], Festschrift, Minsk 1927, S. 47–51, hier S. 51. Tatsächlich übernahm die Funktion des Dekans, und zeitweise auch diesen Titel, der Leiter der 1. Therapeutischen Lehrklinik der MedFak, Professor Sergej M. Melkich. Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet (1923) (Anm. 21), S. 26.
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gen.25 Angesichts solcher Vorleistungen erwarteten die Behörden nun neben medizinischer Ausbildung auch eine substantielle Verbesserung der Gesundheitsversorgung und gewährten daher weitere Unterstützung. In Anschluss an das Erste Städtische („Sowjet“-)Krankenhaus in Minsk, welches Räume und Bettenkapazität bereitstellte, richtete man zuerst eine therapeutische (= internistische) Lehrklinik und kurz darauf auch eine chirurgische Lehr- und Poliklinik ein, die im November 1922 und Januar 1923 den Betrieb aufnahmen. Jede besaß eine Kapazität von etwa 60 Betten zur stationären Behandlung und stellte qualitativ eine enorme Verbesserung im Vergleich zum Standard der medizinischen Versorgung vor 1922 dar. Sie wurden jeweils von einem Direktor im Professorenrang geleitet, welchem ein promovierter Assistent zur Seite stand. Hinzu kamen einige vollzeitig abgestellte Ärzte (fünf im Fall der Therapie-, vier an der chirurgischen Klinik) sowie eine gleiche Anzahl teilabgestellter Mediziner.26 Auch die Ausstattung mit medizinischem Gerät konnte vorangetrieben werden. Insbesondere in der Chirurgie war dies eine fundamentale Notwendigkeit. Hier wurde nicht nur ein Röntgenkabinett eingerichtet, sondern auch eine mehr als nur grundlegende Ausrüstung für zunächst zwei Operationssäle angeschafft – besonders stolz war man auf den Erwerb moderner Endoskope sowie einer elektrischen „Albee“-Kreissäge bzw. Fräse für Operationen des Schädels und der Wirbelsäule. Hinzu kamen Labore für Versuche und pathologische Studien an Tieren; dort wurden zugleich Präparate als Anschauungsmaterial für nachfolgende Jahrgänge von Medizinstudierenden hergestellt, wobei man auch die Perspektive künftiger „Militärchirurgie“ im Auge behielt.27 Im Zentrum der Aktivitäten stand der Operationsbetrieb: Chirurgische Eingriffe hatten zwar im 1. Stadtkrankenhaus auch zuvor durchgeführt werden können, die qualitativen Fortschritte waren aber offenbar enorm. In den ersten acht Monaten ihres Betriebs wurden 625 Patienten stationär behandelt, in 385 dieser Fälle wurden operative Eingriffe in einer vielfältigen Bandbreite erforderlich: Das Entfernen von Fremdkörpern, von Blinddarm, Gallenblase, Gebärmutter oder Tumoren ebenso wie Amputationen, jedoch auch rekonstruktive Eingriffe z. B. nach Scheidenvorfällen, Leistenbrüchen oder komplizierten Knochenfrakturen; hinzu kamen plastische Rekonstruktionen von Lippen oder Nasen, Hauttransplantationen und tatsächlich, in zwei Fällen, operative Öffnungen des Schädels. Als einziges Zentrum für Chirurgie auf diesem Niveau in der BSSR musste jede Art von Eingriff übernommen werden, auch wenn die geringe Anzahl manch schwieriger Operationen eine Spezialisierung und damit eine Steigerung der
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NARB, F. 6, O. 1, D. 124, L. 187–194, 14. Januar 1922, Schreiben Pičetas an das CIK der BSSR, editiert in Chodzin u. Stražaŭ, Pamjac’ i Slava (Anm. 3), S. 109–124, hier besonders 113 f. Zu Pičeta siehe Rainer Lindner, Nationalhistoriker im Stalinismus. Zum Profil der akademischen Intelligenz in Weißrußland 1921–1946, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas 47 (1999), S. 187–208. Angaben hierzu nach Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet (1923) (Anm. 21), S. 25–31. Ebd., S. 30.
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Erfolgsquoten zunächst noch unmöglich machte. Zahlen über Komplikationen oder die Erfolgsquote der Eingriffe finden sich in den Quellen nicht.28 Ähnliches gilt für die therapeutische Lehrklinik: Hier berichtete man über den umfangreichen Unterricht am Krankenbett, Forschungen zur Gallsäurenbestimmung in neu geschaffenen Laboratorien, die Einrichtung einer Ambulanz sowie besonders eines Tuberkulosezentrums. Tuberkuloseinfektionen stellten seit langem eine Geißel der weißrussischen Gebiete dar, begünstigt durch die klimatischen Bedingungen, geringe Hygienestandards und Kriegsfolgen, weshalb man ihrer Bekämpfung große Aufmerksamkeit widmete und mit dem Baltendeutschen Theodor Hausmann ab 1924 einen engagierten Experten gewann.29 Solche Erfolge wurden hervorgehoben – Hinweise auf beispielsweise die medikamentöse Versorgungssituation sucht man allerdings vergeblich. Auch wenn durch die Lehrkliniken der MedFak Verbesserungen erzielt worden sein mögen, so blieben diese im Verhältnis zur medizinischen Gesamtsituation und Versorgungslage der BSSR zunächst gering. Davon zeugt schon die Tatsache, dass bis 1927 jeweils eine weitere therapeutische und chirurgische Klinik eingerichtet und entsprechende Personalaufstockungen vorgenommen wurden.30 Die Behandlungskapazitäten blieben trotzdem hinter dem Bedarf zurück, weswegen Ärzte und sogar Praktikanten auch Behandlungen auf eigene Rechnung durchführten, eine eher halblegale Praxis, die jedoch zumindest vom Leiter der 2. Therapeutischen Klinik, nämlich Hausmann, noch 1927 geduldet und verteidigt wurde.31 Aufbau der Psychiatrie Mit dem Aufbau weiterer Spezialkliniken stellte man sich bald für die Zukunft breiter auf. Bereits in der zweiten Jahreshälfte 1923 wurden jeweils eine Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie für Augen- und Kinderheilkunde eröffnet. Von besonderer Bedeutung für die Thematik dieses Buches sind jene zwei Kliniken, die im Herbst 1924 eröffnet wurden: Die Klinik für Psychiatrie und die Klinik für Nervenkrankheiten.
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Vgl. ebd., S. 25–31. Für Hinweise zur chirurgischen Theorie und Praxis sowie Beratung bezüglich medizinischer Fachterminologie, die hier weitestgehend vermieden werden soll, bin ich Herrn Richard Linke (Leipzig) zu Dank verpflichtet. Vgl. Schybeka, Das „alte“ Minsk (Anm. 7), S. 310 sowie Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet (1923) (Anm. 21), S. 29 f., der von Übersetzungen deutscher Fachliteratur zum Einsatz des künstlichen Lungenkollaps bei offener Tuberkulose berichtet. Zu Hausmann (russ.: Fedor Oskarovič Gausman) siehe den Beitrag von J. Wiggering und A. Zamoiski in diesem Band. Vgl. Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j hadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi (Anm. 23), S. 39–41. NARB, F. 4, O. 1, D. 4127, L. 30–32, 25. Juni 1927, Schreiben Hausmanns an das Dekanat der MedFak, der über Denunziationen innerhalb seiner Belegschaft in Zusammenhang mit dieser Praxis berichtet.
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Zunächst wurde eine Klinik für Psychiatrie (psichiatričeskaja klinika)eröffnet. Sie stand unter der Leitung von Aleksandr K. Lenc, einem Militärpsychiater und Anthropologen, der hier ab Mitte der 1920er Jahre zu Fragen der fortschreitenden Muskellähmung, Reflexen, höherer Nerventätigkeit und forensischer Psychiatrie forschte und daneben auch Lehrveranstaltungen zur weißrussischen Anthropologie durchführte.32 Er vertrat die Psychiatrie auch in der Lehre, allerdings ab dem akademischen Jahr 1927/28 als lehrklinischen Kurs für „Geisteskrankheiten“ (weißrussisch: dušėŭnyja chvaroby).33 Details über die Arbeit der Klinik gehen aus den verfügbaren Quellen nicht hervor, beachtlich ist jedoch die geringe Anzahl an qualifizierten Mitarbeitern sowie die Nähe der Arbeitsbereiche Lenc’ zu jenen, die in der Klinik für Nervenkrankheiten verfolgt wurden.34 Nachdem Michail Krol’ im akademischen Jahr 1924–25 endlich dauerhaft in Minsk arbeiten konnte, gliederte das weißrussische Volkskommissariat für Gesundheitswesen der MedFak ein „Institut für Physische Behandlungsmethoden“ an, welches aus einem ehemals privaten, inzwischen verstaatlichten Elektro- und Wassertherapie-Zentrum hervorgegangen war. An der MedFak bildete dieses Institut einen Teil der Klinik für Nervenkrankheiten (Klinika nervovych chvaroby) unter Leitung von Michail Krol’. Die jahrelangen Kriegshandlungen und Besatzungen hatten die Folgen der ohnehin ungünstigen Klima- und Lebensbedingungen verstärkt, und eine große Zahl von Einwohnern Sowjetweißrusslands litt unter Traumata oder Krankheiten des Nervensystems. Für das Jahr 1923 führte man 10,1 Prozent aller Todesfälle in Minsk auf Nervenleiden zurück.35 Die Zuverlässigkeit dieser Zahl ist nicht zu überprüfen, unzweifelhaft stellten jedoch Traumata und andere Nervenkrankheiten ein weitverbreitetes Problem dar. Man behandelte unter anderem Kinderlähmung, Epilepsie, Schlaganfälle (bzw. ihre Folgen wie Aphasie oder Lähmungen), Neurosen, Enzephalitis (im Zusammenhang mit Parasiten), neuronale Auswirkungen der Syphilis sowie Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Für all diese Behandlungen konnte jedoch erst 1926 eine psychoneurologische Spezialapotheke eingerichtet werden.36 Die Kriegsversehrten boten zugleich eine traurige Chance, da ihre vielfältigen Schuss- und Splitterverletzungen völlig neue Erkenntnisse über die Verortung kognitiver und motorischer Fähigkeiten in Gehirn und Rückenmark 32 33
34 35
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Vgl. Trudy BGU 8–10 (1925), S. 329, Fußnote zur Kapitelüberschrift. Ahljad vykladan’nja na mėdycynskim fakul’tėce Belaruskaha Dzjaržaŭnaha Univėrsytėtu u 1927–28 vučėbnym hodze [Veranstaltungsverzeichnis der Medizinischen Fakultät der Weißrussischen Staatsuniversität für das Lehrjahr 1927–28 (weißruss.)], Minsk 1927, S. 21; zu Lenc siehe Karuzin, Prafesary i daktary navuk (Anm. 22), S. 164. Vgl. Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j hadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi (Anm. 23), S. 42 f. Angaben nach M A. Chazanaŭ, Klinika nėrvovych chvarob i instytut fizyčnych mėtadaŭ ljačen’nja NKAZ i BDU [Die Klinik für Nervenkrankheiten und das Institut für Physikalische Behandlungsmethoden des Volkskommissariats für Gesundheit und der BGU (weißruss.)], in: Belaruskaja mėdyčnaja dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke (weißruss.)] 1 (1929), S. 83–89, hier S. 83. Allerdings nennt dieser auch „polnische Banditenüberfälle“ als weitere Ursache für Nervenkrankheiten, was dem propagandistischen Tenor des Jahres 1929 entspricht. Vgl. ebd., S. 84–87; sowie Michail Krol’, Myšlenie i reč’ [Denken und Sprache], in: Trudy BGU 1 (1922), S. 1–13, hier S. 1.
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ermöglichten. Wie bereits erwähnt, waren ab 1923, in den medizinischen Grenzen der 1920er Jahre, auch Operationen innerhalb des Schädels oder der Wirbelsäule möglich, die von solchen Erkenntnissen profitierten.37 Aber auch alle anderen auftretenden Krankheitsbilder wurden mit dem Ziel zukünftiger Prophylaxe erforscht und zu diesem Zweck Studien sozialer, materieller und ökonomischer Lebensbedingungen betrieben, gemäß dem von Krol’ formulierten Leitsatz: „Nervenkrankheiten sind zum großen Teil soziale Krankheiten“.38 Ähnliche Studien betrieb auch das Institut für Sozialhygiene der MedFak. Der Aufgabenbereich dieses Lehrstuhls, 1926–27 vertreten von einem Professor G. Frėnkel’, umfasste Forschung und Lehre bezüglich aller Fragen der Volksgesundheit wie Ernährung, Wohnung, Kleidung und Hygiene; zur Untersuchung der Lebensbedingungen führte man Umfeldstudien durch.39 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man hierbei mit dem Lehrstuhl für Neurologie bzw. der Klinik für Nervenkrankheiten eng kooperierte, womöglich auch mit der Psychiatrie. Im Rahmen dieser Studien versuchte man auch den Ursachen des Tay-Sachs-Syndroms auf die Spur zu kommen, einer (so der heutige Kenntnisstand) erblichen Chromosomenmutation, die zu fortschreitenden neuronalen Defekten bei Neugeborenen führt und bei Aschkenasim weltweit überdurchschnittlich häufig auftrat und auftritt.40 Solche Forschungen schufen Berührungspunkte mit dem der Sozialhygiene zugeordneten Feld der Eugenik, umso mehr, als das Tay-Sachs-Syndrom auch im 21. Jahrhundert noch unheilbar ist und zum Tod erkrankter Kinder bis zum vierten Lebensjahr führt. Die für das Fach Sozialhygiene verwendeten Lehrwerke stammten zum Teil aus Deutschland und rekurrierten auf die dort betriebene Eugenik.41 Mit diesen Studien begab man sich jedoch auf in der Sowjetunion ideologisch gefährliches Terrain. MEDIZIN UND IDEOLOGIE Auf die ideologische Schulung der Nachwuchsmediziner wurde an der MedFak von Beginn an Wert gelegt – sie sollten genauso firm in der nun staatstragenden Doktrin sein wie der Lehrernachwuchs oder andere Absolventen der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät (FON). Offiziell gehörten dem Lehrkörper der MedFak auch der Soziologie Solomon Kacenbogin sowie der Philosoph Semën Vol’fson an, 37 38 39 40
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Vgl. Michael Kroll [i. e. Michail Krol’], Die Neuropathologischen Syndrome. Zugleich Differentialdiagnostik der Nervenkrankheiten, Berlin 1929, S. 1 f. Chazanaŭ, Klinika nėrvovych chvarob i instytut fizyčnych mėtadaŭ ljačen’nja (Anm. 35), S. 84. Vgl. Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 47. Zum Krankheitsbild des Tay-Sachs-Syndroms siehe www.ninds.nih.gov/disorders/taysachs/ taysachs.htm (7.8.2011); zur entsprechenden Forschungsgeschichte: Shelley Z. Reuter, The genuine Jewish type. Racial ideology and anti-immigrationism in early medical writing about Tay-Sachs disease, in: Canadian Journal of Sociology 31 (3/2006), S. 291–323. Verwendung fand u. a. das Handbuch „Grundriß der sozialen Hygiene. Für Mediziner, Nationalökonomen, Verwaltungsbeamte und Sozialreformer“ des Karlsruher Arztes Alfons Fischer, vermutlich in der Ausgabe von 1913, vgl. ebd., S. 148–167.
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beide eigentlich Lehrstuhlinhaber an der FON, wo sie marxistische Soziologie und Geschichte der proletarischen Revolution respektive dialektischen Materialismus lehrten.42 Diese Kurse waren auch für die Studierenden der MedFak obligatorisch. Bis Mitte der 1920er Jahre hatte man dieses Arrangement der Gründungsphase zum regulären Pflichtfach „Gesellschaftskunde“ [„hramadaznaŭstva“] ausgebaut, in dem Examenskandidaten auch gesondert geprüft wurden.43 Medizin sollte, wie alle anderen Wissenschaften auch, der amtlichen Form marxistisch-leninistischer Doktrin untergeordnet sein und wurde dementsprechend von den Volten und Kurswechseln der frühstalinistischen Nationalitätenpolitik ab 1927 ebenso erfasst. Studien und andere Aktivitäten zur Ausgestaltung der verschiedenen Nationalkulturen innerhalb der BSSR (also neben der weißrussischen auch beispielsweise der jüdischen, polnischen, lettischen) wurden bis Mitte 1927 im Rahmen der „belarusizacija“ [„Weißrussifizierung“] gefordert und gefördert.44 Ab diesem Zeitpunkt wird jedoch in Partei- und BGU-Verwaltungsakten eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit diesem Kurs sichtbar, der zunächst in Einzelfällen zur Verdammung entsprechender Tätigkeiten als „nationaldemokratisch“ (verkürzt: nacdėm), „bürgerlich-nationalistisch“ und „chauvinistisch“ führte. Ein solcher Bannstrahl fiel auf die Sozialstudien und Forschungen zum Tay-Sachs-Syndrom des Instituts für Sozialhygiene. Der leitende Professor Frėnkel’ wurde hastig durch seinen Assistenten ersetzt. Der wohl ebenfalls direkt oder indirekt involvierte Krol’ schrieb wenige Jahre später: „Es gab keinen Mangel an nationaldemokratischen Aktionen, oft unter dem Deckmantel der ‚reinen Wissenschaft‘. Benutzt wurden Fragen zu Blutgruppen und rassisch-biologischen Indizien, insbesondere die [physische, J. W.] Konstitution betreffend, um reine, ursprüngliche Eigenschaften von Weißrussen und Juden zu definieren. [ ] Unermüdlich waren jüdische Chauvinisten auch in der Rechtfertigung der Besonderheit des Tay-Sachs-Syndroms in ultranationalistischem Geiste [ ].“45
Der Fall war aus ideologischer Sicht eindeutig: Studien, die nur eine einzige Bevölkerungsgruppe betrafen, entsprachen nicht länger dem verordneten Verständnis sowjetisch-sozialistischer Gleichheit. Dass diese Forschungen sich darüber hinaus im Dunstkreis der Eugenik verorten ließen, kam noch erschwerend hinzu.46 42
43 44 45 46
Vgl. Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet (1923) (Anm. 21), S. 29; zu beiden Personen siehe Johannes Wiggering, Kommunikationsraum und Kaderschmiede. Jüdische Einflüsse auf die Ausgestaltung der Weißrussischen Staatsuniversität in den 1920er Jahren, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 7 (2010), [http://medaon.de/ pdf/A_Wiggering-7-2010.pdf, 7.8. 2011], S. 1–18, hier S. 9–13. Ahljad vykladan’nja na mėdycynskim fakul’tėce (1927) (Anm. 33), S. 23; zu Examensprüfungen: Belaruski Dzjaržaŭny Univėrsitėt da 10-j hadaviny kastryčnikavaj rėvaljucyi (Anm. 23), S. 40. Vgl. Lindner, Historiker und Herrschaft (Anm. 3), S. 156–180. Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 47. Zur Eugenik-Debatte in der Sowjetunion siehe Loren R. Graham, Science and Values. The Eugenics Movement in Germany and Russia in the 1920 s, in: American Historical Review Vol. 82, (5/1977), S. 1133–1164; zur Situation in Sowjetweißrussland vgl. die Beiträge von Andrei Zamoiski sowie im Überblick von Gerhard Baader in diesem Band.
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Ohne die jüdische Intelligenz Weißrusslands wäre der erfolgreiche Aufbau der BGU nur schwer und jener der MedFak gar nicht zu realisieren gewesen. Mehr als zwei Drittel der Studienanfänger der BGU des Gründungsjahres 1921 waren Juden (69,2 Prozent), was auch in etwa der Quote der MedFak entsprach, darunter knapp ein Drittel Studentinnen, denen gemäß dem sozialistischen Gleichheitscredo der Weg an die Universität offenstand.47 Der Lehrkörper (Professoren und Dozenten) der MedFak bestand in den ersten Jahren zu rund einem Drittel aus Juden, darunter mit Krol’ und dem Chemiker Berkengejm zwei der renommiertesten Wissenschaftler der BSSR überhaupt. Innerhalb des langsam wachsenden Kreises von Assistenten stellten sie die Mehrzahl (18 von 30 im Jahr 1925).48 Noch sichtbarer wurde ihre Bedeutung, sobald der Ausbildungszyklus sich schloss: 1925 verabschiedete die MedFak den ersten Jahrgang examinierter Mediziner. Diese 21 jungen Ärztinnen und Ärzte legten ihr staatliches Examen ab, bevor das Lehrangebot der MedFak vervollständigt worden war, und absolvierten daher im Anschluss Weiterbildungen. Zum selben Zeitpunkt durchliefen die nachfolgenden Jahrgänge bereits die praktische Ausbildung in den Lehrkliniken. Mitte 1925 finden sich 45 solcher Arztpraktikanten an den Fakultätskliniken, 33 davon – in amtlicher weißrussischer Statistikdefinition – jüdischer „Nationalität“.49 Das akademische Jahr 1925/26 verzeichnete 517 jüdische Studierende an der MedFak, bei einer Gesamtzahl von 935 (= 55,3 Prozent).50 Diese Zahlenverhältnisse resultierten zum einen aus der eingangs erwähnten Vorgeschichte der BSSR als Teil des Ansiedlungsrayons, aufgrund welcher jüdische Jugendliche als Teil einer lange urban konzentrierten Ethnie häufig eine weit bessere Schulbildung und höhere Affinität zu Bildungsberufen mitbrachten als ihre nichtjüdischen weißrussischen Altersgenossen. Zum anderen eröffnete der Sowjetapparat ihnen bessere Karrierechancen als jemals zuvor, solange sie seine Bedingungen (säkulare Definition jüdischer Nationalität, Anerkennung der Führungsrolle der bolschewistischen Partei) akzeptierten. Viele schulisch gut ausgebildete Juden nutzten diese Chancen und wählten mit der Medizin einen ver-
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Vgl. Kacenbogen, Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet (1922) (Anm. 20), S. 8, die Zahlen bezüglich der MedFak bei Pičeta (Edition Chodzin u. Stražaŭ, Pamjac’ i Slava (Anm. 3), S. 115 f.) enthalten offensichtlich einen Rechen- oder Druckfehler [falsche Summe der aufgezählten Mengen], deuten jedoch ähnliche Proportionen der Nationalitäten an. NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 41–43, Personallisten des akademischen Jahres 1924/25. Angaben den Lehrkörper betreffend sind aufgrund seines sehr unregelmäßigen Wachstums nur mit großer Vorsicht möglich. Diese Ausbildung des vierten und fünften Kurses/Studienjahres entspricht konzeptionell in etwa dem heutigen „Praktischen Jahr“. Die ältere deutsche Bezeichnung „Arzt im Praktikum“ scheint die beste Übersetzung der russischen Bezeichnung „Ordinator“, bei Lindner findet sich die eher irreführende Übersetzung „Tutor“, vgl. Lindner, Historiker und Herrschaft (Anm. 3), S. 165, mit Bezug auf A. Balicki, Belarusizacyja kul’turna-as’vetnych ustanoŭ [Die Weißrussifizierung von Kultur-und Bildungseinrichtungen], in: Polym’ja 4 (1925), S. 117–148. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Eugen Otstavnov (Leipzig). NARB, F. 701, O. 1, D. 80, L. 29, Statistiken der BGU aus dem Jahr 1928 anlässlich der Diskussion um die Weißrussifizierung.
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meintlich eher apolitischen Bildungszweig.51 Semën Vol’fson erläuterte ihnen 1929, wie sehr sie sich darin irrten: „Der marxistische Mediziner darf im Angesicht der Philosophie nicht wiederholen ‚noli tangere‘, sondern muss nachdrücklich und konsequent sein Fachgebiet der materialistischen Dialektik unterordnen, welche die universelle Methodik der Wissenschaft ist und somit auch die wissenschaftliche Methodik der Medizin.“52
Von solcher Maßregelung auf ideologischem Gebiet abgesehen erfüllte die MedFak jedoch die Erwartungen der Staats- und Parteiführung: Bis Ende der 1920er Jahre war ein funktionierender Ausbildungsbetrieb aufgebaut worden, der einen stetigen Ausstoß an immer umfassender qualifizierten Ärzten hervorbrachte: Ab 1926 beendeten jährlich mehr als 150 Mediziner erfolgreich ihr Studium.53 Die Kliniken der MedFak schulterten einen großen Teil der Krankenversorgung. Hinsichtlich überdurchschnittlich repräsentierter Krankheitsbilder forschte man nach Kräften. Zur medizinischen Wissenschaft innerhalb wie außerhalb der UdSSR pflegte man Kontakte und hatte sich einen respektablen Ruf erarbeitet. Besonders Michail Krol’ und Theodor Hausmann hielten Vorträge und publizierten Arbeiten im deutschsprachigen Raum; deutsche und österreichische Kollegen waren durchaus neugierig auf die Forschungsergebnisse der jungen, aber selbstbewusst auftretenden Universität aus dem geheimnisvollen Reich der Bolschewiki.54 Die naturwissenschaftlichen Abteilungen, von denen man in der Lehre inzwischen weitgehend unabhängig war, waren bis zum Ende der 1920er Jahre alle als eigenständige Fakultäten der BGU ausgegliedert worden. Die Zusammensetzung der fachmedizinischen Lehrstühle und des Lehrplans unterschied sich kaum mehr von zeitgenössischen deutschen Universitäten.55 Die MedFak stellte 1929 eine stabile und weitgehend autonome Ausbildungseinrichtung dar, selbst die Repressionen, die mit dem Ende der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) und dem ersten Fünfjahresplan einhergingen, konnten sie in ihrer Arbeitsfähigkeit nicht tiefgreifend erschüttern. 51 52 53 54
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Von den erwähnten 45 Arztpraktikanten des Jahres 1925 waren nur drei Mitglieder der Kommunistischen Partei Weißrusslands (Bolschewiki) [KPB(b)], siehe NARB, F. 205, O. 1, D. 144, L. 41–43. Semën Vol’fson, Dialektičeskij materializm i medicina [Dialektischer Materialismus und Medizin], Minsk 1929, S. 6. Zahlen nach Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 52. Mehr noch als die Vortragsreisen Krol’s und Hausmanns (siehe die entsprechenden biographischen Beiträge in diesem Band) zeugt hiervon Krol’s bereits genanntes Werk „Die Neuropathologischen Syndrome“, welches 1929 im Berliner Julius Springer Verlag publiziert wurde. Die Fülle der darin erläuterten und illustrierten Krankheitsbilder machte es ebenso interessant für die deutsche Medizin wie die darin enthaltenen Erkenntnisse der sowjetischen Neurologie. Vgl. exemplarisch die online verfügbaren Personal- und Veranstaltungsverzeichnisse der Universität Leipzig für das Winterhalbjahr 1928–29 unter http://ubimg.ub.uni-leipzig.de (8.8.2011). Auch Semën Vol’fson warf vergleichende Blicke nach Leipzig, besonders auf das [ab 1938 Karl-Sudhoff-]Institut für Geschichte der Medizin und dessen Lehrveranstaltungen im Wintersemester 1927/28, vgl. Vol’fson, Dialektičeskij materializm i medicina (Anm. 52), S. 13, unter Bezug auf Theodor Brugsch, Grundlagen und Ziele der Medizin der Gegenwart. Fünf Vorträge, Leipzig 1928.
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Im Zuge dieser Neuausrichtungen wurde die BGU konsequent umgebaut. Durch die Ausgliederung der Naturwissenschaften aus der MedFak als eigenständige Fakultäten sowie durch die Verlagerung höherer Geistes- und Kulturwissenschaften an die 1928 gegründete Weißrussische Akademie der Wissenschaften (BelAN) gewann die Staatsuniversität immer mehr die Gestalt einer Technischen Hochschule.56 Entsprechend dieser Linie wurde auch die MedFak zum Ende des akademischen Jahres 1929/30 als „Staatliches Medizinisches Institut Minsk“ (weißruss. Minski Dzjaržaŭny Medycynski Instytut) verselbstständigt und behielt diese Gestalt bis in die 1990er Jahre bei.57 Strukturell gliederte man dieses Institut in je eine „Fakultät“ für „Therapie und Prophylaxe“ sowie „Hygiene und Sanitäres“.58 Die Hauptaufgabe des Instituts war nunmehr vor allem die Ausbildung, während Forschungsarbeiten zum großen Teil jenen Medizinern unterstanden, die der BelAN angehörten; so waren die herausragenden Wissenschaftler der ehemaligen MedFak, wie Krol’ und Hausmann, nun Akademiemitglieder und wirkten nur noch aus deren Rahmen heraus an der Lehre mit. Die Fakultätskliniken der MedFak wurden aus dieser Anbindung herausgelöst und nahmen im Rahmen der städtischen Krankenhäuser ihre Aufgaben in der medizinischen Ausbildung weiterhin wahr.59 In reinen Zahlen folgte auf die Ausgliederung des Medizinischen Instituts annähernd die planmäßig vorgegebene Steigerung der Studierendenzahlen (Plansoll: 1.600 Studierende bis zum Studienjahr 1933/34), wenn auch bei deutlicher Überforderung der materiellen Möglichkeiten des Instituts, was die Einbindung von Ressourcen anderer Einrichtungen z. B. im Rahmen einer Kampagne zur „Mobilisierung aller Mikroskope“ nötig machte.60 Die Gestalt des Medizinischen Instituts blieb nach dieser Ausgliederung bis zum deutschen Überfall auf die UdSSR nahezu unverändert, sie hatte sich als stabil und für Ausbildungszwecke als sehr geeignet erwiesen. Ein ähnliches Institut wurde 1934 in Vitebsk eröffnet und bildete ein zweites Standbein medizinischer Ausbil56
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Zur BelAN sowie ihrem Vorläufer, dem Institut für weißrussische Kultur (Inbelkul’t) siehe Lindner, Historiker und Herrschaft (Anm. 3), S. 192–216 sowie P. Petrikov, Akademija nauk Belorusskoj SSR [Die Akademie der Wissenschaften der BSSR], Minsk 1979. Zur Umgestaltung der BGU vgl. NARB, F. 205, O. 1, D. 636, L. 1–33, Bestandsaufnahme vom Juni 1936. Vgl. A. I. Kožuškov u. Oleg A. Janovskij, Belorusskij Universitet. Chronika sobytij 1919–1989 [Weißrussische Universität. Ereignischronik 1919–1989], Minsk 1990, S. 44. Vgl. NARB, F. 46, O. 2, D. 56а, L. 50, 11. September 1930, Information des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der BSSR über das Netz der medizinischen Bildungseinrichtungen in der Republik für das akademische Jahr 1930/1931. Vgl. Zmačinskaja, Mal’kovec u. Peresada, Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo Medicinskogo Instituta (Anm. 15), S. 3; ferner E. I. Šiško, Razvitie i dejatel’nost’ Minskogo gosudarstvennogo medicinskogo instituta [Entwicklung und Tätigkeit des Staatlichen Medizinischen Instituts Minsk], Minsk 1971. Zur Zahl der Studierenden vgl. NARB, F. 218, O. 1, D. 117, L. 10, 11. April 1931, Meldung des Direktors des Medizinischen Instituts (M. Krol’) an das Stadtkomitee der KP(b)B sowie Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 49; zur Mobilisierungskampagne vgl. NARB, F. 218, O. 1, D. 251, L. 12, Briefwechsel mit dem Allunionsverband Technologieimport aus dem Jahr 1931; ebenso L. 15, Briefwechsel mit dem Volkskommissariat für Außenhandel 1932.
Nicht nur für die Medizin. Der Aufbau einer Medizinischen Fakultät
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dung in der BSSR.61 Dennoch erfuhr das Minsker Institut sehr wohl Eingriffe von außen: Während die Repressionen Ende der 1920er Jahre zwar einzelne Akteure der MedFak in Form strenger Maßregelungen getroffen hatten, war die Institution an sich fast unbeschadet daraus hervorgegangen und hatte durch die Verselbstständigung sogar Distanz zum ideologisch umkämpften Feld der BGU gewonnen.62 Eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei spielte die Verschiebung der administrativen Verantwortung für das Medizinische Institut, welche vom Volkskommissariat für Bildung (dem die Staatsuniversität unterstellt war und blieb) auf das Volkskommissariat für Gesundheitswesen überging.63 Eine reduzierte Forschungstätigkeit bedeutete auch weniger Risiko, in eine Richtung zu forschen, die sich bald als ideologisch gefährlich herausstellen mochte. Jedoch lag in der Einbindung der führenden medizinischen Lehrkräfte in die Akademie der Wissenschaften eine Gefahr: die BelAN blieb allein durch ihre herausgehobene Bedeutung und ihr Prestige im Fokus ideologischer Aufmerksamkeit und häufig auch Kritik.64 Das Medizinische Institut verlor mehrere seiner führenden Köpfe in der Welle stalinistischer Säuberungen um 1937/38, so den Internisten Michail O. Bogdanovič, den Neurologen Kondratij K. Monachov oder den Hals- Nasen- Ohrenspezialisten Samuil M. Burak, die zum Tode verurteilt und ermordet wurden.65 Im Vergleich zu anderen Wissenschaften und Institutionen war man zwar weniger stark betroffen, doch beschränkten sich diese Repressionen nicht auf die exponierten Spitzenkräfte, sondern erfassten auch die breitere Masse unterhalb der Führungspositionen im medizinischen Ausbildungswesen, deren Verluste heute kaum mehr in Namen und Zahlen sichtbar gemacht werden können. Es kann jedoch mit trauriger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Verluste infolge dieser Säuberungen die Qualität der medizinischen Lehre nachteilig beeinflussten – ebenso, wie dies in anderen Bereichen auch an der „Mutterinstitution“ BGU der Fall war. Dort verlief die Zeit bis Kriegsbeginn, dem 22. Juni 1941, in einer „finsteren Atmosphäre“, geprägt von Misstrauen, Denunziationen und Angst, und dies sah am Medizinischen Institut kaum anders aus.66
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Vgl. ebd. sowie E. I. Šiško, Razvitie vysčego medicinskogo obrazovanija v BSSR [Die Entwicklung höherer medizinischer Bildung in der BSSR, Diss. Med.] Minsk 1966. Diese Maßregelungen schlugen sich im Falle unersetzbarer Spezialisten zunächst noch im Verlust der Position nieder, wie es wohl Frėnkel’ wiederfuhr, oder im äußerem Zwang zu öffentlicher Selbstkritik und Denunziationen, siehe Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 51; dieser gesamte Aufsatz kann als Beispiel für öffentliche (Selbst-)Kritik verstanden werden. Vgl. NARB, F. 46, O. 2, D. 56а, L. 50. Vgl. Lindner, Historiker und Herrschaft (Anm. 3), besonders S. 205–216. Vgl. Zmačinskaja, Mal’kovec u. Peresada, Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo Medicinskogo Instituta (Anm. 15), S. 7–9 sowie Karuzin, Prafesary i daktary navuk (Anm. 22), S. 41 f. Zum Schicksal von Krol’ und Hausmann siehe die entsprechenden Beiträge in diesem Band. Janovskij, Gründung der Weißrussischen Staatsuniversität (Anm. 5), S. 135 f.; sowie Krol’, 10 let vysšego medicinskogo obrazovanija (Anm. 15), S. 51.
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Johannes Wiggering
FAZIT Einige Punkte seien abschließend aufgrund ihrer Bedeutung für die medizinische Situation unter der deutschen Besatzung hervorgehoben. Der Aufbau einer medizinischen Ausbildungseinrichtung in Form zunächst der MedFak und dann des Medizinischen Instituts stellte eine Maßnahme zur Behebung eines fundamentalen Mangels an Ärzten und medizinischer Versorgung im sowjetischen Weißrussland dar. Trotz enormer Startschwierigkeiten erwies sich dies als erfolgreich. Zunächst auf quantitativ niedrigem, aber bald steigendem Niveau konnte die BSSR nun eine eigenständige Ausbildung von Medizinern und ein verbessertes Gesundheitssystem vorweisen. In diesem Rahmen betrieben international anerkannte Fachleute Forschungen, um historisch gewachsene Grundübel der weißrussischen Volksgesundheit zu bekämpfen: Zum einen war dies die Tuberkulose, die zusammen mit anderen Infektionskrankheiten schon seit langer Zeit, und unter Kriegsbedingungen besonders viele Opfer forderte; auch im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung sollte sie wieder verstärkt auftreten. Zum anderen waren es Nervenleiden bzw. -krankheiten, die in vielen Fällen ebenfalls auf kriegsbedingte Traumata zurückzuführen waren, doch häufiger noch hervorgerufen und stets begünstigt wurden durch mangelhafte Hygiene- und Lebensstandards. In beiden Fällen konnte man Linderung der Leiden erreichen und die Verbreitung der Krankheitsbilder zurückdrängen, durchschlagende Erfolge erlaubten die zur Verfügung stehenden Mittel aber nicht. Hervorzuheben ist auch, dass sich unter den ersten Generationen neu ausgebildeter Ärzte der BSSR ein sehr großer Anteil an Juden fand. In den ersten Jahrgängen, welche die MedFak absolvierten, waren sie mit einem knapp drei Vierteln überrepräsentiert. Im Studienjahr 1925/26 stellten sie trotz der rasch wachsenden Bevorzugung nichtjüdischer Weißrussen noch mehr als die Hälfte aller Medizinstudierenden. Danach sank diese Quote langsam und betrug Ende der 1920er Jahre noch knapp 45 Prozent.67 Damit fiel ein beträchtlicher Teil der in der BSSR zu Kriegsbeginn 1941 praktizierenden Ärzte unter die vorrangige Zielgruppe der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis. Viele von ihnen wurden ermordet, mit entsprechend fatalen Konsequenzen für das weißrussische Gesundheitssystem und für die Besatzer selbst. Zudem richtete sich diese rücksichtslose und im Hinblick auf die Gesundheit der Besatzer auch indirekt selbstzerstörerische Vorgehensweise zugleich gegen ein medizinisches Ausbildungssystem, das bereits wenige Jahre zuvor durch die stalinistischen Repressionen geschwächt und in seiner Qualität stark beeinträchtigt worden war.
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NARB, F. 701, O. 1, D. 80, L. 29 (Anm. 50).
MEDIZINISCHE BILDUNG FÜR „WEISSRUTHENEN“: DIE „MITTELSCHULE FÜR MEDIZINISCHES PERSONAL“ IN BARANAVIČY UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION Alexander Friedman EINFÜHRUNG Der deutsche Angriff auf die UdSSR und die anschließende Okkupation Weißrusslands führten zu tiefgreifenden Veränderungen im lokalen Gesundheitswesen. Schon im Sommer 1941 wurden zahlreiche jüdische Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger, die im Gesundheitssystem Sowjetweißrusslands vor dem Krieg eine wichtige Rolle gespielt hatten, im Rahmen der von den Besatzern eingeleiteten Politik der Judenverfolgung aus medizinischen Einrichtungen entlassen und in die jetzt geschaffenen Ghettos eingewiesen. Dort durften sie ihre medizinische Tätigkeit zunächst fortsetzen. In seiner Einweisung für die Höheren SS- und Polizeiführer betonte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich am 2. Juli 1941: „Besonders sorgfältig ist bei Erschießungen von Ärzten und sonstigen in der Heilkunde tätigen Personen vorzugehen. Da auf dem Lande auf etwa 10.000 Einwohner an sich nur ein Arzt fällt, würde bei etwa auftretenden Epidemien durch die Erschießung von zahlreichen Ärzten ein kaum auszufüllendes Vakuum entstehen. Wenn im Einzelfalle eine Exekution erforderlich ist, ist sie selbstverständlich auszuführen, doch muss eine genaue Überprüfung des Falles vorausgehen“.1 Heydrichs Richtlinien verbesserten die Überlebenschancen jüdischer Mediziner in Weißrussland in der Anfangsphase des Krieges insoweit, als sie in den jeweiligen Städten oder Ortschaften oft unersetzbar waren, d. h. es standen keine oder nicht genügend nichtjüdische Fachkräfte zur Verfügung. Tatsächlich wurden in Weißrussland im Sommer 1941 jüdische und auch prosowjetisch gesinnte nichtjüdische Mediziner nur in einzelnen bekannten Fällen ermordet.2 Einer dieser Fälle ist die Massenvernichtungsaktion in der westweißrussischen Stadt Baranavičy (pol. Baranowicze, russ. Baranoviči, dt. Baranowitsche) am 30. Juni 1941, deren Umstände (Hintergründe und Täter) bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Stadt, die bis September 1939 zu Polen gehört und in der vor dem Krieg
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Heydrichs nachträgliche schriftliche Einweisung der vier Höheren SS- und Polizeiführer im Osten vom 2.7.1941, abgedruckt in: Peter Klein (Hrsg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 323–328, hier: S. 326. Siehe hierzu den Beitrag von Andrei Zamoiski in diesem Band.
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Alexander Friedman
etwa 37.000 Menschen gelebt hatten,3 wurde am 27. Juni von der Wehrmacht besetzt. Jüdische Überlebende berichten, dass bereits Ende Juni 500 bis 800 Juden verhaftet und später am Jüdischen Friedhof getötet worden seien. Am 29. Juni seien 90 Roma hingerichtet worden. Am nächsten Tag hätten die Deutschen 36 jüdische Ärzte und Ärztinnen festgenommen, angeblich um sowjetische Kriegsgefangene zu behandeln. Um die Mediziner zu befreien, habe die jüdische Bevölkerung Lösegeld gesammelt. Trotzdem seien die festgenommenen Juden und darunter auch die Ehefrau des Judenratsvorsitzenden Ovsej Izykson erschossen worden. Jüdische Mediziner, die das Junimassaker überlebten, wurden ins Ghetto eingewiesen und arbeiteten im dortigen Krankenhaus. Im jüdischen Wohnbezirk entstand im Laufe des Krieges eine Untergrundorganisation, der sich auch Ärzte anschlossen und die von dem Chirurgen Abram Ja. Abramovskij geleitet wurde. Jüdische Untergrundkämpfer versteckten ihre gesammelten Waffen im Ghettokrankenhaus.4 Die Entlassung und Ermordung jüdischer Mediziner verschlechterte die ohnehin dramatische Situation in der Gesundheitsfürsorge der Bevölkerung im Raum Baranavičy: Es fehlten notwendige Medikamente und medizinische Instrumente. Im Stadtkrankenhaus stand nicht genügend Raum zur Verfügung, da es aus seinem ursprünglichen Gebäude in das Gebäude des ehemaligen jüdischen Gymnasiums verlagert worden war. In diesem Krankenhaus, in Apotheken und anderen städtischen medizinischen Einrichtungen fehlten zudem qualifizierte Fachkräfte: Während Juden entlassen oder ermordet wurden, war die Zahl weißrussischer Mediziner im Raum Baranavičy relativ gering.5 Unter diesen Bedingungen billigte die im Herbst 1941 eingesetzte deutsche Zivilverwaltung des Gebietskommissariats Baranowitsche im Frühjahr 1942 die Eröffnung einer „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy, die den Personalmangel im Gesundheitswesen des Generalkommissariats „Weißruthenien“ schnellstmöglich beheben sollte. FORSCHUNGSSTAND UND QUELLEN Die Geschichte der „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy 1942 bis 1944 gehört zu den Themen, die in der Forschung bisher nicht untersucht wurden. Die sowjetische Geschichtsschreibung befasste sich nie mit dieser Bildungsanstalt, weil sie zu ihrem stark ideologisch geprägten Bild der nationalsozialistischen Okkupation nicht passte.6 Auch in den modernen weißrussischen und ausländischen 3 4
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Vgl. Paul Kohl, Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941–1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt/M. 1995, S. 58. Vgl. Boris P. Šerman, Baranovičskoe getto, Baranavičy 1997, S. 7, 11, 32, 34, 37, 40, 51, 55, 88–90. Nach offiziellen sowjetischen Angaben wurden in der Stadt unter der Okkupation 62 Ärzte ermordet. Zum Judenmord im Raum Baranavičy siehe Alexander Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz. Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn 2009, S. 96–119. Siehe hierzu Jazėp Malecki, Pad znakam Pahoni, Toronto 1976, S. 89, 103 f. Siehe z. B. Adam I. Zaleski, Pa daroham partyzanskaj Brėstčyny: Narysy ab žycci nasel’nictva ǔ tylu voraha i barac’be suprac’ njamecka-fašysckich akupantaǔ, Minsk 1964; Valerij A. Aleško, Baranoviči: Istoriko-ėkonomičeskij očerk, Minsk 1991.
Medizinische Bildung für „Weißruthenen“: „Mittelschule für medizinisches Personal“ 181
Untersuchungen über Baranavičy im Zweiten Weltkrieg oder über die nationalsozialistische Herrschaft in den besetzten weißrussischen Gebieten wird auf diese Schule wenn überhaupt, dann nur am Rande eingegangen.7 In diesem Beitrag werden die Eröffnung der Schule und die Organisation der Lehre analysiert, das Profil des Lehrpersonals und der Schüler ansatzweise herausgearbeitet sowie ihre Rolle im kulturellen Leben der Stadt Baranavičy thematisiert. Außerdem wird das Bild der „Mittelschule für medizinisches Personal“ in der nationalsozialistischen weißrussisch- und russischsprachigen Besatzungspresse dargestellt. Des Weiteren wird der Versuch der deutschen Zivilverwaltung geschildert, die Schule im Herbst 1943 zu schließen. Im letzten Teil wird untersucht, ob und inwiefern die Mittelschule in Kontakt zu sowjetischen Partisanen stand. Die vorliegende Fallstudie beruht in erster Linie auf der Analyse zahlreicher Publikationen der Zeitungen Belaruskaja hazėta (Minsk), Biełaruski hołas (Wilna), Ranica (Berlin), Novyj put’ (Baranavičy) und Baranavickaja hazėta. Bemerkenswert ist, dass diese Medien und am stärkten gewiss die Baranavickaja hazėza („Baranowitscher Zeitung“) die Entwicklung der Schule aufmerksam verfolgten und diese als Teil der deutschen „Aufbaupolitik“ in den besetzen weißrussischen Gebieten hervorhoben. Die Zeitungen aus Minsk oder Berlin übernahmen dabei in der Regel Publikationen ihrer Kollegen aus Baranavičy, die nicht selten wortwörtlich oder nur leicht stilistisch verändert bzw. verkürzt abgedruckt wurden. Darüber hinaus werden sowjetische Parteiakten aus der Vorkriegszeit, Schriftgut der deutschen Zivilverwaltung, weißrussischer Kollaborationsorganisationen sowie Berichte von Partisanen und auch Erinnerungen von Zeitzeugen ausgewertet. DIE ERÖFFNUNG DER „MITTELSCHULE FÜR MEDIZINISCHES PERSONAL“ Am 20. Februar 1942 fand die Eröffnungsfeier der „Mittelschule für medizinisches Personal“ im „Weißruthenischen Haus“ von Baranavičy statt. Zwei Tage später informierte die Baranavickaja hazėta ihre Leser, dass das Haus mit einem HitlerPorträt sowie mit den deutschen und nationalen weißrussischen weiß-rot-weißen Fahnen dekoriert worden sei. Schulleiter Viktar Vajtėnka (Vojtėnka) sowie Stabsleiter Wolf vom Gebietskommissariat Baranowitsche hätten vor Dozenten, Schülern, Vertretern gesellschaftlicher Organisationen und der Presse ihre Ansprachen gehalten. Während Vajtėnka sich bei der deutschen Zivilverwaltung für die Erlaubnis bedankt habe, die Schule zu eröffnen, habe Wolf der neuen Bildungsanstalt großzügig seine Hilfe und Unterstützung zugesichert.8 Die Tatsache, dass eine „Krankenschwesternschule“ in Baranavičy bereits 1939 nach der Einverleibung des ehemals 7 8
Vgl. bspw. Michail I. Bernat (Hrsg.), Pamjac’: Historyka-dakumental’naja chronika h. Baranavičy i Baranavickaha raëna, Minsk 2000; Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz (Anm. 4). Vgl. Adkryccë školy sjarėdnjaha medycynskaha persanalu, in: Baranavickaja hazėta [Baranavicy] v. 22.2.1942, S. 3.
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polnischen Westweißrusslands durch die UdSSR eingerichtet worden war, wurde vom Baranowitscher Blatt in diesem Zusammenhang aus naheliegenden Gründen nicht thematisiert. Auf diese sowjetische „Krankenschwesternschule“ – in der sowjetische Propaganda als „Errungenschaft der erfolgreichen bolschewistischen Gesundheitspolitik in den westlichen Gebieten der BSSR“ gepriesen – wies etwa der Volkskommissar für Gesundheitswesen der BSSR, Ivan A. Novikaŭ, in seinem Bericht an den weißrussischen Parteichef Panceljajmon K. Panamarėnka am 11. September 1940 hin.9 An dieser Stelle ist zu betonen, dass die ausgewerteten Quellen keine Auskunft über mögliche personelle und fachliche Kontinuitäten zwischen der sowjetischen Bildungsanstalt und der späteren „deutschen“ medizinischen Schule geben. In Bezug auf die 1942 eröffnete „Mittelschule für medizinisches Personal“, die sich an der Franzysk Skaryna-Strasse 12a niederließ,10 hob die Besatzungspresse in den folgenden Monaten vor allem hervor, dass es sich dabei um die erste Berufsschule in Baranavičy nach dem Kriegsausbruch und gleichzeitig um die einzige medizinische Bildungseinrichtung im Generalkommissariat „Weißruthenien“ überhaupt handle.11 LEHRINHALTE Im Frühling und im Sommer 1942 berichteten die Baranavickaja hazėta, die von dem prominenten weißrussischen Schriftsteller Francišak Aljachnovič in Wilna herausgegebene Biełaruski hołas („Weißruthenische Stimme“), die Zeitung Novyj put’ („Der Neue Weg“) aus Barysaŭ und auch das Berliner Blatt Ranica („Morgen“), dass in Baranavičy Heil- und Apotheken-Gehilfen, Krankenschwestern und Hebammen ausgebildet worden seien. Die Ausbildung zur Krankenpflegerin bzw. zum Krankenpfleger und zur Apothekengehilfin/zum Apothekengehilfen dauerte vier Semester, die Hebammen-Ausbildung ein Semester und die Heilgehilfen-Ausbildung sogar ein Jahr länger.12 Im Laufe des Jahres 1942 wurde das Lehrangebot erheblich ausgeweitet, wobei die Abteilungen für Zahn- und Tierarztassistenten 9
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Vgl. Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB). F. (= Fond) 4p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 16833, L. (= List) [Blatt] 8–11, hier: L. 8; zur sowjetischen „Krankenschwesternschule“ siehe auch den Bericht des Volkskommissars Novikaŭ an Panamarėnka v. 15.12.1939 sowie den Beschluss des ZK der KPB(b) „Über die Maßnahmen und das Gesundheitsnetz in den westlichen Gebieten der BSSR“ v. 4. Januar 1940, NARB, F. 4p, O. 1, D. 14917, L. 540–547, hier: L. 543, 547. Vgl. Sjarednjaja škola Medycynskaha Persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 9.9.1942. Vgl. etwa Adkryccë školy sjarėdnjaha medycynskaha persnalu, in: Baranavickaja hazėta v. 22.2. 1942; Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. Škoła siaredniaha medycynskaha persanalu, in: Ranica [Berlin] v. 19.4.1942; B. H., Z Baranavickaj akruhi, in: Biełaruski hołas [Wilna] v. 30.4.1942; Škola siaredniaha medycynskaha persnalu, in: Biełaruski hołas v. 7.5.1942; Na osvoboždennoj zemle, in: Novyj put’ [Barysaǔ] v. 5.7.1942; siehe auch Plan der Belehrung des Medizinmittelschulepersonals, NARB F. 370, O. 1, D. 155, L. 42–44, hier: L. 42.
Medizinische Bildung für „Weißruthenen“: „Mittelschule für medizinisches Personal“ 183
schon im Oktober entstanden,13 obwohl die Schule deren Eröffnung ursprünglich erst für den Frühling 1943 geplant hatte.14 Ab Juli 1942 bildete die „Mittelschule für medizinisches Personal“ zudem auch in speziellen, von der deutschen Zivilverwaltung genehmigten, kostenpflichtigen sechswöchigen Kursen Gymnastik- bzw. Sportlehrer sowie Instrukteure für Rayonschulinspektionen aus. Der Kurs kostete 60 Reichsmark. Die Teilnehmer erhielten zusätzlich auch eine Fahrerausbildung.15 Die Zeitung Biełaruski hołas äußerte am 2. Juli 1942 die Hoffnung, das neue Programm der medizinischen Mittelschule werde den Mangel an Sportlehrern in Weißrussland beheben.16 Das Herbstsemester begann am 1. September und das Frühlingssemester am 1. Februar. Ein Semester dauerte 18 Wochen. Die Lehrpläne wurden von der weißrussischen Schulleitung vorbereitet, die mit der Medizinbildung in Deutschland vertraut war und sich von Deutschland inspirieren ließ. Schon im allerersten Semester erwartete die Schülerinnen und Schüler ein umfassendes Lehrprogramm, wobei die allgemeine Bildung im Mittelpunkt stand: Die künftigen Krankenpfleger/innen, Hebammen, Heil- und Apothekengehilf/innen befassten sich mit Chemie, Physik, Mathematik, „Erdbeschreibung“, der „Geschichte Weißrutheniens“ und auch mit Sprachen (Weißrussisch, Deutsch und Latein). Physik und Chemie wurden als besonders wichtige Fächer betrachtet, für die jeweils 100 Unterrichtstunden vorgesehen waren. Im Fall der Mathematik und „Erdbeschreibung“ beschränkte sich die Schulleitung auf 60 Unterrichtstunden. Der „Geschichte Weißrutheniens“ wurde eine deutlich größere Bedeutung beigemessen: die geplanten 90 Geschichtsstunden sollten offensichtlich das „weißruthenische“ Nationalbewusstsein der Schulanfänger entscheidend verstärken. Im Hinblick auf das Lehrprogramm ist überraschend, dass der Deutschunterricht im Umfang von 60 Unterrichtstunden lediglich im ersten Semester angeboten und die erworbenen Deutschkenntnisse am Ende des Semesters nicht einmal geprüft wurden. Zum Vergleich: Für die Weißrussisch- und Lateinkurse waren 90 Unterrichtsstunden vorgesehen, wobei Latein, Mathematik, Physik und Chemie zu den Prüfungskursen zählten. Nach der intensiven allgemeinen Bildung im ersten Semester setzten sich die Schülerinnen und Schüler im zweiten Semester vor allem mit Anatomie und Physiologie sowie mit Pathologie, Sanitätshilfe, Bakteriologie und anderen Disziplinen auseinander. Ihnen wurden außerdem Grundlagen der Biologie, der Gemeinschafts- und der Gesundheitslehre vermittelt, wobei letzteres Prüfungsfach war. Es ist anzunehmen, dass sie in diesem 13 14 15
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Vgl. Adčynjaecca vėtėrynarnaja škola, in: Belaruskaja hazeta v. 17.10.1942; Vėtėrynarnaja škola, in: Ranica v. 18.10.1942; Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. Pierad novym školnym hodam u siaredniaj škole Medycynskaha Persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 20.9.1942; Siaredniaja škola medycynskaha persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 27.91942. Vgl. Spartovaja škoła, in: Biełaruski hołas v. 2.7.1942; U mėdycynskaj škole, in: Ranica v. 26.7.1942; „Bar. Haz.“, Kurs instruktaraǔ sportu, in: Ranica v. 20.9.1942; Instruktarskija kursy, in: Baranavickaja hazėta v. 22.9.1942; Instruktarskija kursy, in: Ranica v. 4.10.1942; Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. Spartovaja škoła, in: Biełaruski hołas v. 2.7.1942.
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Rahmen wenigstens ansatzweise mit der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ bekannt gemacht wurden.17 Die Schüler, die ihr erstes Studienjahr erfolgreich absolviert hatten, durften sich im dritten Semester für ihren künftigen Beruf entscheiden. Ihr weiteres Studium bestand nunmehr nicht nur aus der Theorie, sondern auch aus der Praxis. Die künftigen Krankenpfleger/innen beschäftigten sich mit der Diagnostik der verschiedenen Arten von Krankheiten, mit Chirurgie, Neurologie, Psychologie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Frauenheilkunde sowie mit anderen medizinspezifischen Fächern. Die Schülerinnen und Schüler der Heilgehilfenabteilung konzentrierten sich in erster Linie auf die inneren, ansteckenden und auch auf Kinderkrankheiten. Sie vertieften sich zudem in die Fächer „Medizingeschichte“ (5. Semester) und „Medizingerichtsbarkeit“ (6. Semester). Die künftigen Apothekengehilfinnen und -gehilfen befassten sich unter anderem mit Botanik, der organischen Chemie, mit Apothekenrecht und Buchführung. Die jungen Frauen, die sich zu Hebammen ausbilden ließen, setzten sich intensiv mit Embryologie, Gynäkologie und weiteren relevanten Disziplinen auseinander.18 Im Januar 1944 mussten sie nach ihrem letzten Herbstsemester die Abschlussprüfungen in Physiologie und Pathologie der Schwangerschaft sowie im Fach „Sozialpflege von Mutter und Kind“ ablegen. Anschließend beabsichtigte der damalige Schuldirektor Jazėp Malecki, den Absolventinnen ihre Diplome zu überreichen. Die feierliche Verabschiedung des Jahrgangs war bereits am 19. Dezember 1943 – noch vor den Abschlussprüfungen – vorgesehen.19 Während die Verabschiedung offenbar stattfand, war Malecki gezwungen, sein Januarprogramm auf Anweisung der Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“ vom 31. Dezember 1943 zu revidieren. Sie untersagte der Schulleitung, die Diplome zu verleihen, denn „keine der zum Examen zugelassenen Schülerinnen“ habe „bei 10 Geburten (Früh- und rechtzeitige Geburt) unter Aufsicht einer anerkannten Hebamme oder des fachmännischen Schularztes an einer dafür zugelassenen Schule“ assistiert. In ihrem Schreiben an den Gebietskommissar in Baranavičy betonte die Abteilung Gesundheit weiterhin, dass die Zahl der Schülerinnen „gegenüber den anfallenden Geburten viel zu hoch“ liege, und empfahl, den Absolventinnen aus Baranavičy an Stelle von Diplomen nur „schriftliche Bescheinigung darüber, dass sie sich der Prüfung unterzogen haben u. mit welchem Erfolg“ auszustellen und die jungen Frauen nach Minsk zu entsenden, wo sie die notwendigen praktischen Erfahrungen sammeln könnten. Erst nach ihrem Minsker Aufenthalt und einer zusätzlichen Weiterbildung durften die ehemaligen Schülerinnen ihre HebammenTätigkeit aufnehmen.20 Zehn von ihnen wurden im gleichen Monat ins Gebietskom17
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Plan der Belehrung des Medizinmittelschulepersonals, NARB, F. 370, O. 1, D. 155, L. 42; siehe hierzu auch Erinnerungen des ehemaligen Schülers Vasil’ Ščėc’ka: Vasil’ Ščėc’ka, Hartajučy staronki bijahrafii, in: Aljaksandar Adzinec (Hrsg.), Pavaennaja ėmihracyja: skryžyvanni lësaŭ, Minsk 2007, S. 435–440, hier: S. 440. Plan der Belehrung des Medizinmittelschulepersonals, NARB F. 370, O. 1, D. 155, L. 42–44. Vgl. Schreiben des Schulleiters Malecki an die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“ v. 14.12.1943, NARB, F.370, O. 1, D. 139a, L. 64. NARB, F. 370, O. 1, D. 139a, L. 66.
Medizinische Bildung für „Weißruthenen“: „Mittelschule für medizinisches Personal“ 185
missariat von Slonim geschickt.21 Die Abteilung Gesundheit und Volkspflege verhielt sich in diesem Fall also deutlich verantwortungsbewusster als die weißrussische Schulleitung, die bestrebt war, die Absolventinnen und Absolventen möglichst schnell aus der Bildungsanstalt zu entlassen. Die deutsche Seite war hingegen darauf bedacht, dass die in einem so verantwortlichen Bereich wie Geburtshilfe eingesetzten weißrussischen Hebammen nicht nur theoretisch ausgebildet waren, sondern auch über genügend Praxiserfahrung verfügten. DAS LEHRPERSONAL Der erwähnte Schuldirektor Jazėp Malecki schilderte in seinen 1976 in Toronto herausgegebenen Erinnerungen den typischen Ablauf von Prüfungen, die in der Schule am Ende des jeweiligen Semesters abgehalten wurden: Die Schüler/innen seien von einer Prüfungskommission aus zwei weißrussischen Ärzten, einer weißrussischen Krankenpflegerin und einer deutschen „Oberschwester“ geprüft worden. Da die Schüler/innen in weißrussischer Sprache geprüft wurden, war die Anwesenheit der „Oberschwester“, welche die Bemühungen der deutschen Seite um die Bildungsanstalt verkörperte, eher eine Formalität. Die Prüflinge hätten ein Kärtchen mit drei Fragen gezogen, die sie schon nach einer Minute (!) hätten beantworten müssen.22. Die Prüfer kamen nicht selten von außen, sogar von außerhalb der Stadt Baranavičy. Ein Beispiel dafür ist Pëtr Slanimski, Leiter der Stadtapotheke in Kleck, der von Rayonchef von Kleck Ende Mai 1943 einen sechstägigen Urlaub erhielt, um eine Prüfung in der medizinischen Schule in Baranavičy abzunehmen.23. Um eine derart stressige Prüfung zu bestehen, mussten sich Schülerinnen und Schüler mit dem von den Dozenten der „Mittelschule für medizinisches Personal“ im Laufe des Semesters vermittelten Stoff gründlich auseinandersetzen. Die Belaruskaja hazėta – die wichtigste weißrussischsprachige Zeitung im Generalkommissariat „Weißruthenien“ – berichtete am 5. Dezember 1942, dass 28 Dozenten (Mediziner, Biologen, Chemiker, Tierärzte, Philosophen und Sprachlehrer) in der Schule beschäftigt seien.24 Unter den Dozenten waren nicht nur Weißrussen, sondern auch wenigstens ein Pole.25 Die zentrale Rolle in der „Mittelschule für medizinisches Personal“ spielten ihre Leiter Anatol’ Bjarozka (Mitrafan Rėpkaŭ-Smarščok),26 Jazėp Malecki, der unierte Priester Leŭ Haroška und vor allem Viktar Vajtėnka. Vajtėnka (1912–1972), 21 22 23 24 25 26
Vgl. Schreiben der Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Gebietskommissariats in Slonim an die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“ in Minsk v. 4. Januar 1944, NARB, F. 370, O. 1, D. 139a, L. 67. Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 117. Vgl. Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 1538, O. 1, D. 161, L. 161. Vgl. Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. Vasil’ Ščėc’ka, Hartajučy staronki bijahrafii (Anm. 17), S. 440. Zu Bjarozka siehe Mitrafan Rėpkaŭ-Smarščok, U Minėsoce njama z kim pahurtaryc’ pa-belarusku, in: Adzinec (Hrsg.), Pavaennaja ėmihracyja (Anm. 17) , S. 338–344; Anatol’ Bjarozka,
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Sohn eines orthodoxen Priesters, schloss 1931 sein Medizinstudium an der Universität Wilna ab. In seiner Studienzeit war er im Weißrussischen Studentenverband in Polen aktiv gewesen. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Westweißrussland (September 1939) leitete der junge Arzt eine Kinderpoliklinik in Baranavičy und arbeitete gleichzeitig im lokalen Rettungsdienst. Nach dem deutschen Einmarsch stieg er zum kommissarischen Bürgermeister der Stadt auf und nahm in dieser Funktion auch an der nationalsozialistischen Judenverfolgung teil. Auf seine Anordnung wurden beispielsweise die Pässe jüdischer Stadteinwohner mit dem Stempel „Jude“ versehen. Dadurch konnten die Besatzer die Juden schnell erfassen und ausselektieren. Im Hinblick auf die Seuchengefahr im Ghetto von Baranavičy hielt Vajtėnka die Vernichtung kranker Juden für zweckmäßig.27 Als Bürgermeister unterstützte der Arzt den Priester Leŭ Haroška (1911–1977), der zunächst bei der Branavickaja hazėta arbeitete und später die Schulleitung übernahm.28 1942 räumte Vajtėnka seinen Bürgermeisterposten für den schon in der Zwischenkriegszeit im polnischen Westweißrussland durchaus bekannten ehemaligen Abgeordneten des polnischen Sejms, Jury Sabaleŭski, und wandte sich der Ausbildung des Pflegepersonals zunächst in Baranavičy und anschließend in Minsk zu. In Minsk erreichte Vajtėnka den Höhepunkt seiner medizinischen Karriere unter der deutschen Okkupation: Der Arzt wurde zum stellvertretenden Direktor der am 15. Januar 1943 eröffneten lokalen „medizinischen Mittelschule“ und gleichzeitig zum Leiter des Ersten Minsker Krankenhauses ernannt. Im Ersten Krankenhaus löste Viktar Vajtėnka den russischen Emigranten Boris Zubarev ab. Die Entlassung Zubarevs ist vor allem auf die Intrigen der Leitung des „Weißruthenischen Selbsthilfswerkes“ – der damals wichtigsten Organisation der nationalistisch, antisemitisch, antipolnisch und antirussisch gesinnten weißrussischen Kollaborateure – zurückzuführen, welche die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissars „Weißruthenien“ mit „eingehenden Berichten“ über den unbequemen russischstämmigen Mediziner versorgte: Der Abteilungsleiter Hans Wolfgang Weber betonte Mitte Dezember 1942 in seinem Schreiben an den Stadtkommissar von Minsk, der „Reichsdeutsche“ Zubarev, der für die Verbesserung der Lage im Krankenhaus habe sorgen sollen, habe eine „starke Neigung zum Großrussentum“ gezeigt, Weißrussisch nicht lernen wollen und nicht einmal seine Deutschkenntnisse „vervollständigt“. Im Krankenhaus würden Russisch und Polnisch gesprochen. Sein Nachfolger Vajtėnka wurde von Dr. Weber gleichzeitig als „weißruthenischer
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Maë sėrca ŭžo spynjalasja, in: Dzejasloŭ 27 (2007), http://www.dziejaslou.by/inter/dzeja/dzeja.nsf/htmlpage/biar27?OpenDocument (1.3.2015). Vgl. Šerman, Baranovičskoe getto (Anm. 4), S. 7; Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz (Anm. 4), S. 119; Juras’ Harbinski, Belaruskija rėlihijnyja dzejačy XX st. Žyccjarysy. Martyralohija. Uspaminy, Minsk München 1999, S. 39; Hanna Surmač, Žančyny belaruskaha zamežža. Ljudmila Bakunovčï, in: Belarus 581 (Juni 2011), http://zbsb.org/index.php?option=com_content&view=article&catid=3%3A2008-03-26-14-12-11&id=4829 %3A2011-07-26-12-11- 45&Itemid=23 (1.3.2015). Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 91, 96; zu Haroška siehe Ajcec Leŭ Haroška, Praz naval’nicy j njahody. Uspaminy z hadoŭ 1930–1944. Frahmėnty, in: Ljavon Jurėvič (Hrsg.), Belaruskaja mėmuarystyka na ėmihracyi, New York 1999, S. 192–204.
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Arzt“ vorgestellt, der seine neue Stelle aus „politischen Gründen“ erhalte.29 Auf Zubarev, der mit den Deutschen nach Weißrussland gekommen war, nach dem Krieg in der UdSSR als „Verräter“ verurteilt und in der sowjetischen Presse Anfang der 1970er Jahre überraschend ausgewogen dargestellt wurde,30 wollte die Abteilung Gesundheit und Volkspflege jedoch nicht verzichten. Der Arzt wurde in die weißrussische Provinz – nach Lida – versetzt und sollte dort „ein größeres Krankenhaus“ leiten.31 Einige Monate später erteilte auch Vajtėnka das Schicksal seines Vorgängers: Im Mai 1943 wurde er aus unbekannten Gründen nach Slonim berufen, wo er den in dieser Provinzstadt seit November 1942 beschäftigten „Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten“ Ivan Geniuš ersetzte, dem „die Ausübung einer Privatpraxis …innerhalb des Generalbezirks Weißruthenien“ verboten worden war.32 In der Endphase des Krieges wurde Vajtėnka schließlich zum Arzt-Inspekteur der „Weißruthenischen Heimwehr“ (Belaruskaja kraëvaja abarona) ernannt. Nach dem Krieg lebte der durch seine Mitwirkung an der verbrecherischen nationalsozialistischen Judenpolitik belastete ehemalige Bürgermeister und Schulleiter ungestört zunächst in Westdeutschland und ab 1950 in den USA. Er trug den neuen Namen Vasileŭski, arbeitete als Arzt und wurde Ende der 1960er Jahre zum orthodoxen Priester geweiht.33 Jazėp Malecki (1906–1982), der ähnlich wie Vajtėnka in der weißrussischen studentischen Bewegung in Polen aktiv gewesen war und an der Universität Wilna Medizin studiert hatte, würdigte in seinen Erinnerungen die erfolgreiche Entwicklung der „Mittelschule für medizinisches Personal“ unter seinem jüngeren Vorgänger Vajtėnka. In diesem Zusammenhang wies er etwa auf die große Zahl von Schüler/innen und Dozent/innen hin. Gleichzeitig bemängelte Malecki eine gewisse Planlosigkeit in der Bildungsanstalt unter Vajtėnka und stellte außerdem das tragische Schicksal des Oberarztes aus der Stadt Baranavičy, Lukašėnja, dar. Dieser habe die sowjetische Partisanenbewegung unterstützt, sei verhaftet und ins Konzentrationslager Kaldyčava bei Baranavičy eingewiesen worden. Dort kam er ums Leben. Auch seine Frau habe den Krieg nicht überlebt.34 Die Tatsache, dass Lukašėnja in der Anfangsphase des Krieges jüdischen Kollegen zu helfen versucht und zudem einigen jüdischen Medizinern ermöglicht hatte, außerhalb des Ghettos 29 30 31 32 33 34
Vgl. NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 9; siehe auch Schreiben des Hauptleiters des „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“ Ivan Ermačėnka an den Generalkommissar „Weißrutheniens“, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 10. Vgl. A. Us u. Uladzimirava, Viktoryja, in: Holas Radzimy 3 (Januar 1973) u. 4 (Januar 1973), S. 6. Schreiben des Leiters der Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“ Weber an den Stadtkommissar von Minsk v. 15.12.1942, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 9. Schreiben Weber an den Gebietskommissariat in Slonim und an den Gebietskommissar in Baranavičy v. 6.5.1943, NARB, F. 370, O. 1, D. 148a, L. 56a u. 97. Vgl. Harbinski, Belaruskija rėlihijnyja dzejačy XX st. (Anm. 27), S. 39 f.; Surmač, Žančyny belaruskaha zamežža (Anm. 27). Hierzu siehe auch Ljavon Jurėvič (Hrsg.), Mėmuary na ėmihracyi, Minsk 2005, S. 123, 142 f. Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 99; Šerman, Baranovičskoe getto (Anm. 4), S. 7.
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zu bleiben,35 erwähnte Malecki nicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lukašėnja auch in der medizinischen Schule unterrichtete bzw. Mitglied von Prüfungskommissionen war. DIE SCHÜLER/INNEN Die Besatzungspresse stellte in ihren Publikationen einen kontinuierlichen Anstieg der Schülerzahlen fest. Für das allererste Frühlingssemester 1942 bewarben sich 200 junge Frauen und Männer hauptsächlich aus dem Gebiet Baranavičy. 160 von ihnen wurden aufgenommen und begannen ihr Studium im Februar 1942. Zu den Prüfungen wurden nach dem ersten Semester 150 Schülerinnen und Schüler zugelassen.36 Die „deutsche“ medizinische Schule war also von Anfang an zahlenmäßig größer als ihre sowjetische Vorgängerin: 1940 waren in Baranavičy 120 Jugendliche medizinisch ausgebildet worden,37 obwohl man die Zahl der Schüler zunächst auf 100 hatte beschränken wollen.38 In einem Bericht vom 21. Juni 1942 sparte die Berliner Zeitung Ranica nicht mit Lob für die zielstrebigen Anfänger, die sich seit Februar hervorragend entwickelt hätten und auch neuen Schülern ein gutes Beispiel gäben.39 Im Herbstsemester 1942 kamen weitere 210 Schüler hinzu; 60 neue Bewerbungen wurden allerdings abgelehnt.40 Am 20. September 1942 unterstrich die Baranavickaja hazėta zufrieden, die Anzahl der Bewerbungen steige weiterhin „trotz der schwierigen Kriegsbedingungen des heutigen Lebens“.41 Die „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy war die zahlenmäßig größte Berufsschule in der Stadt und eine weitgehend weibliche Bildungsanstalt.42 So wurden im Herbstsemester 1942 aus den neuen Schülerinnen und Schülern zwei weibliche Gruppen, eine männliche Gruppe und eine gemischte Gruppe
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Vgl. Šerman, Baranovičskoe getto (Anm. 4), S. 7. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942. Vgl. Bericht des Volkskommissars für Gesundheitswesen der BSSR, Ivan A. Novikaŭ, an den Sekretär des ZK der KPB(b) Panceljajmon K. Panamarėnka über den Zustand des Gesundheitswesens in den westlichen Gebieten der BSSR nach einem Jahr der Sowjetmacht v. 11.9.1940, NARB, F. 4p, O. 1, D. 16833, L. 8–11, hier: L. 11. Vgl. Bericht des Volkskommissars für Gesundheitswesen der BSSR, Ivan A. Novikaŭ, an den Sekretär des ZK der KPB(b) Panceljajmon K. Panamarėnka v. 15.12.1939 sowie den Beschluss des ZK der KPB(b) „Über die Maßnahmen und das Gesundheitsnetz in den westlichen Gebieten der BSSR“ v. 4. Januar 1940, NARB, F. 4p, O. 1, D. 14917, L. 540–547, hier: L. 543 u. 547. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942. Vgl. Dzjaǔčaty žadajuc’ vučycca, in: Belaruskaja hazėta v. 22.7.1942; U mėdycynskaj škole, in: Ranica v. 26.7.1942. Pierad novym školnym hodam u siaredniaj škole Medycynskaha Persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 20.9.1942. Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 90.
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gebildet.43 Diese Besonderheit veranlasste die Belaruskaja hazėta am 22. Juli 1942, die lernwilligen weißrussischen Mädchen zu preisen.44 Vier Tage später berichtete die Ranica, dass die neuen Schüler sogar besser vorbereitet seien als ihre älteren Kommilitonen.45 In einem anderen Beitrag über Baranavičy hob die Zeitung explizit hervor, dass alle Schüler/innen Mitglieder des oben genannten „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“ (Belaruskaja narodnaja samapomač, BNS) seien.46 Dies war keinesfalls überraschend: Der Schulleiter Vajtėnka, den die Leitung dieser Organisation später bei seinem Minsker Karriereabschnitt kräftig unterstützte, stand an der Spitze der BNS-Zweigstelle in Baranavičy. Diese Zweigstelle eröffnete noch im Februar 1942 eine kostenlose medizinische Beratungsstelle für Kinder und junge Mütter, die der Arzt selbst betreute.47 Zudem gehörte das von dem „Weißruthenischen Selbsthilfewerk“ ausgestellte „Moralzeugnis“ bzw. die BNS-Mitgliedsnummer neben Geburtsurkunde, Passkopie, Schulzeugnis und Lebenslauf im Juni 1942 zu den Bewerbungsunterlagen für die Schule.48 Einige Monate später – nachdem das BNS und ihr ambitionierter Leiter, Dr. med. Ivan Ermačėnka bei den deutschen Besatzern in Ungnade gefallen und die Organisation in der Folge aufgelöst worden war – wurde die BNS-Buch-Nummer nicht mehr angefordert. Die BNSZweigstelle war auch nicht mehr für die Ausstellung der „Moralzeugnisse“ zuständig. Eine weitere Veränderung betraf das Alter der Bewerber. Die Mädchen und Jungen, die an der „Mittelschule für medizinisches Personal“ lernen wollten, mussten mindestens 16 Jahre alt sein.49 In einer privilegierten Lage befanden sich Jugendliche, die während ihrer Schulbildung vor dem Krieg einen vollständigen Physik- und Chemiekurs absolviert hatten sowie mit den Grundlagen der lateinischen Sprache vertraut waren. Sie durften ihr Studium in der Schule gleich im zweiten Semester beginnen.50 Die Schulleitung war darum bemüht, die medizinische Ausbildung auch Mädchen und Jungen zu ermöglichen, die außerhalb der Stadt Baranavičy wohnten. Für diese Gruppe wurde ein Wohnheim eingerichtet.51 So durfte etwa auch der junge Mikalaj S. aus dem Dorf Lozy, der sich am 19. Februar 1942 beim Schulinspekteur in Baranavičy schriftlich um einen Platz in der Schule beworben hatte,52 auf eine 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Vgl. Dzjaǔčaty žadajuc’ vučycca, in: Belaruskaja hazėta v. 22.7.1942; U mėdycynskaj škole, in: Ranica v. 26.7.1942. Vgl. Dzjaǔčaty žadajuc’ vučycca, in: Belaruskaja hazėta v. 22.7.1942. Vgl. U mėdycynskaj škole, in: Ranica v. 26.7.1942. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942. Vgl. Bjasplatnyja lekarskija parady, in: Baranavickaja hazėta v. 22.2.1942, S. 3. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942. Vgl. Sjarednjaja škola Medycynskaha Persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 9.9.1942; Sjarednjaja škola Medycynskaha persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 27.9.1942. Vgl. Sjarednjaja škola Medycynskaha persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 27.9.1942. Vgl. Škoła siaredniaha medycynskaha persnalu, in: Ranica v. 19.4.1942; Škola siaredniaha medycynskaha persnalu, in: Biełaruski hołas v. 7.5.1942. Vgl. GAMn, F. 1540, O. 1, D. 1, L. 21.
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Zusage hoffen. Dafür musste er jedoch zunächst die Aufnahmeprüfungen in den Fächern „Mathematik“ und „Weißrussisch“ bestehen.53 Das letzte Prüfungsfach wurde offensichtlich von der nationalistisch gesinnten Schulleitung nicht zuletzt dazu verwendet, Nichtweißrussen (Polen und auch Russen) auszuschließen, die der weißrussischen Sprache in der Regel unzureichend mächtig waren. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die „weißruthenische Abstammung“ als notwendige Voraussetzung für die Bewerbung nicht eingeführt wurde. Das Aufnahmeprüfungsfach „Weißrussisch“ und noch mehr die verlangten Geburtsurkunden ermöglichten der Schulleitung jedoch, die „unerwünschten Nichtweißruthenen“ (Polen, Russen) auszusortieren. Dass dies erfolgte, bestätigt der vom Schulleiter Vajtėnka nach dem Frühlingssemester 1942 verfasste Bericht an die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“. Darin betonte er stolz, die Apothekergehilfenabteilung habe 32 Schülerinnen und Schüler „weissruthenischer Volkszugehörigkeit“, die im nächsten Semester ein Wochenpraktikum in einer Apotheke absolvieren sollten und nach ihrem Studium sowie „nach einer gewissen Praxis /3 Monate/ als selbstständige Apothekengehilfen werden arbeiten können.“54 Junge Polen oder Russen durften im „befreiten Weißruthenien“ auch keine Sportlehrer werden. Die Zeitung Biełaruski hołas unterstrich am 2. Juli 1942, dass nur „Weißrutheninnen“ und „Weißruthenen“ die Sportlehrerausbildung in der „Mittelschule für medizinisches Personal“ absolvieren durften. Von den Bewerberinnen und Bewerbern wurde u. a. eine ärztliche Bescheinigung über ihren Gesundheitszustand verlangt. Das Aufnahmeprüfungsfach war wiederum „Weißruthenische Sprache“.55 DIE MEDIZINISCHE SCHULE IM KULTURELLEN LEBEN VON BARANAVIČY Im Hinblick auf die durchaus große Bedeutung, die der weißrussischen Sprache und Geschichte in der Schule beigemessen wurde, ist es nicht überraschend, dass die Bildungsanstalt bereits 1942 eine bemerkenswerte Rolle im kulturellen Leben der Stadt Baranavičy spielte. In der Presse wurde systematisch über Kulturveranstaltungen berichtet, auf denen Laienkünstler auftraten, die als Schüler/innen an der medizinischen Schule lernten.56 Die Zeitung Ranica wies am 21. Juni 1942 etwa auf die Drama-, Literatur- und Volkstanzgruppen sowie auf den Chor der medizinischen Schule hin, in dem beinahe die Hälfte der Schüler gesungen habe.57 Am 22. 53 54 55 56 57
Vgl. Sjarednjaja škola Medycynskaha Persanalu ǔ Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 9.9.1942. NARB, F. 370, O. 1, D. 155, L. 45. Vgl. Spartovaja škola, in: Biełaruski hołas v. 2.7.1942; U zdarovym ciele, zdarovy duch!, in: Baranavickaja hazėta v. 21.8.1942. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942; Novy navučalny hod u medycynskaj škole, in: Baranavickaja hazėta v. 4.11.1942; Kancerty, in: Baranavickaja hazėta v. 16.12.1942. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942.
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November 1942 nahmen künftige Mediziner und weitere Berufsschüler der Stadt an einem Konzert im „Weißruthenischen Haus“ teil, an dem auch der Gebietskommissar Rudolf Werner, Wehrmachtsoffiziere, Bürgermeister Jury Sabaleŭski sowie Gäste aus Minsk (Chef der Schulinspektion beim Generalkommissar „Weißrtuhenien“ Joseph Siwitza, Referent der Schulabteilung des Generalkommissariats Dr. Jaŭchim Skurat, Schriftsteller Jazėp Najdzjuk) anwesend waren.58 In ihrem Bericht über diese Veranstaltung lobte die Belaruskaja hazėta am 5. Dezember 1942 besonders die Leistung des Chors der „Mittelschule für medizinisches Personal“ und die von ihren Schüler/innen dargebotenen Deklamationen und Volkstänze Ljavonicha, Juračka, Kryžačok und Bul’ba. Sehr wahrscheinlich waren auch unter den Laienkünstlern Schüler/innen, denen die deutsche Zivilverwaltung an diesem Abend Bücher als Geschenke überreichte.59 DIE „MITTELSCHULE FÜR MEDIZINISCHES PERSONAL“ UND DIE NATIONALSOZIALISTISCHE BESATZUNGSPRESSE Die nationalsozialistische Besatzungspresse ging in ihren Publikationen auf die medizinische Schule ein, um die „großen Erfolge“ des „weißruthenischen“ Schulwesens hervorzuheben. Diese „Erfolge“ wurden auf die umfassende deutsche Unterstützung zurückgeführt.60 Vom künftigen medizinischen Personal – „fröhlichen“ und „glücklichen“ Jugendlichen des „weißruthenischen“ Teils des „Neuen Europas“ Adolf Hitlers – verlangte die Propaganda einen Beitrag zur „vollständigen Wiedergeburt des weißruthenischen Volkes“. Diesen Beitrag sollten sie zunächst als fleißige, hartnäckige, „körperlich und geistig gesunde“ Schüler mit ausgeprägtem „weißruthenischem Bewusstsein“ und später als qualifizierte Fachkräfte im Dienste ihres Vaterlandes leisten. Sie sollten nicht vergessen, wem sie die „Befreiung vom jüdisch-bolschewistischen Joch“ und die Möglichkeit zu lernen verdankten: den Deutschen, ihrem „Führer“ und ihrem „Dritten Reich“.61 Die deutsche Vorbildfunktion wurde in den Pressepublikationen über die Schule systematisch unterstrichen. Als Beispiele dafür können etwa der oben schon erwähnte Bericht der Baranavickaja hazėta über die Eröffnungsfeier der Schule (22. Februar 1942) und die Reportage derselben Zeitung über die feierliche Eröffnung der Abteilung für Tierarzt-Gehilfen am 29. Oktober 1942 im „Weißruthenischen Haus“ (4. November 1942) herangezogen werden. Im Februar zitierte das Blatt Stabsleiter Wolf, der in einer Ansprache die Aufgaben des deutschen und des weißrussischen medizinischen Personals verglich: Deutsche Mediziner hätten eine 58 59 60 61
Vgl. U Baranavičach, in: Baranavickaja hazėta v. 25.11.1942; Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942. Vgl. etwa Adkryccë školy sjarėdnjaha medycynskaha persnalu, in: Baranavickaja hazėta v. 22.2.1942; siehe auch Škoła siaredniaha medycynskaha persanalu, in: Ranica v. 19.4.1942. Siehe hierzu etwa Pad nacyjanal’nym scjaham (Baranavičy), in: Belaruskaja hazėta v. 1.8.1942; Zjezd škol’nych inspektaroǔ u Miensku, in: Baranavickaja hazėta v. 21.8.1942; Mėdyčnaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.12.1942.
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„ehrenvolle Aufgabe“. Sie brächten Kriegsverwundete ihren Familien und ihrem Vaterland wieder. Der Auftrag ihrer weißrussischen Kollegen sei nicht weniger „ehrenhaft“. Diese hülfen ihrem eigenen Volk in Not. Außerdem belehrte Wolf die Schüler, dass die Mediziner immer pünktlich und hilfsbereit zu sein hätten. Diese [typisch deutschen] Charaktereigenschaften sollten die jungen Weißrussen nunmehr entwickeln.62 Ende Oktober übernahm der Regierungsinspekteur Kempf die Mentorrolle. Er thematisierte die wichtige Bedeutung der Abteilung für TierarztGehilfen für die weißrussische Gesellschaft und rief die Schuljugend dazu auf, gut zu lernen, ihre Körperhygiene zu pflegen und sich selbstlos für ihr Vaterland einzusetzen. Die Baranavickaja hazėta betonte, Kempf habe frenetischen Applaus geerntet und für einen großen „geistigen Aufschwung“ der anwesenden Jugend gesorgt. Mit seinem emotionalen Beitrag habe der Deutsche die weißrussischen Redner blass aussehen lassen: den Schulleiter Vajtėnka, der die Entwicklung der Schule skizzierte, den stellvertretenden Bürgermeister Šybut, der auf die große Rolle von Tierärzten in der Entwicklung der lokalen Landwirtschaft hinwies, und auch den Bürgermeister Sabaleŭski, der die Gelegenheit nutzte, um die Bolschewiki und Polen scharf anzugreifen.63 Ähnlich wie Bürgermeister Sabaleŭski in seiner Rede griff die Besatzungspresse die medizinische Bildungsanstalt im Kontext ihrer antisowjetischen, antipolnischen sowie auch antisemitischen Propaganda auf. So führte zum Beispiel die Zeitung Ranica in ihrem Beitrag über die ersten „Erfolge“ der Schule am 21. Juni 1942 den aktuellen medizinischen Fachkräftemangel in Weißrussland auf die Entwicklungen vor dem deutschen Einmarsch zurück: Unter der polnischen Herrschaft seien Bildungsmöglichkeiten für Weißrussen sehr rar gewesen. In Sowjetweißrussland seien vor allem Juden und auch Russen im Gesundheitswesen dominant gewesen.64 Mit dem „schädlichen“ Polentum (pal’ščyzna), das das Bewusstsein der „Weißruthenen“ in der Zwischenkriegszeit vergiftet habe, setzte sich ein Korrespondent der Belaruskaja hazėta in Baranavičy in einem umfassenden Beitrag am 1. Juli 1942 auseinander. Der Autor hob die medizinische Schule und auch weitere Bildungsanstalten der Stadt als Merkmal des „weißruthenischen Nationallebens“ hervor, das sich im Gebiet Baranavičy immer weiter entwickele, sowie als wichtigen Schritt im „Kampf für die Sache unseres Vaterlandes“.65 Einen Monat später veröffentlichte die Belaruskaja hazėta einen weiteren Artikel über Baranavičy. Darin zitierte man den Generalkommissar „Weißrutheniens“ Wilhelm Kube, der es für essentiell hielt, die Fachkräfte „…feindlicher Nationalitäten“, d. h. Juden, Polen oder Russen durch „Weißruthenen“ zu ersetzten. Die Zeitung betonte, dass die Jugend in Baranavičy in Berufsschulen und insbesondere in der medizinische Schule
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Adkryccë školy sjarėdnjaha medycynskaha persnalu, in: Baranavickaja hazėta v. 22.2.1942. Novy navučalny hod u medycynskaj škole, in: Baranavickaja hazėta v. 4.11.1942. Vgl. Mėdycynskaja škola, in: Ranica v. 21.6.1942. U zmahan’ni za spravu našaj Bac’kaǔščyny (Ad našaha spėcyjal’naha karėspandėnta), in: Belaruskaja hazėta v. 1.7.1942.
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lernen wolle. Das Blatt war der festen Überzeugung: der Wunsch „unseres Generalkommissars“ (!) werde erfüllt.66 MEDIZINER ODER OSTARBEITER? DIE „MITTELSCHULE FÜR MEDIZINISCHES PERSONAL“ IM SEPTEMBER 1943 Im Frühjahr 1942 hatte das Gebietskommissariat Baranowitsche dringend medizinisches Personal benötigt. So war die „Mittelschule für medizinisches Personal“ entstanden, die in den folgenden Monaten zahlreiche Fachkräfte ausbildete. In der zweiten Jahreshälfte 1943 änderte sich die Situation: Die deutsche Kriegsniederlage begann sich abzuzeichnen. Die deutsche Kriegswirtschaft war auf die Zwangsarbeiter aus den besetzten Ostgebieten angewiesen. Auch aus Baranavičy, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt, fuhren Waggons mit jungen Zwangsarbeitern nach Deutschland ab. Im Herbst 1943 waren die Berufsschüler an der Reihe. Am 12. September 1943 beschloss die deutsche Zivilverwaltung, die 1942 eröffneten Kunst-, Handels- und Technikschulen67 und auch die medizinische Schule aufzulösen und die Schüler nach Deutschland abzutransportieren. Die am 14. September durchgeführte Aktion blieb aber weitgehend erfolglos. Der Direktor der medizinischen Schule Haroška, der die Schüler vor der bevorstehenden deutschen Aktion gewarnt hatte und gegen den gewaltsamen Abtransport der Schüler zu protestieren wagte, wurde festgenommen. Sein Vorgänger Jazėp Malecki berichtete später in seinen Erinnerungen, dass die Aktion in Baranavičy Panik unter der Schuljugend im gesamten Gebietskommissariat hervorgerufen habe. In dieser Situation habe die Zivilverwaltung ihren Beschluss zurückgenommen und Haroška freigelassen. Die „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy bestand schließlich bis zum deutschen Abzug:68 Am 14. Juni 1944 veröffentlichte die in der Stadt erschienene Zeitung Novyj put’ („Der neue Weg“) eine kleine Anzeige über die am 3. Juli bevorstehende Aufnahmeprüfung für das kommende Herbstsemester. Die Bewerber und Bewerberinnen hätten ihre Anträge bis zum 1. Juli einreichen sollen.69 Die geplante Prüfung fand höchstwahrscheinlich nicht statt, denn die Rote Armee eroberte am 8. Juli die Stadt Baranavičy.
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Pad nacyjanal’nym scjaham (Baranavičy), in: Belaruskaja hazėta v. 1.8.1942. Zu diesen Schulen vgl. Mastackaja škola ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 5.4.1942; Mastackaja škola, in: Biełaruski hołas v. 7.4.1942; U zmahan’ni za spravu našaj Bac’kaǔščyny (Ad našaha spėcyjal’naha karėspandėnta), in: Belaruskaja hazėta v. 1.7.1942; Ab tėchničnaj škole ǔ Baranavičach, in: Belaruskaja hazėta v. 20.9.1942. Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 90 f.; Bjarozka, Maë sėrca ŭžo spynjalasja (Anm. 26); Rėpkaŭ-Smarščok, U Minėsoce njama z kim pahurtaryc’ pa-belarusku (Anm. 26), S. 341 f.; Ščėc’ka, Hartajučy staronki bijahrafii (Anm. 17), S. 440. Vgl. Nabor učaščichsja v medicinskuju školu, in: Novyj put’ [Baranavičy] v. 14.6.1944.
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SOWJETISCHE PARTISANEN UND DIE MEDIZINISCHE SCHULE IN BARANAVIČY Malecki schrieb in seinen Erinnerungen darüber hinaus, dass das Stadtkrankenhaus in Baranavičy und auch die „Mittelschule für medizinisches Personal“ ins Blickfeld der sowjetischen Partisanen gerieten, die sowohl Mediziner als auch Medikamente in ihrem Kampf gegen die deutschen Besatzer brauchten. Verbindungen mit Partisanen habe beispielsweise der Schulhausmeister Raman B. gepflegt, der den Untergrundkämpfern eine Schreibmaschine aus dem Schulsekretariat beschafft und sich später auch einer Partisaneneinheit angeschlossen habe.70 Die Partisanen sammelten Informationen über Schüler/innen und Absolventen der Schule, die sie zu rekrutieren planten. Ein Beispiel dafür ist ein undatierter, offenbar 1943 erstellter Partisanenbericht über die Stadtapotheke von Njasviž. In der Stadtapotheke hätten dem Bericht zufolge insgesamt zehn Personen gearbeitet, von denen zwei – Anna Ch. (Jahrgang 1925) und Vera D. (Jahrgang 1926) – die medizinische Schule erfolgreich abgeschlossen hatten. Ch. wurde im Bericht als Sympathisantin der Sowjetmacht und D. als Sympathisantin der „antideutschen Befreiungsbewegung“ charakterisiert.71 Diese jungen, medizinisch ausgebildeten Weißrussinnen waren für die sowjetische Seite offensichtlich als potentielle Partisaninnen interessant. Ungewiss ist, ob die Partisanen tatsächlich versuchten, diese jungen Frauen für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Der Versuch, einen 17jährigen Schüler zu rekrutieren, endete mit einer Tragödie. Malecki berichtete, dass dieser „sehr gute Schüler und Tänzer“ sich geweigert habe, sich einer Partisaneneinheit anzuschließen und dafür vor den Augen seiner Eltern erschossen worden sei.72 ZUSAMMENFASSUNG Die „Mittelschule für medizinisches Personal“ in Baranavičy wurde nach den tragischen Entwicklungen der ersten Kriegsmonate eröffnet. Die Bildungsanstalt sollte weißrussisches medizinisches Personal ausbilden und auf diese Weise die Situation im durch die Entlassung und Ermordung jüdischer und weiterer „unerwünschter“ Fachkräfte erschütterten weißrussischen Gesundheitswesen verbessern. Die Schule entwickelte sich sehr schnell sowohl qualitativ als auch quantitativ. Laienkünstler aus der Schule bereicherten das kulturelle Leben der Stadt Baranavičy. Die rasante Entwicklung der Bildungsanstalt ist vor allem auf die Tätigkeit ihres ersten, durchaus energischen Leiters Viktar Vajtėnka zurückzuführen. Unter der deutschen Okkupation machte Vajtėnka eine bemerkenswerte – durch Aufstiege und Rückschläge gekennzeichnete – Karriere und wirkte auch bei der Judenverfolgung mit.
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Vgl. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 113 f. GAMn, F. 1549, O. 1, D. 34, L. 125. Malecki, Pad znakam Pahoni (Anm. 5), S. 114.
Medizinische Bildung für „Weißruthenen“: „Mittelschule für medizinisches Personal“ 195
Die Besatzungspresse setzte sich intensiv mit der „Mittelschule für medizinisches Personal“ auseinander, veranschaulichte an ihrem Beispiel die „Erfolge“ des Wiederaufbaus „Weißrutheniens“, vermittelte dabei ihre Wertvorstellungen und vor allem das Wunschbild der engagierten, nationalistisch gesinnten, mit deutschen Vorbildern vertrauten „glücklichen“ Schuljugend des „vom jüdischen Bolschewismus befreiten Weißrutheniens“ und benutzte die Bildungsanstalt für ihre antisemitische, antisowjetische und antipolnische Propaganda. 1943 befand sich die „Mittelschule für medizinisches Personal“ in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits bemühten sich die sowjetischen Partisanen um die Rekrutierung von Schulmitarbeiter/innen, Schüler/innen und Absolvent/innen; andererseits versuchte die deutsche Zivilverwaltung, die der Schule noch im Frühjahr 1942 ihre Unterstützung zugesichert hatte, die Bildungsanstalt zu schließen, um das Zwangsarbeiteraufkommen zu erhöhen. Mehrere Dozenten und Schüler/innen verließen 1944 die Stadt zusammen mit den Deutschen.73 Diejenigen, die in der Sowjetunion blieben, erwartete zunächst eine sorgfältige Überprüfung durch die sowjetische Staatssicherheit. Einige von ihnen wurden festgenommen und als „Kollaborateure“ zu Lagerhaft verurteilt.74 Nach der Vertreibung der Wehrmacht wurde in Baranavičy erneut eine medizinische Schule eröffnet.75
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Vgl. Rėpkaŭ-Smarščok, U Minėsoce njama z kim pahurtaryc’ pa-belarusku (Anm. 25), S. 342; Bjarozka, Maë sėrca ŭžo spynjalajsja (Anm. 25); Ščėc’ka, Hartajučy staronki bijahrafii (Anm. 16), S. 441. Vgl. Ales’ Hizun, Lehenda pra baranavickaha karalja, in: Intex-Press v. 1.7.2010, http://www. intex-press.by/ru/810/50/4411/ (1.3.2015). Vgl. Istorija učreždenija centra, http://barmed.brest.by/history.htm (1.3.2015).
IV. GESUNDHEITSWESEN ZWISCHEN PROPAGANDA UND WIRKLICHKEIT
ÄRZTE IN DER SOWJETISCHEN PROPAGANDA VOR DEM DEUTSCHEN ÜBERFALL AUF DIE UDSSR Andrei Zamoiski Die Entwicklung des sowjetischen Gesundheitswesens, die Bildung und Lage von Medzinern werden in mehreren westlichen und postsowjetischen Arbeiten beleuchtet. Die Darstellung der Mediziner in der bolschewistischen Propaganda, die im Mittelpunkt dieses Beitrages steht und am Beispiel Weißrusslands beleuchtet wird, wird dabei selten aufgegriffen.1 Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zwischenkriegszeit, die Kriegs- und Okkupationszeit selbst sowie die unmittelbare Nachkriegsphase. Noch vor der Oktoberrevolution spielten Ärzte eine wesentliche gesellschaftliche Rolle in Weißrussland, obwohl ihre Zahl in dieser Zeit nur gering war. Sie beteiligten sich am politischen und kulturellen Leben und genossen häufig einen guten Ruf in der Bevölkerung.2 So wusste die Landbevölkerung Landärzte zu schätzen, die rastlos arbeiteten und für Hausbesuche einen Weg bis zu mehreren Dutzend Kilometern in Kauf nahmen.3 Auch unter den Juden im Zarenreich genossen Mediziner großes Ansehen. Manchmal wurden sie sogar mit einer Mittlerfunktion betraut, um mit den Behörden über die Sicherheit ihrer Glaubensbrüder zu verhandeln: Im sowjetisch-polnischen Krieg 1920 zum Beispiel übernahm der Arzt Skvirskij diese Funktion in der westweißrussischen Ortschaft Mir.4 Nach der Etablierung ihrer Diktatur maßen die Bolschewiki den Medizinern in ihrer Propaganda große Bedeutung bei. Der erste sowjetrussische Volkskommissar für Gesundheitswesen, Nikolaj Semaško, erklärte, die Trennung einer „Medizin der Reichen“ von der „Medizin der Armen“ habe nun ein Ende. Die sowjetische Regie1
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Vgl. etwa Christine Böttcher, Das Bild der sowjetischen Medizin in der ärztlichen Publizistik und Wissenschaftspolitik der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1998; Michail E. Abramenko, Zdravooсhranenie BSSR – stanovlenie sovetskoj sistemy (1917–1941 gg.), Homel’ 2005; Susan Gross Solomon (Hrsg.), Doing Medicine Together: Germany and Russia Between the Wars, Toronto, Buffalo u. London 2006; Natal’ja T. Eregina, Vysšaja medicinskaja škola Rossii 1917–1953, Jaroslavl’ 2010; Leanid Marakoŭ, Rėprėsavanyja medycynskіja і vetėrynarnyja rabotnіkі Belarusі, 1920–1960, Mіnsk 2010; Frances Bernstein, Christopher Burton u. Dan Healey (Hrsg.), Soviet Medicine: Culture, Practice, and Science, Dekalb (IL) 2010. S. Balkovec, Pervye šagi sovetskogo zdravoochranenija v Belorussii (Vospominanija učastnika), in: Belaruskaja Mėdyčnaja Dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke] (nachfolgend BMD) 9–12 (1927), Heft III, S. 28–29. Ales’ Adamovič, Iz avtobiografii 1962 g., in: Sobranie sočinenij, Bd. 1,Vojna pod kryšami, Minsk 1981, S. 616–617. Ignacy Einhorn, Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej w Polsce w latach 1921–1950, S. 45, YIVO Archives in New York (nachfolgend YIVO), 81/106, P. 8864.
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rung verkündete, jeder Werktätige könne sich kostenfrei von einem erstklassigen Fachmediziner helfen oder beraten lassen.5 Während des russischen Bürgerkriegs wurde diese These von der sowjetischen Propaganda stets wiederholt, um die Bevölkerung für sich einzunehmen. Ein Teil des medizinischen Personals unterstützte die neuen Machthaber jedoch nicht, sondern lehnte die bolschewistische Herrschaft ab. MEDIZINER IN DER SOWJETISCHEN PROPAGANDA DER 1920ER JAHRE In der Phase der „Neuen Ökonomischen Politik“ nach dem Bürgerkrieg lockerten die Bolschewiki die staatliche Kontrolle über verschiedene Lebensbereiche. Die Presse berichtete über Entwicklungen in der medizinischen Forschung, schilderte den Arbeitsalltag von Ärzten und würdigte einzelne Mediziner für vorbildliche Pflichterfüllung. Exemplarisch kann an dieser Stelle auf einen Mitte Januar 1925 in der Babrujsker Zeitung Kommunist veröffentlichten Leserbrief hingewiesen werden, in dem ein örtlicher Arzt für seine vorbildliche Fachkompetenz gelobt wurde.6 Private Arztpraxen wurden in dieser Zeit zwar alles andere als positiv wahrgenommen, doch konnten staatliche Ärzte allein den Bedarf der Bevölkerung an medizinischer Betreuung nicht decken, so dass das Phänomen privater Praxen geduldet werden musste. Der Volkskommissar für Gesundheitswesen der BSSR, Michail Barsukoŭ, forderte 1926, private Arztpraxen einer genauen Kontrolle seitens der Gesundheitsbehörden zu unterstellen.7 Private Ärzte wurden in der Presse nicht selten vernichtend kritisiert. Die zitierte Zeitung Kommunist befasste sich beispielsweise am 15. Mai 1925 mit dem Mediziner Fridlent, der so hohe Preise für Behandlungen und Arzneien verlangt habe, dass die Patienten seine Dienste und Medikamente nicht hätten bezahlen können.8 Auch der Kampf gegen so genannte „Quacksalberei“, das „Arzthelfertum“ (fel’dšerstvo) von als Ärzten tätigen Laien, fand in der Propaganda seinen Niederschlag. Die Presse überschüttete „Quacksalber“ mit Spott und Hohn, verurteilte sie als „Scharlatane“ und „Schwindler“ und kritisierte
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Nikolaj Semaško, Zdravoochranenie v Sovetskoj Rossii [Gesundheitswesen in Sowjetrussland], in: Sbornik statej k s’’ezdu Sovetov, Moskau 1918, S. 4. Vot tak vrači (Broža 2-go Bobrujskogo raёna), in: Kommunist [Bobrujsk] v. 11.1.1925, S. 2. Michail Barsukov (= Michail Barsukoŭ), Proletarskaja suščnost’ sovetskogo zdravoochranenija [Der proletarische Charakter des sowjetischen Gesundheitswesens], in: BMD 9–12 (1927), S. 3–10. Siehe zudem eine spezielle Verordnung der weißrussischen Regierung (1926). Sbor Zakonov i Rasporjaženij Pravitel’stva BSSR 1926 goda [Sammlung der Gesetze und Verordnungen der Regierung der Weißrussischen SSR] 45 (1926), Art. 169. Medicina na sele. Ne vrač, a kožeder (selo Pireviči Žlobinskogo raёna), in: Kommunist [Babrujsk] v. 15.5.1925, S. 3; Gosudarstvennyj archiv obščestvennyh ob’’edinenij Gomel’skoj oblasti [Staatsarchiv für gesellschaftliche Organisationen des Gebietes Homel’] (nachfolgend GAOOGO) F. (= Fond) 3, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 714, L. (= List) [Blatt] 85–86, 361.
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auch deren Kunden auf dem Lande scharf.9 Man hielt es insbesondere für inakzeptabel, dass die Bevölkerung ihre Dienste weiterhin in Anspruch nahm, obwohl medizinische Fachkräfte zur Verfügung standen10 – eine auch für das polnische Westweißrussland typische Situation auf dem Land, wo die Bevölkerung auch dann, wenn qualifizierte medizinische Fachkräfte vorhanden waren, weiterhin von den Diensten der „Quacksalber“ Gebrauch gemacht habe.11 Die „inkompetenten Arzthelfer“, die für ihre Patienten angeblich sogar gefährlich waren, wurden gebrandmarkt.12 Gleichzeitig wurden durch bestimmte Gesetze Beschäftigungsregeln für Mediziner festgelegt, um widerrechtliche „Behandlungen“ zu unterbinden. In der Presse wurde oft über Praktiken berichtet, die nicht viel mit wissenschaftlicher Medizin zu tun hatten. So hielt eine Hebamme in der Ortschaft Ljuboničy (Gebiet Mahilëŭ) den Bauern Vorträge über die Bibel und versuchte sie damit zum Kirchenbesuch zu überreden, anstatt medizinische Aufklärung zu betreiben13. Angesichts der rigorosen antireligiösen Kampagne in der Sowjetunion stellte die „Religiosität“ einer Hebamme eine ernst zu nehmende Anschuldigung dar. MEDIZINER IN DER STALINISTISCHEN PROPAGANDA DER 1930ER JAHRE Mit der Festigung des stalinistischen Regimes Ende der 1920er Jahre wurde das Bild der Ärzteschaft in der sowjetischen Propaganda zunehmend politisiert: Neue Aufgaben der Sowjetmedizin wurden verkündet. In Fragen der medizinischen Versorgung ließ man sich von äußerst pragmatischen Faktoren leiten: Angesichts der angestrebten Industrialisierung musste die Gesundheit der Arbeiterklasse gestärkt werden. Im Kontext der Industrialisierung wurde die Ärzteschaft vor die Aufgabe gestellt, die Krankheitsraten unter den Arbeitern zu senken – dies sollte deren Leistung steigern und die Erfüllung der Fünfjahrespläne sicherstellen.14 Mit der voranschreitenden Kollektivierung wurde der medizinischen Versorgung von Kolchos9 10
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Michas’ Lyn’kov, Vёska Cjaluša [Dorf Cjaluša, Bezirk Bobrujsk], in: Kommunist [Babrujsk] v. 6.12.1925, S. 2. Ergebnisse der Überprüfung von Sowjets durch das Zentralexekutivkomitee der BSSR (15.1.1931), Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 701, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 92, L. (= List) [Blatt] 178–180ob. Kongreß der Bezirksärzte der Woiwodschaft Nowogródek vom 13.10.1925, Archiwum Akt Nowych (AAN) w Warsazwie [Zentralarchiv für moderne Akten in Warschau] (nachfolgend AAN), Z. (= Zespól) [Bestand] 15, T. (= Teczka) [Akte] 491, K. (= Kartka) [Blatt] 3. Fel’dšer Araškevič, in: Kommunist [Babrujsk] v. 15.5.1925, S. 3. Takich rabotnikov nam ne nado (mestečko Ljuboniči 1-go Bobrujskogo raёna), in: Kommunist [Babrujsk] v. 15.5.1925, S. 3. Prikaz Narkomzdrava, in: Zdravoochranenie na puti k proizvodstvu. Dlja massovogo aktiva kolchoznikov i udarnikov, Moskau 1931, S.6–7, Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii [Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte] (nachfolgend RGASPI), F. 357, O.1, D. 127, L. 7.
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bauern gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Ärzte sollten die medizinische Versorgung während der Aussaatkampagne gewährleisten. Die Propaganda stellte den damit betrauten sowjetischen Arzt dem Arzt vor der Oktoberrevolution gegenüber, der „sich ohne Arbeit langweilte“, da die Bauern auf dem Feld beschäftigt waren und sich nicht an ihn wendeten.15 Seit Beginn der 1930er Jahre wurden Ärzte – wie auch Lehrer – intensiv mit der Durchführung von verschiedenen Kampagnen beauftragt, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit ihren ärztlichen Aufgaben standen. Die Ärzteschaft hatte viele Kontakte zur Bevölkerung und genoss ein gewisses Ansehen, welches sich die bolschewistischen Machthaber bewusst für ihre politischen Ziele zu Nutze machen wollten. So wurden etwa die Mitglieder der medizinischen Gewerkschaft an so genannten, in der Propaganda besonders hervorgehobenen, Sammelkampagnen (z. B. die Spendensammlung für die „GenosseKaganovič-Staffel“ im Jahre 1933) beteiligt, die bei der Bevölkerung äußerst unpopulär waren.16 Hin und wieder wurden in der Presse auch negative Figuren aus der Ärzteschaft vorgestellt. Dennoch erschienen diese als Einzelfälle, mit keinerlei Bezug zu den (strukturellen) Mängeln des sowjetischen Gesundheitswesens. Auch veröffentlichte man ab und zu Berichte, die die Arbeit der Ärzteschaft und der Verwaltung vereinzelter Heilanstalten beanstandeten. So griff die Zeitung Komunist aus Babrujsk im März 1935 einen Arzt und eine Krankenschwester an, die Patienten unfair behandelt und ihre ärztlichen Pflichten missachtet hätten, was tragische Folgen, nämlich den Tod eines Patienten, nach sich gezogen habe.17 Die Presseberichte bedurften in der Regel einer offiziellen Reaktion, so dass jeder einzelne Verstoß gegen die ärztliche Disziplin durch die medizinische Gewerkschaft, durch Partei- und Staatsorgane sowie die Leitung der jeweiligen Heilanstalt überprüft wurde. Gelegentlich führten diese Überprüfungen – wie etwa in der psychiatrischen Klinik in Mahilëŭ – zur tatsächlichen Verbesserung der Situation.18 An die Presse wandten sich nicht nur unzufriedene und gekränkte Patienten, sondern auch das medizinische Personal von Heilanstalten im Falle einer offenen Konfrontation mit deren Verwaltung. Jedoch musste man von den gegen die Leitung erbrachten Anschuldigungen oft abrücken.19 Auch unzufriedene Patienten, die sich zu beschweren wagten, wurden manchmal bestraft. Ein Beispiel dafür ist der Patient Soročinskij, der 1935 die schlechte Situation im Krankenhaus von Barysaŭ kritisiert hatte und daraufhin beschuldigt wurde, als „Offizier der zaristi15 16 17 18 19
A. Harbač, Saveckaja achova zdaroŭja і rolja ŭrača ŭ paseŭnaj і ŭboračnaj kampanіjach [Sowjetischer Gesundheitsschutz und die Rolle des Arztes in Aussaat- und Erntekampagnen], Minsk 1933, S. 6. Zusammenstellung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft der Arbeitnehmer im Gesundheitswesen vom 25.8.1933, NARB, F. 305, O. 2, D. 183, L. 7. Bryhada hazėty „Komunist“, Pakončyc’ z bezdušnymі adnosіnamі da chvorych, in: Komunist [Babrujsk] v. 6.3.1935, S. 3, vgl. eine Kopie des Artikels in: NARB, F. 305, O. 2, D. 198, L. 143. Vgl. dazu auch den Beitrag von Andrei Zamoiski zu Psychiatern in Weißrussland in diesem Band. NARB, F. 305, O. 2, D. 167, L. 23–25.
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schen Armee“ falsche Informationen verbreitet zu haben. Anschließend befasste sich der NKVD mit dem Fall Soročinskij.20 Ein weiteres wichtiges Merkmal der sowjetischen Berichterstattung über Mediziner bildete der Vergleich des Gesundheitswesens in der Sowjetunion und im Russischen Zarenreich vor der Oktoberrevolution. Sowjetische Autoren hatten eine besondere Vorliebe für statistische Vergleiche zwischen den gegenwärtigen Leistungen und den „dunklen“ Zeiten des zaristischen Absolutismus. Man hob außerdem voller Schadenfreude Probleme im Gesundheitswesen außerhalb der UdSSR hervor. Verurteilt wurde beispielsweise die mangelnde medizinische Versorgung von Arbeitern und deren Familienangehörigen in den von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten deutschen und polnischen Städten. Dabei wurde betont, dass medizinische Versorgung unerschwinglich für die „Werktätigen“ sei; auch Suizidfälle unter den Familienangehörigen von Arbeitern wurden als durch wirtschaftliche Probleme verursacht propagandistisch ausgeschlachtet.21 Die sowjetische Medizin wurde in der Presse und in Propagandabroschüren mit der ausländischen Medizin verglichen. Der Volkskommissar für Gesundheitswesen der UdSSR, Michail Vladimirskij, bemerkte 1930, dass sich das sowjetische Gesundheitswesen grundlegend vom Gesundheitswesen in den kapitalistischen Ländern unterscheide. Das Ziel des kapitalistischen Gesundheitswesens sei es, „den Kranken zu helfen, wohingegen in der UdSSR die Gesundheit der gesamten werktätigen Bevölkerung geschützt werden solle.“22 Die sowjetische Propaganda betonte stolz, dass sowjetische Mediziner im Dienste der Gesellschaft stünden, indem sie den Werktätigen medizinische Leistungen kostenlos anböten. Die Ärzte im Westen müssten dagegen den Krisenbedingungen standhalten; ihre wirtschaftliche Lage sei erbärmlich und so seien sie gezwungen, vorwiegend wohlhabende Bürger zu behandeln.23 Einige ausländische Mediziner wurden zudem sehr negativ dargestellt: Die sowjetische Journalistin Mariėtta Šaginjan berichtete am 10. Februar 1935 in der Pravda über profitgierige schweizerische Psychiater. Sie wendeten zwar moderne Heilverfahren an, seien aber in erster Linie am Honorar interessiert. Hingegen arbeiteten sowjetische Psychiater nicht nur unentgeltlich, sondern begriffen auch den sozialen Charakter psychischer Krankheiten.24 Der zitierte Volkskommissar Vladimirskij stellte im Juli 1932 ein großes Interesse für die Entwicklung der sowjetischen Medizin im Ausland fest.25 Ausländische Ärzte, welche die Sowjetunion besuchten, wurden ausschließlich mit ausgewählten Informationen versorgt, die das sowjetische Gesundheitswesen in 20 21 22 23 24 25
NARB, F. 305, O. 2, D. 198, L. 187, 188. Z. Šmіdt, Socyjalіstyčnaja achova zdaroŭja na pradpryemstve [Sozialistische Gesundheitsversorgung im Industriebetrieb], Minsk 1935, S. 7. Vortrag von M. F. Vladimirskij über die anstehenden Aufgaben im Aufbau von Kolchosen sowie Aufgaben der ärztlichen Öffentlichkeit, Moskau, 11. Februar 1930, RGASPI, F. 357, O. 1, D. 121, L. 12. SSSR i strany kapitalizma [Die UdSSR und die kapitalistischen Länder], Moskau 1937, S. 42. Mariėtta Šaginjan, O Psichiatrii [Über die Psychiatrie], in: Pravda v. 10.2.1935, S. 6. Protokoll einer Beratung der leitenden Ärzte des Volkskommissariats für Gesundheitswesens der RSFSR, Vortrag M. F. Vladimirskijs am 17. Juli 1932, RGASPI, F. 357, O. 1, D. 147, L. 4.
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ein günstiges Licht rückten. Ihnen wurden lediglich Vorzeige-Anstalten in Hauptstädten oder großen Kurorten gezeigt, austauschen durften sie sich nur mit einem bestimmten Kreis von „überprüften Genossen“. Dadurch entstand bei ausländischen Kollegen ein verzerrtes Bild des sowjetischen Gesundheitswesens, das sie nicht selten in ihren im Westen veröffentlichten und in der UdSSR rezipierten Berichten verbreiteten.26 In den 1930er Jahren nahmen Ärzte aktiv an unterschiedlichen Propagandakampagnen teil. So wurden Ärzte häufig Abgeordnete in verschiedenen Sowjets auf der Rayon-, Stadt-, Republik- oder Unionsebene. Zu einer Art Sprachrohr des sowjetischen Gesundheitswesens in der Republik wurde der Therapeut Professor Sergej Melkich.27 Als Abgeordneter des Obersten Sowjets der BSSR stellte er der Bevölkerung in der Presse rosige Zeiten für das sowjetische Gesundheitswesen in Aussicht.28 1939 wurde er für seine treue Arbeit und Forschung und als einer der besten Mediziner der UdSSR mit dem Ehrentitel „Verdienter Wissenschaftler“ ausgezeichnet.29 Seine erfolgreiche Karriere verdankte er – wie viele damalige Professoren – seiner Ergebenheit gegenüber dem stalinistischen Regime.30 Melkich und auch seine Kollegin Ol’ga Kovel’ aus dem Rayon Uvaravičy (Gebiet Homel’) zählten zu den „besten Menschen“ Sowjetweißrusslands. Die Zeitung Kalektyvist („Kollektivist“) aus Uvaravičy berichtete Anfang November 1939 über die junge Ärztin Kovel’. Diese Kandidatin für die Parteimitgliedschaft sollte Abgeordnete im Rayonsowjet werden: Kovel’ habe eine allgemeinbildende Schule besucht und das Medizinstudium absolviert. Eine starke emotionale Bindung zu ihrer Arbeit (sie sei „selten zu Hause anzutreffen“), die aufmerksame und taktvolle Behandlung von Patienten („die Gesundheit vieler Kranker wurde gerettet“), ihre politische Bildung (Auseinandersetzung mit dem stalinschen „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU“) sowie ihr glühender Sowjetpatriotismus zeichneten sie laut Zeitungsbericht besonders aus.31 26
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Anna J. Haines, Health work in Soviet Russia, New York 1928; James Purves-Stewart, A physician’s tour in Soviet Russia, New York 1933; F. Lemetr, Putevye zametki. Vpečatlenija o sovetskoj medicine [Reiseanmerkungen. Eindrücke zur sowjetischen Medizin], Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. Р-8009, O. 1, D. 57, L. 15. Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N. Peresada (Hrsg.), Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta (1921–1996): biografičeskij spravočnik [Lehrstuhlinhaber und Professoren des Minsker medizinischen Instituts 1921–1996], Minsk 1999, S. 49. Vystuplenie deputata S. Melkich na Vneočerednoj Tret’ej sessii Verchovnogo Soveta BSSR [Vortrag des Abgeordneten S. Melkich auf der außerordentlichen dritten Sitzung des Obersten Sowjets der BSSR], in: Za torf [Asіntorf] v 21.11.1939, S. 2. Otčet Central’nogo Komiteta professional’nogo sojuza rabotnikov Mediko-sanitarnogo truda BSSR (Fevral’ 1938 g.- nojabr’ 1939 g.) [Bericht des Zentralkomitees der Gewerkschaft der Arbeitnehmer im Gesundheitswesen der BSSR (Februar 1938 – November 1939)], Moskau 1939, S. 17. Mehr zu diesem Thema im Beitrag von J. Wiggering und A. Zamoiski über Professor Michail Krol’ in diesem Band. Soveckі Urač, in: Kalektyvіst [Uvaravіčy] v. 7.11.1939, S. 3.
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Im Rahmen der in der UdSSR während der zweiten Hälfte der 1930er Jahre vorangetriebenen „Entlarvung“ vermeintlicher ausländischer Spione wies die Presse auf „Volksfeinde“ hin, welche versucht hätten das Gesundheitswesen zu zerstören. 1937 wurden „antisowjetische Verschwörungen“ im Volkskommissariat für Gesundheitswesen der BSSR, im ZK des Roten Kreuzes der Republik und an Hochschulen „aufgedeckt“.32 Der neue weißrussische Volkskommissar für Gesundheitswesen und zugleich Hauptredakteur der weißrussischen medizinischen Zeitschrift, Kuz’ma Kisjalëŭ, gab den Ton an bei der Propagandakampagne gegen „Volksfeinde“ an der „medizinischen Front“. Diesen „Volksfeinden“ wurde vorgeworfen, „Ausbrüche verschiedener Epidemien wie Dysenterie, Flecktyphus und Unterleibstyphus“ herbeizuführen.33 Zwischen 1937 und 1938 wurden in der BSSR zahlreiche Ärzte festgenommen und verurteilt. In diesem Zusammenhang erscheint der Fall Aleksandr Semënov besonders interessant: Nach der Verhaftung dieses Oberarztes im Rayonkrankenhaus in Hlusk wandten sich seine Patienten an die NKVD-Rayonabteilung und baten um Aufklärung des Falls. Überraschenderweise wurde der in Haft gefolterte Semënov daraufhin freigelassen und kehrte ins Krankenhaus zurück.34 Die noch in den 1920er Jahren in der Propaganda angegriffenen – oft zurückgezogen lebenden –„Kurpfuscher“ wurden in den 1930er Jahren durch den NKVD nicht selten als „Klassenfeinde“ und „ausländische Spione“ wahrgenommen und verfolgt.35 Zudem betonte man die außerhalb der UdSSR angeblich verbreitete Vorliebe für Mystizismus und Hexerei.36 Diese Tendenz war allerdings auch in der atheistischen Sowjetunion – auch angesichts der stalinistischen Säuberungen und der daraus resultierenden allgemeinen Unsicherheit – verbreitet. Bemerkenswert ist in diesem Kontext ein Fall vom Sommer 1940, welcher sich im Rayon Lel’čycy (Gebiet Palesse) ereignete und der von den Parteiorganen für vertraulich erklärt wurde: Während einer Dürreperiode gruben einige Frauen die Leiche der lokalen „Hexe“ aus, da dies Regen herbeiführen würde, wie die Frauen glaubten. Da es danach tatsächlich regnete (was die Bauern in ihrem Aberglauben bestärkte), beschloss die Parteileitung, eine spezielle aufklärende Kommission in diesen Rayon zu entsenden mit dem Arbeitsauftrag, den Atheismus vor Ort zu fördern.37 In der Presse wurde in den 1930er Jahren in der Regel nicht mehr über „Quacksalber“ berichtet: Offiziell war diese „schädliche Entwicklung“ zu diesem Zeitpunkt längst beseitigt. Eine Ausnahme bildete die Kampagne gegen illegale 32 33 34 35 36 37
Prestupnye dela tvorjatsja v CK O-va Krasnogo Kresta, in: Rabočij [Minsk] v. 1.8.1937, S. 3; Očistit’ apparat Narkomzdrava BSSR ot vreditelej i ich posobnikov, in: ebd. v. 10.8.1937, S. 3. Blok fašistskich špionov, vreditelej i ubijc, in: Medicinskij Žurnal BSSR 1–2 (1938), S. 4–5. Leanid Marakoŭ (Hrsg.), Rėprėsavanyja medycynskіja і vetėrynarnyja rabotnіkі Belarusі 1920–1960, Mіnsk 2009, S. 579. Erklärung des Gebietskomitees Polack der KP(b)B an den Kandidaten der KP(b)B, NARB, F. 4p, O. 1, D. 12078, L. 157–160. Semёn Vol’fson, Kul’tura i ideologija zagnivajuščego zapada [Kultur und Ideologie des dekadenten Westens], Minsk 1935, S. 91. Bericht an den Sekretär des ZK der KP(b)B, Genossen Malin, vom Leiter des Sektors für gedruckte und mündliche Agitation, Maškov [1940], NARB, F. 4p, O.1, D. 13974, L. 47.
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Schwangerschaftsunterbrechungen im Zusammenhang mit dem Abtreibungsverbot von 1936. „Quacksalber“ und „Kräuterweiber“ wurden dabei gesetzwidriger Abtreibungspraktiken bezichtigt.38 In den 1930er Jahren betonte die Propaganda auch die wichtige Rolle der Mediziner in der militärischen Ausbildung der Bevölkerung und in der Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der UdSSR.39 Man setzte sich zudem intensiv mit der Ausbildung von Medizinern auseinander. Die vor allem quantitativen Erfolge in diesem Bereich (Erhöhung der Zahl von Ärzten) wurden als eine große Errungenschaft der Sowjetmacht hervorgehoben.40 Die Ausbildungsmöglichkeiten für künftige Mediziner in der UdSSR stellte man denen in „kapitalistischen Ländern“ gegenüber, wobei betont wurde, dass den angehenden sowjetischen Medizinerinnen und Medizinern das „Allerheiligste“ anvertraut werde: die Gesundheit der Werktätigen, die Gesundheit der Erbauer des Sozialismus.41 Nach der Einverleibung Westweißrusslands 1939 war die sowjetische Agitprop bestrebt, auch die dortige Bevölkerung vom „glücklichen“ Leben in der UdSSR zu überzeugen. Zu diesem Zweck wies sie auf die angebliche Überlegenheit der sowjetischen Medizin hin und thematisierte den schnellen Aufbau des sowjetischen Gesundheitswesens in den weißrussischen Gebieten.42 Wie so oft unterschied sich die tatsächliche Situation jedoch erheblich von den Propagandaberichten: Eine medizinische Einrichtung bestand nicht selten aus nicht mehr als einigen in einem Zimmer zusammengedrängten Betten in einem zuvor beschlagnahmten Dorfgebäude; als Arzneimittel war mitunter lediglich Jodtinktur vorhanden.43
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41 42 43
Vgl. dazu auch den Artikel von A. Pesetsky über die Mütter- und Kinderfürsorge in diesem Band. Nikolaj Propper-Graščenkov, Vstupitel’noe slovo na otkrytii konferencii mikrobiologov, ėpidemiologov i infekcionistov [Eröffnungsrede auf einer Konferenz von Mikrobiologen, Epidemiologen und Infektionsärzten.], Moskau 1939, S. 5–6; Zdravoochranenie v tret’ej Stalinskoj Pjatiletke [Die Gesundheitsversorgung im dritten Stalinschen Fünfjahresplan], Moskau 1939, S. 77. Nach offiziellen Angaben stiegen die Kosten im Gesundheitswesen des Landes von 1929 bis 1939 auf mehr als das 15-fache, in einzelnen Republiken, so auch in Weißrussland, auf das 20-fache. Am Ende des zweiten Fünfjahresplanes erreichte die Anzahl der Ärzte in der UdSSR 105 000 Personen – fünfmal mehr als noch 1905, vgl. dazu: Redeentwurf des Stellvertreters des Volkskommissars für Gesundheitswesen, Genossen Propper-Graščenkov, für die dritte Sitzung des Obersten Sowjets [vor dem 26. Mai 1939], GARF, F. P-8009, O. 1, D. 310, L. 21, 28, 29. Propper-Graščenkov, Vstupitel’noe slovo (Anm. 39); Zdravoochranenie v tret’ej Stalinskoj Pjatiletke (Anm. 39). Ivan Nowikow, Ochrona Zdrowia w Sowieckiej Białorusi, in: Nowe Życie [Grajewo] v. 28.10. 1939, S. 2. Daniel Boćkowski, Na zawsze razem: Białostocczyzna i Łomżyńskie w polityce radzieckiej w czasie II wojny światowej (IX 1939–VIII 1944), Warschau 2005, S. 66.
Ärzte in der sowjetischen Propaganda vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR
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MEDIZINER IN DER KRIEGSPROPAGANDA Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR gingen sowohl die Sowjets als auch die deutschen Besatzer und einheimischen Kollaborateure in ihrer Propaganda auf Mediziner ein. Sowjetische Autoren schilderten den Aufbau der sowjetischen Kriegsmedizin und würdigten den Beitrag der Ärzte zum schnellstmöglichen Sieg über den Feind. So hob die in Moskau erscheinende Militärzeitung Krasnaja zvezda („Roter Stern“) die Bereitschaft zahlreicher Ärzte hervor, freiwillig an die Front zu gehen. Sowjetische Frauen wurden aufgerufen, medizinische Berufe zu erlernen und somit der Roten Armee zu helfen. In der sowjetischen Presse wurden Berichte über die Heldentaten und die aufopfernde Arbeit der Mediziner auf Schlachtfeldern, in Feldlazaretten und in Heilanstalten im Hinterland veröffentlicht. Militärärzte thematisierten in ihren Beiträgen nationalsozialistische Verbrechen in den besetzten Gebieten, insbesondere die Vernichtung von Verwundeten und Gewaltaktionen gegen Kinder.44 Die sowjetische Untergrundpresse in den besetzten Gebieten berichtete über Partisanenärzte, die nach wie vor und unter schwersten Bedingungen ihre Dienstaufgaben erfüllten und damit ihr Leben aufs Spiel setzten. Hochqualifizierte Fachmediziner – ihre Namen wurden aus Sicherheitsgründen oft nicht genannt – leisteten unter Luftangriffen, Gewaltaktionen der Besatzer und Epidemien leidenden Dorfbewohnern medizinische Hilfe. Gleichzeitig wurden die Veränderungen im Gesundheitswesen unter der deutschen Okkupation gebrandmarkt. Im Mittelpunkt der Kritik stand die nun nicht mehr unentgeltliche medizinische Hilfe, die damit für viele Menschen unerschwinglich geworden sei. Der Arzneimangel führe zu einer hohen Mortalitätsrate, insbesondere unter Kindern. Man registrierte zudem die Verbreitung von Laienärzten.45 Die Partisanen sammelten Informationen über Mediziner in den besetzten Gebieten und erstellten Berichte, so genannte Charakteristika, über einzelne Ärzte und ihr Verhalten in der Kriegszeit. Ärzte, die im Krieg privat praktizierten, wurden in der Regel negativ beurteilt.46 Deutsche Ärzte wurden in der sowjetischen Propaganda als unmenschliche Verbrecher dargestellt. In satirischen Publikationen tauchten außerdem deutsche Psychiater auf, welche die „wahnsinnige“ NS-Führung behandelten. Als „wahnsinnig“ galt auch der Arzt Ivan Ermačėnka, ein hochrangiger weißrussischer Kollaborateur und Anführer des „Weißruthenischen Hilfswerks“.47 Weißrussische Mediziner in den besetzten Gebieten waren von ihren deutschen Kollegen nicht selten enttäuscht. Professor Ivan Vetochin beispielsweise hatte vor 44 45 46 47
Za rabotu, boevye podrugi!, in: Krasnaja Zvezda [Moskau] v. 2.7.1941, S.3; Vrači i učёnye chotjat echat’ na front, in: Krasnaja Zvezda [Moskau] v. 3.7.1941, S. 3. Medicinskaja pomosč’ naseleniju [Medizinische Versorgung der Bevölkerung], in: Uperad! [Lіda] v. 1.5.1944, S. 4; K. Vіktar, Fašysckae ljačėnne chvoryсh [Faschistische Behandlung von Kranken], in: Socyjalіstyčnaja praca [Vasіlevіčy] 20 (1943), S. 2. NARB, F. 1450, O. 1, D. 199, L. 101. Nebjaspechnaja chvaroba, in: Razdavіm fašysckuju hadzinu, März (1942), S. 2; Taras Paljaščuk, Jak ujaŭljae Samapomač Jarmačėnka, in: ebd., Oktober (1942), S. 2. Zur Person Ermačėnkas vgl. auch den Beitrag von Andrei Zamoiski zu Psychiatern in Weißrussland in diesem Band.
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Andrei Zamoiski
1933 persönlich deutsche Ärzte kennen gelernt und war mit der Entwicklung der Medizin in der Weimarer Republik vertraut. 1943 gelangte er zu der Ansicht, der Nationalsozialismus habe die deutschen Mediziner „entmenschlicht“.48 Die nationalsozialistische Besatzungspresse wiederum kritisierte das sowjetische Gesundheitswesen vernichtend und pries in ihren Publikationen diejenigen Mediziner, die den „jüdischen Bolschewismus“ ablehnten, als gute Fachleute und ehrliche Patrioten „Weißrutheniens“ ihre beruflichen Pflichten zum Wohle des Volkes ehrenhaft erfüllten und beim „Aufbau“ des Landes unter der deutschen Okkupation aktiv mitwirkten. So wurde in der Zeitung Hazeta Sluččyny („Slucker Zeitung“) der Mediziner Aljaksej Mjacel’ski gepriesen. Der Arzt der Pionierabteilung der „Weißruthenischen Heimwehr“ in Kapyl’ war in der Nacht auf den 26. Mai 1944 in seiner eigenen Wohnung von sowjetischen Untergrundkämpfern in die Luft gesprengt worden.49 MEDIZINER IN DER SOWJETISCHEN PROPAGANDA NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Nach der Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee und mit dem Beginn des Wiederaufbaus der Wirtschaft und des Gesundheitswesens befasste sich die sowjetische Propaganda erneut mit Medizinern. Die Presse berichtete über in Weißrussland eingetroffene Fachmediziner, über neu ausgebildete Kader und über die Bildung von Sanitätsgruppen. Das Propagandabild von der Ärzteschaft in der Nachkriegszeit entsprach im Großen und Ganzen dem zu Ende der 1930er Jahre. Man geißelte sporadisch Sünden einzelner Mediziner: Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin, Trunksucht usw.50 Ähnlich wie vor 1941 galten die steigende Zahl der Mediziner und der allgemeine Zugang zu medizinischer Betreuung als Beweise für den Erfolg des sowjetischen Gesundheitswesens. Im Rahmen der antisemitischen Kampagne Anfang der 1950er Jahre („Ärzteverschwörung“) verbreitete die Presse aber auch das Feindbild der heimtückischen [jüdischen] „Giftmörder-Ärzte“.51
48 49 50 51
Information über die Situation in der besetzten Stadt Minsk, welche die Partisanen von Ivan Vetochin erhalten haben (1942, 1943), NARB, F. 750, O. 1, D. 224, L. 16. Pamjacі njabožčyka [Erinnerungen an den Verstorbenen], in: Hazeta Sluččyny [Sluck] v. 4.6.1944, S. 4, NARB, F. 1393, O. 1, D. 40, L. 41. Pa sljadach vystuplennjaŭ „Saveckaj Radzіmy“, in: Saveckaja Radzіma [Babrujsk] v. 6.3.1945, S. 4. Podlye špiony i ubijcy pod maskoj professorov-vračej, in: Pravdа [Moskau] v. 13.1.1953, S. 1; Aleksandr N. Jakovlev (Hrsg.), Gosudarstvennyj antisemitizm v SSSR. Ot načala do kul’minacii. 1938–1953 [Staatlicher Antisemitismus in der Sowjetunion. Vom Anfang bis zum Höhepunkt. 1938–1953], Moskau 2005, S. 462.
Ärzte in der sowjetischen Propaganda vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR
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ZUSAMMENFASSUNG Die propagandistische Auseinandersetzung mit Medizinern ist ein wichtiges Merkmal der sowjetischen – und im Krieg auch der deutschen – Propaganda in Weißrussland im Untersuchungszeitraum. So nutzte die sowjetische Propaganda vor 1941 das Bild der Ärzteschaft, um die Errungenschaften des sowjetischen Gesundheitswesens zu veranschaulichen und somit die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen. In den 1920er Jahren wurde der Aufbau des sowjetischen Gesundheitswesens in Weißrussland thematisiert. Man bekämpfte so genannte „Quacksalber“ und „inkompetente Arzthelfer“ und prangerte Missstände in vereinzelten medizinischen Einrichtungen der Republik an. Nach der Etablierung der stalinistischen Gewaltherrschaft wurden Mediziner zu „treuen Genossen“ und „ehrlichen Patrioten“ stilisiert und im Rahmen diverser Propaganda- und Mobilisierungskampagnen instrumentalisiert. Die Situation im Gesundheitswesen außerhalb der UdSSR wurde sehr negativ dargestellt, während man die erfolgreiche Ausbildung der sowjetischen Mediziner hervorhob und die hohen staatlichen Ausgaben im Gesundheitsbereich sowie die steigende Qualität der medizinischen Leistungen betonte. Zahlreiche Ärzte wurden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als vermeintliche „ausländische Spione“ festgenommen und hingerichtet. Im deutsch-sowjetischen Propagandakrieg würdigte die sowjetische Propaganda Mediziner als selbstlose Kämpfer gegen die deutsche Besatzung und geißelte die „unmenschlichen“ deutschen Ärzte. Die nationalsozialistische Besatzungspresse propagierte währenddessen ihr eigenes Idealbild des „weißruthenischen Mediziners“. Die sowjetische Nachkriegspropaganda betonte wiederum den schnellen Aufbau des Gesundheitswesens in Weißrussland und entfachte 1952 und 1953 eine antisemitische Kampagne gegen die so genannten „Mörder-Ärzte“.52 Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
52
Minna Lapidus, Čelovek v tragičeskie minuty istorii. Vospominanija vrača [Der Mensch in den tragischen Momenten der Geschichte. Erinnerungen einer Ärztin], in: Aljaksandr Fjaduta (Hrsg.), Asoba і čas. Belaruskі bіjahrafіčny al’manach [Persönlichkeit und Zeit. Weißrussischer Biographischer Almanach], Bd. 2, Minsk 2010, S.177 f.
„ICH WERDE KINDER FÜR STALIN GEBÄREN“: MÜTTER- UND KINDERFÜRSORGE IN DER SOWJETISCHEN PROPAGANDA DER 1930ER JAHRE Das Abtreibungsverbot (1936) und seine „Volksbesprechung“ Alexander Pesetsky Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre wurden in der UdSSR die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung mit allen verfügbaren Mitteln vorangetrieben. Man zielte auf die Steigerung der Verteidigungskraft des weltweit ersten sozialistischen Staates. Enorme menschliche Ressourcen wurden zur Realisierung der ambitionierten Ziele der stalinistischen Fünfjahrespläne erforderlich. Unter diesen Rahmenbedingungen befasste sich die sowjetische Propaganda in den 1930er Jahren verstärkt mit der Mütter- und Kinderfürsorge. Diese Entwicklung erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt 1936 im Zusammenhang mit dem Abtreibungsverbot, das eine Zäsur in der bisherigen sowjetischen Familienpolitik darstellte. In diesem Beitrag wird zunächst überblicksartig die Auseinandersetzung der sowjetischen Propaganda mit der Mütter- und Kinderfürsorge dargestellt. Anschließend stehen das Abtreibungsverbot und seine „Volksbesprechung“ im Mittelpunkt der Untersuchung; diese wird am Beispiel Sowjetweißrusslands analysiert. MÜTTER- UND KINDERFÜRSORGE IN DER SOWJETISCHEN PROPAGANDA DER 1930ER JAHRE Vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR hob die sowjetische Presse systematisch die Errungenschaften der sowjetischen Frauenpolitik, insbesondere die „volle“ Gleichberechtigung der Geschlechter in der UdSSR hervor, die im kapitalistischen Westen gänzlich unbekannt sei. Man wies auf die „grenzenlose Fürsorge“ für Mütter und Kinder seitens der bolschewistischen Partei, der Regierung und Stalins persönlich hin. So würden schwangere Frauen in der UdSSR ausgezeichnet betreut und ihre Lage verbessere sich ständig. Sie brächten ihre Kinder – künftige „Erbauer des Sozialismus“ – glücklich zur Welt, während sich werktätige Frauen und ihre Kinder im kapitalistischen Ausland (etwa in Japan, den USA, Polen, Italien, Deutschland und anderen europäischen Staaten) in einer katastrophalen Situation befänden. Ein Beispiel für diese Art der Propaganda stellt ein Beitrag des stellvertretenden Direktors des Minsker Medizinischen Instituts, Professor Valeryj A. Aniščanka (1891–1950), dar. In der in Minsk herausgegebenen Zeitung Rabočij („Der Arbeiter“) vom 16. Juni 1936 unterstrich der Verfasser, der übrigens fünf
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Alexander Pesetsky
Jahre später unter deutscher Besatzung als Leiter der Abteilung Gesundheitswesen der Minsker Stadtverwaltung aktiv an der Verfolgung jüdischer Mediziner mitwirkte,1 dass „man nur in der UdSSR gesund und glücklich sein kann“. Ganz anders sei dagegen die Lage im Ausland: So würde schwangeren Frauen in der Schweiz ohne jegliche finanzielle Unterstützung gekündigt.2 DAS ABTREIBUNGSVERBOT UND SEINE „VOLKSBESPRECHUNG“ Am 25. Mai 1936 veröffentlichte das Zentralexekutivkomitee der UdSSR folgenden Beschluss: „Über die Übergabe der Gesetzesvorlage betreffend das Abtreibungsverbot, die Steigerung der materiellen Hilfe für Mütter, die Einführung staatlicher Hilfen für kinderreiche Familien, die Erhöhung der Anzahl von Geburtshäusern, Kinderkrippen und Kindergärten, die Verstärkung der strafrechtlichen Verfolgung bei der Verweigerung von Unterhaltszahlungen sowie einige Änderungen im Scheidungsrecht zur Volksbesprechung durch die Werktätigen“. Der Gesetzentwurf brach endgültig mit der leninistischen Familienpolitik, wie sie die bolschewistische Führung seit der Oktoberrevolution praktiziert hatte, und verkündete stattdessen ein Verbot der in der UdSSR seit dem Jahr 1920 legalisierten Abtreibungen, sowohl in Krankenhäusern als auch außerhalb medizinischer Einrichtungen. Die einzige Ausnahme war für den Fall vorgesehen, dass die Geburt des Kindes das Leben und die Gesundheit der werdenden Mutter ernsthaft zu gefährden drohten. In einem solchen Fall konnte die Abtreibung ausschließlich in einem Krankenhaus oder Geburtshaus durchgeführt werden. Weiter sah der Gesetzentwurf eine strafrechtliche Verfolgung von Personen vor, die gesetzwidrige Abtreibungen vornahmen. Für die Durchführung einer Abtreibung unter Verletzung der festgelegten Norm – ob außerhalb oder innerhalb eines Krankenhauses – war ein Freiheitsentzug von ein bis zwei Jahren vorgesehen. Für Personen, die eine Abtreibung ohne medizinische Ausbildung oder unter unhygienischen Bedingungen durchführten, wurde gar eine Haftstrafe von drei Jahren festgelegt. Zwei Jahre Haft drohte auch denjenigen, die eine Frau zur Abtreibung zwangen. Schwangere Frauen selbst erwartete eine gesellschaftliche Rüge oder, bei wiederholtem Verstoß, eine Strafzahlung in Höhe von 300 Rubeln, wenn sie die Schwangerschaft gesetzwidrig abbrachen. In dem oben genannten Beschluss wurde betont, dass die Freigabe des Gesetzentwurfes zur „Volksbesprechung“ mit seiner außerordentlichen Wichtigkeit und
1
2
Vgl. Leonid Rejn (= Leonid Rein), Otnošenie belorusskogo naselenija k evrejam vo vremja Katastrofy 1941–1944 gg., in: Evrei Belarusi: istorija i kul’tura 6 (2001), S. 181–205, hier: S. 188. 1949 wurde der Mediziner als „Kollaborateur“ zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt und starb im nächsten Jahr. Vgl. Leanid Marakoŭ, Rėprėsavanyja medycynskija i vetėrynarnyja rabotniki Belarusi 1920–1960, Minsk 2010, S. 41 ff. V. A. Aniščenko (= Aniščanka), Byt’ zdorovym i sčastlivym možno tol’ko v SSSR, in: Rabočij v. 16.6.1936, S. 1.
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Bedeutung für breite Bevölkerungsschichten begründet werden solle.3 Auf diese Weise ging der Gesetzentwurf den gleichen Weg wie eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen der stalinistischen Epoche, die ebenfalls einer derartigen „Volksbesprechung“ unterworfen wurden. Die (vermeintlich freie) „Volksbesprechung“ wurde dabei von oben gesteuert und unter steter Kontrolle der Parteiorgane durchgeführt. Letztere bemühten sich darum, eine größtmögliche Anzahl von Bürgern in die Aktion einzubeziehen und sie somit zu einer „Volksbesprechung“ im wörtlichen Sinne zu machen. Von Ende Mai bis Juni 1936 wurde der Text des Gesetzentwurfes in Fabriken und Werken, in Kolchosen und Sowchosen, in Hochschulen und Behörden diskutiert. Bürger und vor allem Bürgerinnen konnten dabei ihre Vorschläge zu dem Text einbringen. MEHRFACHE MÜTTER GEGEN ABTREIBUNGEN Wie die weißrussische Presse versicherte, nahm die Bevölkerung den Gesetzentwurf mit Begeisterung und Optimismus auf. In Pressebeiträgen zur „Volksbesprechung“ wurde die Aufmerksamkeit der Leser vor allem auf die negativen Folgen einer Abtreibung für die Gesundheit der Frau gerichtet. So publizierte die Zeitung Pramen’ komunizma („Strahl des Kommunismus“, Rayon Škloŭ) am 18. Juni 1936 einen Beitrag der Kolchosbäuerin Maryja Kavalëva aus der Kolchose Belarus’ („Weißrussland“), die als Mutter von dreizehn Kindern einen entsprechenden Standpunkt vertrat: Das Abtreibungsgesetz müsse so bald als möglich verabschiedet werden, weil Abtreibungen eine große Gefährdung für die Gesundheit darstellten.4 Die Kolchosbäuerin Hap’ja Danila aus der Kolchose Druhaja pjacihodka („Zweiter Fünfjahresplan“, Rayon Škloŭ), Mutter von sieben Kindern, unterstrich, dass sie niemals eine Abtreibung vorgenommen habe und nie vornehmen werde, da das der Gesundheit schade. Mit ihren 32 Jahren versprach sie außerdem, dem Land noch weitere „mutige Kämpfer“ zu schenken.5 Auf den Seiten der Zeitung Scjah kalektyvizacyi („Fahne der Kollektivierung“, Rayon Čačėrsk) warnte die Kolchosbäuerin Hanna Laškevič aus der Kolchose Praletaryj („Proletarier“) vor der Schädlichkeit von Abtreibungen für die weibliche Gesundheit. Sie selbst habe nie abgetrieben und verpflichte sich, das auch in Zukunft nicht zu tun.6 Vol’ha Snežkova, Mitglied der landwirtschaftlichen Genossenschaft Rassvet („Morgendämmerung“, Rayon Škloŭ), berichtete in der Zeitung Pramen’ komunizma, dass auch sie als Mutter von sieben Kindern nie eine Abtreibung vorgenommen habe und sich deshalb 3
4 5 6
Proekt postanovlenija CIK i SNK Sojuza SSR o zapreščenii abortov, uveličenii material’noj pomošči roženicam, ustanovlenii gosudarstvennoj pomošči mnogosemejnym, rasširenii seti rodil’nych domov, detskich jaslej i detskich sadov, usilenii ugolovnogo nakazanija za neplatež alimentov i o nekotorych izmenenijach v zakonodatel’stve o razvodach, in: Pravda v. 26.5.1936, S. 1. A. L. Citoŭ, Nebyvalaja aktyŭnasc’, in: Pramen’ komunizma v. 18.6.1936, S. 2. Jur’eŭ, Aborty ne rabila i rabic’ ne budu, in: Pramen’ komunizma v. 18.6.1936, S. 2. N. Vaškevič, Pracoŭnyja vykazvajuc’ svaju dumku, in: Scjah kalektyvizacyi v. 25.6.1936, S. 2.
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vollkommen gesund fühle. Freundinnen von ihr, die abgetrieben hatten, litten dagegen meist unter gesundheitlichen Problemen.7 Über die Auswirkungen von Abtreibungen und ihrem bedauerlichen Schicksal berichteten die Ehefrauen von Arbeitern holzwirtschaftlicher Betriebe im Rayon Čačėrsk, Vul’fina und Rozina, sowie die Kolchosbäuerin Hanna Hryhor’eva aus dem Rayon Škloŭ. Vul’fina beschrieb in den Seiten des Blattes Scjah kalektyvizacyi, wie eine Abtreibung sie fast das Leben gekostet hätte. Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes hätte sie sich dagegen sofort vital und gesund gefühlt. Rozina unterstützte sie in ihren Ausführungen: „Ich bedauere, dass ich vier Abtreibungen hatte, die mir meine Gesundheit ruiniert haben“. Allerdings müsse der Staat ihrer Meinung nach eine Abtreibung für kranke Frauen erlauben, die nicht in der Lage wären, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen und aufzuziehen.8 Hryhor’eva erzählte in der Zeitung Pramen’ komunizma vom 3. Juni 1936, wie sie ein Jahr nach ihrer Heirat einen Sohn zur Welt gebracht habe und nach einem weiteren Jahr eine Tochter. Als sie im dritten Ehejahr mit dem dritten Kind schwanger wurde und erkennen musste, dass ihr die Mittel fehlten, drei Kinder zu ernähren, habe sie sich zu einer Abtreibung entschlossen. Kurz darauf sei sie schwer an einem Frauenleiden erkrankt und mit 25 Jahren zur Schwerbehinderten geworden.9 Unter Berufung auf die gesundheitlichen Gefahren schlossen sich einige Bürgerinnen einem allgemeinen Abtreibungsverbot an. Diesen Standpunkt vertrat beispielsweise die Kolchosbäuerin P. A. Kandracenka aus der Kolchose Druhaja pjacihodka („Zweiter Fünfjahrplan“, Rayon Čačėrsk).10 MEDIZINER UND DAS ABTREIBUNGSVERBOT Im Verlauf der „Volksbesprechung“ publizierte die Presse auch regelmäßig Artikel von Ärzten, die auf die Gefahren von Abtreibungen hinwiesen und mit allen Mitteln versuchten, Frauen von unüberlegten Versuchen abzubringen. Entsprechend wandte sich der Arzt Paŭloŭski aus dem Rayon Škloŭ am 5. Juni in seinem Artikel Što prynosic’ abort („Was die Abtreibung mit sich bringt“, Zeitung Pramen’ komunizma) mit einem Appell an den weiblichen Teil der Bevölkerung, von Abtreibungen Abstand zu nehmen. Detailliert ging er auf die Komplikationen ein, zu denen eine derartige Operation führen könne, selbst wenn sie im Krankenhaus von einem Spezialisten vorgenommen werde. Zu Abtreibungen, die eigenständig und im privaten Umfeld durchgeführt wurden, hatte der Arzt eine noch deutlichere Meinung: Unter diesen Umständen führten sie in der Mehrheit der Fälle zum Tod der Schwangeren.11 Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Physiologie des 7 8 9 10 11
Hrableŭski, Ivankovič u. Karaneŭski, Zaŭvahi kalhasnikaŭ, in: Pramen’ komunizma v. 25.6.1936, S. 4. Tkačova, Aborty ledz’ ne davjali mjane da smerci, in: Scjah kalektyvizacyi v. 6.6.1936, S.1. Anna Hryhor’eva, Ad abortu ja stala invalidam, in: Pramen’ komunizma v. 3.6.1936, S. 3. I. Karžoŭ, Aborty škodny i trėba zabaranic usim, in: Scjah kalektyvizacyi v. 25.6.1936, S. 3. Paŭloŭski, Što prynosic’ abort, in: Pramen’ komunizma v. 5.6.1936, S. 3.
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Minsker Medizinischen Instituts, die Komsomolzin Klionskaja, trat am 30. Mai auf den Seiten der Minsker Zeitung Čyrvonaja zmena („Roter Nachwuchs“) ebenfalls für ein Abtreibungsverbot ein, weil sie sich der Gefahren von Abtreibungen und deren möglicher Folgen wie Invalidität und Unfruchtbarkeit bewusst sei.12 Im gleichen Presseorgan schlug am 5. Juni das medizinische Pflegepersonal des Krankenhauses in Sluck pauschal vor, das Strafmaß für Frauen nach einer Abtreibung auf bis zu einem Jahr Freiheitsentzug zu erhöhen.13 WANN DARF EINE FRAU ABTREIBEN? Wie bereits dargestellt, sah der Gesetzentwurf die legale Abtreibung vor, falls eine Geburt das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Frau ernsthaft gefährdet hätte. Einzelne Teilnehmer an der „Volksbesprechung“ waren für eine Erweiterung der legalen Möglichkeiten. Sie schlugen vor, sowohl kinderreichen Müttern, wenn sie für weitere Kinder nicht würden sorgen können, eine Abtreibung zu erlauben, als auch Frauen, die gesundheitliche Probleme hätten.14 Bezeichnend dafür war der Zeitungsbeitrag der Kolchosbäuerin Vasja Harbuzova aus der Kolchose Zavety Lenina („Lenins Vermächtnisse“, Rayon Čačėrsk), die sich fragte, wie man Frauen, die bereits fünf bis sechs Kinder hätten und denen schon die Mittel für deren Unterhalt fehlten, nötigen könne, noch weitere Kinder zur Welt zu bringen.15 Die wichtigste weißrussische Zeitung, die Minsker Parteizeitung Zvjazda („Stern“), berichtete am 29. Mai 1936, dass die Diskussion um das Abtreibungsverbot „besondere Auseinandersetzungen“ auf einer Versammlung von Mitarbeiterinnen der Zentralen Minsker Sparkasse hervorgerufen hätte. Eine der Mitarbeiterinnen, Pjarova, hatte sich dafür ausgesprochen, Abtreibungen in Abhängigkeit von den familiären Verhältnissen zu erlauben.16 Gegen ein vehementes Abtreibungsverbot äußerte sich Anfang Juni in derselben Zeitung auch der Student Chatyleŭ. Er sprach sich für eine Abtreibungserlaubnis für kinderreiche Familien aus, allerdings auch für ein Abtreibungsverbot für Frauen, die noch kein Kind geboren hätten. Vor allem in der zweiten Maßnahme sah er eine Garantie für die Verbesserung der Gebärfähigkeit [wörtlich: Reproduktionsgesundheit] junger Studentinnen.17 Die Minsker Zeitung Rabočij zitierte am 5. Juni 1936 die Meinung von Sima Kantorovič, einer Buchhalterin der Vicebsker Filiale der Staatsbank. Die Frau unterstützte in vollem Umfang die Idee des Abtreibungsverbots, hielt es aber für unabdingbar, sowohl die materielle Lage der Schwangeren als auch die bisherige Anzahl von Kindern einzubeziehen. Ihrer Meinung nach sollten solche Fälle zur Untersuchung
12 13 14 15 16 17
Ja. Berasnevič, Bol’š uvahi studėntkam-maceram, in: Čyrvonaja zmena v. 30.5.1936, S. 1. Byc matkaj-vjalikae ščasce i radasc’, in: Čyrvonaja zmena v. 5. 6.1936, S. 2. N. Vaškevič, Pracoŭnyja vykazvajuc’ svaju dumku, in: Scjah kalektyvizacyi v. 25.6.1936, S. 3. M. Suvalaŭ,Vykazvajucca suprac abortaŭ, in: Scjah kalektyvizacyi v. 13.6.1936, S. 2. Prapanovy da zakonapraektu, in: Zvjazda v. 29.5.1936, S. 1. A. Chatyleŭ, Katėharyčnaja zabarona abortaŭ nepatrėbna, in: Zvjazda v. 4.6.1936, S. 2.
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an übergeordnete Kommissionen übergeben werden.18 Kantorovič stand mit ihrer Idee nicht allein. Auch andere Teilnehmer an der „Volksbesprechung“ brachten Ähnliches vor.19 Der Leiter der Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie des Weißrussischen Medizinischen Instituts, Professor M. L. Vydryn, der übrigens das Abtreibungsverbot für eine notwendige und zur rechten Zeit getroffene Maßnahme hielt, sah jedoch, so die Zeitung Rabočij vom 22. Juni 1936, im Gegensatz zu Kantorovič keine Notwendigkeit für spezielle Kommissionen.20 Die Zeitung Stalinski šljach („Stalinistischer Weg“) berichtete am 7. Juni über eine Versammlung der weiblichen Jugend in Bahušėŭsk, wo das Thema ebenfalls diskutiert wurde. Eine der Teilnehmerinnen, Vera I. Leanovič, sprach sich dafür aus, nur denjenigen Frauen eine Abtreibung zu verbieten, die noch kein Kind geboren hätten, und gleichzeitig die Herstellung empfängnisverhütender Mittel zu steigern, welche eine hundertprozentige Sicherheit böten.21 Eine Abtreibung in Ausnahmefällen zu erlauben schlug auch die Studentin Basja V. vor. Zu den Ausnahmen zählte sie Schwangerschaften nach Vergewaltigungen oder eine vererbbare Krankheit auf Seiten eines Elternteils.22 Einen ungewöhnlichen Vorschlag machte die Komsomolzin Valčkova aus Zaslaŭe. Ihrer Meinung nach sei es nötig, Abtreibungen für Komsomol-Aktivistinnen zu erlauben. Diese Idee sei jedoch nicht nach dem Geschmack der restlichen Teilnehmer einer Versammlung in Zaslaŭe gewesen und wurde kollektiv abgelehnt, wie die Zeitung Čyrvonaja zmena am 3. Juni 1936 berichtete.23 Eine noch unkonventionellere Idee hatte die vermutlich mit Grundsätzen der Eugenik vertraute Studentin des Minsker Medizinischen Instituts Ryta K.: Vor einer Eheschließung sollten beide zukünftigen Partner zur Vorlage einer Bescheinigung verpflichtet werden, dass sie gesund und damit in der Lage seien, gesunde Kinder zu bekommen. Als Argument und Beispiel führte sie die Eheschließung von Tuberkulose-Kranken an, deren Nachkommenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls krank geboren werde.24 Eine individuelle Wahlfreiheit für Frauen, zwischen Abtreibung und Austragung des Kindes zu entscheiden, wurde in der „Volksbesprechung“ des Gesetzentwurfs als Möglichkeit praktisch nicht aufgegriffen. Eine aufschlussreiche, aber seltene Ausnahme stellt dabei ein Artikel dar, der in der Zeitung Za bol’šėvickija kalhasy („Für bolschewistische Kolchosen“) veröffentlicht wurde: „Škoda Mar’ja ist dafür, dass jede Familie selbst über eine Abtreibung entscheiden sollte“.25 Die Zeitung berichtete, dass sich Kolchosbäuerinnen auf einer Versammlung der Kolchose Šljach Savetaŭ („Weg der Sowjets“) für ein Abtreibungsverbot aussprachen, 18 19 20 21 22 23 24 25
Sima Kantorovič, Za mnogodetnuiu sovetskuju sem’ju, in: Rabočij v. 5.6.1936, S. 2. Vgl. beispielsweise N. Vaškevič, Pracoŭnyja vykazvajuc’ svaju dumku, in: Scjah kalektyvizacyi v. 25.6.1936, S. 3. M. L. Vydrin, Zapreščenie abortov sčitaju svoevremennym, in: Rabočij v. 22.6.1936, S. 2. V. I. Leanovič, Maja dumka, in: Stalinski šljach v.7.6.1936, S. 2. Basja V., Dazvolic’ aborty ŭ vykliučnyh vypadkach, in: Čyrvonaja zmena v. 5.6.1936, S. 2. Asinoŭski, Dakladčykam byŭ urač, in: Čyrvonaja zmena v. 1.6.1936, S. 2. Ryta K., Maja prapanova, in: Čyrvonaja zmena v. 3. 6.1936, S. 2. Lepin, Škoda Mar’ja za toe, kab aborty astavic’ na pohljad kožnaj sjam’i, in: Za bol’šėvickija kalhasy v. 5.6.1936, S. 2.
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wenn diese der Gesundheit schadeten. Gleichzeitig zitierte der Autor am Ende des Artikels die abweichende Meinung der Kolchosbäuerin Mar’ja Škoda, nach der ein generelles Abtreibungsverbot nicht notwendig sei, sondern diese Entscheidung jeder Familie selbst überlassen werden sollte. Škoda äußerte die Befürchtung, dass ein Verbot zu illegalen Schwangerschaftsabbrüchen führen würde, die die betroffenen Frauen einer noch größeren Gefahr aussetzten. Eine Arbeiterin einer Bekleidungsgenossenschaft, Baraška aus Smaljavičy, teilte die Position von Škoda nicht. Auf den Seiten der Zeitung Čyrvonaja zmena verglich sie Abtreibung mit dem Mord an einem Menschen und forderte eine Erhöhung des Strafmaßes.26 ILLEGALE ABTREIBUNGEN Während der „Volksbesprechung“ wurde auch das Thema illegaler Abtreibungen aufgegriffen, vor allem im Zusammenhang mit ländlichen Gegenden. Das Problem beschäftigte die sowjetische Propaganda sehr. Die Landbevölkerung brachte den Hebammen offensichtlich nicht immer Vertrauen entgegen, qualifizierte medizinische Hilfe zog man nur in Ausnahmefällen hinzu, etwa wenn es um lebensbedrohliche Fragen ging. Eine Geburt oder auch eine Abtreibung war in den Augen der damaligen Landbevölkerung offensichtlich keine solche Frage: Es erstaunte kaum, wenn eine Frau fünf bis sechs Kinder hatte. Auch die Prozedur einer Abtreibung mit alltäglichen Methoden wurde nicht geheim gehalten. Auf dem Land wandten sich werdende Mütter, wie noch vor 1917, lieber an heilkundige Frauen als an das medizinische Personal. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Beitrag der Frauenzeitschrift Rabotnica i kalhasnica Belarusi („Arbeiterin und Kolchosbäuerin Weißrusslands“), die im April 1936 ihren Leserinnen von der Lage im Dorfsowjet Ljuban’ berichtete: In der Kolchose Udarnik („Stoßarbeiter“) hatten die Ehefrauen eines Brigadeleiters und eines „Aktivisten“ mit Hilfe einer heilkundigen Frau ihre Kinder zur Welt gebracht, und das, obwohl in diesem Dorfsowjet die erfahrene Hebamme Tupikava arbeitete. In demselben Dorfsowjet hatte eine Heilkundige bereits bei einer Kolchosbäuerin eine Geburt begleitet. Das Kind war jedoch bei der Geburt gestorben. Untersuchungen ergaben, dass die Hebamme Tupikava der schwangeren Kolchosbäuerin noch kurz vor der Entbindung einen Besuch abgestattet hatte um über den Schaden, den Heilkundige verursachen konnten, aufzuklären. Der Vorfall wurde in diesem Fall der Staatsanwaltschaft übergeben.27 Der Gesetzentwurf zum Abtreibungsverbot stellte damit auch eine neue Etappe in der Bekämpfung heilkundiger Laien dar. Im Rahmen der „Volksbesprechung“ wurden Appelle zur Verschärfung des Strafmaßes gegen sie veröffentlicht. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel der Zeitung Komunistyčny šljach („Kommunistischer Weg“, Rayon Krupki) vom 27. Juni 1936, der über eine Versammlung der Kolchose Svetlaja zara („Heiteres Morgenrot“) im Dorfsowjet Abčuha berichtete. Dort war der Vorschlag gemacht worden, das Strafmaß für Ärzte, die illegal Abtreibungen 26 27
M. Žuk, Kalhasnicy ŭnosjac’ papraŭki, in: Čyrvonaja zmena v. 30.4.1936, S. 1. Kantarovič, Barac’ba z pavituchami, in: Rabotnica i kalhasnica Belarusi 7 (1936), S. 15.
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durchführten, auf zwei bis drei Jahre und für Personen ohne medizinische Ausbildung auf bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug festzusetzen.28 SCHEIDUNGEN An der „Volksbesprechung“ des Abtreibungsverbots nahmen zwar vor allem Frauen teil, aber auch Männer blieben nicht außen vor. Allerdings unterschied sich ihre Meinung in der Mehrheit der Fälle nicht von der der Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. So sprach sich ein Arbeiter des Minsker Vorošilov-Werkes, Krajko, in der Zeitung Zvjazda vom 28. Mai 1936 für die Berücksichtigung der Verantwortung von Männern aus, wenn diese von Frauen eine Abtreibung forderten.29 Ein Punkt des Gesetzentwurfes richtete sich auch direkt an den männlichen Teil der Bevölkerung, nämlich die Einführung von Geldstrafen für Scheidungen sowie von Sanktionen gegen Verweigerer von Unterhaltszahlungen. Der Gesetzentwurf sah vor, im Personalausweis der Geschiedenen einen Vermerk über die Scheidung einzutragen sowie die Gebühr für die amtliche Eintragung von Scheidungen zu erhöhen: Für die erste Scheidung 50 Rubel, für die zweite 150 Rubel, für die dritte und alle folgenden 300 Rubel. Bei der Zumessung von Alimenten sollten bei zwei Kindern 50 Prozent des Gehalts des Unterhaltspflichtigen eingezogen werden, bei drei und mehr Kindern 60 Prozent. Verweigerern von Unterhaltszahlungen, die von einem Gericht zur Zahlung von Alimenten verurteilt worden waren, drohte eine Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren. Angesichts der strengen Formulierung des Gesetzentwurfes ist es nicht verwunderlich, dass die Themen Scheidung und Alimente eine Schlüsselstellung in der „Volksbesprechung“ einnahmen. Auf einer allgemeinen Versammlung der Kolchose Svetlaja zara („Heiteres Morgenrot“) im Dorfsowjet Abčucha sprachen sich nach Angaben der Zeitung Komunistyčny šljach vom 27. Juni die Kolchosbauern dafür aus, die Scheidungsgebühren zu erhöhen: Für die erste Scheidung auf 100 Rubel, für die zweite auf 200 Rubel, für die dritte auf 400 Rubel. In der Bemessung der Unterhaltszahlungen für drei und mehr Kinder hielten es die Kolchosbauern sogar für angebracht, 75 Prozent des Gehalts einzubehalten.30 Sonja Bubnova aus der Landwirtschaftsgenossenschaft Rassvet („Morgendämmerung“) im Dorfsowjet Starae Sjalo schlug vor, für die (amtliche) Eintragung der ersten Scheidung bis zu 200 Rubel, für die zweite bis zu 300 Rubel zu veranschlagen. Ihr Kollege Ivan Sukorskij präzisierte, dass nicht nur Männer sondern auch Frauen die Verantwortung für eine Scheidung tragen sollten. Dementsprechend sollte ermöglicht werden, dass auch Frauen dem ehemaligen Ehemann Unterhaltszahlungen für die Kinder leisteten.31 Diese Überzeugung teilte auch die männliche Belegschaft eines fellverarbeitenden Betriebs im 28 29 30 31
M. Laŭrėnčeŭ, Unosim dadatki, in: Komunistyčny šljach v. 27.6.1936, S. 4. Rabočyja vitajuc’ praėkt prapanovy, in: Zvjazda v. 28.5.1936, S. 1. M. Laŭrėnčeŭ, Unosim dadatki, in: Komunistyčny šljach v. 27.6.1936, S. 4. Hrableŭski, Ivankovič u. Karaneŭski, Zaŭvahi kalhasnikaŭ: in Pramen’ komunizma v. 25.6.1936, S. 4.
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Rayon Škloŭ. Hier wurde vorgeschlagen, für die erste Scheidung eine Gebühr von 150 Rubeln zu erheben sowie die gleiche Verantwortlichkeit des Vaters und der Mutter für die Erziehung der Kinder gesetzlich zu stärken.32 Kul’kova, Mitglied der Landwirtschaftsgenossenschaft Stalin (Rayon Škloŭ), wagte sich mit dem Vorschlag vor, für die erste Scheidung 200 Rubel zu verlangen, für die zweite 300 Rubel und für die dritte sogar 500 Rubel.33 Für eine Verdoppelung der Scheidungsgebühr sprach sich die Hausfrau Liza Burdo aus dem Rayon Bahušėŭsk aus. Ebenso befürwortete sie eine Erhöhung der Witwenrente.34 Ein Angestellter der Škloŭer Abteilung der Staatsbank, Varab’ëŭ, stimmte zwar einer Erhöhung der Gebühren für die (amtliche) Eintragung von Scheidungen zu, schlug dabei aber vor, kein Geld für die erste Scheidung zu veranschlagen, doch für die zweite mindestens 500 Rubel zu erheben; eine dritte Scheidung müsse gar wie ein Kriminaldelikt behandelt werden.35 Am 3. Juni 1936 berichtete die Zeitung Za bol’šėvickija kalhasy aus dem Rayon Damanavičy, dass eine Versammlung in der Kolchose Lipaŭ auf Vorschlag des Lehrers Danilaŭ angeregt habe die Scheidungsgebühr zu erhöhen: Für die erste Scheidung auf 300 Rubel, für die zweite auf 500 Rubel, für die dritte und die folgenden auf 100 Rubel. Auf diese Weise wäre eine dritte Scheidung bedeutend günstiger gewesen als die erste und zweite. Bei der Festlegung der Unterhaltszahlungen wurde vorgeschlagen, für den Unterhalt eines Kindes 50 Prozent des Gehalts zu veranschlagen, für zwei Kinder 60 Prozent und für drei Kinder 70 Prozent.36 Eine nicht namentlich genannte Kolchosbäuerin aus der Kolchose Naperad („Vorwärts“) aus dem Dorfsowjet Plisa wollte, so die Parteizeitung Zvjazda am 29. Mai 1936, eine Scheidung nach Gesichtspunkten größerer Gerechtigkeit handhaben: Zahlen sollte der Ehepartner, von dem die Initiative zur Scheidung ausging.37 Eine Reihe von Teilnehmern an der „Volksbesprechung“ missbilligten eine Geldstrafe für Scheidungen, weil sie deren Wirksamkeit bezweifelten. M. Amenitskaja merkte in der Zeitung Rabočij vom 4. Juni 1936 an, dass es naiv sei anzunehmen, 50 oder 150 Rubel Scheidungsgebühr würden zu einem Umdenken führen: Sie würde für eine Scheidung keine 50 Rubel ausgeben, aber auch nicht eine Minute mit einem Menschen leben wollen, der ihr gleichgültig sei.38 Dementsprechend wolle sie für eine Scheidung nichts zahlen, mehr noch, hielt sie es nicht für notwendig, eine solche formell und rechtskräftig vorzunehmen.
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Pjačėrskaja u. Žylinski, Adkaznasc’ usklasci i na bac’ku, i na maci, in: Pramen’ komunizma v. 5.6.1936, S. 3. A. L. Citoŭ, Nebyvalaja aktyŭnasc’, in: Pramen’ komunizma v. 18.6.1936, S. 2. Liza Burdo, Matcy-udave – asabistuju ŭvahu, in: Stalinski šljach v. 11.6.1936, S. 1. Šustėrman, Aborty dazvaljac’ u vyključnych vypadkach, in: Pramen’ komunizma v. 3.6.1936, S. 3. Kraŭčanka, Abmjarkoŭvajuc’ novy zakonapraėkt, in: Za bol’šėvickija kalhasy v. 3.6.1936, S. 2. Kalhasnicy vitajuc’ praėkt novaha zakona, in: Zvjazda v. 29.5.1936, S. 1. Amenitskaja, Zamečanija k punktu o razvodach, in: Rabočij v. 4.6.1936, S. 2.
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KINDERBEIHILFEN Der Gesetzentwurf sah auch eine Erhöhung der finanziellen Hilfen für kinderreiche Familien vor. So war eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgesehen: Erhöhung der Beihilfe zur Neugeborenenaustattung, ebenso eine Erhöhung der Hilfe für Mütter zur Ernährung ihrer Kinder, die Einbeziehung von nicht versicherten Frauen in die Hilfsleistungen, eine Veränderung der im Arbeitsgesetzbuch festgelegten Arbeitszeitbegrenzung für weibliche Angestellte sowie die Angleichung ihrer Anrechte auf Urlaub vor und nach der Geburt auf das Niveau der Rechte von Arbeiterinnen. Der Entwurf sah sogar strafrechtliche Konsequenzen vor für die Verweigerung einer Einstellung von Frauen und die Verminderung ihres Arbeitslohns aufgrund einer Schwangerschaft. Schwangeren sollte ihr Gehalt in Höhe des Gehalts der letzten sechs Monate garantiert werden. Diese Aspekte des Gesetzentwurfes wurden von den Teilnehmern an der „Volksbesprechung“ begeistert befürwortet. Diskussionen kamen über die Höhe der Hilfsleistungen für kinderreiche Familien auf. An Mütter, die bereits sieben Kinder hatten, sollten bei der Geburt eines jeden weiteren Kindes jährlich fünf Jahre lang 2.000 Rubel ausgezahlt werden, an Mütter mit elf und mehr Kindern einmalig 5.000 Rubel für jedes weitere Kind sowie ab dem zweiten Lebensjahr des Kindes für die Dauer von vier Jahren jährlich 3.000 Rubel. Gegen dieses Bezahlsystem sprach sich die Köchin und Kinderkrippen-Erzieherin Vera I. Antipenko aus der Kolchose Leninski šljach („Leninscher Weg“) im Dorfsowjet Bahušėŭsk aus. Sie fand, dass eine solche finanzielle Hilfe bereits bei der Geburt des dritten oder vierten Kindes angebracht sei.39 Vor, während und nach der „Volksbesprechung“ unterstrich die sowjetische Propaganda die besondere Fürsorge, die kinderreichen Müttern in der UdSSR und der BSSR zu Teil würde. So berichtete die Zeitung Leninski šljach („Leninscher Weg“) im Rayon Sirocin am 24. Oktober 1936, dass drei Tage zuvor verdiente kinderreiche Mütter durch den weißrussischen Regierungschef, Mikalaj M. Haladzed, und weitere hochrangige Funktionäre empfangen worden waren. Den Müttern waren Geldsummen entsprechend der Anzahl ihrer Kinder ausgehändigt worden: 9.000 Rubel für elf Kinder, 6.000 Rubel für zehn Kinder, 4.000 Rubel für acht Kinder.40 Am 1. Mai 1938 hob die Zeitung Komunistyčny šljach („Kommunistischer Weg“) aus dem Rayon Krupki hervor, dass der Staat im Zeitraum vom 27. Juni 1936 bis zum 1. Januar 1938 Hilfszahlungen in Höhe von 1.177,9 Millionen Rubel an kinderreiche Mütter geleistet habe. Um den Unterschied zwischen der Situation der Werktätigen der UdSSR und des Auslandes zu unterstreichen, wurde neben dem angeführten Artikel die Meldung veröffentlicht, dass zwischen 1932 und 1936 der Arbeitslohn in Deutschland um 32 Prozent gekürzt worden sei.41 39 40 41
V. I. Ancipenka, Radžajce i rascice zdarovych synoŭ i dočak našaj socyjalistyčnaj radzimy, in: Stalinski šljach v. 18.6.1936, S. 1. Pastanova SNK BSSR i CK KP(b)B „Ab chodze budaŭnictva ŭ BSSR radzil’nych damoŭ, dzicjačych jasljaŭ i kuchan’“, in: Leninski šljach v. 24.10.1936, S. 4. Dva sveta-dzve sistėmy, in: Komunistyčny šljach v. 1.5.1938, S. 4.
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Im Gegensatz zum idealisierten Bild, das die sowjetische Propaganda in der Presse zeichnete, wurde die Beihilfe für vielfache Mütter in der Realität nicht immer positiv aufgenommen. Der NKVD verzeichnete in den 1930er Jahren mehrere Fälle des Verzichts auf staatliche Beihilfe durch kinderreiche Mütter in der BSSR. So hatte im Jahr 1935 Mal’vina Ch. aus dem Dorf Cinkaŭcy (Dorfsowjet Bihosava) das Kindergeld abgelehnt. Die von der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft enttäuschte Frau erklärte, dass die sowjetische Regierung den Bauern alles wegnehme, um es danach den Müttern zu geben. Ch. befand, dass ihre Kinder zuvor ohne Hilfe des Staates großgezogen worden seien und dass sie auch weiterhin nur eigene Mittel für ihre Erziehung ausgeben werde. Antisowjetisch war auch Ol’ga B. aus dem Dorf Zabalocce im Dorfsowjet Lel’čycy eingestellt: Sie weigerte sich Kindergeld anzunehmen, weil die Sowjetmacht sie beleidigt habe: Der Dorfsowjet habe ihr ganzes Hab und Gut eingezogen und ihr Mann sei verurteilt und verbannt worden. Auch die Familie F. aus dem Dorf Krasnae betonte ihre prinzipientreue Position: Die Eheleute wollten von den Bolschewiki „geraubtes Geld“ nicht annehmen. Anna P. wies die Kinderbeihilfe aus unklaren Gründen zurück: Sie sei krank und beabsichtige daher nicht, die Kinderbeihilfe anzunehmen. Auch kam es zu kuriosen Situationen, die durch die angespannte innenpolitische Situation und die allgegenwärtige Angst während der Epoche der stalinistischen Säuberungen erklärt werden können: So gab es Fälle, in denen Frauen die Kinderbeihilfe in der Befürchtung ablehnten, der Kategorie der verfolgten Großbauern (kulaki) zugeordnet zu werden und damit Repressionen ausgesetzt zu sein. Andere, wie Ekaterina F. aus dem Dorf Varacec im Dorfsowjet Sjaljucičy, lehnten die Beihilfe rundweg ab. Nur in Form von Brot könne sie derartige staatliche Hilfe akzeptieren. Ein Hilfsgeld sei jedoch nicht wünschenswert, könne es doch zum Anlass werden, sie mit neuen landwirtschaftlichen Steuern zu belasten.42 Manche Sowjetbürger waren skeptisch in Bezug auf die Kinderbeihilfe. Die NKVD-Berichte hielten Aussagen fest, die diese Beihilfe als die übliche Augenwischerei für das Ausland bezeichneten, um die Sorge für kinderreiche Mütter in der UdSSR zu demonstrieren. Es gab auch Vermutungen, dass die Kinderbeihilfe keine dauerhafte Erscheinung sei.43 „ICH WERDE KINDER FÜR STALIN GEBÄREN“ Während der Besprechung des Gesetzentwurfes zum Abtreibungsverbot erwähnte die sowjetische Presse die persönliche Dankbarkeit sowjetischer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Stalin ganz besonders häufig:„Wir haben keinen Vater, sagen mir meine Kinder, aber der große Stalin ersetzt ihn für uns, er kümmert sich väterlich um uns“ – so sprach die Kolchosbäuerin Zoja Rusal’skaja, siebenfache Mutter aus 42 43
Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 4p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 12058, L. (= List) [Blatt] 80, 82. Ebd., L. 113.
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der Kolchose Čyrvony baec („Roter Kämpfer“), über das Staatsoberhaupt. Die Kolchosbäuerin Vikcja Chvajnickaja aus der Kolchose Peršaja konnaja („Die erste Reiterarmee“) merkte an, dass man kinderreiche Frauen früher ausgelacht hätte, jetzt dagegen würden sie respektiert. Dies sei der persönliche Verdienst Stalins. Während der Besprechung des Gesetzentwurfs zur Abtreibung nahmen die Kolchosbäuerinnen sogar die „sozialistische Verpflichtung“ auf sich, neue Kinder zur Welt zu bringen. Dabei gewann die Figur Stalins abgöttische Züge – ihm wurde geschworen, ein oder mehrere Kinder zu gebären. Eine Kolchosbäuerin der Kolchose Zatišša („Stille“) Stėfa Lukašėvič, siebenfache Mutter, versprach Stalin in Dankbarkeit für die Sorge um ihre Kinder noch fünf weitere junge Sowjetbürger. Diese sollten, so die Kolchosbäuerin, in der Zukunft sorgfältig die Grenzen der Heimat bewachen.44 ABTREIBUNGSVERBOT UND FAMILIENPOLITIK Bemerkenswert ist, dass die sowjetische Propaganda den Nutzen der Geburt eines Kindes ausschließlich aus der Perspektive des Staates zeigte. Die Schädlichkeit von Abtreibungen bedeutete in erster Linie mögliche gesundheitliche Probleme. Die Geburt neuer Kinder wurde jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt der Stärkung der Familie betrachtet: Die Beziehungen innerhalb der Familie traten in den Hintergrund gegenüber den Pflichten des Einzelnen für den Staat. Gerade deswegen fanden sich auf den Seiten sowjetischer Zeitungen massenhaft Artikel über Selbstverpflichtungen, etwa für Stalin (d. h. auch für den ganzen sowjetischen Staat) zuverlässige Verteidiger, Werktätige usw. zu gebären. Die Idee einer Militarisierung der Gesellschaft, die in der sowjetischen Propaganda sehr verbreitet war und sich auch in der realen Politik widerspiegelte, trat auch während der Besprechung des Gesetzentwurfs zur Abtreibung in den Vordergrund. Daneben gab es in dieser Zeit auch vorsichtige Aussagen über die Notwendigkeit, junge Familien besser mit lebenswichtigen Waren zu versorgen, sowie das Warensortiment für Kinder zu erweitern.45 Aber für das sowjetische Wirtschaftsmodell der 1930er Jahre mit seiner rasanten Industrialisierung war die Herstellung von Produktionsmitteln (Werkzeugmaschinen und anderer Ausrüstung) vorrangig vor derartigen Konsumgütern. ZUSAMMENFASSUNG: BILANZ DER „VOLKSBESPRECHUNG“ DES GESETZENTWURFS ZUM ABTREIBUNGSVERBOT In den 1930er Jahren lobte die stalinistische Propaganda die Frauen- und Kinderfürsorge in der Sowjetunion. Abtreibungen waren in diesem Land 1920 legalisiert und 1936 wieder verboten worden. Das Abtreibungsverbot ist im Kontext des von 44 45
Zoja Rusal’skaja, Ščaslivyja macery, in: Rabotnica i kalhasnica Belarusi 4 (1937), S.18. Droznin, Moi popravki, in: Rabočij v. 1.6.1936, S. 2.
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der bolschewistischen Führung eingeschlagenen Kurses der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Industrialisierung und der Steigerung der Verteidigungskraft der UdSSR zu sehen. Die propagandistische Kampagne, die 1936 in Verbindung mit dem Gesetzentwurf zum Abtreibungsverbot in Gang gebracht wurde, sollte die Befürwortung dieser Maßnahme durch die städtische und ländliche, durch die männliche und vor allem durch die weibliche Bevölkerung der Sowjetunion demonstrieren. Die weißrussische Presse berichtete detailliert über die „Volksbesprechung“, die in der BSSR genauso aktiv durchgeführt wurde wie in der restlichen Sowjetunion. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand das Thema Abtreibungen. Dabei betonten kinderreiche Mütter, junge Komsomolzinnen oder Ärzte insbesondere die schädlichen Folgen von Abtreibungen für die weibliche Gesundheit. In einer Reihe von Fällen schlugen Teilnehmerinnen an der „Volksbesprechung“ vor, die Ausnahmeregelungen zu erweitern, welche Frauen die Durchführung einer Abtreibung auch legal ermöglichen sollten. Das Recht einer Frau, selbst über eine Abtreibung zu entscheiden, wurde im Rahmen der „Volksbesprechung“ faktisch nicht diskutiert. Die einsame Stimme, die eine entsprechende Ansicht vertrat, nämlich die der Kolchosbäuerin Mar’ja Škoda aus dem Rayon Damanavičy, ging im Chor der Abtreibungsgegnerinnen unter, die dabei noch eine Erhöhung des Strafmaßes für den Schwangerschaftsabbruch forderten. Neben einer Reihe weiterer Aspekte des Gesetzentwurfes wurde das Problem von Scheidungen und Unterhaltszahlungen heiß diskutiert. Männer und Frauen stritten lebhaft über die Gebühren, die für eine Scheidung gezahlt werden sollten, über die Höhe der Alimente und über die Strafe für die Nichtleistung von Unterhaltszahlungen. Dabei warfen in einigen Fällen Männer die Frage nach der Möglichkeit auf, Unterhaltszahlungen auch von Frauen zu beziehen und befürworteten die Gleichbehandlung der Geschlechter bei der Erziehung der Kinder. Den ausgewerteten Presseberichten zufolge reagierte die Bevölkerung auf die Anhebung der staatlichen Hilfen für kinderreiche Familien und die rechtliche Besserstellung von schwangeren Frauen mit großer Begeisterung und Enthusiasmus. Gleichzeitig zeigen NKVD-Berichte, dass einzelne Frauen staatliche Kinderbeihilfen aus politischen und anderen Gründen ablehnten. Eine bemerkenswerte Besonderheit der propagandistischen Kampagne von 1936 in der BSSR stellte die Tatsache dar, dass Teilnehmern der „Volksbesprechung“ die für die stalinistische UdSSR ungewöhnliche Möglichkeit eingeräumt wurde, eigene Überzeugungen – wenn auch zaghaft – zu äußern, selbst wenn sie dem offiziellen Gesetzentwurf widersprachen. Radikale Kritik wurde jedoch selbstverständlich nicht zugelassen. Vergleicht man diese mit anderen großen propagandistischen Kampagnen des Jahres 1936 wie den „Volksbesprechungen“ des Entwurfs zur zweiten Verfassung oder des ersten Moskauer Schauprozesses, so fällt der eher pluralistische Charakter dieser „Volksbesprechung“ ins Auge. Als möglicher Grund dafür erscheint, dass das stalinistische Regime in dieser eher zweitrangigen propagandistischen Kampagne des Jahres 1936 bereit war, seiner Bevölkerung mit der für sowjetische Verhältnisse ungewohnt „freien“ Diskussion ein „Ventil“ zu öffnen.
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Die „Volksbesprechung“ veränderte den Gesetzentwurf, der im Juli 1936 als sowjetisches Gesetz in Kraft trat, nicht grundsätzlich. Als Konzession an die Wünsche der Bevölkerung erklärte sich die Regierung bereit, die Durchführung von Abtreibungen in Krankenhäusern zu erlauben, sofern Eltern in Gefahr standen, an ihre Nachkommen schwere Krankheiten zu vererben. Ebenso war sie bereit, die Anzahl von Kindern, ab der kinderreiche Familien finanzielle Hilfe beanspruchen konnten, um eins zu reduzieren. Außerdem wurde die Höhe der Unterhaltszahlungen etwas herabgesetzt.46 Das Gesetz aus dem Jahr 1936 löste die Abtreibungsproblematik nicht, die in der BSSR bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bestand. So sandte die Staatsanwaltschaft der Stadt Minsk am 15. Mai 1937 eine Mitteilung an die Stadtund Republikführung über die Inhaftierung der Gynäkologin Ch. Die Ärztin war nach dem tragischen Tod der Näherin Rosa K. vom 25. April 1937 ins Blickfeld der Staatsanwaltschaft geraten. Der Todesfall hatte sich nach einer Abtreibung ereignet, die Ch., wie in der Untersuchung festgestellt wurde, nach Zahlung eines umfangreichen Honorars in der Wohnung der Toten durchgeführt hatte. Die Ärztin wurde unter Arrest gestellt.47 Dass sich der Staatsanwalt der Stadt Minsk persönlich mit dem Fall Ch. beschäftigte und die Informationen über den Vorfall Ende April sogar der Republikführung vorgelegt wurden, erklärt sich sowohl aus dem Abtreibungsfall selbst als auch aus der Person der Ärztin: Ch. war eine der bekanntesten Gynäkologinnen der Republik. Fast eineinhalb Jahre später musste sich die republikweite Konferenz des Aktivs der Arbeiter im Gesundheitswesen mit dem Thema Abtreibung beschäftigen. Auf der Konferenz wurde eine Resolution zum Vortrag des Volkskommissars für Gesundheitswesen der BSSR über die Lage des Gesundheitswesens in der BSSR und zu den grundlegenden Aufgaben für das Jahr 1939 verabschiedet. Darin betonte man, dass der Kampf gegen Abtreibungen in der Republik nur ungenügend geführt würde und dass eine ganze Reihe von Gebietsgesundheitsämtern den Plan zur Bereitstellung von Geburtshäusern in Kolchosen nicht erfüllt habe.48 Die Konferenz verpflichtete die Mediziner für das Jahr 1939 dazu, einen Beitrag zur deutlichen Senkung der Anzahl von Abtreibungen in der BSSR zu leisten. Ihnen wurde in diesem Zusammenhang vorgeschrieben, gesundheitliche Aufklärungsarbeit für Frauen zu leisten und Personen bloßzustellen, die illegale Abtreibungen vornahmen. Letztere sollten strengstens zur Verantwortung gezogen werden. Der Übergang vom 46
47 48
Pastanova Cėntral’naha Vykanaŭčaha Kamitėta i Soveta Narodnych Kamisaraŭ Sajuza SSR „Ab zabarone abortaŭ, paveličėnni matėryjal’naj dapamohi rožanicam, ustanaŭlenni dzjarzaŭnaj dapamohi šmatsjamejnym, rasšyrėnni setki radzil’nych damoŭ, dzicjačych jasljaŭ, dzicjaych sadoŭ, uzmacnenni kryminal’naha pakarannja za neplacež alimentaŭ i ab nekatorych zmenach u zakanadaŭstve ab razvodach“, in: Rabotnica i kalhasnica Belarusi 16 (1936), S. 18. Gosudarstvennyj arсhiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. (= Fond) 164p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 230, L. (= List) [Blatt] 28. Rezoljucija Respublikanskogo soveščanija aktiva rabotnikov zdravoochranenija po dokladu Narkoma zdravoochranenija BSSR i osnovnych zadačach na 1939 g., 11–13 maja 1939 g., Minsk 1939, S. 7.
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Wort zur Tat ließ nicht lange auf sich warten. Ende Mai 1940 berichtete die Zeitung Bol’šėvicki šljach („Bolschewistischer Weg“, Rayon Polack), dass eine Schneiderin, die illegale Abtreibungen vorgenommen hatte, zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war.49 Übersetzung: Elizaveta Slepovitch und Ina Metzner
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Nik. Ėrdman, Sud. Padpolny abartaž, in: Bol’šėvicki šljach v. 30.5.1940, S. 4.
KINDER IM FOKUS VON POLITIK UND PROPAGANDA IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND IM KRIEG Alexander Pesetsky Bis Juni 1941 existierte in der UdSSR ein bemerkenswertes System der Vorschulerziehung und -bildung: Kinder im Alter bis drei Jahren besuchten Kinderkrippen. Für Jungen und Mädchen von drei bis sieben Jahren gab es Kindergärten. Waisenkinder und Kinder ohne Erziehungsberechtigte wurden in speziellen Kinderheimen untergebracht.1 Der Kriegsbeginn und die deutsche Besetzung von Weißrussland im Sommer 1941 zerstörten das sowjetische System der vorschulischen Erziehung und Bildung. Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheime wurden teils durch die Sowjetbehörden evakuiert, teils von der Besatzungsmacht geschlossen oder fristeten ihre Existenz unter den Kriegsbedingungen mühsam weiter. Zahlreiche Kinder, vor allem Juden und Roma, fielen bereits in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsbeginn der Vernichtungspolitik der deutschen Okkupanten und ihren Helfern vor Ort zum Opfer. Sowohl die sowjetische als auch die deutsche Propaganda widmete in der Kriegszeit den Kindern besonders viel Aufmerksamkeit: Beide waren bestrebt, sich selbst als Beschützer und den Gegner als ärgsten Feind der Kinder und Jugendlichen darzustellen. Der erste Teil des vorliegenden Aufsatzes beschäftigt sich mit Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheimen sowie der Kindersterblichkeit in Sowjetweißrussland in den 1930er und zu Anfang der 1940er Jahre. Eine umfassende Analyse von Presseerzeugnissen, populärwissenschaftlicher Literatur, Aufklärungsbroschüren sowie von Dokumenten der Partei- und Staatsorgane erlaubt es einerseits, die bedeutende Rolle dieser Aspekte in der Sozialpolitik des Sowjetstaates sowie in der bolschewistischen Propaganda aufzuzeigen, andererseits aber auch, den tatsächlichen Zustand von Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheimen in der BSSR zu schildern. Im zweiten Teil wird untersucht, welchen Stellenwert das „Kinderthema“ im Propagandakrieg zwischen Deutschland und der UdSSR in Weißrussland erhielt. KINDERKRIPPEN, KINDERHEIME UND KINDERGÄRTEN: SOWJETISCHE PROPAGANDA UND REALITÄT Die sowjetische Presse der 1930er Jahre betonte unermüdlich die beispiellose und allumfassende Sorge des Staates für die Kinder, unter anderem für ihre Gesundheit und Freizeitgestaltung. Während die Lage proletarischer Kinder in den kapitalisti1
Vgl. Rasšyrėnne setki dzicjačych damoŭ, in: Zvjazda v. 26.3.1941, S.4.
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schen und insbesondere in den „faschistischen“ Ländern extrem schwierig sei, schaffe man in der UdSSR alle Bedingungen, damit sich Kinder harmonisch und vielseitig entfalten könnten.2 Hatten „Proletarier“ und deren Kinder vor der Oktoberrevolution um ihr physisches Überleben kämpfen müssen, beneide heutzutage die ganze Welt die „glücklichen“ kleinen Bürger der großen Sowjetunion und deren „freie“ Mütter.3 Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten offizielle Berichte über bedeutende staatliche Investitionen für Bau- oder Renovierungsarbeiten in Kinderkrippen, Kinderheimen und Kindergärten in Städten und Dörfern.4 Hervorgehoben wurden sommerliche Erholungs- und Kurmöglichkeiten unter medizinischer Aufsicht in Kinderferienlagern (Pionierlagern), Sanatorien und auf den so genannten „Gesundheitsspielplätzen“.5 So teilte die weißrussische Telegrafenagentur Belta in der zweiten Maihälfte 1936 mit, im bevorstehenden Sommer würden Pionierlager der BSSR 30 000 und Sanatorien 5 000 Kinder beherbergen können. Dafür habe der Staat über 3,5 Mio. Rubel zur Verfügung gestellt.6 Sowjetische Autoren waren bestrebt, zur Erziehung von gesunden, kräftigen, leistungsfähigen und lebensfrohen Jungen und Mädchen beizutragen, die als Patrioten der sozialistischen Heimat sowie künftig als Kommunisten und Verteidiger des Vaterlandes ihren „großen Führer“ Stalin selbstlos liebten. In den Kinderheimen und Pionierlagern widmete man der ideologischen Erziehung der Kinder hohe Aufmerksamkeit: „Nicht allein die Gewichtszunahme der Kinder soll über die Arbeit in Pionierlagern entscheiden. Ein Pionierlager ist erst dann gut, wenn Kinder dort nicht nur zunehmen, sondern sich auch die Qualitäten des neuen Sowjetmenschen aneignen – eines künftigen Bolschewiken“.7 Im Falle einer ehemaligen Kinderheimbewohnerin aus der Stadt Barysaǔ trug eine solche Erziehung offenbar Früchte: In der Zeitung Bol’šėvik Barysaǔščyny („Bolschewik des Rayons Barysaǔ“) vom 8. April 1938 betonte sie, es gebe für sie nichts Kostbareres, nichts Wertvolleres als die Heimat und „den großen Stalin“.8 Um die Kinder und deren Eltern von der Notwendigkeit persönlicher Hygiene, einer gesunden Lebensweise sowie körperlicher Ertüchtigung zu überzeugen, griffen Sowjetautoren in den 1920er Jahren sogar zu eugenischen Argumenten. Ein Beispiel ist die Mitte der 1920er Jahre erschienen Broschüre „Hygiene des Pioniers“. Der Verfasser L. M. Vasilevskij schrieb unter anderem, „schwache“ und „kränkelnde“ Menschen seien nicht im Stande, im erforderlichen Maße zu arbeiten, 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. beispielsweise Ė. Ju. Šurpe, Ozdorovitel’naja ploščadka i sanatornyj lager’, Kaluga 1933, S. 5. Vgl. etwa B. R. Rodman, Obespečenie mnogodetnych materej i zadači organov zdravoochranenija, in: Voprosy materinstva i mladenčestva 4 (Mai 1939), S.39. Vgl. bpsw. Belta, Stalinskija chlopaty ab pracoŭnaj žančyne, in: Zvjazda v. 7.3.1941, S. 4. Vgl. Turėckaja, Ab achove žyccja pracoŭnych, in: Stalinski šljah v. 9.8.1936, S. 2. Vgl. Belta, Lahery, sanatoryi i zdraŭnicy dlja dzjacej, in: Kalektyvist v. 20.5.1936, S. 2. Zadači pionerskogo lagerja, in: Za obrazcovuju dorogu v. 21.6.1940, S. 2. Siehe auch Z. S. Levin Azdaraŭlenne dzicjačaha doma, Minsk 1936, S. 3. N. V. Baradzina, Uzhadavala mjane soveckaja ŭlada, in: Bol’šėvіk Barysaŭščyny v. 8.4.1938. S. 3.
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wodurch sie für die Gesellschaft ohne Nutzen seien; „Kranke“ und „Invaliden“ würden manchmal sogar zur „Last“ für ihre Nächsten.9 Ein Kollege Vasilevskijs, А. Jafimaŭ, warnte Anfang der 1930 Jahre in einer Broschüre über „Ansteckende und soziale Krankheiten bei Kindern“, syphiliskranke Eltern zeugten oft „gehörlose“, „dumme“ und „unfähige“ Kinder.10 Der Ausbau der Schwerindustrie und die Kollektivierung der Landwirtschaft erhöhten in den 1930er Jahren rapide den Bedarf an Arbeitskräften. In diesem Zusammenhang bemühte sich die Sowjetmacht, junge Mütter möglichst schnell an ihre Arbeitsplätze zurück zu bringen, indem Kinder durch das Personal von Kindergärten und Kinderkrippen versorgt werden sollte. Die sowjetische Propaganda forderte Eltern daher nachdrücklich auf, ihre Kinder in die Kindergärten und Kinderkrippen zu schicken, in denen qualifizierte, gut ausgebildete und verdiente Mitarbeiter tätig seien.11 In den 1930er Jahren erklärte die Presse den Missständen in konkreten Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheimen vor Ort den Kampf; damit ließ man ungewollt einen auffallenden Kontrast zwischen der offiziellen Propaganda und der sowjetischen Realität deutlich werden. Die Fülle an Kritik- und Enthüllungspublikationen sowie die Ähnlichkeit der darin bemängelten Kalamitäten erlauben es, die Problemlage in den Kinderbetreuungsanstalten der BSSR vor der deutschen Invasion zu skizzieren. Beispielsweise konnten in ländlichen Gegenden Kinderkrippen sogar ganz fehlen. Das Tempo, mit dem neue Kinderkrippen und Kindergärten gebaut wurden, ließ zu wünschen übrig. So wurden entsprechende Baupläne 1939 in der BSSR lediglich zu 9 % erfüllt; damit nahm die Republik Ende der 1930er Jahre in dieser Hinsicht den letzten Platz in der UdSSR ein.12 Betriebe und Institutionen schenkten dem Auf- und Ausbau eines Netzes aus Pionierlagern, Sanatorien und „Gesundheitsspielplätzen“ nicht genügend Aufmerksamkeit. Oft waren Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheime in ungeeigneten und zudem von Grund auf sanierungsbedürftigen Räumlichkeiten untergebracht. Kinderbetreuungsanstalten befanden sich in einem gesundheitsbedrohenden Zustand, die Kinder wurden mit schlechter Nahrung verpflegt, das inkompetente Personal vernachlässigte seine Pflichten, missbrauchte seine Positionen und bereicherte sich auf Kosten der Kinder. Unter solchen Bedingungen brachen Infektionen und andere Krankheiten aus, gelegentlich mit Todesfolge.13 Die Presse verlangte Rechenschaft von den für die Missstände Verantwortlichen.14 Pressepublikationen über verschiedene Krankheiten sowie allgemeinwissenschaftliche, populärwissenschaftliche und aufklärende Broschüren zeigen, dass die 9 10 11 12 13 14
L. M. Vasilevskij, Gigiena pionera, Moskau 1925, S. 62. A. Jafіmaŭ, Zaraznyja і socyjal’nyja chvaroby ŭ dzjacej, Minsk 1930, S. 12. Vgl L. B. Nimen, Sanitarnaja kul’tura v detskom sadu, Leningrad und Moskau 1935, S.5. Vgl. Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. (= Fond) [Bestand] 8009, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 310, L. (= List) 40. Vgl. etwa Averbuch, Besparadki ŭ dzicjačym dome, in: Bol’šėvіk Barysaŭščyny v. 4.1.1938, S. 2. Vgl. z. B. Soryna, Zdzeki z kalhasnicy, in: Stalinski šljach v. 4.9.1936. S. 2.
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Epidemiesituation in der Republik trotz der intensiven Aufklärungspropaganda äußerst schwierig blieb. Weiterhin erlauben es diese Quellen, die unter Kindern der BSSR in den 1930er und Anfang der 1940er Jahre am meisten verbreiteten Krankheiten festzustellen. Dazu gehörten Dyspepsie, Rheuma, Typhus, Pedikulose, Glatzflechte, Rachitis, Diphtherie, Pocken, Mumps und andere mehr.15 In manchen Fällen konnten Ärzte den erkrankten Kindern aus verschiedenen Gründen (unter anderem wegen fehlender Transportmittel) nicht rechtzeitig die notwendige Hilfe leisten.16 Aus geheimen Akten von Parteiorganen geht hervor, dass die Impfkampagnen in der BSSR ziemlich erfolglos verliefen; 1935 waren sogar ganze Gebiete der Republik von einer Dysenterie-Epidemie bedroht.17 Die offizielle Propaganda berichtete dagegen von den Erfolgen des sowjetischen Gesundheitswesens bei der Bekämpfung von Infektionen, darunter der Tuberkulose. Im Jahre 1938 erschien die Broschüre „Kindertuberkulose und ihre Bekämpfung“ von R. M. Perlin. Der Verfasser schilderte ausführlich die Erfolge bei der Bekämpfung von Tuberkulose in der UdSSR und hob mit Genugtuung die sinkende Anzahl von Todesfällen hervor. Die kranken Kinder von Werktätigen, so Perlin, erhielten Kuren in speziellen Gesundheitsfürsorgestellen und Sanatorien. Zur gleichen Zeit bleibe die Tuberkulose im Westen, genauso wie im Zarenreich vor 1917, eine „Proletarierkrankheit“. Die Ausbreitung der Tuberkulose und die damit verbundene steigende Anzahl von Todesfällen unter den Werktätigen wurden auf die „Furcht erregenden“ sozialen, wirtschaftlichen und alltäglichen Lebensbedingungen in kapitalistischen Ländern zurückgeführt.18 DAS „KINDERTHEMA“ IM PROPAGANDAKRIEG Nach dem Kriegsausbruch und im Zuge der Besetzung der weißrussischen Gebiete durch die deutsche Wehrmacht gerieten Kinder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowohl der sowjetischen – auch der im Untergrund betriebenen – als auch der nationalsozialistischen Propaganda. Die sowjetische Seite betonte, Partei- und Staatsorgane hätten ihr Bestes getan, um die Kinder vor der faschistischen Herr15
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Vgl. etwa Z. S. Levіn, Parady ŭrača. Rėŭmatyzm u dzjacej, in: Rabotnіca і kalhasnіca Belarusі 5 (März 1940), S. 16; A. I. Dobrochotova, Kak ubereč’ detej ot letnich ponosov, Moskau 1939; Ab prafіlaktyčnych merapryemstvach pa papjarėdžannju zachvorvannjaŭ. Abavjazkovaja pastanova №2 Orhkamіtėta Prėzіdyŭma Vjarchoŭnaha Soveta BSSR pa Mahіlëŭskaj voblascі, in: Pramen’ komunіzma v 18.4.1939. S. 4. Mark. u. N., Bjazdušnyja adnosiny da žyvoha čalaveka, hrubejšae parušėnne statuta, in: Za bol’šėvіckіja kalhasy v. 10.8.1936, S.4. Vgl. Geheimschreiben des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der BSSR, Mikalaj Haladzed, und des Sekretärs des ZK der KP(b)B, Mikalaj Hikala, an die Vorsitzende der Stadtsowjets und Rayonexekutivkomitees, Sekretäre von Stadt- und Rayonparteikomitees der KP(b)B und an das Volkskommissariat für Gesundheitswesen der BSSR v. 28.5.1936, Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 164p, Op. 1, D. 278, L. 388, 389. Vgl. R. M. Perlin, Detskij tuberkulëz i bor’ba s nim, Stalingrad 1938, S. 11.
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schaft zu schützen, indem man sie ins Hinterland evakuiert habe.19 Über die Hälfte der Kinderheime (110 von 190) wurden in Gebiete außerhalb des weißrussischen Territoriums verlagert, ebenso zahlreiche Kindergärten, Pionierlager und Schulen.20Aus Minsk wurden zum Beispiel 60 Patienten aus der Klinik des Weißrussischen Instituts für Mütter- und Kinderfürsorge sowie etwa 250 Kinder aus dem „Kinderheim Nr. 1“ evakuiert. Dank der selbstlosen Bemühungen der Mitarbeiter – und allen voran des Direktors – wurde ebenso das Kinderheim für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen in der Stadt Rahačoǔ (Gebiet Homel’) evakuiert.21 Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben ca. 16.500 Kinder ins sowjetische Hinterland verbracht.22 Die nationalsozialistische Propaganda behauptete dagegen in ihrer in russischer und weißrussischer Sprache an die lokale Bevölkerung gerichteten Presse, Sowjetfunktionäre hätten bei ihrem panischen Rückzug Richtung Osten zahlreiche Kinder im Stich gelassen.23 Bereits während der ersten Kriegstage starben viele Kinder bei deutschen Luftangriffen. Kinder von Juden und Roma fielen dem Genozid zum Opfer: Schwangere Frauen und Babys wurden von Nationalsozialisten und den örtlichen Kollaborateuren unmittelbar vor Ort ermordet oder gezielt grausamer Folter unterzogen, um sie eines qualvollen Todes sterben zu lassen. Mehrere Kinderheime wurden geschlossen, ihre Gebäude beschlagnahmt und Kinder getötet.24 Bei der Vernichtung des jüdischen Ghettos im Dorf Janavičy (Gebiet Vicebsk) 1941 beispielsweise wurden Kinder lebendig begraben; minderjährige Gefangene im Minsker Ghetto wurden mit dem Kopf gegen Steine geschlagen und dann in Gruben für die Toten geworfen.25 Einzelne Einheimische (unter anderem Mitarbeiter von Kinderheimen) zeigten wahren Heldenmut, indem sie jüdische Kinder versteckten und damit ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Während der Strafaktionen gegen Partisanen und Untergrundkämpfer kannten viele SS-, Polizei- und Wehrmachteinheiten sogar bei Kindern, Frauen und Alten keine Gnade. Offizielle sowjetische Quellen sowie Augenzeugenerinnerungen berichten von so genannten „Blutspendelagern“ im Rayon Petrykaŭ und im Rayon Žlobin (Lehr- und Versuchsbetrieb „Rotes Ufer“): Hier
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Vgl. bspw. Zabota ob ėvakuirovannom naselenii, in: Pravda v. 18.12.1941, S. 1; Zabotit’sja o zdorov’e detej, in: ebd. v. 3.6.1943, S. 1. Vgl. H. I. Aljachnovič, Ėvakuacyja, in: M. Ja. Aŭchimovič (Hrsg.), Belarus’ u Vjalikaj Ajčynnaj vajne, Minsk 1990, S.646. Vgl. U. P. Paŭlaŭ, Dzecі lіchaleccja: dakumental’nyja narysy, Minsk 2005, S.112, 118. Vgl. Aljachnovič, Ėvakuacyja (Anm. 20), S. 646. Hierzu siehe z. B. Alexander Friedman, Die Evakuierung von 1941 in der Sowjetunion zwischen Propaganda und Wirklichkeit: Der Fall Weißrussland, in: Fabian Lemmes, Johannes Großmann, Nicholas J. Williams, Olivier Forcade und Rainer Hudemann (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege, Berlin 2014, S. 141–156, hier: S. 150–155. Hierzu siehe Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941–1944, Düsseldorf 1998, S. 201–206. Zum Kinderheim in Čėrven’ siehe den Beitrag von Vikoria Latyseva, Alexander Pesetsky und Alexander Friedman in diesem Band. Mitteilung der Lehrerin Elena A. Ryko (8. Mai 1942), Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. 750p, O. 1, D. 224, L. 44.
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dienten Häftlinge – Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren – als Blutspender für deutsche Soldaten und Offiziere.26 Publikationen über die Gräueltaten der Besatzer erschienen regelmäßig in sowjetischen Zeitungen. Besondere Aufmerksamkeit galt Berichten über die in den besetzten Gebieten erschossenen Kinder. So wurde eine Tragödie bekannt, die sich laut sowjetischen Quellen im Dorf Rėčycy (Gebiet Minsk) abgespielt haben soll: Die deutschen Täter erschossen drei Jugendliche, die sich geweigert hatten, Auskunft über Partisanen zu geben. Dabei schnitten die Täter einem gehörlosen Jungen Nase und Ohren ab und zwangen ihn, eine Grube auszuheben, vor der er anschließend erschossen wurde.27 Weiterhin wurde über tragische Schicksale von Waisenkindern berichtet, die ihre Eltern verloren hatten, über Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen und deren Infizierung mit Geschlechtskrankheiten, über den Missbrauch von kranken und behinderten Kindern, über die Liquidierung von Kinderheimen mit der Konfiszierung ihrer Räumlichkeiten und der erbärmlichen Lebensmittelvorräte, sowie über fehlende medizinische Versorgung von Kindern. In den übrig gebliebenen Kinderheimen aber fristeten Kinder ein elendes Dasein, oft bis zum Verhungern. Betont wurde weiterhin auch, viele Kinder und Jugendliche hätten sich den antifaschistischen Widerstandkämpfern angeschlossen.28 Die Besatzungspresse bezichtigte ihrerseits die bolschewistische Propaganda der Lüge und behauptete, Gewalt gegen Kinder habe bereits vor dem Krieg einen wichtigen Teil von Stalins Strafpolitik gebildet und werde nach wie vor durch die Geheimpolizei NKVD und durch die Rote Armee aktiv eingesetzt. Die „große“ deutsche Wehrmacht habe die Kinder von dem „jüdisch-bolschewistischen Joch befreit“, umgebe sie in dieser schwierigen Kriegszeit mit Fürsorge und Aufmerksamkeit, schaffe alle nötigen Bedingungen für eine harmonische Persönlichkeitsentwicklung und gebe ihnen die einmalige Chance, eine würdige Zukunft im „Neuen Europa“ Adolf Hitlers zu „erkämpfen“. Die dankbaren Kinder ihrerseits empfänden gegenüber ihren „deutschen Befreiern“ „grenzenlose Dankbarkeit“ und hassten den Bolschewismus glühend, der sie vor dem Krieg unterdrückt habe.29 Die 26
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Vgl. Bericht der sowjetischen Untersuchungskommission über die nationalsozialistischen Verbrechen im Dorfsowjet Čyrvony Berah v. 20.11.1944, NARB, F. 861p, O. 1, D. 6, L.153. Siehe auch M. E. Hrycok, Fašysckija zverstvy, in: S. P. Samuėl’ (Hrsg.), Pamjac’. Žlobin. Žlobinski raën, Minsk 2000, S. 156. Siehe z. B. Protestschreiben von gesellschaftlich angesehenen Persönlichkeiten an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes über die Gräueltaten der deutschen Behörden gegen das weißrussische Volk (Februar 1942), NARB, F. 750p, O. 1, D. 223, L. 13. Vgl. etwa Ė. Vilenskij, Smert’ zverju!, in: Izvestija v. 15.7.1942, S. 3. Siehe auch Sammlung von an die Zeitung Saveckaja Belarus’ („Sowjetweißrussland“, Moskau) gerichteten Zeitzeugenberichten (1942), NARB, F. 750p, O. 1, D. 130, L. 158. Vgl. bspw. Ščas’livae malenstva (Z apavjadan’nja chlopčyka Sašy M., 13 hod), in: Belaruskaja hazėta [Weißruthenische Zeitung] [Minsk] v. 13.10.1942, S. 2; Nadzeja Abramava, Praca BNS z dzec’mi, in: ebd., S. 3; K. Akimov, Samoėkzekucija krest’janstva u bol’ševikov, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Vicebsk] v. 18.6.1942, S. 4; Utrennik v detskom dome Nr. 3, in: ebd. v. 22.6.1942, S. 4; V pol’zu detej, in: ebd. v. 30.7.1942, S. 4; Škola v Nevele, in: ebd. v. 20.9.1942, S. 4; V. Sergeev, Tverdolobye lguny, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Babrujsk] v. 28.8.1943, S. 3.
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Belaruskaja hazėta („Weißruthenische Zeitung“), Novyj put’ („Der neue Weg“) und andere Besatzungszeitungen informierten ihre Leser regelmäßig über den erbärmlichen Zustand von Kinderbetreuungsanstalten in der UdSSR, über den katastrophalen Zustand des sowjetischen Gesundheitswesens vor dem Krieg, über wieder in Betrieb genommene Kinderheime und über die Eröffnung neuer Kinderbetreuungsanstalten in verschiedenen Gebieten Weißrusslands.30 Die Besatzungspresse forderte die Bevölkerung auf, diesen Anstalten alle mögliche Hilfe zu leisten.31 Ende 1943 und Anfang 1944 – die Situation an der Front hatte sich für Deutschland verschlechtert und die Wehrmacht musste den Rückzug antreten – erschienen in der Besatzungspresse Berichte über „grausame Verbrechen“ wie die zielgerichtete Vernichtung von Frauen, Kindern und Alten in den nun von den Deutschen verlassenen Territorien durch die Rote Armee und den NKVD. Mit Hilfe solcher PropagandaErfindungen versuchten Nationalsozialisten sowie lokale Kollaborateure die Sympathien der weißrussischen Bevölkerung zu gewinnen und diese zum „letzten Kampf“ gegen „die roten Barbaren“ zusammenzuschweißen.32 SCHLUSSFOLGERUNGEN Bis zum Kriegsbeginn widmete sich die sowjetische Propaganda regelmäßig dem „Kinderthema“, um die Vorteile und den humanistischen Charakter des ersten sozialistischen Staates zu schildern, der seine jungen Bürger mit Fürsorge umgebe, ihnen eine „glückliche“ Gegenwart sichergestellt habe und sie zu einer noch glücklicheren Zukunft führe. Die „erfolgreiche Entwicklung“ des Systems von Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderheimen wurde als eine wichtige Errungenschaft der Sowjetmacht, der bolschewistischen Partei und Stalins persönlich dargestellt. Die miserable Lage der Kinder der Werktätigen im Zarenreich bis 1917 und außerhalb der Sowjetunion sollte den „ausbeuterischen Charakter“ der dem baldigen Untergang geweihten „antimenschlichen“ kapitalistischen Ordnung deutlich vor Augen führen.
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Vgl. etwa Z. Bojdacki, Hod tvorčae pracy, in: Belaruskaja hazėta [Weißruthenische Zeitung] [Minsk] v. 15.10.1942, S. 3; Chronika, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Vicebsk] v. 21.10.1942, S. 4; S. V., Mar’ina Gorka segodnja, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Babrujsk] v. 24.7.1943, S. 4; Ešče odno kul’turnoe učreždenie, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Lepel’]v. 5.8.1943, S. 5; V detskom dome, v Borisove, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Homel’] v. 7.8.1943, S. 4; Vgl. z. B. K graždanam i k graždankam Bobrujska, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Babrujsk] v. 21.8.1943, S. 4; F. N. Vasil’ev, Pomožem sirotam vojny, in: ebd. v. 15.9.1943, S. 4; Minčuk, My sami pavinny dapamahčy svaim bratom, in: Belaruskaja hazėta [Weißruthenische Zeitung] [Minsk] v. 20.12.1943, S. 4. Vgl. etwa B. Kozel, Z’verstvy stalinskich chaluëŭ, in: Belaruskaja hazėta [Weißruthenische Zeitung] [Minsk] v. 13.12.1942, S. 2; Z’verstvy bal’šavikoŭ nad cyvil’nym žycharstvam pas’lja adychodu nemcaŭ, in: ebd. v 13.12.1943, S. 3; Šatanski pljan Stalina z’niščėn’nja belaruskaha narodu vykryty, in: ebd. v. 8.3.1944, S. 1; Pridorogina, Kommentarii k ob’javleniju, in: Novyj put’ [Der neue Weg] [Babrujsk] v. 17.7.1943, S. 3.
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Dieses Propagandabild von „glücklichen gesunden Kindern“ in der BSSR lässt sich an Hand von Pressematerialien und anderen Quellen grundlegend korrigieren. Die Lage in den Kinderbetreuungsanstalten blieb bis zum Kriegsbeginn äußerst schwierig: Kindern fehlte manchmal das Allernötigste, sie waren schlecht untergebracht und verpflegt. Die Bekämpfung von Kinderkrankheiten blieb ebenfalls unzureichend. Unter den Bedingungen des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR nahm die Bedeutung des „Kinderthemas“ noch weiter zu. Ohne Unterstellungen und Verdrehungen zu scheuen, beschuldigten die Gegner einander der Gewalt gegen schutzlose Kinder. Gleichzeitig suchte man sich selbst als Sprecher und Verfechter der Interessen der jungen Generation ins rechte Bild zu rücken. Das „Kinderthema“ ist damit eine Thematik, bei deren Instrumentalisierung für jeweils eigene Zwecke Vorkriegs- und Kriegspropaganda in besonders komplexer Weise ineinandergriffen. Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
BEHINDERTENBILDER DER SOWJETISCHEN VORKRIEGS-PROPAGANDA Vasili Matokh Behindertenbilder in der sowjetischen Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre sind bis heute nur ansatzweise erforscht. Dieses Thema wurde von der russischen Historikerin Elena Jarskaja-Smirnova aufgegriffen, welche die Vorstellungen von Behinderung und Krankheit in Russland und in Westeuropa vergleichend untersuchte,1 das Bild von Behinderten in der russischen (vor 1917) und in der sowjetischen Filmkunst vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR analysierte und dabei zum Ergebnis kam, die sowjetische Filmkunst habe sich auf die „Umerziehung“ der von der staatlichen Hilfe abhängigen Behinderten in arbeitsfähige und ideologisch treue „Erbauer des Sozialismus“ konzentriert.2 Mit der Darstellung von Kriegsinvaliden in der sowjetischen Filmkunst befasste sich auch die deutsche Historikerin Beate Fieseler.3 Die Entwicklung des Behindertenbildes in der UdSSR war geprägt durch die Traditionen des Zarenreiches. Gegenwärtig vertreten russische Forscher die Ansicht, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei in Russland auf staatlicher Ebene die Tendenz aufgekommen, Behinderung als persönliche Tragödie zu begreifen: Der russische Staat habe einen Kriegsinvaliden oder Zivilbehinderten als einen hilfsbedürftigen Menschen betrachtet und behandelt, der unfähig war, sein Leben eigenständig zu gestalten und selbst darüber zu bestimmen.4 Soziologen vertreten den Standpunkt, diese Herangehensweise an das Phänomen der Behinderung habe bis zu deren Ende auch in der UdSSR dominiert.5 1
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P. V. Romanov u. E. R. Jarskaja-Smirnova, Obraz vlasti i vlast’ obraza. Bol’ noe telo v kul’ture, in: Teorija mody: odežda, telo, kul’tura 18 (2011), S. 91–116; E. R. Iarskaia-Smirnova (= Elena Jarskaja-Smirnova) u. P. V. Romanov, Heroes and Spongers: The iconography of disability in Soviet poster and film, in: Michael Rasell u. Elena Iarskaia-Smirnova (Hrsg.), Disability in Eastern Europe and the Former Soviet Union, London u. New York, S. 67–96. Elena R. Jarskaja, Formirovanie predstavlenij ob invalidnosti v sovetskom kinematografe 1920-сh–1940-сh gg., in: E. F. Krinko, T. P. Chlynina u. I. G. Tažidinova (Hrsg.), Povsednevnyj mir sovetskogo čeloveka 1920–1940-ch gg.: žizn’ v uslovijaсh social’nych transformacij / The Daily world of the soviet man of 1920–1940 s: the life in the conditions of social transformations, Rostov am Don 2009, S. 367–377. Beate Fieseler, Keine Leidensbilder. Die Invaliden des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ im sowjetischen Spielfilm, in: Beate Fieseler u. Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Kriegsbilder. Mediale Repräsentation des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘, Essen 2010, S. 77–94. M. A. Kuznecov, Pravovoe polоženie invalidov po sluсhu v Rossii (vtoraja polovina XIX – načalo XXI veka): avtoreferat dissertacii na soiskanie učenoj stepeni kandidata juridičeskiсh nauk, Moskau 2008, S. 16. E. R. Jarskaja-Smirnova u. Ė. K Naberuškina, Social’naja rabota s invalidami, Sankt Petersburg 2005, S. 34–39; O. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR, in: P. V. Romanov u. E. R.
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Der vorliegende Beitrag widmet sich einigen Aspekten des Behindertenbildes in der UdSSR der 1920er und 1930er Jahre. Dieses lässt sich anschaulich in der Sowjetpresse nachverfolgen, darunter auch die offizielle Terminologie mit ihrer Interpretation des Behindertenbildes und den damit verbundenen Konnotationen, sowie die zentralen Propagandathesen und Behindertenkampagnen. Als Hauptquellen dienten Fachzeitschriften für Behinderte und Angestellte im Bereich der Sozialfürsorge wie etwa Kooperacija invalidov („Das Genossenschaftswesen der Behinderten“) und Žizn’ gluchonemych („Das Leben von Gehörlosen“), sowjetische Zeitungen sowie Archivbestände sowjetischer (überwiegend weißrussischer) Behörden der Sozialfürsorge. DIE BEHINDERTENTERMINOLOGIE IN DER SOWJETUNION VOR DEM KRIEG Der Status der „Invalidität“ (invalidnost’) wurde in der UdSSR durch den Begriff „Arbeit, Arbeitsfähigkeit“ definiert. Als „Invalide“(invalid) galt offiziell eine Person, die zu einer mit anderen Bürgern vergleichbaren Arbeitsleistung körperlich oder psychisch nicht in der Lage war und damit keinen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten konnte.6 Dies implizierte eine entwertende und diskriminierende Konnotation des Begriffs im Diskurs der kommunistischen Ideologie und Presse sowie bei der sozialen Arbeit. Dieser Tatsache waren sich auch die Mitarbeiter der Sozialfürsorge der UdSSR bewusst und versuchten immer wieder, neue Bezeichnungen einzuführen. So schlug die Vertreterin des Volkskommissars für Sozialfürsorge Lebedeva 1933 vor, den Terminus „Invalide“ ausschließlich für vollständig Arbeitsunfähige einzusetzen. Für alle anderen wurde der Begriff „verhältnismäßig Arbeitsunfähige“ vorgesehen.7 Auch diese Begrifflichkeit basierte jedoch auf dem Konzept der „Arbeitsfähigkeit“. Im Übrigen blieb dieser Vorschlag in der UdSSR ohne Folgen und wurde nicht angenommen. In den Fachzeitschriften für Behinderte fand sich wiederholt die Aussage, beschäftigte Behinderte seien keine „Invaliden“, sondern vielmehr arbeitsfähige Bürger, so dass der Begriff „Invalide“ (als „Arbeitsunfähige“) in ihrem Fall nicht eingesetzt werden dürfe.8 Bedeutsam ist, dass solche Diskussionen in der allgemeinen Presse landesweit ausblieben. Die Arbeitspflicht, wie sie für alle Bürger des kommunistischen Staates galt („Arbeitsprinzip“), drückte dem Terminus „Invalide“ im Kontext offizieller sowje-
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Jarskaja-Smirnova (Hrsg.), Nužda i porjadok: istorija social’noj raboty v Rossii, XX v., Saratov 2005, S. 375–396. RSFSR, Sobranie uzakonenij, Nr. 79 (1921), Artikel 672; Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 4), S. 381; B. I. Frumkin, Rol’ koopinstraсhkass v rabote po ozdorovleniju truda invalidov, in: Kooperacija invalidov 3 (1933), S. 26 f. Zur Begriffs- und Übersetzungsproblematik vgl. auch die Einleitung zu diesem Buch. B. I. Frumkin, Pravil’no i racional’no ispol’zovat’ trud invalidov, in: Kooperacija invalidov 6 (1933), S. 25 f. Koncentracija gluсhonemyсh – osnovnoe zveno raboty VOG, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1933), S. 3.
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tischer Schriftstücke sowie in der Presse ihren Stempel auf. So wurde fortdauernd betont, die soziale Versorgung und Fürsorge des Staates gelte „arbeitenden Invaliden“. Diese Wortverbindung findet sich des Öfteren während der Zwischenkriegszeit in der allgemeinen Sowjetpresse sowie in den Fachzeitschriften Kooperacija invalidov und Žizn’ gluchonemych.9 Auch Modifikationen wie „arbeitende Gehörlose“ oder „arbeitende Blinde“ wurden verwendet.10 Eine solche Behindertenwahrnehmung brachte die Betroffenen in die Position Zurückgebliebener, die nicht in vollem Maße an gesellschaftlich nützlicher Arbeit, also am Aufbau der kommunistischen Gesellschaft, teilhaben konnten. Die Propaganda verbreitete mehrheitlich ein Behindertenbild, nach dem Behinderte die Aufgabe hätten, mit der Entwicklung der restlichen Gesellschaft Schritt zu halten und alle ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten für die Partizipation am Arbeitsleben sowie gesellschaftliche Aktivitäten einzusetzen. Als Beispiel können hierfür die Namen einiger Blindengenossenschaften dienen, wie „Im Gleichschritt mit Sehenden“,11 „Der arbeitsame Blinde“12 und andere. Das „Arbeitsprinzip“ führte ebenfalls zu einer gewissen Unschärfe in der offiziellen Terminologie, wenn es sich um Behinderte handelte, die keinerlei Arbeit leisten konnten, zum Beispiel aufgrund angeborener körperlicher oder geistiger Behinderungen. In Briefwechseln zwischen den Behörden der Sozialfürsorge wurden diese Menschen oft unterschiedlich bezeichnet: „Zufallsinvaliden“, „Naturinvaliden“, „Chronische“.13 Das Fehlen einer festgelegten Begrifflichkeit spiegelte die Tatsache wider, dass im Laufe der 1920er Jahre in der BSSR keine systematische Bestandsaufnahme zur Erfassung dieser Behindertengruppe stattfand.14 In der sowjetischen staatlichen Behindertenpolitik lassen sich vor dem Zweiten Weltkrieg zwei Entwicklungsphasen und dementsprechend zwei Darstellungsarten von Behinderten in Presse und Schriftverkehr der Behörden unterscheiden. 9 10 11 12 13
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Koopinstraсhkassy na straže interesov trudjaščiсhsja invalidov, in: Kooperacija invalidov 1–2 (1933), S. 28 f. K trudu i oborone byt’ gotovymi, in: Žizn’ gluchonemych 3 (1935), S. 2. Ukrepit’ artel’noe rukovodstvo, in: Kooperacija invalidov 6 (1935), S. 29. Vstrečaem XVIII s“ezd VKP(b) proizvodstvennymi pobedami, in: Kooperacija invalidov 3 (1939), S. 6. Protokoll der Kollegiumssitzung der Minsker Gouvernement-Abteilung für Sozialfürsorge (26.03.1919), Gosudarstvennyj arсhiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. (= Fond) 475, O. (= Opis’) [Verzeichnis]1, D. (= Delo) [Akte] 5, L. (= List) [Blatt] 50, 50ob., 51; Bericht über die Arbeit der Barysaŭer Rayonabteilung für Sozialfürsorge (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 47, L. 55–57; Schriftwechsel der Minsker Rayonabteilung für Sozialfürsorge mit der Rayonabteilung für Gesundheitswesen (1926–1927), GAMn, F. 477, O. 1, D. 60. Verordnung des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR über die gleichberechtigte Versorgung von Gehörlosen und Kriegsinsvaliden sowie Arbeitsbehinderten (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 129; Bericht der Barysaŭer Rayonsabteilung für Sozialfürsorge über ihre Tätigkeit vom 1.1.1926 bis 1.11.1925, GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 642–650; Brief der Barysaŭer Rayonabteilung für Sozialfürsorge an das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR zur Frage der Aufnahme von Gehörlosen in die staatliche Sozialfürsorge (1926), GAMn, F. 478, O.1, D. 94, L. 107.
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Die erste Phase liegt in den 1920er Jahren, in der Zeit der „Neuen Ökonomischen Politik“ und der Gründungszeit des Behindertegenossenschaftswesens (invalidnaja kooperacija), das den Behinderten ein würdiges Leben sichern sollte. Die Berichterstattung der sowjetischen Presse jener Zeit ist gekennzeichnet durch einen mitfühlenden Stil in der Darstellung Behinderter; hervorgehoben werden ihre bedauerliche Lage und ihre große Hilfsbedürftigkeit gegenüber Staat und Mitbürgern.15 Eine zweite Entwicklungsphase umfasst die 1930er Jahre – eine Zeit beschleunigter Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft während der ersten Fünfjahrespläne unter Stalin. In dieser Zeit entdeckten die staatlichen Ideologen in Behinderten plötzlich potentielle Arbeitskraftressourcen und Mitstreiter für die gesellschaftliche Modernisierung.16 Die Propaganda dieser Phase zeichnete sich durch einen Stil aus, den man als „Vorzeigebericht“ bezeichnen kann: Berichtet wurde über das „wunderbare“ Leben von Behinderten in der UdSSR, über die „ungeheure“ Hilfe und Fürsorge seitens des Staates. Verkündet wurde die Notwendigkeit einer möglichst umfangreichen Teilnahme der Behinderten am gesellschaftlich-politischen Leben und an der Werktätigkeit zugunsten des sozialistischen Staates.17 Unter den beschäftigten Behinderten wurde der sozialistische Wettbewerb ebenso propagiert wie die Bewegung der „Stachanov-Arbeiter“ („Stoßarbeiter“).18 Vor dem Zweiten Weltkrieg fand in der BSSR sogar ein weißrussischer Kongress blinder Stachanov-Arbeiter statt.19 Die Fachzeitschriften Kooperacija invalidov und Žizn’ gluchonemych berichteten regelmäßig von „Invalidentreffen“, bei denen Behinderte Reden über aktuelle politische Ereignisse hielten, wie etwa die Ermordung des Parteispitzenfunktionärs Sergej M. Kirov in Leningrad (Dezember 1934), Gerichtprozesse gegen Oppositionelle innerhalb der VKP(b), das Abtreibungsverbot (1936) oder über die neue Verfassung der UdSSR (1936) und andere Themen mehr.20 Freilich unterstützte man in allen veröffentlichten Reden Behinderter vollständig und ohne Einschränkung die Politik des Staates und der bolschewistischen Partei.21
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G. D. Deev-Chomjakovskij, Privet invalidam, in: Vzaimopomošč’ v. 11.12.1923, S. 3; M. Rogi, Vmesto priveta, in: ebd., S. 3; Dva časa v adu, in: Izvestija Vitebskogo gubernskogo Soveta rabočiсh, krest’janskiсh, krasnoarmejskiсh i batrackiсh deputatov v. 17.3.1920, S. 2. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 5), S. 382. Zadači obščestv gluсhonemyсh, in: Žizn’ gluchonemych 5–6 (1938), S. 1. G. Sakodynec, Byсhovskaja organizacija gluсhonemyсh, in: Žizn’ gluchonemych 4 (1940), S. 23; Lučšie v Bobrujske, in: ebd. 11 (1936), S. 7; Po SSSR, in: ebd. 2 (1940), S. 22. Usebelaruskі zlët stachanaŭcaŭ tavarystva sljapyсh, in: Bol’šėvіk Barysaŭščyny v. 11.1.1938, S. 3. O rešenijaсh ijun’skogo plenuma CK VKP(b), in: Kooperacija invalidov 7 (1935), S. 1; Invalidy obsuždajut proekt Konstitucii, in: ebd. 7 (1936), S. 8 f.; Zabota o ženščinaсh-materjaсh i o detjaсh, in: ebd. 7 (1936), S. 15; Ogromnaja zabota o materi, o detjaсh, o sem’e, in: Žizn’ gluchonemych 11 (1936), S. 2–3; Prigovor naroda, in: Kooperacija invalidov 7 (1937), S. 1 f. Edinodušno odobrjaem spravedlivyj prigovor Verсhovnogo suda nad bandoj izmennikov Rodiny, agentov krovavogo fašizma, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1937), S. 3–4; Gordimsja bditel’nost’ju slavnyсh čekistov, in: Kooperacija invalidov 7 (1937), S. 3.
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Behinderte nahmen auch an der allgemeinen vormilitärischen Ausbildung teil: In den Fachzeitschriften für Behinderte wurde häufig wiederholt, im Falle eines Krieges mit den kapitalistischen Staaten sollten Behinderte genauso wie alle anderen Werktätigen in der Lage sein, die Errungenschaften der Revolution mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.22 Verstärkt propagierte man die vormilitärische Ausbildung unter den Gehörlosen – hervorgehoben wurden insbesondere ihre guten Fähigkeiten als Scharfschützen.23 Das Magazin Žizn’ gluchonemych berichtete mehrmals über den gehörlosen Boxer Karmilin aus Minsk, der sogar sowjetischer Meister wurde.24 Berichtet wurde auch, eine gehörlose Stachanov-Arbeiterin aus Minsk habe sieben Stunden lang in einer Gasmaske arbeiten können und damit ihre gute Kondition unter Beweis gestellt.25 Nichtsdestotrotz behielt der Terminus „Invalide“ seine diskriminierende Bedeutung. In der Zeitschrift Kooperacija invalidov findet sich in den Aufsätzen verschiedener Verfasser – Leitern des Behindertengenosssenschaftswesens eingeschlossen – oft die These, der kommunistische Staat gebe Behinderten durch ihre „nicht vollwertige“ Beschäftigung die Möglichkeit, sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen.26 In einem der Artikel wurde erklärt, die „Nicht-Vollwertigkeit“ der „Invalidenarbeit“ bestehe darin, dass die Betroffenen zum Beispiel nicht bei einer Ziegelbrennerei eingesetzt werden könnten.27 Aus Sicht der bolschewistischen Propaganda bestand die „Nicht-Vollwertigkeit“ der „Invalidenarbeit“ also darin, dass es ihnen – bedingt durch ihre körperliche oder geistige Behinderung – nicht möglich war, unter den gleichen Bedingungen und mit der gleichen Intensität zu arbeiten, wie andere, nicht behinderte Bürger. Je nach der Aufgabe, vor welche die Propagandisten gestellt wurden, konnte die Bedeutung des Begriffs „Invalide“ in der Sowjetpresse (sowohl in der allgemeinen Presse als auch in den Fachzeitschriften) variieren. Deutlich wird dies am Beispiel von Berichten über die Aktivitäten europäischer Veteranen- und Invalidenverbände des Ersten Weltkrieges mit sozial-demokratischer und kommunistischer Ausrichtung. Hier wurde der Terminus „Invalide“ in seiner breiten Bedeutung verwendet und umfasste alle Mitglieder solcher Verbände, obgleich lediglich eine Minderheit von ihnen tatsächlich behindert sein konnte. Das Gleiche lässt sich in den Publikationen des sowjetischen Behindertengenossenschaftswesens beobachten: Als „Invaliden“ wurden alle Mitglieder der Genossenschaften bezeichnet, wenn auch 22 23 24 25 26 27
K trudu i oborone byt’ gotovymi, in: Žizn’ gluchonemych 3 (1935), S. 2. Budem snajperami, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1940), S. 19; Organizovanno sdavat’ normy na Vorošilovskogo strelka, in: ebd. 3 (1935), S. 5; Vogovcy zabyli o voennoj opasnosti, in: ebd. 5 (1933), S. 5. Gluсhonemoj bokser, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1940), S. 19; Nekotorye itogi, in: ebd. 2 (1941), S. 9. Lučšie v Bobrujske, in: Žizn’ gluchonemych 11 (1936), S. 7. Vtoraja pjatiletka kooperacii invalidov, in: Kooperacija invalidov 2 (1932), S. 5; Za sovetskuju igrušku, in: ebd. 5–6 (1932), S. 24; Ob obloženii nalogami kooperacii invalidov, in: ebd. 21–22 (1932), S. 9–11. Kakie nužny proizvodstva kooperacii invalidov, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 4 (1930), S. 12.
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ein großer Teil der Beschäftigen aus nicht behinderten Lohnarbeitern bestand.28 In solchen Texten dominierte die ideologische Aufgabe – dementsprechend konnte die Bedeutung des Terminus „Invalide“ relativ willkürlich verändert werden und sowohl Behinderte als auch Veteranen des Ersten Weltkrieges oder Mitglieder der Behindertengenossenschaften umfassen. Als weiteres Beispiel dieser Bedeutungsausweitung lassen sich Materialien aus dem Jahre 1936 anführen: Während der Debatten um das Gesetz über das Abtreibungsverbot erschienen Informationen über durch Abtreibungen verursachte gesundheitliche Schäden. Dabei tauchte mehrfach die These auf, die infolge von Abtreibungen unfruchtbar gewordenen Frauen seien „Invaliden“.29 Diese Frauen blieben in der Regel arbeitsfähig und waren daher – aus der Sicht der Behörden der Sozialfürsorge – keine „Invaliden“. Jedoch bedeutete der Verlust der Fähigkeit, ihre gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – das heißt Kinder zur Welt zu bringen –, aus Sicht der bolschewistischen Propaganda für Frauen eine Art gesellschaftlicher Invalidität. Unter den Begriffen der bolschewistischen Propaganda sind die Ausdrücke „rote Invaliden“ oder „Revolutionsinvaliden“ besonders zu erwähnen.30 In diesen Termini schlägt sich das Prinzip der sozialen Unterstützung aufgrund von Verdiensten um den Staat nieder. Seine Bedeutung lässt sich als „Invaliden mit Verdiensten um den sozialistischen Staat“ umschreiben, zum Beispiel: Veteranen der Roten Armee, für ihre Leistungen ausgezeichnete Arbeiter, Verwaltungsangestellte oder Parteikader. Solche „Invaliden“ mussten zu allererst versorgt werden: So war das System der Sozialfürsorge ursprünglich ausschließlich für die im Bürgerkrieg verletzten Rotarmisten ins Leben gerufen worden.31 Interessant erscheint die thematische Parallele zum nationalsozialistischen Deutschland: Nach der Machtübernahme führten auch die Nationalsozialisten eine breite Propagandakampagne durch, um Veteranen und Invaliden des Ersten Weltkrieges wegen ihrer Verdienste um das Vaterland zu ehren.32 Als weiterer Fachbegriff der Sowjetpresse kursierte der Terminus „InKorr“ (inkor) – eine Abkürzung für „Invaliden-Korrespondenten“. So wurden „Invaliden“ bezeichnet, deren Briefe und andere Beiträge in den Fachzeitschriften und -zeitun28 29 30
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Zdorovuju rabočuju silu – gospromyšlennosti, in: Kooperacija invalidov 1–2 (1933), S. 18; Statut kaaperacyі іnvalіdaŭ BSSR, Minsk 1938. Zu den Behindertengenossenschaften siehe den gesonderten Artikel von V. Matokh in diesem Band. Miščanka, Abort і jaho škodnasc’, in: Lenіnskі šljaсh v. 27.7.1936, S. 4; A. Hryhor’eva, Ad abortu ja stala іnvalіdam, in: Pramen’ komunіzma v. 3.6.1936, S. 3; Paŭloŭskі, Što prynosіc’ abort, in: ebd., S. 3; Popravki žën ITR, in: Rabočij v. 2.6.1936, S. 2. Social’noe obespečenie v RSFSR k desjatoj godovščine Oktjabrja (1917–1927), Moskau 1927, S. 13; Krasnym invalidam, in: Kommunist v. 22.2.1925, S. 3; Bud’ gotov, in: Vzaimopomošč’ v. 11.12.1923, S. 1; Aufruf des Zentralen Exekutivkomitees der BSSR zur Unterstützung des Weißrussischen Hilfskomitees „Rote Invaliden“ (1925), GAMn, F. 478, O. 1, D. 39, L. 35. Smotr kooperativnyсh rjadov, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 6 (1929), S. 1–2; Dve zadači, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 12 (1929), S. 1. N. Leffel’bajn, Voennye invalidy v politike nacional-socialistov, in: Voprosy istorii 5 (2011), S. 162–165.
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gen für Behinderte und Angestellte der Behörden der Sozialfürsorge erschienen.33 Die Analogie zu den Begriffen „ArbKorr“ (rabkor) von „Arbeiterkorrespondenten“ und entsprechend „DorfKorr“ (sel’kor) von „Dorfkorrespondenten“ ist offensichtlich. Wie die Propaganda beabsichtigte, sollten die „InKorr“ mit ihren kritischen Mitteilungen auf die einzelnen Missstände bei der Arbeit von Behörden der Sozialfürsorge und bei der Propagandaarbeit mit Behinderten vor Ort hinweisen. Mit ihren Meldungen würden die „InKorr“ daher sowohl eine Verbesserung der Fürsorge für Behinderte fördern als auch sich selbst am gesellschaftlichen Leben beteiligen. ZENTRALE PROPAGANDATHESEN UND KAMPAGNEN IN DER SOWJETPRESSE Interessant erscheinen die zentralen Thesen der Sowjetpropaganda hinsichtlich Behinderter in der Zwischenkriegszeit, also vor dem Zweiten Weltkrieg, die vermehrt in den Fachzeitschriften und -zeitungen für Behinderte und Angestellte von Behörden der Sozialfürsorge verbreitet wurden. Äußerst populär war zum Beispiel die These von der schwierigen Lage Behinderter im zaristischen Russland und der radikalen, ja revolutionären Verbesserung der Situation mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki infolge der Oktoberrevolution. In der Regel druckte die Presse zu deren Jahrestag, also jedes Jahr im Oktober und November, eine Zusammenstellung von Erinnerungen Behinderter zu diesem Thema ab. In diesen Berichten schilderten Behinderte, wie schwierig doch ihr Leben vor der Revolution gewesen sei und wie gut es sich nun, in der Sowjetzeit, leben lasse.34 In den Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über die soziale Versorgung von Behinderten wurde ebenfalls deren Lage vor und nach der Oktoberrevolution verglichen. Nicht selten trugen die Berichterstatter absichtlich dick auf: So erklärte die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych 1936 in ihrem Artikel „Kolchosen eröffnen Gehörlosen den Weg in ein neues, lichtes Leben“, vor der Oktoberrevolution seien Gehörlose auf den Dörfern wie „halbe Tiere“ behandelt worden, erst die Oktoberrevolution habe ihnen ihre Bürgerrechte gegeben.35 Sowjetische staatliche Programme der sozialen Hilfe spielten in der Propaganda eine bedeutende Rolle. Selten wurde eine Möglichkeit ausgelassen, die Fürsorge der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates für das Wohl des Volkes hervorzuheben. Es wurde betont, mit der Sozialfürsorge erweise der Staat eine Wohltat, eine reiche Gabe der Barmherzigkeit. Wiederholt veröffentlichte man Ar33 34 35
Daëš’ inkorov dlja Bjulletenja, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 2 (1930), S. 13; Eščë ob inkoraсh, in: ebd. 3 (1930), S. 5. Rasskazy rabočich o staroj i novoj žizni, in: Kooperacija invalidov 11 (1937), S. 24–37; Ran’še i teper’, in: ebd. 11 (1938), S. 16–23 Pod solncem Stalinskoj konstitucii, in: ebd. 11 (1939), S. 19–25; Peredovye ljudi našich artelej, in: ebd. 11 (1940), S. 18–27. Kolсhoznyj stroj otkryvaet gluсhonemym novuju, svetluju žizn’, in: Žizn’ gluchonemych 5–6 (1935), S. 6.
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tikel mit entsprechend charakteristischen Überschriften wie „Die Sowjetmacht sorgt für Invaliden“, „Nur in der Sowjetunion leben Behinderte ein glückliches und fröhliches Leben“ u. a.36 Die bolschewistische Propaganda verkündete, in der UdSSR sei das Problem der sozialen Versorgung körperlich und geistig Behinderter grundlegend gelöst. Das „gelöste“ Problem durfte daher im öffentlichen Diskurs nicht besprochen werden, das heißt in der Presse wurde die Verbesserung oder Veränderung von Wesenszügen der sowjetischen Sozialpolitik nicht erörtert, entsprechende Meinungen und Wünsche von „Invaliden“ wurden deswegen ebenfalls nicht publik gemacht.37 Einen festen Bestandteil dieser Propagandakampagne bildeten Materialien über die Verfassung der UdSSR. Nach Verabschiedung der so genannten „StalinVerfassung“ – der Verfassung der UdSSR von 1936 – waren zahlreiche Pressemeldungen vorwiegend deren Lobpreisung gewidmet.38 Es wurde betont, dass der Sozialpolitik im Rahmen dieser Verfassung viel Aufmerksamkeit gewidmet werde und laut Verfassung alle Bürger das Recht auf soziale Versorgung im Alter sowie im Falle einer Erkrankung oder beim Verlust der Arbeitsfähigkeit hätten.39 Zu einer ansehnlichen Propagandakampagne entwickelte sich auch die Berichterstattung Ende der 1930er Jahre über sozialpolitische Maßnahmen in Westweißrussland, der Westukraine, Moldawien, Litauen, Lettland und Estland. Nach der Einverleibung dieser Gebiete 1939–1940 durch die UdSSR veröffentlichte die sowjetische Presse regelmäßig Materialien über wesentliche Verbesserungen der Situation von Behinderten in diesen Territorien.40 Das vor der Annexion existierende System aus privater und öffentlicher Wohltätigkeit wurde in der Folge komplett nach dem sowjetischen Leitbild umgestaltet. Die Zeitschriften Kooperacija invalidov und Žizn’ gluchonemych informierten häufig über die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und Analphabetismus unter den Behinderten in diesen Regionen sowie über den Aufbau eines Systems zur Ausbildung, Arbeitsvermittlung und Freizeitgestaltung von Behinderten.41 Am Beispiel dieser Gebiete demonstrierte die Sowjet-
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Tol’ko v Sovetskom Sojuze invalidy živut sčastlivoj i radostnoj žizn’ju, in: Kooperacija invalidov 3 (1937), S. 13; Sovetskaja vlast’ zabotitsja ob invalidaсh, in: ebd. 11 (1937), S. 21 ff. Šek, Social’noe isključenie invalidov v SSSR (Anm. 5), S. 375–396; Valerij Fefelov, V SSSR invalidov net!…, London 1986, S. 9–36. Invalidy-slepcy govorjat svoe spasibo tovarišču Stalinu, in: Kooperacija invalidov 7 (1936), S. 12; Zolotaja kniga pobedivšego socializma, in: ebd. 1 (1937), S. 1–3; Pod solncem Stalinskoj konstitucii, in: ebd. 11 (1939), S. 19–25. Prava na socyjal’nae zabespjačėnne, in: Lenіnskі šljach v. 17.9.1936, S. 4; Starasc’, jakaja ne paloсhae, in: Rabotnіca і kalhasnіca Belarusі 8 (1940), S. 13. Radost’ osvoboždennogo naroda – naša radost’, in: Kooperacija invalidov 10 (1939), S. 1; Pis’ma iz Grodno, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1941), S. 8; V osvoboždennoj Bessarabii, in: ebd. 4 (1941), S. 12. Doma invalidov v zapadnyсh oblastjaсh BSSR, in: Za obrazcovuju dorogu v. 22.11.1940, S. 1; Boremsja za vseobščee obučenie gluсhonemyсh, in: Žizn’ gluchonemych 2 (1940), S. 11; Iz Belostoka, in: ebd. 8 (1940), S. 24; Ab dzjaržaŭnym bjudžėce BSSR na 1941 hod, in: Komunar Mahіlëŭščyny v. 2.4.1941, S. 3.
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propaganda die fundamentale Lösung sozialer Probleme – darunter auch denen von Behinderten – durch die sozialistische Revolution.42 Alle oben erwähnten Propagandathesen und Kampagnen hatten für die Errungenschaften der Sowjetmacht im Bereich der Sozialpolitik zu werben, und zwar sowohl bei der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion (durch die allgemeine Presse) als auch gezielt bei Behinderten und Angestellten der Sozialfürsorge (durch die Fachpresse). Die unmittelbar auf die Behinderten ausgerichtete Propaganda machte es sich zur Aufgabe, die sowjetischen Invaliden im Geiste „einer restlosen Ergebenheit dem Werke Lenins und Stalins“ zu erziehen und sie zu „aktiven Schöpfern der kommunistischen Gesellschaft“ zu formen.43 Im Alltag bedeutete dies eine aktive Teilnahme von Behinderten an staatlichen politischen und propagandistischen Kampagnen: Wie alle anderen Bürger nahmen Behinderte an den so genannten Säuberungen unter Rentenbeziehern und Genossenschaftsmitgliedern von „klassenfremden Elementen“ teil, sie wirkten bei der Bekämpfung von „Schädlingen“ mit, beteiligten sich am sozialistischen Wettbewerb und an der Bewegung der „Stoßarbeiter“, zeichneten Staatsanleihen u. a. Behinderte nahmen auch aktiv an den Wahlen teil. Im Jahre 1935 teilte die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych mit, bei einer Minsker Wahlversammlung von Gehörlosen sei der Vorsitzende des Minsker Gehörlosenverbandes zum Abgeordneten des Stadtsowjets von Minsk gewählt worden.44 BEHINDERTE IM WESTEN IN DER SOWJETISCHEN PRESSE Die oben angeführte These der bolschewistischen Propaganda über die Vollkommenheit des sowjetischen Systems der Sozialfürsorge führte zu einem weiteren, nicht weniger bedeutungsvollen Thema – der schwierigen Lage von Behinderten im Ausland, genauer in kapitalistischen Ländern. Diese Propagandakampagne soll hier gesondert geschildert werden, da sie wesentlich mit der damaligen sowjetischen Außenpolitik zusammenhing und ein breites Spektrum an Fragen und Themen betraf. Das Bestreben der Sowjetregierung, die internationalen Veteranen- und Invalidenverbände für die kommunistische Propaganda auszunutzen, lässt sich Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre am Beispiel der Zeitschrift Kooperacija invalidov deutlich erkennen. Die Zeitschrift veröffentlichte in diesem Zeitraum viele Materialien über Aktivitäten der Internationale der Kriegsopfer und ehemaligen Frontkämpfer (IAC), die von deutschen und französischen Kommunisten und Sozialisten geleitet wurde.45 Als einzige gesellschaftliche Organisation von Behinderten 42
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Invalidy Ėstonskoj SSR priobščajutsja k tvorčeskomu trudu, in: Kooperacija invalidov 11 (1940), S. 11 f.; V Drogobyče, in: Žizn’ gluchonemych 4 (1941), S. 10; V sovetskoj Bessarabii, in: Kooperacija invalidov 12 (1940), S. 30 f.; Bendit Moses, in: Žizn’ gluchonemych 11 (1940), S. 9–10. Novyj ustav Vserossijskogo obščestva gluсhonemyсh, in: Žizn’ gluchonemych 3 (1941), S. 17. Otčetnoe sobranie v Minske, in: Žizn’ gluchonemych 1 (1935), S. 20. IAC v bor’be za mir, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 3 (1929), S. 10; Internacional žertv vojny (IAС) i ego zadači, in: Kooperacija invalidov 7 (1932), S. 15–17; Čto takoe IAC, in: ebd. 7
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in der UdSSR gehörte der Allrussische Genossenschaftsverband der Behinderten (Vserossijskij sojuz kooperativnych ob’edinenij invalidov, Vsekoopinsojuz) (als Sektion) seit 1927 der IAC an. Ausländische Delegationen von Invaliden und Kriegsopfern besuchten mehrmals die Sowjetunion; anschließend schilderte die Sowjetpresse obligatorisch die Begeisterung der Besucher über das sowjetische System der Sozialfürsorge.46 Bezeichnend erscheint dabei die Tatsache, dass Gegenbesuche sowjetischer „Invaliden“ ins Ausland ausblieben. Auf den Seiten der Zeitschriften Kooperacija invalidov und Žizn’ gluchonemych erschienen zahlreiche Artikel und Materialien über die elende Lage von Behinderten im Ausland: in Frankreich, Deutschland, Österreich, Bulgarien, Jugoslawien, den USA und in anderen Ländern.47 Die Kernaussage der Berichterstattung bildete die Überlegenheit des sowjetischen Sozialsystems gegenüber dem der kapitalistischen Staaten. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ebbten Publikationen über die Tätigkeit ausländischer Invalidenverbände nahezu vollständig ab. Auch die Notwendigkeit der Teilnahme sowjetischer Behindertenverbände an internationalen Aktivitäten wurde in der Presse nicht mehr diskutiert. Die Gründe sind in der geänderten Außenpolitik der UdSSR zu suchen sowie in der Einschränkung der Aktivitäten der Komintern und in den damit zusammenhängenden stalinschen Repressionen gegenüber europäischen kommunistischen Parteiführungen. Berichte über die prekäre Lage von Behinderten im Westen erschienen dagegen weiterhin bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.48 Dabei bildeten die dazu veröffentlichten Materialien im Grunde genommen einen festen Bestandteil des sowjetischen Propagandabetriebes. Alle Informationen, die den Sowjetbürgern zu Kenntnis gebracht wurden, hatten die gleiche, mehr oder minder versteckte Botschaft: Der Kapitalismus sei das Übel, unter dem alle Werktätigen der westlichen Länder zu leiden hätten; allein eine sozialistische Revolution vermöge soziale Probleme – und darunter auch die von Behinderten – umfassend zu lösen. Eine Sonderstellung in der sowjetischen Presse nahmen Texte und Berichte über die Situation von Behinderten in Deutschland ein.49 Die Menge an Artikeln
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(1935), S. 27–29. Dobro požalovat’!, in: Kooperacija invalidov 11–12 (1931), S. 1 f.; Za rubežom, in: ebd. 18 (1931), S. 15; Pis’mo zarubežnyсh proletariev, in: ebd. 5 (1935), S. 30 f.;V gostjaсh u sovetskiсh invalidov, in: ebd. 5 (1935), S. 32 f.; Delegaty ARAK v gostjach u sovetskich invalidov, in: ebd. 9–10 (1936), S. 46. Bor’ba s fašizmom žertv vojny v Bolgarii, in: Kooperacija invalidov 6 (1931), S. 14 f.; Položenie žertv vojny v Jugoslavii, in: ebd. 13 (1931), S. 15 f.; Fašisty kormjat invalidov vojny odnimi obeščanijami, in: ebd. 5 (1933), S. 31 f.; Pis’mo francuzskogo gluсhonemogo kommunista, in: Žizn’ gluchonemych 8 (1934), S. 16; Košmarnye cifry, in: ebd. 11 (1934), S. 16. Po volč’emu zakonu kapitalizma, in: Kooperacija invalidov 12 (1940), S. 12 f.; Za rubežom, in: Žizn’ gluchonemych 1 (1941), S. 22. Invalidy Germanii otvečajut, in: Kooperacija invalidov 1 (1930), S. 21; Ruku zarubežnym tovariščam, in: ebd. 10–11 (1930), S. 22 f.; Po tu storonu, in: ebd. 1 (1932), S. 16 f.; Položenie invalidov vojny i truda v Germanii, in: ebd. 8 (1932), S. 24 f.; Blagodarnost’ otečestva, in: ebd.
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zu diesem Thema in den 1920er Jahren lässt sich durch die damals bestehenden engen Kontakte zwischen der UdSSR und der Kommunistischen Partei Deutschlands – der stärksten in Westeuropa – erklären. Funktionäre deutscher kommunistischer Invalidenverbände verbrachten sogar häufig ihren Urlaub in sowjetischen Kurorten.50 Nicht zuletzt bestand zu dieser Zeit zwischen der UdSSR und der Weimarer Republik eine enge Zusammenarbeit auch im wirtschaftlichen und militärischen Bereich.51 In den 1930er Jahren wurde die Lage deutscher Behinderten weiterhin thematisiert. Nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten trugen alle Berichte in der sowjetischen Presse einen deutlich antifaschistischen Charakter. Freilich war diese antifaschistische Rhetorik bereits früher anzutreffen: 1929 hatte die Zeitschrift Kooperacija invalidov den Brief eines Berliner Behinderten veröffentlicht, in dem dieser behauptete, in Deutschland hätten Kriegsinvaliden so gut wie keine Rechtsansprüche, weil dort „Faschismus“ herrsche.52 Dabei ist hervorzuheben, dass die internationale Invalidenorganisation beim Völkerbund durch die Sowjetpresse ebenfalls als „faschistisch“ bezeichnet wurde.53 Dies zeigt, wie willkürlich sich die sowjetische Propaganda des Terminus’ „Faschismus“ bediente und ihn – entsprechend Stalins Faschismus-Definition – zur Diskreditierung der westlichen kapitalistischen Gesellschaft im Ganzen einsetzte. Die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych veröffentlichte 1933 einige Artikel über das nationalsozialistische Programm zur Sterilisation von Gehörlosen und anderen Behinderten, darunter die Ansprachen gehörloser Arbeiter bei der Protestkundgebung in Moskau.54 Die Angaben über das „barbarische“ Programm zur Sterilisation von Behinderten in Hitlerdeutschland finden sich sowohl in den allgemeinen Medien als auch in der Behindertenpresse im Laufe der 1930er Jahre.55 Die Verurteilung der nationalsozialistischen Maßnahmen zur Zwangssterilisation wurde von entsprechenden ideologischen Begründungen untermauert. So erschien in der Septemberausgabe 1933 der Zeitschrift Žizn’ gluchonemych ein umfangreicher Aufsatz von Professor Vladimir Vojaček, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der sich mit dem nationalsozialistischen Programm zur Sterilisation von Menschen mit Erbkrankheiten beschäftigte. Der Aufsatz begründete ausführlich die Nichtwissenschaftlichkeit ei-
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8 (1932), S. 25; Novyj dekret o sokraščenii posobij invalidam i bezrabotnym v Germanii, in: ebd. 13 (1932), S. 16 f. Rabota germanskoj sekcii IAC, in: Kooperacija invalidov 2 (1932), S. 17. V. A. Kosmač u. D. V. Romanovskij, Sovetskaja Belarus’ i Germanija v 1917–1932 gg.: kampanii solidarnosti, torgovlja i kul’turnyj obmen (uroki istorii dlja sovremennosti), Vicebsk 2001, S. 7 ff. Krepnut naši meždunarodnye svjazi, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 9 (1929), S. 16 f. SIAMAK i podgotovka vojny, in: Bjulleten’ Vsekoopinsojuza 10–11 (1929), S. 27–28. Fašizacija Regede, in: Žizn’ gluchonemych 1 (1933), S. 25; Protestuem protiv fašistskogo terrora! Na mitinge protesta, in: ebd. 5 (1933), S. 6–7; Fašistskij terror ne ščadit gluсhonemyсh, in: ebd. 5 (1933), S. 7. Gluсhonemye Belorussii na prieme u predsedatelja CIK SSSR i CIK BSSR t. Červjakova, in: Žizn’ gluchonemych 9 (1936), S. 7 f.; Prava na socyjal’nae zabespjačėnne, in: Lenіnskі šljach v. 17.9.1936, S. 4.
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nes solchen Ansatzes und endete mit der charakteristischen These, die Zwangssterilisation von Gehörlosen sei nichts anderes als ein „Racheinstrument der Nationalsozialisten gegenüber ihren Klassenfeinden – dem Proletariat und dessen Avantgarde, der kommunistischen Partei“.56 Mai 1936 beschuldigte die Zeitschrift Žizn’ gluchonemych den Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe) der Beihilfe zu der zwangsweise durchgeführten Sterilisation von Gehörlosen.57 In derselben Ausgabe veröffentlichte man einen Artikel mit der Überschrift „Aus der faschistischen Hölle“ über das unerträgliche Leben von Gehörlosen in Deutschland.58 Als Hauptperson fungierte der deutsche Kommunist Al’bert Bljum (Albert Blum), der seit seiner Kindheit hörbehindert war. Anfang der 1930er Jahre war er in die UdSSR ausgewandert und arbeitete seither in einer Leningrader Nähfabrik. Später gehörte Bljum zu den Angeklagten in der Leningrader „Strafsache gegen Gehörlose“ und fiel den Repressionen zum Opfer.59 Manchmal wurden Kriegsinvaliden auch zu Hauptcharakteren in der sowjetischen antifaschistischen Literatur. So enthält beispielsweise der 1937 in Minsk erschienene Sammelband des sowjetischen Schriftstellers Ėduard Samujlënak die Erzählung „Der Held der Nation“60. Die Hauptfigur dieser Erzählung, ein deutscher Arbeiter und Invalide des Ersten Weltkrieges, sucht vergeblich nach Beschäftigungsmöglichkeiten und begegnet dabei stetiger Diskriminierung. Letzten Endes begreift er, dass lediglich der Sozialismus ein normales Leben für Behinderte garantieren kann, und wird zum überzeugten Antifaschisten. Hier fließt die antifaschistische Rhetorik erneut mit der gegen die Bourgeoisie gerichteten Propaganda zusammen. SCHLUSSFOLGERUNGEN Obgleich die bolschewistische Führung in der Zwischenkriegszeit eine radikale Veränderung im System der Sozialfürsorge der UdSSR verkündete und diese auch umzusetzen vermochte, prägte die im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts etablierte „medizinische“ Sicht auf das Invaliditätsphänomen die Behandlung von Behinderten auch in der Sowjetunion. Dabei lässt sich ein Widerspruch zwischen der kommunistischen Behindertenpropaganda und der gelebten Realität feststellen: Offiziell wurden die „werktätigen Invaliden“ in die Gesellschaft integriert, insbesondere nach Stalins „Großem Umschwung“ (velikij perelom), jener Revolution von oben in Wirtschafts- und Agrar56 57 58 59 60
Sterilizacija v Germanii – fašistskaja rasprava s trudjaščimisja, in: Žizn’ gluchonemych 7 (1933), S. 22–23. Zarubežnaja сhronika, in: Žizn’ gluchonemych 5 (1936), S. 3. Iz fašistskogo ada, in: Žizn’ gluchonemych 5 (1936), S. 4. A. Ja. Razumov (Hrsg.), Leningradskij martirolog, 1937–1938: kniga pamjati žertv političeskich repressij, Bd. 4: 1937 god, Sankt Petersburg 1999, S. 675–678. Ė. Samujlënak, Dačka ėskadrona: Apavjadannі, Minsk 1937, S. 92–136.
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politik, in deren Folge ab 1929 auch Behinderte als Arbeitskraftressourcen ins Bewusstsein der Propaganda rückten. Im Alltagsleben jedoch waren sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen, ihre Arbeit galt als „nicht vollwertig“, sie selbst als „Zurückgebliebene“. Das schlug sich auch in der Terminologie der sowjetischen Behörden der Sozialfürsorge und der Sowjetpresse nieder. Sowohl in den 1920er als auch in den 1930er Jahren schilderte die bolschewistische Propaganda „Invaliden“ als passive Staatshilfeempfänger, als abhängige Bevölkerungsgruppe. Dieser zweitrangige soziale Status wurde im gesellschaftlichen Diskurs zwar nicht direkt formuliert, aber durchaus implizit angenommen. Die sowjetische Sozialpolitik gab den „Invaliden“ keinerlei Rechte, eigenständig über ihre Lebensweise und ihre Berufswahl zu bestimmen. Propagiert wurde der Staatspaternalismus, seine Sorge für Behinderte und gleichzeitig die Kontrolle über all ihre Lebensbereiche. Nicht zuletzt setzte man Behinderte in der Sowjetunion auch als Propagandaobjekte ein: Die sowjetische Presse bauschte aktiv eine Reihe von Thesen auf und führte ideologische Kampagnen durch, um die Erfolge und die Überlegenheit der bolschewistischen Sozialpolitik zu demonstrieren. Behinderte aus kapitalistischen Ländern Westeuropas und in den USA schilderte die kommunistische Propaganda als Opfer sozialer Ungleichheit und einer ungerechten „bourgeoisen Gesellschaftsordnung“. Die Sowjetpresse verurteilte scharf die nationalsozialistischen Programme zur Sterilisation von Behinderten, untermauerte ihre Kritik jedoch vorwiegend mit entsprechenden ideologischen Erklärungen. Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
„NARR IN CHRISTO“ UND „DUMMKOPF“. ZUR REZEPTION DES RUSSISCHEN ZAREN FËDOR I. (1557–1598) IM ZARENREICH UND IN DER STALINISTISCHEN SOWJETUNION Alexander Friedman EINFÜHRUNG Nach dem Tode des berühmten Moskauer Großfürsten und russischen Zaren Ivan IV. des Schrecklichen bestieg sein geistig behinderter Sohn Fëdor I. im Jahre 1584 den russischen Thron. Der durch seine ungeheure Brutalität und Willkür bekannte Despot hinterließ einen tief erschütterten russischen Staat in katastrophalem Zustand. Der neue Zar und vor allem sein Schwager, Fürst Boris F. Godunov, der als Reichsverweser seit 1587 die Regierungsgeschäfte unter Fëdor I. de facto übernahm, waren gefordert, diese schwere Krise zu überwinden. Sie kehrten von der Gewaltpolitik Ivans IV. ab, bescherten somit eine eher ruhige Entwicklungsphase und erzielten dabei mehrere bemerkenswerte innen- und außenpolitische Erfolge: In der zweiten Hälfte der 1580er Jahre und am Anfang des nächsten Jahrzehnts wurde Moskau ausgebaut. 1589 wurde das orthodoxe Patriarchat in Moskau errichtet. Die Angriffe des Khanats der Krim (1589, 1593) wurden abgewehrt und die Kolonisation Sibiriens fortgesetzt. Russland besiegte Schweden im Krieg 1590– 1595, wobei sich Moskau die unter Ivan IV. verlorene Südküste des Finnischen Meerbusens mit den Städten Jam, Ivangorod, Kopor’e und Korela einverleibte. Nach dem Tode des polnischen Königs und Großfürsten von Litauen Stephan Báthory (1586) galt Fëdor I. als aussichtsreicher Kandidat für die polnische Krone. Das ambitionierte Projekt, den russischen Herrscher auf den polnischen Thron zu setzen, dadurch die lange Feindschaft zwischen den Nachbarländern zu beenden und den russischen Einfluss in Europa erheblich auszuweiten, scheiterte jedoch: 1587 wurde Sigismund III. aus der schwedischen Dynastie Wasa zum König von Polen und Großfürsten von Litauen gewählt. Der auf die Verbreitung des Katholizismus bedachte Herrscher (1592–1599 gleichzeitig König von Schweden) musste 1595 eine militärische Niederlage gegen Moskau hinnehmen und mischte sich mit dem Ziel, Moskau unter seine Kontrolle zu bringen, nach dem Tode Fëdors I. (1598) während der sogenannten „Zeit der Wirren“ (russ. smuta, 1598 bis 1613) in die russischen Angelegenheiten aktiv ein.1 1
Zur Herrschaft des Zaren Fëdor I. siehe z. B. Sergej F. Platonov, Lekcii po russkoj istorii, Sankt Petersburg 1995 [Reprint der 10. Auflage, Petrograd 1917], S. 259–265; Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 42012, S. 51 f.
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Da Zar Fëdor I. keine Nachkommen hinterließ und der legitime Thronfolger, sein jüngerer, an Epilepsie leidender achtjähriger Stiefbruder Dmitrij schon 1591 getötet worden war2 – möglicherweise im Auftrag des mächtigen Fürsten Godunov –, markierte der Tod des Monarchen das Ende der Herrschaft der RurikidenDynastie in Russland. Die darauffolgende turbulente „Zeit der Wirren“ – die Herrschaft des Zaren Boris I. Godunov (1598–1605), die polnische und schwedische Intervention, die Herrschaft Pseudodmitrijs I. (1605–1606), Vasilij Šujskijs (1606–1610) und dessen Kampf gegen Pseudodmitrij II., das kurzfristige Intermezzo Władysławs (Sohn des Königs Sigismund III., 1610–1612) und vor allem der in Russland seit Anfang des 21. Jahrhunderts massiv aufgewertete und gefeierte erfolgreiche „Befreiungskrieg“ gegen die ausländische (polnische) Okkupation (1611–1612) – prägte maßgeblich die in der russischen und auch ausländischen Forschung bisher eher wenig beachtete Rezeption Fëdors I. in Russland und in der Sowjetunion. In der vorliegenden Studie wird der ambivalente Umgang mit dem Phänomen Behinderung in Russland und in der Sowjetunion am Beispiel des Zaren Fëdor I. beleuchtet. Zunächst wird das von russischen und ausländischen Zeitgenossen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts verbreitete Bild des Zaren Fëdor I. zusammenfassend dargestellt. Anschließend steht die Darstellung des Herrschers in der russischen Geschichtsschreibung und Literatur des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Im letzten Teil wird auf die durch die bolschewistische Propaganda und damalige Situation in der Sowjetunion stark beeinflusste Auseinandersetzung mit dem letzten Rurikiden auf dem russischen Thron in der stalinistischen UdSSR eingegangen. Als Quellenmaterial dienten hierbei in erster Linie literarische und historische Werke sowie einzelne Geschichtslehrbücher. „FROMMER HERRSCHER“ ODER „GEISTESSCHWACHER DICKER“? Die Person des Zaren Fëdor I. – Nachfolger des berüchtigten und im Ausland gut bekannten Ivan des Schrecklichen – zog die Aufmerksamkeit vieler Zeitgenossen auf sich. Während zahlreiche russische Chronisten den Moskauer Herrscher als einen „weisen“, „frommen“, „vornehmen“, „gerechten“ und „gutmütigen“ Monarchen würdigten oder ihn wohlwollend als einen „Narren in Christo“ bezeichneten3, stellten ausländische Beobachter – insbesondere aus Polen-Litauen und Schweden – Fëdor I. in der Regel herablassend dar. In ihren Augen verkörperte der Moskauer Herrscher – von König Johann III. von Schweden als „Dummkopf“ bezeichnet, vom litauischen Kanzler Lew Sapieha als „geistig beschränkter“ bzw. „völlig geistesschwacher“ Monarch, der ständig lache – den sich anbahnenden Untergang des 2 3
Nach dem Tode Dmitrijs am 15. Mai 1591 wurde in Uglič als Rache eine „Narrin in Christo“ umgebracht, die den Thronfolger angeblich „verdorben“ habe. Vgl. Platonov, Lekcii po russkoj istorii (Anm. 1), S. 261. Vgl. etwa B. Rostockij u. N. Čuškin, Car’ Fëdor Ionnanovič na scene MCHAT, Moskau u. Leningrad 1940, S. 36–38.
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russischen Staates.4 An dieser Stelle kann exemplarisch auf das Buch des englischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher (1548–1611) „Of the Russe Common Wealth“ (1591) hingewiesen werden. Der noch von Ivan dem Schrecklichen eingeschlagene Kurs der Ausweitung der russisch-englischen Beziehungen gehörte zu den Prioritäten der Außenpolitik von Fëdor I. und Boris Godunov. So kam der Gesandte der britischen Königin Elisabeth I. (1558 bis 1603), Fletcher, 1588 nach Moskau und lernte den Zaren persönlich kennen. Fëdor I. machte einen zwiespältigen Eindruck auf den Gast aus London. In seinem Buch beschrieb er einen an Wassersucht leidenden kränklichen und gebrechlichen Zaren, der immer grinse, ja lache, sich nur mit Mühe bewege, einfach und „geistesschwach“ sei. Der für die Politik wenig geeignete kleingewachsene übergewichtige Monarch mit einer „Adlernase“ sei jedoch überaus nett, umgänglich, ruhig, gnädig, friedliebend und äußerst abergläubig. Fletcher schilderte den üblichen Tagesablauf des Moskauer Herrschers: Gebete, Kirchen- und KlosterBesuche, reichliche Mahlzeiten, Mittagsschlaf. Außerdem habe der Herrscher viel Zeit mit der Zarin Irina (der Schwester von Boris Godunov) sowie mit Hofnarren und „Zwergen“ verbracht, regelmäßig eine Badestube besucht und sich die Kunstwerke seiner Goldschmiede, Maler u. a. Meister angeschaut. Der Gesandte zog die Schlussfolgerung, dass der von Faustkämpfen und den damals in Moskau beliebten Kämpfen zwischen Männern und Bären begeisterte Zar eine eher müßige Lebensweise pflegte und die Staatspolitik dem Fürsten Godunov überließ.5 Fletchers Buch, das bis heute als eine der wichtigsten Quellen über das Moskauer Großfürstentum zu Ende des 16. Jahrhunderts gilt, wurde sowohl von russischen Historikern vor der Oktoberrevolution als auch von sowjetischen Historikern aufgegriffen, um die Herrschaft von Fëdor I. zu charakterisieren. Hingegen wurde das Drama des berühmten spanischen Dichters Lope de Vega (1562–1635) „El gran Duque de Moscovia y Emperador perseguido“ („Großherzog von Moskau und Verfolgter Kaiser“, 1617) in Russland und in der Sowjetunion wenig beachtet. Eine mögliche Erklärung dafür ist das von dem spanischen Autor erfinderisch konstruierte realitätsferne Bild des Hauptprotagonisten, des „wahnsinnigen“ Thronfolgers Theodor (russ. Fëdor). Lope de Vegas Theodor ist ein Opfer seines Vaters, der ihn – ähnlich wie Ivan IV. im Falle des späteren Fëdor I. – für ungeeignet hält und ihm den Weg auf den Thron versperren will. Theodor, der tatsächlich keinesfalls „wahnsinnig“ ist, gibt jedoch nicht auf und führt einen erbitterten Kampf um die Macht.6
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Vgl. Platonov, Lekcii po russkoj istorii (Anm. 1), S. 259; Vasilij O. Ključevskij, Sočinenija v devjati tomach. Kurs lekcij po russkoj istorii, Bd. 3, Moskau 1988, S. 18; Nikolaj I. Kostomarov, Russkaja istorija v žizneopisanijach ee glavnejšich dejatelej, Moskau 1993, S. 334. Siehe auch Rostockij u. Čuškin, Car’ Fëdor Ionnanovič na scene MCHAT (Anm. 3), S. 34 f.; Vladimir I. Lebedev, Istorija SSSR do XIX veka, Moskau 1939, S. 294 f. Vgl. D. Fletčer (= G. Fletcher), O gosudarstve Russkom (=„Of the Russian Common Wealth“), Sankt Petersburg 1906, S. 122. Die Verbreitung des Werkes wurde von der englischen Muscovy Company verhindert, um die Entwicklung der Beziehungen mit Moskau nicht zu gefährden. Vgl. Torke, Die russischen Zaren 1547–1917 (Anm. 1), S. 51. Vgl. Rostockij u. Čuškin, Car’ Fëdor Ionnanovič na scene MCHAT (Anm. 3), S. 43–47.
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FËDOR I. IN DER RUSSISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG UND LITERATUR Nikolaj M. Karamzin (1766–1826), Nikolaj G. Ustrjalov (1805–1870), Nikolaj I. Kostomarov (1817–1885), Sergej M. Solov’ev (1820–1879), Vasilij O. Ključevskij (1841–1911), Sergej F. Platonov (1860–1933) und weitere bekannte russische Historiker analysierten russische und ausländische Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, vor allem das Buch von Fletcher, und zeichneten übereinstimmend ein ambivalentes Bild des vom Volk verehrten „tugendhaften“, „heiligen Narren in Christo“ Fëdor I. Die Erfolge Russlands – etwa im Krieg gegen Schweden – seien auf Fëdors Gebete und seine „Gabe der Weitsicht“ zurückgeführt worden.7 Ključevskij erklärte diese überwältigende Sympathie für den unter der Schreckensherrschaft des Zaren Ivan IV. aufgewachsenen passiven „geistesschwachen Herrscher“ durch die in Russland verbreitete religiöse Vorstellung über die „Narren in Christo“ als „Weltgewissen“. Die „Narren in Christo“ seien im Gegensatz zu den meisten Menschen mit ihrer sündhaften Lebensweise gerecht. Sie würden zwar ein elendes, aber „heiliges“ Leben auf der Erde fristen, jedoch gehöre ihnen letztendlich das „Reich Gottes“.8 Gleichzeitig betonten Kostomarov, Ključevskij und ihre Kollegen kritisch, dass der Zar die Staatspolitik desinteressiert vernachlässigt habe, zu einem blinden Gefolgsmann des Fürsten Boris Godunov geworden sei, am liebsten die Klosterglocken geläutet und dafür von seinem „blutrünstigen“ Vater den Spitznamen „Glöckner“ bekommen habe.9 Die Epoche des Zaren Fëdor I. charakterisierend bemerkten die russischen Historiker zutreffend, dass Boris Godunov, dem die dem Monarchen zugeschriebenen Erfolge zu verdanken gewesen seien, in den russischen Quellen zwar wegen seines großen Verstandes und seiner herausragenden staatsmännischen Fähigkeiten geschätzt, jedoch zum Sinnbild der Heimtücke und Niedertracht stilisiert und als Dmitrij-Mörder verdammt worden sei. In den russischen Quellen wurde dem „skrupellosen“ und „hinterlistigen“ Fürsten zudem vorgeworfen, den Einfluss seiner Schwester Irina auf den „Pantoffelhelden“ Fëdor I. ausgebaut zu haben. Außerdem wurde ihm die Verantwortung für das Ableben (1593) der erst 1592 auf die Welt gekommenen Tochter Fëdors und Irinas und von Fëdors weiterer Schwester Aleksandra zugeschrieben. Um die Moskauer Bevölkerung von seinen Verbrechen abzulenken, soll Godunov einen krimtatarischen Angriff auf Russland provoziert haben. Der sogenannte „Großfürst Russlands“ Simeon Bekbulatovič (1575 bis 1576) – Marionette des Ivan IV. – habe nicht ohne die Einwirkung des omnipräsenten Zarengünstlings Godunov sein Sehvermögen verloren. Zu den 7
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Vgl. Nikolaj M. Karamzin, Istorija gosudarstva Rossijskogo, Bd. 3, Sankt Petersburg 1824, S. 6 f., 13–21, 81 f., 217–222; Nikolaj G. Ustrjalov, Russkaja istorija, Bd. 2, Sankt Petersburg 1839, S. 87 f.; Sergej M. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejšich vremen, Bd. 7, Moskau 1989, S. 191 f.; Ključevskij, Kurs lekcij po russkoj istorii (Anm. 4), S. 17–22. Ključevskij, Kurs lekcij po russkoj istorii (Anm. 4), S. 18 f. Siehe auch Karamzin, Istorija gosudarstva Rossijskogo (Anm. 7), S. 217. Vgl. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejšich vremen, Bd. 7 (Anm. 7), S. 191 f.; Platonov, Lekcii po russkoj istorii (Anm. 1), S. 259 f.
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wichtigsten Verbrechen des „sündigen“ Boris Godunov wurde neben dem Auftragsmord am Thronfolger Dmitrij auch die angebliche Vergiftung des „frommen“ Zaren Fëdor I. gezählt. Die Untersuchungen der Person und der Politik Boris Godunovs in den Werken vorrevolutionärer Historiker charakterisierten diesen insgesamt als „klugen Bojar“, der fortschrittliche Maßnahmen ergriffen und unter anderem die Korruption und Kriminalität habe bekämpfen wollen, jedoch ein „mieser Mensch“ gewesen sei. Bestrebt, die „gemeinen Seiten“ von Godunov als „nichtrussische Charaktereigenschaften“ zu verdeutlichen, wies man auf die nichtrussische Herkunft des Fürsten als Nachkomme getaufter Tataren hin. Die prowestliche Orientierung des Herrschers und sein Bestreben, das Land zu reformieren, wurden hervorgehoben.10 Die erste zwölfbändige Gesamtdarstellung der „Geschichte des Russischen Reiches“ (1816 bis 1829) von Karamzin und das darin verbreitete ambivalente Bild von Fëdor sowie das negative Bild von Godunov inspirierten den russischen Schriftsteller Aleksandr S. Puškin, der 1825 seine Tragödie „Boris Godunov“ verfasste.11 1874 fand die Uraufführung der gleichnamigen Oper des russischen Komponisten Modest P. Musorgskij statt. Mitte der 1820er Jahre bedeutete eine Schicksalszeit in der Geschichte des Russischen Zarenreiches: In diesem Jahr starb der tief gläubige, abergläubige und kinderlose Zar Aleksandr I. (1801 bis 1825), der zu Anfang seiner Regierungszeit liberalen Reformen nicht abgeneigt war, sich allerdings nach dem Sieg über Napoleon (1812) für eine reaktionäre Politik entschied und eine wichtige Rolle auf dem Wiener Kongress und in der Heiligen Allianz spielte. Noch unter Aleksandr I. und vor allem nach dem Scheitern des DekabristenAufstandes (1825) unter dem Zaren Nikolaj I. (Bruder von Aleksandr I., 1825 bis 1855) galt Russland als Hochburg der Reaktion und Schutzmacht für die von den Revolutionen bedrohten „legitimen“ Herrscher in Europa. Unter diesen Bedingungen verzichtete der regimekritische Autor Puškin auf scharfe Kritik am letzten „legitimen“ russischen Herrscher im 16. Jahrhundert bzw. auf die Hervorhebung seiner „Geistesschwäche“. Die Figur des Fëdor I. spielt in der Tragödie eine marginale Rolle. Als Protagonist taucht er nicht einmal auf. Puškin ließ Godunov und andere Protagonisten über Fëdor reden und zeigte, wie der von Hexen und Zauberern umgebene Dmitrij-Mörder, den seine Gegner aufgrund seiner tatarischen Herkunft als „Tatar“ und somit als „Nichtrusse“ wahrnahmen, seinen Schwager Fëdor I. instrumentalisiert, Russland de facto noch vor seinem Tode regiert und das Ableben des Herrschers möglicherweise beschleunigt. Puškins Fëdor ist ein sanftmütiger und frommer Zar mit einer „heiligen Seele“, der keinerlei Interesse für die Staatspolitik habe. Bemerkenswert ist zudem, dass Puškin zwar die „Geistesschwäche“ des Zaren nicht zu thematisieren wagte, jedoch einen Protagonisten einführte, um das positive Bild des „Narren in Christo“ im Moskau des ausgehenden 16. Jahrhunderts zu verdeutli10 11
Vgl. Ustrjalov, Russkaja istorija (Anm. 7), S. 87–100; Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejšich vremen (Anm. 7), Bd. 8, Moskau 1989, S. 305 f. und S. 335–413; Ključevskij, Kurs lekcij po russkoj istorii (Anm. 4), S. 17–26; Platonov, Lekcii po russkoj istorii (Anm. 1), S. 265–281. Vgl. Aleksandr S. Puškin, Boris Godunov, Sankt Petersburg 1831.
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chen: Der geistig behinderte Bettler Nikolka wird von bösen Kindern schikaniert. Er begegnet dem Zaren Boris I. und bittet Godunov, diese Kinder – ähnlich wie den Thronfolger Dmitrij – erstechen zu lassen. Der Herrscher ignoriert diese Frechheit, befiehlt großzügig, dem Bettler die Almosen zu geben, und lässt Nikolka – ebenso wie eine alte Greisin – für sich beten, da er von einer besonders nahen Verbindung zwischen den „Narren in Christo“ und dem Gott fest überzeugt ist. Nikolka weigert sich, denn Godunov ist für ihn ein berüchtigter „Herodes der Große“, d. h. ein Unmensch, und die Gottesmutter habe ihm verboten, für einen „Herodes“ zu beten. Während Aleksandr Puškin Fëdor I. in seinem Werk nur am Rande erwähnte, steht der Sohn Ivans des Schrecklichen im Mittelpunkt der Tragödie „Zar Fëdor Ioannovič“ (1868) des russischen Dramatikers Graf Aleksej K. Tolstoj.12 Dessen Zar Fëdor ist ein liebevoller Ehemann, der auch seinen – gegen den Willen des hilflosen Herrschers nach Uglič verbannten – Stiefbruder Dmitrij herzlich liebt. Das Buch Fletchers bzw. die aus diesem Werk übernommene Beschreibung Fëdors in den Werken russischer Historiker aufgreifend, stellt Tolstoj den Monarchen als einfach, barmherzig, zuvorkommend, tief gläubig, kinderliebend und vor allem „weich wie Wachs“ dar. Somit kann der listige und heimtückische „Tatar“ Boris Godunov die Macht missbrauchen und die Staatspolitik bestimmen. Godunov verwaltet den Staat nach seinem Belieben, während Fëdor seine Zeit mit Hofnarren und Gauklern verbringt oder die Kämpfe zwischen Männern und Bären genießt. In Staatsangelegenheiten mischt er sich nicht ein und ist als frommer orthodoxer Christ nicht einmal von der Möglichkeit begeistert, König des katholischen Polen zu werden. Die Bojaren sind zunehmend enttäuscht von dem Herrscher, seiner Passivität und vor allem von dem wachsenden Einfluss des übermächtigen Fürsten Godunov; nicht zuletzt verurteilen sie die prowestliche Politik Godunovs. Fëdor begreift, dass er als Zar fehl am Platz ist, und erklärt sich bereit, den Thron zu einem späteren Zeitpunkt freiwillig seinem Stiefbruder Dmitrij zu überlassen. Dmitrijs Tod trifft den Zaren zutiefst; er überlegt, sich vom weltlichen Leben zu verabschieden und als Mönch in einem Kloster weiter zu leben. Im Gegensatz zu Puškin am Vorabend der reaktionären Herrschaft des Zaren Nikolaj I. geht Tolstoj in der Epoche der „großen Reformen“ unter Aleksandr II. (1855 bis 1881) auf die brisante „Geistesschwäche“ des Zaren Fëdor I. nur kurz ein: Er beschränkt sich auf die lapidare Bemerkung, in Moskau gingen Gerüchte um, der Zar sei geistesschwach und zudem impotent. Diese ausgewogene Darstellung des Zaren und nicht zuletzt seine – in der (offiziellen) Geschichtsschreibung wohl zugelassene – vorsichtig erwähnte „Geistesschwäche“ rief auch in der liberalen alexandrinischen Epoche scharfe Kritik hervor.13 Graf Tolstoj, der 1875 starb, erlebte die Uraufführung seines Werkes nicht mehr, die erst 1898 im Moskauer Kunsttheater (MChAT) stattfand, inszeniert von dem Regisseur Konstantin A. Stanislavskij.14
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Vgl. Aleksej K. Tolstoj, Car’ Fëdor Ionnanovič, Moskau 1983. Vgl. Rostockij u. Čuškin, Car’ Fëdor Ionnanovič na scene MCHAT (Anm. 3), S. 8 f. Vgl. ebd., S. 5.
„Narr in Christo“ und „Dummkopf“. Zur Rezeption des russischen Zaren Fëdor I.
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„TYPISCHER DEGENERIERTER“ Unmittelbar nach der Oktoberrevolution maß die junge sowjetische marxistische Geschichtswissenschaft dem letzten Rurikiden keine besondere Aufmerksamkeit bei. Fëdor I. wurde als eine marginale Figur der russischen Geschichte wahrgenommen. Als Beispiel kann an dieser Stelle das in den 1920er und frühen 1930er Jahren mehrmals aufgelegte Standardwerk „Russische Geschichte“ des damals führenden sowjetischen Historikers Michail N. Pokrovskij erwähnt werden. Fëdor I. taucht in diesem Werk lediglich an zwei Stellen auf: Dieser Sohn des Zaren Ivan des Schrecklichen habe keine Nachkommen hinterlassen und so dem Fürsten Boris Godunov den Weg auf den Thron geebnet. Weder die „Geistesschwäche“ des Herrschers noch die tatarische Herkunft Godunovs (im Geiste des „proletarischen Internationalismus“) wurden thematisiert.15 Nach der Etablierung der stalinistischen Herrschaft waren die sowjetischen Historiker bemüht, Fëdor I. und Boris Godunov als „Unterdrücker des Volkes“ möglichst negativ darzustellen. Sie verwendeten das Buch Fletchers und weitere Quellen ausländischer Provenienz sowie auch die Tragödie Tolstojs, um die Untätigkeit des Zaren, seine „Geistesschwäche“ und somit den „geistigen Verfall“ der monarchistischen Ordnung hervorzuheben. Das positive religiöse Bild des „Narren in Christo“ wurde in der atheistischen UdSSR ins Negative gewandt: An Stelle des frommen „Narren in Christo“ trat ein „typischer Degenerierter“ bzw. „Dummkopf“. Ein markantes Beispiel für diese Umdeutung ist das Hochschulwerk „Geschichte der UdSSR bis zum 19. Jahrhundert“, das aus der Feder des Historikers Vladimir I. Lebedev (1894–1966) stammt und 1939 in Moskau erschien. Lebedev (Professor an der Moskauer Staatsuniversität) wies ausdrücklich auf die bescheidenen geistigen Fähigkeiten des Zaren hin. Er hielt Fëdor für einen „typischen Degenerierten“, der die „ganze Macht der herrschenden Klasse“ in seinen Händen nicht habe konzentrieren können und – so Fletcher – am liebsten Leibesübungen von „Zwergen“ beobachtet und Glocken geläutet habe.16 Für den Historiker Konstantin V. Bazilevič, der seine „Geschichte der UdSSR von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts“ (Vorlesungen an der Parteihochschule beim ZK der KPdSU) 1950 in Moskau veröffentlichte, war Zar Fëdor ein „altes Kind“ und ein untauglicher Staatsmann. Der Historiker ging auf die äußerlichen Merkmale des geistesschwachen, kränklichen und kleingewachsenen Fëdor I. ein, der ständig „sinnlos“ gelacht habe.17 Diese für die stalinistische Epoche typische Tendenz, Fëdor I. – im Gegensatz zu seinem Vater Ivan IV, den Stalin aufgrund seiner antiwestlichen Ausrichtung und seiner Politik der „starken Hand“ respektierte, für einen „großen und
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Vgl. Michail N. Pokrovskij, Russkaja istorija v samom sžatom vide, Moskau 41933, S. 44. Lebedev, Istorija SSSR do XIX veka (Anm. 4), S. 294 f. Konstantin V. Bazilevič, Istorija SSSR ot drevnejšich vremen do konca XVIII veka, Moskau 1950, S. 231. Siehe auch die Standardgeschichtslehrwerke der Stalin-Zeit aus der Feder des Historikers Andrej V. Šestakov (1877–1941). Vgl. z. B. Andrej V. Šestakov, Istorija SSSR. Krakij kurs, Moskau 1939, S. 43.
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weisen Herrscher“ hielt und weit über den französischen König Louis XIV. stellte18 – vernichtend zu diffamieren und aufgrund seiner „Geistesschwäche“ persönlich zu beleidigen, ließ erst nach dem Tode des Diktators 1953 allmählich nach.19 Die tatarische Herkunft des „blutigen“ Kreml-Herrschers Godunov hoben die sowjetischen Autoren vermutlich lieber nicht hervor, um einen zu brisanten Vergleich mit dem aktuellen, noch brutaleren Herrscher – dazu noch „nichtrussischer“ Herkunft – zu vermeiden. Die Aufführung von Tolstojs Tragödie „Zar Fëdor“ im MChaT gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den bekanntesten Inszenierungen dieses bekannten Moskauer Theaters. Die erste Inszenierung mit dem Schauspieler Ivan M. Moskvin (1874– 1946) in der Hauptrolle wurde nach der Oktoberrevolution nicht abgesetzt. Eine erneute Inszenierung (1935) mit Nikolaj P. Chmelev (1901–1945) als Fëdor wurde sogar als großer Beitrag zur Entwicklung des sowjetischen Theaters gelobt.20 Die in der stalinistischen Epoche typischerweise betonte „Geistesschwäche“ des Herrschers wurde in dieser Inszenierung, ebenso wie in der vorrevolutionären Aufführung von Stanislavskij, nicht hervorgehoben. Das Stück sollte dem Publikum vielmehr exemplarisch zeigen, wie ein schwacher untätiger Zar seine „heilige“ russische Heimat in den Abgrund führt, um so die Notwendigkeit einer starken Herrschaft zu rechtfertigen und die stalinistische Diktatur zu stärken. Die Figur des als 18
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Stalin: Vy istoriju izučali? Ėjsenštejn: Bolee ili menee… Beseda Stalina s Ėjsenštejnom i Čerkasovym po povodu fil’ma „Ivan Groznyj“ 26 fevralja 1947, in: Rossijskaja gazeta [Moskau] v. 25.1.2012, S. 13. Siehe hierzu auch Boris Ilizarov, Iosif Stalin i Ivan Groznyj, in: Grigorij M. Birženjuk (Hrsg.), Dialog kul’tur i civilizacij v global’nom mire. VII Meždunarodnye Lichačevskie naučnye čtenija 24–25 maja 2007 goda, Sankt Petersburg 2007, S. 282–284. Vgl. etwa Anatolij M Sacharov, Istorija SSSR, Moskau 1968, S. 45; Nikolaj I. Pavlenko, Istorija SSSR s drevnejšich vremen do 1861 g., Moskau 1989, S. 186 f. Der Historiker Luk’jan P. Buščik verwies in seiner „Illustrierten Geschichte der UdSSR vom 15. bis zum 18. Jahrhundert“ (Lehrwerk für Studenten an pädagogischen Hochschulen, 1975) auf den kleingewachsenen, „physisch und geistig minderwertigen“ Zaren mit „einem kleinen Köpfchen“ und „einer großen Adlernase“; L. P. Buščik, Illjustrirovannaja istorija SSSR XV–XVII vv., Moskau 1974, S. 115. Eine dermaßen diffamierende Darstellung des Herrschers und die Verwendung des aggressiven Vokabulars der stalinistischen Epoche waren jedoch eher untypisch für die poststalinistische sowjetische Geschichtsschreibung. Der bekannte sowjetische Historiker Boris A. Rybakov (1908–2001) führte die psychischen Besonderheiten des Zaren Mitte der 1970er Jahre auf das Verhalten seines Vaters Ivans IV. zurück. Fëdor habe die schreckliche Herrschaft Ivans IV. erlebt. Vgl. B. A. Rybakov, Istorija SSSR s drevnejšich vremen do konca 18 veka, Moskau 1975, S. 232. Seine Kollegen Milica V. Nečkina und Pavel S. Lejbengrub thematisierten die „Geistesschwäche“ des Monarchen in ihrem Schullehrwerk für die siebte Klasse nicht. Fëdor I. war aus ihrer Sicht ein „willenloser“ Zar, der die Geschäfte des Staates nicht führen konnte; Milica V. Nečkina u. Pavel S. Lejbengrub, Istorija SSSR, Moskau 1976, S. 123. Die ukrainischen Historiker Jurij Ju. Konfudor und Viktor N. Kotov – Autoren des Hilfsmittels „Geschichte der UdSSR“ – hielten die „Geistesschwäche des Zaren“ offensichtlich für eine überflüssige Information für die jungen Leute, die eine Aufnahmeprüfung im Fach Geschichte für ihr Hochschulstudium ablegen mussten. Vgl. Ju. Ju. Kondufor u. V. N. Kotov, Istorija SSSR, Kiew 1983, S. 45. Vgl. Rostockij u. Čuškin, Car’ Fëdor Ionnanovič na scene MCHAT (Anm. 3), S. 5–7 und S. 143–176.
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Unterdrücker dargestellten Fürsten Godunov, der die Europäisierung Russlands vorangetrieben und die Kontakte mit England intensiviert hatte, muss vor dem historischen Hintergrund nach wie vor angespannter Beziehungen zum kapitalistischen Westen gelesen werden: Seine prowestliche Politik, so sollte das Stück zeigen, war definitiv der falsche Weg für die UdSSR. ZUSAMMENFASSUNG 2011 veröffentlichte der orthodox-konservative Historiker Dmitrij V. Volodichin seine Abhandlung „Zar Fëdor Ivanovič“. Der russische Autor stellt den letzten Rurikiden überwiegend positiv dar. Einzelne ausländische Zeitzeugen, die den frommen Zar Fëdor als „geisteschwach“ bezeichnet hätten, kritisiert er scharf. Volodichins Fëdor-Biographie erschien in der noch aus der vorbolschewistischen Zeit bekannten und in der UdSSR fortgesetzten Reihe „Leben hervorragender Persönlichkeiten“.21 In der Ausgabe vom 15. September 2010 veröffentlichte die russisch-nationalistische Zeitung Zavtra („Morgen“) den offenen Brief „Zur Verteidigung der Geschichtswissenschaft“: Insgesamt 49 Historiker und Künstler, darunter auch Dmitrij Volodichin und der Zavtra-Herausgegeber und Schriftsteller Aleksandr A. Prochanov, setzten sich darin für das wegen seiner neostalinistischen und antisemitischen Tendenzen stark umstrittene Lehrwerk für Geschichtsstudenten „Geschichte Russlands. 1917–2009“ der Autoren Aleksandr S. Barsenkov und Aleksandr I. Vdovin (2010) ein.22 Das erwähnte Blatt Zavtra und vor allem ihr Herausgeber Prochanov verglichen in ihren Publikationen abwertend die 1990er Jahre unter dem prowestlichen Reformpolitiker Boris N. El’cin mit der „Zeit der Wirren“ unter Boris Godunov und seinen Nachfolgern. Man wies dabei auf die „Geistesschwäche“ des ersten Präsidenten der Russischen Föderation hin und nannte ihn in Anspielung auf Godunov diffamierend „Zar Boris“.23 Bemerkenswert ist auch, dass das weltweit berühmte Moskauer Bol’šoj-Thetater die Premiere ihrer neuen Aufführung der Oper „Boris Godunov“ am 25. April 2007 dem zwei Tage zuvor verstorbenen ehemaligen Staatschef El’cin widmete.24 21 22 23
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Vgl. Dmitrij V. Volodichin, Car’ Fëdor Ivanovič, Moskau 2011, insbesondere S. 31–49. Vgl. V zaščitu istoričeskoj nauki. Obraščenie dejatelej nauki i kul’tury, in: Zavtra [Moskau] v. 15.9. 2010, S. 7. Vgl. El’cin, kak nočnaja tuflja Petra Pervogo, in: Zavtra v. 24.3.1997, S. 1; Aleksandr Prochanov, Vlast’ pincetom ne berut, in: Zavtra v. 20.10.1997, S.1; ders., Kto sorvet cvetok nenavisti?, in: Zavtra v. 9.6.1998, S. 1; ders., Ot Černomyrdina stranu vorotit, in: Zavtra v. 7.9.1998, S. 1; ders., Dochlaja koška Borisa El’cina, in: Zavtra v. 21.9.1998, S. 1; ders., 1999 – russkij god, in: Zavtra v. 3.1.1999, S. 1; ders., Granica NATO prochodit čerez NTV, in: Zavtra v. 15.3.1999, S. 1; ders., El’cin – bomba, kotoraja vsegda s toboj, in: Zavtra v. 10.5 1999, S. 1; ders., El’cina pochoronjat v lunnom kratere, in: Zavtra v. 28.6.1999, S. 1; ders., El’cin i D’jačenko ėmigrirujut v Bavariju, in: Zavtra v. 7.10.1999, S. 1. Vgl. Ekaterina Ključnikova, Sčast’e po-russki. V Bol’šem teatre – prem’era „Borisa Godunova“, in: Rossijskaja gazeta v. 27.4.2007, http://www.rg.ru/printable/2007/04/27/premiera.html (28.2.2015).
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Diese Beispiele verdeutlichen, wie die Person des Zaren Fëdor I. und die „Zeit der Wirren“ in der aktuellen politischen Auseinandersetzung um den Kurs gegenüber dem Westen in der Russischen Föderation nach wie vor instrumentalisiert werden. So spielt Dmitrij Volodichin – bemüht, die „westliche“ These der „Geistesschwäche“ Fëdors zu widerlegen – die Bedeutung westlicher Quellen herunter und analysiert hauptsächlich russische Chroniken. Lediglich einige westliche Reiseberichte dienen dazu, seine Position ansatzweise zu untermauern. Im Gegensatz zu Volodichin und seinen orthodox-konservativen Kollegen der Gegenwart beschränkten sich stalinistische Historiker primär auf das Buch Fletchers und weitere westliche Reiseberichte, in denen Fëdors „Geistesschwäche“ hervorgehoben wird. Im Bemühen, Zar Fëdor möglichst negativ darzustellen, griffen sie auf in der stalinistischen Gesellschaft verbreitete behindertenfeindliche Stereotype und Vorurteile zurück. Die russischen Historiker des 19. Jahrhunderts charakterisierten Zar Fëdor I. überwiegend wohlwollend, wobei sie Ambivalenzen durchaus zuließen: Der vom Volk verehrte „Narr in Christo“ sei „geistesschwach“ und als Herrscher vollkommen ungeeignet gewesen. Er habe die Macht törichterweise dem „Tataren“ Boris Godunov überlassen. Zur Verbreitung des bis heute in Russland verbreiteten irreführenden vereinfachten Bildes vom „fremden bösen“ Godunov und dem „russischen guten“ Fëdor trugen im 19. Jahrhundert maßgeblich die unter den restriktiven Bedingungen der Autokratie entstandenen literarischen Werke von Aleksandr Puškin und Graf Aleksej Tolstoj bei.
„DIE PFLICHT ZUR GESUNDHEIT“. NATIONALSOZIALISTISCHE GESUNDHEITSPOLITIK UND PROPAGANDA IN DER „MINSKER ZEITUNG“ Svetlana Burmistr Die Einbeziehung der nationalsozialistischen Propaganda in die Auseinandersetzung mit der Gesundheitspolitik und Medizin sowie mit den Massenmorden an kranken und behinderten Menschen unter dem nationalsozialistischen Regime erscheint umso bedeutender, als Propaganda Rückschlüsse auf Selbst- und Fremdbilder, auf die dahinterstehenden Menschenbilder, auf Inklusion und Exklusion bestimmter sozialer Gruppen sowie auf Normen und Werte des Regimes erlaubt. Propaganda für Zwangsterilisationen an „Erbkranken“ und „unerwünschten Elementen“ sowie die Verklärung des Krankenmordes zum „Gnadentod“ unter der euphemistischen Bezeichnung Euthanasie erfolgte einerseits explizit und nutzte Medien wie Film,1 Plakate und Schautafeln.2 Von zentraler Bedeutung war aber auch diejenige Propaganda, die insbesondere in der Tagespresse mit Themen wie „Erbgesundheit“, „Rassenpflege“, „Nachwuchsfürsorge“ präsent war und der Legitimation der nationalsozialistischen Medizin und Gesundheitspolitik diente. In den von Deutschland besetzten Gebieten wurden ferner unter anderem auch gesundheitspolitische und medizinische Themen als Argumente eingebracht, um vor allem ein positives Bild von der Besatzungsmacht Deutschland zu vermitteln. Im Folgenden werden am Beispiel der „Minsker Zeitung“ Schwerpunkte der gesundheitspolitischen Propaganda im „Generalkommissariat Weißruthenien“ veranschaulicht. Die „Minsker Zeitung“ (MZ) erschien vom 15. April 1942 bis zum 28. Juni 1944 in Minsk. Sie war eine der deutschsprachigen Besatzungszeitungen, die in zahlreichen europäischen Hauptstädten – von Oslo und Amsterdam bis Belgrad und Athen, von Brüssel und Paris bis Riga, Minsk und Kiew – gegründet und dem Europa-Verlag, einer Tochtergesellschaft des Franz-Eher-Verlags der NSDAP, einge-
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Zu nennen sind u. a. die Filme „Das Erbe“ (1935), „Sünden der Väter“ (1935), „Opfer der Vergangenheit“ (1937), „Alles Leben ist Kampf“ (1937), „Ich klage an“ (1941). Vgl. Karl Ludwig Rost, Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates, Husum 1987. Mit Hilfe von Plakaten und Schautafeln wurde insbesondere die finanzielle „Belastung“ durch die Lebenshaltungskosten für Kranke und Behinderte zu Ungunsten von „Erbgesunden“ visualisiert. Für Beispiele des Anschauungsmaterials siehe Wolfgang Benz, Hermann Graml u. Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 239; Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 83.
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gliedert wurden.3 Ein besonderes Charakteristikum der Besatzungszeitungen waren ihre verschiedenen Zielgruppen, wobei die Verteilung und Zusammensetzung der Leserschaft von Land zu Land variierte. Während z. B. die Frontzeitungen für die kämpfende Truppe und die fremdsprachigen Zeitungen für die einheimische Bevölkerung bestimmt waren, wandten sich die Besatzungszeitungen an ein breites Publikum. Sie sprachen sowohl die Besatzer als auch die Bevölkerung der besetzten Gebiete an, und das, obwohl für die einheimische Bevölkerung vielerorts Zeitungen in ihrer Landessprache erschienen. Die zentrale Zielgruppe der Besatzungszeitungen bildete die heterogene Gemeinschaft der deutschen Besatzer: Es waren die im Land stationierten Besatzungstruppen, reichsdeutsche Angehörige militärischer und ziviler Besatzungsbehörden und Dienststellen, Mitarbeiter deutscher Unternehmen sowie deutsche Durchgangsreisende.4 Für potenzielle einheimische Leser wurde in der MZ – wohl aus Rücksicht auf Leser mit fehlenden Deutschkenntnissen – seit Oktober 1942 die Rubrik „Menski Kur’er“ eingeführt, in der die wichtigsten politischen und militärischen Nachrichten in weißrussischer Sprache zusammengefasst wurden. Die MZ bot den Lesern auf vier oder acht Seiten eine breite Palette an Berichterstattung an: Wehrmachtsberichte und Meldungen zum Kriegsverlauf, Nachrichten aus dem Reich und dem Erscheinungsgebiet, es folgten der Lokalteil und die Ressorts Wirtschaft, Kulturpolitik, Feuilleton sowie Sport, Werbung und Rundfunkprogramm. Beiträge zu medizinischen und gesundheitspolitischen Themen erschienen in der MZ regelmäßig. Ein größerer Teil von ihnen bezog sich vor allem auf das Deutsche Reich und bildete eine Konstante des propagandistischen Konzepts der „Volksgemeinschaft“. GESUNDE „DEUTSCHE VOLKSGEMEINSCHAFT“ Die Gesundheit des deutschen Volkes wurde zu einem entscheidenden Faktor des Krieges erklärt, der statt eines erhofften Blitzkrieges zu einem lang andauernden, kräftezehrenden und zermürbenden Krieg wurde. So erklärte der Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti in seinem am 20. Januar 1943 in der MZ veröffentlichten Artikel „Sieg über Kriegskrankheiten“ angesichts der nahenden Niederlage bei Stalingrad folgendes: „Je länger der Krieg dauert, je straffer die Anspannung jedes einzelnen wird, um so eindrucksvoller hebt sich, für jeden einzelnen sichtbar, die Bedeutung der Volksgesundheit für die Entscheidung des Krieges ab.“5 Den vermeintlich guten Gesundheitszustand des deutschen Volkes trotz des Krieges und der bereits geforderten Opfer führte Conti auf die erfolgreichen Maßnahmen für die 3 4 5
Vgl. Thomas Tavernaro, Der Verlag Hitlers und der NSDAP. Die Franz Eher Nachfolger GmbH, Wien 2004, S. 74 f.; Oron J. Hale, Presse in der Zwangsjacke 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 278–282. Vgl. Heinz-Werner Eckhardt, Die Frontzeitungen des deutschen Heeres 1939–1945, Wien 1975, S. 6. Sieg über Kriegskrankheiten, in: MZ v. 20.1.1943, S. 3.
„Die Pflicht zur Gesundheit“. Nationalsozialistische Gesundheitspolitik
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Bekämpfung von Krankheiten zurück und appellierte an die Pflicht des Einzelnen zur Gesundheit: „Wenn wir weiter auf der Wacht bleiben, wenn der einzelne die eigene Pflicht zur Gesundheit noch ernster nimmt als bisher und wir die vom Nationalsozialismus erkannten Gesetze des rassischen Werdens eines Volkes und die Bedeutung der Familie hochhalten, wird uns auch die kommende Zeit gesundheitlich nicht entscheidend schädigen können.“6 Die Gesundheit wurde nicht als eine individuelle Angelegenheit aufgefasst, sondern jedes Mitglied der Volksgemeinschaft musste im Dienst der „Volksgesundheit“ stehen und damit seinen Beitrag zum Sieg im Krieg leisten. Einen zentralen Platz nahm auf der anderen Seite das Bild von Deutschland als dem Land des „wahren Sozialismus“ und einem aufstrebenden „sozialen Volksstaat erster Ordnung“,7 der sich um alle Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ sorgt. Die Berichte der MZ veranschaulichten die vielfältigen staatlichen Maßnahmen, die sich zur Förderung der Volksgesundheit an verschiedene soziale Gruppen richteten, insbesondere an Frauen und Kinder, Kriegsversehrte und Verwundete, Frontkämpfer, Familien von Gefallenen, Arbeitnehmer, Einwohner luftgefährdeter Gebiete und Ausgebombte. Die demonstrierte staatliche Fürsorge erstreckte sich damit jedoch nur auf diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die der Volksgemeinschaft zugehörten und die für den nationalsozialistischen Staat und den Krieg als gegenwärtige oder zukünftige Arbeitskräfte oder als Soldaten von Nutzen waren. So waren Kriegsversehrte in die „Volksgemeinschaft“ als diejenigen eingeschlossen, die ihr Leben und ihre Gesundheit für den Staat gefährdet hatten. Die schutz- und pflegebedürftigen Menschen wie unheilbar Kranke und Behinderte gehörten nicht zum propagandistischen Konzept der rassisch einheitlichen und gesunden „Volksgemeinschaft“. In Wirklichkeit wurden ihnen die gesellschaftliche Partizipation und das Recht auf Leben abgesprochen, und so wenig wie ihr Leben für das nationalsozialistische Regime zählte, so unbedeutend waren sie auch für die Berichterstattung. Der Demonstration der staatlichen Fürsorge dienten regelmäßige Berichte der MZ über die Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit der deutschen Frauen und Kinder sowie zum Schutz der deutschen Mütter. Es wurde berichtet über die Errichtung besonderer Betreuungsstellen für werdende Mütter und ärztliche Betreuung der Kinder in den Betriebskindergärten, medizinische Untersuchungen und zusätzliche Vitaminversorgung der Millionen von Schulkindern, werdender und stillender Mütter sowie Säuglingen,8 Erholungsaufenthalte für Witwen und Waisen,9 Ku-
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Ebd. Die Phalanx der helfenden Hände. Dr. Goebbels’ Rechenschaftsbericht über das dritte Kriegswinterhilfswerk 1941/42, in: MZ v. 2.10.1942, S. 3. Für werdende Mütter, in: MZ v. 3.6.1942, S. 3; 650 Betriebskindergärten, in: MZ v. 3.6.1942, S. 3; Der Schutz der deutschen Mutter. Aus Berichten des Frauenamtes der DAF, in: MZ v. 23.8.1942, S. 3; Vitamine in den Schulen, in: MZ v. 14.10.1942, S. 3; Jugendgesundheitspflege im Kriege. Kostenlose Untersuchung der Sechs- bis Achtzehnjährigen, in: MZ v. 13.1.1943, S. 3. Erholungsfürsorge für Kriegshinterbliebene, in: MZ v. 17.6.1942, S. 7.
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ren für Mütter, die als Rüstungsarbeiterinnen und Landfrauen tätig waren.10 Diese Maßnahmen – soweit sie tatsächlich umgesetzt wurden – erfolgten weniger im Sinne der Frauen, sondern hatten eine wichtige gesellschaftliche Funktion, die Arbeitskraft der Frau und Mutter zu erhalten. Die gesetzliche Regelung zur Erwerbstätigkeit von Müttern sowie die Arbeitsbestimmungen für die Zeit der Schwangerschaft und Entbindung wurden als die vollkommensten in der Welt dargestellt, die den arbeitenden Müttern in Deutschland umfassenden Schutz und wirtschaftliche Sicherheit gewährleisteten.11 Da die Kindererziehung und der „Rassenerhalt“ als primäre Aufgabe der Frau in der nationalsozialistischen Ideologie galten, wurde der steigende Arbeitseinsatz der Frauen mit der Notwendigkeit ihres Dienstes zur Landesverteidigung begründet. Eine besondere Sinnstiftung des Fraueneinsatzes für den Krieg wurde mit der opferreichen Tätigkeit deutscher Krankenschwestern demonstriert. Der Beruf der deutschen Krankenschwester wurde dabei vom Aufstellen der sowjetischen Frauenbataillone abgegrenzt, er bilde für deutsche Frauen den „schönsten und weiblichsten Dienst, den man sich denken kann“, denn „sie helfen verwundeten und kranken Soldaten und sind auch in ihrer Haltung unseren Soldaten gleich.“12 Als ein Beispiel wurde im Oktober 1942 die 26jährige Schwester des Roten Kreuzes Elfriede Wauk vorgestellt, der nach einer Verwundung ein Bein amputiert werden musste: „Als sie dann später aus der Narkose erwachte und spürte, was ihr geschehen war, biss sie die Zähne zusammen und dachte an die vielen Soldaten, die das gleiche Schicksal wie sie erlitten hatten. Seit dem Polenfeldzug stand Schwester Elfriede im Einsatz, und auch jetzt ist ihre Kraft ungebrochen. Sie will alles versuchen, ihren Beruf wieder auszuüben.“13 Ihre Haltung und Fröhlichkeit seien ein Vorbild für das ganze Lazarett. Als zweite deutsche Frau hat sie das Eiserne Kreuz 2. Klasse erhalten.14 Selbstaufopferung, Haltung, Leistung, Tapferkeit, Pflichtbewusstsein, aber auch Fröhlichkeit und Freude der deutschen Krankenschwestern wurden in der MZ wiederholt hervorgehoben, die Schwierigkeiten des Krieges schienen ihnen nichts anzuhaben, ihr persönlicher Einsatz symbolisierte auch den Zusammenhalt innerhalb der „Volksgemeinschaft“ und erhielt Vorbildcharakter.15
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158 000 Mütter fanden Erholung. Kuren für Rüstungsarbeiterinnen und Landfrauen, in: MZ v. 15.11.1942, S. 3. Vgl. Der Schutz der deutschen Mutter. Aus Berichten des Frauenamtes der DAF, in: MZ v. 23.8.1942, S. 3. E. K. II. für Rote-Kreuz-Schwester. Überfall sowjetischer Flieger auf ein Front-Lazarett, in: MZ v. 4.10.1942, S. 7. Ebd. Ebd. Siehe auch: Das Schild im Knopfloch: „Verwundeter“. Helfende Hände vom Kampffeld bis ins Heimatlazarett, in: MZ v. 6.1.1943, S. 8. Vgl. Tapfere deutsche Tropenschwester. Ein Stück Heimat im fremden Land – Auch im Einsatz vor Tobruk, in: MZ v. 23.6.1942, S. 4; Zwei Schwestern mit dem EK ausgezeichnet, in: MZ v. 6.5.1943, S. 2; Station Waldfrieden. Aus Sonne, See und Wind schöpfen unsere Verwundeten Genesungskräfte, in: MZ v. 25.6.1943, S. 4. „Es ist eine fortwährende Anspannung“. Eine DRK-Schwester erzählt von ihrer Arbeit an der Ostfront, in: MZ v. 19.9.1943, S. 8.
„Die Pflicht zur Gesundheit“. Nationalsozialistische Gesundheitspolitik
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Die Betreuung von zahlreichen Verwundeten und Kriegsversehrten war angesichts des Krieges und des umfassenden Einsatzes der deutschen Soldaten ein bedeutendes und konstant präsentes Thema in der MZ. Als „Ehrenbürger der Nation“ rückten sie in den Vordergrund, ihre Pflege und Unterstützung wurden auf ihre geleistete Leistung zurückgeführt: „Eine der vornehmsten Aufgaben des nationalsozialistischen Reiches ist und bleibt für alle Zeiten Sorge um die, die durch ihren Einsatz für Deutschland Schaden an ihrer Gesundheit genommen haben, vor allem die kriegsversehrten Soldaten.“16 Die Fürsorge für Verwundete und Kriegsversehrte wurde in zahlreichen Artikeln der MZ über staatliche Maßnahmen und private Initiativen zum Ausdruck gebracht: Die vorzügliche medizinische Versorgung der Verwundeten,17 bessere Reisemöglichkeiten für Kriegsbeschädigte in der Reichsbahn,18 die Hitler-Freiplatz-Spende eines Erholungsurlaubs für an der Front ausgezeichnete genesende Soldaten.19 In Bayern erhielten Verwundete gar freien Eintritt für sämtliche Schlösser und Burgen.20 Neben der medizinischen Hilfe sollten die staatlichen Maßnahmen den nicht mehr einsatzfähigen Kriegsversehrten die Rückkehr in den Alltag erleichtern. Sie sollten vor allem die Möglichkeit zur Reifeprüfung und Berufsausbildung erhalten.21 So wurde z. B. den Blinden das Erlernen des Berufs des Telefonisten ermöglicht, um ihnen durch die schulische und berufliche Ausbildung „Selbstbewusstsein, Lebensfreude und vollgültigen Lebensinhalt zu geben, kurzum, sie zu tüchtigen und vollwertigen Arbeitern heranzubilden, statt sie ängstlich vor den Augen der neugierigen und mitleidigen Umwelt zu verbergen oder gar dem Dasein eines Almosenempfängers auszusetzen.“22 Dadurch solle ein Blinder eine „vollwertige Arbeit leisten“ und so „jederzeit als ein vollwertiges Mitglied seiner Volksgemeinschaft dienen“.23 Die Bedeutung, die Kriegsversehrten zu „vollwertigen Berufsträgern“ zu machen, ergab sich jedoch nicht nur aus der Fürsorge für den Einzelnen, 16 17
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Die Sorge für die Kriegsversehrten. Vorbereitung auf die Reifeprüfung – Ausbildung in Berufen, in: MZ v. 10.4.1943, S. 3. Das Schild im Knopfloch: „Verwundeter“. Helfende Hände vom Kampffeld bis ins Heimatlazarett, in: MZ v. 6.1.1943, S. 8; Den Verwundeten muß geholfen werden! Ein Lazarettzug, dicht hinter HKL…, in: MZ v. 18.3.1944; Kamerad Blutspender. Aufgaben und Leistungen der modernen Kriegschirurgie. Hingebender Einsatz des Soldaten wie des ärztlichen Betreuers, in: MZ v. 21.4.1944, S. 4. Neuerungen der Reichsbahn. Bessere Reisemöglichkeit für Kriegsbeschädigte, in: MZ v. 3.6.1942, S. 3; Freifahrten für Verwundete, in: MZ v. 9.5.1943, S. 3. Hitler-Freiplatz-Spende für genesende Soldaten, in: MZ v. 17.10.1942, S. 3. Freier Eintritt für Verwundete, in: MZ v. 22.9.1942, S. 2. Vgl. Reifeprüfung für Kriegsversehrte, in: MZ v. 15.10.1942, S. 3; Die Sorge für die Kriegsversehrten. Vorbereitung auf die Reifeprüfung – Ausbildung in Berufen, in: MZ v. 10.4.1943, S. 3; Kriegsversehrte schaffen. Das Recht auf Arbeit – Bescheinigung des seelischen Heilungsvorgangs, in: MZ v. 19.9.1943, S. 8; 40 000 Versehrte beruflich betreut. Neue Möglichkeiten durch die DAF-Fördergemeinschaft, in: MZ v. 23.4.1944, S. 3. Der Blinde an der Telephonzentrale. Die Leistung der ältesten deutschen Blindenschule, in: MZ v. 10.5.1942, S. 3. Ebd. Siehe auch: Hilfe für Kriegsblinde. Umfassende Sonderfürsorge für erblindete Soldaten, in: MZ v. 28.10.1942, S. 3.
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um die „Gefahr eines persönlichen Minderwertigkeitsgefühls und des unbefriedigenden Daseins“ zu bannen,24 sondern auch aus dem Arbeitskräftemangel heraus. Einige Berichte der MZ veranschaulichten die „unbeugsame Energie“ von Verwundeten: So sollen zwei beinamputierte Soldaten eine über zehn Kilometer lange Strecke mit ihren Krücken zu Fuß gelaufen sein.25 Ein anderer beinamputierter Kriegsversehrter soll bei einer Studienfahrt im Vogtland ohne jegliche Stütze den höchsten Gipfel eines Berges erklommen haben.26 In Braunlage wurden gar Schilaufkurse für Beinamputierte organisiert.27 Auch vor Ort in Minsk bestanden mehrere Lazarette für verwundete Soldaten. Die MZ berichtete regelmäßig im Lokalteil von ihrer Betreuung. Die Verwundeten erhielten nicht nur medizinische Versorgung, sondern sie sollten die „Verbindung zur Heimat“ spüren. Hierfür statteten die Vertreter der Zivilverwaltung – Generalkommissar Wilhelm Kube oder Gebietskommissare – den Verwundeten Besuche ab. Verschiedene Dienststellen organisierten ein Kulturprogramm und beschenkten die Soldaten mit Hygieneartikeln, Süßigkeiten, Büchern und Papier.28 Auch hier wurde der persönliche Einsatz der deutschen Frauen und Mädchen hervorgehoben, die liebevoll und aufopfernd die Verwundeten betreuten. Die Zeitungsberichte suggerierten, dass auch fern der Heimat die Volksgemeinschaft zusammenhalte und für die Soldaten alles Mögliche getan werde, damit sie schnell wieder gesund und einsatzfähig würden.29 Anfang 1944 wurden einige Berichte über die staatlich organisierte Ehevermittlung für Kriegsversehrte veröffentlicht, die in einigen großen Städten ins Leben gerufen werden sollte. Damit wolle das Vaterland als Zeichen der Dankbarkeit nicht nur für die gesundheitliche und wirtschaftliche Betreuung, sondern auch für „persönliches Glück“30 der Kriegsversehrten alles tun. Dass es den Ämtern für Volksgesundheit der NSDAP angesichts der Kriegsentwicklungen des Jahres 1944 nicht 24 25 26 27 28
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Kriegsversehrte als Berufsschullehrer. Erleichterungen für die Ausbildung – Eine neue Aufgabe, in: MZ v. 25.12.1942, S. 3. Hervorragende Leistung Verwundeter, in: MZ v. 4.4.1943, S. 3. Kriegsversehrte voll einsatzfähig. Frontsoldaten als Führernachwuchs – Gau der Frontkämpfer, in: MZ v. 27.5.19 43, S. 3. Beinamputierte lernen Schilaufen, in: MZ v. 4.3.1943, S. 3. Betreuung unserer Verwundeten. Fröhliche Pfingstbesuche in den Minsker Lazaretten, in: MZ v. 27.5.1942, S. 7; Fröhlicher Nachmittag mit den Verwundeten, in: MZ v. 28.7.1942, S. 3; Gauleiter Kube bei der Verwundetenbetreuung, in: MZ v. 13.8.1942, S. 3; Reichsbahner betreuen Verwundete. Musik und Liebesgaben für die Lazarette, in: MZ v. 23.8.1942, S. 7; Musikalische Lazarettbetreuung. Das Minsker Doppelquartett bei unseren Verwundeten, in: MZ v. 11.12.1942, S. 3; „Ich möchte mal wieder Salzgurken essen…“ Wie die Verwundetenbetreuung in den Minsker Lazaretten arbeitet, in: MZ v. 20.4.1943, S. 7; Dank der Heimat – Echo der Front. Gauleiter Wilhelm Kube besuchte Minsker Lazarette, in: MZ v. 25.7.1943, S. 3; Verwundete als Gäste der NSDAP. Erster Nachmittag der Bezirksleitung Weissruthenien, in: MZ v. 13.6.1944, S. 3. Vgl. „Hohe Nacht der klaren Sterne“. Der Weihnachtgruss der Partei an die feldgrauen Kameraden – Frauenhände schufen ein Stück Heimat in Minsk, in: MZ v. 27.121943, S. 3. Ehevermittlung für Kriegsversehrte. Lebensglück ebenso wichtig wie wirtschaftliche Sicherstellung, in: MZ v. 20.1.1944, S. 3.
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vorrangig um das persönliche Glück der Verwundeten ging, wird aus folgender Begründung deutlich: „Die Ämter für Volksgesundheit der NSDAP haben auch im Krieg eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Dabei soll nicht die Rede sein von der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Kriege und von einem Soforteinsatz nach Terrorangriffen, sondern von den Aufgaben der Erb- und Rassenpflege, die auch während des Kriegs zu leisten sind. Während vor dem Kriege die erbbiologischen Maßnahmen im Vordergrund standen, die eine ausmerzende Tendenz aufwiesen, hat man sich heute hauptschlich mit den Gebieten zu befassen, die sich positiv auswirken.“31 Diese Aussage ist insoweit bemerkenswert, als hier von erbbiologischen Maßnahmen mit „ausmerzenden Tendenzen“ die Rede ist, was wohl in der gesamten Berichterstattung der MZ als die einzige Andeutung der nationalsozialistischen Krankenmorde in Deutschland vor dem Krieg interpretiert werden kann. Was die Ehevermittlung der Versehrten angeht, so sollten in Zusammenarbeit von Ärzten und etlichen nationalsozialistischen Organisationen zunächst die körperlichen und geistigen Vorbedingungen, die „natürlich erste Grundlage solcher Ehen“ bildeten, richtig beurteilt werden. Damit die sogenannten „Träger gesunden Erbgutes“ trotz ihrer Behinderungen nicht auf eine Ehefrau und Kinder verzichten mussten, sollten sie mit jungen Frauen bekannt gemacht werden, „die ihren Mann dem Kriege opferten und nun ihrerseits gern gerade einem Kriegsversehrten eine gütige und verständnisvolle Ehefrau sein möchten.“32 Bei den zuständigen Einrichtungen konnten sich nicht nur Witwen, sondern auch „jedes erbgesunde deutsche Mädel“ melden.33 Die „Nachwuchsfürsorge“ wurde von einer individuellen zu einer staatlich geregelten Angelegenheit unter dem Leitmotto „Nachwuchsfürsorge heißt in erster Linie: die Geburt erbgesunder Kinder von erbgesunden Eltern. Die Gesundheit muss bewahrt und erhalten werden für die Nachkommen.“34 Die Nachwuchsfürsorge sollte auch in Form der Vorbeugung bei Ehefähigen erfolgen und zwar in Kooperation zwischen Medizin und den staatlichen Stellen. Als Maßnahmen wurden hier genannt: die Beratungen für Geschlechts- und Alkoholkranke oder -gefährdete, Errichtung einer Reichsmeldestelle für Suchtbekämpfung in Berlin, wo Meldungen aus der Marine, vom Heer und der Luftwaffe eingehen sollten über diejenigen, bei denen es sich herausgestellt hatte, dass sie vor und bei ihrer Einberufung zum Wehrdienst suchtgiftkrank oder gefährdet gewesen waren.35
31 32 33 34 35
Ebd. Ebd. Fürsorge für Kriegsversehrte. Hochzeit im Lazarett. Ehevermittlung für die Ehrenbürger der Nation, in: MZ v. 22.2.1944, S. 3. Soziale Arzthilfe im Kriege. Erste Fürsorge den Familien der Gefallenen, in: MZ v. 30.8.1942, S. 3. Ebd.
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DIE FORTSCHRITTLICHKEIT DER DEUTSCHEN MEDIZIN Die vermeintlichen Fortschritte auf allen Gebieten der deutschen medizinischen Forschung bildeten einen weiteren Themenbereich in der MZ. Populärwissenschaftliche Artikel knüpften immer wieder an die lange Tradition der deutschen Forschung – z. B. in Gestalt von Robert Koch – an und stellten neben den Arbeiten der Forschungspioniere36 die neueren medizinischen Forschungen, Erfindungen und Errungenschaften einzelner Wissenschaftler oder wissenschaftlicher Einrichtungen aus verschiedenen medizinischen Bereichen und Standorten vor. Auch die Fortschritte der deutschen Medizin im Krieg seien „der erste Beweis dafür, dass die Staatsführung auch auf dem Gebiet des Gesundheitswesens planmäßig dafür sorgt, dass die Widerstandskraft des Volkes ungebrochen bleibt. Es vergeht keine Woche, in der man nicht neue erfreuliche Mitteilungen über medizinische Fortschritte erhält, die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus von größtem Interesse sind.“37 Die Fortschrittlichkeit und die Qualität der deutschen Medizin wurden durch die Werbung deutscher Medizinfirmen und medizinischer Produkte ergänzt. Da angesichts der Kriegslage eher Marken- als Produktwerbung zugelassen war, sollten Namen deutscher Firmen bei Lesern in Erinnerung bleiben: die MZ warb für Bayer, Medopharm Arzneimittel, E. Merck, Arzneimittel Knoll und für medizinische Geräte der Siemens-Reiniger-Werke AG. Produktwerbung gab es nur für kleinere medizinische Mittel und Pflegeprodukte wie Neokratin gegen Kopfschmerzen, Neurosecretin gegen nervöse Beschwerden, Abführmittel Darmol, Pflaster von TraumaPlast, Sohlen und Pflaster gegen Hühneraugen, Shampoo von Alpecin oder auch Niveacreme. Neben den Berichten zu trivialen medizinischen Themen38 oder zu kriegsbedingten und relevanten Krankheiten39 finden sich in der MZ auch Berichte aus den medizinischen Bereichen, die pseudowissenschaftliche Legitimation für die nationalsozialistische Rassen- und Erbgesundheitspolitik lieferten oder an Menschenversuchen beteiligt waren. So berichtete die MZ z. B. über die Arbeit des Kaiser36
37 38
39
Der Begründer unserer Tropenmedizin. Vor 80 Jahren starb Professor Bilharz in Kairo, in: MZ v. 17.5.1942, S. 3; Lebensgesetz der Pflanzen entdeckt. Justus von Liebigs geniale Forschertat vor hundert Jahren, in: MZ v. 9.9.1942, S. 8; „Betriebsstoff für den Körpermotor“. Zum 200. Todestag des Schöpfers der „Hoffmanns-Tropfen“, in: MZ v. 28.11.1942, S. 8. Erkenntnisse der Medizin. Tuberkulose und Zuckerkrankheit – Hornhautübertragungen, in: MZ v. 25.10.1942, S. 2. Der Tag- und Nacht-Rhythmus. Wichtige Folgerungen für die Heilkunde aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, in: MZ v. 21.6.1942, S. 5; Warum muss der Mensch schwitzen? Trinken macht durstig – Wärmeregulierung des Körpers, in: MZ v. 13.9.1942, S. 5; Ist der Mensch vom Wetter abhängig?, in: MZ v. 16.9.1942, S. 5; Paravitamine. Verwandte der Vitamine im Kampf gegen Krankheitserreger, in: MZ v. 29. 11.1942, S. 5; Lachen ist gesund. Das Zwerchfell räumt die Lungen aus – Vollkommene Entspannung macht froh, in: MZ v. 2.61943, S. 5. Schutz gegen Flecktyphus. Deutscher Wissenschaftler erfand wirksames Mittel, in: MZ v. 16.9.1942, S. 3; Paravitamine. Verwandte der Vitamine im Kampf gegen Krankheitserreger, in: MZ v. 29.11.1942, S. 5; Medizinische Forschung im Kriege. Deutsche Wissenschaftler im Kampf gegen die Seuchengefahr, in: MZ v. 25.11.1943, S. 4;
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Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. In einem Artikel zum 15jähigen Bestehen des Instituts wurde Deutschland als „der unbestrittene Bahnbrecher und Führer“ auf dem Gebiet der Erbforschung gelobt.40 Aus einem Gespräch mit dem neuen Leiter des Instituts, Prof. Otmar von Verschuer, wurden die Aufgaben der Erblehre und der Zwillingsforschung geschildert.41 Die MZ berichtete auch von einer Berater- und Gutachterstelle für Erb- und Rassenpflege am Institut, der „aus dem ganzen Reich von den Erbgesundheitsgerichten und Obergerichten und Gesundheitsämtern besonders schwierige Fälle überwiesen werden. Zu diesem Zweck wurden in dem Institut eigene Untersuchungszimmer und eine kleine klinische Abteilung eingerichtet.“42 Dass die Gutachten für Erbgesundheitsgerichte über Zwangssterilisationen auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ entschieden, verschwieg die MZ. Ebenfalls, dass die Mitarbeiter des Instituts neben der pseudowissenschaftlichen Begründung der nationalsozialistischen Rassen- und Judenpolitik auch an der Aus- und Fortbildung des Fachpersonals für die Durchführung der Erbgesundheitspolitik, an der Erstellung von „Abstammungs- bzw. Rassegutachten“ für das Reichssippenamt im Reichsinnenministerium und an der „Zigeunerforschung“ beteiligt waren.43 1943 und 1944 wurden für die Forschung am Institut menschliche Blutproben und Augenpaare verwendet, die von Opfern aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz stammten und mit Hilfe von Josef Mengele, der am Institut als Gastwissenschaftler geführt wurde, zur Verfügung gestellt wurden.44 Beachtenswert ist der im Januar 1943 erschienene Artikel „Sind Erbkrankheiten heilbar?“ von Adolph Meuer über die Forschung und die biologischen Versuche an Schmetterlingen von Prof. Alfred Kühn, dem Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem, die laut Autor auch für Medizin und Erblehre wichtig seien.45 Im Schlusswort des Artikels beantwortete der Autor die im Titel gestellte Frage mit einem optimistischen Blick in die Zukunft: „Das Erbgut wird man nicht ändern können, aber im einzelnen Fall des Erbkranken darf man die Hoffnung hegen, eines Tages auch hier die Mittel und Wege zur Hilfe und Heilung gefunden zu haben. […] Dann wird erst die eminente Bedeutung dieser Forschungen richtig klar werden, die Medizin und andere Wissensgebiete werden sie aufgreifen und dann wird der Augenblick gekommen sein, wo die deutsche Forschung die Möglichkeiten und Mittel in der Hand hat, auch Erbkranken zu helfen.“46 Die Intention des Autors bleibt verborgen, ob er die Hoffnung stiften oder die Perspek40 41 42 43 44 45 46
Erfolge deutscher Zwillingsforschung. 15 Jahre Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in: MZ v. 30.5.1943, S. 5. Krebs ist nicht erblich. Die deutsche Zwillingsforschung gibt Antwort – Ein Gespräch über Erblehre, in: MZ v. 3.2.1943, S. 4. Ebd. Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. Annäherungen an das Thema, in: ders. (Hrsg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 7–37, hier: S. 12 ff. Ebd., S. 19. Sind Erbkranke heilbar?, in: MZ v. 20.1.1943, S. 5. Ebd.
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tiven der Medizin aufzeigen wollte. Was jedoch bis dahin mit den Erbkranken geschehen soll und auch praktisch geschah, wurde in dem Artikel nicht angesprochen. Die MZ berichtete ferner über die Höhenforschung der Flugmedizin und die Zentrifugenversuche,47 über die Röntgenaufnahmen beim Sturzflug48 oder die Kälteforschung.49 Die zahlreichen Artikel veranschaulichten den Einsatz der Medizin für den Krieg und für die Volksgesundheit. Die in Rahmen der medizinischen Forschung durchgeführten Versuche wurden meist nur am Rande allgemein erwähnt. Menschen, die als medizinische Versuchsobjekte – darunter Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge – missbraucht und getötet wurden, waren ebenfalls kein Thema für die Berichterstattung. DEUTSCHE GESUNDHEITSPOLITIK UND PROPAGANDA IM „GENERALKOMMISSARIAT WEISSRUTHENIEN“ Die Besetzung von Weißrussland wurde in der MZ als „Befreiung vom bolschewistischen Joch“ und als Eingliederung des weißrussischen Volkes in das „Neue Europa“ propagandistisch begründet. Das nationalsozialistische Deutschland wurde dabei im Besatzerdiskurs als eine bessere Alternative zur Sowjetunion dargestellt und mit seiner politischen, sozialen, kulturellen Führungsrolle begründet. Auch gesundheitspolitische und medizinische Themen wurden dabei als Argument mit einbezogen. Dem vermeintlich fortgeschrittenen und hoch entwickelten deutschen Gesundheitssystem und seiner Ordnung und Hygiene wurden die Probleme des sowjetischen Gesundheitswesens gegenübergestellt: mangelhafte Vorbildung und niedrige Löhne der sowjetischen Ärzte, katastrophale Hygiene und Seuchenverbreitung; auch der hohe Anteil der jüdischen und der kleine Anteil der „weißruthenischen“ Ärzte wurden beklagt.50 Die sanitären und hygienischen Verhältnisse in der Sowjetunion wurden als „katastrophal“51 beschrieben, ohne dass Rücksicht auf die Kriegssituation genommen wurde: „Das Wort ‚Hygiene‘ ist der Bevölkerung dieses Raumes im wesentlichen ein vollkommen fremder Begriff.“52 Und weiter: „Insbesondere der gefährlichsten der Seuchen – dem Fleckfieber – fielen und fallen all47 48 49 50 51 52
Die Flugmedizin im Dienst der Kriegführung. Wissenschaft und Versuchsanstalten schaffen die Voraussetzungen für die Erfolge unserer Flieger, in: MZ v. 5.2.1943, S. 4. Röntgenaufnahmen beim Sturzflug. Stuka als medizinisches Versuchsflugzeug, in: MZ v. 8.7.1943, S. 4. Abreiben mit Schnee überholt. Wie heute Erfrierungen behandelt werden – Wissenschaft gegen den Kältetod, in: MZ v. 15.1.1944, S. 3. Arzt und Hygiene bei den Sowjets. Rückschau auf einstige Verhältnisse in Weissruthenien, in: MZ v. 16.4.1942, S. 3; Blick in sowjetische Unkultur. Die Volksgesundheit vollkommen vernachlässigt, in: MZ v. 28.4.1942, S. 7. Weissruthenien muss sauber werden. Eine Verordnung des Generalkommissars, in: MZ v. 23.4.1943, S. 3. Kampf gegen Seuchengefahr. Deutschland begründet das größte Fleckfieber-Impfwerk der Welt, in: MZ v. 22.4.1942, S. 7.
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jährlich zahlreiche Bewohner des Sowjetreiches zum Opfer, ohne dass von Seiten der Sowjetbehörden für eine Abhilfe gesorgt wurde, während nun die deutsche Gesundheitsführung sich tatkräftig an die Bekämpfung der Seuchengefahr gemacht hat.“53 Der angeblichen Tatenlosigkeit der Sowjets wurde die aktive Arbeit der Deutschen in den besetzten Gebieten gegenübergestellt. Die Neuordnung des Gesundheitswesens wurde auf einer Versammlung der einheimischen Ärzte und Professoren als eines der wichtigsten Teilgebiete des allgemeinen Aufbaues der Ostgebiete bezeichnet.54 So wurden in der MZ zur Veranschaulichung der deutschen Aktivitäten regelmäßig die Vorsorgemaßnahmen der Seuchenbekämpfung vorgestellt, die in erster Linie jedoch dem Schutz der deutschen Besatzer selbst dienten. Weiteren Berichten ist zu entnehmen, dass zur Förderung des Gesundheitswesens für die einheimische Bevölkerung in Minsk das erste Krankenhaus und das dritte Seuchenkrankenhaus sowie vier Ambulatorien zur Verfügung stünden, so dass „zur Zeit eine gute ärztliche Versorgung der Einheimischen gewährleistet ist.“55 Zudem wache das Deutsche Rote Kreuz über die Gesundheit der einheimischen Bevölkerung.56 Laut einem anderen Artikel sei in „Weißruthenien“ der dringende Bedarf an Arzneimitteln „in jedem Fall für die Einheimischen sichergestellt“.57 Dass die Einheimischen in der Praxis kaum einen realen Zugang zu den notwendigen Medikamenten erhielten, wird aus der Verordnungspraxis deutlich: „Um aber unnötigem Verschleiß vorzubeugen, werden die wichtigsten Medikamente nur auf die Verordnung eines deutschen Arztes abgegeben.“58 Um dem akuten Mangel an medizinischem Personal im „Generalkommissariat Weißruthenien“ entgegenzuwirken, wurde in einigen Orten eine Medizinausbildung weißrussischer Kräfte ins Leben gerufen. Die MZ berichtete über erste Erfolge und erste Absolventen der Mittelschule für medizinisches Personal in Baranavičy,59 über das medizinisch-wissenschaftliche Institut in Mahilëŭ60 und 53 54 55 56 57 58 59
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Ebd. Reform des Gesundheitswesens. Verkündung der Neuordnung auf einer Versammlung der einheimischen Ärzte und Professoren, in: MZ v. 12.6.1942, S. 3. 15 Monate Zivilverwaltung in Minsk. Ein Überblick über die von der Stadtverwaltung geleistete Arbeit, in: MZ v. 6.12.1942, S. 8. Ziviler DRK-Einsatz in Weissruthenien. Das Deutsche Rote Kreuz wacht über die Gesundheit der einheimischen Bevölkerung, in: MZ v. 18.4.1943, S. 4. Arzneimittelversorgung in Weissruthenien. Der dringende Bedarf in jedem Fall für die Einheimischen sichergestellt, in: MZ v. 8.5.1943, S. 3. Ebd. Zur breitgefächerten Nutzung der Typhusepidemien gegen die weißrussische Bevölkerung im Zuge der sukzessiven Rücknahme der Hauptkampflinie durch die deutsche Kriegführung siehe den Beitrag von Christoph Rass in diesem Band. Fachschule für medizinisches Hilfspersonal, in: MZ v. 26.6.1942, S. 3; Medizinische Schule in Baranowitsche. 68 Prozent betrug der Anteil der Juden am Medizinstudium, in: MZ v. 2.12.1942, S. 3; Medizinalschule in Baranowitsche, in: MZ v. 29.8.1943, S. 7. Vgl. dazu den Beitrag von Alexander Friedman über die Mittelschule für medizinisches Personal in Baranavičy in diesem Band. Sorge für Weissrutheniens Ärztenachwuchs. Medizinisch-wissenschaftliches Institut in Mogilew – Minsk stellt neun Professoren, in: MZ v. 6.6.1943, S. 7; Die Sorge für den Ärztenachwuchs. Generalkommissar Wilhelm Kube verabschiedete weissruthenische Medizinstudenten,
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medizinisches Institut in Novaja Vil’nja.61 Die Berichte beklagten, dass vor der deutschen Besatzung ein großer Teil der Absolventen Juden und Russen waren und weißrussische Absolventen nur einen geringeren Anteil ausmachten.62 Die Tatsache, dass die Isolierung von weißrussischen Juden in Ghettos sowie ihre Ermordung den Fachkräftemangel verschärfte, wurde nicht thematisiert. Das Fehlen von jüdischem Medizinpersonal wurde zwar in einem Artikel aus dem Gebiet Vilejka angedeutet – dort stellten „früher die Juden das Hauptkontingent an Ärzten“63 – ihr tragisches Schicksal wurde jedoch in der MZ verschwiegen, war allerdings den Lesern vor Ort meistens bekannt. Von der weißrussischen Bevölkerung erwartete die deutsche Besatzung als Zeichen der Dankbarkeit für die „Befreiung“ die Arbeitsbereitschaft vor Ort oder als Ostarbeiter in Deutschland. In diesem Rahmen berichtete die MZ vom deutschen Gesundheitswesen, das den ausländischen Arbeitskräften scheinbar die Teilhabe am deutschen Sozialstaat ermöglichte. So werde laut der MZ in zahlreichen Lagern in Deutschland für die Gesundheit der weißrussischen Bevölkerung durch gute Verpflegung, kostenlose Medikamente, ärztliche Behandlung und Krankengeld bestens gesorgt.64 Es bestünden Regelungen für die Kosten der Krankenversorgung ziviler Ostarbeiter durch Unternehmer und Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands65 sowie der Arbeitsschutz für Ostarbeiter.66 Die MZ berichtete auch über die Verordnung des Reichsarbeitsministers vom 30. März 1943 für Unfallversorgung für die im Reich beschäftigten Ostarbeiter, die u. a. die Witwenunterstützung vorsah, selbst für Witwen in den besetzten Ostgebieten, falls der Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit den Tod des Ostarbeiters zur Folge habe.67 Die verabschiedeten Maßnahmen blieben jedoch nur auf dem Papier wirksam und entsprachen in keiner Weise der Realität. Zur Steigerung der Glaubwürdigkeit wurden einzelne Berichte abgedruckt, in denen die Ostarbeiter angeblich selbst zur Sprache kamen und von deutscher Ordnung, Sauberkeit, guten Arbeits- und Lebensverhältnissen, guter Verpflegung, Krankenstationen und Krankenhäusern erzählten.68 Die zu einer Deutschlandfahrt eingeladenen Weißrussen berichteten über die Sauberkeit im „Dritten Reich“, den
61 62 63 64 65 66 67 68
in: MZ v. 13.8.1943, S. 3; Im Dienste der Gesundheitspflege. Helferinnen, Schwestern und Hilfsapotheker bestanden das Examen, in: MZ v. 16.6.1944, S. 3. Jungärzte erhielten ihre Diplome. Entlassung und Verpflichtung der Absolventen des Medizinischen Instituts in Neu-Wilna, in: MZ v. 21.6.1944, S. 3. Fachschule für medizinisches Hilfspersonal, in: MZ v. 26.6.1942, S. 3; Medizinische Schule in Baranowitsche. 68 Prozent betrug der Anteil der Juden am Medizinstudium, in: MZ v. 2.12.1942, S. 3. Ausbau der Gesundheitsführung im Gebiet Wilejka. Fleckfieberfälle in einem Monat um zwei Drittel zurückgegangen, in: MZ v. 19.3.1943, S. 3. Millionen Ausländer im Reich. Die arbeitsrechtliche Gleichstellung – Keine Auswanderung nach Übersee, in: MZ v. 1.5.1943, S. 8. Krankenversorgung ziviler Ostarbeiter, in: MZ v. 6.5.1942, S. 6. Arbeitsschutz für Ostarbeiter. Grosszügige Regelung im Reich, in: MZ v. 16.2.1944, S. 3. Unfallversorgung für Ostarbeiter. Krankenbehandlung, Unfall- und Witwenunterstützung, in: MZ v. 18.4.1943, S. 3. Wie es ihnen in Deutschland geht. Ein einheimischer Lehrer erzählt aus dem Lagerleben im Reich, in: MZ v. 5.2.1944, S. 3; So lebt der Ostarbeiter im Reich. Gauleiter Kube sprach mit
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hohen Lebensstandard und darüber, dass die Behauptungen über die mangelhafte Verpflegung ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland nicht wahr seien: „Gerade in Gesprächen mit Ostarbeitern, die auch äußerlich gut genährt erscheinen, hätten sie festgestellt, dass diese gern in Deutschland arbeiten.“69 Eine weißrussische Dolmetscherin schrieb in einem Brief aus Berlin: „Ich fühle mich so, wie in einem Kurort. So viel haben wir Sonne und frische Luft und dazu können wir verschiedenes Obst und Gemüse kaufen.“70 Auch aus deutscher Sicht wurde ein für kaum jemanden noch glaubwürdiges Bild gezeichnet, so z. B. die Beschreibung einer Sanitätsbaracke in einem Lager für ausländische Arbeitskräfte, die der Autor mit einer deutschen Krankenschwester besichtigte: „das Sprech- und Wartezimmer, das Labor, den Krankensaal, die sanitären Anlagen, die Heizanlage, das Bestrahlungszimmer, das Ruheplätzchen vor dem Haus mit den bequemen Liegestühlen. Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, das haben viele ihrer Patienten in ihrem Leben noch nicht gesehen. Und in ihrer unermüdlichen Sorge und Arbeit hilft hier eine unbekannte deutsche Schwester, den Samen unseres in Deutschland verwirklichten Sozialismus in dieser Form in die Herzen zahlloser Menschen zu pflanzen, die von weither kamen, um einen sozialen Staat zu erleben, wie sie ihn nicht erwartet hatten.“71 Auch die folgende Beschreibung aus einem Kriegsgefangenenlager hatte nichts mit der tatsächlichen Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen gemeinsam und offenbart den Zynismus der Propaganda: So sollen deutsche und weißrussische Gäste beim Besuch eines nicht näher bezeichneten Kriegsgefangenenlagers im „Generalkommissariat Weißruthenien“ kräftige und gesunde Kriegsgefangene getroffen haben. Sie „tragen grüne Hosen und reine weiße Hemden. Sonnengebräunt und gesund sind ihre Gesichter. Sie sehen reiner und gesünder aus, als man sie in den Truppenteilen der Roten Armee sehen konnte.“72 Als eine der größten propagandistischen Aktionen kann die Einführung der Krankenversicherung für die weißrussische Bevölkerung angesehen werden, die zum 1. Februar 1944 in Kraft getreten war. Angesichts der anrückenden sowjetischen Armee hoffte die Zivilverwaltung mit dieser Geste offensichtlich, die Bevölkerung zum Kampf an deutscher Seite zu motivieren. Der Stadtkommissar von Minsk, Johann Ewald Becker, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „der deutsche Soldat an der Front mit der Verteidigung seiner deutschen Heimat auch die
69 70 71 72
einheimischen Schriftleitern – Aus Briefen in die weissruthenische Heimat, in: MZ v. 19.5.1943, S. 4. Das Reich von Weissruthenen gesehen. Deutschlandfahrer berichten über ihre Reiseeindrücke, in: MZ v. 21.11.1942, S. 3. „Ich fühle mich wie in einem Kurort“. Brief einer weissrussischen Dolmetscherin aus Berlin, in: MZ v. 7.10.1942, S. 7. Europa am Rande der Stadt. Gemeinschaftslager der 17 Nationen, in: MZ v. 11.7.1943, S. 8. Ein Kriegsgefangenenlager im Osten. Deutsche und weissruthenische Gäste bei einem Konzert der Kriegsgefangenen, in: MZ v. 18.8.1943, S. 3. Siehe auch: Iwan lernt deutsche Ordnung. In einem Kriegsgefangenenlager im Osten – Arbeit ist der wichtigste Erziehungsfaktor, in: MZ v. 9.12.1943, S. 4.
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neue Ordnung Weissrutheniens garantiert.“73 Er forderte die weißruthenischen Arbeiter und Arbeiterinnen auf, „im Schutz dieser neuen Sozialordnung durch ihre Arbeit den ihnen zukommenden Beitrag im Kampf gegen Bolschewismus zu leisten.“74 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem die deutsche Niederlage immer deutlicher wurde und die Diskrepanz zwischen der Propaganda und der deutschen Realpolitik nicht größer sein könnte. SCHLUSSFOLGERUNGEN Berichte zu medizinischen und gesundheitspolitischen Themen bildeten einen Bestandteil der Berichterstattung der MZ, wobei die Zusammensetzung der Artikel die Besonderheit des Besatzerdiskurses75 deutlich macht. Der Besatzerdiskurs wurde einerseits durch Themen geprägt, die auch in der Propaganda innerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands gängig waren. Über die Artikel und Meldungen aus der Berliner Schriftleitung der MZ sowie aus dem Deutschen Nachrichtenbüro und weiteren Pressediensten wurden so die reichsdeutschen Diskurse an die Leser in deutschbesetzten Gebieten herangetragen. Andererseits wurde der Besatzerdiskurs durch lokale Themen in den vor Ort verfassten Artikeln ergänzt, die an den Interessen und der Politik der deutschen Besatzung im „Generalkommissariat Weißruthenien“ ausgerichtet waren. Gemeinsam war allen Artikeln ihre zentrale Bedeutung für die Legitimation der deutschen Besatzung in Europa, indem die vermeintlich führende Rolle Deutschlands als fortschrittlicher Sozialstaat in Europa dargestellt und die Ausweitung der deutschen Gesundheitspolitik auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete bekundet wurden. Darüber hinaus wurde die Bekämpfung von Krankheiten zu einer kriegsnotwendigen und kriegsentscheidenden Maßnahme erhoben. Das Schicksal von psychisch und körperlich kranken Menschen, die sowohl im Deutschen Reich als auch im besetzten Weißrussland ermordet wurden, wurde in der Berichterstattung der MZ nicht thematisiert, wenngleich die Erbgesundheitspropaganda die Mordpolitik indirekt abstützte oder gar unterschwellig zu legitimieren versuchte. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur Berichterstattung der MZ über antijüdische Maßnahmen. Die Berichte der MZ blieben zwar zurückhaltend, wenn es um antijüdische Maßnahmen im „Generalkommissariat Weißruthenien“ ging. Die MZ berichtete jedoch regelmäßig über antijüdische Maßnahmen in Rumänien, 73 74 75
Meilenstein im Sozialaufbau Weissrutheniens. Verkündung der Kranken-, Unfall und Sonderversorgung, in: MZ v. 20.2.1944, S. 7. Ebd. Siehe auch: Verbesserte Sozialmaßnahmen. Die neue Kranken-, Unfall- und Sonderverwaltung für Weissruthenien, in: MZ v. 24.2.1944, S. 3; Amtliche Bekanntmachung über die Durchführung der Kranken-, Unfall- und Sonderversorgung, in: MZ v. 29.2.1944, S. 3. Zu dem Begriff und Charakteristika des Besatzerdiskurses siehe Christoph Sauer, Der aufdringliche Text. Studien über NS-Ideologie, Sprachpolitik und Propaganda in der Besatzungspresse. Zur Entwicklung von Lesweisen nationalsozialistischer Zeitungsartikel, Hilversum 1990, S. 247 f.
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Frankreich, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Holland, Italien, Litauen und der Ukraine und vermittelte so den Eindruck, dass die stattfindende Judenverfolgung kein regional oder national begrenztes Phänomen war, sondern Teil einer in vielen Staaten Europas praktizierten „Judenpolitik“. Die Ausgrenzung, Enteignung und Ermordung der europäischen Juden wurden in der antisemitischen Propaganda der MZ immer wieder mit dem vermeintlichen Selbstverschulden der Juden legitimiert, die in Europa wirtschaftliche und politische Machtstellungen zum Nachteil der übrigen Bevölkerung ergriffen und auch den Krieg gewollt hätten. Die antijüdischen Maßnahmen wurden von offenen Drohungen begleitet und durch entmenschlichende Metaphern – z. B. Ungeziefer- und Krankheitsmetaphern – scheinbar legitimiert.76 Die völlige Ausblendung des Schicksals von psychisch und körperlich kranken Menschen in der Propaganda der MZ kann aus heutiger Sicht auf unterschiedliche Gründe zurückgeführt werden, so auf die Geheimhaltung der Krankenmorde oder auch auf die Bedeutungslosigkeit dieser Menschen als Feindbild für die zweckorientierte Propagandaarbeit. Bezeichnend war, dass die Berichterstattung der MZ zu medizinischen und gesundheitspolitischen Themen entpersonifiziert wurde: Es ging nicht um hilfsbedürftige Menschen, sondern um abstrakte Konzepte wie „Volksgesundheit“, „Erbgesundheit“ und „Rassenhygiene“, denen die individuelle „Pflicht zur Gesundheit“ unterzuordnen war. Das Leben von Menschen, die dieser Pflicht nicht nachkommen konnten, stellte in der nationalsozialistischen Realpolitik keinen schützenswerten Wert dar.
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Vgl. Svetlana Burmistr, „Die Völker Europas wollen samt und sonders die Juden nicht“ – Die Judenverfolgung im Spiegel der Minsker Zeitung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.) Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), Berlin 2010, S. 217–233. Siehe auch dies., Selbst- und Fremdbilder in der nationalsozialistischen Besatzungspresse am Beispiel der „Minsker Zeitung“ (April 1942 – Juni 1944), erscheint Berlin 2016.
„WIE MAN SICH IM SOMMER VOR RUHR UND DARMINFEKTIONEN SCHÜTZEN KANN“. DAS GESUNDHEITSWESEN IN DER RUSSISCHSPRACHIGEN NS-BESATZUNGSPRESSE 1941–1944 Viktoria Silwanowitsch In den von deutschen Truppen besetzten sowjetischen Gebieten erschienen in der Zeit zwischen 1941 und 1944 zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, deren genaue Gesamtzahl bis heute noch unbekannt ist, die aber von einigen Forschern auf bis zu Tausend geschätzt wird.1 Annährend ein Viertel der gesamten NS-Besatzungspresse wurde in russischer Sprache und vorwiegend in den militärverwalteten rückwärtigen Heeresgebieten und rückwärtigen Armeegebieten herausgegeben. Diese Besatzungsperiodika behandelten zum einen rein propagandistische und kriegspolitische Themen, wie die Bekämpfung des „jüdischen Bolschewismus“ und die „Befreiung“ der Völker der UdSSR, die Lage an den Fronten des Zweiten Weltkrieges und insbesondere an der Ostfront sowie die internationalen Beziehungen. Zum anderen befassten sie sich mit alltäglichen Themen wie Kultur, Bildung, Sport oder auch dem Gesundheitswesen. Trotz einer bemerkenswerten Gesamtzahl, einer beeindruckenden Auflagenhöhe einiger Zeitungen,2 der verschiedenen Ausrichtungen einzelner Zeitungen, einer großen Themenvielfalt sowie der oft anspruchsvollen Inhalte wurde diese Presse als historische Quelle bis heute kaum untersucht. Auch in den meisten Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten des Lebens unter der deutschen Okkupation wird die Besatzungspresse kaum berücksichtigt. Bei einer kritischen Betrachtung und Quellenanalyse bietet aber gerade diese Presse erstaunlich viele Informationen zu einzelnen Aspekten des Besatzungsalltags, und hier stellt das Gesundheitswesen, welches bis heute ein weißer Fleck in der Forschung bleibt, keine Ausnahme dar. 1 2
Ivan Gribkov, Kollaboracionistskaja pressa na okkupirovannych territorijach SSSR (1941– 1945 gg.), in: Otečestvennye archivy [Die Kollaborationspresse in den okkupierten Gebieten der UdSSR (1941–1945), in: Vaterländische Archive] 6 (2007), S. 60–71, hier S. 62. Die Auflagen einiger Zeitungen lagen bei oder sogar über 100 000 Exemplaren. Unter den russischsprachigen sind das beispielsweise die zweiwöchentlich mit einer Auflage von 200 000 Exemplaren erschienene Bauernzeitung Kolokol [Die Glocke] (Tätigkeitsbericht der AbwehrAbteilung Ic bei der Infanteriedivision der Wehrmacht, Juli 1942, Bundesarchiv – Abteilung Militärarchiv (nachfolgend BArch – MA), RH 22/244) oder die in Orel herausgegebene Zeitung Reč’[Die Sprache], deren Auflage im Herbst 1942 100 000 Exemplare erreichte (Robert Edwin Herzstein, Anti-Jewish Propaganda in the Orel Region of Great Russia, 1942–1943: the German Army and its Russian Collaborators, in: Simon Wiesenthal Center Annual 6 (1989), S. 33–55, hier S. 39).
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Im folgenden Beitrag soll anhand einiger russischsprachiger Besatzungszeitungen ein Überblick darüber gegeben werden, wie das Gesundheitswesen in den besetzten sowjetischen Gebieten unter der deutschen Militärverwaltung organisiert war, worin seine Funktion für die Zivilbevölkerung bestand und welche Aufgaben es in den Augen der Besatzungsmacht zu erfüllen hatte. Da die Hauptfunktion der Besatzungspresse darin bestand, die neue Macht propagandistisch zu unterstützen, ist auch zu fragen, inwieweit sich der tatsächliche Zustand des Gesundheitswesens aus der Presse herauslesen lässt. Konnte etwa über kriegsbedingte Schwierigkeiten berichtet werden? Ebenfalls ist zu klären, was im Bereich des Gesundheitswesens unter den Anstrengungen des Krieges für die Bevölkerung besonders wichtig war und welche Rolle dabei der Besatzungspresse zukam. Ferner soll auf die Frage eingegangen werden, was die Presse über die Ärzte berichtete und welches Arztbild dabei entworfen und vermittelt wurde. ORGANISATION UND FUNKTION DES GESUNDHEITSWESENS Die in den besetzten Städten gegründeten Stadtverwaltungen standen unter der Kontrolle der Militärverwaltung bzw. der Feldkommandanturen, besaßen verschiedene Abteilungen. Unter diesen war die Abteilung für das Gesundheitswesen für die medizinische und sanitäre Versorgung der Stadtbevölkerung zuständig. Dementsprechend unterstand das Gesundheitswesen der Stadtverwaltung und somit auch dem Bürgermeister der jeweiligen Stadt. Allerdings mussten viele Maßnahmen, z. B. die Eröffnung von neuen Krankenhäusern bzw. deren Wiederaufbau oder Renovierung, obwohl sie im Tätigkeitsbereich der Stadtverwaltung lagen, zuvor mit dem Feld- bzw. Ortskommandanten abgestimmt werden.3 Der Tätigkeitsbereich einer Abteilung für Gesundheitswesen war sehr breit angelegt: So berichtete die Zeitung Reč’ [Die Sprache] im März 1942 unter der Rubrik „Lokale Chronik“ über „das teilweise wiederaufgebaute Volksgesundheitswesen“ in der russischen Stadt Orel. Es gebe in der Stadt zu diesem Zeitpunkt drei funktionierende Krankenhäuser: ein städtisches allgemeines Krankenhaus, ein Krankenhaus für Haut- und Geschlechtskrankheiten und ein psychiatrisches Krankenhaus. Außerdem gebe es eine Tuberkulosefürsorgestelle für Jugendliche, eine Abteilung für obdachlose Kinder und eine Poliklinik. Letztere biete Hilfe in allen Bereichen an, auch zahnärztliche Hilfe und ärztliche Hausbesuche, einschließlich Geburtshilfe. Außerdem unterstünden der Abteilung zwei Apothekenlager, drei Apotheken, eine Tierklinik, ein bakteriologisches und veterinäres Labor, ein Schlachthof und eine Sanitätsstation. Ebenfalls existierten sanitäre und epidemiologische Inspektionseinrichtungen. Letztere verfügten über eine Reihe von Desinfektoren und Impfpersonal.4 Der Tätigkeitsbereich der Abteilung umfasste also weitaus mehr als die reine medizinische Versorgung der Stadtbewohner. Die Veröffentlichung von Informati3 4
Novyj put’ [Der neue Weg] [Vicebsk] v. 22.7.1943, S. 4. Reč’ [Orel] v. 1.3.1942, S. 4.
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onen dieser Art kann auf den ersten Blick als eine rein propagandistische Maßnahme erscheinen, um den Wiederaufbau des Gesundheitswesens unter deutscher Führung zu loben. Da jedoch die Adressen aller medizinischen Einrichtungen, die Öffnungszeiten der Poliklinik,5 die Aufnahmekapazitäten der Krankenhäuser sowie die Preise für die medizinische Versorgung genannt werden,6 kann man davon ausgehen, dass die Stadtbewohner in erster Linie über die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung informiert werden sollten. Wie aus den Artikeln verschiedener Zeitungen hervorgeht, war die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den besetzten Städten und Kreiszentren wohl überall kostenpflichtig. Beispielweise kostete in Orel der Aufenthalt im städtischen Krankenhaus zehn Rubel pro Tag, ein Besuch der Poliklinik zwei bis drei Rubel, Hausbesuche des Arztes kosteten zwischen fünf und zehn Rubel.7 Auch die Partisanenberichte über die Lage in den besetzten Gebieten bestätigen die kostenpflichtige medizinische Versorgung und nennen dabei ähnliche Preise.8 Es ist zu vermuten, dass die kostenpflichtige medizinische Behandlung schlecht bei der Bevölkerung angekommen ist, da diese in der Sowjetzeit umsonst gewesen war; diesen Aspekt des sowjetischen Gesundheitswesens erwähnte die Besatzungspresse in ihrer Kritik allerdings nicht. Die Preise für die medizinische Versorgung legte die Stadtverwaltung fest.9 In den Zeitungen, die keine direkten Informationen über die Kosten für die medizinische Versorgung enthalten, deute die Ankündigung von Ausnahmen auf die ansonsten kostenpflichtige medizinische Versorgung hin. Hier besaßen wiederum die Stadtverwaltungen und die Bürgermeister bestimmte Spielräume: So sollte die häusliche medizinische Hilfe für Behinderte und Waisenkinder in der Stadt Bežica 5
6 7
8
9
Wie aus der Zeitung Golos Kryma [Stimme der Krim] hervorgeht, wurden die Öffnungszeiten auf die Sperrzeiten abgestimmt: Die Aufnahme der Patienten endete meistens eine bis zwei Stunden vor dem Beginn der Sperrzeit. Bei Änderung der Sperrstunde wurden die Öffnungszeiten entsprechend angepasst. Siehe Golos Kryma [Simferopol’] v. 19.2.1942, S. 4 und v. 5.5.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 1.3.1942, S. 4. Ebd.; ähnliche Preise für die medizinische Versorgung weisen die Archivdokumente zum Brjansker Gebiet auf. Siehe: Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-političeskoj Istorii [Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte] (nachfolgend RGASPI), F. (= Fond) [Bestand] 69, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 1143, L. (= List) [Blatt] 44; Zum allgemeinen Preisvergleich: Die vorgeschriebenen Preise auf dem Markt lagen beispielweise im rückwärtigen Heeresgebiet „Mitte“ im Sommer 1942 bei 2 Rubel für einen Liter Milch, 1 Rubel für ein Kilo Brot, 10 Rubel für ein Huhn. Die tatsächlichen Preise lagen bei 15 bis 25 Rubel für einen Liter Milch, bis 120 Rubel für ein Kilo Brot und 65 bis 80 Rubel für ein Huhn. Siehe: Der Chef der Sicherheitspolizei und SD. Meldungen aus den besetzten Gebieten Nr. 14 v. 31.7.1942, Institut für Zeitgeschichte (nachfolgend IfZ), MA 284, fol. 0097–0117, hier fol. 0111. Informationsbericht des Stabes der Partisanengruppe von Emljutin über die Lage im Gebiet Orel bis zum 1. März 1943, RGASPI, F. 69, O.1, D.914, L. 1–10, hier L. 7; Bericht des Kommandeurs der Partisanentruppen im Gebiet Minsk, Vasil’ev über die Lage in der Stadt Babrujsk, o. D. [dem Inhalt nach nicht früher als Frühjahr 1943 und nicht später als August 1943 – V. S.], RGASPI, F. 69, O.1, D. 855, L. 29–33, hier L. 31. Doneckij vestnik [Donezker Bote] [Juzivka] v. 11.12.1941, S. 4.
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im Raum Orel ab dem 1. November 1942 nach der Verordnung des stellvertretenden Bürgermeisters kostenfrei sein.10 In der weißrussischen Stadt Vicebsk behandelte man, als die städtische Poliklinik Ende Juli 1941 ihre Arbeit wieder aufnahm, die Patienten mit Brandwunden und Verwundungen in den ersten Wochen kostenlos.11 In Simferopol’ auf der Krim erfolgten die Aufnahme von Patienten mit Geschlechtskrankheiten12 sowie die Pockenimpfung kostenfrei.13 In den Berichten zum Gesundheitswesen, welche meistens die Mitarbeiter der Abteilung für Gesundheitswesen schrieben, gab man nicht nur, wie bereits erwähnt, die Ausrichtung medizinischer Einrichtungen der Stadt und die Preise für die medizinische Versorgung bekannt, sondern benannte auch die Anzahl der Plätze in den Krankenhäusern, ihre Erweiterungskapazitäten sowie weitere Leistungen, wie beispielsweise Hausbesuche des Arztes bzw. der Hebamme. Auch Pläne zur Erweiterung bzw. zur Eröffnung von neuen Polikliniken oder bestimmten medizinischen Abteilungen kündigte man in der Presse regelmäßig an: So berichtete zum Beispiel die Zeitung Reč’ im August 1942 über die Eröffnungsvorbereitungen für eine Kinder- und Frauenberatungsstelle14 sowie für eine Notaufnahme in Orel.15 In Vicebsk informierte die Zeitung im Juli 1943 über die Eröffnung eines neuen Krankenhausgebäudes.16 Im Laufe der Zeit häuften sich in der Presse Berichte über den Wiederaufbau des Gesundheitswesens in anderen besetzten Städten und Gebieten. Einige auflagenstarke, weit über ihre Erscheinungsorte verbreitete Zeitungen hatten eigene Berichterstatter, welche aus den Städten und Gebieten berichteten, in denen die jeweilige Zeitung gelesen wurde. So berichtete der Korrespondent der Zeitung Reč’, Vadim Rusanov, regelmäßig über die Stadt und das Gebiet Brjansk (Russland). Dabei war eines der zahlreichen Themen seiner Berichte die medizinische Versorgung und das Gesundheitswesen in der Stadt Brjansk.17 Die Presse informierte aber auch über das Gesundheitswesen in entlegenen Gebieten: So veröffentlichte wiederum die Zeitung Reč’ zahlreiche Artikel über den Wiederaufbau des Gesundheitswesens in der Ukraine18 und hier vor allem in der Stadt Odessa.19 Diese Wahl könnte auf die Vorliebe des Hauptredakteurs der Zeitung, Michail Oktan, zurückzuführen sein, der selbst aus Odessa kam.20 Viele Berichte der Abteilungen für Gesundheitswesen trugen den Charakter einer Statistik: Es wurde angegeben, wie viele Menschen zum Beispiel ärztliche 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Reč’ [Orel] v. 8.12.1942, S. 3. Novyj put’ [Vicebsk] v. 2.2.1942, S. 4. Golos Kryma [Simferopol’] v. 5.3.1942, S. 4 und v. 5.4.1942, S. 4. Golos Kryma [Simferopol’] v. 5.3.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 16.8.1942, S. 3. Reč’ [Orel] v. 27.9.1942, S. 4. Novyj put’ [Vicebsk] v. 22.7.1943, S. 4. Z. B. Reč’ [Orel] 4.5.1942, S. 4; v. 26.6.1942, S. 3, v. 25.10.1942, S. 3, v. 13.11.1942, S. 4 und v. 15.11.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 14.6.1942, S. 3, v. 15.7.1942, S. 3 und v. 23.8.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 24.7.1942, S. 3, v. 2.8.1942, S. 3, v. 15.7.1942, S. 3 und v. 19.7.1942, S. 4. Alexander Dallin, Portrait of a Collaborator: Oktan, in: Soviet survey. A quarterly review of cultural trends 35 (1961), S. 114–119, hier S. 114.
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Hilfe im Berichtszeitraum in Anspruch genommen, wie viele Hausbesuche von Ärzten stattgefunden hatten oder wie viele Operationen durchgeführt und wie viele Arzneimittel verkauft worden waren. Es gibt zahlreiche Presseberichte, welche regelmäßig Zahlen dieser Art veröffentlichten. Laut dem Bericht der Vicebsker Zeitung vom Januar 1942 wurden in der Zeit von Oktober bis Dezember 1941 beispielweise 1079 Patienten in den Krankenhäusern der Stadt aufgenommen, 46 274 Menschen hatten die Poliklinik aufgesucht, Hausbesuche erfolgten in 1492 Fällen und von den Apotheken wurden Arzneimittel auf 31 371 Rezepte ausgegeben.21 Die Zahl der Bürger, die innerhalb von drei Monaten die Poliklinik der Stadt aufsuchten, liegt – unter der Voraussetzung, dass die veröffentlichten Zahlen stimmen – nicht weit unter der Gesamtzahl der Stadtbevölkerung,22 was erstaunlich hoch ist. Man kann davon ausgehen, dass die bereits in den Städten unzureichende medizinische Versorgung auf dem Land entweder ganz ausblieb oder nicht von qualifizierten Ärzten, sondern von Arzthelfern und Krankenschwestern geleistet wurde. Auf diese Weise können auch die hohen Zahlen von Poliklinikbesuchern in den Städten erklärt werden. Nicht ganz klar ist, welchen Zweck die regelmäßige Veröffentlichung von Statistiken dieser Art verfolgte. Möglicherweise sollte damit die Bedeutung der geleisteten Arbeit betont werden. Der Leser sollte beeindruckt werden und einen Beweis für den erfolgreichen Wiederaufbau des Gesundheitswesens vor Augen haben. Die große Patientenzahl und die geringe Anzahl an Krankenhäusern und medizinischem Personal deuten aber gleichzeitig auf eine enorme Nachfrage nach medizinischer Hilfe hin, welche mit den vorhandenen geringen Kapazitäten nicht zu befriedigen war. DAS GESUNDHEITSWESEN UND DIE BESATZUNGSMACHT Bereits in den ersten Monaten der Okkupation gaben die Besatzer in zahlreichen Bekanntmachungen, welche verschiedene Lebensbereiche reglementierten, erste Verordnungen für das Gesundheitswesen heraus. So veröffentlichte die Klincovskaja gazeta [Klinzyer Zeitung] am 1. Oktober 1941 eine Bekanntmachung für das besetzte Gebiet vom 3. September 1941. Mit dieser Bekanntmachung wurden einige infektiöse Krankheiten sowie Geschlechtskrankheiten23 meldepflichtig. Eine Reihe von Krankheiten wie u. a. Ruhr, Typhus, Cholera, Pocken und Pest mussten ab sofort unter ärztlicher Kontrolle behandelt werden. Man verpflichtete die Ärzte, diese Krankheitsfälle innerhalb von 48 Stunden dem Ortskommandanten mit Anga21 22 23
Novyj put’ [Vicebsk] v. 11.1.1942, S. 4. Laut der Presse lag die Bevölkerungszahl in Vicebsk am 1. November 1941 bei 54.588. Vitebskie vedomosti [Vicebsker Nachrichten, Vicebsk] v. 23.11.1942, S. 4. Laut den Berichten aus den besetzten Gebieten traten trotz aller Gegenmaßnahmen immer häufiger Fälle von Geschlechtskrankheiten bei den Truppen und in der lokalen Bevölkerung auf. Siehe beispielsweise: Lagebericht der Sicherungsdivision 213 für die Zeit vom 16.4.–15.5.1942, IfZ, MA 488/2, fol. 276–283, hier fol. 278 f.; Meldungen aus den besetzten Ostgebieten des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 18 vom 28. August 1942, IfZ, MA 284, fol. 0203– 0231, hier fol. 0226.
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ben über den Erkrankten und die Krankheitsquelle zu melden. Im Falle von Geschlechtskrankheiten galt dasselbe, allerdings musste der Arztbericht für den Ortskommandanten schriftlich erfolgen und genauere Angaben über den Erkrankten enthalten. Im Falle der Nichtmeldung eines Geschlechtskrankheitsfalls drohte dem Arzt eine schwere Strafe durch die Ortskommandantur. Ebenfalls wurde bekannt gemacht, dass diejenigen schwer bestraft werden sollten, die wissentlich eine andere Person angesteckt hatten. Falls die angesteckte Person ein Deutscher sei, so werde der Schuldige von der Feldkommandantur mit dem Tod bestraft.24 Da die Gefahr einer Epidemie in Kriegszeiten bedeutend größer ist, zielten diese Maßnahmen der Besatzungsmacht offensichtlich darauf ab, die zu einer Epidemie führenden Krankheiten einzudämmen und somit vor allem die eigenen Truppen zu schützen. Die Bekanntmachung galt für einen größeren Teil der besetzten Gebiete und ist auch in anderen Zeitungen zu finden, beispielweise in der ersten Ausgabe der Starodubskaja gazeta [Staroduber Zeitung] vom 20. Oktober 1941.25 Auch andere in den ersten Monaten der Besatzung angeordnete Maßnahmen zielten darauf ab, die Gefahr einer Epidemie zu verringern: So veröffentlichte die Stadtverwaltung in Vicebsk in der Zeitung Vicebskija vedamasci [Vitebsker Nachrichten] bereits am 16. August 1941 die Verordnung, die mittlerweile in Bombenkellern, Granattrichtern und zerstörten Häusern entstandenen Müll- und Kothaufen als Brutstätten infektiöser Krankheiten zu beseitigen. Die Stadtverwaltung drohte damit, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, falls die bereits vorhandenen Müllhaufen nicht mit Erde zugeschüttet und mit Chlorkalk bedeckt würden. Unverzüglich sollten Müllgruben und Toiletten eingerichtet werden, welche regelmäßig zu desinfizieren seien. Bemerkenswert ist, dass diese Verordnung in der weißrussischen Ausgabe der Zeitung auf Russisch erschien,26 was von ihrer Bedeutung zeugt, da das Erscheinen auf Russisch die größtmögliche Verbreitung unter der Bevölkerung sichern sollte. Damit wird deutlich, dass die erste und wichtigste Aufgabe des Gesundheitswesens in den Augen der Besatzungsmacht nicht die medizinische Versorgung der Bevölkerung war, sondern die Reduzierung des Epidemierisikos. Das bestätigt auch ein Bericht in der Vicebsker Ausgabe der Zeitung Novyj put’ [Der neue Weg] über die Sanitätsstation der Stadt Vicebsk. Die Station sei eine der ersten Institutionen der Stadt, die nach dem deutschen Einmarsch ihre Tätigkeit wieder aufgenommen habe. Laut Bericht bestand die Arbeit des Stationspersonals vor allem darin, epidemische Krankheiten festzustellen und zu eliminieren sowie den sanitären Zustand der Stadt Vicebsk zu kontrollieren.27 In zwei Sprachen (auf Russisch und Ukrainisch) veröffentlichte die Zeitung Doneckij vestnik [Donezker Bote] aus der Ukraine am 18. Dezember 1941 eine Verordnung des Feldkomman24 25 26 27
Gosudarstvennyj Archiv Brjanskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Brjansk] (nachfolgend GABO), F. 2608, O. 1, D. 10, Klincovskaja gazeta [Klinzyer Zeitung] [Klincy] v. 1.10.1941, S. 2. GABO, F. 2608, O. 1, D. 9, Starodubskaja gazeta [Staroduber Zeitung] [Starodub] v. 20.10.1941, S. 4. GABO, F. 2290, O. 1, D. 6, Vicebskija vedamasci [Vicebsker Nachrichten] [Vicebsk] v. 16.8.1941, S. 2. Novyj put’ [Vicebsk] v. 11.2.1942, S. 4.
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danten, welche besagte, dass die Personen, die „mit Nahrungsmitteln umgehen […], frei von ansteckenden und ekelerregenden Krankheiten sein und […] alle 3 Monate ein ärztliches Attest beibringen [müssen]“. Bei Verstößen dagegen müsse mit schweren Geld- und Haftstrafen gerechnet werden.28 Einige Partisanenberichte erwähnten die Erschießung der an Fleckfiber Erkrankten aus der Zivilbevölkerung durch die Besatzer „zwecks Epidemievorbeugung“.29 Die Brutalität spiegelte sich aber selbstverständlich nicht in der Presse wider. Nicht nur die sanitäre Kontorolle und die Bekämpfung der epidemischen Krankheiten, sondern auch andere für die Besatzungsmacht wichtige Maßnahmen lagen im Aufgabenbereich des Gesundheitswesens. So zum Beispiel waren die Polikliniken verpflichtet, ärztliche Kommissionen für die Feststellung der Arbeitsfähigkeit der Stadtbevölkerung zu bilden.30 Einige städtische Polikliniken mussten zudem die Personen untersuchen, die zum Arbeitsdienst im Reich abtransportiert werden sollten.31 GESUNDHEITSWESEN ALS PROPAGANDAINSTRUMENT Die Hauptaufgabe der Besatzungspresse die Besatzungsmacht propagandistisch zu unterstützen, war auch in den Berichten über das Gesundheitswesen offensichtlich. Das Gesundheitswesen in der Sowjetunion wurde in seinen verschiedenen Aspekten immer wieder kritisiert, etwa wegen schlecht ausgestatteter Sanitätsstellen in den sowjetischen Industriebetrieben32 oder wegen der „allseits bekannten Tatsache“, dass gerade in der Sowjetunion die Tuberkulose aufgrund der schlechten Ernährung besonders verbreitet gewesen sei.33 In vielen Artikeln hieß es, als „bolschewistisches Erbe“ sei ein „untaugliches Gesundheitswesen“ in den Städten zurück geblieben.34 Wiederholt wurde behauptet, der Wiederaufbau des Gesundheitswesens sei nur dank der Hilfe der Deutschen möglich geworden. Zahlreiche Artikel sind nach dem gleichen Schema aufgebaut: In den 24 Jahren der bolschewistischen Herrschaft sei das Gesundheitswesen ohnehin völlig ruiniert worden, bei ihrem Rückzug hätten die Bolschewiki die medizinische Ausstattung evakuiert und Überreste gezielt zerstört und vernichtet. Nach ihrem Einmarsch würden sich die Deutschen nun zusammen mit der einheimischen Bevölkerung an den Wiederaufbau machen.35
28 29 30 31 32 33 34 35
Doneckij vestnik [Juzivka] v. 18.12.1941, S. 4. Spionagebericht des Stabs der Militärgruppe beim Untergrundkomitee der KP in Mahilëŭ v. 19.11.1943, RGASPI, F. 69, O. 1, D. 160, L. 166–167, hier L. 167; Bericht an den Sekretär der CK KP Weißrussland Ėjdinov v. 17.8.1942, RGASPI, F. 69, O. 1, D. 164, L. 36–38, hier L. 37. Reč’ [Orel] v. 1.3.1942, S. 4. Novyj put’ [Vicebsk] v. 5.9.1942, S. 4. Doneckij vestnik [Juzivka] v. 16.6.1943, S. 4. Doneckij vestnik [Juzivka] v. 11.8.1943, S. 4. Reč’ [Orel] v. 1.3.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 14.6.1942, S. 3, v. 18.11.1942, S. 4 und v. 3.1.1943, S. 4.
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Die Diskreditierung der Sowjetunion und die Heraushebung der deutschen Besatzungspolitik war ein gezielt genutztes propagandistisches Muster, das nicht nur den Berichten über das Gesundheitswesen eigen war, sondern sich auch in den Berichten über andere Lebensbereiche, beispielweise das Bildungswesen oder das kulturelle Leben, finden lässt. Die Maßnahmen im Gesundheitswesen, welche die Besatzungsmacht laut Presseberichten aktiv unterstützte, entlarven sich bei näherer Betrachtung wiederum als Mittel dazu, die eigene Truppe vor Epidemien zu schützen, und lagen somit im Interesse der Besatzer. So berichtete der Korrespondent der Zeitung Reč’, Vadim Rusanov, dass in der von Wäldern und Sümpfen umgebenen Stadt Brjansk „unter höchst lebendiger Teilnahme der Feldkommandantur“ eine Malariastation eingerichtet worden sei, in welcher die notwendige Ausstattung von der deutschen Kommandantur bereitgestellt wurde.36 Dieser Artikel scheint in propagandistischer Hinsicht wohl sehr erfolgreich gewesen zu sein, da man ihn auch in anderen Zeitungen abdruckte.37 Ein weiteres Merkmal der Besatzungspresse als Propagandamittel war die Behauptung, die deutschen Ärzte seien weltweit auf ihrem Fachgebiet und in ihren Forschungskapazitäten überlegen. Dabei war das Themenspektrum sehr breit angelegt: von den Erfolgen der deutschen Kriegschirurgie bereits im Ersten Weltkrieg38 bis zu den Fortschritten der deutschen Zahnärzte in der Lösung des „Rätsels der Karies“.39 In einigen Fällen hoben bereits die Titel der Zeitungsartikel die behauptete Überlegenheit hervor: „Beschleunigte Diagnose des Fleckfiebers – eine wichtige Entdeckung deutscher Ärzte“40 oder „Der Sieg der deutschen Wissenschaftler über Malaria“.41 Dabei wurde stets betont, dass „die Menschheit in der Schuld der deutschen Wissenschaft steht“.42 Es zeigt sich in diesen Artikeln ein seitens der deutschen Propaganda immer wieder behauptetes, kultur- und fortschrittstragendes Element, welches neben der „Befreiung vom Judeobolschewismus“ zum wesentlichen Teil des propagierten Selbstbildes gehörte. Bemerkenswert ist, dass die durchaus häufigen antisemitischen Parolen der russischsprachigen Besatzungspresse in den Berichten zum Gesundheitswesen nur sehr selten anzutreffen sind. Die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland verbreiteten Vorurteile bezüglich der „Seuchengefahr“ durch Ostjuden43 findet man überhaupt nicht. Die im Vergleich zu den anderen Themen flüchtigen und seltenen antisemitischen Bemerkungen in Bezug auf das Gesundheitswesen begrenzten sich ausschließlich auf die Behauptung der „Monopolisierung des Rechts auf das Gemeingut des Volkes [nämlich das Gesundheitswesen, Anm.] durch die Juden“44
36 37 38 39 40 41 42 43 44
Reč’ [Orel] v. 4.5.1942, S. 4. Novyj put’ [Smolensk] v. 31.5.1942, S. 4. Golos Kryma [Simferopol’] v. 26.2.1942, S. 4. Golos Kryma [Simferopol’] v. 8.2.1942, S. 3. Golos Kryma [Simferopol’] v. 11.1.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 12.5.1943, S. 4 und Novyj put’ [Mahilëŭ] v. 12.4.1943, S. 3. Ebd. Trude Maurer, Die Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986, S. 109 ff. Reč’ [Orel] v. 22.7.1942, S. 3.
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und die „Übermacht der jüdischen Ärzte in den sowjetischen Polikliniken“45 und medizinischen Instituten,46 was u. a. dazu geführt habe, dass es in den Polikliniken an höflichem Umgang mit den Patienten mangele.47 DAS PSYCHIATRISCHE KRANKENHAUS IN OREL Informationen über die Krankenmorde, über die Vernichtung von ganzen Bevölkerungsgruppen wie den Juden und den Sinti und Roma oder über das massenhafte Sterben von Millionen von Kriegsgefangenen enthält die Besatzungspresse nicht. Und wenn einige wenige der zahlreichen antisemitischen Artikel der Besatzungspresse sich als ein verdeckter Hinweis auf die Vernichtung von Juden oder als ein Aufruf dazu interpretieren lassen, so kommt in Bezug auf die Krankenmorde ein solcher Aufruf kein einziges Mal vor. Die in Orel herausgegebene Zeitung Reč’ gehörte zu den wenigen, die die Existenz einer psychiatrischen Anstalt in der Stadt überhaupt erwähnte. Laut dem Artikel „Ortschronik“ vom 1. März 1942 liege das psychiatrische Krankenhaus sechs Kilometer von Orel entfernt und es befänden sich dort „zum jetzigen Zeitpunkt ca. 250 Geisteskranke sowie die chirurgische Abteilung für russische verwundete Kriegsgefangene“.48 In der Ausgabe vom 16. August 1942, also sechs Monate später, wurde unter dem Titel „Stadt Orel heutzutage“ unter anderem wieder das psychiatrische Krankenhaus „mit einer Kapazität von 250 Betten“ erwähnt.49 Auf den ersten Blick fällt der Unterschied kaum auf. Die Zeitung benennt dieselbe Zahl wie im März, allerdings mit einem Unterschied: Diesmal handelt es sich nicht um die Anzahl der Patienten, sondern um die der Plätze. Bedenkt man, dass 20 Tage zuvor, am 26. Juli 1942, 72 geisteskranke Patienten dieser psychiatrischen Klinik erschossen wurden, so scheint die Wortwahl nicht zufällig getroffen worden zu sein. Als die Rote Armee ein Jahr später, also Anfang August 1943, die Stadt Orel befreite, begann die sowjetische Außerordentliche Staatskommission ihre typische Prozedur: Die Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen in dem befreiten Gebiet. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in der sowjetischen lokalen Zeitung der Stadt Orel – Orlovskaja pravda [Oreler Wahrheit] – bereits am 10. September 1943 veröffentlicht. Laut der Untersuchung berichtete der Chefarzt des psychiatrischen Krankenhauses Anatolij A. Beljaev Folgendes: „Am 26. Juli 1942 kamen die Gestapo-Leute in der Begleitung des deutschen Arztes Širman in das psychiatrische Krankenhaus und erklärten, dass das Krankenhaus zugemacht wird und die Kranken in das Hinterland, nach Weißrussland gebracht werden sollten. Die Erklärung von Širman wurde vom deutschen Garnisonsarzt Erlich bestätigt.“
45 46 47 48 49
Doneckij vestnik [Juzivka] v. 30.11.1941, S. 3. Golos Kryma [Simferopol’] v. 22.3.1942, S. 4. Doneckij vestnik [Juzivka] v. 30.11.1941, S. 3. Reč’ [Orel] v. 1.3.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 16.8.1942, S. 3.
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Man setzte die Kranken gewaltsam in Transportwagen, packte Krankenwäsche, Geschirr und Nahrungsmittel ein und fuhr in die Richtung des Dorfes Nekrasovo, wo die Kranken erschossen wurden. Die Außerordentliche Staatskommission entdeckte beim Dorf Nekrasovo in den Gräbern auf dem Schluchtgrund 72 Leichen. Die Ermordeten trugen Leinenhemden mit dem Aufdruck „Gebietspsychiatrie“. Die Mitarbeiter des psychiatrischen Krankenhauses (der ehemalige Chefarzt Beljaev, die Leiterin einer der Abteilungen, die Ärztin Rjabceva, und die Oberkrankenschwester Eliseeva) erkannten die Kleidung und bestätigten ihre Zugehörigkeit zum psychiatrischen Krankenhaus. Aufgrund der Kleidung konnten sie auch die Leichen vieler Kranker identifizieren.50 Die Grenze zwischen Leben und Tod der psychisch Kranken manifestiert sich in der Zeitung Reč’ also in einem Ausdruck: Es stellt sich die Frage, wie informativ der zweite Bericht für die Leser war: Sollte dieser die Tatsache des schrecklichen Verbrechens für den zweifelnden Leser „offiziell“ bestätigen? Es ist möglich, dass das tragische Ereignis zumindest in Form eines Gerüchtes den Einwohnern der Stadt bereits bekannt war. Auch die Außerordentliche Staatliche Kommission stellte die Verbreitung von Gerüchten in der Bevölkerung „bald nach dem Abtransport“ der Patienten fest, und diese besagten, dass die Patienten nicht nach Weißrussland gebracht, sondern erschossen worden waren.51 Bedenkt man, dass der Autor des Artikels Bürgermeister der Stadt Orel, Aleksandr S. Starov, war, scheint dieser Ausdruck tatsächlich kein Zufall zu sein und könnte möglicherweise so auch dem Leser gegenüber die Vernichtung der Kranken zugegeben haben. SCHWIERIGKEITEN DER KRIEGSZEIT Krieg und Okkupation brachten für das Gesundheitswesen, genauso wie für die anderen Lebensbereiche, eine Fülle von Schwierigkeiten mit sich. Trotz der Berichte über die erfolgreiche Arbeitsaufnahme mit beeindruckenden Zahlen geht aus der Presse sehr deutlich hervor, unter welchen extremen Bedingungen die Krankenhäuser und Polikliniken ihre Arbeit durchführten und mit welchen Problemen sie ständig konfrontiert waren. Die Wiedereinrichtung der medizinischen Anstalten nach der Besetzung der Städte wurde oft nur durch die selbstlose Arbeit des medizinischen Personals sowie der Bevölkerung ermöglicht. Eine Übersicht darüber bietet der Artikel „Städtische Poliklinik“ in der Vicebsker Ausgabe von Novyj put’ vom Februar 1942. Dieser schilderte die Eröffnung der Poliklinik in Vitebsk im Juli 50
51
Orlovskaja pravda [Oreler Wahrheit] [Orel] v. 10.9.1943, abgedruckt in: Vystojali i pobedili! Orlovskaja oblast’ v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny. 1941–1945 gg. Sbornik dokumentov i materialov, [Überstanden und gesiegt! Gebiet Orel während des Großen Vaterländischen Krieges. 1941–1945. Sammlung von Dokumenten und Materialien]. Orel 2005, S. 129; Siehe hierzu auch die Untersuchungsberichte der Außerordentlichen Staatlichen Kommission: Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii [Staatliches Archiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. R-7021, O. 37, D. 2. Soweit die Aussage des Chefarztes des psychiatrischen Krankenhauses von Orel Anatolij Beljaev, GARF, F. R-7021, O. 37, D. 2, L. 10–14, hier L. 13.
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1941, wenige Tage nach der Einnahme der Stadt und dem Beginn der Okkupation, folgendermaßen: „Als Allererstes wurde die weibliche Bevölkerung der Nachbarhäuser mobilisiert, die die zerstörten Räume der Poliklinik säuberte. An Transportmittel war in diesen Tagen nicht zu denken und alles Notwendige für die Betreuung der Kranken schleppten damals die Mitarbeiter der Poliklinik auf ihren eigenen Schultern heran. […] Mit der Zeit gelang es, die Poliklinik mit der notwendigen medizinischen Ausstattung, Instrumenten, Verbandzeug und Medikamenten auszustatten. All diese Sachen sammelten die Mitarbeiter der Poliklinik aus Überresten der medizinischen Anstalten der Stadt zusammen und teilweise auch bei der Bevölkerung, welche zur Vernunft kam und das geraubte medizinische Gut zurückgab.“
Auch die Nachfrage nach medizinischer Hilfe sei damals in Vicebsk sehr hoch gewesen, es kamen bis zu 350 Menschen pro Tag in die Poliklinik.52 Einen ähnlichen Bericht veröffentlichte die Smolensker Ausgabe der Zeitung Novyj put’ über das städtische Krankenhaus in Smolensk (Russland) in den ersten Monaten der Okkupation: „Am 8. August 1941 wurde in Smolensk im Gebäude der ehemaligen Tuberkulosefürsorgestelle ein Krankenhaus eröffnet. Das Gebäude war halb zerstört: Dach, Wände, Decke wiesen Einschläge von Geschossen auf, fast alle Fenstergläser waren zerschlagen. Zu allem Überfluss wurde in der ersten Woche die Hälfte des Daches durch starken Wind heruntergerissen, so dass sich während der Regenfälle Pfützen in den Räumen und im Flur bildeten.“53
Die Krankenhäuser und Polikliniken funktionierten über Monate ohne Strom und Wasser,54 manchmal auch länger: Die Vicebsker Zeitung Novyj put’ berichtete erst im September 1942, die Gesundheitswesenabteilung habe die Erlaubnis erhalten, Strom für alle vier Krankenhäuser der Stadt zu beziehen.55 Auch die Beheizung der Krankenhäuser und der Polikliniken sowie viele andere Angelegenheiten mussten von den Mitarbeitern selbst geregelt werden. So berichtete ein Artikel über die Poliklinik der Stadt Vicebsk Folgendes: „[…] dank der Tatkraft des Pflegepersonals der Poliklinik konnte nicht nur Heu für die Pferde und Holz für die Beheizung der Räume [der Poliklinik] besorgt, sondern auch Hilfe für die Beschaffung und beim Transport vom Holz für das Krankenhaus geleistet werden.“56
Die Abteilungen für Gesundheitswesen regelten auch die Belieferung der Krankenhäuser mit Nahrungsmitteln. Zum Teil konnte dies über die Lebensmittelabteilungen der Stadtverwaltungen gewährleistet werden.57 In vielen Städten besaßen die Gesundheitswesenabteilungen bzw. die Krankenhäuser selbst eigene Garten- bzw. Nebenwirtschaften, welche die Krankenhäuser beispielweise mit Gemüse versorgten.58 In Smolensk konnten die Kranken im städtischen Krankenhaus nach ärztli52 53 54 55 56 57 58
Novyj put’ [Vicebsk] v. 2.2.1942, S. 4. Novyj put’ [Smolensk] v. 8.1.1942, S. 4. Doneckij vestnik [Juzivka] v. 21.12.1941, S. 3. Novyj put’ [Vicebsk] v. 30.9.1942, S. 4. Novyj put’ [Vicebsk] v. 2.2.1942, S. 4. Novyj put’ [Vicebsk] v. 11.1.1942, S. 4. Siehe bspw.: Golos Kryma [Simferopol’] v. 5.4.1942, S. 3; Novyj put’ [Smolensk] v. 8. 1.1942, S. 4 und v. 14.6.1942, S. 4; Novyj put’ [Vicebsk] v. 11.1.1942, S. 4.
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cher Vorschrift auch Milch und Eier zusätzlich zu ihrer Essensration bekommen, da das Krankenhaus drei Kühe und acht Hühner besaß. Außerdem hatte das Krankenhaus eigene Pferde und Schweine sowie eine Bäckerei.59 Dabei ist zu bemerken, dass die Selbstversorgung von der Presse als eine besondere Leistung hervorgehoben und nicht als Mangel bezeichnet wurde. Die kriegsbedingten Schwierigkeiten wurden in der Presse selten als solche benannt. Vieles brachte die Besatzungspresse nur indirekt zum Ausdruck. Für einen extremen Mangel an Medikamenten spricht das in jedem Sommer durchgeführte und in der Presse angekündigte Sammeln von Heilpflanzen. Dabei fiel der Presse die Aufgabe zu, die Bevölkerung über die Aktion zu informieren und zu belehren. Für die gesammelten Pflanzen sollte die Bevölkerung mit Geld und Salz bezahlt werden.60 In der ostweißrussischen Stadt Barysaŭ mussten auch Schüler am Sammeln teilnehmen, wofür man eine Lehrerversammlung abhielt, in der genaue Anweisungen gegeben wurden. Für die Schüler habe die Aktion als praktischer Unterricht in Botanik einen wichtigen Lerncharakter und die Lehrer sollten je nach gesammelter Menge mit einer Prämie ausgezeichnet werden.61 Dies erinnert an eine typisch sowjetische Vorgehensweise. Im Nationalarchiv der Republik Belarus sind Dokumente überliefert, welche die Einbeziehung von Schülern bei Sammelaktionen im „Gebietskommissariat Weißruthenien“ betreffen, so zum Beispiel ein Rundschreiben der Apothekenabteilung der Stadtverwaltung Minsk mit genauen Instruktionen zu den Gruppen- und Individualsammlungen von Heilpflanzen. Darin heißt es, dass vor allem auf die Qualität und nicht die Quantität der Pflanzen zu achten sei und die Schüler nicht zum Sammeln giftiger Pflanzen eingesetzt werden dürfen.62 Auch die zahlreichen Zeitungsartikel erläuterten dem Leser die Wichtigkeit des Sammelns und erklärten, welche Pflanzen wann und wie zu sammeln seien und wofür diese oder jene Pflanze nützlich sei.63 In einer Vicebsker Ausgabe von Novyj put’ druckte man sogar ganzseitig einen Übersichtkalender, der als Orientierung für das Sammeln von Heilpflanzen für den ganzen Sommer dienen sollte.64 Die Heilpflanzen wurden nicht nur für die Nöte der lokalen Bevölkerung gesammelt und von Apotheken und Apothekenlagern eingekauft,65 sondern lagen auch im Interessenbereich der Zentralen Handelsgesellschaft Ost, welche ebenfalls Kalender über die Heilpflanzen druckte und diese in ihren Filialen in den besetzten Gebieten verteilte.66 Laut Partisanenberichten musste die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zum größten Teil mit alten Vorräten, also mit Medikamenten sowjetischer Her59 60 61 62 63 64 65 66
Novyj put’ [Smolensk] v. 8.1.1942, S. 4 und v. 14.6.1942, S. 4. Novyj put’ [Barysaŭ] v. 31.7.1943, S. 4. Novyj put’ [Barysaŭ] v. 24.7.1943, S. 4 Zirkular der Apothekenabteilung in Minsk v. 20. Februar 1943, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. 393, O. 3, D. 178, L. 218. Novyj put’ [Barysaŭ] v. 26.6.1943, S. 3. Novyj put’ [Vicebsk] v. 24.6.1943, S. 4. Reč’ [Orel] v. 26.6.1942, S. 3. Novyj put’ [Barysaŭ] v. 26.6.1943, S. 3.
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stellung, auskommen.67 Allerdings wurden im Laufe der Zeit auch die pharmazeutischen Fabriken wieder in Betrieb genommen: So konnte eine chemisch-pharmazeutische Fabrik in Minsk einige der besetzten Gebiete teilweise mit Medikamenten versorgen. Nach einem Kurzbericht der Zeitung Novyj put’ lieferte diese Fabrik im März 1943 15 Kisten mit Medikamenten und Verbandsmaterial nach Vicebsk.68 Auch die Apotheke in Smolensk bekam ihre Medikamente aus Minsk, was zum größten Teil der „tatkräftigen“ Leiterin dieser Apotheke zu verdanken sei. Der Artikel hebt besonders hervor, dass die Frau eine Moskauerin sei und über 24 Jahre Berufserfahrung verfüge. Somit unterstreicht man im Artikel, dass die Leiterin der Apotheke während der bolschewistischen Herrschaft abgehärtet worden sei. Bei ihrer ersten Reise nach Minsk hatte sie kostenlos die Arzneimittel beschaffen können und besetzte mit diesen 17 Plätze im Zug. Ihre zweite Fahrt war noch erfolgreicher, sie bekam in Minsk einen ganzen Eisenbahnwagen voll mit Krankenhaus- und Praxisinventar sowie medizinischen Instrumenten. Der Artikel gibt aber zum Schluss deutlich zu verstehen, dass Inventar und Instrumente vor allem für den Ordnungsdienst des Smolensker Gebietes gedacht waren,69 also nicht an erster Stelle für die Nöte der Zivilbevölkerung. Krankheiten wie Ruhr, Typhus und Fleckfieber waren eine wahre Geißel für die besetzten Gebiete. Der Informationsbericht einer Partisanengruppe erwähnte das Fleckfieber als einen der häufigsten Gründe, weswegen die Zivilbevölkerung die Krankenhäuser aufsuchte.70 In der Besatzungspresse finden sich zahlreiche Artikel, welche auf die Gefahren dieser Krankheiten hinweisen und zur Vorbeugung von jeglichen Seuchen mit allen Mitteln auffordern. Darauf deuten bereits die Titel der einzelnen Artikel hin: „Wie man sich im Sommer vor Ruhr, blutigem Durchfall und Darminfektionen schützen kann“,71 „Kampf für die Sauberkeit – Kampf für die Gesundheit“72 oder „Wie man sich vor dem Fleckfieber schützen kann“.73 Diese Presseartikel spiegeln die schwierige Lage in den besetzten Gebieten – die schlechte Ernährung, die mangelhafte medizinische Versorgung sowie die unzureichenden sanitären Zustände – wider und bestätigen das ungeheuere Ausmaß der Krankheiten, die nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen waren und die nicht bloß ein Problem darstellten, sondern bereits zu einer realen Bedrohung geworden waren.74 Im Frühling 1942 forderte man seitens der Zeitungen die Bevölkerung 67
68 69 70 71 72 73 74
Informationsbericht des Stabes der Partisanengruppe von Emljutin über die Lage im Gebiet Orel bis zum 1. Januar 1943, RGASPI, F. 69, O. 1, D. 914, L. 1–10, hier L. 7; Bericht des Kommandeurs der Partisanentruppen im Gebiet Minsk, Vasil’ev über die Lage in der Stadt Babrujsk, o. D. [dem Inhalt nach nicht früher als Frühjahr 1943 und nicht später als August 1943 – V. S.], RGASPI, F. 69, O. 1, D. 855, L. 29–33, hier L. 31. Novyj put’ [Vicebsk] v. 4.4.1943, S. 4. Novyj put’ [Smolensk] v. 6.12.1942, S. 4. Informationsbericht des Stabes der Partisanengruppe von Emljutin über die Lage im Gebiet Orel bis zum 1. Januar 1943, RGASPI, F. 69, O. 1, D. 914, L. 1–10, hier L. 7. Reč’ [Orel] v. 16.8.1942, S. 4. Novyj put’ [Smolensk] v. 21.5.1942, S. 4. Doneckij vestnik [Juzivka] v. 29.1.1942, S. 4. Ebd.
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immer wieder auf, herumliegende Tierkadaver sowie anderen Dreck aus den Höfen und von den Straßen zu entfernen, da von diesen Typhusgefahr ausgehe.75 In einem anderen Artikel stellte man eine Reihe von Regeln auf, darunter vor allem hygienische Anweisungen, die helfen sollten, die Gefahr einer Darminfektion zu reduzieren.76 Im Artikel „Fleckfieber und seine Bekämpfung“ fasste man zusammen: „Gegen das Fleckfieber zu kämpfen, heißt gegen die Laus zu kämpfen“ und „eine ideale Sauberkeit zu erreichen und die Läuse auszurotten, heißt das Fleckfieber auszurotten.“77 Artikel dieser Art mit zahlreichen Vorwarnungen enthalten meistens eine Reihe einfacher, aber wichtiger Ratschläge zur Desinfektion und zu anderen Maßnahmen für den Alltag, die helfen sollten, solche Krankheiten und dadurch die Gefahr einer Epidemie, trotz des Medikamentenmangels, zu mindern. Die Leser wies man immer wieder auf prophylaktische Maßnahmen hin, da es schwieriger sei, gegen die entstandenen Krankheiten zu kämpfen als ihrer Entstehung vorzubeugen. Dabei seien die wichtigsten Aufgaben der Medizin spezielle Anweisungen, sanitäre Kontrolle und Desinfektion.78 Wohl in Anlehnung an ein in der Propaganda behauptetes kulturtragendes Element des Deutschtums im Gesundheitswesen hob die Presse neben den prophylaktischen Maßnahmen auch die „Steigerung des kulturellen Niveaus der Bevölkerung“ der besetzten Gebiete hervor, was die Bekämpfung der Krankheiten vorantreiben sollte.79 Ein weiteres Problem in den besetzten Gebieten war der katastrophale Mangel an medizinischem Personal. Die Aufnahme der Ärzte in die Rote Armee, die Evakuierung, aber vor allem die Aussonderung und die darauf folgende Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten, unter der es viele ausgebildete Ärzte gegeben hatte, versetzte dem Gesundheitswesen einen Schlag, der die verheerende Lage unter der Okkupation noch verschlimmerte. Als die Okkupation eindeutig dauerhaften Charakter annahm, sah sich die Besatzungsmacht gezwungen, die Eröffnung von medizinischen Schulen bzw. speziellen Kursen zuzulassen. So entstand in Baranavičy eine medizinische Schule, deren Eröffnung auch in vielen Zeitungen erwähnt wurde.80 Die Eröffnung einer medizinischen Schule wurde im September für Orel angekündigt, diese sollte innerhalb von zwei Jahren Arzthelfer, Hebammen und Zahnärzte ausbilden. Der Aufnahmeantrag sollte an den Schuldirektor Dr. med. Fedorovskij gestellt und durch Bildungszeugnis, Lebenslauf, Gesundheitszeugnis und Pass ergänzt werden.81 Innerhalb kürzester Zeit wurden laut der Zeitung 65 Aufnahmeanträge eingereicht.82 Die Eröffnung dieser Schule ist vor allem deswegen auffallend, weil in Orel zu dieser Zeit sonst nur zwei Grundschulen
75 76 77 78 79 80 81 82
Reč’ [Orel] v. 29.3.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 16.8.1942, S. 4. Novyj put’ [Barysaŭ] v. 18.4.1943, S. 4. Novyj put’ [Smolensk] v. 21.5.1942, S. 4 Doneckij vestnik [Juzivka] v. 14.7.1943, S. 3. Zur medizinischen Schule in Baranavičy siehe den Beitrag von Alexander Friedman in diesem Band. Reč’ [Orel] v. 2.9.1942, S. 4; v. 6.9. 1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 4.9.1942, S. 4.
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existierten.83 Im Herbst 1942 kündigte die Zeitung Reč’ auch einen in Orel organisierten dreimonatigen Kurs für Krankenschwestern84 sowie einen einmonatigen Kurs zur Weiterbildung von Arzthelfern in Brjansk an und verkündete bereits im November 1942 die erfolgreiche Beendigung des Letzteren.85 Die Zeitung Reč’ und andere veröffentlichten zahlreiche Berichte über die medizinischen Schulen und Institute im „Reichskommissariat Ukraine“, z. B. in Kiev, Vinnicja, Luc’k und anderen Städten.86 DAS MEDIZINISCHE INSTITUT IN MAHILËŬ87 In den besetzten militärverwalteten Gebieten kündigte die Presse nicht nur die Eröffnung von medizinischen Schulen an, sondern im Herbst 1943 auch die Eröffnung eines medizinischen Institutes.88 Es ist durchaus sinnvoll, diesen einen Fall genauer zu betrachten, da die Besatzungsmacht die Eröffnung intensiv mitbestimmte. Das Interesse der Besatzungsmacht lässt sich wahrscheinlich damit erklären, dass das neue Institut unter anderem zahlreiche Studenten aus dem „Generalkommissariat Weißruthenien“ aufnehmen sowie Ärzte für die weißrussischen SSFormationen ausbilden sollte.89 Bereits im Frühjahr 1942 wurden erste Überlegungen angestellt, in Mahilëŭ eine medizinische Fakultät zu eröffnen, da ein extremer Ärztemangel herrschte. Diese Überlegungen legte die Stadtverwaltung in Mahilëŭ bereits im Februar 1942 in einem schriftlichen Bericht vor. Darin hob man besonders hervor, dass ein medizinisches Studium eine vortreffliche Verwendung der Energie der Jugend darstelle und helfen würde, diese im Geiste der deutschen „Befreiung“ zu erziehen. Mahilëŭ schien sich am besten für diese Zwecke zu eignen, da es weniger als andere Städte durch die Kampfhandlungen zerstört worden war und bereits über alles für das Medizinstudium Notwendige verfügte. Für die Lehrzwecke ständen in der Stadt die medizinischen Bibliotheken sowohl des städtischen Krankenhauses als auch der früheren sowjetischen medizinischen Arzthelferschule zur Verfügung, auch das Schulgebäude samt Studentenwohnheim sei vorhanden und unzerstört. Außerdem verfügten das Krankenhaus und die Poliklinik in Mahilëŭ über alle klinischen Abteilungen und einen großen Personalbestand an Ärzten, darunter auch Dozenten und Assistenten.90 83 84 85 86 87 88 89 90
Reč’ [Orel] v. 16.9.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 30.9.1942, S. 4. Reč’ [Orel] v. 13.11.1942, S. 4. Novyj put’ [Vicebsk] v. 13.12.1942, S. 4; Reč’ [Orel] v. 15.7.1942, S. 3, v. 29.7.1942, S. 2 und v. 4.11.1942, S. 3. An dieser Stelle möchte ich mich für die Unterstützung bei der Beschaffung vom Archivmaterial bei Vasili Matokh herzlich bedanken. Reč’ [Orel] v. 18.7.1943, S. 3. Aktenvermerk betreffend medizinische Akademie v. 27.5.1943, NARB, F. 370, O. 1, D. 22, L. 35–36. Dokladnaja zapiska po voprosu otkrytija v gorode Mogileve (Belorussii) Medicinskogo fakul’teta [Berichtsnotiz bezüglich der Eröffnung der medizinischen Fakultät in der Stadt
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Im Mai 1943 kam es tatsächlich zur Eröffnung des medizinischen Instituts, allerdings wohl nur aus dem Grund, dass es in vielerlei Hinsicht vernünftiger schien, die in Minsk geplante medizinische Akademie in Mahilëŭ zu eröffnen. Mahilëŭ wies nicht nur die bereits erwähnten Vorteile auf, sondern zusätzlich auch einen propagandistischen: Man sollte „vorerst davon absehen“, ein medizinisches Institut in Minsk zu gründen, „da sich das sowjetische Minsker Institut auf einer beachtlichen Höhe befand. Sollte sich das Institut in Mogilew [Mahilëŭ] nicht in dieser Richtung in dem gewünschten Umfange entwickeln, kann die Gegenpropaganda niemals zum Ausdruck bringen, dass das sowjetische Institut in Minsk besser gewesen sein soll als das in Minsk von deutscher Herrschaft eingerichtete.“91
Zunächst sollten diejenigen Studenten die Möglichkeit zum Studium erhalten, die vor dem Krieg bereits drei oder vier Jahre Medizin studiert hatten, denn auf diese Weise hoffte man, schneller an ausgebildete medizinische Kräfte gelangen zu können. Bereits im Oktober 1943 musste das Institut wegen des Vordringens der Roten Armee nach Novaja Vilejka in Ostweißrussland evakuiert werden. Im Juni 1944 absolvierten die ersten 32 Studenten ihr Studium.92 ÄRZTE UND ÄRZTEBILD Bereits in den ersten Wochen der Okkupation nahmen die verbliebenen Ärzte, wohl aus eigener Initiative, ihre Tätigkeit wieder auf. Manche Artikel, so auch die bereits erwähnten, berichteten über Ärzte, die begonnen hatten, gleich nach dem Rückzug der Roten Armee wieder in den halbzerstörten Krankenhäusern und Polikliniken zu arbeiten. Die Presse stellte dies im Nachhinein oft als Verdienst der Besatzungsmacht dar: So heißt es im Vicebsker Novyj put’: „Unsere Befreier, mit der für sie typischen Humanität, kümmerten sich um die ihrem Schicksal überlassene Bevölkerung. Dies geschah am fünften Tag nach dem Ende der Kriegshandlungen, als die Ärzte Muraško und Kupreev“ vom Stadtkommandanten mit der medizinischen Versorgung der Stadtbevölkerung beauftragt wurden.93 Hier drängt sich die Frage auf, ob es sich dabei eigentlich nicht um versteckte Ironie handelt. Viele Ärzte erhielten unter der Okkupation die Möglichkeit, private Praxen zu eröffnen, und ergriffen damit eine unter dem sowjetischen Regime nicht gegebene Möglichkeit. Die Erlaubnis dazu bezeichnete eine Partisanengruppe als eine Me-
91 92 93
Mahilëŭ (Weißrussland)], Gosudarstvennyj Archiv Minskoj Oblasti [Staatsarchiv für das Gebiet Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 270, O. 1, D. 22, L. 19–20. Abgedruckt in: Ihar Puškin, Peršaja vyšejšaja navučal’naja ustanova na Belarusi padčas hitleraǔskaj akupacii, in: Mahileǔskaja daǔnina [Erste Hochschule in Weißrussland unter deutscher Okkupation, in: Mahilëŭer Vergangenheit], 2001, S. 123–128, hier S. 126–128. Aktenvermerk betreffend medizinische Akademie v. 27.5.1943, NARB, F. 370, O. 1, D. 22, L. 36. Puškin, Peršaja vyšejšaja navučal’naja ustanova (Anm. 90), S. 126. Für den Hinweis auf diesen Aufsatz möchte ich mich bei Alexander Litin bedanken. Novyj put’ [Vicebsk] v. 2.2.1942, S. 4.
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thode der Deutschen, um „medizinische Kräfte für die eigene Seite durch die Errichtung einer neuen faschistischen Ordnung in Europa“ anzuwerben, und merkte dabei an, dass „diese Methode den Deutschen einigermaßen gelang“.94 Die meisten Zeitungen veröffentlichten eine Reihe von Eröffnungsanzeigen: So nahm in Smolensk bereits im November 1941 die Hebamme Ieniš ihre Arbeit wieder auf95 und im Januar 1942 eröffnete der Arzt Ljandacher seine Zahnarztpraxis.96 Laut der Anzeige in Novyj put’, Ausgabe der Stadt Vicebsk, eröffnete im Sommer 1942 Dr. Rybakov seine Praxis für Magenerkrankungen und Tuberkulosepatienten und versprach dabei die modernsten Heilungsmethoden.97 In Orel übten ein Arzt für Homöopathie, I. M. Varuškin, und der Frauenarzt Dr. G. E. Gečečiladze ihre Tätigkeiten aus.98 Die Ärzte, die eine private Praxis eröffnen wollten, mussten sich in der Gesundheitswesenabteilung ein Patent ausstellen lassen.99 Auch Stellenanzeigen für Ärzte sind in der Presse zu finden, allerdings viel seltener.100 Nicht nur die Anzeigen, sondern auch die Zeitungsartikel geben Informationen über die in den Städten tätigen Ärzte bekannt. Einige Ärzte, darunter vor allem diejenigen, die in den Stadtverwaltungen in den Abteilungen für Gesundheitswesen tätig waren, verfassten und publizierten in der Presse unter ihrem Namen medizinische Artikel, entweder Berichte und Statistiken über die Lage des Gesundheitswesens in den Städten oder Artikel über bestimmte Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber oder Ruhr. In der Zeitung Reč’ stammen beispielweise die meisten solcher Artikel aus der Feder der Ärzte Varuškin und Bulgakov, Letzterer Oberster Hygieneinspektor in Orel. Die Veröffentlichungen in der Presse waren für die Ärzte auch eine zusätzliche Möglichkeit Geld zu verdienen, da die veröffentlichten Artikel mit 15 bis 200 Rubel vergütet wurden.101 Auch in den Artikeln über die Krankenhäuser und Polikliniken, welche Zeitungskorrespondenten schrieben, wurden oft Ärzte namentlich genannt oder für ihre erfolgreiche Arbeit öffentlich gelobt.102 So kann man allein anhand der Presse einige Information über die in den Städten tätigen Ärzte gewinnen. Insgesamt wurde ein äußerst positives Bild von Ärzten gezeichnet und dabei oft mit heldenhaften Zügen versehen. Paradebeispiel ist hier der Artikel „Sieger über den Tod“, ein Artikel über den in den besetzten Gebieten gezeigten deutschen Spielfilm „Robert Koch“. Dieser sei laut der Presse ein biografischer Film über einen ehrenhaften Mann.103 Aber auch vor Ort mangelte es nicht an Vorbildern: Die 94 Bericht der Gruppe beim Untergrundkomitee der KP(b)B in Mahilëŭ vom 13. November 1943 an den Leiter des Zentralstabs der Partisanenbewegung, P. K. Panamarėnka, RGASPI, F. 69, O. 1, D. 160, L. 171. 95 Novyj put’ [Smolensk] v. 30.11.1941, S. 4. 96 Novyj put’ [Smolensk] v. 22.1.1942, S. 4. 97 Novyj put’ [Vicebsk] v. 22.8.1942, S. 4. 98 Reč’ [Orel] v. 17.6.1942, S. 4 u. v. 3.7.1942, S. 4. 99 Golos Kryma [Simferopol’] v. 12.2.1942, S. 4. 100 Novyj put’ [Smolensk] v. 8.1.1942, S. 4. 101 Siehe beispielweise: NARB, F.750, O. 1, D. 350, L. 1–9. 102 Novyj put’ [Barysaŭ] v. 6.12.1942, S. 4. 103 Novyj put’ [Barysaŭ] v. 11.4.1943, S. 4.
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Zeitung Reč’ berichtete in der Rubrik „Kirchliches Leben“ über die Wiedergeburt einer „guten Tradition“, nämlich der Eröffnung einer ehrenamtlichen Institution, der Kirchengemeindefürsorge für Arme. Unter den Mitgliedern der Fürsorge in Orel genieße der bereits genannte Arzt I. M. Varuškin, der den Kranken kostenlos Hilfe leistete, großen Respekt.104 Angesichts des Krieges ernteten die Ärzte in den besetzten Gebieten besonderes Lob. So berichtete die Presse, dass die der Evakuierung entkommenen Ärzte „mit einem besonderen Enthusiasmus für das Wohl des Volkes“ arbeiteten,105 eine andere Zeitung beschrieb die ärztliche Tätigkeit und Moral folgendermaßen: „Die Ärzte arbeiten für das Volk und unter keinerlei Umständen haben sie im Sturm des Krieges ein Recht, die Kranken zu verlassen; sie müssen bleiben und Hilfe leisten.“106 Allein die Tatsache, dass die Ärzte öffentlich und namentlich in den Zeitungen gelobt wurden, spricht für den gesellschaftlich hoch anerkannten Wert ihrer Tätigkeit. Das Lob für die selbstlose und leistungsintensive Arzttätigkeit sollte dem Leser auch als ein Beispiel für gute Arbeit im Allgemeinen dienen, zu welcher die Bevölkerung seitens der Presse immer wieder aufgefordert wurde. Durch die Presse versuchte man, Vertrauen den Ärzten gegenüber aufzubauen, um möglichst auch auf diese Weise bessere Chancen bei der Bekämpfung der Seuchengefahr zu schaffen. ZUSAMMENFASSUNG Obwohl die Besatzungspresse ein Propagandainstrument des Besatzungsregimes war und man ihren Inhalten nur begrenzt Glauben schenken kann, ist festzustellen, dass sie eine Fülle an wichtigen und brauchbaren Informationen enthält. Schon diese allein erlauben uns, ein Bild über die Organisation und Funktion sowie über zahlreiche andere Aspekte des Gesundheitswesens unter der Okkupation zu entwerfen, was durch die Heranziehung anderer Quellen dann erweitert werden kann. Die Presse war ein Propagandamittel der Besatzungsmacht und hatte als solches deren Interessen zu unterstützen, was sich in ihrem Lob für den Wiederaufbau des Gesundheitswesens und den Fortschritt in der Medizin sowie an ihrem deutlichen Interesse an der Vorbeugung Geschlechts- und epidemischer Krankheiten zeigt. Auch das Ärztebild, das mithilfe der Presse entworfen und vermittelt wurde, diente dazu, die Forderungen der Besatzungsmacht, nach Reduzierung der Seuchengefahr und unermüdlicher Arbeit, zu untermauern. Gleichzeitig entsprach das Bild aber auch kriegsbedingten Notwendigkeiten. Trotz der propagandistischen Muster und ständigen Erklärungen zum Wiederaufbau lässt sich die wirkliche Lage des Gesundheitswesens unter der Okkupation aus der Presse herauslesen: Der Mangel an Medikamenten und medizinischem Personal, wie direkt auch immer die Presse diesen zum Ausdruck brachte, ist offen104 Reč’ [Orel] v. 9.9.1942, S. 4. 105 Reč’ [Orel] v. 19.7.1942, S. 2. 106 Novyj put’ [Smolensk] v. 5.7.1943, S. 4.
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sichtlich. Auch die extremen Lebensbedingungen – schlechte Ernährung und miserable hygienische Zustände, welche verheerende Krankheiten begünstigten – brachte die Presse in ihren Artikeln zum Gesundheitswesen deutlich zum Ausdruck. Die Verdienste im Wiederaufbau und in der Gewährleistung der medizinischen Versorgung unter der Okkupation sind vorwiegend auf die Tätigkeit der jeweiligen Stadtverwaltungen und der Ärzte zurückzuführen und diesen zu verdanken, was die Presse trotz ihrer Hauptfunktion als Propagandamittel nicht verschweigen konnte. Die Besatzungspresse übernahm im Gesundheitswesen außer ihrer propagandistischen Rolle zur Unterstützung der Besatzungsmacht vor allem die Funktion, die Bevölkerung in allen möglichen Fragen und Aspekten des Gesundheitswesens – von Öffnungszeiten bis hin zu Vorbeugemaßnahmen – zu informieren und auf diese Weise zu unterstützen, was nicht zu unterschätzen ist. Die Presse stellte somit ein wichtiges Informationsmedium dar und wurde vor allem als ein solches gelesen, was ebenfalls für ihre Bedeutung als Quelle spricht.
INFORMELLE SOZIALE BEZIEHUNGEN UND MEDIZIN IN SOWJETWEISSRUSSLAND Elizaveta Slepovitch Informelle soziale Netzwerke und Beziehungen hatten im sowjetischen Gesundheitswesen eine große Bedeutung. Der folgende Beitrag stellt einen Teilaspekt meines Dissertationsprojektes zu informellen sozialen Netzwerken in der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Zunächst werden kurz die informellen Beziehungen skizziert, die in der Sowjetunion hauptsächlich als Blat („sozialistisches Vitamin B“) bekannt waren. Anschließend werden die wichtigsten Merkmale dieser informellen sozialen Beziehungen und ihre Erscheinungsformen im weißrussischen Gesundheitswesen vor 1941, während des Krieges und in der Nachkriegszeit beleuchtet. Die Quellenbasis meiner Untersuchungen bilden Beiträge aus der weißrussischen Presse, Parteiakten und NKVD-Berichte, Beschwerden von Bürgern, Akten von Lokalverwaltungen aus der Kriegszeit, Erinnerungen von Partisanen sowie einzelne, mit Zeitzeugen durchgeführte Interviews. BLAT Das umgangssprachliche, eher negativ konnotierte Wort „Blat“, dessen etymologischer Ursprung bis heute umstritten ist, hat sich inzwischen als wissenschaftlicher Begriff etabliert. Unter Blat wird der Einsatz von persönlichen Netzwerken und informellen Kontakten verstanden, um an knappe und schwer erhältliche Waren und Dienstleistungen zu kommen und formelle Prozeduren zu umgehen.1 Im untersuchten Zeitraum bedeutete Blat, über Einfluss und Schutz zu verfügen, dank privater Kontakte (Bekannte, Freunde), die auf Sympathie und Vertrauen basierten und gegenseitige Hilfe implizierten. Blat war somit eine Form von Tausch ohne Geld, ein Austausch von Gefälligkeiten, der auf persönlichen Beziehungen beruhte. In der sowjetischen „Netzwerkgesellschaft“ wurde das „Vitamin B“ in allen Bereichen eingesetzt: im Alltag (um an knappe Güter wie beispielsweise Kindernahrung zu gelangen), zur Beschaffung von Wohnung und Arbeit sowie Kindergarten- und Ausbildungsplätzen und für Beförderungen. Blat ermöglichte es außerdem, lange bürokratische Behördengänge zu umgehen. Auch im Gesundheitswesen spielte Blat eine beträchtliche Rolle. 1
Alena V. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998, S. 1.
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Blat wird oft mit Korruption, Bestechung oder informellen ökonomischen Praktiken verwechselt. Tatsächlich lassen sich Blat und Korruption oft nur schwer voneinander unterscheiden. Ob Blat als eine Art Korruption bezeichnet werden kann, ist allerdings umstritten und wird kontrovers in der Fachliteratur diskutiert. Eines der wichtigsten Unterscheidungskriterien ist dabei die Wahrnehmung durch die Beteiligten selbst sowie durch Außenstehende. Eigen- und Fremdwahrnehmung fielen im Untersuchungszeitraum allerdings oft deutlich unterschiedlich aus. Angesichts der Lebensbedingungen während des Staatssozialismus empfanden die Betroffenen ihre Handlungen in der Regel nicht als Missbrauch ihres öffentlichen Amtes, „weil sie die Beziehungen zu ihren Klienten für verbindlicher hielten als ihre formalen Pflichten gegenüber einem abstrakten Auftraggeber“.2 Im Unterschied zur Korruption war Blat darüber hinaus eine zwangsläufige Praxis.3 Die sowjetischen Bürger waren gezwungen, auf Blat zurückzugreifen, um unter den Bedingungen der Planwirtschaft, des bürokratisierten Staatsapparates und des ständigen Defizits zu überleben. Man nutzte Blat, um Waren zu besorgen, die legal weder vorhanden noch anderweitig zu erwerben waren. Beispielsweise griff man auf Blat zurück, um Arzneimittel für kranke Familienmitglieder zu besorgen. Blat-Beziehungen wurden oft nicht als solche erkannt und wahrgenommen, denn sie waren darüber hinaus eng mit persönlichen Beziehungen verbunden und wurden rhetorisch mit Konzepten der Freundschaft, Bekanntschaft, gegenseitigen Hilfe, Unterstützung und Ähnlichem gleichgesetzt. So kann man auch vom Phänomen des „Nicht-Erkennens“ des Blat auf Seiten der Betroffenen sprechen. Dies ist dadurch zu erklären, dass der Begriff „Blat“ immer negativ konnotiert war: „Blat meinte, dass etwas auf illegale Art und Weise erreicht wurde, ohne dass es sich dabei – anders als bei der Bestechung – um ein gerichtlich auswertbares Delikt handelte“.4 Deswegen bevorzugten es Sowjetbürger meist, den Einsatz von Blat nicht öffentlich zuzugeben. Es waren immer die Anderen, die Blat nutzten und sich ungerechtfertigte Vorteile verschafften. Ging es um einen selbst, bezeichnete man die gleichen Praktiken eher als „freundschaftliche Hilfe“. Am Beispiel des Gesundheitswesens lassen sich die Hauptverwendungsmerkmale informeller Beziehungen in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft beobachten und analysieren. Im Gesundheitswesen der BSSR wurde Blat vor allem bei folgenden Gelegenheiten eingesetzt.
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Petra Stykow, Staat und Wirtschaft in Russland. Interessenvermittlung zwischen Korruption und Konzertierung, Wiesbaden 2006, S. 60. Ledeneva, Russia’s Economy (Anm. 1), S. 44. Stephan Merl, Die Korruption in Russland heute – ein Vermächtnis Stalins?, in: Carola Söller (Hrsg.), Korruption in Ost und West. Eine Debatte, Passau 2008, S. 33–78, hier S. 49.
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ZUGANG ZU MEDIZINISCHER HILFE SOWIE BESSERER MEDIZINISCHER BETREUUNG Im weißrussischen Gesundheitswesen etablierte sich Blat bereits vor dem deutschsowjetischen Krieg. Die sowjetische Propaganda betonte kontinuierlich die überwältigenden Erfolge im Gesundheitswesen der UdSSR. Die tatsächliche Situation hatte mit dem Propagandabild jedoch wenig zu tun. So waren es in erster Linie informelle Beziehungen zum medizinischen Personal, die es ermöglichten, überhaupt qualifizierte medizinische Hilfe von erfahrenen Fachkräften oder unter erträglicheren Bedingungen zu erhalten. Beispielsweise versuchten schwangere Frauen vor dem Krieg, durch den Einsatz von Blat Ärzte oder Hebammen zu finden, die Abtreibungen durchführen konnten – ein in der Sowjetunion 1936 verbotener medizinischer Eingriff. Darüber berichtete am 30. März 1941 die in Mahilëŭ herausgegebene Zeitung Komunar Mahilëŭščyny („Kommunarde des Gebiets Mahilëŭ“). Unter der Überschrift „Hebamme – Abtreibungsmacherin“ wurde eine Hebamme des 1. Sowjetischen Krankenhauses in Mahilëŭ beschuldigt, 1939 und 1940 in gewinnsüchtiger Absicht Abtreibungen durchgeführt zu haben. Die betroffenen Frauen hätten sich sowohl mit Geld als auch mit Fabrikwaren „bedankt“, wie zum Beispiel eine Lehrerin, die ihr 1939 ein Stück seidenen Stoffs „geschenkt“ habe.5 Sei sie mit den Frauen sehr eng befreundet gewesen, habe die Hebamme die Operationen zum Teil auch umsonst oder gegen eine Gefälligkeit durchgeführt. An diesem Fall wird deutlich: Ohne persönliche Bekanntschaft und Vertrauen wäre eine solche Operation nicht möglich gewesen. Ein anderes Beispiel ist der Fall der Krankenschwester Ėntina aus der Klinik von Vetka, die in einer anonymen Beschwerde, die Ende der 1920er Jahre beim Gesundheitsamt von Homel’ einging, des Einsatzes von Blat beschuldigt wurde. Ėntina habe dem Schreiben zufolge ihre Verwandten im Gegensatz zu „normalen Kranken“ besonders freundlich behandelt und ihnen jederzeit Besuche erlaubt,6 was sich die anderen Kranken ohne ihnen persönlich bekanntes medizinisches Personal in der Klinik nicht erhoffen konnten. Nach dem Kriegsausbruch verschlechterte sich die Lage im Gesundheitswesen dramatisch und die Zahl von Medizinern ging nach der Entlassung und Ermordung jüdischer und prosowjetisch eingestellter Fachkräfte drastisch zurück. Konsequenterweise nahm die Rolle des Blat in dieser Situation zu. Gute Beziehungen zu einem Arzt oder zu einer Krankenschwester waren oft die einzige Möglichkeit, in einer Notsituation überhaupt medizinische Hilfe zu erhalten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Blat im Gesundheitswesen aktiv eingesetzt, um sich von angesehenen qualifizierten Fachkräften schnell und professionell behandeln zu lassen. Man warb um die Gunst von Ärzten und des Pflegepersonals, versuchte ihnen nützlich zu sein oder gute freundschaftliche Beziehungen zu 5 6
Komunar Mahilëŭščyny [Kommunarde des Gebiets Mahilëŭ] v. 30.3.1941, S. 4. Gosudarstvennyj archiv Gomel’skoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Homel’] (nachfolgend GAGom), F. (= Fond) [Bestand] 114, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 72, L. (= List) [Blatt] 181.
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ihnen herzustellen, um bei Gelegenheit auf ihre Hilfe bauen zu können. Klappte dies nicht, schaltete man seine Bekannten, Verwandten oder auch Freunde ein, um über sie etwa einen guten Frauen- oder Zahnarzt zu finden bzw. besser oder schneller behandelt zu werden. So berichtete eine meiner Interviewpartnerinnen, eine ehemalige Schullehrerin: „Die Mutter einer meiner Schülerinnen, eine Zahnärztin, bot mir an, zu ihr zu kommen, um mir goldene Zahnkronen machen zu lassen. Das habe ich nicht getan. Aber meine Zähne habe ich mir ein paar Mal mit Hilfe von Blat füllen lassen. Man ließ für mich gutes Material in der Klinik da“.7 Benötigte man dringend eine Operation, setzte man ebenfalls auf seine informellen Beziehungen, um einen guten Chirurgen zu finden. So erzählte bspw. Marat M.: „In einer Schlägerei wurde mein Cousin verletzt. So half ihm meine Cousine zweiten Grades, sie arbeitete in einem Lazarett. Man nähte ihm die Hand mit Hilfe von Blat zu. Auf normalem Wege hätte es zu lange gedauert. Und wer hätte das gemacht? Ein Arzt in der Traumatologie? Und so war gar nichts zu sehen danach.“8 ERWERB VON ARZNEIMITTELN Gute Beziehungen mit dem medizinischen Personal halfen auch, bei Bedarf schwer erhältliche Arzneimittel zu erwerben. So berichtete 1925 ein anonymer Autor über eine verdächtige Situation im Dorfsowjet Broža im Rayon Babrujsk: Im Artikel „Es gibt auch solche Ärzte“ schilderte er empört, die Leiterin des ärztlichen Bereiches, die Ärztin G. und die Arzthelferin R. seien den gesundheitlichen Problemen der lokalen Bevölkerung gegenüber indifferent gewesen. Als aber der orthodoxe Pope und der Diakon krank wurden, hätten sie sich sehr aktiv, Tag und Nacht dafür eingesetzt, ihnen zu helfen. Außerdem hätten die Geistlichen schwer erhältliche Medikamente unentgeltlich aus der Ambulanz bekommen. Der Autor des Artikels, der sich selbst als „Eingeweihter“ bezeichnete, forderte das Gebietskomitee für Gesundheitswesen auf, diese Missstände auf keinen Fall zu ignorieren.9 Während des deutsch-sowjetischen Krieges griffen die sowjetischen Untergrundkämpfer und Partisanen nicht selten auf informelle Beziehungen zurück, um an dringend notwendige Medikamente, medizinische Instrumente oder Verbandsmaterial zu gelangen. Anhand überlieferter Erinnerungen aus der Kriegszeit lässt sich feststellen, dass Mediziner oft eine wichtige Rolle im Widerstandskampf spielten, wobei sie ihre gesellschaftliche Position sowie Dienststellung und die damit verbundenen Möglichkeiten nutzten. Im Rayon Kopyl’ funktionierte das auf informellen sozialen Beziehungen beruhende System der Medikamentenbeschaffung beinahe perfekt, wie sich der ehemalige Leiter der Komsomol-Untergrundorganisation I. M. Zinevič, erinnert. Untergrundkämpfer in Kopyl’ schafften es erfolgreich, Partisanen mit Arzneimitteln und Verbandsmaterial zu versorgen. Dabei halfen ih7 8 9
Interview mit Faina M., geboren 1936 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im März 2010. Interview mit Marat M., geboren 1962 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im März 2010. Znajuščij, Vot tak vrači (Broža 2-go Bobrujskogo rajona), in: Kommunist [Babrujsk] v. 11.1.1925, S. 2, 4.
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nen der Chefarzt des Rayonkrankenhauses, Kirill Zacharovič Švyrkunov, sowie die Pharmazeutin der Rayonapotheke, Olga Aleksandrovna Malevič, die für die Abrechnung, die Entsorgung von Medikamenten sowie die Vorbereitung von Arzneimitteln fürs Krankenhaus zuständig war. Darüber hinaus war der Leiter des Arbeitsamtes, Evgenij Bulat, in dieses Netzwerk involviert. Brauchte man eine große Menge von Medikamenten oder schwer erhältlichen Arzneimitteln, zu denen man keinen Zugang in Kopyl’ hatte, organisierte Bulat für die Pharmazeutin Dienstreisen nach Sluck. Aus Sluck brachte die Medizinerin die notwendigen Arzneimittel mit, die sie mit Hilfe von Bestechungsgeldern erhielt.10 Nur ein Netzwerk, das auf solchen informellen Beziehungen basierte, konnte auf diese Art und Weise reibungslos funktionieren. Aber nicht nur Partisanen waren während des Krieges im Gesundheitswesen auf Blat angewiesen, sondern auch einfache Bürger. So erinnerte sich Vladimir B., Jahrgang 1925, dass die Mutter seines Freundes als Krankenschwester in einem Krankenhaus tätig gewesen sei. Über sie habe man nötige Arznei- sowie Lebensmittel besorgen können. Sie habe alles nach Hause gebracht.11 Nur auf diese Weise hatte man Zugang zu im Krieg schwer zu beschaffenden Arzneimitteln. Auf Blat und informelle soziale Beziehungen griff man auch noch nach dem Krieg zurück, um Arzneimittel zu erwerben. Darüber berichteten sehr viele meiner Interviewpartner. So erinnerte sich bspw. Irina I.: „Wenn wir etwas brauchten, wandten wir uns an unsere Bekannten. Wenn die Kinder krank waren […] eine ehemalige Schülerin meines Vaters leitete eine Apotheke auf dem Kalinin Platz in Minsk. So rief er sie an und ging zu ihr, um irgendwelche Medikamente zu erhalten“.12 ERWERB VON (GEFÄLSCHTEN) MEDIZINISCHEN ATTESTEN Weißrussische Partisanen waren in der Kriegszeit auch dann auf Blat im medizinischen Bereich angewiesen, wenn es um benötigte gefälschte medizinische Atteste oder andere Dokumente ging. Eine Untergrundkämpferin aus Homel’, Evdokija Andreevna Bondarenko, Jahrgang 1919, trat im Juni 1943 eine Stelle als Buchhalterin im Lazarett an. Als solche stellte sie auch geflohene sowjetische Kriegsgefangene ein, die keine Dokumente hatten. Danach gingen diese mit von ihr ausgestellten Ausweisen zu einzelnen Partisanengruppen und unterstützten sie bei ihrer Sabotagetätigkeit. Für die Tätigkeit in den Partisanengruppen benötigte man genügend Zeit. Bondarenko nutzte ihren Posten dafür, mögliche Unterstützer krankzuschrei10
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Partei- und Komsomol-Untergrundorganisationen des Gebiets Minsk 1941–1945. Erinnerungen des Leiters der Komsomol-Untergrundorganisation in Kopyl’, I. M. Zinevič, Dezember 1999, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’[Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. 1393, O. 1, D. 40, L. 12–13. Vladimir Timofeevič Bel’, geb. am 5.1.1925 im Dorf Rudnja, Rayon Sirocin, Gebiet Vicebsk. Interview durchgeführt von Kuzma Kozak (2009). Interview mit Irina I., geboren 1952 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im März 2010.
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ben. Damit mussten diese für eine Dauer von drei bis vier Tagen nicht zur Arbeit erscheinen. Im Lazarett besorgte sie ebenfalls dank ihrer Stellung und über informelle Beziehungen Medikamente für Partisanen.13 Zur Teilnahme am Widerstandskampf erhielt auch Anton Jakovlevič Ščitkovec ein gefälschtes Attest. Ein alter Bekannter, ein Arzt aus Staryja Darohi (Gebiet Minsk), Aleksej Michajlovič Šuba, stellte ihm eine falsche Diagnose – Tuberkulose. Damit musste Ščitkovec alle zwei Wochen das Krankenhaus in Staryja Darohi besuchen. So diente dieses gefälschte Attest als Passierschein für Zusammenkünfte mit Šuba. Sechs oder sieben Treffen konnten auf diese Weise unauffällig zu Stande kommen.14 Unter der nationalsozialistischen Okkupation, als die Besatzer begannen, Zwangsarbeiter nach Deutschland abzutransportieren, konnte ein gefälschtes Attest darüber hinaus helfen, der Deportation zu entkommen. Anna Lyn’kova, eine Untergrundkämpferin aus Staryja Darohi (Gebiet Minsk), erinnerte sich, wie ein gefälschtes Attest ihrem Bekannten, Stepan Sinegovskij, geholfen habe, dem Dienst in der Polizei zu entgehen. Da er vor dem Krieg als Milizionär im westlichen Weißrussland tätig gewesen war, versuchte man ihn auch im Krieg anzuwerben. Der junge Mann habe sich jedoch nicht mit dem Besatzungsregime arrangieren wollen und daher beschlossen, eine Blinddarmentzündung vorzutäuschen. In Staryja Darohi habe er sich an eine Ärztin gewandt, die ihm ein Attest ausstellte, das ihm Untauglichkeit für den Polizeidienst bescheinigte. Natürlich habe er sich, wie bei allen Blat-Beziehungen, bedankt – mit Wurst und Speck. Nachdem volles Vertrauen unter den beiden „Verschwörern“ hergestellt war, habe die Ärztin Sinegovskij empfohlen, in Zukunft die Blinddarmschmerzen auf der rechten Seite und nicht auf der linken vorzutäuschen.15 Mit einem medizinischen Attest konnte man auch in der Sowjetunion der Nachkriegszeit viel erreichen. Dies betraf beispielsweise die Befreiung vom Wehrdienst oder bestimmte Privilegien bei der Verteilung von Wohnungen. Nicht wenige Einwohner Weißrusslands bemühten sich um entsprechende „Atteste“ und nutzten dabei Blat-Beziehungen. Einige Bürger mit „schwacher Arbeitsmoral“ ließen sich mit Hilfe von Blat krankschreiben oder ihre Krankenscheine verlängern. Einen solchen Fall stellte 1983 eine Karikatur aus der weißrussischen Satirezeitschrift Vožyk („Igel“) dar: Eine Frau überreicht der Ärztin ein kleines Geschenk – eine Schachtel Pralinen. Die Ärztin nimmt dieses dankend an, „merkt“ plötzlich, dass ihre Patientin doch noch nicht arbeitsfähig ist, und verlängert ihren Krankenschein.16 Über einen ähnlichen realen Fall berichtete auch Faina M., ehemalige Schullehrerin: „In der Sowjetzeit war es unmöglich, einem Lehrer zu kündigen. Bei uns in der Schule 13 14 15 16
Komsomol-Untergrundorgane des Gebiets Homel’, 27. September 1943–12. Februar 1944. Bericht der Untergrundkämpferin in Homel’, E. A. Bondarenko, über die Tätigkeit der Untergrundgruppen, NARB, F. 1381, O. 1, D. 3, L. 4–5. Ebd., Erinnerungen von Anton Jakovlevič Ščitkovec, L. 119. Partei- und Komsomol-Untergrundorganisationen des Gebiets Minsk 1941–1945. Erinnerungen von Untergrundkämpferin in Staryja Darohi, Anna Tichonovna Lyn’kova, 1979, NARB, F. 1393, O. 1, D. 94, L. 124–131. Karikatur aus der Zeitschrift Vožyk [Igel], Autor: V. Potar, 1983.
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arbeitete ein Alkoholiker, ein Weißrussischlehrer. Er brachte immer Krankenscheine. Ich weiß nicht, wo er sie kaufte. Aber man konnte ihn nicht entlassen, man musste ihn ‚erziehen‘. Erst als man seine Krankenscheine überprüfte und sich herausstellte, dass sie in verschiedenen Polikliniken ausgestellt worden waren, verließ er freiwillig seinen Arbeitsplatz in der Schule.“17 GEFÄLLIGKEITEN FÜR MEDIZINISCHE HILFE UND BESTECHUNGEN Die wirtschaftliche Lage der Mediziner in Sowjetweißrussland vor 1941 war nahezu katastrophal. Mediziner waren unterbezahlt, obwohl die Propaganda die große Bedeutung von Ärzten und Pflegepersonal in der sowjetischen Gesellschaft unterstrich und die Presse oft mit großer Hochachtung über sie berichtete und ihre Leistungen würdigte. Diesen Widerspruch versuchte man vor allem auf dem Lande abzumildern, indem man ärztliche Leistungen und medizinische Betreuung mit Geschenken und Gefälligkeiten bezahlte. So erinnerte sich Arnold Kozlovskij, Jahrgang 1930, dessen Vater Anfang der 1930er Jahre als Arzt in einem weißrussischen Dorf tätig war, dass es seiner Familie relativ gut ging, während das ganze Land unter Hungersnot litt. Sie seien gut versorgt gewesen und hätten keine großen Schwierigkeiten mit dem Erhalt von Lebensmitteln gehabt. Dies lag daran, dass die Dorfbevölkerung die medizinische Betreuung durch den Arzt immer in Naturalien bezahlte.18 Man könnte dies als Dank interpretieren, aber auch als Ausdruck der Hoffnung auf weitere qualifizierte medizinische Betreuung in Notsituationen. Die unentgeltliche medizinische Versorgung aller Werktätigen – Arbeiter, Beamter und Bauern –, wie sie von den Sowjets proklamiert wurde, entsprach der Realität also tatsächlich keineswegs. Über die informellen Beziehungen der Dorfbevölkerung zu Landärzten und Arzthelfern berichtete bereits 1925 das im Rayon Babrujsk herausgegebene Blatt „Kommunist“. Der Verfasser I. Semenov machte seine Leser im Artikel „Enttarnung“ auf eine unzulässige Situation im Krankenhaus von Ščadrin (Rayon Paryčy) aufmerksam. Semenov verglich das Benehmen des Arzthelfers G. mit dem der vorrevolutionären bourgeoisen Ärzte, die die Bauern geschunden hätten. Jede Bäuerin, die zu ihm gekommen sei, habe ihm immer Butter, Speck oder Stoff mitgebracht. G. nahm diese Geschenke anscheinend als eine normale und selbstverständliche Geste an. Als am 29. Juli eine Bäuerin mit ihrem kranken Kind mit leeren Händen ins Krankenhaus kam, habe er sich geweigert, das Kind zu behandeln. Erst nachdem die Frau ihm 25 Kopeken angeboten habe, habe er das Kind untersucht und ihm die nötigen Arzneimittel verschrieben.19 Der Korrespondent P. Sjarhejčyk setzte dieses Thema in derselben Zeitung zwei Monate später fort. Im Artikel „Medizin auf der Anklagebank“ berichtete er 17 18 19
Interview mit Faina M., geboren 1936 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im März 2010. Arnol’d Michajlovič Kozlovskij, geb. 29.08.1930 in Minsk. Interview durchgeführt von Kuzma Kozak (2009). I. Semenov, Za uško, da na solnyško (Paričskij rajon), in: Kommunist v. 12.8.1925, S. 2.
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über Bestechungsfälle im Gesundheitswesen im Rayon Asipovičy (Gebiet Mahilëŭ). B., ein Arzthelfer aus Jasjanec, und J., eine Arzthelferin aus Karytnjany, hätten sich für die medizinische Betreuung von Bauern bezahlen lassen. B. habe 1,5 Rubel angenommen, I. einen Stoff (offensichtlich ein beliebtes Geschenk für medizinische Hilfe). I. habe sich jedoch richtig verhalten, denn sie habe den Stoff zurückgegeben, nachdem die Behandlung nicht geholfen habe und das Kind gestorben war. Entsprechend unterschiedlich hätten sich diese Mediziner auch vor Gericht verhalten. B. war von der Richtigkeit seines Benehmens überzeugt; er argumentierte, dass er dem Bauern einen großen Gefallen getan habe, und dies sogar fast unentgeltlich, als er ihm die Arzneimittel verschrieb, denn sonst hätte der Bauer extra in eine andere Stadt (Babrujsk) fahren müssen. I. versuchte im Gegensatz dazu, ihre Unschuld zu beweisen. Dabei half ihr auch die Mutter des verstorbenen Kindes, die Bäuerin D. Die Frau argumentierte wie folgt: „Ich wollte ja, dass es meinem Kind schneller besser geht, dass die Ärztin ihm ein stärkeres Arzneimittel gibt, deswegen habe ich ihr dafür den Stoff gegeben. Als die Behandlung nicht half, hat sie ihn zurückgegeben.“ Im Endeffekt wurde B. zu einem Jahr Bewährung verurteilt, I. wurde freigesprochen. Dieses Urteil habe eine negative Reaktion seitens der Dorfbevölkerung ausgelöst. Die Frau hatte offensichtlich auch im Gerichtswesen bzw. in der Rayonverwaltung gute Beziehungen. Die Dorfbewohner hätten es implizit folgendermaßen ausgedrückt: „Ihr kann man nichts anhaben. Sogar wenn du etwas weißt, solltest du am besten schweigen, denn es wird sowieso nichts bringen.“20 Die untersuchten Quellen aus der Kriegszeit zeigen, dass die Mediziner für ihre Hilfe einen – besonders unter Kriegsbedingungen wichtigen – Naturallohn erhielten: Brot, Speck, Kartoffeln oder Alkohol. In den langen Okkupationsjahren gewöhnten sich einzelne Mediziner an die Gefälligkeiten ihrer Patienten in Form von Naturalien bzw. Geschenken und wollten darauf auch nach der Befreiung Weißrusslands nicht verzichten. Diese „verbrecherische“ Entwicklung war laut einem NKVD-Sonderbericht vom 16. September 1944 im Gebiet Minsk zu beobachten: Ärzten wurde vorgeworfen, von der Bevölkerung Lebensmittel zu verlangen. Die Ärztin Š. habe sich zunächst geweigert, der vierfachen Mutter J. aus dem Dorf Zakal’nae (Rayon Ljuban’) ein Rezept auszustellen, da die Patientin ihr keine Geschenke mitgebracht habe. Š. habe erst dann eingelenkt, als ihr eine Flasche Wodka angeboten worden sei.21 J. war offenbar nur eine einfache kinderreiche Kolchosbäuerin, die nicht über das notwendige „Vitamin B“ verfügte, der Ärztin nicht „behilflich“ sein konnte und deshalb für die Ausstellung eines Rezepts zahlen musste. Mehr als eine Flasche Wodka konnte sie allerdings nicht bieten. Dreißig Jahre später hatte sich die Situation offensichtlich nicht geändert. 1970 hob ein Minsker in seinem Schreiben an Pëtr Mašėraŭ, Parteichef der BSSR, hervor, dass es Fälle gebe, in denen Ärzte von ihren Patienten Bestechungsgelder an-
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P. Sjarhejčyk, Medycyna pad sudom (Asipovicki raën), in: Kommunist v. 21.10.1925, S. 3. Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 1P, O. 2, D. 54, L. 87.
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nähmen. Damit kauften sie sich teure Autos, bauten Datschen, richteten ihre Häuser prachtvoll ein und hätten Tausende von Rubeln auf ihren Sparkonten. Der empörte Bürger war der festen Überzeugung, man solle solche Ärzte für ihre „Untaten“ zur Verantwortung ziehen.22 Anhand der zahlreichen durchgeführten Interviews lässt sich feststellen, dass man sich bei Medizinern nach dem Krieg in der Regel mit Alkohol (v. a. Cognac), aber auch etwa mit Pralinen, Büchern, Parfum, Kaffee oder Wurst bedankte. Diese kleinen Geschenke konnten die Zeit in einem Krankenhaus erträglicher machen: Cognac für den Chefarzt sicherte dem „besonderen Patienten“ eine Vorzugsbehandlung oder überhaupt einen Platz in einem überfüllten Krankenhaus. Die mit Schokolade, Pralinen oder Parfum beschenkten Krankenschwestern drückten bei unerlaubten Besuchen ein Auge zu. Sie betreuten den „Sonderpatienten“ besonders aufmerksam und achteten nicht zuletzt darauf, dass er mit den notwendigen oder gar mit besseren Medikamenten versorgt wurde. Eine zu gute Betreuung im Krankenhaus deutete für viele auf das Vorhandensein von Blat hin, was natürlich nicht unbedingt der Fall war. So erzählte Tamara F.: „Ich wurde im Krankenhaus so gut betreut und behandelt, dass alle dachten, ich wäre hier mit Blat“.23 So fest war diese Tendenz also im sowjetischen Gesundheitswesen verankert. Auch kleine „Rädchen“ im Gesundheitssystem, wie etwa Putz- oder Garderobenfrauen in Krankenhäusern, konnten sehr nützlich sein, so dass man versuchte, auch mit ihnen gute Kontakte zu pflegen. Nina Kumanjaeva, deren Sohn Mitte der 1950er Jahre krank wurde und im Krankenhaus №1 in Minsk lag, erinnert sich, dass sie ihren Sohn nur dank guter Beziehungen zur Garderobenfrau besuchen konnte. Die Frau hielt extra für sie einen Arztkittel bereit, wofür Kumanjaeva sich bei ihr immer mit Nahrungsmitteln bedankte.24 Auch Tamara F. wusste 1977 schon mit siebzehn Jahren, dass sie sich bei einer Reinigungskraft im Krankenhaus mit Schokolade bedanken musste, um ihrer Mutter die Wäsche selbst wechseln zu können.25 VETTERNWIRTSCHAFT UND KARRIEREFÖRDERNDE INFORMELLE BEZIEHUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN Bereits vor dem Krieg blühte die Vetternwirtschaft im Gesundheitswesen. Gute Beziehungen und Blat im Gesundheitswesen konnten dabei helfen, einen Studienoder Arbeitsplatz in medizinischen Einrichtungen zu erhalten. So sandte 1928 eine Gruppe von Arzthelfern eine kollektive Beschwerde an das Beschwerdebüro bei der Arbeiter- und Bauerninspektion der BSSR. In der Beschwerde wurden Regelverletzungen bei den Aufnahmeprüfungen an der medizinischen Fakultät der Weißrussischen Staatsuniversität beanstandet. Wer habe die Aufnahmeprüfungen bestan22 23 24 25
NARB, F. 4P, O. 65, D. 172, L. 89–92ob. Interview mit Tamara F., geboren 1960 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im September 2010. Nina Aleksandrovna Kumanjaeva (Jahrgang 1928). Interview durchgeführt von Alesja Belanovič (August 2009). Interview mit Tamara F., geboren 1960 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im September 2010.
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den? Diejenigen, die gute Beziehungen hatten, so der Vorwurf seitens der sechs Arzthelfer. Die Gruppe war sich sicher, dass es nur mit Hilfe von Bekanntschaften und Bestechungen, Verwandten und Vetternwirtschaft möglich sei, an der Universität aufgenommen zu werden. Diese Überzeugung untermauerten sie mit einer Reihe von Beispielen.26 Darüber hinaus umfasste Blat zum Beispiel Aspekte wie die obligatorische Arbeitsplatzverteilung nach dem Medizinstudium. Nur wenige konnten davon träumen, eine Stelle in einem guten Krankenhaus zu bekommen oder weiterhin an der Universität zu bleiben. Die Inspektion des weißrussischen Volkskommissariats für Gesundheitswesen deckte in seiner Arbeit Ende der 1920er, und Anfang der 1930er Jahre gewisse Mängel auf. Mehrmals wurde darauf hingewiesen, dass die Arbeitsverteilung an medizinischen Hochschulen nach dem Studium willkürlich geschehe.27 Professoren hätten sich aktiv für ihre Lieblingsstudenten und Assistenten eingesetzt. Bei der Verteilung der Assistentenstellen hätten manche Professoren sogar mit ihrem Rücktritt gedroht, sollten die entsprechenden Assistenten nicht aufgenommen werden.28 Die Zeitung Kamunistyčny šljach („Kommunistischer Weg“) aus dem Rayon Krupki hob 1936 die allzu informellen und fast vetternwirtschaftlichen Beziehungen im Rayonkrankenhaus hervor. Der Autor Dziaminski schilderte am 18. Juli in seinem umfangreichen Beitrag die frappierenden Missstände im Rayonkrankenhaus und machte den Chefarzt Vevel’ persönlich dafür verantwortlich. Dziaminski kritisierte unter anderem, dass der Chefarzt die schlechte Situation verschleiere und seine nachlässigen Mitarbeiter (etwa den Hausmeister Š.) auf „eine familiäre Art und Weise“ in Schutz nehme. Vevel’ wurde also die Nutzung von verdächtigen informellen sozialen Beziehungen unterstellt. Dass es dem Chefarzt Vevel’ lange Zeit gelang, die tatsächliche Kalamität in seinem Haus zu verheimlichen, ist möglicherweise auf seine guten Beziehungen im Sanitätswesen zurückzuführen. Sanitätsärzte überprüften Krankenhäuser, Schulen, Kinderkrippen usw., um festzustellen, ob sie den gültigen Sanitätsnormen entsprachen. Viele nachlässige Führungskräfte waren somit auf Blat in diesem Milieu angewiesen.29 Die Blat-Praktiken im Bereich der Arbeitsbeschaffung und Karriere im Gesundheitswesen entwickelten sich unter der deutschen Okkupation weiter. Besorgte Eltern versuchten, ihre Kinder bestens unterzubringen. Ein Paradebeispiel dafür ist Č., vor dem Krieg ein einfacher Arzthelfer im Rayon Krupki. Unter der deutschen Okkupation leitete er die Abteilung Gesundheit in der Rayonverwaltung von Krupki. Sein Posten und offensichtlich gute Beziehungen in der Rayonverwaltung ermöglichten es seiner Tochter, im September 1942 eine PharmaziegehilfinnenStelle in der Rayonapotheke zu erhalten.30 Die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten funktionierte in Sowjetweißrussland schon vor dem Krieg mangel26 27 28 29 30
NARB, F. 101, O. 2, D. 81, L. 75. NARB, F. 101, O. 1, D. 3070, L. 6. Ebd., L. 72–73. Dziaminski, Hnajnik u Krupskaj bol’nicy, in: Kamunistyčny šljach [Krupki] v. 18.7.1936, S. 3. GAMn, F. 686, O. 1, D. 2, L. 7.
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haft. Während des Krieges spitzte sich die Situation weiterhin zu. Č. und seine Tochter nutzten die Gunst der Stunde, um sich durch Geschäfte mit Arzneimitteln und Spiritus zu bereichern. Im April 1943 wurden sie aus diesem Grund von Rayonchef Barkovskij entlassen. Anscheinend waren die Vergehen von Č. so groß, dass ihm sogar verboten wurde, als Mediziner zu praktizieren.31 Das weitere Schicksal dieser Familie ist unbekannt. Nach dem Krieg verankerten sich diese vetternwirtschaftlichen Tendenzen noch fester im Gesundheitswesen der BSSR. So erinnerte sich der ehemalige Arzt Jakov B. an die Arbeitsplatzverteilung nach seinem Medizinstudium: „Als erste auf der Liste standen nicht die besten Studenten, sondern diejenigen, die gute Beziehungen in diesem Bereich oder Blat hatten. Das war für alle offensichtlich und wurde oft zum Thema von Witzen, aber nicht von Protesten“.32 Über die Aufnahmeprüfungen am Medizinischen Institut sagte er Folgendes: „Mit mir studierten so viele Kinder von Medizinern, Dozenten des medizinischen Instituts und von Leitern medizinischer Einrichtungen, dass sich diese Frage gar nicht stellte. Vielleicht waren es kluge Kinder, vielleicht bestanden sie die Aufnahmeprüfungen gut, das weiß ich nicht“.33 MEHRKLASSEN-GESUNDHEITSSYSTEM Trotz der von der sowjetischen Propaganda proklamierten Erfolge im sowjetischen Gesundheitswesen entwickelte sich bereits in den 1920er und 1930er Jahren ein Mehrklassengesundheitssystem, wobei vor allem Partei-, Staats- und NKVD-Funktionäre und die Leiter wichtiger Betriebe und ihre Verwandten Privilegien bei der Gesundheitsfürsorge genossen. Einfache Parteimitglieder oder gar Bürger ohne Parteimitgliedschaft durften von einer Behandlung in den Sonderkliniken wie etwa der berühmten Minsker Lečkomissija – einer Sonderklinik in Minsk, die 1921 gegründet und in der die sowjetische Nomenklatura behandelt wurde, – nur träumen. Diese Klinik war immer bestens ausgestattet, hier arbeiteten die renommiertesten Professoren. Die Ironie der Situation bestand darin, dass mit der Zeit die Ärzte dieser Klinik ihren guten Ruf verloren, denn sie erhielten ihre Arbeitsplätze oft ebenfalls mit Hilfe von Blat. So erzählte Jakov B.: „Diejenigen, die da arbeiteten, hatten eine ‚reine‘ Biographie, sie waren Parteimitglieder, Komsomolführer, Freunde oder Kinder von jemandem, also blatnye. Aber gute Ärzte gab es unter ihnen nicht viele. Die Professoren waren gut. Aber die einfachen Ärzte […] von ihnen hielt man wenig.“34 Während des Krieges traten an die Stelle sowjetischer Partei- und Staatsfunktionäre Kollaborateure: Mitarbeiter von Lokalverwaltungen und Ordnungsdiensten sowie Personen aus deren engster Umgebung erhielten eine qualitativ bessere me31 32 33 34
Ebd., L. 66. Interview mit Jakov B., geboren 1939 in Homel’. Durchgeführt in Minsk im März 2010. Ebd. Ebd.
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dizinische Versorgung. Und nach dem Krieg war es wieder die sowjetische Nomenklatura, die mit der besten medizinischen Hilfe rechnen konnte. Die Existenz des Mehrklassengesundheitssystems wurde oft sowohl von den einfachen sowjetischen Bürgern als auch von den Ärzten selbst mit Empörung wahrgenommen. So sandte 1986 ein Arzt aus Minsk, Mitglied der KPdSU seit 1958, eine Beschwerde an die Redaktion der Zeitung Sovetskaja Belorussija („Sowjetweißrussland“). Dabei ging er ausführlich auf die aus seiner Sicht negativen Eigenschaften des Mehrklassengesundheitssystems ein. Der Minsker merkte zu Recht an, dass Gesundheit für alle gleich viel wert sei. Allerdings dächten nicht alle so. Einige hielten es für undenkbar, in den Wartesälen der Polikliniken zu sitzen. Für sie gebe es die Lečkomissija und auch die gesamte medizinische Verwaltung beim Ministerium für Gesundheitswesen der BSSR. Ihre Kliniken seien bestens ausgestattet. Diese privilegierte Schicht wisse nicht, was ein Defizit an Arzneimitteln und Krankenbetten bedeute. Für sie gebe es ganze physiotherapeutische Komplexe mit Heilverfahren, Massagen usw. Das alles sei natürlich nicht mit den einfachen Polikliniken zu vergleichen. Abschließend wunderte sich der Verfasser, was das für Gesetze seien, nach denen ein besonderes System der medizinischen Betreuung für „Auserwählte“ existiere und die die sowjetische Bevölkerung in „Habende“ und „Nicht-Habende“ teile, was wiederum den Prinzipien des „entwickelten Sozialismus“ widerspreche und die Ehre und den Stolz eines einfachen sowjetischen Menschen verletze.35 DIE VERTEILUNG VON FERIENSCHECKS SOWIE VON PLÄTZEN IN KINDERGÄRTEN UND KINDERKRIPPEN Die Fragen der Verteilung von Ferienschecks sowie des Erlangens von Plätzen in Kindergärten und Kinderkrippen waren in der BSSR zu jeder Zeit aktuell, denn auch in diesem Bereich gab es schwerwiegende Defizite. Nicht alle Bürger erhielten die Gelegenheit zur Kur zu fahren. So beschwerte sich 1964 ein Arbeiter aus Barysaŭ (Gebiet Minsk) in seinem Brief an die Zeitung Sovetskaja Belorussija, dass alle Ferienschecks für Sanatorien verteilt worden seien und er nicht wisse, an wen. Er schloss daraus, dass die Ferienschecks ohne Wissen der dafür zuständigen Ärzte an die „Nächsten“ verteilt worden seien.36 Einer meiner Interviewpartner hob auch hervor, dass er als Kind zwei Mal in einem Sanatorium im Baltikum war, nur weil sein Vater im Gesundheitswesen arbeitete und dort gute Beziehungen hatte. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte er davon nur träumen können.37 Über ähnliche Fälle berichteten auch andere Befragte. Einen Platz im Kindergarten zu bekommen, was normalerweise über die Gesundheitsämter geschah, war ebenso problematisch. Dabei konnten aber wiederum informelle Beziehungen helfen. Ein gewisser S. beschwerte sich 1964 in einem 35 36 37
NARB, F. 239, O. 5, D. 20, L. 2–3. GAMn, F. 80P, O. 1, D. 439, L. 85–88, hier L. 87. Interview mit Jakov B., geboren 1939 in Homel’. Durchgeführt in Minsk im März 2010.
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Schreiben an das Stadtkomitee der KPB in Barysaŭ, dass im Stadtgesundheitsamt in Barysaŭ informelle Beziehungen und Vetternwirtschaft blühten. Nur diejenigen, die den Leiter des Stadtgesundheitsamtes persönlich kannten, also ihn beim Namen und Vatersnamen nennen konnten, bekamen Kinderkrippenplätze. S. bemerkte dabei bitter, dass es eine Warteliste offensichtlich nur für diejenigen gebe, die keine Beziehungen im Stadtgesundheitsamt hatten.38 Fast alle meine Interviewpartner gingen auf diese Tendenz und den Einsatz von Blat in diesem Bereich ein. „GENESUNGSREISEN“ INS AUSLAND NACH DER KATASTROPHE VON TSCHERNOBYL Ende der 1980er Jahre wies die weißrussische Satirezeitschrift Vožyk sarkastisch auf den Einsatz von Blat bei der Verteilung der humanitären Hilfe aus dem Ausland und bei den Reisen von Kindern aus den von der Atomkatastrophe betroffenen Gebieten ins Ausland hin. Dies spiegelte leider tatsächlich eine Praxis wider, die in dieser Zeit in der weißrussischen Gesellschaft bzw. im weißrussischen Gesundheitswesen weit verbreitet war. So berichtete meine Interviewpartnerin Irina I.: „Es hat mit den massenhaften Auslandsreisen für Kinder angefangen. Allerdings war das nicht unbedingt für diejenigen Kinder, die wirklich Genesung nötig hatten, also nicht vor allem aus den verseuchten Gebieten. Unsere Nachbarn verfügten bspw. über Blat im Friedenskomitee, so nahm ihr Sohn mehrmals an solchen Auslandsreisen teil.“39 Ivan P. begleitete solche Reisen als Übersetzer und konnte diese bedauerliche Tendenz nur bestätigen: „Das waren leider zum größten Teil nicht die Kinder, die das tatsächlich brauchten, sondern diejenigen, die Bekanntschaften und Beziehungen hatten“.40 Im Februar 1990 kam in Minsk ein Arbeitskollektiv des gesamtsowjetischen wissenschaftlichen Instituts für mikrobiologische Produktion beim Ministerium für medizinische Produktion der UdSSR („Belmedbioprom“) zusammen, um unter anderem das unmoralische Verhalten seiner Leiter zu besprechen. Es ging um die Gesundungskreuzfahrt „UdSSR-Schweden-Dänemark-BRD-UdSSR“, die im Januar 1990 stattfand und an der der Direktor, sein Stellvertreter und der Leiter der Planungsabteilung des Instituts teilgenommen hatten. Dieser skandalöse Fall war bereits in mehreren Artikeln der gesamtsowjetischen und weißrussischen Presse thematisiert worden (am 31. Januar und 11. Februar 1990 in der republikanischen Zeitung Zvjazda, Artikel „Für wen ist die Kreuzfahrt?“ und „Kreuzfahrt für ‚nützliche‘ Menschen“; am 14. Februar im Artikel „Voyage für Auserwählte“ der Zeitung Rabočaja tribuna; am 15. Februar in den Artikeln „Geheime Kreuzfahrt“ und „Du hilfst mir, ich helfe dir, oder wie ‚Tschernobyl-Leute‘ geheilt wurden“ der Zeitung Praca). Das Arbeitskollektiv reagierte empört auf die Tatsache, dass an der Kreuzfahrt keine Betroffenen aus den kontaminierten Gebieten teilgenommen hatten. In 38 39 40
GAMn, F. 80P, O. 1, D. 486, L. 183. Interview mit Irina I., geboren 1952 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im März 2010. Interview mit Ivan P., geboren 1953 in Minsk. Durchgeführt in Minsk im September 2010.
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einer Zeit, in der sich die Republik in einer katastrophalen Lage in Bezug auf die Versorgung mit Arzneimitteln befände, organisierten Leiter einiger medizinischer Organisationen Seekreuzfahrten für sich, ihre Umgebung und Verwandten, was schlichtweg unmoralisch und volksfeindlich sei.41 Nach einer genauen Überprüfung dieses empörenden Falles wurde der Direktor des Belmedbioprom, V., allerdings nicht gekündigt: Es wurde ihm durch eine Verordnung des Büros des Minsker Stadtkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands lediglich ein strenger Verweis erteilt.42 ZUSAMMENFASSUNG Informelle soziale Beziehungen und Blat gehörten zu den Phänomenen, die das Alltagsleben der Bevölkerung in der UdSSR und insbesondere in Sowjetweißrussland maßgeblich prägten. Die Entwicklung und die rasante Verbreitung dieses sowjetischen „Vitamin B“ wurden durch negative wirtschaftliche und auch gesellschaftliche Tendenzen im ersten sozialistischen Staat der Welt begünstigt. Manche Ärzte, Krankenschwestern, Krankenpfleger, Apotheker oder Gesundheitsfunktionäre profitierten von dieser schwierigen Situation und ließen sich nicht davon abbringen, sich auf Kosten ihrer Patienten zu bereichern. Das Mehrklassengesundheitssystem, das bessere medizinische Versorgung für Staats- und Parteifunktionäre vor 1941, für Kollaborateure in den Jahren 1941 bis 1944, und wiederum für die sowjetische Nomenklatura nach 1944 implizierte, etablierte sich in der UdSSR noch vor dem deutsch-sowjetischen Krieg und bestand auch unter der deutschen Okkupation und in der Nachkriegszeit weiter. Es ist auch zu betonen, dass das Gesundheitswesen vielleicht der einzige Bereich war, in dem die Verwendung von Blat nicht als etwas Negatives wahrgenommen wurde, denn hier ging es um Fragen des Überlebens im wahrsten Sinne des Wortes. Während man in anderen Bereichen versuchte, den Einsatz von Beziehungen und Bekanntschaften nicht zur Schau zu stellen, gab es hier offensichtlich nichts zu verheimlichen. Die Verankerung von informellen sozialen Beziehungen im sowjetischen Gesundheitssystem wurde von der weißrussischen Bevölkerung bemerkenswerterweise als eine zwar unzulängliche, jedoch selbstverständliche Komponente wahrgenommen. In dieser Hinsicht ist bis heute eine gewisse bedauerliche Kontinuität festzustellen.
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GAMn, F. 821, O. 1, D. 703, L. 141–144. Ebd., L. 134–138.
V. EUGENIK – „RASSENHYGIENE“ – „EUTHANASIE“
EUGENIK, RASSENHYGIENE UND „EUTHANASIE“ Gerhard Baader Eugenik war von Anfang an eine internationale Bewegung. Am Anfang steht Charles Darwins epochemachendes Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein (struggle for life)“ von 1859. Mit seiner selektionistischen Evolutionstheorie, in der Darwin sich zunächst noch auf das Tierreich beschränkte, ist vom Menschen nur am Rande die Rede, wenn es heißt „Und Licht wird fallen auf den Ursprung der Menschheit und seine Geschichte.“1 Das hinderte jedoch bereits 1860 den englischen Physiologen William Draper nicht, Darwins Werk sozialdarwinistisch auszudeuten. Die zivilisatorische Entwicklung des Menschen sei nicht durch Zufall erfolgt, sondern durch ein unveränderliches Naturgesetz, das für Mensch und Tier in gleicher Weise gelte.2 Darwin selbst wird erst in seiner Schrift „Über die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ von 1871 sich dazu äußern, aber auch dort bezeichnet er es zurückhaltend als die einzige Aufgabe dieses Werkes „zu untersuchen, ob der Mensch wie jede andere Species, von irgendeiner früher existierenden Form abstammt, zweitens, die Art seiner Entwicklung, und drittens, der Werth der Verschiedenheiten zwischen den sogenannten Menschenrassen“.3 Anders war dies beim Begründer der Eugenik Francis Galton. der sein erstes eugenisches Werk unter dem Einfluss Darwins bereits im Jahre 1865 verfasste. Den Terminus Eugenik hatte er selbst 1883 geprägt; sie sollte Bestandteil des nationalen Bewusstseins werden und ist für ihn eine Wissenschaft, die sich mit allen Einflussfaktoren zur Verbesserung der angeborenen Eigenschaften einer Rasse beschäftigt. Ihr Ziel sei es die wertvollen Klassen der Gemeinschaft dazu zu veranlassen, mehr als ihren proportionalen Anteil zur nächsten Generation beizutragen. Diese Förderung der Rasse sollte durch Förderung der Geeigneten (Fit) mittels früher Heiraten und gesunder Aufzucht der Kinder erfolgen. Dieser positiven Eugenik korrespondiert bereits bei Galton eine negative Eugenik. Dabei ging es – darum wie er es 1 2
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Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten. Aus dem Englischen übersetzt von H. G. Bronn. Nach der sechsten englischen Auflage wiederholt durchgesehen und berichtigt von J. Victor Carus, Stuttgart 1876, S. 576. Vgl. Hans Querner, Darwin, sein Werk und der Darwinismus, in: Gunter Mann (Hrsg.), Biologismus im 19. Jahrhundert. Vorträge eines Symposiums vom 30. bis 31. Oktober 1970 in Frankfurt/M., (= Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Hrsg. „Neunzehntes Jahrhundert“ Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung, Arbeitskreis Medizingeschichte, Bd.5), Stuttgart 1973, S. 73 f. Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Bd.1, Stuttgart 31875, S. 2.
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1908 formulierte – die Geburtsrate der Ungeeigneten (Unfit) zu kontrollieren, statt es ihnen zu gestatten ins Dasein zu treten, obschon sie in großer Zahl dazu verdammt seien, bereits vor der Geburt umzukommen. Stillschweigend wird dabei die Tatsache vorausgesetzt, dass es sich, obzwar der Erbgang in seiner Gesetzmäßigkeit noch unbekannt und die Tatsache der Vererbung nicht anders als bei Darwin noch immer nur durch Tierzucht oder Stammbaumforschung empirisch gewonnenes Wissen war, bei den Unfit um erblich minderwertige Personen handele, die ihre schädlichen körperlichen, aber auch geistigen und Charaktereigenschaften an die nächste Generation weitergäben4. Die bei Draper bereits einsetzende sozialdarwinistische Interpretation Darwinschen Gedankenguts sollte bald die entscheidende werden. Ernst Haeckel ist nicht nur der große Naturforscher, dem wir ebenso eine mustergültige Beschreibung der Radiolarien wie die Formulierung des biogenetischen Grundgesetzes verdanken. Er hat Darwins „struggle for life“ in „Kampf ums Dasein“ uminterpretiert und ihn ebenso wie die natürliche Züchtung als Faktoren bezeichnet, „welche die Völker unwiderstehlich vorwärtstreiben und stufenweise zu höherer Kultur erheben“.5 Die Bedeutung des immer noch nicht in seiner Genese erkannten Erbfaktors in diesem Prozess hat er hervorgehoben. Die weiße Rasse verdanke ihre Dominanz dieser natürlichen Züchtung im Kampf ums Dasein „als Hebel alles menschlichen Cultur-Fortschritts“, in dem „der vollkommenere und veredeltere Mensch … den Sieg über andere erringt, und das … Endergebniss [sic] dieses Kampfes der Fortschritt zur allgemeinsten Vervollkommnung und Befreiung des Menschengeschlechts, zur freien Selbstbestimmung des menschlichen Individuums unter der Herrschaft der Vernunft ist“.6 Somit stellt Haeckel die natürliche Züchtung über jede Form der künstlichen Züchtung und vertritt damit die positive Eugenik im Sinn der Fortschrittseuphorie der Zeit um die Reichsgründung. Denn Darwins Theorie besagt, dass, – so Haeckel – der Vollkommenere den Unvollkommeneren besiegen und seine vorteilhafteren Merkmale weitervererben wird. Somit ist der Kampf ums Dasein für ihn „ein Kampf des Geistes und nicht der Mordwaffen“.7 Da es zusätzlich das Gehirn ist, das immer weiter vervollkommnet wird, so wird sich auf lange Sicht gesehen der Mensch mit dem vollkommensten Verstand durchsetzen und seinen Nachkommen seine wertvollen Eigenschaften vererben, die es ihm gleichtun werden.8 Trotzdem sieht Haeckel – und damit ist er auch ein Vertreter einer negativen Eugenik – einen positiven Effekt auch in der künstlichen Züchtung, wenn die Spartaner ihre missgebildeten Neugeborenen töten, was er als nützliche Maßregel bezeichnet.9 Das Gegenteil einer solchen – wie er meint – positiven künstlichen 4 5 6 7 8 9
Vgl. Hans-Martin Dietl, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Eugenik. Entstehung und gesellschaftliche Bedingtheit (=Medizin und Gesellschaft 22), Jena 1984, S. 9–21. Ernst Haeckel, Ueber die Entwickelungslehre Darwin’s, in: ders. (Hrsg.), Gemeinverständliche Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, Bd.1, Leipzig 1878, S. 29. Ders., Ueber den Stammbaum des Menschengeschlechts, in: ebd., S. 12 f. Ders., Natürliche Schöpfungs-Geschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge zur Entwickelungslehre, 1. Teil, Berlin 1898, S. 155. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 152.
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Züchtung sieht er im eugenisch negativen Einfluss des medizinischen Fortschritts. Sie zögere etwa durch Therapie bei Patienten mit Schwindsucht, Skrofelkrankheit, Syphilis oder bestimmten Geisteskrankheiten deren Ende heraus und förderte über deren Fortpflanzung die Übertragung solcher Krankheiten, die alle erblich wären.10 Diese negative Eugenik wird sich aber erst in der Krisenstimmung zwischen Börsenkrach von 1873 und der Weltuntergangsstimmung um 1900 voll durchsetzen können, auch bei Haeckel. 1904 spricht er nach der Nennung der Zahlen der Geisteskranken davon: „Welche Summe von Schmerz und Leid … bedeuten diese entsetzlichen Zahlen für die unglücklichen Kranken selbst, welche namenlose Fülle von Trauer und Sorge für ihre Familien, welchen Verlust an Privatvermögen und Staatskosten für die Gesamtheit“.11 Zwar schreckt er noch vor ihrer Ermordung zurück. Neben diesem Diskurs steht bei Haeckel aber schon der um die Selbsttötung von unheilbar körperlich Kranken. Er spricht in diesem Zusammenhang von Selbsterlösung, von Autolyse und vom schmerzlosen Tod.12 Im Rahmen dieser eugenischen Debatte bekommt der Begriff der Degeneration und der Entartung eine große Bedeutung. Bereits 1857 hatte der französische Psychiater Bénedict Augustin Morel in Geisteskrankheiten Entartete und ihre Krankheit als das Ergebnis krankhafter Phänomene gesehen. Die Befürchtung, dass es infolgedessen in den folgenden Generationen zu einer Entartung der Rasse kommen würde, findet sich schon bei Morel.13 Für den führenden deutschen Psychiater Emil Kraepelin führt 1883 „diese Art der Züchtung von selbst mit Nothwendigkeit den Untergang des degenerierten Geschlechts herbei“.14 Entartete sind für ihn darüber hinaus erblich belastet, zwischen gesund und krank angesiedelte krankhafte Persönlichkeiten, die wie Erregbare, Haltlose oder Triebmenschen, meist auch körperliche Entartungszeichen aufwiesen. Dies seien oft Menschen von sozialer psychopathischer Gesellschaftsfeindlichkeit, die vor den Aufgaben des Lebens zurückschreckten. Kraepelin wendet hier die Entartungstheorie auf alle Formen von sozialer Unzulänglichkeit und Psychopathie an. Bei diesen Menschen, die im Gegensatz zu sozialer Tauglichkeit und gesellschaftlicher Verwertbarkeit stünden, sei das Einschreiten des Psychiaters gerechtfertigt.15 Doch jenseits des Diskurses um Degeneration, Entartung, Minderwertigkeit und Psychopathie in der Psychiatrie radikalisiert sich der bei Haeckel eingeleitete Diskurs um eine negative Eugenik in der Zeit des Krisenbewusstseins von 1890 10 11 12 13
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Vgl. ebd., S. 153. Ders., Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie, Stuttgart 1904, S. 135. Ebd., S. 128–132. Vgl. Peter Burgener, Die Einflüsse des zeitgenössischen Denkens in Morels Begriff der „Dégénérescence“ (= Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, Hrsg. Erwin Henri Ackerknecht, neue Reihe, Nr.17), Zürich 1964, S. 39–44; Gunter Mann, Dekadenz – Degeneration – Untergangsangst im Lichte der Biologie des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 20 (1985), S. 6–35. Emil Kraepelin, Compendium der Psychiatrie, Leipzig 1883, S. 63. Vgl. Hans-Georg Güse u. Norbert Schmacke, Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus, Kronberg 1976, S. 154–169.
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an.16 Der Arzt Wilhelm Schallmayer tritt 1891 als einer der ersten dieser Eugeniker mit seiner Schrift „Über die drohende körperliche Entartung der Culturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes“ in die Fußstapfen Haeckels.17 Für ihn ist es die entscheidende Frage, ob die körperliche Entwicklung der menschlichen Rasse, von der die Fortsetzung des ganzen kulturellen Fortschritts abhänge, sich gegenwärtig im Zustand des Fortschritts oder Rückschritts befinde. Wieder in den Fußstapfen Haeckels steht er den Fortschritten der kurativen Medizin skeptisch gegenüber. Sie hülfen eher dem kranken Individuum als der Rasse und gingen deshalb „auf Kosten der Gattung“18. Sie brächten eher einen Schaden als einen Nutzen für die natürliche Auslese, die durch Beseitigung der Schwachen und Kränklichen rasseverbessernd wirke. Während unter den Bedingungen der natürlichen Auslese nur eine kleine Zahl schwächlicher Personen das reproduktionsfähige Alter erreicht, so nehme mit Hilfe medizinischer Maßnahmen der Prozentsatz dieser Personen zu. Denn es verändere die Medizin durch sie das Verhältnis zwischen den natürlich begünstigteren Personen, die erfolgreich im Reproduktionsprozess seien, zu den mangelhafteren Organismen, die jetzt ebenfalls Kinder gebärten, und das Anwachsen dieses Personenkreises liege nicht im Sinne einer begünstigungswürdigen Auswahl. Noch dazu gehöre ein großer Teil dieses Personenkreises zu den erblich Belasteten, die schon durch ihre bloße Existenz die Harmonie des sozialen Körpers stören würden. Besonders beunruhigt Schallmayer die Zunahme der erblich belasteten Irren, die eine gewaltige Bürde für den Staat darstellten. Es sei somit über die eugenischen Aspekte hinaus der Kostenfaktor, den es zu bedenken gelte. Was zur Durchsetzung einer eugenischen Rationalität heute schon möglich sei, sei eugenische Belehrung über die Notwendigkeit der menschlichen Zuchtwahl. Zwar müsse es das Ziel sein gesetzlich definierte eugenische Ehehindernisse festzulegen, soweit sich diese – so fügt er einschränkend hinzu – mit den moralischen Gefühlen des Volkes vereinbaren ließen. Um solche moralischen Vorbehalte einzuschränken, wäre besonders ein Wissen über den Einfluss der Vererbung nötig. Auch müssten verlässliche Daten über die Erblichkeit pathologischer Eigenschaften durch eine Medizinstatistik gewonnen werden. Aufgrund aller mit ihr gewonnenen Daten solle jede Eheschließung von der Beibringung eines amtlichen Gesundheitszeugnisses abhängig gemacht werden.19 Mit dieser Schrift Schallmayers lag zwar der erste deutsche eugenische Traktat vor. Den Terminus Rassenhygiene, der später immer mehr synonym mit Eugenik verwendet wurde, hat Alfred Ploetz 1895 in seinem Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr 16
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Vgl. Gerhard Baader, Die Medizin im Nationalsozialismus. Ihre Wurzeln und die erste Periode ihrer Realisierung 1933–1938, in: Christian Pross u. Rolf Winau (Hrsg.), Nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit. 1920–1933. Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin. 1933–1945 Verfolgung, Widerstand, Zerstörung (=Stätten der Geschichte Berlins, Bd.5), Berlin 1984, S. 66. Vgl. Sheila Faith Weiss, Race Hygiene and National Efficiency. The eugenics of Wilhelm Schallmayer, Berkeley, Cal. 1987, S. 42–63. Wilhelm Schallmayer, Ueber die drohende körperliche Entartung der Culturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes, Berlin, Neuwied 1891, S. 8. Vgl. die Rezension in der Münchener medizinischen Wochenschrift 27 (1892), S. 478–480.
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Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus“ geprägt. Für Ploetz ist dabei Rasse eine Zusammenfassung von Individuen, die innerhalb der Gesamtheit der Art einen engeren Fortpflanzungskreis bilden und sich durch gemeinsame erbliche Eigenschaften von anderen Artindividuen unterscheiden. Diese Vitalrasse trennt er von den Systemrassen.20 Insgesamt müsste nicht die Individualhygiene, sondern die Rassenhygiene das herrschende Prinzip werden, mit ihrem Streben die Gattung gesund zu erhalten und ihre Anlagen zu vervollkommnen.21 Dies soll durch 1) die Erzeugung möglichst vieler besserer Devarianten, 2) die scharfe Ausjätung des schlechteren Convarianten; und 3) die Vermeidung von Contraselektion erfolgen. Deshalb fordert Ploetz die Vermeidung der Ausmerzung der guten Convarianten durch Krieg oder Revolutionen und keinen besondern Schutz der Kranken und Schwachen.22 Insgesamt solle – so führt er in einer rassenhygienischen Utopie aus – gewährleistet werden, dass sich nur Eltern mit dem besten Erbgut fortpflanzen. Nur die gesunden Kinder sollten am Leben gelassen und im Sinne der Rassenhygiene erzogen werden. Die Anzahl der Kinder solle gesetzlich geregelt werden. Erbrecht solle nicht existieren, um gleiche Voraussetzungen zum Leben zu schaffen. Denn der Kampf ums Dasein müsse in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben. Die Pflege der Schwachen solle nur in minimalem Umfang erfolgen. Ploetz ist sich dabei bewusst, dass solche von einer darwinistischen Weltanschauung bestimmte rassenhygienische Maßnahmen in Konflikt zu „unseren Culturidealen“ stehen und heute noch nicht voll verwirklichbar sind. Doch bleibt es seine Vision, „dass die Menschen eines Tages in der Lage sein werden, die Variabilität zu beherrschen, so dass keine schlechten Devarianten mehr erzeugt würden und damit der Kampf ums Dasein überflüssig würde.“23 Mit diesem Konzept glaubten die Eugeniker andere Antworten als die Vertreter der Arbeiterbewegung auf die soziale Not der Arbeitermassen geben zu können, die im Zuge der Ausformung des Hochkapitalismus, der damit zusammenhängenden rasanten industriellen Entwicklung sowie dem damit verbundenen Wachstum der Städte entstanden waren. Für sie war eine Änderung auch der Situation des Einzelnen nur durch eine radikale Veränderung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu erreichen. Im Gegensatz dazu glaubten die Eugeniker ein – wie sie meinten – wissenschaftlich fundiertes Konzept gegen die Not und das Elend durch den Kampf gegen die Entartung der Rasse anzubieten zu können. Zwar haben sie auch soziale Faktoren als Begleitumstände der Degeneration zu beschreiben versucht; doch forderten sie selbst kaum soziale Maßnahmen, die das Individuum betrafen, 20
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Alfred Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus, Berlin 1895, bes. Vorwort u. S.1 f.; ders., Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und die davon abgeleiteten Disziplinen, in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biololgie 1 (1904), S.11; vgl. Gunter Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, in: ders., Biologismus (Anm. 2), S. 81. Alfred Ploetz, Tüchtigkeit (Anm. 20), S. 10–13. Ebd., S. 116 Ebd., S. 143 f.
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sondern nur solche, die einen Einfluss auf die Rasse hätten.24 Denn sie teilten die pessimistische Position des Embryologen August Weismann, der aus seiner Lehre von der Unveränderlichkeit des Keimplasmas den Schluss zog, dass soziale Maßnahmen verfehlte Investitionen wären, da sie die Rasse nur negativ – nämlich durch Ausschalten der Selektion –, nicht aber positiv beeinflussen könnten. Selektion war aber für sie der einzige Motor, durch den die Rasse vor dem Untergang bewahrt und in ihrer Entwicklung gefördert werden könne.25 Eugenik mit ihrer insgesamt negativen Einstellung zur Sozialpolitik hat zunächst dem äußeren Anschein nach antimodernistische Züge. Denn sie war die bevölkerungspolitische fortschrittskritische Antwort auf die Krisensymptome, die von den negativen Folgen der Modernisierung herrührten. Andererseits präsentierte sie sich als die einzige praktische Strategie, um die menschliche Art zu fördern und deren Degeneration zu verhindern. Damit ist sie selbst eine modernistische Sozialtechnologie. Es ging ihr darum einen modernistischen Ausweg aus der Krise der Moderne zu finden.26 Deshalb galten die Eugeniker in völkischen Kreisen, zu denen der Zoologe Heinrich Ernst Ziegler gehörte, für die kompetenten Fachleute, um mit ihrer Sozialbiologie einen Beitrag zu einer Gesetzgebung zu leisten; denn die Probleme, die mit dem Alkoholismus sowie der steigenden Zahl der erblich und degenerativ Minderwertigen entstanden seien, wären nur mit der Kontrolle der Reproduktion, wie sie die Eugeniker vorschlugen, zu lösen, wie Ziegler in seiner Einleitung zum ersten Band des von ihm herausgegebenen Sammelwerkes „Natur und Staat bemerkte“.27 In diesem Sammelwerk waren die wichtigsten Beiträge enthalten, welche 1900 auf die vom Hallenser Sozioökonomen Johannes Conrad, von Eberhard Fraas und von Haeckel eine von Friedrich Alfred Krupp finanzierte Preisaufgabe eingegangen waren. „Was lernen wir aus den Principien der Descendenztheorie in bezug auf die innerpolitische Entwicklung der Völker?“28 Den ersten Preis erhielt der Rassenhygieniker Wilhelm Schallmayer mit seiner Schrift „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie aufgrund der neueren Biologie“. Aus dieser Schrift sprach trotz aller wissenschaftlicher Darstellung reiner Sozialdarwinismus. Die gesellschaftlichen Vorgänge wurden unter sozialbiologischen Gesichtspunkten betrachtet, Entartungserscheinungen wurden festgestellt und sollten durch eine Bevölkerungspolitik bekämpft werden, 24 25 26 27 28
Vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll u. Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 50–57. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. Dietl, Einführung (Anm. 4), S.22–28; Paul Weindling, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge u. a. 1989, S. 114. Vgl. Heinrich Ernst Ziegler, Einleitung, in: ders., Johannes Conrad u. Ernst Haeckel (Hrsg.), Natur und Staat. Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre, Jena 1903, S. 10–18. Vgl. Rolf Winau, Natur und Staat oder: Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), S.123–183; Klaus Dieter Thomann u. Werner Friedrich Kümmel, Naturwissenschaft, Kapital und Weltanschauung. Das Kruppsche Preisausschreiben und der Sozialdarwinismus, in: Medizinhistorisches Journal 30 (1995), S. 99–143, S. 205–243 u. S. 315–352.
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die das Selektionsprinzip zur ausschließlichen Norm machte. Denn da Erbfaktoren unverändert durch Generationen weitergegeben würden, komme es nicht auf Bildung und zivilisatorischen Fortschritt an, sondern auf Ausmerzung all dessen, was als schwächlich oder erbkrank definiert wurde. Deshalb müsse Entartungsgefahr, die ein Ergebnis der aufsteigenden Stammesentwicklung der Menschheit sei, durch Rassedienst begegnet werden. Denn erworbene Eigenschaften seien nicht vererbbar, nur generative Anlagen bestimmten die Züchtung des Menschen. So sei eine Vermehrung gerade von Menschen mit dem besten Erbgut nötig, nicht bloß eine quantitative Vermehrung des Volkes, sondern vielmehr die Nichtfortpflanzung der allerungünstigsten Varianten. Unter den praktischen Vorschlägen zur Volkseugenik finden sich bei Schallmayer neben Heiratsverboten Zwangsasylierung und Sterilisierung; Lebensvernichtung lehnt er allerdings ab. Geschlechtsleben sei nicht nur Privatsache, sondern Fortpflanzungsauslese sei durch eine Sexualordnung zu gewährleisten.29 Nun ging es darum, diese Eugenik auf eine nationale und internationale Basis zu stellen. War in den Vereinigten Staaten schon 1903 die American Breeders Association gegründet worden, so kam es 1906 in ihrem Rahmen zur Gründung einer eugenischen Sektion, die sich für eine Auswahl von Ehepaaren nach eugenischen Gesichtspunkten und eine Verhinderung der Fortpflanzung von „defekten“ Bevölkerungsteilen einsetzte.30 Inzwischen war in Berlin 1905 die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet worden, die 1907 in eine Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene erweitert wurde. 1907 wurde die Eugenics Education Society in England, 1909 die Svenska sällskapet för rashhygien31 und 1911 die American Eugenics Association, 1912 die Société eugénique in Frankreich und 1915 die Tschechoslowakische eugenische Gesellschaft gegründet.32 Die ersten praktischen Maßnahmen wurden auch nicht in Deutschland ergriffen. 1907 verabschiedete der Bundesstaat Indiana das erste Sterilisationsgesetz und bis 1930 folg-
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Vgl. Hedwig Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955, S. 79–94; Peter Weingart, Jürgen Kroll u. Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 42006, S. 165–168. Vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York 1997, S. 23 f. Vgl. ebd., S. 24 f.; Volker Roelcke, Deutscher Sonderweg? Die eugenische Bewegung in europäischer Perspektive bis in die 30er Jahre, in: Maike Rotzoll u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010, S. 48; Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945 (= Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Hrsg. Reinhard Rürup u. Wolfgang Schieder im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft, Bd.9), Göttingen 2005, S. 20. Vgl. Gunter Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, in: ders. (Hrsg.), Biologismus (Anm. 2), S. 82.
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Gerhard Baader
ten 22 andere Bundesstaaten mit Gesetzen nach,33 die zur Sterilisation „von Insassen in Nervenheilanstalten, von Personen, die mehr als einmal wegen Sexualverbrechen verurteilt wurden, Individuen deren IQ-Wert Schwachsinnigkeit vermuten lässt sowie von ‚moralisch verworfenen Personen und Epileptikern“ berechtigten. Im Schweizer Kanton Waadt 1928 wurde in Europa das erste Sterilisationsgesetz beschlossen34, im selben Jahr folgte Dänemark.35 Kanada erließ in der Provinz Alberta 1923 ein Sterilisationsgesetz, ebenso galt ein solches seit diesem Jahr in British Columbia sowie im mexikanischen Bundesstat Vera Cruz. Solche Maßnahmen wurden bereits durch die Gründung von eugenischen Forschungsinstituten flankiert: 1905 das Francis Galton Laboratory for the Study of National Eugenics in London, 1906 das Winderen Institut in Oslo und schließlich 1910 das Eugenics Record Office in Cold Spring Harbor im State New York.36 Diese internationale Zusammenarbeit fand mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende. Nicht nur brachen die deutschen Eugeniker schon während des Ersten Weltkrieges ihren Kontakt zu ihren Kollegen aus den so genannten Feindstaaten ab, nach Ende des Krieges wurden sie nicht anders als die andere deutsche Wissenschaft aus der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgegrenzt. Für sie alle ging es darum, durch verstärkte eugenische Bemühungen eine adäquate Antwort auf die verheerenden dysgenischen Auswirkungen des Krieges zu finden. In diesem Kontext hatten die amerikanischen Eugeniker mit ihrer genetischen Ausrichtung die führende Rolle übernommen.37 In Deutschland sollte die Entwicklung in eine andere Richtung laufen und sich damit von der internationalen Entwicklung abkoppeln. Wichtig wurde dabei, dass Überlegungen zu einer negativen Eugenik zusammen mit der Forderung nach Freigabe der Tötung auf Verlangen früh Teile des eugenischen Diskurses gewesen waren.38 Aber erst in der Krisensituation nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Debatte konkreter, wobei rassenhygienische Argumente wie der Verlust wertvollen Erbguts durch den Krieg und ökonomische Argumente, die aus der wirtschaftlichen Notsituation der ersten Nachkriegszeit herrühren, miteinander untrennbar einhergingen. Schon in der sich verschärfenden Situation des Ersten Weltkrieges hielt es sogar Haeckel für „geradezu widersinnig, dass der Arzt verpflichtet sei jedes Leben um jeden Preis“ zu erhalten. Eine „kleine Dosis Morphium oder Cyankalium würde nicht nur diese bedauernswerten Geschöpfe selbst, sondern auch ihre Angehörigen
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Vgl. Sheila Faith Weiss, The Nazi Symbiosis. Human genetics and politics in the Third Reich, Chicago, London 2010, S. 58 f. Vgl. Lene Koch u. Regine Wecker, How Eugenic is Eugenics. A dialogue between Lene Koch and Regine Wecker, in: Regine Wecker u. a. (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien, Köln,Weimar 2009, S. 66. Vgl. Weiss, The nazi symbiosis (Anm. 33), S. 63. Vgl. Kühl, Rassisten (Anm. 30), S. 30. Vgl. ebd., S. 48–63. Vgl. Baader, Medizin (Anm. 16), S. 79.
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von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Dasein befreien“.39 Aber erst die Schrift des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Sein Maß und seine Form“ von 1920 gab dieser Diskussion eine neue Dimension. Bei ihm tauchen die Schlagworte auf, die in der Folge für den Diskurs, der im Patientenmord im Nationalsozialismus endete, von entscheidender Bedeutung sein werden. Psychisch Kranke seien Ballastexistenzen, die aufgrund ihrer vollkommenen Hilflosigkeit, des Fehlens von Gefühlen und jeglicher produktiven Leistung keinen subjektiven Anspruch auf Existenz hätten. Es möge – so Hoche – eines Tages die Auffassung „heranreifen, dass die Beseitigung des geistig völlig Toten kein Verbrechen, sondern […] einen erlaubten nützlichen Akt darstellt“.40 Somit sei ihre Beseitigung reines Heilwerk, durch das das Erbgut der Nation von als schädlich angesehenen Individuen gereinigt werden sollte. Darüber hinaus spielt der Kostenfaktor eine immer größere Rolle. Die hohen Anstaltskosten galt es zu vermindern.41 Beide Gesichtspunkte bestimmten den Diskurs in der Weimarer Republik. Doch sind radikale Maßnahmen, wie die Tötung von psychisch Kranken, gesellschaftlich nicht konsensfähig. Trotzdem hatte mit einem sich in diesen Jahren stets radikalisierenden Diskurs die deutsche Rassenhygiene ihren Kontakt zur internationalen eugenischen Bewegung verloren, auch nachdem sie 1927 wieder in die internationale Science Community zurückgekehrt war.42 Auch in Deutschland selbst waren die sich ständig radikalisierenden Vorschläge der Rassenhygieniker im Sozialstaat der Weimarer Republik nicht durchsetzbar. Weniger der Diskurs um die Euthanasie psychisch Kranker war es, der in diesen Jahren immer mehr konsensfähig wurde, sondern der um praktische Maßnahmen wie die Sterilisation psychisch Kranker. Auf einer Tagung des Preußischen Landesgesundheitsrats zum Thema „Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt“ wurde am 30. Juli 1932 schließlich ein Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilisation von psychisch Kranken verabschiedet, doch er wurde nicht mehr Gesetz.43 Erst die Nationalsozialisten, bei denen Rassenhygiene Staatsdoktrin wurde, verabschiedeten ihn – allerdings unter Verzicht auf die Freiwilligkeit – bereits am 14. Juli 1933 als „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden 1934–1945 etwa 400.000 Menschen gegen ihren Willen zwangssterilisiert, um – wie es die Nationalsozialisten ausdrückten – den deutschen Volkskörper von Erbkrankheiten zu befreien. Die Diagnose „erblicher Schwachsinn“ ermöglichte sozial randständige und unangepasste Personen zu erfassen und somit insgesamt mit der Gleichsetzung von leistungsschwach und erblich minderwertig eine soziale Assanierung aus erbbiologischen 39 40 41 42 43
Ernst Haeckel, Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben, Tod, Religion und Entwicklungslehre, Berlin 1917, S. 35 Karl Binding u. Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1922, S. 57 Vgl. Karl Heinz Hafner u. Rolf Winau, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Eine Untersuchung zu der Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche, in: Medizinhistorisches Journal 9 (1974), S. 227–254. Vgl. Kühl, Rassisten (Anm.30), S. 63. Vgl. Baader, Medizin (Anm. 16), S. 77–79.
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Gerhard Baader
Gründen durchzuführen.44 Die Ermordung der psychisch Kranken selbst wurde mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Realität. Von 1940–1945 wurden im Reichsgebiet 250.000 psychisch Kranke und Behinderte im Rahmen der Nazi-„Euthanasie“ ermordet.45 Etwa 70.000 wurden in sechs Gasanstalten von 1940 bis zum August 1941 ermordet.46 Die anderen wurden durch Veronal oder Morphium-ScopolaminInjektionen, Vernachlässigung und Verhungernlassen getötet, wobei die eugenischen Gesichtspunkte bald von ökonomischen, wie der Arbeitsfähigkeit, in den Hintergrund gedrängt wurden. In immer stärkeren Maße hat man in der Forschung zu erkennen begonnen, dass „Euthanasie“ die Vorstufe zum Genozid am europäischen Judentum darstellte. Nach der Einstellung des Gasmordes an den psychisch kranken Patienten waren es nicht nur die im Gasmord erfahrenen Kader, welche im Zuge der Shoah an der Errichtung der ersten Tötungsanstalten beteiligt waren, es waren auch die jüdischen psychisch kranken Patienten, welche als doppelt stigmatisierte als erste von der „Euthanasie“ betroffen waren.47 Als Patientenmord im Zuge des Überfalls auf Polen und die Sowjetunion Realität wurde, hat man weitgehend auf eugenische Argumente zu seiner Begründung verzichtet. Es war blanker Mord im Zuge eines Rassenkrieges.48 Die Zahl der ermordeten Patienten ist noch immer umstritten. Sie schwankt zwischen 100.000 und 250.000.
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Vgl. dazu besonders Margret Hamm (Hrsg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“. Eine Publikation des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V., Frankfurt/M. 2005. Vgl. Gerhard Baader, Vom Patientenmord zum Genozid. Forschungsansätze und aktuelle Fragestellungen, in: Eberhard Gabriel u. Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Von der Zwangssterilisation zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Teil II,Wien, Köln, Weimar 2002 S. 189–236. Vgl. Gerhard Baader, Die Aktion T 4. Der Gasmord an Psychiatriepatienten in den Jahren 1940 und 1941, in: Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 22009, S. 56–65. Vgl. Henry Friedländer, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Vgl. Gerhard Baader, Mehr als Patientenmord. Die Vernichtungsmaßnahmen gegen Insassen der psychiatrischen Anstalten im besetzten Polen, in: Medicine at the service of the system of extermination of people in the Third Reich and in German-occupied Poland (=Gniezno European Studies Monograph Series, Hrsg. The Poznań Society for the Advancement of the Arts and Sciences, Vol. 5), Poznan-Gniezno 2011, S. 17–26.
NATIONALSOZIALISTISCHE KRANKENMORDE IN ESTLAND, LETTLAND UND LITAUEN UND DIE BALTISCHE EUGENIK DER ZWISCHENKRIEGSZEIT 1918–1944 Björn M. Felder Als im 29. Januar 1942 die Sicherheitspolizei mit mehreren Lastwagen auf den Hof der Städtischen Psychiatrie Sarkankalns (Rothenberg) in Riga vorfuhr und anhand von Listen 368 Patienten der Klink verlud, war dem lettischen Ärztepersonal der Klinik klar, was die Stunde geschlagen hatte: die Ermordung ihrer Patienten. Es war den Psychiatern bekannt, dass bereits m Sommer 1941 alle Insassen der Psychiatrie in Dünaburg (Daugavpils) das gleiche Schicksal erlitten hatten. Auch waren bereits Anfang September 1941 sämtliche jüdischen Patienten aus ihrer Anstalt und anderen lettischen Psychiatrien abgeholt worden und nie zurückgekehrt. Spätestens nach den Massenmorden von Rumbula Ende November und Anfang Dezember 1941, als über 30.000 Personen, die Insassen des Rigaer Ghettos, vernichtet worden waren, gab es keinen Zweifel über das Schicksal der jüdischen Patienten. Tatsächlich erfolgte die nationalsozialistische „Euthanasie“ in Lettland in zwei Phasen: Im Herbst 1941 wurden etwa 200 bis 300 jüdische Patienten ermordet, während die übrigen nicht-jüdischen Patienten im Januar und Dezember 1942 an offenen Gruben erschossen wurden.1 Im Januar 1942 waren die lettischen Psychiater in Sarkankalns auch deshalb vorbereitet, da sie zuvor auf Veranlassung der lettischen Gesundheitsbehörden, der so genannten lettischen „Selbstverwaltung“, Patientenlisten mit umfangreichen Angaben über Krankheit, Krankheitsverlauf und Aufenthaltsdauer in der Klinik hatten erstellen müssen. Der Leiter der Anstalt Professor Hermanis Buduls soll versucht haben, einzelne Patienten durch vorzeitige Entlassungen oder Unterbringung bei Familien vor dem Tod zu retten.2 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass derselbe Buduls einer der einflussreichsten Eugeniker in der baltischen Region war. Es waren letztlich die eugenischen Denkkategorien von „Minderwertigkeit“, die dem Denkmodel der „Euthanasie“ als der Ermordung „unwerten Lebens“ den Weg bereitet hatten. Buduls hatte 1909 als Medizinstudent mit 1
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Vgl. Rudīite Vīksne, Garīgi slimo iznīcināšana Latvijā vācu okupācijas laikā [The elimination of the mental ill in Latvia under German occupation], in: Andris Caune (Hrsg.), The Issues of the Holocaust Research in Latvia. Reports of an International Seminar 29. November 2001, Riga and the Holocaust Studies in Latvia 2001–2002, Riga 2003, S. 324–350, hier: S. 334–338; Björn Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–46, Paderborn 2009, S. 206, 287, 294–296. Latvijas Valsts arhīvs [Staatsarchiv Lettlands] (nachfolgend LVA), 1986/2/P-280, 38, Aussage Saltups im Verhör mit der Sowjetischen Staatssicherheit, 5. Oktober 1945.
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Björn M. Felder
seiner Schrift „Die Ehe und die Ziele des menschlichen Lebens. Ein biologischer und ethischer Essay“ die erste Monographie zur Eugenik im Baltikum und vermutlich im ganzen Russischen Imperium vorgelegt.3 Man muss anmerken, dass Buduls stets eine eher gemäßigte Form der Eugenik befürwortet hatte. Auch ist nicht bekannt, dass Buduls oder ein anderer Vertreter der baltischen Eugenik die Tötung von Kranken vor 1941 öffentlich gefordert hätte. Gleichwohl folgte Buduls dem internationalen Diskurs der „Minderwertigkeit“, etwa bezüglich der „Schwachsinnigen“, und begründete eine lettische Schule der Eugenik, die letztlich zur Ausformung der eugenischen Sterilisationsgesetzgebung von 1937 und einer weitergehenden Bio-Politik führte. In Estland gab es eine ganz ähnliche Entwicklung, während in Litauen vor allem die eugenische Debatte unter der bio-medizinischen Elite sehr stark war, die aber die Politik zu keinen drastischen Maßnahmen bewegen konnte. Der folgende Beitrag soll eine Übersicht zu den nationalsozialistischen Krankenmorden in den baltischen Staaten geben, denen etwa 4000 bis 5000 PsychiatriePatienten zum Opfer fielen, und Bezüge zur baltischen Eugenik der Zwischenkriegszeit herstellen. FORSCHUNGSÜBERSICHT Die Literatur zur nationalsozialistischen „Euthanasie“ in Deutschland selbst ist umfangreich und kann hier nicht wiedergegeben werden.4 Die nationalsozialistische „Euthanasie“ in den besetzten Gebieten der Sowjetunion wurde bisher kaum systematisch beschrieben, was Gegenstand dieses Buches sein wird. Die baltischen Staaten bilden hierbei eine Ausnahme. So hat Ken Kalling die Situation in den estnischen Psychiatrien beschrieben und auf das große Sterben durch Hunger hingewiesen.5 RudīteVīksne und Björn Felder haben die Krankenmorde in Lettland geschildert.6 Die erste Arbeit zu den NS-Krankenmorden in Litauen kommt zum Schluss, dass solche dort nicht stattgefunden haben und dies von der litauischen „Selbstverwaltung“ verhindert worden sei.7 Eine aktuelle Studie des Autors dieses Beitrags beschreibt erstmals die systematische Hunger-Euthanasie in Litauen und zeichnet auch ein anderes Bild der litauischen Akteure.8 Insgesamt gehen die Arbeiten kaum 3 4 5
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Hermanis Buduls, Lauliba un zilweka dsihwes mehrķis. Bioloģisks un etisks apzerejums [Marriage and the Goal of Human Life. Biological and Ethical Essay], Riga 1909. Vgl. etwa Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid: Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat: die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/M. 2004. Ken Kalling, Estonian Psychiatric Hospitals During the German Occupation (1941–1944), in: International Journal of Mental Health 36, no. 1 (2007), S. 95–104; Siehe auch: Anton WeissWendt, Murder Without Hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse, New York 2009, S. 148–149. Vīksne, Latvijā (Anm. 1); Felder, Lettland (Anm.1), S. 206, 287, 294–296. Aurimas Andriušis u. Algirdas Dembinskas, Psychiatric Euthanasia in Lithuania During Nazi Occupation, in: International Journal of Mental Health 35, no. 3 (2006),S. 80–89. Björn Felder, National-Socialist Euthanasia, Human Experiments and Psychiatry in Nazi-Occupied Lithuania 1941–1944, in: Holocaust and Genocide Studies 2 (2013), 27, 242–275.
Nationalsozialistische Krankenmorde in Estland, Lettland und Litauen
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auf die lokalen Akteure und deren Motivation ein, die zwischen Affirmation und Resistenz changieren konnte. Bezüglich der Autochthonen werden selten Verbindungen zwischen der baltischen Vorkriegseugenik und der NS-Euthanasie gezogen. Der baltische Autoritarismus, der sehr stark bio-politisch orientiert war, begann in Litauen mit dem Regime von Antans Smetona 1926 und wurde nach politischen Umstürzen 1934 in Estland durch Konstantin Päts und in Lettland unter Kārlis Ulmanis fortgeführt. Seine wissenschaftliche Aufarbeitung verläuft sehr schleppend, abgesehen von einigen speziellen Aufsätzen und den Darstellungen in den Übersichtswerken; umfangreiche Werke gibt es kaum.9 Nach ersten sowjetischen Darstellungen zur baltischen Eugenik, die diese zur Diffamierung der unabhängigen baltischen Republiken als „faschistisch-bürgerliche“ Regime instrumentalisierte,10 begann erst in den letzten Jahren die Erforschung der eugenischen Debatten und. der Ausformung der praktischen Eugenik in Lettland und Estland – insbesondere der Sterilisationsgesetzgebung von 1937 bzw. 1936 – hin zum „Rassestaat“,11 der rassisch-biologischen Ausformung der Nation. Während sich Ken Kalling bereits seit zehn Jahren mit der estnischen Eugenik befasst und zu Lettland von Björn Felder ebenfalls Arbeiten erschienen sind,12 steht die Forschung für Litauen erst am Anfang.13 9
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Zu Estland: Olaf Mertelsmann, Führer im Ausverkauf. Estland 1939–1945, in: Benno Ennker u. Heidi Hein-Kricher (Hrsg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010, S. 234–252; Zu Lettland: Ilgvars Butulis, Autoritäre Ideologie und Praxis des Ulmanis-Regimes in Lettland 1934–1940, in: Erwin Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittelund Südosteuropa 1919–1944, Paderborn u. a. 2001, S. 249–298; Inesis Feldmanis, Umgestaltungsprozesse im Rahmen des Ulmanis-Regimes in Lettland 1934–1949, in: ebd., S. 215–248; Zu Litauen: Raimundas Lopata, Die Entstehung des autoritären Regimes in Litauen 1926. Umstände, Legitimation, Konzeption, in: ebd., S. 95–142; Klaus Richter, Der Kult um Antanas Smetona in Litauen (1926–1940), in: Ennker und Hein-Kricher, Führer (Anm. 9), S. 111–136; sowie als Übersicht: Georg von Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, München 1977; sowie Romuald Misiunas u. Rein Taagepera, The Baltic States. The Years of Dependence 1940– 1980, Berkeley, Cal. 1983. Zu Litauen vgl. Irmja Zakas, Rasizmas ir Eugenika buržuazinėje Lituvoje [Racism and Eugenics in Bourgeois Lithuania] (Vilnius, 1959). Zu Lettland: V. J. Rikše, „Rassovaja gigiena“ na službe latyšskoj nacionalističeskoj buržuazii [„Racial hygiene“ in service of Latvian nationalist Bourgeoisie], in: Mediko-social’nye izsledovanija (1978), S. 139–142. Zum „Rassestaat“ siehe: Michael Burleigh u. Wolfgang Wippermann, The Racial State: Germany 1933–1945, Cambridge 1991; Björn M. Felder, Eugenics, Sterilisation and the Racial State, in: Björn M. Felder u. Paul J. Weindling (Hrsg.), Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in Interwar Estonia, Latvia and Lithuania 1918–1940, Amsterdam u. New York 2013, S. 5–29. Zu Estland hat Ken Kalling einen großen Beitrag geleistet: Ken Kalling, The Applications of Eugenics in Estonia, Konferenzbeirag: Eugenic, Race and Psychiatry in the Baltic States: A transnational perspective, Riga 2009; ders., Introduction to the History of Estonian Eugenics, in: Annual Report 1998, Tartu University History Museum 3 (1999), S. 31–42; ders., Prof. Juhan Aul and Eugenics, in: Papers on Anthropology 7 (1997), S. 174–180; ders., Racial Issue in Estonian Eugenics, in: Folia Baeriana VII (1999), S. 70–76; ders., The Self-Perception of a Small Nation: The Reception of Eugenics in Interwar Estonia, in: Paul Weindling u. Marius Turda (Hrsg.), Blood and Homeland: Eugenics and Racial Nationalism in Central and SouthEast Europe 1900–1940, Budapest 2007, S. 253–262; ders., Application of Eugenics in Estonia 1918–1940, in: Felder u. Weindling (Hrsg.), Baltic Eugenics (Anm. 11), S. 49–82. Zu Lettland
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Björn M. Felder
LETTLAND: MORD DURCH ERSCHIESSUNGEN Die „Euthanasie“, der Patientenmord der Nationalsozialisten, war die radikale Umsetzung der nationalsozialistischen Rassendoktrin und der Rassenhygiene. Durch die Ermordung biologisch „Minderwertiger“, des so genannten „unwerten Lebens“, sollte der Krankenmord der genetischen „Verbesserung“ der „deutschen Rasse“ dienen und war eine Form der nazistischen Bio-Politik im Sinn von Michel Foucault. Die Durchführung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ erfolgte in den baltischen Staaten analog zur Praxis in den übrigen Gebieten der Sowjetunion, allerdings mit Einschränkungen. Sie folgte zeitlich auf die offizielle Beendigung der „T4-Aktion“ in Deutschland, die aber bereits 1939 mit Aktionen in Polen auf die besetzten europäischen Staaten ausgedehnt worden war.14 Insgesamt fielen dem nationalsozialistischen Krankenmord in den baltischen Staaten über 5200 Menschen zum Opfer, davon 2200 in Lettland und jeweils etwa 1000 in Estland und 1500 in Litauen. Nachgewiesen sind hiervon etwa 4000 durch Krankenakten und Meldungen der Gesundheitsbehörden und Kliniken. Die übrige Zahl ergibt sich aus Schätzung aufgrund der Angaben zu Patientenbewegungen an verschiedenen Kliniken zu unterschiedlichen Zeitperioden.15 Von den übrigen besetzten Gebieten der Sowjetunion unterschied sich die Praxis dahingehend, dass allein in Lettland die Opfer, meist Insassen psychiatrischer Anstalten, erschossen wurden, während in Estland und Litauen die psychisch Kranken systematisch durch Hunger vernichtet wurden. Die Vorgänge in Weißrussland werden in den übrigen Beiträgen dieses Bandes beschrieben. Im altrussischen Raum, dem Gebiet zwischen dem estnischen Narva und Leningrad, erfolgte die Ermordung der psychisch Kranken hauptsächlich durch Erschießungen, Hunger und Giftspritzen, relativ rasch bis zum Sommer 1942 durch die Einsatzgruppe A. In Mogutovo bei Luga ermordete das Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A unter
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vgl. Björn M. Felder, „God forgives – but Nature never will“ – Racial Identity, Racial Anthropology, and Eugenics in Latvia 1918–1940, in: Felder u. Weindling (Hrsg.), Baltic Eugenics (Anm. 11), S. 115–146. Björn Felder, Eugenics and Racial Identity in Latvia: Scientific Transfer and European Zeitgeist 1918–1940. Konferenzvortrag: Eugenic, Race and Psychiatry in the Baltic States: A transnational Perspective, Riga 2009; ders., Lettland (Anm. 1); ders., Mazvērtīgo samazināšana- eigēnika Latvijā [Die Minderwertigen vermindern – Eugenik in Lettland], in: Kultūras Diena, 23. April 2005, S. 16–17. Den Beitrag der lettischen Historikerin Zelče kann man als apologetische Reaktion auf die Arbeit von Felder sehen: Vita Zelče, Vara, zinātne, veslība, un cilvēci. Eigēnika Latvijā [Power, Science, Health and Men. Eugenics in Latvia], in: Latvijas Arhīvi 3 (2006),S. 94–137. Zu Litauen siehe: Björn M. Felder u. Arunas Germanivičius, Eugenics Against State and Church. Juozas Blažys (1890–1939), Eugenics, Abortion and Psychiatry in Interwar Lithuania 1918–1940, in: Felder u. Weindling (Hrsg.), Baltic Eugenics (Anm. 11), S. 203–232. Zu Polen siehe etwa: Volker Rieß, Zentrale und dezentrale Radikalisierung. Die Tötung „unwerten Lebens“ in den annektierten west- und nordpolnischen Gebieten 1939–41, in: Klaus-Michael Mallmann u. Bogdan Musial (Hrsg.), Genesis des Genozids, Darmstadt 2004, S. 127–144. Zu den Opferzahlen in Lettland siehe: Vīksne, Latvijā (Anm.1), Felder, Lettland (Anm. 1); zu Estland: Kalling, Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5); zu Litauen: Felder, National-Socialist Euthanasia (Anm. 8).
Nationalsozialistische Krankenmorde in Estland, Lettland und Litauen
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Karl Jäger 95 psychisch Kranke. Die 500 Insassen der Psychiatrie Černjakoviči in Pleskau (Pskov) wurden bis Frühjahr 1942 ermordet. Aus dem Leningrader Gebiet liegen sowjetische Informationen über die Leningrader Anstalt P. P. KaščenkoKlinik und ihre Außenstelle in Gatčina (Krasnogvardejsk) vor, deren 1300 Patienten im November 1941 umkamen, über eine Einrichtung in Makar’evo, deren Insassen im Dezember 1941 ebenfalls ermordet wurden, sowie über die Psychiatrie in Cholm, deren 800 Patienten von September bis Anfang 1942 vernichtet wurden.16 Überall waren Kräfte der Einsatzgruppe A ausführendes Organ, wobei in einzelnen Fällen auch die sowjetischen Ärzte direkt beteiligt waren und die tödlichen Injektionen vornahmen. Auch in den besetzen baltischen Staaten wurde der Großteil der psychisch Kranken bis Ende 1942 ermordet. In Estland und Litauen forderte das große Hungern zur Jahreswende 1941/42 seine größten Opfer und reduzierte die Zahl der psychiatrischen Patienten drastisch. Die NS-„Euthanasie“ in Lettland kann in drei Phasen eingeteilt werden, und die Ereignisse in Estland und Litauen folgten einer ähnlichen Chronologie: Zunächst die „wilde“ Phase bis Ende Juli 1941, als unkoordiniert und oft auf Initiative einzelner SS-Führer psychisch Kranke ermordet wurden. So war Karl Jäger für die Ermordung der 544 Insassen der lettischen Anstalt in Dünaburg (Daugavpils) im Juli 1941 verantwortlich, unter denen sich auch Kinder eines örtlichen Heims befanden.17 Dies erfolgte in der Phase der Militärverwaltung vor der Etablierung der zivilen „Ostland“-Verwaltung. Im September und Oktober 1941 erfolgte in einer zweiten Phase dann die Selektion der jüdischen Patienten, die aus den Kliniken abgeholt und meist unmittelbar im Anschluss erschossen wurden. Aus der Staatlichen Psychiatrie Sarkankalns wurden etwa 150 Patienten in dieser 16
17
Bundesarchiv Berlin (nachfolgend BArch), R-58/217, Ereignismeldung der Einsatzgruppe A, Nr. 94, 25.9.1941; Insgesamt wurden der Ermordung der psychisch Kranken in Nordrussland bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Vgl. D. D. Fedotov, O gibel duševnobol’nych na territori SSSR, vremenno okkupirovannoj fašistkimi zachvatčiami v gody Velikoj Otečestvennoj voiny, in:Voprocy social’noj i kliničeskoj psichonevrologii (1965), S. 443–459; Angelika Ebbinghaus u. Gerd Preissler, Die Ermordung psychisch kranker Menschen in der Sowjetunion. Dokumentation, in: Götz Aly u. a. (Hrsg.), Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin 1985, S. 75–107; A. P. Zajcev, Leningradskaja psichatričeskaja bol’nica im. P. P. Kaščenko v voennye gody, in: M. M. Kabanova und V. V. Kobaleva (Hrsg.), Sovestkaja Psichatrija v gody Velikoj Otečestvennoj Voiny, Leningrad 1985, S. 111–114; Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, Nr. 3 (Juli 2001), S. 377–440; Ulrike Winkler u. Gerrit Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“. Die Ermordung der PsychiatriepatientInnen in Mogilew 1941/1942, in: Babette Quinkert, Phillipp Rauh u. Ulrike Winkler (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950, Göttingen 2010, S. 75–103; siehe auch die Beiträge von Boris Kovalev und Alexander Friedman in diesem Band. Vīksne, Latvijā (Anm. 1), S. 327–330, Die Opfer aus der Psychiatrie Dünaburg werden in manchen Publikationen doppelt gezählt – etwa Winkler und Hohendorf, Mogilew (Anm. 16), S. 81. Tatsächlich wurden die Patienten nach Aglona gebracht, das in Lettland liegt – nicht in Litauen, wie es im „Stahlecker-Bericht“ heißt – und dort ermordet. Vgl. Stahlecker-Bericht, Dokument L-180, Oktober 1941, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Nürnberg 1948, S. 691; siehe auch BArch, R-58/217, Ereignismeldung Nr. 94, 25. September 1941, S. 314.
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Zeit durch das lettische Arājs-Kommando der Sicherheitspolizei ermordet.18 In der Psychiatrie in Mitau (Jelgava) waren es 45 bis 133 Juden.19 Auch aus der Anstalt Stackeln (Strenči) und der psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Libau (Liepāja) wurden jeweils etwa 15 bis 20 jüdische Patienten durch die deutsche Sicherheitspolizei erschossen.20 Die Vernichtung der nicht-jüdischen Patienten erfolgte dann in einer dritten Phase im Frühjahr und Herbst 1942. Bereits am 8. Januar 1942 wurden etwa 440 Patienten der Psychiatrie in Mitau durch die Sicherheitspolizei abgeholt und in einem benachbarten Waldstück ermordet. Die 368 Patienten der Städtischen Klinik Sarkankalns in Riga ereilte am 29. Januar ein ähnliches Schicksal, so dass die Klinik Ende Januar statt 612 nur noch 152 Patienten ausweisen konnte. In der Anstalt in Stackeln fanden 243 Krankenmorde am 26. März 1942 statt. Die Klinik Augusts Augstums in Riga wurde am 14. April 1942 betroffen, als 243 Patienten um Leben kamen. Im Herbst folgte eine weitere Ermordungswelle, der am 22. Oktober 1942 39 Patienten der psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Libau und weitere 42 Patienten aus Stackeln zum Opfer fielen.21 Unklar ist das Schicksal der Patienten des 1. Städtischen Krankhauses in Riga (Rīgaspilsētas 1. Slimnīca), die an Nerven- und Geisteskrankheiten litten und in verschiedenen Abteilungen untergebracht waren. Für das Jahr 1941 wurden insgesamt 122 psychiatrische und 234 Patienten mit Nervenkrankheiten angegeben. Eine Übersicht für das Jahr 1942 – es bestand Anfang 1943 noch eine neurologische Abteilung – gibt noch die Zahl von 33 psychiatrischen und 124 Patienten mit Nervenleiden an. Somit hätte sich die Zahl um knapp 200 verringert. Im Kontext der NS-„Euthanasie“ im Baltikum muss man auch bezüglich der Städtischen Klinik vom gewaltsamen Tod der psychiatrischen Patienten ausgehen.22 Das grausige Ergebnis in Lettland sind etwa 2200 bis 2400 Opfer der NS-„Euthanasie“ und etwa 200 bis 300 ermordete psychiatrische Patienten jüdischer Herkunft. ESTLAND UND LITAUEN: MORD DURCH HUNGER In den lettischen Nachbarstaaten Estland und Litauen starben in der gleichen Zeit insgesamt etwa 1700 bis 2500 Insassen psychiatrischer Anstalten. Die Mehrheit von ihnen wurde nicht direkt durch Genickschüsse ermordet: Todesursache war hier Unterernährung, die von der deutschen Zivilverwaltung des „Ostlandes“ plan18 19 20 21 22
Vīksne, Latvijā (Anm. 1), S. 334–338; siehe auch die Patientenregistrationsbücher aus Riga: Latvijas Valsts Vēstures archīvs [Historisches Staatsarchiv Lettlands] (nachfolgend LVVA), 2917/1/26, 2917/1/27. Die Ermordungen von 45 Patienten am 2. September 1941 sind belegt, es wurden aber insgesamt 133 jüdische Patienten durch die Sicherheitspolizei abgeholt. Vīksne, Latvijā (Anm. 1), S. 330. Ebd., S. 339 ff. Ebd., siehe auch BArch, R-52/544, Schreiben von H. Marnitz an den Generalkommissar, 5. Januar 1943. Vgl. die Übersichten der 1. Städtischen Klinik in Riga für das Jahr 1941–1942, LVVA 2782/1/56, S. 1 ff.; sowie für 1942: LVVA 2782/1/57, S. 1–95.
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mäßig angeordnet worden war. Patientenmord durch Vernachlässigung und Unterernährung wurde im nationalsozialistischen Deutschland bereits lange vor den „Aktion T4“ praktiziert und war auch nach dem offiziellen Ende der Aktion im Rahmen der „wilden“ Euthanasie bis Kriegsende üblich.23 Dennoch kam es auch in Estland und Litauen zu Erschießungen von psychisch Kranken, die zeitlich und strukturell Parallelen zu den Ereignissen in Lettland aufweisen. Die betrifft vor allem die jüdischen Patienten, die zeitgleich mit der Ermordung der ländlichen jüdischen Bevölkerung und der Ghettoisierung der Stadtbevölkerung erfolgte.24 Aus Estland, wo es kaum jüdische Bevölkerung und damit sehr wenig jüdische Patienten in der Psychiatrie gab, sind einzelne Fälle bekannt: So wurde Doora Kroon aus der Psychiatrischen Klinik der Universität Tartu am 3. September 1941 von der Sicherheitspolizei abgeholt.25 In Litauen wurden zeitgleich durch Karl Jäger 109 jüdische Patienten der Staatlichen Psychiatrie in Kalvarija ermordet, der größten litauischen Psychiatrie der Zwischenkriegszeit. Auch sämtliche jüdische Patienten aus der Abteilung für psychische Krankheiten des Jüdischen Krankenhauses in Vilnius wurden im Oktober 1941 von einer Einheit des Einsatzkommandos 3 unter Joachim Hamann erschossen.26 Im September wurden zudem die jüdischen Insassen sämtlicher Psychiatrien in die Ghettos „entlassen“. Allein aus der Städtischen Psychiatrie in Vilnius betraf dies 61 Personen.27 Man muss davon ausgehen, dass die psychisch Kranken im Ghetto nicht lange überlebt haben, bzw. den ersten Erschießungen zum Opfer gefallen sind. Diese Ereignisse sind auch die einzigen dokumentierten Massenermordungen psychisch Kranker in Litauen. Wie in Estland und Lettland erfolgten sie offensichtlich im Kontext des Holocausts. Für Litauen gibt es aber zudem Hinweise auf Erschießungen einzelner psychiatrischer Patienten, die meist nichtlitauischer Herkunft waren und an die Ermordung der psychiatrischen Patienten unter den russischen Kriegsgefangenen in Deutschland erinnern.28 23 24
25 26 27
28
Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg 1998. Zum Holocaust in Estland siehe Weiss-Wendt, Estonians (Anm. 5); zu Lettland: Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941–1944. The Missing Center, Riga 1996, Felder, Lettland (Anm. 1); zu Litauen: Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941– 1944, 2 Bände, Göttingen 2011. Vgl. das Patientenregistrationsbuch der Psychiatrischen Universitätsklinik Tartu 1940–1948 im Archiv der Universitätsklinik Tartu; zur Ermordung jüdischer Patienten in Estland siehe auch Kalling, Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5), S. 93. Andriušis u. Dembinskas, Euthanasia (Anm. 7), S. 87. Zu Jäger vgl. Wolfram Wette, Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, Frankfurt/M. 2011. Siehe die Patientenregistrationsbücher der Klinik in Vilnius 1939 bis 1942 im Archiv des Vilnius Miesto Psichinos Sveikatos Centras [Zentrum für psychische Gesundheit, Vilnius] (nachfolgend AVMPSC). Ich bin Professor Arunas Germanavičius von der Universität Vilnius dankbar, der mir den Zugang zu diesen Beständen ermöglich hat. Zu den vereinzelten direkten Morden an psychiatrischen Patienten vgl. Andriušis u. Dembinskas (Anm. 7); zu den Morden an den psychisch kranken russischen Kriegsgefangenen vgl. Uwe Kaminsky, Die NS-„Euthanasie“: Ein Forschungsüberblick, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.),Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 269–290.
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Der Großteil der nicht-jüdischen psychisch Kranken in Estland und Litauen starb allerdings an Unterernährung oder deren Folgen, für die die deutsche Zivilverwaltung des „Ostlandes“ verantwortlich war. Es ist allgemein bekannt, dass die Zivilverwaltung die Lebensmittelrationierung für die gesamte Zivilbevölkerung einteilte und festsetzte. Die Lebensmittellage war angespannt und die Vertreter der einheimischen „Selbstverwaltungen“, die „Generaldirektoren“ und „Generalräte“, die nicht als Regierungen sondern Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger eingesetzt waren, protestierten regelmäßig gegen die Unterversorgung der Bevölkerung.29 Die Rationierung für die Normalbevölkerung war bereits gering, doch die chronisch und psychisch Kranken erhielten deutlich weniger. Es existierte eine Hierarchie der Bevölkerungsgruppen und der Kranken, in der das „lebensunwerte Leben“ ganz unten rangierte. Aus Unterlagen der estnischen und litauischen „Selbstverwaltung“ geht hervor, dass sich die Sätze auf 0,43 Reichsmark (Estland), bzw. 1,50 Reichsmark (Litauen) beliefen.30 Die Tagessätze für „normale“ Kranke waren signifikant höher. In Litauen waren es 3,50 RM. Ohne die Hilfe von Verwandten waren die psychisch Kranken dem Tode geweiht. Diese systematische Unterernährung setzte mit der Etablierung der deutschen Zivilverwaltung ein und ist augenfällig aus den Krankenakten ersichtlich. Seit Sommer 1941 sank das Gewicht der Patienten drastisch. Während in den Jahren zuvor die Patienten eher zunahmen, sobald sie in die Klinik aufgenommen wurden, war nun das Gegenteil der Fall. Innerhalb weniger Monate und auch Wochen veränderte sich ihr Gewicht: In einem Fall sank das Gewicht um 30 kg. Meist lag der Gewichtsverlust bei 10 bis 12 kg. In der Regel führte dies zum Tod der Patienten, deren Gewicht zum Zeitpunkt des Todes im Falle von Frauen nicht mehr als 40 kg, bei Männern etwa 50 bis 60 kg betrug. Als Todesursache wurde meist „Herzversagen“ oder ähnliches angeben, oft starben die Patienten aber auch an einfachen Infektionen. Dies erfolgte analog in Estland.31 Feliksas Garičas, der nach einem epileptischen Anfall am 24. Februar 1942 in die Städtische Psychiatrie Vilnius eingeliefert worden war, verlor zum Beispiel insgesamt 16 kg, bis er am 14. Oktober 1942 an „schwachem Herzen“ verstarb: Er wog schließlich 52 kg.32 In der Folge leerten sich die psychiatrischen Anstalten in Estland und Litauen bis zum Ende des Krieges. Zum Teil wurden die Anstalten seit 1942 als Lazarett genutzt, wie es bei der litauischen Psychiatrie in Kalvarija der Fall war.33 In der Psychiatrischen Klinik der Universität Dorpat (Tartu) verblieben von den 110 Pati29 30 31 32 33
Zu Litauen: Lietuvos Centrinis Valstybes Archyvas [Zentrales Staatsarchiv Litauens] (nachfolgend: LCVA), R-627/1/146, 581, Schreiben Matulionis an GK, 9. März 1942. BArch, R-90/285, Haushaltplan der Estnischen „Selbstverwaltung“ für 1943; LCVA, R-627/3/179, Monatsberichte der Psychiatrie Vilnius für 1942; die Unterschiede der beiden Sätze beruhen darauf, dass im Fall von Litauen auch die Pflegesätze eingerechnet wurden. Zu Litauen siehe die Krankenakten der Psychiatrie Vilnius im Bestand: LCVA, R.505/5III/. Zu Estland siehe Kalling, Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5), S. 93–95. Vgl. dessen Patientenakte: Lietuvis Ypratingasis Archyvas [Sonderarchiv Litauens] (nachfolgend: LYA), K1/58/P-5478/3,154–183. LCVA, R-627/1/146, 44, Schreiben von Matulionis an den Generalkommissar, 16. November 1941.
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enten von 1939 lediglich 19. Insgesamt reduzierte sich die Zahl der Patienten in ganz Estland von 1065 im Jahr 1942 auf 435 im Jahr 1944. Die beiden kleineren estnischen Anstalten, das Psychiatrische Krankenhaus in Jämejala in der Nähe der Stadt Viljandi sowie das Pilguse Krankenhaus auf der Insel Ösel (Saaremaa), wurden bereits früher aufgelöst.34 Sowjetische Darstellungen beziffern die Opfer der Hungereuthanasie in Estland auf 570 Personen.35 Eine tatsächliche Opferzahl von etwa 1000 für Estland erscheint aber realistisch. Auch für Litauen ist es schwierig, die genaue Operzahl der NS-„Euthanasie“ zu rekonstruieren. Es existieren nur fragmentarische Angaben über Patienten und Todesfälle in den Anstalten. Auch kann man nicht einzelne Angaben zu den stationären Patienten mit einander verrechnen, da ständig Neuaufnahmen, Entlassungen und Todesfälle erfolgten. Allein die Angaben über tatsächliche Todesfälle oder deren Rekonstruktion mittels der Patientenregisterbücher bzw. Patientenakten könnte eine genaue Zahl ergeben. Da aber auch in Litauen diese Akten für die meisten Anstalten nicht mehr zugänglich sind, ist dies stark erschwert. Die Staatliche Psychiatrie Kalvarija, die größte litauische Anstalt der Zwischenkriegszeit, hatte im Januar 1941 535 stationäre Patienten, doch im November 1944 verblieben hiervon nur noch 49. Offizielle Angaben über Todesfälle sind mit 160 allein für 1942 überliefert, damals waren etwa 250 Patienten dort. Für die Zeit von Januar 1943 bis März 1944 lassen sich 69 weitere Todesfälle rekonstruieren.36 Die Abteilung für Neurologische und Geistige Krankheiten an der Vytautas-Magnus-Universität Kaunas unter Direktor VincasVeičiūnas gab für 1942 bei einer Anzahl von 50 stationären Betten 23 Tote an.37 In Vilnius an der Klinik für Neurologie und innere Krankheiten starben nach Angaben ihres Direktors Jonas Kairiūkštis 71 Patienten von November 1941 bis Mai 1944, bei durchschnittlich etwa 80 stationären Patienten.38 An der Städtischen Psychiatrie Vilnius in der Vasaros Straße, deren Patienten sich bereits im Juni 1941 auf etwa 250 reduziert hatten, ist die Zahl von 169 Toten für die Zeit von Sommer bis Dezember 1941 dokumentiert, die allerdings unvollständig ist. Für das Jahr 1942 wurden von Direktor Antanas Smalstys 386 Todesfälle gemeldet. Im Jahr 1943 folgten weitere 120 und von Januar bis März 1944 weitere 27 Todesfälle.39 Insgesamt ergibt dies 695 Tote, eine Zahl, die furchtbar genug, nicht aber vollständig ist. Eine sowjetische Untersuchung fand für den Zeitraum der deutschen Besatzung die Zahl von 875 Toten an der Psychiatrie in Vilnius.40
34 35 36 37 38 39 40
Kalling, Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5), S. 93–95. J. Saarma u. E. Karu, Razvitie psichatrii v Tartuskom Universitete,Tallinn 1981, S. 53. Vgl. die Berichte der Klinik an die Hauptgesundheitsverwaltung in Kaunas: LVCA, R627/3/149. S. Urbas, V. D. Un-to Nervų ir Psichikos ligų kliniikos 1942 m. veikla, in: Lietuviškoj Medicina XXIV, no. 7–9 (1943), S. 395–401. Siehe die Klinikberichte an die Hauptgesundheitsverwaltung in Kaunas: LVCA, R-627/3/178. Siehe die Berichte aus Vilnius an die Hauptgesundheitsverwaltung in Kaunas: LVCA, R627/3/179; sowie die Patientenregisterbücher von 1939 im AVMPSC. Siehe die Untersuchungsakten der Litauischen Staatssicherheit zu Smalstys: LYA, K1/58/P-11430.
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Wie hoch war nun die tatsächliche Zahl der Opfer in Litauen? In einer Übersicht von August 1941 schätzt Direktor Veičiūnas die Anzahl der psychisch Kranken in Litauen auf etwa 6000 und die Anzahl der „Schwachsinnigen“ auf 15.000. Zum Zeitpunkt des Berichts seien etwa 1240 geistig Kranke und 100 chronisch „schwachsinnige Idioten“ in Anstalten untergebracht. Veičiūnas gibt hierbei acht Institutionen an. Wir haben aber nur zu den genannten vier lückenhafte Informationen.41 Es fehlen Angaben etwa für die Kolonien der Psychiatrien Kalvarija und Vilnius, die seit 1941 aufgelöst und in die großen Anstalten zurückverlegt wurden. In den Kolonien waren leichtere Fälle untergebracht, die dort arbeiteten oder auch von Bauern gegen Bezahlung aufgenommen worden waren. Im Fall der Psychiatrie Vilnius starben alle der 194 dokumentierten Patienten, die aus den Kolonien dorthin zurückverlegt worden waren, in kürzester Zeit.42 Insgesamt sind für die Krankenanstalten und Kolonien –1018 Opfer der NS-„Euthanasie“ in Litauen dokumentiert, wobei die tatsächliche Ziffer vermutlich bei 1200 bis 1500 Opfern liegen muss. DIE TÄTER: SICHERHEITSPOLIZEI UND „OSTLAND“-VERWALTUNG Die Erschießungen der psychisch Kranken in Lettland erfolgten auf Initiative der Einheiten der Einsatzgruppe A. Es ist nicht ersichtlich, ob hier ein „Führerbefehl“ vorlag, doch erfolgten die Morde systematisch und analog zu den übrigen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Die Rolle der Wehrmacht ist noch unklar. Doch auch die Zivilverwaltung war in diesen Prozess involviert, unterlagen die einheimischen Psychiatrien doch deren Einflussbereich. Harry Marnitz, Leiter der Abteilung II Gesundheit und Volkspflege beim Generalkommissar in Riga, berichtet über eine gemeinsame deutsche Ärztekommission, die über die Selektion der Opfer, bei den „Aktionen“ im Frühjahr 1942 in Lettland entschied und an der neben dem Sicherheitsdienst auch die „Ostland“-Verwaltung beteiligt war.43 In allen drei baltischen Staaten hatten die einheimischen Gesundheitsbehörden bzw. die Leitungen der Psychiatrien Angaben über die Anzahl, Diagnose und Krankengeschichte der psychiatrischen Patienten machen müssen.44 Offensichtlich wurden hier die Informationen gesammelt, die für die Auswahl verwendet wurden. Die Morde im Herbst 1942 jedoch wurden allein von der Sicherheitspolizei in Lettland unter Dr. Rudolf Lange durchgeführt, ohne dass die „Ostland“-Verwaltung davon in Kenntnis gesetzt worden war. Marnitz war darüber sehr erzürnt, allerdings mehr über die Tatsache, dass er übergangen worden war als darüber, dass hier Morde an Patienten durchgeführt wurden. 41 42 43 44
LCVA, R-627/3/44, 52, Bericht Veičiūnas, 15. August 1941. Vgl. Felder, National-Socialist Euthanasia (Anm. 8). BArch, R-52/544, Schreiben von Marnitz an den Generalkommissar, 5. Januar 1943. So etwa in Litauen im August 1941 und nochmals im Dezember 1941: LCVA, R-627/1/146, 718, Schreiben des GK Kauen an die litauische Hauptgesundheitsabteilung, 15 Dezember 1941; für Lettland berichtete der Psychiater Hermanis Saltups hierzu: LVA, 1986/2/P-7280, Verhör mit der Staatssicherheit, 29. November 1944 und 14. August 1945.
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In einem Bericht der Einsatzgruppe A wird als Begründung für die Mordaktionen in Lettland einmal ins Feld geführt, die Wehrmacht hätte um die „Säuberung“ gebeten, um in den Psychiatrien dringend benötigte Lazarette einzurichten. Zudem seien durch die Kriegseinwirkung die Pflegekräfte geflohen, die Geisteskranken seien von Rotarmisten aufgewiegelt und bewaffnet worden und stellten eine Bedrohung für die Bevölkerung dar.45 Während die letztere Begründung als klarer Nonsens bezeichnet werden kann, kann die erste Argumentation ebenfalls in Zweifel gezogen werden. Die „Ostland“-Verwaltung argumentierte etwas anders und grundsätzlicher. So soll Walter-Eberhard von Medem, der Gebietskommissar von Mitau (Jelgava), vor lokalen Ärzten für die NS-„Euthanasie“ geworben haben, kurz bevor dort die Krankenmorde stattfanden. Auf einer Versammlung von Ärzten wollte er die lettischen Mediziner zu einer Affirmation bewegen, wie ein Zeuge berichtete. Von Medem argumentierte vom kriegswirtschaftlichen Standpunkt: Die psychisch Kranken würden wichtige Ressourcen blockieren, die für den Kriegseinsatz unabdingbar seien.46 Dies zeigt klar den Willen zur systematischen „Euthanasie“ in der deutschen Zivilverwaltung, weder protestierte der Gesundheitsbeamte und Arzt Marnitz gegen die Krankenmorde – im Frühjahr 1941 plädierte er vielmehr für eine rasche Durchführung47–, noch finden sich anderweitig Proteste. Wie gezeigt, waren die deutschen Stellen in Estland und Litauen Hauptexekutoren der Hunger„Euthanasie“. Adrian von Renteln, der Generalkommissar von Litauen, hatte auf Anfrage eines litauischen Arztes der litauischen Gesundheitshauptverwaltung ausrichten lassen: „da in Deutschland unheilbar, psychisch und venerologisch Kranke keine zusätzliche Nahrung erhalten […] wird auch in Litauen […] keine zusätzliche Nahrung zugelassen“.48 Die gemeinsame Überzeugung und das gemeinsame Bemühen von Mitarbeitern des Reichssicherheitshauptamtes und des Ostministeriums werden deutlich, die psychisch Kranken in den besetzten Gebieten zu vernichten. Zuletzt wurde die Ansicht vertreten, NS-Krankenmorde seien aus einem zynischen „Pragmatismus“ entstanden, gemeinsam von Einsatzgruppen und Zivilverwaltung ausgehandelt und der Kriegswirtschaft geschuldet, wie Uwe Kaminsky am Beispiel Polens darlegte. Auch wurde für die „Euthanasie“ in Deutschland jüngst wirtschaftliche Motivation bei den Tätern ausgemacht, da hauptsächlich „unproduktive“ Kranke Opfer der Mordaktion geworden seinen.49 In gewisser Weise folgt diese Argumentation der Legitimation der Täter. Sie verkennt die eugenische Grundlage jenes Denkens, das durch die Indoktrinierung im Sinne der NS-„Rassenhygiene“ geprägt war. Die Kategorisierung eines psychisch Kranken als „unproduktiv“ und 45 46 47 48 49
Vgl. Stahlecker-Bericht, Dokument L-180, Oktober 1941, S.691; siehe auch BArch, R-58/217, Ereignismeldung Nr. 94, 25. September 1941, S. 314. Dāvids Bīskaps, Dzīves vējos: Ārsta dzīves un darba atminas, Chicago 1961., S. 359. LVVA, P-69/1/20,25, Schreiben von Marnitz an Bönner, 30. April 1942. LCVA, R-627/1/146, 584, Schreiben von Matulionis. Vgl. Kaminsky, NS-„Euthanasie“(Anm. 28); eine Übersicht zur „ökonomischen“ Argumentation gibt Marion Hulverscheidt, Zusammenfassung der Podiumsdiskussion: „Die Selektion: Neue Erkenntnisse? “, in: Maike Rotzoll u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer: Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, S. 325–330.
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damit „lebensunwert“ wurzelt in den eugenischen und sozialdarwinistischen Debatten um „Degeneration“ und „Minderwertigkeit“ seit dem späten 19. Jahrhundert und ist von diesem nicht zutrennen. In der eugenisch-sozialdarwinistischen Sichtweise belasten „unproduktive Esser“ den Staat und gefährden ihn im „Kampf“ der Staaten untereinander. Aufgrund der allgegenwärtigen, systematischen Ermordung psychisch Kranker und dem offensichtlichen Konsens der unterschiedlichen Dienststellen ist die NS-„Euthanasie“ als Produkt der NS-Ideologie, speziell der „Rassenhygiene“ zuzuordnen, das sich in den Köpfen der Beteiligten von Wehrmacht, „Ostland“-Verwaltung und Sicherheitspolizei festgesetzt hatte. DIE BALTISCHE EUGENIK DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Bei der Ankunft der nationalsozialistischen Besatzer waren eugenischer Denkstil, die Wahrnehmung von psychisch Kranken als „minderwertige“ Individuen sowie die Diskussion um die mögliche Tötung „unwerten Lebens“ in den baltischen Staaten bekannt. Gerade die staatlichen bio-politischen Projekte in Estland und Lettland, die seit der Mitte der 1930er Jahre vorangetrieben wurden, hatten eugenische und rassenbiologische Ideen weit verbreitet. Bereits um die Jahrhundertwende begannen die bio-medizinischen Eliten mit der Debatte um den Neodarwinismus, Eugenik und die biologische Nation. Die baltischen Mediziner und Gesundheitspolitiker der Zwischenkriegszeit waren nicht selten in Westeuropa oder den USA geschult worden. Die meisten waren, da sie an Universitäten in Dorpat (Tartu/Jur’ev) und St. Petersburg studiert hatten, durch den russischen Vorkriegsdiskurs geprägt worden. Dieser war, viel stärker als bisher angenommen, vom Neodarwinismus bestimmt. Gerade die deutsche Rassenhygiene beeinflusste die russische Debatte am Vorabend des Ersten Weltkrieges stark.50 Der Selbstwahrnehmung der baltischen Nation als „kleine Völker“ folgend, sahen viele Akteure der Nationalbewegung die Eugenik als notwendige Maßnahme zur Erhaltung der eigenen „Rasse“ im darwinistischen Kampf der Nationen. Erste landessprachliche Publikationen zur Eugenik erschienen noch vor dem Ersten Weltkrieg, wie die von Hermanis Buduls 1909.51 Nach dem Ersten Weltkrieg boomten eugenische Vorstellungen vor allem in Estland, wo bereits 1924 eine Eugenische Gesellschaft gegründet wurde. Aber auch in Lettland und Litauen waren eugenische Denkmuster nicht nur unter der bio-medizinischen Elite weit verbreitet.52 Generell folgte man den westeuropäischen De50
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Björn Felder, Rassenhygiene in Russland. Der Hygieniker und Bakteriologe Evgenij A. Šepilevskij (1857–1920) und die Anfänge der Eugenik im Russischen Zarenreich. The Hygienist and Bacteriologist Evgenii A. Shepilevsky and the Beginning of Eugenics in Russia, in: Ortrun Riha u. Marta Fischer, Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. Internationale Tagung. Leipzig, 29.9.–1.10.2010, Aachen 2011, S. 335–365. Buduls, Lauliba un zilweka dsihwes mehrķis (Anm. 3); zur eugenischen Vorkriegsdebatte siehe Kalling, Self-Perception (Anm. 12); zu Buduls: Felder, Lettland (Anm. 1), S. 281 ff. Zu Estland siehe Kallling, Self-Perception (Anm. 12); zu Lettland: Felder, Lettland (Anm. 1); zu Litauen: Felder u. Germanivičius, Eugenics against State and Church (Anm. 13).
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batten. Aber vor allem die deutsche „Rassenhygiene“ war sehr einflussreich, nicht nur, weil sie im Baltikum stark rezipiert wurde: viele junge Wissenschaftler wurden in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland ausgebildet. Vor allem der psychiatrische und neurologische Nachwuchs in Lettland pilgerte zu Ernst Rüdin an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München.53 Die Popularisierung der Eugenik in einer breiten Öffentlichkeit erfolgte in den 1930er Jahren und steht im Zusammenhang mit der Ausformung des baltischen Autoritarismus. Autoritäre Regime wurden 1926 in Litauen durch Antanas Smetona, 1934 in Estland unter Konstantin Päts und in Lettland unter Kārlis Ulmanis eingeführt.54 Die Diktaturen folgten dem politischen Trend in Mittel- und Ostmitteleuropa. Der italienische Faschismus war bezüglich der politischen Neustrukturierung und der inszenierten Ästhetik, etwa bei der Uniformierung der Gesellschaft und den Massenveranstaltungen, hierbei Vorbild. Wenn sie auch in Ansätzen totalitäre Strukturen zeigten, fehlte den baltischen Regimen doch die Radikalität bei der gewaltsamen Umsetzung der politischen Ziele und der Verfolgung der Gegner. Gemeinsam war ihnen eine völkische Ideologie von „Blut und Boden“, die damit verbundene Ausprägung zum „Rassestaat“ und der Modernisierungsgedanke. Der „Rassestaat“ wurde durch eine Dominanz eugenischer und bio-politischer Paradigmen in der politischen Grundlage und Zielsetzung des Staates charakterisiert. Die Nation wurde als biologische Einheit – als Rasse – gesehen, deren Reinheit und Homogenität bewahrt oder wiederhergestellt werden sollte.55 Die nationale Palingenese, die biologische Wiedergeburt der Nation, war erklärtes Ziel der Regime. Begleitet durch einen Agro-Nationalismus, der den Kleinbauern als Ideal glorifizierte, sollten vor allem eugenische Instrumente die bio-politischen Ziele umsetzen. Neben pro-natalistischen Maßnahmen, die eine Fortpflanzung biologisch erwünschter Gruppen förderten, wurden in Estland (1936) und Lettland (1937) national eugenische Projekte entwickelt, deren Hauptelement eugenische Abtreibungs- und Sterilisationsgesetze bildeten.56 Begleitet wurde die praktische Eugenik durch die Etablierung eugenischer Forschungsinstitute und der staatlich lancierten eugenischen Propaganda. So wurde 1938 mit dem Tautas dzīvā spēka pētīšanas Institūts ein eugenisches Institut gegründete, das an die Lettische Universität Riga angegliedert wurde. In Tartu wurde 1939 ein Lehrstuhl für Eugenik eingerichtet.57 In Litauen erfolgte keine weitere Umsetzung eugenischer Maßnahmen, offensichtlich im Hinblick auf die starke Katholische Kirche. Ende der 1930er Jahre stellte die staatliche Propaganda die Wirksamkeit eugenischer Maßnahmen verhalten in Frage, propagierte gleichzeig aber ebenfalls einen biologischen Nationalismus.58 Die bio-medizinischen Eliten freilich forderten seit den 1920er Jahren ra53 54 55 56 57 58
Vgl. Felder, Lettland (Anm. 1), S. 281 ff. Vgl. Anm. 9. Vgl. hierzu Marius Turda, Modernism and Eugenics, Houndsmill 2010. Vgl. Kalling, Self-Perception (Anm. 12), Felder, Lettland (Anm. 1). Ebd. Vgl. Vygantas Vareikis, Anti-Semitism in Lithuania (Second half of 19th – First half of 20th century), in: Liudas Truska u. Vygantas Vareikis (Hrsg.),The Preconditions for the Holocaust.
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dikale eugenische Maßnahmen. Immerhin erfolgte 1934 die Einrichtung einer eugenischen Beratungsstelle in Kaunas. Auch wurde das neue Abtreibungsgesetz von 1936 insofern reformiert, als nun auch Abtreibungen nach „medizinsicher“ Indikation in eugenischer Absicht möglich wurden.59 Eugenische Vorstellungen und deren Implikation bezüglich der unterschiedlichen biologischen Wertigkeit von Individuen waren zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in den baltischen Staaten weit verbreitet und wurden massiv von der biomedizinischen Elite unterstützt. Euthanasie, die Tötung chronisch Kranker, wurde freilich in keiner der baltischen Debatten zur Eugenik favorisiert. Gleichwohl wurden gerade psychisch Kranke als „minderwertig“ etikettiert und galten unter Psychiatern als „lebende Tote“, „sozial gefährlich“ oder „antisozial“.60 Die Implementierung jener Denkstile und Denkmuster erleichterte den nationalsozialistischen Besatzern die Durchführung ihrer „rassenhygienischen“ Maßnahmen in den besetzten baltischen Staaten und führten partiell zu einer direkten Unterstützung der NS„Euthanasie“. DIE REAKTIONEN DER EINHEIMISCHEN AKTEURE AUF DIE NS-„EUTHANASIE“ Die Verankerung des eugenischen Denkens in der baltischen Bevölkerung verhinderte zunächst offenen Protest oder Widerstand gegen die Krankenmorde. Resistenz entwickelte sich erst 1943, nachdem die „Euthanasie“ zum Großteil beendet war, und stand im Zusammenhang einer generellen nationalen und antideutschen Artikulation. Die Paradigmenkonformität wird auch deutlich im Falle der Ermordungen der psychiatrischen Patienten in Dünaburg. Hier verhandelte der leitende Arzt der Psychiatrie mit deutschen Stellen über das Leben seiner Patienten und konnte zehn Insassen durch Sterilisierungen zunächst vor dem Tode bewahren. Später wurden diese allerdings ebenfalls ermordet.61 Direktor Bergs handelte offensichtlich aus der Motivation heraus, seine Schützlinge zu retten, doch mit den Zwangssterilisationen folgte er den Handlungskonzept der Nationalsozialisten. Gleichwohl sollen einzelne Psychiatriedirektoren wie Dr. Buduls aus der Klinik Sarkankalns im Vorfeld der Selektionen, als er ahnte, dass die Ermordung seiner Patienten anstand, einige von ihnen entlassen haben, um sie zu retten.62 In Estland
59 60 61 62
Anti-Semitism in Lithuania (Second half of the 19th Century – June 1941), Vilnius 2004, S. 119–172. Juozas Blažys, Eugenika, in: Lietuviškosios Enciklopedijos [Litauische Enzyklopädie], Bd. 7, Kaunas 1939), S. 1250–1252; zur Abtreibung siehe Felder u. Germanivičius, Eugenics against State and Church (Anm. 13). Verners Kraulis, Zur Vererbung der hysterischen Reaktionsweise, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychatrie 136, Heft 1 u. 2 (1931), S. 174–258. Vīksne, Latvijā (Anm. 1), S. 329. LVA, 1986/2/P-280, 38, Aussage Saltups im Verhör mit der Sowjetischen Staatssicherheit, 5. Oktober 1945.
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versuchten die Anstaltsverwaltungen teilweise durch eigene Lebensmittelproduktion Abhilfe zu schaffen.63 Die landeseigenen „Selbstverwaltungen“ in Estland und Litauen waren direkte Exekutoren der Hunger-„Euthanasie“, so dass man hier von einer direkten Affirmation sprechen muss. Die estnische Gesundheitsverwaltung etwa riet den Leitern der Einrichtungen, aufgrund der knappen Lebensmittel Selektionen vorzunehmen. Folgerichtig veranschlagte sie auch in ihrem Haushalt für das Jahr 1943 eine niedrige Summe für die Versorgung der psychisch Kranken und eine vergleichsweise sehr hohe Summe von 3.015 RM für die „Beerdigung von Verstorbenen“ aus Psychiatrien.64 Weder aus Estland noch aus Litauen sind offizielle Beschwerden bekannt, die speziell die Lage der Psychiatrien betreffen. Die bekannten Proteste gegen die Lebensmittelversorgung nennen nicht die besonders prekäre Lage der Psychiatrien. Im Gegenteil, Dr. Balys Matulions, Leiter der litauischen Gesundheitshauptverwaltung, gab auf eine Anfrage eines Anstaltsdirektors bezüglich der geringen Versorgung der psychisch Kranken kommentarlos die deutsche Stellungnahme weiter. Eine Form von Kritik kann man aus diesem Schreiben nicht ablesen. Nach dem Krieg allerdings behauptete Matulionis, in seiner Funktion als Leiter der litauischen Gesundheitsbehörde hätte er die Ermordung der psychisch Kranken verhindert.65 Er gab an, im Frühjahr 1942 durch Dr. Obst, den Leiter der deutschen Gesundheitsabteilung beim Generalkommissar, über die anstehende Aktion informiert worden zu sein. Daraufhin habe er den nationalen Widerstand organisiert und habe in einem weiteren Gespräch mit dem Generalkommissar von Renteln die Deutschen zu überzeugen vermocht, dass die Mordaktion nur negative Folgen für sie hätte: „Der Generalkommissar dankte sogar für so eine ernste Analyse und Erläuterung des Problems und setzte selbst sogleich ein Schreiben an den Reichskommissar auf, sich meiner Argumente bedienend und schlug vor, dass der Beschluss zur Vernichtung der psychisch Kranken in Litauen widerrufen wird.“66
Die Geschichte klingt wenig plausibel, da der Zeitpunkt relativ spät ist und es kaum vorstellbar scheint, dass die Deutschen mit den litauischen Stellen die Mordaktionen abstimmten; zudem waren bei den „Euthanasie“-Morden die Einsatzgruppen die Hauptakteure, nicht die Mitarbeiter der Zivilverwaltung – laut Matulionis war dies ein Befehl von Ostminister Rosenberg. Auch finden sich keine weiteren Belege für Matulionis’ Darstellung. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall gewesen zu sein. Im Januar 1942, als das Hungersterben in den litauischen Psychiatrien seinen Höhepunkt erreichte, wandte sich Matulionis an die deutschen Stellen mit der Bitte, 113 nicht-litauische psychiatrische Patienten zu deportieren. Er folgte der Initiative 63 64 65 66
Kalling,Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5), S. 94. Kalling,Estonian Psychiatric Hospitals (Anm. 5), S. 94. Die Beerdigungskosten anderer Krankenhäuser und Heime lag allenfalls bei wenigen hundert RM: siehe BArch, R-90/285, Haushaltsplan der estnischen „Landeseigenen Verwaltung“ für 1943. Balys Matulionis, Sveikatos Reikalų Tvaarkymas Lietuvoje Vok. Okup. Metu, in: Sėja, no. 3 (1958a),S. 9–17; ders., Sveikatos Reikalų Tvaarkymas Lietuvoje Vok. Okup. Metu, in: Sėja, no. 4 (1958b), S. 17–23. Ebd., S. 18.
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des Leiters der Psychiatrie in Vilnius Antanas Smalstys, der dies bereits im Dezember vorgeschlagen hatte. Matulionis schrieb an den Generalkommissar: „Anliegend sende ich Ihnen das Verzeichnis der psychisch-kranken Personen, welche im Psychiatrischen Krankenhaus in Vilnius u. in den Patronaten Rudiškės-Valkininkai untergebracht sind. Die Kranken sind aus verschiedenen Orten Polens (Warschau, Posen, Sosnowitz, u. a.) u. aus der Sowjetunion (angekommen im Jahre 1941). Ich bitte den Herrn Generalkommissar anordnen zu wollen, dass diejenigen Kranken (Ausländer), welche nicht aus Litauen sind, auf ihren früheren Wohnort hinüberzuschaffen, denn die Verpflegung u. Fürsorge der Kranken fordert große Geldausgaben“.67
Diese Begebenheit hatte tatsächlich furchtbare Folgen: Am 9. und 10. Oktober 1942 wurden über 20 Insassen der Psychiatrie in Vilnius „entlassen“.68 Alle gleichzeitig um 7.00 Uhr morgens und alle von der besagten Deportationsliste. Man kann davon ausgehen, dass die Opfer von der Sicherheitspolizei abgeholt und ermordet wurden. Sie waren die letzten Überlebenden der Liste von Matulionis. Das Gebiet Vilnius war von 1920 bis 1939 ein Teil Polens, von daher war der Anteil von polnischen und anderen nicht-litauischen Patienten in Vilnius sehr hoch. Ganz offensichtlich wollte Matulionis zusammen mit Smalstys unter dessen Patienten eine „ethnische Säuberung“ durchführen – dies mag eine generelle Tendenz in der litauischen „Selbstverwaltung“ widerspiegeln, doch argumentierte Matulionis dabei ganz ähnlich dem ökonomisch-eugenischen Denkstil der Nationalsozialisten. Die Psychiatrie in Litauen birgt noch ein weiteres dunkles Kapitel: Es handelt sich hierbei um die „Therapierung“ der psychiatrischen Patienten. In Litauen wurden, wie überall in Europa, die neuen somatischen Therapien angewandt: Schockund Pyrotherapien. Im ersten Fall sollten bei den Patienten durch Mittel wie Cardiazol oder durch Elektroschocks künstliche epileptische Anfalle provoziert werden, die zu einer „Verbesserung“ führen sollten. Mit der Fiebertherapie sollten, etwa durch Impfung mit Malaria, Formen der Syphilis wie die Progressive Paralyse, „geheilt“ werden. Die Malaria-Fieberschübe sollten das Immunsystem anregen und gleichzeitig die Syphiliskeime bekämpfen. Beide Therapieformen waren erst wenige Jahre alt und daher noch im Versuchsstadium. Bis auf den Elektroschock, der heute noch umstritten ist, gelten die anderen Behandlungsformen als überholt und unethisch. Besonders schwerwiegend im Fall der Psychiatrie Vilnius war, dass diese kraftraubenden Therapieformen an Sterbenden angewandt wurden. Einige kamen sogar direkt unter der Therapie ums Leben.69 Zudem wurden in Vilnius verschiedene Versuche durchgeführt, die auch nach dem damaligen Stand der Medizin als unsinnig und unlogisch gelten dürften, etwa die Fiebertherapie bei „Schwachsinn“, also bei geistiger Behinderung, ein Leiden, das nicht bakteriell bedingt ist,70 67 68 69 70
LVCA, R-627/1/46, 63, Schreiben von Matulionis, 23. Januar 1942. Vgl. die Patientenregistrationsbücher der Psychiatrie in Vilnius, Band 1939–1941, Band 1940– 41 u. Band 1941–42 im AVMPSC. Vgl. ausführlich: Felder, Baltic Eugenics (Anm. 13); zu den Therapieformen siehe Edward Shorter, Shock Therapy. A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness, New Bruniswick (New Jersey), London 2007. Vgl. die Krankenakten eines „unbekannten Imbecilen“ aus Vilnius: LYA, K1/58/P-5478/3/1617.
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die Impfung mit Typhus oder die Anwendung von Elektroschock bei Epileptikern.71 Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei den Versuchen unter Direktor Smalstys und seinem Stellvertreter Napoleonas Indrašius nicht um Sadismus handelte, so gehören sie zum Phänomen der entfesselten Wissenschaften. Das Leid der Patienten wurde ignoriert oder die Tatsache, dass Patienten zum Sterben verdammt waren, motivierte die Ärzte noch zusätzlich. Ein Zutun deutscher Stellen konnte nicht nachgewiesen werden. Zudem wurden die einzelnen Therapieformen von Smalstys und anderen auf Ärzteversammlungen 1942 und 1943 auch vorgestellt und diskutiert.72 Indrašius verfasste nach dem Krieg eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema der Therapierung der Schizophrenie mittels Elektroschock.73 Der Psychiater Vincas Vaičiūnas, Leiter der Klinik für Nerven- und Geisteskrankheiten an der Universitätsklinik Kaunas, machte kein Geheimnis daraus, dass die Sterblichkeit in den Psychiatrien während des Kriegs sehr hoch war. Doch war er 1943 stolz darauf, dass die „Behandlung“ der Patienten, also der Einsatz der genannten somatischen Therapien, weiter ging wie zuvor und die Therapie der psychiatrischen Patienten ebenso „normal“ verlief, wie in Friedenszeiten.74 Smalstys und Indrašius kamen nach dem Krieg ins Visier der sowjetischen Staatssicherheit, wobei Smalstys als „anti-sowjetisches“ Verhalten die Gründung einer antisowjetischen Partisaneneinheit 1941 vorgeworfen wurde und die angeblichen Tötungen psychiatrischer Patienten eher zweitrangig waren. Smalstys verbrachte mehrere Jahre als politischer Gefangener im Gulag und konnte erst 1955 zurückkehren, wurde aber 1969 vollständig rehabilitiert.75 Indrašisus wurde verdächtigt, Patienten mittels Elektroschock getötet zu haben, und verbrachte 1950 ein halbes Jahr in Untersuchungshaft der Staatssicherheit in Vilnius. Überraschender Weise wurde er freigelassen, was für die Zeit des Stalinismus ein eher ungewöhnlicher Vorgang war. Ausschlaggebend waren die medizinischen Gutachten, die den Elektroschock zur „normalen“ Therapie erklärten – es ist auch möglich, dass er über einflussreiche Freunde verfügte.76 Die Therapien wurden im Übrigen auch in anderen litauischen Psychiatrien angewandt, allerdings lassen sich mögliche Versuche wie in Vilnius nicht nachweisen, da dort Patientenregistrationsbücher und Patientenakten fehlen. In Estland ist ähnliches zu vermuten, da hier die Elektroschocktherapie erst in den 1940er Jahren intensiv erprobt wurde.77 Doch hatte es wohl auch weitere strukturelle und sowjetspezifische Gründe, warum weder die Menschenversuche mittels der somatischen 71 72 73 74 75 76 77
Siehe diverse Krankenakten aus Vilnius: LCVA, 505/5III/; sowie im Bestand LYA, K1/58/P-5478/3. Viktoras Vaičiūnas, Psichinių ligonių gydymas, in: Lietuviškoj Medicina XXIV, no. 1–2 (1943),S. 6–21. Vgl. dessen MGB-Akte: LYA, K-1/58/P-5478. Ebd. Vgl. die NKVD-Akte von Smalstys: LYA, K-1/58/P-11430. Vgl. die MGB-Akte Indrašius: LYA, K-1/58/P-5478. Saarma u. Karu, Razvitie Psichatrii v Tartuskom Universitete (Anm. 35); J. Saarma, Sada aastat psühhiaatria kateedrit ja kliinikut Tartus [Hundret years of the Katheder for Psychiatry in Tartu], in: Nouk Eesti Tervish 24 (1981), S. 351–359.
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Therapien noch das Hungersterben in Litauen und Estland Gegenstand einer breiteren Untersuchung oder Ermittlung wurde: Zum einen erfolgte in der Sowjetunion Mitte der 1930er Jahre eine paradigmatische Wende in der Psychiatrie hin zur biologischen Psychiatrie, in deren Folge die somatischen Therapien zur hauptsächlichen Therapieform avancierten und daher nicht fragwürdig erschienen. Zum anderen ereignete sich während des Krieges in der gesamten Sowjetunion ein großes Hungersterben in den Psychiatrien ganz unabhängig von deutschem Einfluss und muss daher den sowjetischen Beamten als „normaler“ Vorgang erschienen sein.78 Insgesamt sind diese Ereignisse weniger eine litauische oder baltische Besonderheit; sie zeigen vielmehr, wie die baltischen Psychiater in die Debatte um die „Minderwertigkeit“ der psychiatrischen Patienten integriert waren und wie stark der neue nationalsozialistische Diskurs das inhumane Handeln der Psychiater förderte. Im Jahr 1943 kam es dann zu einer Debatte um „Euthanasie“ sowohl in Lettland als auch in Litauen. In Lettland begannen Angehörige nach dem Schicksal ihrer Verwandten bei der lettischen Gesundheitsbehörde nachzufragen. Dort wollte man sich von den Krankenmorden distanzieren und riet den Bürgern, sich an die deutsche Sicherheitspolizei zu wenden.79 Von offizieller Stelle folgte dann auch die offizielle Distanzierung von den Morden: in seinem Buch „Über die Bedeutung von Eugenik im Leben des Volkes und des Staates“ verurteilte Teodors Upners die Krankenmorde als barbarisch: „Das Leben ist unser höchstes Gut […] Wir sind alles Mitglieder des lettischen Volkes, und jede Lette ist uns teuer“.80 Upners, ein Schüler von Buduls und Rüdin, war einer der radikalsten lettischen Eugeniker, der etwa Zwangssterilisationen forderte.81 „Euthanasie“ lehnte er aber ausdrücklich ab, und zwar nicht aus ethischen Gesichtspunkten, sondern aus pragmatischen: der Krankenmord gefährde das nationale eugenische Projekt in Lettland, indem er die Bevölkerung verunsichern würde.82 Upners argumentierte also „national“ und schwamm auf der anti-deutschen Welle mit, die spätestens 1943 die lettische Bevölkerung erfasst hatte. Ähnlich verlief die Debatte in Litauen. Hier rief Jonas Šliupas 1943 in der bekanntesten bio-medizinischen Zeitschrift „Medicinas“ zum Patientenmord an „chronisch Kranken“ auf. Für Šliupas waren diese Menschen mitleidenswerte Geschöpfe und „unproduktive“ Esser, die so von ihrem „Leid“ erlöst und die Gesellschaft von deren wirtschaftlichen Last befreit würde.83 Šliupas war keine unbedeutende Persönlichkeit. Der betagte Arzt und Politiker war eine der führenden 78 79 80 81 82 83
Benjamin Zajicek, Scientific Psychiatry in Stalin’s Soviet Union: The Politics of Modern Medicine and the Struggle to define „Pavlovian“ Psychiatry, 1939–1953, Chicago, Ill. 2009. Felder, Lettland (Anm. 1), S. 295 f. Teodors Upners, Eugenikas Nozīme Tautas un Valsts Dzīvē [The Meaning of Eugenics for the Life of the Nationa and the State], Riga 1943, S. 25 f. zu Upners vgl. Felder, Lettland (Anm. 1), S. 289 ff. Teodors Upners, Tautas veselība eugeniskā skatījumā [National health from eugenic perspective], in: Ārstnicības Žurnals 3 (1943), S. 197–202. Jonas Šliūpas, Ko mums reikia? [What do we need?], in: Lietuviškoj Medicina XXIV, no. 5–6 (1943), S. 363–365.
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Akteure der litauischen Unabhängigkeitsbewegung vor dem Ersten Weltkrieg gewesen und war eine berühmte und einflussreiche Person im unabhängigen Litauen. Zudem war er überzeugter Eugeniker.84 Mit seinem Appell provozierte er eine Reaktion der Katholischen Kirche, zudem verurteilte eine Versammlung aus Ärzten, an der aber auch andere Berufsgruppen teilgenommen hatten, am 27. August 1943 Šliupas’ Thesen.85 In Litauen erfolgte die Verurteilung der Euthanasie in erster Line als Protest gegen die deutsche Besatzung und ist als Akt des Widerstandes bzw. der nationalen Selbstvergewisserung zu werten. Dies bedeute kein grundsätzliches Ausscheren aus dem Denkstil der „Minderwertigkeit“ psychisch Kranker. Dr. Indrašius, der die Versuche in Vilnius durchführte, war unter den Unterzeichnern,86 während Upners in Lettland Humanismus generell ablehnte. EPILOG Die nationalsozialistischen Krankenmorde in den baltischen Staaten wurden von den Mitgliedern der Einsatzgruppen und der „Ostland“-Verwaltung, die zum Teil bei der Planung kooperierten, initiiert und ausgeführt. Grundlage war die ideologische Vorprägung bezüglich der „rassenhygienischen“ Agenda des NS-Regimes bei den deutschen Protagonisten. Die einheimische „Selbstverwaltung“ wurde im Fall der Hunger-„Euthanasie“ in Estland und Litauen automatisch zum Handlanger der Mordpolitik, indem die stark eingeschränkten Lebensmittelrationierungsvorgaben kritiklos umgesetzt wurden. Es bleibt die Frage, warum nur in Lettland die psychisch Kranken erschossen wurden, während man sie in Estland und Litauen gezielt verhungern ließ, war doch die Erschießung die übliche Vorgehensweise, zumindest auf dem östlichen Kriegsschauplatz. Mary Seemen hat vorgeschlagen, die rassenbiologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten in Betracht zu ziehen.87 Folgt man der rassenanthropologischen Hierarchisierung der baltischen Völker durch die Nationalsozialisten, läuft die „Euthanasie“-Praxis im Baltikum dieser zuwider. So wurden Esten vor Letten und Litauern als rassisch am „hochwertigsten“ betrachten.88 Somit hätte eine Ermordung der psychisch Kranken eher in Litauen, dem „Zentrum“ der „Ostbaltischen Rasse“, denn in Lettland erfolgen müssen. Ich schlage daher ein personenbezogenes Modell vor, das aber auch den polykratischen Charakter des NS-Besatzung Regimes im „Ostland“, der NS-Rassenbiologie sowie die Beziehungen zwischen Besatzern und Einheimischen einbezieht. In Estland war mit Karl Litzmann eine 84 85 86 87 88
Vgl. ders., Šis tas dėl mūsų rasės sveikatingumo [Some Thoughts on the Health of our Race], in: Laisvoji mintis, no. 8 (1934), S. 2–4. Viktoras Vaičiūnas, Del Dr. Jono Šliupas straipsnio „Ko mums reikia? “, in:Lietuviškoj Medicina XXIV, no. 7–9 (1943), S. 385–395. Ebd. Mary Seeman, The Fate of Psychiatric Patients in Belarus during the German Occupation, in: International Journal of Mental Health 35, no. 3 (2006), S. 75–79. Felder, Lettland (Anm. 1), S. 195–202.
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sehr moderate Persönlichkeit Generalkommissar, der sehr darauf bedacht war, mit den Einheimischen zusammenzuarbeiten. Ihm stand mit Martin Sandberger, dem Leiter der Sicherheitspolizei, ein kühler Stratege zur Seite, mit dem ausnahmsweise ein Einvernehmen bestand und der ebenfalls an einem reibungslosen Ablauf der Besatzung interessiert war. In dieser Konstellation, vor dem Hintergrund des guten deutsch-estnischen Beziehungen während der Besatzung, hätten Krankenmorde das Verhältnis nachhaltig gestört und wäre den deutschen Interessen zuwider gelaufen.89 In Lettland waren mit dem Reichskommissar Hinrich Lohse und Generalkommissar Otto Drechsler zwei typisch NS-Kolonialbeamte im Dienst, die auch ihre „rassische“ Überlegenheit gegenüber den Letten gern zur Schau stellten. Dr. Rudolf Lange, Leiter der Sicherheitspolizei, war ein ideologischer und bio-politischer Hardliner, der nicht zufällig an der Wannseekonferenz teilnahm.90 So war es kein Zufall, dass in Lettland die psychisch Kranken erschossen wurden. Generalkommissar Adrian von Renteln und Karl Jäger als Leiter der Sicherheitspolizei in Litauen waren nicht weniger versierte Nationalsozialisten als ihre Kollegen in Lettland. Doch kam in Litauen zwei wichtige Faktoren hinzu: zum einen die starke Katholische Kirche, zum anderen ein relativ starker antideutscher Widerstand, der sich schon viel früher und markanter als in den benachbarten baltischen Staaten artikuliert hatte.91 So erfolgte die „Hungereuthanasie“ in Litauen ganz offensichtlich wegen des besonders schlechten deutsch-litauischen Verhältnisses, während in Gegensatz zu Polen die Einheimischen ernster genommen wurden – möglicherweise aus „rassischen“ Gründen. Die einheimischen Ärzte und Gesundheitsbeamten konnten oder wollten gegen die NS-Krankenmorde nicht protestieren. Im Fall von Litauen nutzten sie die Krankenmorde zur „ethnischen Säuberung“ in der Hauptstadt, wenn auch nur im Bereich der Psychiatrie. Psychiater wie Smalstys sahen sich zu einer entfesselten Wissenschaft ohne ethische Grenzen ermächtigt. Wichtigstes Verbindungsglied war die Rezeption der eugenischen Debatte und deren Implementierung in den baltischen Gesellschaften.
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Ich danke Anton Weiss-Wendt, mit dem ich die Konstellation Litzmann-Sandberger diskutiert habe. Peter Klein, Dr. Rudolf Lange als Kommandant der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland, in: Wolf Kaiser (Hrsg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin 2002, S. 125–134. Seppo Myllyniemi, Die Neuordnung der Baltischen Länder 1941–44. Zum nationalsozialistischen Inhalt der deutschen Besatzungspolitik, Helsinki 1973, S. 260–269.
EUGENIK UND „RASSENHYGIENE“ IM WEISSRUSSISCHSOWJETISCH-POLNISCH-DEUTSCHEN SPANNUNGSFELD Andrei Zamoiski Der Begriff „Eugenik“ wurde durch den britischen Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton (1822–1911) geprägt. Als „Eugenik“ bezeichnete er eine Wissenschaft, welche sich mit denjenigen Faktoren befasste, die die Erbanlagen einer „Rasse“ verbesserten.1 Vor dem Ersten Weltkrieg verbreiteten sich diverse eugenische Theorien sowohl in Europa als auch in Nordamerika, wobei sich die auf „Verbesserung der menschlichen Natur“ bedachten Eugeniker primär mit einer „gesunden Ehe“, mit Abtreibungen, Sozial- und Erbkrankheiten auseinandersetzten. Neben der von Galton maßgeblich beeinflussten „positiven Eugenik“ entwickelte sich auch die „negative Eugenik“, deren Anhänger die Beseitigung der „schlechten Erbanlagen“ befürworteten. Es wurde dabei insbesondere über die Sterilisation diskutiert, welche etwa im US-Bundesstaat Indiana schon ab 1909 und später auch in Europa (Schweden) angewendet wurde.2 Die Entwicklung der „negativen Eugenik“ erreichte ihren Höhepunkt im „Dritten Reich“: Unter dem Banner der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ wurden in Deutschland und danach in den besetzten Gebieten – auch in Weißrussland – grausame Verbrechen wie „Euthanasie“, Zwangssterilisation oder medizinische Versuche verübt.3 Um diese verbrecherische Politik der Nationalsozialisten in Weißrussland besser zu verstehen, scheint es angebracht, sie im Kontext der Geschichte des Landes zu untersuchen: Daher geht der vorliegende Beitrag auch auf Eugenik in Weißrussland vor dem deutschen Einmarsch ein und beleuchtet zudem die Rolle der „Rassenhygiene“ in der Propaganda der weißrussischen Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges. Es handelt sich dabei um Themenkomplexe, die bisher weder in der westlichen noch in der weißrussischen Forschung aufgegriffen wurden. Doch ist gerade der Fall Weißrussland aufgrund der besonderen historischen Entwicklung dieses ehemaligen westlichen Randgebietes des Russischen Zarenreichs in der Zwischenkriegszeit sehr interessant: Weißrussland wurde in dieser turbulenten Epoche 1 2
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Francis Galton, Eugenics: its definition, scope, and aims, in: The American Journal of Sociology 10 (1904) H. 1, S. 1–25. Anne Rogers u. David Pilgrim, Sociology of Mental Health and Illness, New York 2005, S. 8; Nancy Ordover, American eugenics: race, queer anatomy, and the science of nationalism, Minneapolis 2003, S.133–134; Niels Lynoe, Race Enhancement Through Sterilization. Swedish Experiences, in: International Journal of Mental Health 1 (2007), S. 17–25. Paul J. Weindling, Nazi Medicine and the Nuremberg Trials: From Medical War Crimes to Informed Consent, New York 2005, S. 5; Robert J. Lifton, The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, New York 1986, S.42.
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zwischen der UdSSR, wo Eugenik in den 1920er Jahren geduldet und danach verfolgt wurde, und Polen, wo sie sich in den 1920er und 1930er Jahren ungehindert entwickeln konnte, aufgeteilt und später durch das „Dritte Reich“ besetzt und zum Schauplatz der nationalsozialistischen Mordpolitik gemacht.4 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden die in der UdSSR und in Polen herausgegebene eugenische Literatur, relevante Publikationen sowjetischer und polnischer Presse aus dem Untersuchungszeitraum sowie der nationalsozialistischen Besatzungspresse und außerdem Archivquellen polnischer, sowjetischer und deutscher Provenienz ausgewertet. EUGENIK IN SOWJETWEISSRUSSLAND? Im Gegensatz zu West- und Mitteleuropa war Eugenik im Russischen Zarenreich vor 1917 weniger stark verbreitet. Einzelne russische Wissenschaftler beschäftigten sich allerdings unter dem Einfluss britischer und deutscher Eugeniker mit der Vererbungslehre. Zu ihnen zählte etwa Professor V. V. Polovcev, der 1915 – während des Ersten Weltkrieges (!) – auf die große Bedeutung einer „gesunden Ehe“ hinwies und ihren Beitrag zur Bewahrung der „Reinheit und Qualität des Volkes“ hervorhob. Seine These untermauerte Polovcev mit Beispielen Moses’ aus dem Pentateuch.5 Eine große Bedeutung maß der „gesunden Ehe“ auch der Psychiater E. Kopystynskij aus der weißrussischen Stadt Mahilëŭ bei. In seinem unmittelbar nach der Oktoberrevolution verfassten Bericht für das lokale Zemstvo (Landstand) erörterte er die „negativen Folgen“ der im Zarenreich verbotenen Ehen zwischen „gesunden Menschen“ und „psychisch Kranken“. Der Verfasser warnte dabei vor einer „Entartung der Bevölkerung“, die sich durch eine intensive Aufklärung vermeiden lasse.6 In der Sowjetzeit setzte Kopystynskij seine Karriere in der Kiewer Psychiatrie fort und veröffentlichte ein Handbuch „Nervenkrankheiten und psychiatrische Erkrankungen“.7 Dort erlebte er unter der deutschen Okkupation die Ermordung 4
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Zu Eugenik in Osteuropa und UdSSR: Mark Adams, Eugenics in Russia. 1900–1940, in: ders. (Hrsg.), The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil and Russia, New York u. Oxford 1990, S. 153–216; Loren Graham, Science and Values. The Eugenics Movement in Germany and Russia in the 1920’s, in: The American Historical Review 82 (1977), S. 1133–1164; Nikolai Krementsov, From ‚Beastly Philosophy’ to Medical Genetics: Eugenics in Russia and the Soviet Union, in: Annals of Science 68 (2011), H. 1, S. 61–92; Vsevolod Bashkuev, Soviet Eugenics for National Minorities: Eradication of Syphilis in Buriat-Mongolia as an Element of Social Modernisation of a Frontier Region 1923–1928, in: Björn M. Felder u. Paul J. Weindling (Hrsg.), Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in Interwar Estonia, Latvia and Lithuania 1918–1940, Amsterdam u. New York 2013, S. 261–286; E. Pčelov, Rodoslovnaja genial’nosti: iz istorii otečestvennoj nauki 1920-ch gg., Moskau 2008; V. Babkov, Zarja genetiki čeloveka. Russkoe evgeničeskoe dviženie i načalo genetiki čeloveka, Moskau 2008, S. 697 ff. V. Polovcev, Problema nasledstvennosti kak naučnaja schema, Novorossijsk 1915, S. 30. Evgenij Kopystynskij, Zadači Mogilevskogo Gubernskogo Zemstva v oblasti organizacіi psichіatričeskoj pomošči naselenіju Mogilevskoj Gubernіi v Belorussіі, Mahilëŭ 1918, S. 23. Evgenij Kopystynskij, Nervovі ta psichіčnі chvorobi: Pіdručnik dlja prof. med. škіl seredn’ogo dopomіžnogo medpersonalu, Kiew u. Charkiv 1929.
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von Patienten durch die Besatzer und wurde nach der Befreiung von der sowjetischen Seite in dieser Angelegenheit als Zeuge vernommen.8 Wie eine „gesunde Familie“ aussehen sollte, glaubten auch die weißrussischen Christdemokraten 1920 zu wissen. Diese vom Katholizismus stark geprägte, in Sowjetweißrussland verbotene und im polnischen Westweißrussland aktive Partei verurteilte in ihrem Programm entschlossen Mischehen und Abtreibungen. Es wurde eine Bestrafung von Medizinern gefordert, die Abtreibungen durchführten.9 Während sich der Psychiater Kopystinskij über eine „Entartung der Bevölkerung“ sorgte und die Christdemokraten sich für die „gesunde Familie“ einsetzten, war nach der Oktoberrevolution in Moskau und Petrograd eine rasante Entwicklung der Eugenik zu beobachten: In Moskau wurde noch 1917 das dem Volkskommissariat für Gesundheitswesen Sowjetrusslands unterstellte und durch den Genetiker und Biologen Nikolaj K. Kol’cov geleitete Institut für Experimentelle Biologie eröffnet, das auch eine Abteilung für Eugenik erhielt. Vier Jahre später übernahm Kol’cov die Leitung der Russischen Eugenischen Gesellschaft (REO), an deren Sitzungen übrigens auch der Volkskommissar für Gesundheitswesen Sowjetrusslands Nikolaj A. Semaško teilnahm. Ab 1922 gab die Gesellschaft ihr eigenes Periodikum Russkij evgeničeskij žurnal („Russische eugenische Zeitschrift“) heraus.10 In Petrograd war der Genetiker Jurij A. Filipčenko, Inhaber des Lehrstuhls für Genetik an der lokalen Universität, die treibende Kraft der eugenischen Bewegung. Das von Filipčenko im März 1921 ins Leben gerufene Büro für Eugenik arbeitete eng mit den Moskauer Kollegen zusammen und veröffentlichte seine eigenen „Mitteilungen“ (Izvestija Bjuro po evgenike).11 In der ersten Hälfte der 1920er Jahre erreichte die bisher ausschließlich in den großen Metropolen Moskau und Petrograd etablierte sowjetische Eugenik auch die Sowjetukraine und die russische Provinz: Eugenische Gesellschaften – REO-Zweigstellen – entstanden in Kiew und Odessa sowie in der russischen Stadt Saratov.12 Sowjetische Eugeniker forschten im Bereich der Vererbung und Genetik und versuchten, ihre Lehre der offiziellen bolschewistischen Ideologie anzupassen und dadurch ihre Verbreitung in der UdSSR zu begünstigen. So wurde betont, dass der bolschewistische Staat von der Eugenik profitieren könne, denn letztere helfe, „menschliches Material besserer Qualität“ zu entwickeln. Diese Bemühungen brachten in den 1920er Jahren einen gewissen Erfolg: Eugenische Literatur konnte nun legal veröffentlicht werden. Die sowjetischen Eugeniker pflegten Kontakte mit Kollegen im Ausland, insbesondere in Deutschland, und beteiligten sich an internationalen Kongressen.13 Einzelne Vorschläge von Eugenikern – etwa medizinische 8 9 10 11 12 13
N. Lebedeva (Hrsg.), Njurnbergskij process. Prestuplenija protiv čelovečnosti, Bd. 5, Moskau 1991, S. 239. Adam Stankevіč, Z Boham da Belarusі. Zbor tvoraŭ, Vilnius 2008, S. 514. Nikolaj Kol’cov, Kak izučajutsja žiznennye javlenija, Moskau 1928, S. 41 ff.; B. Astaurov u. P. Rokickij, Nikolaj Konstantinovič Kol’cov, 1872–1940, Moskau 1975, S. 100. Jurij Filipčenko, Čto takoe evgenika, Petrograd 1921, S. 29 ff. Adams, Eugenics in Russia (Anm. 4), S. 166 f. Paul J. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge 1993, S. 433; Adams, Eugenics (Anm. 4), S. 166.
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Untersuchungen künftiger Eheleute vor der Eheschließung und eine intensive Aufklärungsarbeit mit ihnen – wurden tatsächlich umgesetzt. 1925 wurden heiratende Männer und Frauen zum Beispiel verpflichtet, sich gegenseitig über den Gesundheitszustand ihres Partners bzw. ihrer Partnerin zu informieren. Diese Maßnahme, die übrigens auch im sowjetweißrussischen „Gesetzbuch über Ehe, Familie und Vormundschaft“ (1927) verankert wurde, bestand jedoch in der Regel nur auf dem Papier.14 Das erwähnte Gesetzbuch erfüllte darüber hinaus aber eine weitere Forderung der sowjetischen Eugenik: Die Eheschließung zwischen „gesunden“ und „psychisch kranken“ Menschen wurde erheblich erschwert. In den späten 1920er Jahren festigte sich die stalinistische Diktatur in der UdSSR. In dieser Zeit kam es zu einer „antieugenischen Wende“. Die Eugenik wurde einer vernichtenden Kritik ausgesetzt. Einzelne Forscher reagierten auf diese neue Entwicklung mit einer schonungslosen (Selbst)Kritik. Der Eugeniker Vasilij N. Slepkov warf zum Beispiel der Mehrheit seiner Kollegen vor, „zu leichtgläubig“ gewesen zu sein und die Theorien der „westlichen bürgerlichen Eugenik“ ohne „gebührende marxistische Kritik“ rezipiert zu haben.15 Slepkovs Kollege Michail V. Volockoj griff den prominentesten sowjetischen Eugeniker Nikolaj Kol’cov an: Dieser sei daran schuld, dass die sowjetischen Werktätigen die Eugenik als eine „bürgerliche Wissenschaft“ wahrnähmen und daher unterschätzten.16 Die von den Eugenikern erhoffte lindernde Wirkung der schonungslosen Selbstkritik blieb jedoch aus. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre verschlechterte sich die Lage der Eugenik und ihrer Anhänger in der UdSSR weiter: Die Russische Eugenische Gesellschaft in Moskau und ihre Zweigstellen wurden geschlossen.17 Die sowjetische Propaganda befasste sich zunehmend mit Eugenik nach der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und der damit verbundenen rasanten Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen: Während vor 1933 in erster Linie die Eugenik in den USA verurteilt wurde, stand die „faschistische Rassenhygiene“ in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Mittelpunkt. Auf diese „klassenfeindliche pseudowissenschaftliche faschistische Lehre“ gingen etwa der Minsker Philosoph Semën Vol’fson und weitere sowjetische Autoren ein. In ihren wissenschaftlichen Werken bzw. Propagandabroschüren und in der Presse schilderten sie die Einführung der Nürnberger Rassengesetze, thematisierten die in Deutschland propagierte „Überlegenheit der arischen Rasse“, berichteten mit Abscheu über die Tätigkeit deutscher Lehrer für „Rassenhygiene“ und beleuchteten außerdem die von der sowjetischen Eugenik der 1920er Jahre überwiegend abgelehnte und im „Dritten Reich“ betriebene Zwangsterilisation.18 14 15 16 17 18
Sobranie Zakonov BSSR. Kodeks Zakonov o Sem’e, Brake i Opeke, Minsk 1927, Artikel 27. Vasilij Slepkov, Evgenika. Ulučšenie čelovečeskoj prirody [Eugenik. Die Verbesserung der menschlichen Natur], Moskau u. Leningrad 1927, S. 164. Michail Volockoj, Klassovye interesy i sovremennaja evgenika, Moskau 1925, S. 29 f. Krementsov, From ‚Beastly Philosophy‘ to Medical Genetics (Anm. 4), S. 72 ff.; Babkov, Zarja genetiki čeloveka (Anm. 4), S. 697 ff. L. Bernar, Fašystskaja Germanija – očag varvarstva i mrakobesija [Faschistisches Deutschland – Brutstätte der Barbarei und des Obskurantismus], Moskau u. Leningrad 1936, S. 25–26; Sjamёn Val’fson (= Semën Vol’fson), Suprac’ rasavych tėoryj [Gegen die Rassentheorien],
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Dabei wurde die Zwangsterilisation als Bestandteil des „faschistischen Klassenkampfes“ gegen die Arbeiterklasse dargestellt. So betonte etwa der sowjetische Psychiater G. G. Karanovič in seinem Beitrag auf dem zweiten Kongress der sowjetischen Psychiater in Moskau 1936, die Zwangssterilisation sei eine „Waffe [der Faschisten] im Kampf gegen die ausgebeuteten Arbeiter und eine Form der Klassenabrechnung“.19 Ehemalige Eugeniker befanden sich in den 1930er Jahren in einer sehr gefährlichen Lage. Ihnen wurde vorgeworfen, mit der „Rassenhygiene“ zu sympathisieren und somit Handlanger des Nationalsozialismus zu sein. Die Eugeniker versuchten verzweifelt, ihre Vergangenheit öffentlich zu leugnen und ihre Forschungen im Bereich der medizinischen Genetik und der Genetik von Kulturpflanzen fortzusetzen. Mehrere Wissenschaftler wurden verhaftet und erschossen. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal des bereits genannten Eugenikers Vasilij Slepkov (1902–1937), der Ende der 1920er Jahre einen Forschungsaufenthalt in Berlin wahrgenommen hatte. In den 1920er Jahren hatte Slepkov die Einführung des Faches „Eugenik“ in sowjetischen Bildungseinrichtungen vorgeschlagen, ebenso die Ausbildung von Lehrkräften für Eugenik und die Eröffnung eugenischer Büros in der sowjetischen Provinz. 1933 wurde dieser Professor aus Kazan’ und Autor einer Abhandlung über Eugenik verhaftet, nach Ufa verbannt und 1937 hingerichtet.20 Wäre das ambitionierte Projekt Slepkovs verwirklicht worden, hätte es wahrscheinlich auch in Minsk und anderen weißrussischen Städten in den 1920er Jahren ein Büro für Eugenik gegeben. Dazu kam es aber nicht. Anhand der ausgewerteten Quellen lassen sich keine Spuren der sowjetischen eugenischen Bewegung in Sowjetweißrussland feststellen: Hier fehlte eine REO-Zweigstelle. Auch in den sowjetischen eugenischen Zeitschriften findet man keine Beiträge von Autoren aus Weißrussland. Unbekannt ist, wie und ob überhaupt Ausgaben dieser Periodika und eugenischer Literatur aus Moskau oder Leningrad in der BSSR rezipiert wurden. Diskussionen von Medizinern und weiteren Wissenschaftlern aus Weißrussland über die eugenische Thematik aus den früheren 1920er Jahren sind vereinzelt überliefert.21 Von der Verfolgung von Eugenikern in Moskau und Leningrand in den
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Minsk 1935, S. 2 ff. Zu Vol’fson siehe Andrei Zamoiski, Professor Semën Vol’fson – sluga i žertva stalinskoj filosofii, in: Joanna Schiller-Walicka (Hrsg.) Rozprawy z dziejów oświaty, Bd. L, Warschau 2013, S. 183 f.; Alexander Friedman, Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941: Propaganda und Erfahrungen, S. 351 ff. Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. (= Fond) Р-8009, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 46, L. (= List) [Blatt] 130. Andrej Ermolaev, Istorija genetičeskich issledovanij v Kazanskom universitete, Kazan 2004, S. 49 ff. Im Januar 1921 veröffentlichte die Zeitung Socha i molot („Hakenpflug und Hammer“) aus Mahilëŭ einen Artikel über eine bevorstehende wissenschaftliche Tagung der Ärzte-Sektion der Medizinischen Gewerkschaft der Stadt. Eines der Themen war die Eugenik und ihre Bedeutung als „eine neue Lehre in der medizinischen Wissenschaft, nämlich die Möglichkeit, die menschliche Natur zu verbessern.“ Nach Angaben der Redaktion wurde erwartet, dass die Tagung beim Publikum großes Interesse auslöste. Po Mogilevu. Sredi vračej, in: Socha i molot, [Mahilëŭ] v. 22.1.1921, S. 4.
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1930er Jahren waren weißrussische Wissenschaftler demnach vermutlich nicht direkt betroffen. Kann man aber daraus schließen, dass Sowjetweißrussland eine Republik ohne Eugenik war? Diese Frage soll differenziert beantwortet werden. In den 1920er Jahren gab es in der BSSR – in einer Republik, die im wissenschaftlichen Leben der UdSSR eine eher marginale Rolle spielte und in der es an Medizinern chronisch mangelte – keine organisierte eugenische Bewegung. Gleichzeitig waren lokale Mediziner (Evgenij Kopystynskij, Psychiatier Aleksandr Lenc22), Intellektuelle (Christdemokraten) und weitere Bürger unmittelbar nach der Oktoberevolution von eugenischem Gedankengut geprägt. Dies bestätigt etwa der Beitrag von Andrej Voronov aus dem Dorfsowjet von Ul’janavičy in der aus dem Gebiet Vicebsk stammenden Zeitung Krest’janskaja gazeta („Bauernzeitung“) (1925). Voronov hob darin die von der sowjetischen Eugenik geforderte Notwendigkeit der medizinischen Untersuchung heiratswilliger Männer und Frauen hervor. Der Verfasser vertrat die Meinung, werde eine Krankheit wie Syphilis verheimlicht, sei dies eine große Gefahr nicht nur für die junge Familie, sondern auch für ihre Umgebung, denn eine solche Familie könne kranke Kinder in die Welt bringen. Stolz berichtete Voronov, dass künftige Eheleute in seinem Dorfsowjet medizinisch untersucht würden, während dies in anderen Dorfsowjets bedauerlicherweise vernachlässigt werde.23 Die Entwicklung der Eugenik und die Verbreitung eugenischer Ansichten in Sowjetweißrussland in den 1930er und Anfang der 1940er Jahre lässt sich anhand der zur Verfügung stehenden Quellen nicht rekonstruieren. In Bezug auf diese Epoche sollte man jedoch bedenken, dass es unter den Bedingungen der stalinistischen Gewaltherrschaft brandgefährlich war, „konterrevolutionäre“ eugenische Ansichten offen zu äußern. Auf jeden Fall kann die These aufgestellt werden, dass lokale Mediziner, Wissenschaftler und auch weitere Einwohner der Republik, welche die bolschewistische Presse lasen und sich für die Situation im „Dritten Reich“ interessierten, mit der in der Sowjetunion bzw. in der BSSR ausführlich dargestellten „Rassenhygiene“ vertraut waren. EUGENIK IM POLNISCHEN WESTWEISSRUSSLAND In den polnischen Gebieten, die vor dem Ersten Weltkrieg zum Deutschen Kaiserreich und zur Donaumonarchie gehört hatten, entwickelte sich die Eugenik unter dem starken Einfluss der im deutschsprachigen Raum verbreiteten Theorien und wurde etwa in der Posener Presse als eine Lehre dargestellt, welche die Gefahr der „Entartung“ des Volkes beseitigen könne.24 Im nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen polnischen Staat war Warschau das Zentrum der eugenischen Bewegung. 22 23 24
Aleksandr Lenc (= Alexander Lentz), Kriminal’nye psiсhopaty [Kriminalistische Psychopathen], Leningrad 1927, S. 59. Zu Lenc siehe den Beitrag von Andrei Zamoiski über Psychiater in Weißrussland in diesem Band. Andrej Voronov, Nužen medicinskij osmotr, in: Krest’janskaja gazeta [Vicebsk] v. 31.8.1925, S. 5. Eugenika, in: Kurier Poznański [Posen] v. 27.9.1917, S. 5–6.
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Polnische Eugeniker konzentrierten sich auf die Bekämpfung sozialer und psychischer Krankheiten sowie auf die Propagierung einer „gesunden Ehe“. 1917 entstand die Polskie Towarzystwo Walki ze Zwyrodnieniem Rasy, Nierządem i Chorobami Wenerycznymi („Polnische Gesellschaft zur Bekämpfung von Rassenentartung, Armut und Geschlechtskrankheiten“), die auch eine eugenische Sektion hatte.25 Fünf Jahre später wurde die Polskie Towarzystwo Eugeniczne (PTE, „Polnische Eugenische Gesellschaft“) gegründet, die 1939 etwa 10.000 Mitglieder hatte.26 Die Gesellschaft vereinigte hauptsächlich polnische Intellektuelle aus Großstädten und Ärzte, insbesondere Militärärzte. Eugenische Gesellschaften wurden auch in den ostpolnischen Gebieten, etwa in Westweißrussland, organisiert. So gründete der Arzt Jan Walewski im Oktober 1919 eine eugenische Gesellschaft in Białystok (ab 1923 eine PTE-Zweigstelle). Eine weitere PTE-Zweigstelle war in Wilna aktiv. Es gab auch Pläne, eine dritte PTE-Zweigstelle in Brėst zu eröffnen.27 Zu den wichtigsten polnischen Eugenikern der Zwischenkriegszeit zählte der Arzt Leon Wernic, der in seinen Schriften die Betreuung der Familie und den Kampf gegen die „Entartung“ als die wichtigsten Ziele der Eugenik herausstellte.28 Seine Beiträge über die Entwicklung der Eugenik in Polen und in anderen Ländern wurden in den führenden medizinischen Zeitschriften des Landes und vor allem im eugenischen Periodikum Zagadnienia Rasy („Rassenfragen“) veröffentlicht. PTE-Mitglieder traten zudem mit öffentlichen Vorträgen über eugenische Themen (Vererbung, psychische Krankheiten) für Mediziner, Intellektuelle, Studenten, Militärs etc. in Warschau, in weiteren Großstädten des Landes und auch in Westweißrussland auf. So plante der Mediziner und Hauptmann der polnischen Armee, Gracjan Roguski, später Chirurg und Frauenarzt in Warschau, im November 1933 in Brėst einen kostenlosen Vortrag über „Bevölkerungspolitik und Verbesserung der Rasse in Polen“.29 Polnische Eugeniker beschränkten sich nicht nur auf die Propagierung ihrer Ansichten in der Fachpresse und im Rahmen öffentlicher Vorträge. Ähnlich wie ihre sowjetischen Kollegen forderten sie die obligatorische eugenische Beratung für zukünftige Eheleute. Sie entwarfen ausführliche eugenische Projekte, die Mitte der 1930er Jahre dem Ministerium für soziale Fürsorge zur Verfügung gestellt, von 25 26
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W trosce o przyszlosc, in: Polskie T-wo Eugeniczne w Warszawie [Warschau] v. 10–18.6.1936, S. 5. Magdalena Gawin, Rasa i nowoczesność. Historia polskiego ruchu eugenicznego 1880–1953, Warschau 2003, S. 276. Zur Geschichte der Eugenik in Polen siehe Maciej Górny, World War One and National Characterology in East-Central Europe, in: Felder u. Weindling, Baltic Eugenics (Anm. 4), S. 243 ff. J. Szczygieł-Rogowska u. D. Boćkowski, Zdarzyło się dnia. Kalendarium wydarzeń polityczno-gospodarczych i kulturalnych w Białymstoku w latach 1919–1939 na podstawie lokalnej prasy, Białystok 2001, S. 15. Leon Wernic, Ruch eugeniczny w Polsce i jego zagadnienia aktualne, in: Nowiny Lekarskie 21 (1928), S. 745–752. Rocznik Lekarski Rzeczypospolitej Polskiej. R. 2, Warschau 1936, S. 84; Rocznik Lekarski Rzeczypospolitej Polskiej. R. 3, Warschau 1938, S. 743. Siehe auch Evgenij S. Rozenblat (Hrsg.), Brest v 1919–1939 gg.: dokumenty i materialy, Brėst 2009, S. 200.
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diesem jedoch abgelehnt wurden.30 In den 1930er Jahren verfolgten die polnischen Eugeniker aufmerksam die Entwicklung der „Rassenhygiene“ im „Dritten Reich“, pflegten Kontakte mit Kollegen aus Deutschland und anderen Ländern und diskutierten sehr kontrovers über die Sterilisation. Während einzelne Militärärzte und Psychiater diese Praxis befürworteten, lehnte die katholische Kirche in Polen die Sterilisation vehement ab.31 Eine Zwischenposition nahmen der Psychiater Witold Łuniewski und seine Kollegen ein. Sie unterstützten die Sterilisation in bestimmten Fällen aus eugenischen und gesellschaftlichen Gründen (als Strafe), missbilligten jedoch die nationalsozialistische Zwangssterilisation, welche die Rechte des Individuums verletze.32 Eine weitere Besonderheit der polnischen Eugenik bestand darin, dass die PTE den polnischen Charakter des Staates und die dominante Stellung des polnischen Bevölkerungsanteils in der multiethnischen Polnischen Republik mit „eugenischen Mitteln“ stärken wollte.33 Die durch eugenisches Gedankengut beeinflusste und auch in Westweißrussland aktive Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej („Gesellschaft für jüdische Gesundheitsfürsorge“, TOZ) beschäftigte sich hingegen mit der Verbesserung der demographischen Situation von Juden und betrieb dabei ebenfalls eugenische Propaganda.34 Abschließend bleibt festzuhalten, dass eugenische Ideen in Westweißrussland deutlich intensiver als im sowjetischen Teil des Landes propagiert wurden. Dafür sorgte die polnische eugenische Bewegung, die polnischstämmige Intellektuelle und Mediziner in Ostpolen von ihrer Lehre überzeugen wollte und damit auch Erfolg hatte. Dies zeigt zum Beispiel ein Beitrag des Arztes Š. Markus in der weißrussischen Frauenzeitschrift Rabotnica i kalhasnica Belarusi („Arbeiterin und Kolchosbäuerin Weißrusslands“), der Ende 1939 – nach der „Befreiung“ Westweiß30 31 32
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Archiwum Akt Nowych w Warszawie [Zentralarchiv für moderne Akten in Warschau] (nachfolgend AAN), Z. (= Zespól) [Bestand] 15, T. (= Teczka) [Akte] 532, K. (= Kartka) [Blatt] 14. Władysław Wicher, Eugenika w świetle zasad chrześcianskich, in: Ruch Katolicki [Warszawa] 11 (1935), S. 521–531. Magdalena Gawin, Polish Psychiatrists and Eugenic Sterilization During the Interwar Period, in: International Journal of Mental Health 36 (2007), H. 1, S. 67–78; M. Musielak, Sterylizacja ludzi ze względów eugenicznych w Stanach Zjednoczonych, Niemczech i w Polsce (1899– 1945), Poznań 2008, S. 229. Andrej Zamojskij (= Andrei Zamoiski), Evgenika v mežvoennoj Polše i eë severo-vostočnych voevodstvach [Die polnische Eugenik der Zwischenkriegszeit in den nordöstlichen Provinzen (russ.)], in: Rossijsko-pol’skij istoričeskij al’manach [Russisch-polnischer historischer Almanach] Bd. VI, Stavropol’ u. Volgograd 2012, S. 38–45. Tydzień zdrowia! : co robi „TOZ“? / Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej w Polsce [Gesundheitswoche! Was macht TOZ? / Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit der jüdischen Bevölkerung in Polen], Warszawa o. J., S.1–2; Kamila Uzarczyk, „Moses als Eugeniker“? The Reception of Eugenic Ideas in Jewish Medical Circles in Interwar Poland, in: Marius Turda u. Paul J. Weindling (Hrsg.), „Blood and Homeland“: Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe, 1900–1940, Budapest 2007, S. 283–299; Ignacy Einhorn, Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej w Polsce w latach 1921–1950 [Gesellschaft für jüdische Gesundheitsfürsorge in Polen in den Jahren 1921 bis 1950], Toruń 2008, S. 86 f.
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russlands und der Westukraine durch die Rote Armee – veröffentlicht wurde. Markus schildert darin einen Vorfall im Krankenhaus von Vaŭkavysk in den 1930er Jahren: Ein Arzt habe sich damals geweigert, eine schwangere Frau zu behandeln, da sie sich von ihm früher nicht habe [eugenisch] beraten lassen, ob sie – eine arme Arbeiterin – heiraten solle.35 „RASSENHYGIENE“ UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION Während des Zweiten Weltkrieges wurde Weißrussland Schauplatz einer schrecklichen Katastrophe: Die jüdische Bevölkerung wurde verfolgt und vernichtet, lokale Roma, behinderte und psychisch kranke Menschen, Kommunisten und andere „Feinde“ kamen im Laufe der deutschen Mordaktionen ums Leben. Die grausame Partisanenbekämpfung forderte zudem unzählige Opfer unter der weißrussischen Zivilbevölkerung. Die Besatzer betrachteten und behandelten die Bevölkerung Weißrusslands unter „rassenhygienischen“ Gesichtspunkten. So wurde einer kleinen Gruppe von „Volksdeutschen“ eine privilegierte Stellung eingeräumt. Geleichzeitig äußerte die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes jedoch ihre Bedenken gegen junge deutschstämmige Einwohner Weißrusslands, die aus gemischten Familien stammten, somit keine „reinen Deutschen“ und zudem während der bolschewistischen Herrschaft russifiziert worden seien.36 Eheschließungen zwischen Juden und „Ariern“ wurden in den besetzten Gebieten untersagt. Gleichzeitig forderten die Besatzer die nichtjüdischen Ehefrauen und Ehemänner auf, sich von ihren jüdischen Lebenspartnern scheiden zu lassen. In einzelnen bekannten Fällen wurden jüdische Frauen sterilisiert und durften außerhalb der eingerichteten Ghettos bei ihren nichtjüdischen Ehemännern bleiben. Sie nahmen die Sterilisation als ihre Chance wahr, sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu entziehen. Die Sterilisation rettete diese Jüdinnen allerdings nicht vor dem Genozid. Die Besatzer nutzen vielmehr die Gelegenheit, sich auf Kosten ihrer Opfer zu bereichern: So wurde im Falle der Ehefrau des Minsker Psychiaters A. die Operation erst durchgeführt, nachdem der treue Ehemann den Tätern sein gesamtes Vermögen überlassen hatte. Seine Frau und weitere sterilisierte Jüdinnen wurden anschließend umgebracht.37 Die Sterilisation von Jüdinnen in Weißrussland muss im Kontext der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ gesehen werden: Die „rassisch minder-
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Š. Markus, Tak ljačylі ŭ Panskaj Pol’ščy, in: Rabotnica i kalhasnica Belarusi 22 (1939), S. 14. Anordnung des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Mitte v. 7 Juni 1943, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 1440, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 3, D. (= Delo) [Akte] 953, L. (= List) [Blatt] 2–3; Bericht der Einsatzgruppe B v. 1. Juni 1943 betr. „Volksdeutsche“, NARB, F. 1440, O. 3, D. 953, L. 160– 164. Rachil’ Rappoport, Ostat’sja soboj, in: Vyžit’-podvig: vospominanija i dokumenty o Minskom getto, Minsk 2008, S.18; Uladzimir Іsaenka, Žyccё z chalavoju ŭ pjatlі, in: Archė 2 (1999), S. 184.
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wertigen“ Juden durften sich nicht fortpflanzen. So wurde den Bewohnern des jüdischen Ghettos in Minsk strikt verboten, Kinder zu bekommen.38 Während die tragische Geschichte dieses Ghettos im Juni 1943 zu Ende ging, billigte die deutsche Zivilverwaltung die Gründung der nationalistischen Jugendorganisation Sajuz belaruskaj moladzi („Weißruthenisches Jugendwerk“, SBM).39 Die Führung dieser „weißruthenischen Hitlerjugend“ entwarf in der Endphase der deutschen Okkupation ihre eigene „weißruthenische“ Variante der „Rassenhygiene“, die im SBM-Periodikum Žyve Belarus! (Źyvie Biełaruś! „Lang lebe Weißruthenien!“) vor allem von dessen Herausgeber Michas’ Han’ko propagiert wurde. Der 1918 in Westweißrussland geborene orthodoxe Weißrusse Han’ko nahm sein Medizinstudium in Wilna vor dem Zweiten Weltkrieg auf, arbeitete nach dem sowjetischen Einmarsch (1939) als Lehrer und Buchhalter, wurde nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR in die Rote Armee einberufen und im Sommer 1941 gefangen genommen. In einem Kriegsgefangenenlager in Russland erklärte der spätere SBM-Chef seine Bereitschaft, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Er absolvierte eine Propagandaschule in Deutschland und wurde im Generalkommissariat „Weißruthenien“ als Propagandist eingesetzt.40 Es ist unbekannt, ob sich Han’ko mit der Eugenik noch als Medizinstudent in Wilna vertraut gemacht hatte oder erst in Deutschland im Rahmen seiner Ausbildung mit der „Rassenhygiene“ konfrontiert wurde. Unbestritten ist hingegen, dass die „Rassenhygiene“ im Weltbild dieses glühenden Verfechters eines radikalen Antisemitismus eine bemerkenswerte Rolle spielte. Han’ko behauptete, dass seinem vom „jüdischen Bolschewismus“ brutal unterjochten weißrussischen Volk vor dem deutschen Einmarsch die „physische Degeneration und Vernichtung“ gedroht hätten. Die Bolschewiki seien darauf bedacht gewesen, eine „besondere Rasse von Menschen“ zu schaffen und die Weißrussen in dieser „internationalen Masse des sowjetischen Volkes“ aufzulösen. Dadurch hätten die Weißrussen ihre „rassische Reinheit und die natürlichen Merkmale ihrer gesunden Volksseele“ verlieren sollen.41 In 15 oder 20 weiteren Jahren der Herrschaft hätte der Bolschewismus dieses „verbrecherische Ziel“ erreichen können. In der zweiten Hälfte des Jahres 1943, als sich die Lage an der Front für die Deutschen dramatisch verschlechterte, versuchten die Nationalsozialisten die Bevölkerung der besetzten Gebiete für einen letzten Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund betonte der Propagandist Han’ko sogar die – aus Sicht der deutschen, für ihre Geringschätzung der „slawischen Untermenschen“ bekannte, „Rassenhygiene“ unvorstellbare – „rassische Verwandtschaft“ zweier „arischer Völker“: der Weißrussen und der Deutschen. Der SBM-Chef war fest davon überzeugt, zusammen mit den Deutschen fänden die
38 39 40 41
Rappoport, Ostat’sja soboj (Anm. 37), S. 18. Weißruthenisches Jugendwerk (WJW), Satzungen, Organisation und Zusatzbestimmungen (1943), Bundesarchiv Berlin (nachfolgend BArch) R 6/186, fol. 7–9. Ljavon Jurėvіč, Vyrvanyja bačyny. Da hіstoryі Sajuzu Belaruskae Moladzі, Mіnsk 2001, S. 19; Jury Turonak, Ljudzі SBM, Minsk 2006, S. 70. M. Volat (= Michas’ Han’ko), My i Bal’šavizm, in: Žyvie Biełaruś! 6 (1943), S. 6–8.
Eugenik und „Rassenhygiene“
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Weißrussen ihren Platz im „Neuen Europa“ Adolf Hitlers und kämpften gegen die „jüdisch-bolschewistische Horde“.42 Im Gegensatz zu dem in Deutschland ausgebildeten Rassisten und Antisemiten Han’ko konzentrierte sich seine Stellvertreterin, die Psychiaterin Nadzeja A. Abramava, die im SBM für die Arbeit mit den Mädchen zuständig war, in der Zeitschrift Žyvie Biełaruś! auf die „gesunde Familie“, die moralische Erziehung der Frauen und die Entwicklung ihrer „gesunden arischen und weißruthenischen Natur“. Sie geißelte außerdem die „Entweiblichung“ des schönen Geschlechts in der Sowjetunion.43 Die in Minsk aufgewachsene Psychiaterin Abramava, die sich noch vor dem Krieg aus der sowjetischen Presse über die „Rassenhygiene“ hatte informieren können, hob hervor, der Bolschewismus habe versucht, Frauen in „geschlechtsneutrale Wesen“ umzuwandeln.44 Weitere Autoren des Periodikums brachten ihre eugenischen Ansichten im Zusammenhang mit der Propagierung einer gesunden Lebensweise zum Ausdruck. Man wies zum Beispiel auf die große Gefahr des Alkoholismus hin: Kinder von Alkoholikern und anderen, die übermäßig Alkohol konsumierten, seien oft geistig bzw. körperlich unterentwickelt, kränklich und litten häufig an Epilepsie.45 ZUSAMMENFASSUNG Eugenische Theorien und Vorstellungen wurden in Sowjetweißrussland unmittelbar nach 1917 und in den 1920er Jahren unter Medizinern, Intellektuellen und weiteren Bürgern verbreitet. Die sowjetische Eugenik entwickelte sich vor allem in Moskau und Petrograd (Leningrad), während es keine organisierte eugenische Bewegung in der BSSR gab. Im Zusammenhang mit der nach der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur verstärkten antieugenischen Propaganda, der Verurteilung dieser „faschistischen Pseudowissenschaft“ und der Verfolgung sowjetischer Eugeniker in den nächsten Jahren wurden Mediziner und auch breite Schichten der weißrussischen Bevölkerung mit der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ und ihren Verbrechen konfrontiert. Die Eugeniker in der Sowjetunion und in Polen beschäftigten sich in erster Linie mit einer „gesunden Ehe“, Vererbung, Sterilisation und einigen weiteren Themenkomplexen. Während die sowjetischen Eugeniker entschlossen das Existenzrecht ihrer Lehre im bolschewistischen Staat betonten und deren Kompatibilität mit 42 43 44
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Michas’ Han’ko, Mėta і žadan’nі Sajuzu Belaruskae Moladzі, in: Žyvie Biełaruś! 1 (1943), S. 3–4; ders., Čamu tol’ki hėty šljaсh? in: Žyvie Biełaruś! 17 (1944), H. 1, S. 3–4. Adozva da belaruskіch сhlopcaŭ i junačak! (o. J.), Dzesjac’ zapavetaŭ junaka i junačkі, in: Žyvie Biełaruś! 1 (1943), S. 9, NARB, F. 385, O. 2, D. 24, L. 98. Nadzeja Abramava, Belaruskaja junačka ŭ vadbudove Bac’kaŭščyny, in: Žyvie Biełaruś! 1 (1943), S. dies., Za mocnuju belaruskuju sjam’ju, in: Žyvie Biełaruś! 1 (1943), S. 4–5; dies., Belaruskaja dzjaŭčyna-sjabroŭka Sajuzu Belaruskae moladzі, in: Žyvie Biełaruś! 2–3 (1943), S. 9; dies., Tvaë zdaroŭe naležyc’ narodu, in: Źyvie Biełaruś! 6 (1943), S. 8. L. Čarnjaŭski, Fizičnaje uzhadvanne, in: Žyvie Biełaruś! 1 (1944), S. 11–12; K. Smurhovič u. Z’vjazovy. Ab škodnasci užyvanja alkaholju, in: Žyvie Biełaruś! 2 (1944), S.16.
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dem Marxismus-Leninismus nachzuweisen versuchten, ging es ihren polnischen Kollegen in der Zwischenkriegszeit vor allem um die Propaganda eugenischen Gedankengutes unter der polnischen Bevölkerung und damit unter anderem. auch um die Festigung des „polnischen Elementes“ in Westweißrussland. Die von Eugenikern in beiden Ländern vorgeschlagenen Projekte blieben weitgehend auf dem Papier. In den besetzten sowjetischen Gebieten beeinflusste die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ die deutsche Vernichtungspolitik. Unter der deutschen Okkupation entwickelten die radikalen weißrussischen Kollaborateure aus dem „Weißruthenischen Jugendwerk“ eine „weißruthenische Rassenhygiene“, die sie neben Rassismus und Antisemitismus propagierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Eugenik in der Sowjetunion als eine „in den kapitalistischen Ländern weit verbreitete Pseudowissenschaft über die Verbesserung ‚der menschlichen Rasse‘“ charakterisiert. Sie wurde als eine Abart des Rassismus verurteilt und zu propagandistischen Zwecken verwendet, um die westliche Genetik zu brandmarken. Die deutsche „Rassenhygiene“ und die eugenischen Vorstellungen der Kollaborateure wurden in der sowjetischen Propaganda und Geschichtswissenschaft lediglich am Rande behandelt.46 Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
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Evgenika, in: B. A. Vvedenskij (Hrsg.), Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 15, Moskau 1952, S. 372; Valerij Sojfer, Vlast’ i nauka. Razgrom kommunistami genetiki v SSSR, Moskau 2002, S. 402–437.
VI. BEHINDERTEN-, KRANKEN- UND KINDERMORD IN DEN BESETZTEN SOWJETISCHEN GEBIETEN
MEDIZINISCHE BETREUUNG UND NATIONALSOZIALISTISCHE KRANKENMORDE IN DER UKRAINE UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION Dmytro Tytarenko Die mit der deutschen Okkupation der Ukraine verbundenen Ereignisse gehören zu den meist diskutierten Fragen im gegenwärtigen ukrainischen historischen und öffentlich-politischen Diskurs. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass sich die Forschung im Laufe vieler Jahre vor allem auf die Untergrund- und Partisanenbewegung, Gräueltaten gegen die lokale Bevölkerung und wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete konzentriert hat. Bei der Beleuchtung dieser Themenkomplexe war für wissenschaftliche Arbeiten eine gewisse Ideologisierung, Glorifizierung und „hurrapatriotische“ Rhetorik typisch, ohne Berücksichtigung der Komplexität der Prozesse, die in den besetzten Gebieten abliefen. Die Entideologisierung der Geschichtswissenschaft, die in den letzten Jahren zunehmend stattfindet, und der Zugang der Forscher zu neuen Quellen, u. a. zu ausländischen, bieten eine Möglichkeit, den Alltag der lokalen Bevölkerung während der Besatzung unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten, insbesondere auch im Hinblick auf die Sozialfürsorge und medizinische Betreuung. Abgesehen davon, dass die Entwicklung des Gesundheitswesens in den besetzten Gebieten in einigen Werken ukrainischer Forscher thematisiert wurde,1 wurden die regionalen Besonderheiten im Reichskommissariat Ukraine, im Distrikt „Galizien“ als Teil des polnischen Generalgouvernements, in Transnistrien und im rückwärtigen Heeresgebiet Süd vernachlässigt. Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, einige Besonderheiten des Gesundheitssystems in den östlichen Gebieten der Ukraine zu beleuchten, die Teil des Militärverwaltungsgebiets waren, und die wichtigsten Maßnahmen der Besatzer in Bezug auf die medizinische Betreuung der lokalen Bevölkerung zu charakterisie1
Siehe unter anderem Boris D. Petrov, Očerki istorii otečestvennoj mediciny, Мoskau 1962, S. 112 f.; Jakov E. Donskoj u. Akim P. Šapoval, Bojcy v belych chalatach, Charkiv 1966; Bezsmertja. Knyha Pam”jati Ukrajiny. 1941–1945, Kiew 2000, S. 179–183; O. Ju. Latiš, Rozvitok systemy ochorony zdorov’ja v Ukrajini periodu Velykoji Vitčyznjanoji vijny. Dysertacija na zdobuttja naukovoho stupenja kandydata istoryčnych nauk, Donec’k 2004; M. L. Holovko, Suspil’no-polityčni orhanizaciji ta ruchi Ukrajiny v period Druhoj Svitovoji vijny 1939–1945 rr, Kiew 2004, S. 469–471; A. V. Fomin, Ustanovy ochorony zdorov”ja Luhanščyny v roky nacysts’koji okupaciji (1942–1943), in: Istoryčni i politolohični doslidžennja 1 (2005), S. 96– 100; P. T. Petrjuk u. A. P. Petrjuk, Psichiatrija pri nacizme: ubijstva duševnobol’nych na vremenno okkupirovannych territorijach SSSR. Soobščenie 6, in: Psichične zdorov’ja 1 (2012), S. 88–92.
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ren. Der Beitrag basiert auf Akten aus ukrainischen und deutschen Archiven sowie auf Zeitzeugeninterviews, die der Autor zwischen 2002 und 2011 durchgeführt hat. ORGANISATION DES GESUNDHEITSSYSTEMS IM RÜCKWÄRTIGEN HEERESGEBIET SÜD Die deutsche Besatzungspolitik wurde durch die nationalsozialistische Rassendoktrin maßgeblich geprägt und bezweckte die Ausbeutung der wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen der besetzten Gebiete. Allerdings konnte die Umsetzung dieser ideologischen Grundlagen je nach Zeit und Region variieren. Zu einem gewissen Grad waren im Bereich des Gesundheitswesens Besonderheiten in der Politik der Militärverwaltung in den ukrainischen Gebieten Stalino (Juzivka), Vorošilovhrad, Charkiv, Černihiv und Sumy zu beobachten, welche während der Besatzungszeit Teile des rückwärtigen Heeresgebietes Süd waren (später, im Zuge der Neugliederungen, der rückwärtigen Heeresgebiete A, B, Don und wieder Süd). Für die Organisation der medizinischen Versorgung und Betreuung der lokalen Bevölkerung im rückwärtigen Heeresgebiet war die Abteilung des Sanitätsamtes zuständig, der die Gesundheitsabteilungen der einheimischen Lokalverwaltungen untergeordnet waren. Zu den Aufgaben der Abteilungen Gesundheitswesen bei den Stadt- und Rayonverwaltungen gehörten die Gewährleistung eines sanitären bzw. hygienischen Mindeststandards und medizinischer Hilfe für die Zivilbevölkerung. Die Gesundheitsabteilungen hatten wiederum Unterabteilungen: therapeutische, hygienisch-epidemiologische, Produktions- und Wohlfahrtspflegeabteilungen sowie Beschaffungs- und Versorgungsbüros. Die Hauptaufgabe der Abteilungen für Gesundheit war es dafür zu sorgen, dass die Arbeit der Krankenhäuser, Ambulanzen, Geburtskliniken, Sanitäts- und anderer medizinischer Einrichtungen wieder aufgenommen wurde. Zudem befassten sie sich mit der Ausstattung medizinischer Einrichtungen mit qualifiziertem Personal und deren Versorgung mit Medikamenten, Ausrüstung und Ernährung. Sie erstellten darüber hinaus statistische Berichte über Morbidität und Mortalität der Bevölkerung.2 Die Organisationsform der praktischen medizinischen Hilfeleistung waren Arztbereiche mit einem Einzugsgebiet von fünf bis zwölf Kilometern. Jeder Arztbereich sollte aus folgenden Einrichtungen bestehen: einem Krankenhaus mit nicht weniger als 15 Betten mit ambulanter oder poliklinischer Abteilung, einer diagnostischen Einrichtung (Labor, Röntgenkabinett usw.), einer Geburtsklinik (in der Stadt) oder einer Entbindungsstation in einer medizinischen Einrichtung, Zahnarztpraxen, therapeutischen und Geburtshilfe-Ambulanzen, sowie nach Bedarf spezialisierten Hilfsambulanzen (Malaria-, Tuberkulose-, venerische Ambulanzen) und einer Leichenhalle. Geleitet wurde der Arztbereich von einem Chefarzt, der alle
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Latiš, Rozvytok systemy (Anm. 1), S. 101.
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therapeutischen und prophylaktischen Maßnahmen mit Hilfe der Mitarbeiter der ihm untergeordneten medizinischen Einrichtungen des Arztbereiches durchführte.3 Man muss allerdings bei der Charakterisierung des Systems der medizinischen Betreuung auf dem besetzten Territorium beachten, dass es aufgrund von organisatorischen, personellen und finanziellen Schwierigkeiten und der ständigen Veränderungen der Frontlinie sehr schwierig war, das reibungslose Funktionieren dieser Organisations- und Verwaltungsstruktur zu gewährleisten. Die wichtigsten Arbeitsbereiche der medizinischen Einrichtungen waren: die Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten und die Verhinderung ihrer Verbreitung, eine regelmäßige Aufklärungsarbeit für die Bevölkerung zur Vorbeugung gegen Erkältungs- und Infektionskrankheiten, die Pedikulosebekämpfung, chirurgische Eingriffe in Notfällen (falls qualifizierte Spezialisten, die notwendigen Medikamente und chirurgischen Instrumente vorhanden waren), und regelmäßige vorbeugende Impfungen der Bevölkerung.4 Die medizinische Versorgung für Juden war de facto nicht vorgesehen. Es stellt sich zweifelsohne die Frage nach dem wirklichen Interesse der deutschen Militärbehörden an der Umsetzung von Maßnahmen, die auf eine reale Verbesserung der medizinischen Betreuung der nichtjüdischen Bevölkerung zielten. Es wäre natürlich falsch zu glauben, dass sich die Militärverwaltung, die unter dem Einfluss der NS-Propaganda stand und sich in erster Linie mit Aufgaben rein militärischen Charakters beschäftigte, Gedanken über die Bedürfnisse und Probleme – einschließlich der medizinischen Betreuung – der lokalen Bevölkerung machte. Allerdings war sie mit einigen Problemen konfrontiert, bei denen durch die lokale Bevölkerung die Kampffähigkeit der Truppen beeinflusst werden konnte: „Die Wehrmachtsangehörigen, die sich mit lokalen Einwohnern in einem geschlossenen Raum befinden, sind ständig von Pedikulose, Tuberkulose und anderen Krankheiten bedroht. So werden Militärangehörige zum Beispiel gerade jetzt, in der warmen Jahreszeit, durch das schlechte Beispiel von Zivilisten verführt, ungekochtes Wasser zu trinken, weil ihnen gesagt wird, dass dies nicht gefährlich sei.“5 Pragmatische Überlegungen, die damit verbundene Gefahr zu minimieren, führten zu Bestrebungen, einerseits den Kontakt zwischen der lokalen Bevölkerung und den Soldaten zu begrenzen und andererseits zumindest minimale medizinische Hilfe für die lokale Bevölkerung zu gewährleisten. Offensichtlich hing damit zu einem gewissen Grad die Austeilung einer geringen Menge an Medikamenten aus Wehrmachtsvorräten an Zivilisten zusammen. Diese Medikamente wurden jedoch in der Regel nur bei bestimmten Erkrankungen und vor allem für die Behandlung von Geschlechtskrankheiten freigegeben.6
3 4 5 6
Ebd. Deržavnij archiv Donec’koji oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Donezk] (nachfolgend DADO), F. (= Fond) R-1815, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, S. (= Sprava) [Akte] 2, A. (= Arkuš) [Blatt] 1. V”jačeslav Je. Suslykov u. Dmytro M. Tytarenko, Horlivka v period Velykoj Vitčyznjanoji vijny ta perši povojenni roki (1941–1950): istoričnij narys ta džerela, Donec’k 2010, S. 256. Bundesarchiv-Militärarchiv (nachfolgend BАrch-MА), RH 23/18, fol. 73.
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DAS PERSONALPROBLEM UND SEINE LÖSUNG Auf die Tatsache, dass die medizinische Versorgung eine nur zweitrangige Aufgabe der Besatzer war, deutet z. B. die vergleichende Analyse von Statistiken zum medizinischen Personal in einigen ostukrainischen Städten kurz vor und während der Besatzung hin. So gab es beispielsweise 1942 72 Ärzte und 164 Arzthelfer und Krankenschwestern in den medizinischen Einrichtungen und Krankenanstalten von Makijivka7 (vor dem Krieg gab es 250 Ärzte8); in der Abteilung für Gesundheit der Stadtverwaltung in Mariupol’ arbeiteten 109 Ärzte und 290 Krankenschwestern und – pfleger9 (vor dem Krieg waren es 226 und 420 Personen10); in den medizinischen Einrichtungen von Juzivka (vor dem Krieg Stalino)11 waren 170 Ärzte und 237 Krankenschwestern und -pfleger12 tätig (vor dem Krieg 727 und 220013). Der Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal sowie die Einführung von Gebühren für die medizinische Betreuung führten dazu, dass die Bevölkerung häufig zu Hause medizinisch versorgt wurde, und das oft von Menschen ohne spezielle medizinische Ausbildung, was unter Umständen natürlich fatale Folgen für die Gesundheit der Patienten hatte. Um das zu vermeiden, wurde die medizinische Behandlung zu Hause unter Strafe gestellt. So wurde zum Beispiel nach einer Verordnung der Stadtverwaltung in Snižne die Behandlung ohne entsprechende medizinische Ausbildung mit bis zu sechs Monaten Haft oder mit bis zu 1000 Rubeln Bußgeld bestraft.14 Um die Personalnot im Gesundheitswesen zu lindern, wurde in den besetzten Gebieten ein Ausbildungssystem für Medizinkader geschaffen. In der nationalsozialistischen Besatzungspresse wurden systematisch Pläne zur Gründung medizinischer Fachschulen diskutiert, insbesondere im rückwärtigen Heeresgebiet. Jedoch wurden aufgrund verschiedener Faktoren, in erster Linie der vollständigen Abhängigkeit der einheimischen Lokalverwaltungen von der deutschen Militärverwaltung, die meisten dieser Pläne nicht oder nur teilweise verwirklicht. Dazu kam, dass die Militärverwaltung die Lage im Reichskommissariat Ukraine berücksichtigen musste, dass sich die Frontlinie ständig änderte und es materielle, organisatorische und personelle Engpässe gab. Nur in wenigen Fällen (etwa in Nižyn, Mariupol’, Vorošilovhrad, Černihiv, Bachmut und Priluki) gelang es, im rückwärtigen Heeresgebiet die Ausbildung von Krankenschwestern und Arzthelfern zu organisieren.15 Die Krankenschwestern und Arzthelfer, die diese Ausbildung efolgreich absolviert 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Doneckij vestnik v. 6. 9 1942. Istorija gorodov i sel Ukrainskoj SSR. Doneckaja oblast’, Kiew 1976, S. 498. Marijupil’s’ka hazeta v. 15.10.1942. Istorija gorodov i sel Ukrainskoj SSR (Anm. 8), S. 379. Während der Okkupation wurde Stalino in Juzivka umbenannt. Jedoch sind beide Bezeichnungen in den Dokumenten anzutreffen. Doneckij vestnik v. 7. 6.1942. Istorija gorodov i sel Ukrainskoj SSR (Anm. 8), S. 102. DADO, F. R-1809, O.1, S. 14, A. 12. Blanka Jerabek, Das Schulwesen und die Schulpolitik im Reichskommissariat Ukraine 1941– 1944. Im Lichte deutscher Dokumente, München, 1991, S. 58.
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hatten, erhielten Zeugnisse oder Bescheinigungen.16 Nach dem Krieg wurden ihre Zeugnisse – wie etwa im Fall der medizinischen Schule in Černihiv – für ungültig erklärt.17 Zur Ausbildung von Fachkräften wurde in Juzivka eine medizinische Bildungsanstalt gegründet, die Merkmale einer Hochschule besaß und Fortbildungskurse anbot. So wurde bereits im September 1942 in der Stadt die Frage aufgeworfen, wann die Kurse für diejenigen anfangen könnten, die vor dem Krieg kurz vor dem Abschluss ihres Studiums am Medizinischen Institut in Stalino gestanden hatten. Nach fünf Monaten Studium und den entsprechenden Prüfungen sollten sie ihre Diplome erhalten. Wie in der lokalen Presse erwähnt wurde, war der Zweck dieser Maßnahme, „…erstens das medizinische Institut als Bildung- und Forschungseinrichtung zu erhalten […] und zweitens, Personen die Möglichkeit zu bieten, ihre medizinische Ausbildung zu Ende zu bringen, die sie gezwungenermaßen abgebrochen haben, weswegen sie sich nun in der Position mittelmäßiger Ärzte befinden.“18 Höchstwahrscheinlich hing dieser Schritt der Besatzer in erster Linie mit der schwierigen epidemiologischen Situation in der Region zusammen. Vielleicht spielte eine gewisse Rolle auch die Tatsache, dass im Chaos der Evakuierung des Instituts einige findige Studenten aus den letzten Semestern sich offensichtlich selbst die Bescheinigungen über das Studium am Institut ausgestellt hatten.19 Diese Bescheinigungen bestätigten die „erworbene Qualifikation“ und gaben den Studenten das Recht, als Ärzte zu praktizieren, was zweifelsohne in einigen Fällen schlimme Folgen für die Patienten haben konnte.20 Diese Kurse, die bei der Gesundheitsabteilung der Stadtverwaltung in Juzivka angesiedelt waren, begannen am 2. November 1942. Sie wurden vom ortsansässigen Volksdeutschen A. A. Genzel’ geleitet. An der Spitze der Lehrabteilung stand ein ehemaliger Professor des Medizinischen Instituts in Stalino, A. I. Vojnar. Im Dezember 1942 besuchten nur 106 Teilnehmer die Kurse,21 obwohl man anfangs mit ca. 180 Teilnehmern gerechnet hatte. Da die überwiegende Mehrheit der Kursteilnehmer bereits arbeitete, kann man diese Kurse auch als Fortbildungskurse betrachten. Die Studenten hatten in Gruppen von 12 bzw. 13 Personen praktischen Unterricht in den Krankenhäusern der Stadt und mehrmals die Woche Vorlesungen. Professor Ivanov und Doktor Fitilev hielten Vorlesungen zur Krankenhaustherapie, Doktor Genzel’ zur Geburtshilfe und Gynäkologie und Professor Čarugin zur Chirurgie und Orthopädie. Die Kursteilnehmer hatten auch Unterricht in Augenheilkunde, Röntgenologie und Hals-Nasen-Ohren-Behandlung. Diejenigen, die studierten, hatten bestimmte Privilegien. So genossen die Studenten beispielsweise elektrische Beleuchtung und ihre Wohnungen wurden mit Kohle beliefert. Den 16 17 18 19 20 21
DADO, F. R-1870, O.1, S.1, A. 82. L. V. Stud’onova, Slidamy Černihivs’koho pidpillja. Dokumental’ny narysy, Nižyn 2007, S. 41. Doneckij vestnik v. 25.9.1942. DADO, F. R-1815, O. 1, S.1, A. 2. Doneckij vestnik v. 20.10.1942. Doneckij vestnik v. 18.12.1942.
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Kursbesuchern, die von außerhalb kamen, blieben ihre Arbeitsplätze und 50 Prozent des Gehalts erhalten. Nach dem ersten Abschluss im Sommer 1943 wurde die Aufnahme des nächsten Jahrgangs angekündigt, der aus ca. 80 Personen bestehen sollte. Es wurde davon ausgegangen, dass die Kurse etwa acht Monate dauern würden. Das Hauptziel war die Ausbildung von Fachkräften im Bereich der Infektionsund Geschlechtskrankheiten, was den Personalmangel auf diesen aus der Sicht der Wehrmacht besonders wichtigen Gebieten des Gesundheitswesens beseitigen sollte. Jedoch gab es große Hindernisse: Ehemalige Medizinstudenten, die oft berufsfremd arbeiteten, mussten gesucht werden, außerdem bestand ein Mangel an Dozenten und Lehrmitteln.22 Offensichtlich sollten diese Kurse zu einem gewissen Grad auch die Rolle eines sozialen Kompensators spielen, denn „sie öffneten für junge Menschen den Weg zum Wohlstand in der Zukunft.“23 Allerdings konnte der Lehrbetrieb nicht aufgenommen werden, weil die Stadt im September 1943 befreit wurde. Im Rahmen des Nachkriegsprozesses gegen NS-Verbrecher in Kiew (Januar 1946) hob der frühere Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 6. Armee Generalleutnant Karl Burckhardt hervor, die deutsche Militärverwaltung sei bestrebt gewesen, das Leben der einheimischen Bevölkerung zu „normalisieren“. Zu diesem Zweck habe man unter anderem die medizinischen Kurse in Juzivka organisiert.24 Unter den Bedingungen der Okkupation wurde die Arbeit im medizinischen Bereich zur effektivsten Überlebensstrategie für Mediziner. Allerdings hing sie oft mit Aufgaben zusammen, die nach der Befreiung als Kollaboration interpretiert werden konnten. Dies gilt insbesondere für Ärzte, die medizinische Untersuchungen von Personen durchgeführt hatten, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland abtransportiert wurden. Großes Vertrauen seitens der Besatzer besaßen „volksdeutsche“ Ärzte, welche aufgrund ihrer „arischen“ Abstammung auf Führungspositionen in medizinischen Einrichtungen berufen wurden. Gleichzeitig konnte selbst die hohe Kompetenz der jüdischen Ärzte diesen in der Regel keine Arbeitsmöglichkeit verschaffen. Eine Einwohnerin von Juzivka mit Namen Čepik erinnerte sich, dass einer der angesehensten und erfahrensten Ärzte der Stadt, Kaufman, welcher in Deutschland studiert und auf das Eintreffen der Deutschen in der Hoffnung auf die Rückgabe seines von der Sowjetmacht beschlagnahmten Vermögens gewartet hatte, verprügelt und später mit den anderen Juden der Stadt getötet wurde.25
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BАrch-MА, RH 23/353, fol. 82. BАrch-MА, RH 23/355, fol. 218. Zitiert nach: L. M. Abramenko (Hrsg.), Kievskij process: dokumenty i materialy, Kiew 1995, S. 176. Zur medizinischen Bildung in Weißrussland unter deutscher Okkupation siehe den Beitrag von Alexander Friedman in diesem Band. Interview mit Z. A. Čepik, Jahrgang 1929 (Donec’k, Februar 2005), Privatarchiv des Autors.
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BESONDERHEITEN DER MEDIZINISCHEN BETREUUNG DER BEVÖLKERUNG WÄHREND DER OKKUPATION Zu den akuten Problemen, mit denen die medizinischen Einrichtungen und die Bevölkerung seit den ersten Tagen des Krieges konfrontiert waren, gehörte neben dem Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal auch der Mangel an Medikamenten, Verbandsmaterial, Ausrüstung und Heizmöglichkeiten. Ein großer Teil der ohne Aufsicht gebliebenen Apotheken und Krankenhäuser wurde beim Rückzug der sowjetischen Truppen zerstört oder von der lokalen Bevölkerung geplündert.26 Unter diesen Umständen wurden Gebühren für die medizinische Hilfeleistung eingeführt. So kostete im Gebiet Juzivka ab Dezember 1941 die Aufnahme in der Poliklinik drei Rubel, ein Hausbesuch fünf Rubel und ein Bett im Krankenhaus zwischen fünf und zehn Rubel pro Tag.27 Im Sommer 1942 kostete im Gebiet Vorošilovhrad der Hausbesuch eines Arztes 30 Rubel und der eines Arzthelfers 15 Rubel, die Entfernung eines Zahnes kostete den Patienten 72 Rubel, eine Zahnkrone 60 Rubel, eine Entbindung und eine Operation jeweils 150 Rubel.28 Der Aufenthalt im Krankenhaus kostete 25 Rubel pro Tag.29 Zum Vergleich: Das Gehalt einer Krankenschwester in Juzivka lag Anfang 1942 bei 350 Rubeln und das einer Sanitäterin bei 200 Rubel.30 In der Regel betrug das Durchschnittsgehalt nicht mehr als 400 bis 500 Rubel, und das bei katastrophal hohen Nahrungsmittelpreisen. So kostete bspw. ein Kilo Brot 75 Rubel und ein Kilo Butter konnte bis zu 1000 Rubel kosten.31 Bestimmte Bevölkerungsgruppen waren von den Gebühren befreit. Dazu gehörten etwa in Charkiv Kinder unter vier Jahren, Infektionskranke, Familienangehörige des ukrainischen Ordnungsdienstes, behinderte und arme Menschen, die finanzielle Hilfe der Stadverwaltung erhielten. Für Personen, die nicht zu diesen Kategorien gehörten und die die Behandlung nicht bezahlen konnten, bestand die Möglichkeit, mit einer Bescheinigung der Abteilung für Sozialfürsorge und in Ausnahmefällen nach der Genehmigung des Chefarztes kostenlose Arztleistungen in Anspruch zu nehmen.32 Allerdings war unter den Bedingungen des gestörten Geldverkehrs die effektivste Form der Bezahlung der Naturallohn; in erster Linie Lebensmittel. So bezahlte die Familie von M. Saenko-Polončuk, Einwohnerin der Stadt Juzivka, die im Sommer 1943 mit Typhus in der Abteilung für Infektionskrankheiten in einem der lokalen Krankenhäuser lag, die Behandlung mit einem Huhn.33 26 27 28 29 30 31 32 33
DADO, F. R-1607, O.1, S. 1, A. 14. Doneckij vestnik v. 11.12.1942. Nove žyttja v. 23.8.1942; Deržavnij archiv Luhans’koji oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Luhan’sk] (nachfolgend DALO), F. P-1790, O.1, S. 265, A. 89–90. Archiv der Verwaltung des Sicherheitsdienstes der Ukraine im Gebiet Luhans’k, F. 54, O. 3, S. 4, A. 19. DADO, F. R-1607, O.1, S. 1, A. 14. Doneckij vestnik v. 8.8.1943. DADO, F. R-1870, O.1, S. 1, A. 15; Latyš, Rozvytok systemy (Anm. 1), S. 104. Interview mit M. I. Saenko-Polončuk, Jahrgang 1925 (Donec’k, Januar 2005), Privatarchiv des Autors.
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Wegen des chronischen Defizits an Medikamenten wurde die Bevölkerung zur Sammlung von Heilpflanzen aufgerufen. Es ist jedoch offensichtlich, dass dies nicht so sehr mit dem Wunsch, die Bevölkerung mit möglichen Behandlungsmitteln zu versorgen, zu erklären war, sondern den Besatzern zu Gute kommen sollte. Die Informationen darüber, dass „[…] die landwirtschaftliche Verwaltung beim Gebietslandwirtschaftskommando der Wehrmacht durch ihre lokalen Beschaffungsbüros die Beschaffung von Heilpflanzen begann“,34 lassen großes Interesse dafür gerade seitens der Besatzer feststellen. So überrascht nicht, dass die 1942 gesammelten Heilpflanzen nach Deutschland geschickt wurden. Die Militärverwaltung war sich der Bedeutung wertvoller Heilpflanzen bewusst, deswegen sprach sie sich dafür aus, den lokalen medizinischen Einrichtungen im Gegenzug für lokale Heilpflanzen etwas größere Mengen an deutschen Medikamenten zuzuweisen.35 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Organe der Militärverwaltung auf verschiedenen Ebenen die Frage besprachen, ob nicht auch der lokalen Bevölkerung eine bestimmte Menge an Medikamenten zugewiesen werden sollte. So wurde bei einer Beratung der Vertreter der Militärverwaltungen im rückwärtigen Heeresgebiet, die am 27. Mai 1942 in Kremenčuk stattfand, die Notwendigkeit betont, im Notfall aus den Ressourcen der Wehrmacht Arznei- und Verbandmittel an die lokale Bevölkerung auszuteilen. Es ist aber nicht festzustellen, ob dies tatsächlich erfolgte.36 Die Verwendung der von der Wehrmacht als Kriegsbeute gewonnenen Medikamente zum Zweck der Versorgung der lokalen Bevölkerung war nicht vorgesehen.37 Weil die Möglichkeiten, eine umfassende medizinische Betreuung zu gewährleisten und wichtige prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen, begrenzt waren, versuchten die lokalen Behörden mit Hilfe der Presse, die Bevölkerung mit den Symptomen, dem klinischen Bild von Krankheiten und deren Bekämpfungsmitteln vertraut zu machen. In der Regel waren die Autoren dieser Artikel Mediziner. Besonders akut war die Situation im Bereich der Infektionskrankheiten, welche nicht nur für die lokale Bevölkerung gefährlich waren, sondern auch für die Wehrmachtssoldaten. Infektionskrankheiten breiteten sich zu einem großen Teil durch Personen aus, die Sachgüter gegen Lebensmittel tauschten, oder durch Einwohner, die ihre Häuser verlassen mussten, vor allem während der Kampfhandlungen im Raum Charkiv und Donbas im Winter 1942/43.38 Die Besatzungspresse betonte: „[…] jedes Krankenhaus muss seine Arbeit so organisieren, dass es jeden Augenblick zur Betreuung von epidemischen Kranken wechseln oder ganz zu einem Infektionskrankenhaus werden könnte.“39 Um die Gefahren zu vermeiden oder wenigstens zu reduzieren, wurde im Hüttenwerk in Kostjantinivka beispielsweise die Herstellung fahrbarer Desinfektionskammern auf den Weg gebracht.40 34 35 36 37 38 39 40
Doneckij vestnik v. 28.6.1942. BАrch-MА, RH 23/353, fol. 82. BАrch-MА, RH 22/30, fol. 81. BАrch-MА, RH 22/206, fol. 25. BАrch-MА, RH 23/18, fol. 73. Doneckij vestnik v. 16.4.1942. BАrch-MА, RH 23/18, fol. 73.
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Obwohl in der Presse regelmäßig Informationen über die Notwendigkeit von Impfungen gegen Pocken, Diphtherie und Bauchtyphus sowie Berichte über Krankenhauszwangseinweisungen von Infektionskranken veröffentlicht wurden, war der rein propagandistische Charakter dieser Aufrufe angesichts der zerstörten medizinischen Infrastruktur und der katastrophalen Lage der lokalen Bevölkerung offensichtlich. Allerdings hatten dabei die Volksdeutschen gewisse Vorrechte: So wurden im Juni 1943 die Kinder der in Mariupol’ lebenden Volksdeutschen prophylaktisch gegen Pocken geimpft.41 Ein weiteres Problem war die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die die Kampfkraft der deutschen Truppen und ihre moralische Haltung beeinflussten. Wie den analytischen Berichten der deutschen Geheimdienste zu entnehmen ist, waren meistens deutsche Soldaten die Ansteckungsquelle für einheimische Frauen und über sie wiederum für andere Soldaten.42 Dass sich die Zahl der Geschlechtskrankheiten erhöhte, war, wie ein hochrangiger Offizier betonte, eine Folge des längeren Aufenthalts von deutschen Soldaten und lokalen Einwohnern auf einem Raum. Bemerkenswert ist, dass die Schuld für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten insbesondere den italienischen Militärangehörigen zugeschrieben wurde. Vermutlich ist eine solche Einschätzung durch die Tatsache zu erklären, dass die Kommunikation zwischen den lokalen Einwohnern und den Soldaten der mit Deutschland verbündeten Armeen, vor allem den Italienern, deutlich besser verlief als mit deutschen Soldaten. Italiener hatten in der Regel keine ausgeprägten Rassenstereotype, daher waren sie eher bereit, persönliche Kontakte aufzubauen, auch sexueller Art mit einheimischen Frauen, wodurch sie zur Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten beitrugen. Bezeichnend sind in dieser Hinsicht die Erinnerungen eines Einwohners von Juzivka, B. Rogoz: „[…] Die Italiener waren sehr lustig […] Fröhliche Männer, die sich an die Fersen unserer Mädchen hefteten, wie weiß ich nicht wer. Und unsere Mädchen hefteten sich übrigens auch an ihre Fersen, wie weiß ich nicht wer“.43 Ein erhebliches Hindernis bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten war der Mangel an notwendigen Medikamenten.44 Zum Zweck einer „wirksamen und schnellen Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten und anderen Infektionskrankheiten“45 wurde in einigen Städten ein spezieller Sanitätsordnungsdienst geschaffen. Seine Aufgaben bestanden darin, die Quellen der Infektion festzustellen, die Geschlechtskranken unter der lokalen Bevölkerung zu identifizieren, diese zur Zwangsbehandlung einzuweisen und somit die Ausbreitung dieser Krankheiten zu verhindern. Obwohl der Artikel „Aufruf an die Bevölkerung des Gebiets Juzivka“,46 der im Mai 1943 in der lokalen Zeitung erschien, einerseits die Notwendigkeit der Behandlung von Geschlechtskrankheiten hervorhob und andererseits behauptete, 41 42 43 44 45 46
Marijupil’s’ka hazeta v. 17.6.1943. ВАrch-MA, R 58/698, fol. 203. Interview mit B. V. Rogoz, Jahrgang 1933 (Donec’k, Februar 2005), Privatarchiv des Autors. ВАrch-МА, RH 22/206, fol. 25. ВАrch-МА, RH 23/353, fol. 53. Doneckij vestnik v. 16.5.1943.
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die Kranken würden mit allen wichtigen Medikamenten versorgt, war das Schicksal von Geschlechtskranken oft tragisch. Sowjetische Dokumente aus dem Archiv der Verwaltung des Sicherheitsdienstes der Ukraine im Gebiet Donec’k zeigen, dass die vom Sanitätsordnungsdienst identifizierten Geschlechtskranken in für die Behandlung ungeeigneten Räumlichkeiten unter Polizeischutz isoliert wurden, einige von ihnen wurden sogar getötet.47 Auch deutsche Quellen bestätigen eine solche „Lösung“ des Problems: „[…] um die Weiterverbreitung der Krankheit zu vermeiden“ wurden vom SD im Frühjahr 1943 fünfzig geschlechtskranke Frauen in Mariupol’ erschossen.48 Ziemlich kompliziert ist die Frage der Politik in Bezug auf eine Regulierung der Geburtenrate. Bei der Planung der Maßnahmen auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion ging die NS-Führung von der Notwendigkeit der „Schädigung“ der biologischen Kraft der lokalen Bevölkerung aus. Deswegen waren Maßnahmen wie gezielte Nahrungsmittelverknappung, Abtreibungen und Zwangssterilisierung durchaus erwünscht.49 Es ist bemerkenswert, dass zu Beginn der Okkupation die Abtreibung erlaubt wurde, was unter sowjetischer Herrschaft verboten gewesen war.50 Doch die Langwierigkeit des Krieges setzte die Frage nach Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten auf die Tagesordnung, d. h. dass angesichts des nun notwendigen Nachschubs an neuen Arbeitskräften die Fortpflanzung der lokalen Bevölkerung eine Rolle zu spielen begann, was offensichtlich zur Änderung der bis dahin bestehenden Dogmen führte. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, dass im rückwärtigen Heeresgebiet zahlreiche Kinder von deutschen Soldaten auf die Welt kamen. Dies bedeutete auch die Möglichkeit der Germanisierung der besetzten Gebiete.51 Offensichtlich hing mit diesen Überlegungen das nach einer Verordnung des Leiters der Sanitätsverwaltung in Donbas, Kubaš, verabschiedete Verbot von Abtreibungen im Juli 1943 zusammen. Abtreibungen durften nunmehr nur noch nach dem Beschluss spezieller Abtreibungskommissionen durchgeführt werden, und das nur im Falle der Gesundheitsgefährdung der Mutter. Abtreibungen nach „sozialen Merkmalen“52 waren ausgeschlossen.
47 48 49 50 51
52
Archiv der Verwaltung des Sicherheitsdienstes der Ukraine im Gebiet Donec’k, D. 60090 in 8 Bänden, Band 3, A.127. ВАrch-МА, RH 22/131, fol. 35. Vjačeslav I. Dašičev, Bankrotstvo strategii germanskogo fašizma. Istoričeskie očerki. Dokumenty i materialy, Bd. 2. Agressija protiv SSSR. Padenie „Tret’ej imperii“, Moskau 1973, S. 37 u. 39. Siehe den Beitrag von Alexander Pesetsky in diesem Band. Dieser Aspekt des Problems muss noch weiter untersucht werden. In der NS-Führung gab es keine einheitliche Meinung in Bezug auf solche Kinder. Nach einigen Einschätzungen lag die Zahl der Kinder von deutschen Soldaten, die im besetzten Territorium geboren wurden, bei bis zu 500.000. Vgl. dazu: Regina Mühlhäuser, Between Extermination and Germanization. Children of German Men in the Occupied Eastern Territories, 1942–1945, in: Kjersti Ericsson u. Eva Simonsen (Hrsg.), Children of World War II: The hidden enemy legacy, Oxford, New York 2005, S. 167–189. DADO, F. R-1870, O.1, S. 1, A. 134.
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GEISELN DER OKKUPATION: NEUGEBORENE, WAISEN, PSYCHISCH KRANKE UND KINDER ALS BLUTSPENDER Katastrophal entwickelte sich während der Okkupation die Todesrate unter den Kindern, vor allem Neugeborenen, die in Folge von Unterernährung, Infektionskrankheiten und dem Mangel an medizinischer Versorgung und notwendigen Medikamenten starben. So überlebten beispielsweise 1942 in Charkiv von 2199 geborenen Kindern 1118 Kinder nicht das erste Lebensjahr, d. h. mehr als 50 Prozent.53 Genauso war die Situation in den Kinderheimen, wo sich in Folge der großen Zahl an Kindern Infektionskrankheiten sehr schnell ausbreiteten, was zu einer hohen Sterblichkeitsrate führte. Die Vernichtung von psychisch Kranken in den besetzten Gebieten war Ausdrucksform der nationalsozialistischen Genozidstrategien. Es ist bekannt, dass diese Kategorie von Kranken, neben Juden, Roma, sowjetischen Funktionären und Kommunisten, von Einsatz- und Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD vernichtet wurde. Ein Paradebeispiel der nationalsozialistischen Politik in Bezug auf psychisch Kranke in der Ukraine war die Vernichtung der Patienten des Kirilo-Krankenhauses in Kiew im Oktober 1941 und Oktober 1942.54 Das gleiche Schicksal ereilte ungefähr 1500 Patienten des Krankenhauses in Ihren’ bei Dnipropetrovs’k und 565 Patienten in Poltava.55 Vermutlich wurden neben psychisch kranken Patienten, die über längere Zeit hinweg behandelt worden waren, auch einige Patienten ermordet, die unter Nervenzusammenbrüchen als Folge des Krieges litten56 und deren Heilung und Rehabilitation sehr wahrscheinlich gewesen wäre. Leider erlauben es die verfügbaren Quellen nicht, die Besonderheiten in der Umsetzung dieser Politik auf dem Territorium des Militärverwaltungsgebiets von allen Seiten zu beleuchten. Es ist jedoch möglich, einige Erscheinungsformen zu charakterisieren. So wurden beispielsweise Ende 1941 psychisch kranke Patienten der Psychiatrie in Černihiv ermordet.57 Zwischen Ende Oktober und Ende Dezember 1941 fanden drei Mordaktionen in der Psychiatrie statt: etwa 400 Patienten wurden erschossen oder vergast. Die Anstalt wurde geschlossen. Bereits im Februar 1942 wurde allerdings eine Psychiatrieabteilung im Stadtkrankenhaus eröffnet, die bis zum Juli 1942 existierte. Im Stadtkrankenhaus wurden etwa 100 Psychiatriepatienten vergiftet.58 Unter dem Deckmantel der Verlegung von Patienten in medizinische Einrichtungen auf dem Territorium der Gebiete Dnipropetrovs’k und Poltava59 wur53 54 55 56 57 58 59
A. V. Skorobohatov, Charkiv u časy nimec’koji okupaciji (1941–1943), Charkiv 2004, S. 306. Ronald Headland, Messages of murder: a study of the reports of the Einsatzgruppen of the Security Police and the Security Service, 1941–1943, London 1992, S. 64. Ebd., S. 65. Anatolij V. Kuznecov, Babij Jar, Мoskau 2010, S. 230. Headland, Messages of murder (Anm. 54), S. 64. Černigovščina v pereiod Velikoj Otečestvennoj vojny (1941–1945 gg.). Sbornik dokumentov i materialov, Kiew 1978, S. 92 f. Nova Ukrajina v. 11.12.1941. Der Autor bedankt sich bei Dr. Alexander Friedman für die Zusendung des Artikels aus der Zeitung Nova Ukrajina, der die für die Öffentlichkeit bestimmten Pläne der Lokalbehörden in Bezug auf psychisch Kranke charakterisiert.
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den mehr als 470 Patienten des psychoneurologischen Instituts, das sich auf „Saburov Datschas“ bei Charkiv befand, erschossen.60 Während des 1965 in Wuppertal durchgeführten Gerichtsprozesses gegen Angehörige und den ehemaligen Chef des Einsatzkommandos 6 der Einsatzgruppe C wurden dreißig psychisch kranke Frauen erwähnt, die im Raum Juzivka zwischen Dezember 1941 und Juli 1942 getötet wurden.61 Diese Zahl wurde in eine der Hauptquellen zur Tätigkeit der Einsatzgruppen und ihrer Abteilungen – den Einsatz- und Sonderkommandos – nicht aufgenommen, nämlich in die „Ereignismeldungen UdSSR“. Daraus lässt sich schließen, dass die Zahl der getöteten Geisteskranken größer gewesen sein muss, als aus den deutschen Quellen ersichtlich ist. Nach sowjetischen Angaben wurden insgesamt 29 Psychiatriepatienten in Makijivka 1942 und im Frühjahr 1943 erschossen.62 In der psychiatrischen Klinik in Svatove, die Gebietsstatus hatte, starben nach Angaben der sowjetischen Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Untersuchung der deutschen Kriegsverbrechen im Gebiet Vorošilovhrad 212 Menschen an Hunger.63 Nach Angaben von I. V. Rusavskij, der von 1982 bis 2006 Chefarzt dieses Krankenhauses war und viele ehemalige Mitarbeiter des Krankenhauses kannte, wurden keine gezielten Maßnahmen zur Vernichtung der Patienten im Krankenhaus durchgeführt. Viele Patienten wurden dank der Bemühungen des medizinischen Personals sowie der lokalen Einwohner gerettet. Die psychiatrische Klinik in Svatove war das einzige Krankenhaus dieser Art auf dem Territorium der Ukraine, in dem es gelungen ist, einen erheblichen Teil der Patienten zu retten.64 Dass es im Frontgebiet viele Lazarette gab, in denen verwundete Soldaten der Wehrmacht behandelt wurden, hatte für die lokale Bevölkerung sowohl Vor- als auch Nachteile. Auf der einen Seite gab dies der lokalen Bevölkerung die Möglichkeit, Arbeit in den Lazaretten zu finden, hauptsächlich als Wäscherinnen und Krankenschwestern, und somit sich selbst und ihre Familien zu versorgen. Arbeit in den Lazaretten war auch ein Faktor, der zu einem gewissen Grad vor der Zwangsdeportation nach Deutschland schützte. Auch erinnerten die Überlebenden sich nicht selten daran, dass Kinder die Verwundeten in Lazaretten um Lebensmittel baten und sie auch bekamen.65 Gleichzeitig führte der Mangel an Spenderblut in den Krankenhäusern dazu, dass Kinder als Spender missbraucht wurden. Geschwächte Kinder, denen große Blutmengen entnommen wurden, starben häufig daran. So wurde beispielsweise im 60 61 62 63 64 65
Petrjuk u. Petrjuk, Psichiatrija pri nacizme (Anm. 1), S. 91. Tanja Penter, Kohle für Stalin und Hitler. Arbeiten und Leben im Donbass 1929 bis 1953, Essen 2010, S. 239. DADO, F. R-1838, O.1, S. 7, A. 44 g. Ivan A. Gerasimov u. a. (Hrsg.), Kniga skorbi Ukrainy: Luganskaja oblast’, Bd. 1, Luhans’k 2001, S. 413. Telefonisches Interview mit I. V. Rusavskij, Jahrgang 1946 (Donec’k, Oktober 2011), Privatarchiv des Autors. Interview mit N. D. Kostorna, Jahrgang 1931 (Kostjantinivka, Dezember 2004), Privatarchiv des Autors; Interview mit L. N. Kulešova, Jahrgang 1930 (Kostjantinivka, Dezember 2004), Privatarchiv des Autors; Interview mit V. S. Efremov, Jahrgang 1932 (Donec’k, Januar 2011), Privatarchiv des Autors.
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Februar 1942 in Makijivka in einem ehemaligen Kindergarten auf Befehl des Kommandanten der besetzten Stadt, Major Müller, das Kinderheim Prizrenie („Versorgung“) geschaffen, in dem sich während der Okkupation etwa 600 Kinder im Alter von sechs Monaten bis 14 Jahren befanden. Nach der Befreiung der Stadt wurden hier zirka 300 Kinderleichen gefunden. Den Angaben der sowjetischen Untersuchungskommission zufolge starben diese Kinder an Infektionskrankheiten und extremer Erschöpfung, was das fast völlige Fehlen von Fettgewebe bestätigte. Leider konnten nicht alle Opfer dieser barbarischen Behandlung identifiziert werden. Es wurden etwa 120 Namen der Toten nachgewiesen.66 Diejenigen, die als Kinder die Besatzung der Stadt überlebten, nahmen rückblickend das Risiko, unfreiwillig zu Spendern zu werden, als eine der schrecklichsten Gefahren wahr: „Zweimal ist es mir gelungen, der Razzia zu entgehen. Dadurch habe ich mich gerettet, denn die Minderjährigen wurden festgenommen, bei ihnen wurde Blut für die verwundeten Deutschen entnommen[…]“67 „Wissen Sie, wir Jungs wurden gefangen und selektiert, um uns ins Krankenhaus68 zur Blutspende zu schicken […] Und sie entnahmen schrecklich viel Blut. Und ich wusste schon, wie das Blut entnommen wurde, obwohl es bei mir nicht entnommen wurde […] Ja, diejenigen, die da waren, erzählten. Man sagte, uns werde was zu essen gegeben. Nichts – Fußtritt und geh. Und sie entnahmen bei Kindern so viel Blut wie bei Erwachsenen. Und dann kompensiere es bei dieser Ernährung […] Sie entnahmen es bei Kindern direkt […]. Die Kinder wurden extra verhaftet. Weil bei Erwachsenen – Gott weiß es. Es gab keine Zeit zu überprüfen, was sie hatten – Grippe oder Tuberkulose.“69 MEDIZINISCHE VERSORGUNG SOWJETISCHER KRIEGSGEFANGENER Einen schockierenden Eindruck auf die lokale Bevölkerung machte die Haltung der Deutschen den sowjetischen Kriegsgefangenen gegenüber. Hungrig, bei der Kälte des Winters halbnackt, oft verwundet oder voller Erfrierungen, blieben sie in den meisten Fällen fast ohne jegliche medizinische Hilfe. Die Sterblichkeit unter den Kriegsgefangenen in den Lagern war in Folge von Unterernährung und Infektionskrankheiten enorm, wie in fast allen Zeitzeugenberichten erwähnt wird: „Unsere Gefangenen taten uns so leid. Sie waren nackt, ohne Schuhe. Was brachten diese Wickelgamaschen? Es war ja kalt. Und es wurde nicht geheizt, da, wo sie in dieser Schule waren. Es gab da sehr viele. Sehr viele. Schrecklich […] Sie mussten in der Stadt Schnee räumen. Im Winter, ich erinnere mich, trugen sie einen kranken Gefangenen auf ihren Schultern und gingen so. Denn wenn sie das nicht machen würden … Es wurden Kranke, schwer Kranke weggetragen. Es gab ja da auch Verwundete … Sie wurden auch nicht behandelt. Zumindest einige gaben ihnen etwas zu essen. Man fragte die Deutschen, 66 67 68 69
Fakty v. 2.6.2011. Interview mit B. V. Rogoz, Jahrgang 1933 (Donec’k, Februar 2005), Privatarchiv des Autors. Krankenhaus im Dorf Makijivka. Interview mit Е. М. Fursov, Jahrgang 1932 (Donec’k, April 2005), Privatarchiv des Autors.
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ob man ihnen etwas geben könnte. Sie erlaubten es. Aber wenn ein Gefangener fiel, war er nicht mehr brauchbar, dann wurde er erschossen. Erschossen. Sie wurden ja nicht behandelt. Es gab da Typhus, eine schreckliche Sache. Es wurden da Menschen lebendig begraben, lebendig! Leiterwagen – wissen Sie, Pferde und Leiterwagen… Der Leiterwagen wurde beladen – das machten auch die Gefangenen selbst – sie wurden gezwungen, sie zu beladen. Und dann fuhren sie alles in die Grube weg, das war’s.“70 Die relative Häufigkeit der Verweise auf den Tod von Kriegsgefangenen während der Interviews deutet auf die Massensterblichkeit unter dieser Gruppe hin. In der Forschung geht man davon aus, dass allein im Winter 1941/42 ca. zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene ums Leben kamen.71 In diesem Zusammenhang spielten die unter den deutschen Soldaten verbreiteten Ansichten in Bezug auf Slawen eine große Rolle: Sie seien Menschen, die sich auf der unteren Stufe der Zivilisationsentwicklung befänden, fähig, Not und Leid wie Tiere auszuhalten, weswegen sie keiner besonderen Pflege bedürften. Viele Soldaten und Offiziere waren beeinflusst von der nationalsozialistischen Rassenideologie, geneigt, lokale Einwohner und Kriegsgefangene a priori als Menschen zu betrachten, deren Fähigkeit „…Schwierigkeiten zu ertragen, einem deutschen Soldaten als Äußerung einer nichtmenschlichen Natur erschien.“72 Eine totale Entmenschlichung des Feindes in den Augen der deutschen Kriegsführung war der Schlüsselfaktor, der zur Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen führte. Folgendermaßen erinnerte sich der Arzt M. I. Perepečaenko, der während der Okkupation die Abteilung für Gesundheit in Horlivka leitete, an seinen Besuch eines Kriegsgefangenlagers: „Was ich da gesehen habe, kann man schwer beschreiben. Sie waren sich noch bewegende Leichen … Als ihnen klar wurde, dass ich ein russischer Arzt bin, baten sich mich, dass ihnen ein Stück Brot gegeben werde, gerade ein Stück. Während ich sie mir anschaute, starben drei vor meinen Augen. Auch ein Lagerarzt und anscheinend ein Chef, ein deutscher Offizier, waren anwesend. Der Arzt sagte mir über den Dolmetscher, dass sie in ein Krankenhaus abgeholt werden müssten, sie seien krank. Ich sagte, dass es nicht schwer sei, sie ins Krankenhaus zu bringen, aber die Lagerleitung sorge ja nicht für ausreichende Ernährung. Und wenn man Lebensmittel verteilt hätte, wären sie nicht in diesem Zustand gewesen. Ich sagte Folgendes: ‚Ich bin ein russischer Arzt und Sie ein deutscher, also verstehen Sie ja, dass die Hungrigen mit Brot und nicht mit Medikamenten ernährt werden müssen.‘“73 70 71
72 73
Interview mit N. D. Kostorna, Jahrgang 1931 (Kostjantynivka, Dezember 2004); Privatarchiv des Autors. Krisitan Štrajt, Sovetskie voennoplennye – massovye deportacii – prinuditel’nye rabočie, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Vtoraja mirovaja vojna. Diskussii. Osnovnye tendencii. Rezul’taty issledovanij, Übersetzung aus dem Deutschen. Vorwort von V. Ran, Moskau 1997, S. 589 [Christian Streit, Sowjetische Kriegsgefangene – Massendeportationen – Zwangsarbeiter, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg: Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1997]. Džerri Kraut, „Okopnaja pravda“ Vermachta, Moskau 2009, S. 268 f. Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] (nachfolgend GARF), F. (= Fond) 7021, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 72, D. (= Delo) [Akte] 19, L. (= List) [Blatt] 286, 287.
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Die Lazarette, die es in den Lagern gab, waren oft trotz der Bemühungen des medizinischen Personals, das aus den Kriegsgefangenen selbst bestand, keine wirksame Hilfe, denn es mangelte an Medikamenten, medizinischen Instrumenten und Lebensmitteln. In einigen Fällen konnte ein Aufenthalt im Lazarett, insbesondere im Lazarett des Kriegsgefangenenlagers im Lenin-Haus der Kultur in Juzivka, sogar den Tod bedeuten. Die hilflosen Menschen wurden von der deutschen Wache, der deutschen Lazarettverwaltung oder kollaborierenden Ärzten misshandelt.74 Mehr Chancen auf Überleben und Genesung hatten verwundete Kriegsgefangene, die in Krankenhäusern für die Zivilbevölkerung oder für Kriegsgefangene behandelt wurden, welche sich beispielsweise in Juzivka, Charkiv, Kramators’k, Izjum oder Slov”jan’sk befanden. Und das trotz der Tatsache, dass es in ihnen an elementaren Dingen mangelte – von Bettzeug bis Geschirr (um dieses Defizit zu beseitigen, wurden Spendenaufrufe an die Bevölkerung veröffentlicht).75 Das zivile medizinische Personal, das dort arbeitete, hatte etwas mehr Möglichkeiten, den Kriegsgefangenen zu helfen, zumindest mit einigen Medikamenten und Lebensmitteln, die von lokalen Einwohnern gespendet wurden. In Folge eines relativ lockeren Bewachungssystems und einer nicht immer entsprechenden Kontrolle gelang es in einigen Fällen, die Flucht von Kriegsgefangenen zu organisieren. Ein Paradebeispiel dafür ist die Tätigkeit der Untergrundkämpfer in Juzivka, denen es in kurzer Zeit gelang, aus der Abteilung für Kriegsgefangene des zentralen klinischen Krankenhauses ungefähr 240 sowjetische Kriegsgefangene zu befreien.76 Mehrmals wurde auch die Flucht von Kriegsgefangenen aus Krankenhäusern und Kliniken für Kriegsgefangene in Charkiv organisiert.77 Wie bereits erwähnt, leistete die Zivilbevölkerung große Hilfe für sowjetische Kriegsgefangene. Dadurch sank die Todesrate unter den Kriegsgefangenen. Die institutionalisierte Form der Hilfeleistung wurde in mehreren Städten, beispielsweise in Mariupol’ und Charkiv, durch Abteilungen des Roten Kreuzes organisiert. Allerdings wurde das Rote Kreuz in Charkiv nach einiger Zeit geschlossen, stattdessen wurde die Organisation „Dopomoha“ (ukr. „Hilfe“) geschaffen.78
74 75 76 77
78
V. Šutov, Smerti smotreli v lico, Donec’k 1981, S. 125. Doneckij vestnik v. 25.1.1942. Doneckij vestnik v. 18.1.1942; Interview mit M. I. Saenko-Polončuk, Jahrgang 1925 (Donec’k, Januar 2005), Privatarchiv des Autors. V. F. Trufanova, Tak postupali sovetskie mediki, in: V bojach za Char’ kovščinu. Vospominanija učastnikov Velikoj Otečestvennoj vojny, Charkiv 1968, S. 153–162; K. R. Sedov, Pod strachom smertnoj kazni, in: V bojach za Char’kovščinu. Vospominanija učastnikov Velikoj Otečestvennoj vojny, Charkiv 1968, S. 163–165. A. I. Meščaninov, Dolg vrača, in: V bojach za Char’kovščinu (Anm. 77), Charkiv 1968, S. 149–152, insbesondere S. 150. Es ist wahrscheinlich, dass der Name „Rotes Kreuz“ von lokalen Hilfsorganisationen verwendet wurde, um ihre Arbeit zu legitimieren. Es fehlen zuverlässige Quellen, welche Kontakte dieser Abteilungen mit dem Internationalen Roten Kreuz bestätigen.
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„… DER FEIND IST AUCH EIN MENSCH“: ZEICHEN DER MENSCHLICHKEIT GEGENÜBER DER ZIVILBEVÖLKERUNG Im Allgemeinen wurde die Besatzungszeit in der sowjetischen Geschichtschreibung als eine Zeit der Entmenschlichung dargestellt. Allerdings erlauben die Erinnerungen Dutzender Zeitzeugen, die vom Verfasser zwischen 2001 und 2012 gesammelt wurden,79 dieses Stereotyp zu einem gewissen Grad zu revidieren. Einigen Angehörigen der Kriegsgeneration blieben Fälle in Erinnerung, in denen sich Menschen, die durch sowjetische Luftangriffe verletzt worden waren, an deutsche Ärzte wandten. Anscheinend waren solche Fälle keine Seltenheit. So gab es im Bericht der Feldkommandantur 538 für den Zeitraum vom 16. Juni bis zum 15. Juli 1942 Angaben über die Zahl der Toten und Verletzten sowohl unter den deutschen Soldaten als auch unter den Zivilisten in Folge sich häufender sowjetischer Luftangriffe, insbesondere in Mariupol’ und Volnovacha. 77 Zivilisten kamen dabei ums Leben, 150 Menschen wurden verletzt.80 Auch in den Erinnerungen deutscher Soldaten werden solche Fälle erwähnt, ebenso wie die Hilfeleistungen deutscher Ärzte.81 Eine große Zahl von Unfällen und Verletzungen im Frontgebiet, insbesondere bei Kindern, geschah aufgrund des ziemlich leichten Zugangs zu Waffen und Munition. Ein Zeitzeuge berichtet: „… Ein Kind kam zu mir und sagte: ‚Wir haben eine neue Art von Granaten gefunden. Kommst Du sie entladen?‘ … Und so gehe ich hin,…- Knall-Knall. Ich sehe Rauchschwaden und denke: ‚Mist! Sie haben sie entladen!‘ Ich komme näher (das bleibt mir mein ganzes Leben lang in Erinnerung): Zwei waren auf der Stelle tot und beim dritten waren die Augen verletzt, das Gesicht war verstümmelt und das Kind kroch im Kreise herum. Daran erinnere ich mich noch, im Kreise herum. Das ist interessant – im Kreise herum! Stellen Sie sich vor, im Epizentrum der Explosion, und hier kriecht er im Kreise herum und dann lag er still. Mein Gott! Ganz in der Nähe ihrer Häuser. Die Mütter rannten heraus. Oh, unheimlich. Und wenn eine Hand abgerissen war oder ein Auge verletzt, so war es völlig normal. […] Wissen Sie, es wurden viele Waffen liegen gelassen. Sowohl die Deutschen ließen sie liegen als auch unsere Soldaten.“82 Die Zivilbevölkerung, die nicht immer mit der Hilfe eines einheimischen Arztes rechnen konnte, wandte sich in einigen Fällen an deutsche Ärzte, und gegen eine bestimmte Bezahlung (in der Regel Lebensmittel) bekam sie manchmal Hilfe. In einigen Fällen machten deutsche Ärzte sogar Hausbesuche. So erinnerte sich ein Einwohner von Juzivka, Tkačenko, der während der Okkupation in einer der Gru79
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Tanja Penter, Dmitrij Titarenko (= Dmytro Tytarenko), Local memory on war, German occupation and postwar years. An oral history project in the Donbass, in: Cahiers du monde Russe, Vol. 52, Nr. 2–3 (2011), S. 475–497; Dmitrij N. Titarenko (= Dmytro Tytarenko) u. Tanja Penter, Opyt nacistskoj okkupacii v Donbasse: svidetel’stvujut očevidcy, Donec’k 2013. ВАrch-МА, RH 22/47, fol. 159. К. Podevil’s, Boi na Donu i Volge. Oficer vermachta na Vostočnom fronte. 1942–1943, Übersetzung aus dem Deutschen von А. V. Korol’kov, Moskau 2010, S. 59 [Clemens von Podewils, Don und Wolga. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1942, München 1952]. Interview mit Е. М. Fursov, Jahrgang 1932 (Donec’k, April 2005), Privatarchiv des Autors.
Medizinische Betreuung und nationalsozialistische Krankenmorde in der Ukraine
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ben der Stadt arbeitete: „… Es gab auch gute Deutsche… zu mir, zu meinem Vater kam sogar ein deutscher Arzt. Ich fragte ihn: ‚So und so, mein Vater ist krank‘. Und er kam, schaute ihn sich an und sagte: ‚Ich kann nichts tun‘. Mein Vater hatte kranke Beine, Rheuma. Damals, wissen Sie, versuchten sie, diese Krankheit zu heilen.“83 Abgesehen davon, dass der Besuch eines deutschen Arztes nicht erfolgreich war und dem Vater des Zeitzeugen nicht half, lassen die Tonlage und der emotionale Hintergrund des Gesprächs darauf schließen, dass der Besuch des deutschen Arztes, des Besatzers, dennoch einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ. Der Zeitzeuge sah in ihm nicht nur den Vertreter eines feindlichen Staates, sondern auch einen Menschen mit Emotionen, der seine berufliche Pflicht nicht vergessen hatte. In einigen Fällen erwähnten die Befragten auch, dass deutsche Soldaten Hilfe geleistet hätten, indem sie Bandagen, Watte und Jod gaben, was für die lokale Bevölkerung unter den Besatzungsbedingungen ein Luxus war.84 KRANKHEIT ALS MITTEL ZUM ZWECK Es mag paradox klingen, aber während der Okkupation versuchte in einigen Fällen ein Teil der lokalen Bevölkerung zu erkranken oder Krankheit vorzutäuschen. Dies war auf die Kampagne der Arbeitsanwerbung für Deutschland zurückzuführen. Aufgrund des Zwangscharakters der Anwerbung, vor allem ab Mitte 1942, versuchten viele Einwohner, die nach Deutschland abtransportiert werden sollten, dem zu entgehen, indem sie vortäuschten krank zu sein. Zu diesem Zweck versuchte man, von bekannten Ärzten gefälschte Atteste zu bekommen. Vor medizinischen Untersuchungen simulierte man durch die Einnahme von Tabakabsud gesteigertes Herzklopfen, Symptome von Infektionskrankheiten, fügte sich chemische oder thermische Verbrennungen und Verletzungen zu. In einigen Fällen verursachten diese selbst zugefügten Verletzungen große gesundheitliche Probleme für den Rest des Lebens. Dieses Problem trug in den 1990ern Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre in gewisser Weise zu einem sozialen Problem bei, das mit der Entschädigungsauszahlung an die Opfer des Nationalsozialismus, in erster Linie an die Ostarbeiter, zusammenhing. Nach Meinung des bekannten Donec’ker Historikers und Journalisten G. Lunkin könne der gesundheitliche Schaden von Menschen, die auf solche Weise versucht hatten, der Deportation nach Deutschland zu entgehen, als Grundlage gesehen werden, diese Menschen zur Kategorie der Opfer des Nationalsozialismus zu zählen.85
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Interview mit N. K. Tkačenko, Jahrgang 1925 (Donec’k, April 2004), Privatarchiv des Autors. Interview mit T. I. Ivanova, Jahrgang 1931 (Donec’k, Januar 2011), Privatarchiv des Autors. Donbass v. 6.11.2003.
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Dmytro Tytarenko
ZUSAMMENFASSUNG Die nationalsozialistische Okkupation führte zu einem tiefen sozial-psychologischen Trauma der Bevölkerung der Ukraine. Dies hing nicht zuletzt mit der Geringschätzung menschlichen Lebens und der „Normalität“ des physischen Leidens während des Krieges zusammen. Die einheimischen Lokalverwaltungen, die in den besetzten Gebieten tätig waren, konnten die Situation nur minimal beeinflussen, obwohl sie durchaus an der Gewährleistung medizinischer Hilfe für die Bevölkerung interessiert waren. Das lag vor allem an ihren begrenzten Ressourcen und der Abhängigkeit von der Militärverwaltung. Was die Position der deutschen Militärverwaltung in den besetzten Gebieten angeht, so war sie pragmatisch. Gerade dieser Pragmatismus spiegelte sich in einer Art Dichotomie wider: Auf der einen Seite wurden Geschlechtskranke, psychisch Kranke und behinderte Menschen ermordet, auf der anderen Seite war die Militärverwaltung bestrebt, die Krankheitsquote unter der lokalen Bevölkerung zum Zweck der effektiveren Ausnutzung ihrer Arbeitskraft zu senken. Der Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal wurde zu einem ernsthaften Problem in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, trotz der Versuche der Besatzer, dies mit Hilfe verschiedener medizinischer Ausbildungskurse und Fachschulen zu beseitigen. Der häufigste Grund für Krankheit und Tod unter der Zivilbevölkerung wurde der katastrophale Mangel an notwendigen Medikamenten. Gleichzeitig hatte die Bevölkerung in einigen Fällen die Möglichkeit, medizinische Hilfe von deutschen Ärzten und manchmal sogar von Wehrmachtsangehörigen zu erhalten. Dies zeigt nicht nur eine gewisse Menschlichkeit trotz der Entmenschlichung der sozialen Beziehungen und der von der nationalsozialistischen Führung kultivierten Verachtung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten, sondern auch, dass die Okkupation keineswegs eindimensional analysiert werden kann. Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
VERNICHTUNG VON PSYCHISCH KRANKEN UND BEHINDERTEN MENSCHEN UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION IM NORDWESTEN RUSSLANDS Boris N. Kovalev Die nordwestlichen Rayons der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) waren von den Deutschen mehr als drei Jahre okkupiert. Pskov beispielsweise wurde am 9. Juli 1941 von der Heeresgruppe Nord eingenommen und erst am 23. Juli 1944 befreit. Novgorod war vom 19. August 1941 bis zum Anfang der Novgorod-Lugaer Operation der Roten Armee im Januar 1944 von den Deutschen besetzt und befand sich während dieser Zeit in ständiger Nähe zur Front. Die Evakuierung verlief zugegebenermaßen unorganisiert und schleppend. In erster Linie mussten materielle Werte evakuiert werden, insbesondere die Industrieausrüstung. Allerdings wurde auch ihre zu rasche Demontage unter Umständen mit Panikmache und Sabotage gleichgesetzt. In den Erinnerungen von Aleksandr Orlov „Novgorod. Vojna!“ („Novgorod. Krieg!“) werden die letzten Stunden vor dem Verlassen der Stadt durch die Einheiten der Roten Armee folgendermaßen beschrieben: „[…] Es wurde nicht erlaubt, etwas mitzunehmen. Man sagte, falls wir evakuiert werden sollten, dann für ungefähr drei Monate […] Es kam der Kommandant des Werkes: ‚Wozu denn diese Panik? Was für eine Evakuierung!‘ – ‚Ich zeige keine Panik, rufen Sie selbst an und fragen nach‘. Er rief an, hörte zu, und rannte davon, irgendwohin…“.1 Es ist klar, dass unter diesen Bedingungen von einer Evakuierung der psychisch kranken Menschen keine Rede war. Fast niemand von ihnen überlebte die deutsche Besatzung. Die größten psychiatrischen Krankenhäuser im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Nord befanden sich bei Pskov im Dorf Černjakoviči und in einem Vorort von Novgorod, Kolmovo. In den Akten der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (Außerordentliche Staatliche Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eindringlinge und ihrer Komplizen, und des Schadens, den sie den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, staatlichen Betrieben und Einrichtungen der UdSSR zugefügt haben) für das Gebiet Pskov wird Folgendes festgestellt: „Das deutsche Kommando vernichtete während der Besatzung sehr viele kranke Menschen. Im psychiatrischen Krankenhaus Černjakoviči tötete der Militärarzt der Okkupationsarmee Kol’de auf Anordnung des deutschen Komman1
A. I. Orlov, Novgorod. Vojna! [Novgorod. Krieg!], in: Novgorodskij komsomolec v. 25.6.1991.
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dos mehr als 500 psychisch kranke Patienten durch das Gift Scopolamin. Diese Tatsache wurde anhand von Aussagen der ehemaligen Mitarbeiter des Krankenhauses, anderen Augenzeugen sowie im Urteil des Militärtribunals des NKVD im Gebiet Pskov vom 26.–27. Februar 1945 festgestellt. Für die Beteiligung an der Ausführung der Anordnung der Besatzungsbehörden in Bezug auf die Vergiftung der Kranken wurde die Landesverräterin und ehemalige Chefärztin des Krankenhauses, M. Vasil’eva, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Auf dieses Verbrechen deuten auch die Ergebnisse einer gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen der Ermordeten“.2 Weitere Informationen über den tragischen Tod der Patienten dieses psychiatrischen Krankenhauses sind in den Archivakten des Strafverfahrens № S-8121 enthalten, die sich in der Pskover Verwaltung der Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation (FSB) befinden. Die Ärztin Marija Aleksandrovna Vasil’eva wurde beschuldigt, „auf dem Gebiet des Rayons Pskov während der deutschen Besatzung“ gewohnt, „und dadurch die sowjetische Heimat“ verraten zu haben. „Als Chefärztin des psychiatrischen Krankenhauses ‚Černjakoviči‘ kollaborierte sie mit den deutschen Eindringlingen: Auf Anweisung eines deutschen Kommandos nahm sie persönlich an der Liquidierung der sowjetischen medizinischen Einrichtung teil, wobei sie sogar die Führungsrolle übernahm, und führte zusammen mit der Oberschwester Marija Timofeevna Ivanova im Herbst und im Winter 1941/42 die Tötung des größten Teils der Patienten durch, die im Krankenhaus behandelt wurden.“3 Zeugen in dieser Sache berichteten Folgendes: „M. A. Vasil’eva erhielt als Chefärztin von den Mitarbeitern der deutschen Feldkommandantur in Pskov, insbesondere vom Arzt Kol’de, Giftstoffe zur Tötung der Patienten und übergab diese an die Oberschwester M. T. Ivanova. Dabei erhielt die Oberschwester Anweisungen zur Verwendung des Giftes, um den Tod der Kranken zu beschleunigen. So wurden insgesamt ungefähr 350 kranke Sowjetbürger getötet.“4 Im Laufe der Untersuchung wurde festgestellt, dass die Deutschen und ihre Helfershelfer „vom Herbst 1941 bis Mai 1942 im psychiatrischen Krankenhaus Černjakoviči des Rayons Pskov systematisch kranke sowjetische Bürger töteten. Hierfür verwendeten sie stark wirkende Gifte. Anfangs wurden die Patienten durch die Verabreichung eines in Kaffee aufgelösten Gifts ermordet. Um die Vernichtung zu beschleunigen, wurde ihnen später dann ein anderes, noch tödlicheres Mittel injiziert. Danach wurden die Leichen von ermordeten Patienten auf dem Friedhof in der Nähe des Krankenhauses Černjakoviči begraben.“5 M. A. Vasil’eva, Jahrgang 1905, bezeugte während des Verhörs Folgendes: „Ungefähr bis Oktober 1941 war die Lage der Patienten erträglich, aber mit dem 2 3 4 5
Gosudarstvennyj archiv Pskovskoj oblasti [Staatliches Archiv des Gebiets Pskov] (nachfolgend GAPO), F. (= Fond) 903, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 3, D. (= Delo) [Akte] 8, L. (= List) [Blatt] 65–66. Archivbescheinigung der Pskover Verwaltung der Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation in Bezug auf die Strafsache № S-8112, L. 1. Ebd. Ebd.
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Beginn der Kälte und des Lebensmittelmangels im November 1941 verschlechterte sich die Situation. Das Holz nahmen die Deutschen weg, die Lebensmittel für die Patienten wurden nicht ausgeliefert. Zu diesem Zeitpunkt schlug der Arzt Kol’de vor, mit einigen Kranken (dreißig Personen) einen medizinischen Versuch durchzuführen, d. h. ihnen ein in Kaffee aufgelöstes Medikament zu verabreichen. Das Medikament befand sich in durchsichtigen Glasflaschen des herkömmlichen Apothekertyps. Wir mussten die Ergebnisse festhalten. Die Versuche führten nicht zum beabsichtigten Tod der Patienten. Kol’de wollte herausfinden, wie schnell die Patienten sterben würden. Im Dezember 1941 bzw. Januar 1942 brachte Kol’de ein Päckchen mit einem Medikament, auf dem ‚Scopolamin‘ stand, und sagte: ‚Wenn die Kranken leiden, geben Sie ihnen Injektionen, wenn sie aufgeregt sind‘.“6 Die Ärztin Vasil’eva beschloss, einem Patienten mit krimineller Vergangenheit, der außerdem rückfällig geworden war, eine solche tödliche Injektion zu verabreichen. Er stellte eine ernsthafte Gefahr für die Anderen dar. Der Arzt Kol’de verfügte daraufhin, dass eine solche „Behandlung von gewalttätigen Patienten“ noch viel häufiger angewendet werden sollte. Danach stieg die Sterblichkeit unter den Patienten. Dieses Experiment wurde sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Krankenhausabteilung durchgeführt: „Insgesamt sind von Juli 1941 bis Mai 1942 ungefähr 400 Menschen gestorben. Genaue Todeszahlen sind wie folgt: Im Juli 1941 starben 11 Menschen, im August – 12, im September – 15, im Oktober – 45, im November – 56, im Dezember – 52, im Januar 1942 – 69, zum 9. Februar – 18 Menschen. Die übrigen Patienten wurden während des gesamten Zeitraums aus dem Krankenhaus entlassen, elf Personen wurden ins Krankenhaus in Pskov, in die neu eröffnete psychiatrische Abteilung verlegt.“7 Mitarbeiter der sowjetischen Staatssicherheit verhörten die Menschen, die potenziell von diesem tragischen Vorfall wissen konnten. So berichtete der Zeuge Matvej Makeevič Makeev, Jahrgang 1884 und Sanitäter im Krankenhaus, Folgendes: „Nach dem Eintreffen der Deutschen arbeitete das Krankenhaus und das ganze Krankenhauspersonal weiter wie zuvor. So war es bis Herbst 1941. Dann hörten die Deutschen auf, das Krankenhaus mit Lebensmitteln zu versorgen und Medikamente auszugeben. Die eigenen Reserven an Nahrungs- und Arzneimitteln waren ausgeschöpft. Den Patienten wurden Abfall und faule Kartoffeln zu essen gegeben. Ungefähr ab September war wegen des Mangels an Arzneimitteln und aufgrund von Erschöpfung eine hohe Sterblichkeit unter den Patienten festzustellen. In dieser Zeit besuchten deutsche Offiziere das Krankenhaus, die dem medizinischen Personal sagten: ‚Wir haben solche Patienten nicht, wir erschießen sie‘. Unter den Krankenhausmitarbeitern verbreiteten sich Gerüchte, dass die Deutschen die Patienten erschießen würden. In der Tat wurde diese Methode der Vernichtung von Geisteskranken nicht angewendet; es wurde eine andere Methode gewählt. Ungefähr im Februar 1942 stieg die Sterblichkeit unter den psychisch Kranken um das Fünf- bis Sechsfache und wuchs auf acht bis zehn Personen am Tag. In dieser Zeit stellte sich auch heraus, dass die Chefärztin des Krankenhauses M. A. Vasil’eva und ihre Assis6 7
Ebd., L. 2. Ebd.
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tentin, M. T. Ivanova, im Auftrag der deutschen Behörden und auf Anweisung des Leiters der Abteilung Gesundheitswesen des Rayons Pskov Kolobov gezielt die psychisch Kranken töten. Die Tötung wurde streng geheim mit Hilfe von Injektionen durchgeführt. Den Patienten wurden ca. 15 bis 20 Gramm irgendeines Gifts injiziert, das eine getrübte gelbliche Farbe hatte. Nach einer solchen Injektion, ungefähr nach zehn bis zwölf Stunden, starb die Person. Auf diese Weise und auch wegen des Hungers starben hundert Menschen. Ungefähr dreißig bis vierzig Personen aus den benachbarten Regionen Pskovs wurden aus dem Krankenhaus entlassen und als ‚gesund‘ nach Hause geschickt. Allerdings wurden alle diese Patienten auf dem Weg nach Hause von den Deutschen erschossen. Ein Patient kehrte ins Krankenhaus zurück, ihm wurde sofort eine Injektion verabreicht. Er starb nach zehn bis zwölf Stunden.“8 In dieser Zeit gab es in Pskov ominöse Gerüchte über das psychiatrische Krankenhaus: Die Einwohner berichteten sich gegenseitig über das schreckliche Schicksal seiner Patienten. Eine Woche nach der Befreiung von Pskov begann die Ermittlung von Gräueltaten der Besatzern und ihrer Helfershelfer gegen die Zivilbevölkerung. Unter anderem wurde die Entscheidung getroffen, eine rechtsmedizinische Untersuchung durchzuführen, „um die Ursachen des Todes von Patienten festzustellen“. Die Expertenkommission, die am 15. September 1944 geschaffen wurde, untersuchte folgende Fragen: 1) Ob Scopolamin eine giftige Substanz ist; 2) welche Dosis die Vergiftung des menschlichen Organismus verursacht; 3) welche physischen Eigenschaften Scopolamin besitzt; 4) auf welche Art und Weise Scopolamin zum Zweck der Vergiftung des Menschen angewendet werden kann; 5) ob Insulin die Vergiftung des menschlichen Organismus verursachen kann; 6) womit die Patienten des psychiatrischen Krankenhauses Černjakoviči des Rayons Pskov vergiftet wurden.9 Am 16. September 1944 wurde die Untersuchung durchgeführt. In dieser Zeit wurden auch die Überreste der Patienten exhumiert. In der Anklageschrift in der Sache Vasil’eva wurde festgestellt: „Von 500 Patienten zu Beginn der Besatzung, außer den 100 bis 150 anfangs aus dem Krankenhaus Entlassenen, waren im Mai 1942 nur noch zehn Menschen am Leben. Die anderen Patienten starben aufgrund von Unterernährung und in Folge von Injektionen und medizinischen Experimenten. Das Krankenhaus ‚Černjakoviči‘ wurde von den Besatzern liquidiert. Die Angeklagte Vasil’eva trat daraufhin den Dienst als Ärztin in Pskov an.“10 Nach der Bestimmung des Militärgerichtshofs auf Grundlage des Artikels. 58-1 „a“ des Strafgesetzbuchs der RSFSR mit der Anwendung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 wurde M. A. Vasil’eva für 16 Jahre Zwangsarbeit verbannt, mit Ehrenminderung für 5 Jahre, ohne Vermögensentziehung, mangels eines solchen zum Zeitpunkt der Verurtei-
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Ebd. Ebd., L. 3. Ebd.
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lung.11 Am 14. Juni 1996 entschied die Staatsanwaltschaft des Gebiets Pskov (nach Punkt „b“ des Artikels 4 des Gesetzes der Russischen Föderation vom 18.10.1991 № 1761–1 „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“), dass M. A. Vasil’eva in dieser Sache nicht rehabilitiert werden könne. Zu Beginn des Krieges unternahmen die Deutschen Versuche, geistig behinderte Menschen für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. So wurde im Juli 1941 bei Pskov ein Kinderheim besetzt, in dem sich Jugendliche befanden, die in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben waren. Sie wurden nicht erschossen, sondern es wurden ihnen sogar Fachleute zugewiesen, die ihnen versprachen, dass sie bald von ihren Müttern abgeholt würden. Tatsächlich wurden sie zusammen mit den deutschen Agenten als Evakuierte nach Leningrad geschickt. Dort positionierte man sie neben strategisch wichtigen Standorten, wie bspw. den Badaev-Lebensmittellagerhallen, damit sie während der deutschen Luftangriffe von dort Signalraketen zündeten, in dem Glauben, die Flugzeuge brächten ihre Eltern zu ihnen.12 Neben der Vernichtung von psychisch Kranken in Černjakoviči, Rayon Pskov, wurde auch das Behindertenheim Svoboda („Freiheit“) in der Siedlung Mogutovo des Rayons Novosel’sk von den Deutschen liquidiert. Wie die Zeitzeugen Karpov, Karpova, Efimova und andere berichteten, „entführten die nazistischen Besatzungsbehörden, unter dem Vorwand der Verlegung in einen anderen Ort, über 120 Behinderte aus dieser medizinischen Einrichtung. Sie wurden an das Ufer des Sees Novosel’e gebracht und erschossen. Die verbliebene Gruppe der Behinderten, 75 Personen, wurde durch gezielten Nahrungsmittelentzug ermordet“.13 Eine Art gesamtrussisches wissenschaftliches Forschungszentrum im Bereich der Psychiatrie stellte das Krankenhaus Kolmovo in einem Vorort von Novgorod dar. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war für die Psychiatrie in Kolmovo eine Blütezeit und eine Zeit der großen Errungenschaften. Es wurden medizinische Experimente in Bezug auf die Behandlung von chronischem Alkoholismus durchgeführt. Die Bettenzahl stieg von 400 im Jahre 1900 auf 580 im Jahre 1905. In den folgenden Jahren überschritt die Bettenzahl im Krankenhaus nicht 600. Tatsächlich war das Krankenhaus in dieser Zeit überbelegt; die Finanzierung entsprach nicht den Bedürfnissen der Forschungseinrichtung. Im Ersten Weltkrieg kam es zu einer Dezimierung des Personals, da Ärzte und Pflegefachkräfte in die Armee eingezogen wurden. Aufgrund steigender Lebensmittelpreise und wachsender Kosten im Agrarsektor verschlechterte sich die finanzielle Lage des Krankenhauses, der Bürgerkrieg tat sein Übriges dazu. Die sowjetische Regierung konnte nicht genügend Mittel für den Unterhalt einer so großen psychiatrischen Klinik bereitstellen. Die Zahl der Betten wurde auf 150 reduziert. Nur dank den Bemühungen der Chefärzte, namentlich des berühmten russischen Psychiaters Aleksandr Aleksandrovič fon Friken (dt. Alexander von Fricken), der diese Position von 1923 bis 1940 inne-
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Ebd. Archiv der FSB-Verwaltung im Gebiet Pskov, D. 100, L. 58. GAPO, F. 903, O. 3, D. 8, L. 66.
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hatte, wuchs die Bettenzahl im Krankenhaus allmählich um 20 bis 25 Betten. Ihre Zahl stieg bis 1930 auf 200, bis 1940 auf 600.14 Es gibt mehrere Quellen mit Informationen über den Tod der Patienten dieses Krankenhauses im Winter 1941/1942. So findet man in den Materialien für das Buch „Tschekisten bei der Verteidigung von Leningrad“ (Leningrad, 1945) Folgendes: „[…] Noch zur Massenvernichtung der kranken Sowjetbürger durch die Deutschen und ihre Helfershelfer in einem der psychiatrischen Krankenhäuser im Rayon Novgorod […] Zum Zeitpunkt der Besetzung von Novgorod durch die Deutschen im Jahr 1941 gab es im psychiatrischen Krankenhaus in Kolmovo ungefähr 800 nicht evakuierte kranke sowjetische Bürger.“15 Nach dem Krieg erzählte der Krankenpfleger Aleksej Antonovič Penzin der Staatsicherheit Folgendes: „Als ich im September 1941 im Krankenhaus Kolmovo zu arbeiten anfing, gab es da eine erhebliche Zahl von psychisch Kranken und Zivilisten, die aus dem zerstörten Novgorod geflohen waren und in zahlreichen Gebäuden der Siedlung wohnten. Neben den psychisch Kranken wurden im Krankenhaus auch andere Kranke aus den benachbarten Siedlungen behandelt, außerdem auch Kriegsgefangene der Roten Armee aus dem Lager, das auf dem Territorium eines Ziegelwerkes einen halben Kilometer von Kolmovo entfernt lag. Das medizinische Personal bestand zum größten Teil aus russischen Ärzten, die vor der Besatzung in diesem Krankenhaus tätig waren.“16 Im September 1941 entfernte ein deutsches Kommando unter dem Vorwand der Evakuierung ca. 200 Patienten aus dem Krankenhaus. Zuvor waren den Patienten Scopolamin-Injektionen in tödlicher Dosis gegeben worden. Scopolamin, ein Beruhigungsmittel, wurde nach Aussagen der Ärzte, die an dieser Aktion teilgenommen haben, üblicherweise zur Behandlung von psychisch Kranken im Falle starker Aufregung verwendet, und zwar in einer Dosis von einem halben Gramm, gemischt mit Pantopon. In diesem Fall aber bestanden die Injektionen aus reinem Scopolamin, in einer Dosis von einem Gramm. Das Medikament wurde aus Deutschland eingeführt. Nach den Injektionen transportierten die Deutschen, ohne Beteiligung des sowjetischen Medizinpersonals, die Geisteskranken in eine unbekannte Richtung ab. Dies deutet auf die Ermordung von bis zu 200 Patienten durch die Deutschen. Die restlichen Patienten – bis zu 600 Personen (meist Frauen) – starben an Unterernährung und wurden auf dem Grundstück des Krankenhauses begraben. An der Vernichtung der Kranken war neben den deutschen Militärärzten auch das sowjetische medizinische Personal beteiligt: Der Arzt Ivan Michailovič Andrievskij war vor dem deutschen Einmarsch wegen „antisowjetischer Agitation“ vor Gericht gestellt, Boris Andreevič Filistinskij nach Novgorod verbannt worden. Außerdem gehörten zum medizinischen Personal: Marija Dmitrievna Lupanova, 14
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V. P. Moskalev, Stranicy istorii zemskoj mediciny: Kolmovskaja psichiatričeskaja bol’nica [Seiten der Geschichte der Landmedizin: Psychiatrisches Krankenhaus in Kolmovo], in: Vestnik Novgorodskoj psichiatričeskoj associacii [Informationsblatt der psychiatrischen Assoziation in Novgorod], Heft 1, Novgorod 1997, S. 44. Archiv der FSB-Verwaltung im Gebiet Novgorod, D. 1/6717, L. 36. Ebd.
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Krankenschwester; Marija Vasil’evna Mel’nikova, Krankenschwester; Valentina Kuzminična Jegorova, Praktikantin; Ljubimova, Praktikantin. Von diesen begleiteten Andrievskij, Filistinskij, Jegorova und Ljubimova die Deutschen. Lupanova und Mel’nikova wohnten im Rayon Novgorod. Im Laufe der Untersuchung der Krankenvernichtung gaben Marija Dmitrievna Lupanova und Marija Vasil’evna Mel’nikova zu, dass sie an dieser Aktion beteiligt gewesen waren, und sagten diesbezüglich Folgendes aus: „Die deutschen Ärzte sagten uns mehrmals, dass in Deutschland die unheilbar Geisteskranken nach zwei Jahren Behandlung physisch vernichtet werden. Die Deutschen sowie wir alle wussten, dass ein Gramm Scopolamin eine tödliche Dosis für einen Menschen ist. Die Untersuchung dieser Sache wurde abgeschlossen, alle gefundenen deutschen Komplizen wurden verhaftet und rechtskräftig verurteilt.“17 Die Besonderheit der Untersuchungen zu Mitte der 1940er Jahre bestand darin, dass sie in unmittelbarer zeitlicher Nähe erfolgten. Die Zeugen lebten noch, sie konnten sich noch gut an die verbrecherischen Taten erinnern. Jedoch nahm die stalinistische Justiz ein schnelles Ergebnis vorweg. Nicht immer wurden die Aussagen überprüft, die während der Verhöre zustande kamen. Die Ermittler waren mehr daran interessiert, in welcher Form die jeweilige Person „die Heimat verraten hat“. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht das Strafverfahren gegen den Kommandanten in Kolmovo, Ivan Monogarov. Im Haftbefehl vom 15. März 1946 stand Folgendes: „I. P. Monogarov war in der Stadt Novgorod während ihrer Besatzung durch deutsche Truppen ansässig und an den von den Deutschen begangenen Gräueltaten in der Siedlung Kolmovo beteiligt. Als Hausmeister des Krankenhauses Kolmovo und Kommandant der Siedlung Kolmovo leitete Monogarov 1941 die Verladung der psychisch Kranken in die Wagen nach deren Vergiftung mit der tödlichen Dosis Scopolamin. Er stellte die Listen von gegenüber den Deutschen unzuverlässigen Personen zusammen, nahm an den Verhaftungen von Sowjetbürgern teil, organisierte Wohnungsdurchsuchungen zwecks der Suche nach Partisanen, verprügelte kriegsgefangene Rotarmisten. Durch die aktive Kollaboration seitens Monogarov wurden in der Siedlung Kolmovo durch Verhungern und Vergiftungen über zweitausend Sowjetbürger, darunter auch kriegsgefangene Soldaten der Roten Armee, von den Deutschen vernichtet.“ Im Verhör vom 11. März 1946 sagte der Zeuge D. P. Markelov Folgendes aus: „[…] charakteristisch für die verbrecherische Tätigkeit von Monogarov ist, dass er unmittelbar beteiligt war an allen deutschen Gräueltaten in der Siedlung Kolmovo, wo durch Hunger und spezielle Injektionen nach meinen Berechnungen zweitausend Sowjetbürger vernichtet wurden […] Zunächst einmal habe ich beobachtet, dass sich Monogarov beim deutschen Militärkommandant der Stadt Novgorod, der 1942 mindestens alle zehn Tage Kolmovo persönlich besuchte, einschmeichelte. Jedes Mal berichtete ihm Monogarov über die Situation und erhielt von ihm weitere Anweisungen […] Wenn die Inhalte ihrer Gespräche geheim waren, mussten alle Mitarbeiter die Kanzlei verlassen. […] Im März 1942 haben die Deutschen in Kolmovo ein Lager für kriegsgefangene Rotar17
Registrierungsamt der Archivbestände der FSB-Verwaltung in St. Petersburg und im Gebiet Leningrad. Materialien zur Sache № 118, L. 180–181.
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misten organisiert, die nach Verwundungen an der Front dorthin gebracht wurden. Das Lager war mit Stacheldraht eingezäunt und wurde von einem Sonderkommando der deutschen Soldaten bewacht, das mehr als ein Jahr von einem deutschen Feldwebel Romoza geleitet wurde. Die gesamte administrative Macht über kriegsgefangene Rotarmisten besaß Monogarov […] Fast alle psychisch Kranken, deren Zahl sich auf 800 Personen belief, wurden durch Unterernährung vernichtet […] Ich weiß es gut, denn ich registrierte die Todeszahlen als Buchhalter in der Kanzlei des Krankenhauses.“ Zeugin K. I. Korolëva berichtete: „ […] 1942 (an das genaue Datum und den Monat kann ich mich nicht erinnern) kam zu den Kriegsgefangenen in Kolmovo ein deutscher Offizier, er war der ‚Chef‘ der Kriegsgefangenen. Nach der Besichtigung der Gefangenen stand dieser Offizier mit Monogarov neben dem Männerblock des Krankenhauses und sprach mit ihm. Ich ging in dieser Zeit auch aus dem Gebäude raus […] und von der Außentreppe, von der sie nicht weit entfernt standen, habe ich gehört, wie der Offizier Monogarov gefragt hat: ‚Herr Monogarov, warum ernähren Sie die Gefangenen so schlecht? Sie haben ja in der Vorratskammer Lebensmittel‘. Darauf antwortete Monogarov: ‚Herr Offizier, ich tue es, weil ich versuche, das Beste für Sie zu tun. Lebensmittel lasse ich für Ihre Armee.‘“ Und weiter: „[…] Die meisten Umgekommenen wurden durch Hunger getötet. Ivan Monogarov ist ein Komplize dieser Verbrechen der Deutschen. Trotz der Bestände an Lebensmitteln, über die Monogarov verfügte, gab er den Kranken nichts zu essen. Als Ergebnis starben im Herbst und Winter 1941 täglich 25 und mehr Sowjetbürger Hungers.“ Die verbrecherische Tätigkeit von Monogarov, die mit den deutschen Gräueltaten in der Siedlung Kolmovo verbunden war, wird auch von dem bereits genannten Pfleger A. A. Penzin bestätigt, der im Verhör vom 7. März 1945 bezeugte: „[…] Ich habe gesehen, wie sich Monogarov 1941 an der Verladung der psychisch Kranken in die LKW beteiligte. Es war nach den tödlichen Injektionen, durch die die Deutschen bis zu 200 dieser Patienten getötet und vergiftet haben. Ich habe selbst gesehen, wie Monogarov zusammen mit einem deutschen Polizisten neben den LKW stand und dem Pflegepersonal Befehle gab, dass man aus den leeren Kisten eine Brücke errichten sollte, auf der die Patienten schneller in den Wagenkasten einsteigen könnten. Die Wagen, in die die psychisch Kranken geladen wurden, waren mit einem Zeltdach abgedeckt.“18 Vom großen Interesse ist der Augenzeugenbericht der Krankenschwester Marija Dmitrievna Lupanova vom 20. Mai 1946. Hier ist ein Auszug aus dem Protokoll ihres Verhörs: „Frage: Wo haben Sie gewohnt und was war Ihre Beschäftigung während des Großen Vaterländischen Krieges mit dem faschistischen Deutschland? Antwort: Während des Großen Vaterländischen Krieges 1941/45 habe ich vom August 1941 bis September/Oktober 1943 auf dem von den Deutschen besetzten Gebiet in der Siedlung Kolmovo des Rayons Novgorod gewohnt. Ich habe als Krankenschwester im Krankenhaus in Kolmovo gearbeitet. Anfang 1944 wurde ich durch die Einheiten der Roten Armee im Dorf Tajgovo, Rayon Novgorod, von den Deutschen be18
Archiv der FSB-Verwaltung im Gebiet Novgorod, D. 1/6717, L. 1–3.
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freit.- Frage: Erzählen Sie über die Taten der Deutschen in Bezug auf die Kranken im Krankenhaus Kolmovo.- Antwort: Zum Zeitpunkt der deutschen Besatzung der Siedlung Kolmovo waren im Krankenhaus Kolmovo in der dritten Abteilung, in der ich als Krankenschwester arbeitete, ca. 100 männliche Patienten zur Behandlung. Wie viele Patienten es im ganzen Krankenhaus gab, kann ich nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Zwischen September und Oktober 1941 ist keine einzige Person in der Abteilung, in der ich arbeitete, am Leben geblieben. Ca. 20 Menschen sind an Unterernährung gestorben, die anderen 80 Menschen wurden von den Deutschen vergiftet und aus dem Krankenhaus weggebracht, wie man in der Stadt sagte.Frage: Wie genau führten die Deutschen die Vergiftung der Kranken durch? Antwort: Ich kann mich nicht genau erinnern, welcher Monat es war, es war im Herbst. Ich war in der Wohnung und jemand von den Mitarbeitern des Krankenhauses sagte mir, die Deutschen bringen die Patienten der dritten Abteilung aus dem Krankenhaus weg. Ich habe mich gleich angezogen und bin ins Krankenzimmer gegangen. Als ich im Krankenzimmer war, habe ich gesehen, dass die Patienten bekleidet waren. Einigen von ihnen gab man Injektionen. Nach den Injektionen bekleidete man sie auch, führte sie auf die Straße, ließ sie in den LKW einsteigen und fuhr weg. Das Medizinpersonal sagte, dass die Deutschen sie nach Pskov bringen.Frage: Wer genau gab den Kranken die Injektionen? Antwort: Die Injektionen wurden von deutschen Ärzten verabreicht.- Frage: Waren Sie dabei? Antwort: Ja, ich war dabei und sah, dass die Deutschen den Kranken Injektionen gaben.- Frage: Wer noch von den Mitarbeitern des Krankenhauses Kolmovo war bei den Injektionen dabei? Antwort: Neben den Deutschen war bei den Injektionen der Leiter der dritten Abteilung, Andrievskij (wo er jetzt ist, weiß ich nicht) dabei, und junge Praktikantinnen, ich kann mich an ihre Namen nicht erinnern.- Frage: Kennen Sie Ivan Petrovič Monogarov? Wie stehen Sie zu einander? Antwort: Ja, Ivan Petrovič Monogarov kenne ich gut. Während der Besatzung war er als Hausmeister im Krankenhaus Kolmovo tätig. Wir haben ganz normale Beziehungen, nichts Persönliches.- Frage: Beteiligte sich I. P. Monogarov an der Vergiftung von Kranken durch Injektionen? Antwort: Unmittelbar hat sich I. P. Monogarov an der Vergiftung von Kranken durch Injektionen nicht beteiligt. Während der Injektionen befand sich Monogarov in der Vorratskammer, gab die Kleidung an die Patienten aus, die Injektionen bekommen haben. Nachdem die Vergiftung von Patienten abgeschlossen worden war und sie angekleidet worden waren, leitete I. P. Monogarov ihre Verladung in die LKW. Danach wurden sie weggefahren.“19 In der Anklageschrift gegen Monogarov wird dessen Beteiligung an der Vernichtung von Patienten des psychiatrischen Krankenhauses Kolmovo nicht erwähnt. Es ist zu vermuten, dass sie der Untersuchungskommission im Vergleich zu seinen anderen Verbrechen unbedeutend schien: Misshandlung der Kriegsgefangenen, Hilfe bei der Enttarnung von Partisanen, Kommunisten und Juden. Dabei gibt es in der Akte von I. P. Monogarov ein sehr interessantes Dokument. Es geht um eine vom Exekutivkomitee des Stadtsowjets der Volksdeputierten in Novgorod ausgestellte Bescheinigung: „Hiermit wird bescheinigt, dass das Nov19
Ebd., L. 47–49.
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goroder psychiatrische Krankenhaus, das in der Siedlung Kolmovo liegt, nicht ins Innere des Landes evakuiert wurde, wegen des Mangels an Transportmitteln. Alle Patienten und die Mehrheit des medizinischen Personals dieses Krankenhauses wurden von den deutschen Besatzern im August 1941 gefangen genommen. Vorsitzender des Exekutivkomitees des Stadtsowjets der Volksdeputierten in Novgorod, M. Judin. Juli 1946.“20 So war die Stadtbehörde indirekt mitverantwortlich für den Tod der Patienten des psychiatrischen Krankenhauses. Nach Jahrzehnten gibt es mittlerweile eine Tendenz, sich für die sogenannte „lebendige Geschichte“ zu interessieren. Zeitzeugen sind jetzt einfache Menschen, die das eine oder andere Ereignis miterlebt haben. 2005 veröffentlichte eine Mitarbeiterin des Staatsarchivs für Neueste Geschichte des Gebiets Novgorod V. I. Gluchova die Erinnerungen ihrer Mutter: „Kolmovo während der Besatzung in den Erinnerungen einer Zeitzeugin“.21 In ihnen geht es insbesondere um das psychiatrische Krankenhaus in Kolmovo: „Vor dem Krieg war Kolmovo ein KrankenhausCampus, in dem sich das psychiatrische Krankenhaus № 1 des Gebiets Leningrad befand. Die Versorgung des Krankenhauses lief mit einem Gemüsegarten und einem Viehhof zu großen Teilen über Subsistenzwirtschaft. Die Mitarbeiter des Krankenhauses und ihre Familien stellten den größten Teil der Einwohner Kolmovos dar, die verschiedene Nationalitäten hatten: Russen, Juden, Polen, deutsche Kolonisten, Tataren […] Meine Mutter erinnert sich folgendermaßen an den Kriegsausbruch: 22. Juni 1941. Sonntag. Die Menschen erholten sich, die Fenster in ihren Häusern waren offen, bei vielen war das Radio eingeschaltet. Die Jungen versammelten sich auf der Straße und besprachen, was sie am Feiertag machen würden. Volodja Šarov lief aus dem Haus und schrie: ‚Krieg! Es wurde gerade im Radio gesagt!‘ Die meisten Einwohner von Kolmovo und Novgorod wurden vor dem Eintreffen der Deutschen evakuiert. Als die Evakuierung begann, wurde im Krankenhaus eine Verordnung verabschiedet, nach der dem Krankenhauspersonal verboten wurde, die Kranken zu verlassen. Einige ignorierten diese Verordnung und flüchteten. Meine Mutter erinnert sich, dass die Ärztin Olga Vasil’evna Peredol’skaja bei den Patienten geblieben ist und später Einwohner des besetzten Novgorod medizinisch betreute, sowie einige Krankenschwestern und Sanitäterinnnen. Unter diesen war meine Großmutter Ol’ga Antonovna Stoljarova, ihre Schwester Ekaterina Antonovna Korol’kova und ihr Bruder Aleksej Antonovič Penzin mit seiner Frau Marja Nikolaevna Penzina. Zusammen mit der Großmutter blieb auch meine Mutter Vera Nikolaevna. Sie war damals 15 Jahre alt […] Vor der Evakuierung erhielt man das Gehalt für das gesamte medizinische Personal des Krankenhauses. Denjenigen, die geblieben sind, wurde das Geld nicht gegeben. Das Geld nahmen die Beamten mit, die wegfuhren. Sie wurden in den Ural evakuiert. Die Einwohner von Kolmovo 20 21
Ebd., L. 185. Dokumental’noe nasledie Novgoroda i Novgorodskoj zemli. Problemy sochranenija i naučnogo issledovanija [Dokumentarerbe von Novgorod und Novgorod-Land. Probleme der Erhaltung und wissenschaftlichen Erforschung], Velikij Novgorod 2005, S. 128–136.
Vernichtung von psychisch Kranken und Behinderten im Nordwesten Russlands
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haben verzweifelt beobachtet, wie auf der Volchov Lastkähne mit evakuierten Einwohnern von Novgorod untergingen: Der letzte Kahn wurde direkt gegenüber dem Krankenhaus bombardiert […] Als erste fuhren Angehörige eines deutschen Strafkommandos auf Motorrädern mit Metall-Blechschildern auf der Brust in die Stadt ein. Die Nazis begannen sofort damit, die Rassentheorie in die Realität umzusetzen, indem sie die psychisch Kranken töteten. Die Patienten des psychiatrischen Krankenhauses wurden aus der Stadt hinausgefahren und umgebracht. Einige von ihnen ahnten, dass sie sterben würden, und skandierten ganz bewusst antifaschistische Parolen.“22 Informationen über die „antifaschistischen Parolen“ der Geisteskranken werden von keinem weiteren Dokument bestätigt. Allerdings stimmen alle Dokumente und Zeugen in Bezug auf eine Tatsache überein: Fast alle Patienten des psychiatrischen Krankenhauses in Kolmovo wurden durch tödliche Injektionen und Unterernährung vernichtet. Dies war keine Ausnahme, sondern die Regel unter der nationalsozialistischen Besatzung. Obwohl die deutsche Seite die Vernichtung von Geisteskranken in der Regel initiierte, wurden die Patienten sehr oft durch russische Ärzte umgebracht: „Es wurde eine Gruppe von ehemaligen Mitarbeitern des Kaščenko-Krankenhauses, das im Dorf Sivoricy, Dorfsowjet Nikol’skoe, Rayon Gatčina, gelegen ist, enttarnt und verurteilt. Unter diesen sind Stepanova, Jahrgang 1878, von Adel, Ärztin von Beruf, Bogomolova, Jahrgang 1903, Kudrjašova V. I., Jahrgang 1918, die im Dorf Nikol’skoe, Rayon Gatčina wohnt, etc. Diese Gruppe beging auf direkte Anweisungen der deutschen Besatzungsbehörden im November 1941 eine mörderische Tat: Sie vergiftete durch Unterhautinjizierung eines Giftstoffes 750 kranke Sowjetbürger, die zu dieser Zeit im psychiatrischen Kaščenko-Krankenhaus behandelt wurden.“23 In Gatčina selbst, in der 4. Abteilung des Kaščenko-Krankenhauses, wurden Ende 1941 100 Patientinnen vernichtet, die vor dem Eintreffen der Wehrmacht nicht evakuiert werden konnten.24 Ärzte – Mittäter und Vollstrecker der NS-Verbrechen – beteiligten sich an schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem sie sich an grundlegende Prinzipien der ärztlichen Ethik nicht hielten. Die im „Dritten Reich“ herrschende Ideologie rechtfertigte nicht nur die Gewalt gegen Millionen von Menschen, sondern auch verzerrte Vorstellungen über die Berufspflicht der Ärzte, die nach dem Hippokratischen Eid dazu verpflichtet sind, um das Leben ihrer Patienten mit allen Mitteln zu kämpfen. Einige wurden von Helfern der Leidenden zu deren Mördern.
22 23
24
Ebd., S. 128–129. Registrierungsamt der Archivbestände der FSB-Verwaltung in St. Petersburg und im Gebiet Leningrad, D. 19344, Materialien über die deutschen Zerstörungen und Gräueltaten, Tätigkeit der Spionage- und Spionageabwehrorgane des Feindes im Gebiet Leningrad und besetzten Gebieten, Leningrad 1945, L. 43. Nikolaj S. Alekseev, Zlodejanija i vozmezdie: Prestuplenija protiv čelovečestva [Gräueltaten und Bestrafung: Verbrechen gegen die Menschlichkeit], Мoskau 1986, S. 83.
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Die Verbrechen, die als „medizinische“ bezeichnet werden können, stellen einen bedeutenden Komplex der NS-Verbrechen dar. Sie umfassen eine Vielzahl von Handlungen, die nach dem Artikel 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden können.25 Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
25
Ebd., S. 92.
„OBJEKTIV UNAUSWEICHLICHE MASSNAHMEN“. DIE ERMORDUNG VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHEN UND GEISTIGEN BEHINDERUNGEN IN DEN BESETZTEN SOWJETISCHEN GEBIETEN Die Beispiele Šumjači (Gebiet Smolensk) und Makar’evo (Gebiet Leningrad) Alexander Friedman Im November 1941 tötete die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes 16 geistig behinderte Kinder in der russischen Ortschaft Šumjači (dt. Schumjatschi). Im Dezember 1941 oder Anfang Januar 1942 wurde das „Invalidenhaus“ (Heim für körperlich und geistig Behinderte) in der Einsiedelei Makar’evo (dt. Makarjewo) „geräumt“, wobei zwischen 230 und 240 Patientinnen getötet wurden. Diese Vernichtungsaktionen werden in der vorliegenden Fallstudie in erster Linie anhand westdeutscher Justizakten rekonstruiert. Dabei sollen die Gründe für die nationalsozialistische Mordpolitik gegen geistig und körperlich behinderte Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten aufgezeigt und der Ablauf der Vernichtungsaktionen veranschaulicht werden, wobei die Rollen der verschiedenen Besatzungsinstitutionen wie auch der deutschen sowie einheimischen Mediziner analysiert werden. Anschließend soll der Umgang mit der Vergangenheit und die juristische Aufarbeitung der Kranken- und Behindertenmorde sowohl in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er Jahre als auch in der UdSSR der Nachkriegszeit beleuchtet werden. „DAS IST EINE SCHANDE, IHR DEUTSCHEN SCHWEINE!“ DIE JUDENVERNICHTUNG UND DER MORD AN GEISTIG BEHINDERTEN KINDERN IN ŠUMJAČI Am 19. Dezember 1941 berichtete die Einsatzgruppe B in der Ereignismeldung Nr. 148 über die „Sonderaktionen“, die in der russischen Stadt Roslavl’ und in der naheliegenden Ortschaft Šumjači (Gebiet Smolensk) schon Ende November stattgefunden hatten: 510 jüdische Männer und Frauen seien hingerichtet worden. In Šumjači wurde zudem ein „weiteres Problem“ gelöst: „In Schumjatschi wurden. 16 geisteskranke jüdische und russische Kinder erschossen, die in einem Kinderheim untergebracht waren, das von den sowjetischen Behörden in einem vollkommen verwahrlosten Zustand zurückgelassen war. Die Kinder lagen zum Teil schon seit Wochen in ihrem Kot und hatten durchweg schwere Ekzeme am Körper. Der hinzugezogene deutsche Oberstabsarzt vom Lazarett in Schumjatschi erklärte, dass
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das Kinderheim mit seinen Insassen einen Seuchenherd erster Ordnung darstelle, und dass daher ihre Erschießung geboten sei.“1 Für diese Mordaktionen in Roslavl’ und Šumjači sowie für weitere zahlreiche Kriegsverbrechen in den besetzten ostweißrussischen und westrussischen Gebieten war der Teiltrupp 5 des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B verantwortlich.2 An der Spitze dieser Einheit stand der 1917 in der oberschlesischen Stadt Hindenburg geborene SS-Untersturmführer Wilhelm Döring. Döring war vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR Kriminalkommissar in Leipzig gewesen und setzte seine Karriere nach dem Krieg in der westdeutschen Polizei fort: Von April 1957 bis zu seiner Verhaftung Ende Mai 1961 war er Leiter der Kriminalpolizei im Siegkreis (heute Rhein-Sieg-Kreis).3 Im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen Döring wurde die Judenvernichtungsaktion in Šumjači von der Staatsanwaltschaft Bonn rekonstruiert: Der Beschuldigte habe die Ermordung der jüdischen Bevölkerung angeordnet. Das Ghetto sei in der Nacht umstellt worden. Die SS-Männer hätten die Juden gewaltsam aus ihren Häusern herausgeholt und auf Lastwagen zu einer Grube abtransportiert. Kranke und behinderte Juden sowie jüdische Bürger und Bürgerinnen, die den deutschen Anweisungen nicht nachkamen, seien direkt in ihren Häusern oder auf der Straße umgebracht worden. Vor der Grube spielten sich entsetzliche Szenen ab: „Einige der Juden beteten vor ihrer Tötung, andere flehten um Gnade, wieder andere verfluchten ihre Mörder: „Das ist eine Schande, ihr deutschen Schweine!“ Die Mordaktion habe am frühen Morgen begonnen und sei erst gegen Mittag abgeschlossen gewesen. Der in der Ereignismeldung erwähnte „Oberstabsarzt“ Dr. Raefler, Leiter des in Šumjači stationierten Feldlazaretts 6/562, habe die Erschießung nicht nur beobachtet, sondern auch einen persönlichen Beitrag zur „Entjudung“ dieser Ortschaft geleistet: Dieser „Träger des goldenen Parteiabzeichens und fanatische Judenhasser“ habe in seinem Lazarett 50 jüdische Zwangsarbeiter eingesetzt und möglicherweise eine große Mordaktion provoziert, indem er seine vorgesetzte Dienststelle in Smolensk auf die Gefahr einer vermeintlich von Juden geplanten „Vergeltungsmaßnahme“ gegen seine medizinische Einrichtung hingewiesen habe. Zudem habe der Mediziner die Sicherheitspolizei auf einen Juden auf-
1
2 3
Ereignismeldung 148 v. 19.12.1941, abgedruckt in: Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus u. Martin Cüppers (Hrsg.), Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Für Konrad Kwiet zum 70. Geburtstag, Darmstadt 2011, S. 887–891, hier: S. 890. Geistig behinderte Kinder wurden von der deutschen Sicherheitspolizei als „Geisteskranke“ bezeichnet. Zum Einsatzkommando 8 siehe Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“, Berlin 1996, S. 120–125, 179–183. Vgl. Urteil des Schwurgerichts bei dem Landgericht in Bonn v. 19.2.1964 in der Strafsache gegen den Kriminaloberkommissar Wilhelm Döring, geboren am 21. Juli 1917 in Hindenburg/ Oberschlesien, wohnhaft in Siegburg-Mülldorf, wegen Beihilfe zum Mord (8 Ks 2/62), in: Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs u. C. F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XIX, Amsterdam 1978, S. 704–733, hier: S. 707–709.
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merksam gemacht, der sich zu verstecken versuchte, und das ihm unterstellte medizinische Personal anschließend über den Ablauf der Exekution informiert.4 Bei der Ermordung geistig behinderter Kinder, zu der es unmittelbar danach kam, spielte Raefler eine zentrale Rolle. Die Ereignismeldung Nr. 148 zeigt unmissverständlich, dass der deutsche Mediziner das Schicksal des Kinderheims und seiner Bewohner de facto besiegelte. Zudem stellte er dem Teiltrupp Döring einen Verpflegungskraftwagen zur Verfügung und veranlasste die logistische Unterstützung der Täter durch die im Feldlazarett angestellten Schirrmeister und Fahrer.5 In der Ereignismeldung Nr. 148 betonte die Einsatzgruppe B am 19. Dezember 1941, dass die „sowjetischen Behörden“ die Kinder im Stich gelassenen und dass diese sich in einem schrecklichen Zustand befunden hätten. Man habe das Kinderheim also vernichten müssen.6 Das Landgericht Bonn, das sich im Frühjahr 1964 mit der Strafsache gegen Döring auseinandersetzte, beschrieb die Lage im Kinderheim wie folgt: „[Die] Kinder lebten in einer Kate außerhalb des Dorfes. Sie hatten meist Wasserköpfe und waren im Alter bis zu etwa 10 Jahren. Sie konnten nicht gehen und sprechen, sondern krochen auf dem Fußboden des einzigen Raumes der Kate herum, der mit Kot, Urin und Speiseresten völlig verschmutzt war; teilweise lagen sie regungslos auf Holzpritschen. Die Kinder selbst waren völlig vernachlässigt, hatten eitrige Wunden am Körper, waren total verschmutzt und kaum bekleidet. Für die notdürftigste Pflege der Kinder sorgte eine ältere Russin. Zugleich bettelte ein etwa 14jähriger Junge, der ebenfalls geisteskrank war, aber noch gehen konnte, lallend im Dorf um Esswaren für die anderen Kinder. An der Tür der Kate war von einer deutschen Einheit ein Schild mit Totenkopf und Aufschrift angebracht: ‚Betreten verboten! Seuchengefahr‘“.7
Das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass Döring den Befehl, die Kinder zu ermorden, von der Führung des Einsatzkommandos 8 bzw. der Einsatzgruppe B erhalten habe. Dadurch habe man „die akute Gefahr einer Ausbreitung von Seuchen“ verhindern wollen. Die Aufgabe Dörings und seiner Männer, „unwertes Leben“ zu beseitigen, sei für sie kräfteraubend und außerdem – aufgrund der beschriebenen Gesundheitssituation im Kinderheim – gefährlich gewesen. Die Opfer mussten auf den LKW verladen werden. Da die Angehörigen der deutschen „Herrenrasse“ aber eine derart „schmutzige“ Arbeit nicht eigenhändig erledigen wollten, wurden die russische Pflegerin und der 14jährige Junge damit betraut. Die geistig behinderten Kinder aus Šumjači wurden vom Teiltrupp Döring in einer Tongrube bei einer Ziegelei erschossen. Als erster kam der 14jährige Junge ums Leben.8
4 5 6 7 8
Ebd., S. 719; vgl. Der Leitende Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Bonn, Anklageschrift in der Strafsache gegen den Kriminalkommissar Wilhelm Döring v. 30.4.1962, Bundesarchiv Ludwigsburg (nachfolgend BArch) B 162/19275, fol. 73, 74. Anklageschrift in der Strafsache gegen den Kriminalkommissar Wilhelm Döhring v. 30.4.1962, BArch B 162/19275, fol. 80; Urteil Landgericht Bonn 19.2.1964 (Anm. 3), S. 713 u. 717. Urteil Landgericht Bonn 19.2.1964 (Anm. 3), S. 717 u. 725. Ebd., S. 712 f. Anklageschrift Döring 30.4.1962 (Anm. 5), fol. 80–83; Urteil Landgericht Bonn 19.2.1964 (Anm. 3), S. 713 u. 717.
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In Bezug auf die Novemberereignisse in Šumjači ist bemerkenswert, dass der in der Anklageschrift als „ein in blindem Gehorsam handelnder Gefolgsmann Hitlers“ charakterisierte SS-Untersturmführer Döring die Judenerschießung während des Ermittlungsverfahrens bestritt, gleichzeitig den nationalsozialistischen Judenmord missbilligte und im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Osten die „Ausführung des Führerbefehls“ und „die damals gegebene Zwangslage, die ihm keinen anderen Ausweg gelassen habe“, hervorhob.9 Die Tatsache, dass geistig behinderte Kinder in Šumjači durch die von ihm geleitete Einheit getötet worden waren, wurde von Döring hingegen nicht geleugnet. Er war vielmehr darauf bedacht, die Mordaktion als eine vermeintlich „objektiv unausweichliche Maßnahme“ darzustellen und sich zu einem passiven kleinen Mann zu stilisieren, der den von oben gegebenen Befehl gegen seinen Willen habe ausführen müssen.10 Diese Verteidigungsstrategie erwies sich als äußerst erfolgreich. So ist im Urteil des Schwurgerichts des Landgerichts Bonn vom 19. Februar 1964 zu lesen: „Wenn auch ein solcher Grund [Ausbreitung einer Seuche] es nicht rechtfertigt, hilfloses Leben, das sich selbst nicht erhalten kann, bedenkenlos auszulöschen, und eine solche Tat unter gewöhnlichen Lebensverhältnissen als verwerflich anzusehen ist, so kann ihr diese Wertung unter den besonderen Umständen des harten Kriegsgeschehens nicht unbedingt beigelegt werden müssen, dass die Kinder versorgt, gepflegt und ärztlich betreut worden wären. Dies war aber zur Tatzeit nicht wirksam durchzuführen. Es war unmöglich, das völlig verwahrloste ‚Kinderheim‘, das ohne nennenswerte Wartung war, durch die vorwärtsrückende deutsche Wehrmacht ärztlich betreuen und versorgen zu lassen. Es war in gleicher Weise unmöglich, nach dem durch die Kriegseinflüsse herbeigeführten Zusammenbruch der russischen zivilen Verwaltung, die Kinder durch eine solche Stelle versorgen und ärztlich betreuen zu lassen, so dass die von ärztlicher Seite bezeichnete akute Gefahr der Seuchenausbreitung hätte sofort wirksam gebannt werden können. Unter diesen Umständen kann die Erteilung des Erschießungsbefehls durch die Einsatzgruppe B und dessen Weitergabe durch den Angeklagten nicht als besonders verwerflich bezeichnet werden, wie es für ein Handeln aus niedrigen Beweggründen erforderlich ist.[sic] Die Verfolgung dieser Tat, die sich hiernach strafrechtlich als Beihilfe zum Totschlag darstellt, ist verjährt[…]“11
Wilhelm Döring wurde 1964 dennoch aufgrund der weiteren zahlreichen Verbrechen seiner Einheit wegen „Beihilfe zum Morde zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren“ verurteilt. Ende der 1960er Jahre befand er sich bereits auf freiem Fuss.12 Zur gleichen Zeit setzten sich das DDR-Ministersterium für Staatssicherheit (Stasi) und das Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB) mit dem ehemaligen hochrangigen Kriminalpolizisten auseinander. Die Stasi-Untersuchungsrichter, die gegen den Angehörigen des Einsatzkommandos 8 Georg Frentzel ermittelten, befragten den Beschuldigten ausführlich über Döring und seine 9 10 11 12
Anklageschrift Döring v. 30.4.1962 (Anm. 5), fol. 98. Vgl. ebd., fol. 80, 85–88, 94–96, 98, 108. Vgl. Urteil Landgericht Bonn v. 19.2.1964 (Anm. 3), S. 725 f.; Das Gericht konnte zudem die Beteiligung des Angeklagten an der Erschießung jüdischer Ärzte in der russischen Stadt Klincy (Mai 1942) nicht nachweisen. Vgl. ebd., S. 720. Zum Prozess gegen Döring siehe auch Bettina Nehmer, Täter als Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 635–668, hier: S. 659–661.
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Verbrechen in Weißrussland.13 In der weißrussischen Presse wurde das Bild von Döring veröffentlicht, mit dem man nach Zeugen seiner Verbrechen suchte.14 Die Stasi und der KGB waren also bestrebt, das Belastungsmaterial über Döring zu finden, um diesen Fall im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Bundersrepublik Deutschland propagandistisch auszunutzen. Während diese Pläne sich nicht umsetzen ließen, leitete die Staatsanwaltschaft Konstanz 1966 ein Ermittlungsverfahren wegen „Beihilfe zum Mord“ gegen den Angehörigen der Einsatzgruppe A, Hermann Hubig, ein. VERBRECHEN OHNE STRAFE: MORDAKTION IM „INVALIDENHAUS“ IN MAKAR’EVO Der promovierte Jurist und SS-Hauptsturmführer Hubig, der 1912 in der saarländischen Stadt Völklingen in einer Bergmannsfamilie geboren wurde und sich im Frühjahr 1933 der NSDAP angeschlossen hatte,15 leitete zwischen Ende 1941 und Frühjahr 1942 ähnlich wie Döring einen Teiltrupp. Während Dörings Einheit sich primär mit der Vernichtung von Juden und anderen „Feinden“ beschäftigte, befasste sich das in Kranogvardejsk (heute Gatčina) im Gebiet Leningrad Mitte Oktober 1941 aus Dolmetschern und „deutschstämmigen Landeskundigen“ zusammengestellte und von Hubig geleitete Teilkommando mit der „Erkundung der Lage in Leningrad für die Heeresleitung Nord“, der Funkabwehr und Partisanenbekämpfung.16 Am 2. Dezember 1941 schlug Hubig dem Befehlshaber der Einsatzgruppe A, SS-Brigadeführer Franz Walter Stahlecker, in einem Schreiben vor, 230 bzw. 240 Bewohnerinnen des sogenannten „Invalidenhauses“ in der 1932 geschlossenen Einsiedelei Makar’evo (in der Nähe von Ljuban’ im Gebiet Leningrad)17 ermorden zu lassen, und bot außerdem an, diese Aufgabe mit seinem Teilkommando zu übernehmen. Hubig, der sich vermutlich auf Kosten der behinderten und kranken Frauen als überzeugter und entschlossener Nationalsozialist zu profilieren versuchte, 13 14 15
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Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Georg Frentzel v. 5.12.1969, Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (nachfolgend BStU), Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Hauptabteilung (HA) IX/11, Rechtshilfeersuchen (RHE) 86/69, Bd. 1, fol. 72–78. Vgl. Uspomnice! Pavedamice! [Erinnern Sie sich! Melden Sie sich!], in: Mahilëŭskaja praŭda v. 8.4.1970, S. 4. Vgl. Hans-Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42. Eine exemplarische Studie, in: Helmut Krausnick u. Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 281–654, hier: S. 281 f. u. S. 640. Schreiben des Landeskriminalamts Baden-Würtemberg an die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Konstanz v. 29.4.1966, Betr.: Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Konstanz – 2 Js 1437/64 – gegen Dr. Hermann Hubig wegen Mordes (NSG), BArch B 162/27479, fol. 7–13, hier: fol. 8. Zur Geschichte der Einsiedelei Makar’evo siehe Diakon Sergij Šalberov, Vozroždenie Makar’evskoj pustyni [Wiedererstehung der Einsiedelei Makar’evo], in: Vestnik Sankt-Petersburgskoj eparchii 11 (2005), http://azbyka.ru/shalberov/halberov_vozrogdenie_ makarievskoy_pustini-all.shtml (28.2.2015).
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konnte Stahlecker mit diesem Vorschlag kaum überraschen: Die Einsatzgruppe A trieb die Vernichtung von Kranken und Behinderten im Baltkum voran.18 Die Notwendigkeit, die Bewohnerinnen des 1936 eröffneten und nach der deutsche Okkupation von einer „Unterärztin“ und einer „Aufseherin“ betreuten „Invalidenhauses“ (in dem vor allem „Geisteskranke“, aber auch „Epileptikerinnen und Syphiliskranke“ lebten) zu töten, führte der SS-Hauptsturmführer – nicht anders als Döring im Falle Šumjači – auf die „Tatsache“ zurück, dass diese Frauen „ärztlich und auch verpflegungsmäßig nicht mehr versorgt werden könnten und somit für die Zivilbevölkerung und vor allen Dingen für die deutschen Soldaten eine Gefahr bedeuten“. Hubigs Vorschlag wurde sowohl von Brigadeführer Stahlecker und von dem Arzt der 2. SS-Infanteriebrigade Dr. Ludwig Blies, der diese Maßnahme für „erforderlich“ gehalten habe, als auch von Wehrmachtsdienststellen (XXVIII. Armeekorps, Oberbefehlshaber der 18. Armee Generaloberst Georg von Küchler) mit Ausnahme des lokalen Ortskommandanten unterstützt. Die als „Objekte nicht mehr lebenswerten Lebens“ stigmatisierten Sowjetbürgerinnen wurden bis zum 3. Januar 1942 getötet.19 Während die Mordaktionen in Šumjači detailliert rekonstruiert werden konnten, gelang es der Staatsanwaltschaft Konstanz nicht, die Beteiligung Hubigs und seines Teilkommandos an der Vernichtung der Frauen nachzuweisen. Als mögliche Täter kamen auch Angehörige der 269. Infanteriedivision in Frage.20 Die Ermittler schlossen zudem nicht aus, dass eine russische Ärztin bzw. das einheimische Pflegepersonal von den Besatzern gezwungen worden seien, die Frauen durch Spritzen zu töten.21 Das Verfahren gegen Hermann Hubig wurde am 3. Januar 1968 18 19
20 21
Siehe hierzu den Beitrag von Björn M. Felder in diesem Band. Schreiben Landeskriminalamt Baden-Würtemberg v. 29.4.1966 (Anm. 16), fol. 10; Schreiben der Staatsanwaltschaft Konstanz v. 3.1.1968, Betr.: Ermittlungsverfahren gegen Dr. Hermann Hubig aus Völklingen/Saar wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord (NSG), BArch B 162/27479, fol. 113–117; Antrag des XXVIII. Armeekorps auf Ermordung der Geisteskranken der Heilanstalt Makarjewo unter Einsatz eines SD-Kommandos v. 20.12.1941; Zustimmung des Oberbefehlshabers der 18. Armee zu dem vom XXVIII. Armeekorps beantragten Liquidierungsmaßnahmen in Makarjewo v. 26.12.1941, in: Norbert Müller (Hrsg.), Okkupation. Raub. Vernichtung. Dokumente zur Besatzungspolitik der faschistischen Wehrmacht auf sowjetischem Territorium, Berlin [Ost] 21980, S. 79 f.; Bericht Kommando Hubig an Einsatzgruppe A v. 2.12.1941: Irrenanstalt in Makarjewo, in: Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus u. Martin Cüppers (Hrsg.), Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion II, Darmstadt 2013, S. 248 f.; siehe hierzu auch Helmut Krausnick, Die Einsatzgruppen vom Anschluss Österreichs bis zum Feldzug gegen die Sowjetunion. Entwicklung und Verhältnis zur Wehrmacht, in: Helmut Krausnick u. Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 13–278, hier: S. 268–270. Vgl. Schreiben Staatsanwaltschaft Konstanz 3.1.1968 (Anm. 19), fol. 115. Vgl. Schreiben Kriminalamt Baden-Württemberg 29.4.1966 (Anm. 16), fol. 10; Schreiben Staatsanwaltschaft Konstanz 3.1.1968 (Anm. 19), fol. 114, 115. Im Schreiben des XXVIII. Armeekorps an den Oberbefehlshaber der 18. Armee (20.12.1941) wurde hinsichtlich der beabsichtigten Mordaktion in Makar’evo betont: „Für die Durchführung der erforderlichen Maßnahmen hat sich das SD-Kommando Hubig in Tossno bereit erklärt. Sie wird mit Hilfe zur Verfügung stehender russischer Ärzte durchgeführt werden“. Abgedruckt in: Müller, Okkupation. Raub. Vernichtung (Anm. 19), S. 80.
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eingestellt. Somit konnte sich der ehemalige SS-Mann, zuletzt Sturmbannführer, selbstbewusst auf einen Rechtsstreit mit seinem früheren Arbeitgeber – dem Bundesnachrichtendienst – konzentrieren. Hubig, der – wie die Staatsanwaltschaft Konstanz wusste – „nach dem Kriege bei verschiedenen westlichen Nachrichtendiensten, zuletzt bis 1966 beim BND“ tätig war, führte einen Arbeitsgerichtsprozess gegen den Bundesnachrichtendienst, der ihn offenbar im Zusammenhang mit dem eingeleiteten Ermittlungsverfahren entlassen hatte.22 ZUSAMMENFASSUNG Die in diesem Beitrag geschilderten, hauptsächlich anhand von Unterlagen der westdeutschen Ermittlungsverfahren und der Kriegsverbrecherprozesse aus den 1960er Jahren analysierten Vernichtungsaktionen beweisen die Komplexität und Vielschichtigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen gegen geistig und körperlich behinderte sowie kranke Menschen in der besetzen Sowjetunion. Sie zeigen außerdem, dass der nationalsozialistische Behinderten- und Krankenmord in den besetzten sowjetischen Gebieten im breiten Kontext der deutschen und sowjetischen Geschichte eingehend untersucht werden sollte. Diese Kontextualisierung erscheint notwendig, um den Verlauf der Mordpolitik, die Bedeutung der deutschen Massenverbrechen gegen kranke und behinderte Menschen, ihre Auswirkungen auf die sowjetische Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft und den Umgang mit diesen nationalsozialistischen Gräueltaten hinter dem „eisernen Vorhang“ zu begreifen. Diese Überlegung lässt sich wie folgt verdeutlichen: An den grausamen Mordaktionen in Šumjači und Makar’evo beteiligten sich nicht nur die für ihre ungeheuren Verbrechen in den besetzten sowjetischen Gebieten bekannten Einheiten der Einsatzgruppen, sondern auch Wehrmachtsdienststellen. Die erbarmungslose Ermordung von kranken und behinderten Juden war ein Bestandteil des nationalsozialistischen Genozids, wobei die Täter vom nationalsozialistischen „rassenhygienischen“ Gedankengut geprägt waren und die „unnützen Esser“, die zudem eine potentielle Gefahr für die Gesundheit der Deutschen darstellten, beseitigen wollten. Um die Durchführung ihrer verbrecherischen Aufgaben zu erleichtern und ihre eigenen Kräfte zu sparen, setzten die deutschen Täter einheimische Mediziner und einheimisches Pflegepersonal ein. Letztere mussten beim Verladen und Abtransport von Kranken mitwirken oder die Patienten sogar selbst töten. Der Kindermord in Šumjači hätte vermutlich nicht stattgefunden, wenn der Leiter des Feldlazaretts, Dr. Raefler, die Exekution nicht befürwortet und tatkräftig unterstützt hätte. In Makar’evo setzte sich der SS-Arzt Dr. Blies für die Tötung der Patientinnen ein. Die von der NS-„Rassenhygiene“ überzeugten Mediziner nahmen die Kinder aus Šumjači und die Frauen aus Makar’evo in erster Linie als „lebensunwerte Leben“ und als „Quelle der Seuchengefahr“ wahr, die schnellstmöglich beseitigt werden müsse. Nahmen ihre sowjetischen Kollegen an der Ermordung von Frauen in der Einsiedelei Makar’evo zwangsweise teil oder wirkten sie – vom „ras22
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senhygienischen“ Gedankengut geprägt – freiwillig mit? Die Ermittler aus Konstanz konnten diese wichtige Frage nicht beantworten. Nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR entschied sich die stalinistische Regierung für die Evakuierungspolitik der „verbrannten Erde“. Parteifunktionäre und auch Fachkräfte wurden evakuiert. In Gefängnissen des westlichen Teils der UdSSR wurden politische Häftlinge erschossen oder nach Osten verschleppt. Jüngere und auch ältere geistig und körperlich behinderte sowie kranke Bürgerinnen und Bürger konnten in der Kriegswirtschaft im sowjetischen Hinterland kaum eingesetzt werden und blieben ihrem Schicksal überlassen.23 Die Ortschaft Šumjači wurde erst Anfang August 1941 und Makar’evo sogar erst Mitte September 1941 von der Wehrmacht besetzt. Zeit und Gelegenheit, die Kinder und Frauen zu evakuieren und sie dadurch vor dem Tode zu retten, wären also vorhanden gewesen, wurden aber nicht genutzt, obwohl die sowjetische Seite über die deutsche verbrecherische Politik gegen psychisch kranke und behinderte Menschen im „Dritten Reich“ vermutlich informiert war. Das „Kinderheim“ in Šumjači und das „Invalidenhaus“ in der Einsiedelei Makar’evo wurden von der sowjetischen Seite in einem katastrophalen Zustand hinterlassen. Diese Tatsache kann einerseits durch die dramatische Kriegssituation und andererseits durch die in der stalinistischen UdSSR vor 1941 verbreiteten herabwürdigenden Vorstellungen von arbeitsunfähigen „Geisteskranken“ und „Invaliden“ erklärt werden. Man kann davon ausgehen, dass sich die für die beiden Anstalten zuständigen sowjetischen Behörden von dieser Vorstellung leiten ließen. Die Mitglieder der Einsatzgruppen Wilhelm Döring und Hermann Hubig sowie zahlreiche weitere Kriegsverbrecher konnten ihre Karrieren in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg erfolgreich fortsetzen. Döring wurde verurteilt und verbrachte einige Jahre im Gefängnis. Hubig blieb ungestraft. Die erwähnte Auseinandersetzung mit der Mordaktion in Šumjači im Rahmen des Ermittlungsverfahrens und Gerichtsprozesses gegen Döring zeigt, dass die westdeutsche Gesellschaft in der ersten Hälfte der 1960er Jahre für die Tragödie kranker und behinderter Menschen im „Dritten Reich“ und in den besetzten osteuropäischen Gebieten noch unzureichend sensibilisiert war. In der UdSSR und der DDR wurde der Mord an kranken und behinderten Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten aus dem offiziellen, nach 1945 konstruierten Kriegsbild weitgehend ausgeklammert. Der nationalsozialistische Kranken- und Behindertenmord wurde in der Sowjetunion kaum thematisiert und lediglich sporadisch im Rahmen des propagandistischen Kampfes gegen den „westdeutschen Revanchismus“ verwendet.24 So blieb die Mordaktion in Šumjači in der UdSSR zum Beispiel de facto unbekannt, da ihre 23
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Zur sowjetischen Evakuierungspolitik vgl. Alexander Friedman, Die Evakuierung von 1941 in der Sowjetunion zwischen Propaganda und Wirklichkeit: Der Fall Weißrussland, in: Fabian Lemmes, Johannes Großmann, Nicholas Williams, Olivier Forcade u. Rainer Hudemann (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege, Berlin 2014, S. 141–156. Siehe auch den Beitrag von Boris. N. Kovalev in diesem Band. Siehe hierzu z. B. V. Rozen, Nacisty i bonnskaja femida [Nationalsozialisten und die Bonner Themis], Moskau 1966, insbesondere S. 36–42.
Vernichtung in Šumjači und Makar’evo
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Aufarbeitung eine kritische Auseinandersetzung unter anderem mit der propagandistisch gepriesenen sowjetischen Evakuierungspolitik notwendig gemacht hätte. Im Gegensatz zum Judenmord wird dieses Verbrechen auch in den nach 1991 erschienen Publikationen über die Geschichte von Šumjači nicht erwähnt.25 Die Vernichtung von Frauen in der Einsiedelei Makar’evo wurde hingegen in der UdSSR und der DDR aufgegriffen, um die Verbrechen der in Westdeutschland angeblich verherrlichten „faschistischen Wehrmacht“ im Feldzug gegen die Sowjetunion hervorzuheben.26 Auf die Umstände dieser Mordaktion und dabei auch auf die bis heute nicht aufgeklärte Rolle des einheimischen medizinischen Personals ging man dabei allerdings nicht ein.
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Vgl. D. I. Budaev, Šumjači, in: Kul’turnoe nasledie zemli Smolenskoj [Kulturerbe des Gebiets Smolensk], http://www.nasledie-smolensk.ru/pkns/index.php?option=com_content&task=vie w&id=2858&Itemid=170 (28.2.2015); Istorija Šumjačej [Geschichte von Šumjači], in: Administracija Šumjačskogo gorodskogo poselenija [Verwaltung der Siedlung Šumjači], http://gpshum.ru/istoriya_shumyachey/ (28.2.2015). Vgl. Müller, Okkupation. Raub. Vernichtung (Anm. 19), S. 79 f.; siehe hierzu auch Genadij Ivanovič Caregorodcev u. Natalia Decker, Zu den Folgen der faschistischen Politik für das Gesundheitswesen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion, in: Achim Thom u. Genadij Ivanovič Caregorodcev (Hrsg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin [Ost] 1989, S. 417–429, hier: S. 424.
KRANKENMORDE IM RAUM MINSK 1941 UND IHRE AUFARBEITUNG IN DER SOWJETUNION UND DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Alexander Friedman In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 wurden Patienten der psychiatrischen Anstalten im Raum Minsk grausam ermordet. Nach der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee am 3. Juli 1944 vernahmen die sowjetische Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit mehrere Zeugen dieser deutschen Kriegsverbrechen. In der zweiten Januarhälfte 1946 fand in Minsk ein Gerichtsprozess gegen 18 NS-Verbrecher statt. Das Militärtribunal des Minsker Militärbezirks ging dabei u. a. auch auf die Ermordung psychisch kranker Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger im Raum Minsk ein. Der Wachtmeister der Gendarmerie Bruno Franz Mittmann (Jahrgang 1901) und der SSUnterscharführer Franz Karl Hess (Jahrgang 1909), die sich an diesen Bluttaten beteiligt hatten, wurden zum Tode verurteilt.1 Während Mittmann und Hess am 30. Januar 1946 an der städtischen Pferderennbahn in Minsk erhängt wurden, lebte der für die Krankenmorde in Minsk im September 1941 verantwortliche Chemiker Dr. Albert Widmann bis zum Ende der 1950er Jahre unbehelligt in Stuttgart. Erst fast 15 Jahre nach Kriegsende geriet der ehemalige SS-Sturmbannführer und Mitarbeiter des berüchtigten Kriminaltechnischen Instituts des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) ins Visier der westdeutschen Justiz: Das Landgericht Düsseldorf verurteilte ihn am 10. Oktober 1962 wegen der Morde mit vergifteter Munition zu 3,5 Jahren Haft.2 Mitte September 1967 wurde der Chemiker vom Landgericht Stuttgart wegen „Beihilfe zum Mord“ zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Diese Strafe musste er allerdings nicht absitzen. Der Chemiker überwies 4.000 DM an eine westdeutsche Behinderteneinrichtung, bestätigte auf diese Weise seine „moralische Läuterung“ und wurde ins Gefängnis nicht eingewiesen.3 Die juristische Aufarbeitung der Krankenmorde in Minsk war damit allerdings noch nicht abgeschlossen. Ein Jahr später leitete die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg die Vorermittlungen zu den Ver1
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Zu diesem Gerichtsprozess siehe bspw. Manfred Zeidler, Der Minsker Kriegsverbrecherprozeß vom Januar 1946. Kritische Anmerkungen zu einem sowjetischen Schauprozeß gegen deutsche Kriegsgefangene, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (nachfolgend VfZ) 52 (2004), S. 211–244. Siehe auch den Beitrag von Anatolij Šarkov in diesem Band. Vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2003, S. 678. Vgl. ebd.; Hermann G. Abmayr u. Albert Widmann, Chemiker der Vernichtung, in: Hermann G. Abmayr (Hrsg.), Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder, Stuttgart 2009, S. 69–73, insbesondere: S. 72 f.
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nichtungsaktionen in der psychiatrischen Anstalt Navinki (Nowinki) bei Minsk ein.4 Diese Ermittlungen dauerten beinahe fünf Jahre und verdienen besondere Aufmerksamkeit nicht zuletzt aufgrund der Dokumente – vor allem Zeugenvernehmungen durch den KGB Sowjetweißrusslands im Jahre 1969 –, welche die Sowjetunion der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt hatte. In der vorliegenden Fallstudie werden zunächst die in der westlichen Forschung inzwischen ansatzweise behandelten Psychiatriemorde in Minsk 19415 anhand von Archivakten sowjetischer und deutscher Provenienz (Akten der deutschen Zivilverwaltung, sowjetische, ost- und westdeutsche Justizakten) geschildert. Anschließend wird die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Krankenmorde in der UdSSR nach 1945 am Beispiel Weißrusslands und vor allem seiner Hauptstadt Minsk dargestellt. Danach wird das der Ludwigsburger Zentralen Stelle übermittelte sowjetische Quellenmaterial vorgestellt und ausgewertet. Diese sowjetischen Akten sind auch insofern interessant, als sie – wie noch zu zeigen sein wird – einzelne Aspekte des offiziellen sowjetischen Kriegsbildes widerspiegeln und den Umgang mit den Krankenmorden in der Sowjetunion veranschaulichen. Im letzten Teil des Beitrags werden die Ergebnisse der bundesdeutschen Ermittlungen zusammengefasst. KRANKENMORDE IM RAUM MINSK 1941: AUF DER SUCHE NACH EINEM NEUEN MASSENTÖTUNGSVERFAHREN UND DIE BESEITIGUNG VON „UNNÜTZEN ESSERN“ Am 28. Juni 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht die weißrussische Hauptstadt Minsk. In den überfüllten medizinischen Einrichtungen der Stadt befanden sich zu diesem Zeitpunkt mehrere Hunderte psychisch kranke Menschen, die nicht evakuiert worden waren.6 In der sechsten Psychiatrieabteilung des 1921 eingerichteten Zweiten Stadtkrankenhauses waren etwa 500 Patienten untergebracht. Zirka 100 von ihnen waren nicht auf eine ständige medizinische Betreuung angewiesen. Deshalb wurden sie nach Kriegsausbruch von der Krankenhausleitung nach Hause entlassen und entgingen auf diese Weise der Vernichtung.7 In der im Oktober 1918 4 5
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Vgl. Verfügung des Gerichtsassessors Dr. Horskotte v. 16.8.1968 [II 202 AR-Z 21/66], Bundesarchiv Ludwigsburg (nachfolgend BArch), B 162/8425, fol. 2. Vgl. bspw. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 21999, S. 1068 f.; Mary Seeman, The Fate of Psychiatric Patients in Belarus during the German Occupation, in: International Journal of Mental Health 35, no. 3 (2006), S. 75–79. Die vom sowjetischen Gesundheitsministerium durchgeführte Überprüfung der Psychiatrien in der UdSSR (1938) bestätigte eine chronische Überfüllung der psychiatrischen Einrichtungen in der BSSR. Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 4p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 574, L. (= List) [Blatt] 7. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ga I. Ol’ševskaja durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov (26.8.1969), BArch B 162/8425, fol. 66–69, hier: fol. 67.
Krankenmorde im Raum Minsk 1941 und ihre Aufarbeitung
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eröffneten „psychiatrischen Arbeitskolonie“ in Navinki8 verblieben Ende Juni 1941 etwa 400 Männer und Frauen.9 Die Anstalt verfügte über eine beachtliche eigene Landwirtschaft („Sowchose“, Staatsgut) mit fast 300 Hektar Ackerland und über eigene Gärten, Viehzucht mit zirka 100 Kühen und darüber hinaus Schweinen, Schafen und Pferden. Die landwirtschaftlichen Arbeiten wurden von etwa 100 bzw. 150. „leichtkranken“ Patienten verrichtet.10 Anfang Juli 1941 kam es zu einem großen Brand in Navinki, eines der größten Anstaltsgebäude wurde durch das Feuer zerstört. In dieser Notsituation entließ die Kolonieleitung einen Teil der Patienten. Diese Patienten – wenn sie aufgrund der Kriegsbedingungen keine Unterkunft außerhalb der Psychiatrie finden konnten – kehrten nach Navinki zurück und teilten somit das tragische Schicksal der restlichen Kranken.11 Mitte August 1941 besuchten Reichsführer-SS Heinrich Himmler und Arthur Nebe, Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes und gleichzeitig Chef der in Weißrussland eingesetzten Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des SD, die Anstalt und die in ein SS-Gut umgewandelte Sowchose. In Navinki ordnete Himmler die Ermordung der Patienten an.12 Anfang September traf der Chef der deutschen Zivilverwaltung in „Weißruthenien“ Wilhelm Kube in der Kolonie ein. Kube, der bis zu seinem Tode 1943 bemüht war, die weißrussische Bevölkerung für die deutschen Besatzer zu gewinnen, und zudem versuchte, das Schicksal der aus dem Reich nach Minsk deportierten Juden zu lindern,13 äußerte keine Bedenken gegen die bevorstehende Räumung der Psychiatrie in Navinki.14 8 9
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Zur Geschichte der Anstalt siehe Ljubov’ Egorenkova, Pljac v imenii Novinki…, in: Minskij kur’er [Minsk] v. 18.12.2009, S.21. Diese Zahl von Patienten überstieg die Kapazitäten der Anstalt, die nach offiziellen sowjetischen Angaben (Ende 1930er Jahre) 300 Männer und Frauen aufnehmen konnte. Vgl. A. I. Bortnickij, Ėtapy stanovlenija i razvitija Respublikanskoj psichiatričeskoj bol’nicy, in: Naučno-praktičeskaja konferencija vračej Respublikanskoj psichiatričeskoj bol’nicy, Minsk 1972, S. 5–6. Vgl. Besichtigung der Irrenanstalt Nowinki (6 km nördlich von Minsk) durch Stabsarzt Dr. Ellinghaus und Ass. Arzt Dr. Krause (16.9.1941), NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 139; Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle der Krankenpflegerin Eva K. Kolonickaja (24.7.1944) und der Kassiererin in der Buchhaltung der Anstalt Navinki Vanda I. Naumenko (1944) durch die sowjetische Staatsanwaltschaft, BArch B 162/8425, fol. 3–6, hier: fol. 3 u. 5; Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Natal’ja N. Markova (geb. Akimova) durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov (31.7.1969), BArch B 162/8425, fol. 53–56, hier: fol. 54; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin V. P. Naumenko über die Vernichtung der Geisteskranken in der Psychiatrie Navinki (Rayon Minsk) durch die deutsch-faschistischen Besatzer (24.7.1944), in: Z. I. Beluga, N. I. Kaminskij, A. L. Manaenkov u. a. (Hrsg.), Prestuplenija nemecko-fašistskich okkupantov v Belorussii 1941–1944, Minsk 1963, S. 190. Vgl. Bortnickij, Ėtapy stanovlenija i razvitija Respublikanskoj psichiartričeskoj bol’nicy v Novinkach (Anm. 9), S. 8. Vgl. Peter Witte, Michael Wildt u. a. (Hrsg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 193–196, insbesondere: S. 196. Vgl. Helmut Heiber, Aus den Akten des Gauleiters Kube, in: VfZ 4 (1956), S. 67–92. Vgl. Schreiben des SS- und Polizeiführers Weißruthenien an den Generalkommissar in Weißruthenien z. Hd. Landrat v. Rumohr v. 27.10.1941, Bezug: Dortiges Schreiben – Abtlg. IIC –
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Im Herbst spitzte sich die Lage in den Minsker Psychiatrien dramatisch zu. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich, zudem wurden die Patienten in Navinki von der im SS-Gut eingesetzten deutschen Gendarmerie systematisch misshandelt.15 Bald fand die erste Exekution im Raum Minsk statt. Das Landgericht Stuttgart stellte in seinem Urteil gegen Dr. Albert Widmann 1967 fest, dass der Angeklagte im September 1941 im Auftrag Nebes nach Minsk gekommen sei. Nebe wiederum sei im Auftrag Himmlers bei der Entwicklung eines neuen Tötungsverfahrens federführend gewesen, das die für die Täter so belastenden Erschießungen habe ersetzen sollen. Im Rahmen dieser Zielsetzung organisierte Widmann im September 1941 „Experimente“, bei denen in Minsk mindestens 24 Geisteskranke „mittels Sprengstoff“ vernichtet worden seien. Gleichzeitig seien in der psychiatrischen Klinik in der ostweißrussischen Stadt Mahilëŭ (russ. Mogilëv, dt. Mogiljow) mindestens 5 Geisteskranke „mittels Gas“ vernichtet worden. Im Gegensatz zur Sprengung erwies sich die Vergasung (Verwendung von Auspuffgasen) als ein „brauchbares Mordverfahren“. So wurde der Weg eingeschlagen, der zur Entwicklung der Gaswagen führte.16 In den sowjetischen Akten findet man keine Hinweise auf die Sprengung von Kranken in Minsk im September 1941. Zeugen hingegen berichteten von einer Mordaktion im Zweiten Stadtkrankenhaus im November 1941: Eine unbekannte deutsche Einheit – von den Zeugen als „deutsche Militärangehörige“ bzw. „Polizeieinheit“ bezeichnet – habe die Psychiatrieabteilung der Einrichtung abgesperrt, die Insassen misshandelt und unter dem Vorwand, sie nach Navinki bzw. Mahilëŭ abzutransportieren, in einem Waldbunker in der Nähe des Dorfes Kalodziščy in die Luft gesprengt. Dabei seien etwa 300 Männer und Frauen ums Leben gekommen.17 Laut Zeugenaussagen sei es im September 1941 nicht nur in Mahilëŭ –
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Verw. – v. R./Lu v. 22.10.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 129; Besichtigung der Irrenanstalt Nowinki (Anm. 10); Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Natal’ja N. Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), fol. 56. Vgl. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (15–29 janvarja 1946 goda), Minsk 1947, S. 135. Urteil des Schwurgerichts in Stuttgart v. 15.9.1967 in der Strafsache gegen Dr. Albert Widmann wegen Beihilfe zum Mord (Ks 19/62), in: Christiaan F. Rüter u. Dirk Welmoed de Mildt (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, Bd. XXVI, Amsterdam 2001, S. 553–588, insbesondere: S. 561–563; hierzu siehe auch Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl u. a. (Hrsg.), Nationalsozialistische Tötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 2003, S. 81 f.; Mathias Beer, Die Entwicklung der Gaswagen beim Mord an den Juden, in: VfZ 35 (1987), S. 403–417, insbesondere: S. 407–409. Vgl. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 194; Kopien der Vernehmungsprotokolle der Ärztin Ol’ga I. Ol’ ševskaja (26. 8.1969), des ehemaligen Krankenpflegers Georgij A. Garanovič (28.8.1969) und der ehemaligen Krankenpflegerin Nadežda Ju. Grablevskaja (18.9.1969) durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov, BArch B 162/8425, fol. 66–76, hier: fol. 67, 68 u. 71– 75. Hierzu siehe auch Vernehmungsprotokoll des Krankenpflegers Nikolaj P. Mirutko (18.12.1945), BArch B 162/8425, fol. 110 u. 111; Kopien der Vernehmungsprotokolle der Ärztin Ol’ga I. Ol’ševskaja (23.7.1944) und der Krankenpflegerinnen Valentina F. Butvilovskaja
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wie Widmann behauptete und das Landgericht Stuttgart in seinem Urteil wiederholte –, sondern auch in Navinki zur Vergasung von Patienten gekommen, so die sowjetischen Vernehmungsprotokolle aus den Jahren 1944 und 1969: Am 19. und 20. September seien 120 chronisch Kranke und 80 arbeitsfähige jüdische Patienten in der Badebaracke der Anstalt auf diese Weise getötet oder erschossen worden. Die Vernichtungsaktion sei von einer unbekannten deutschen Einheit durchgeführt worden. Die Leichen seien in Gruben im Dorf Drazdy begraben worden.18 In dieser Zeit kam es in Navinki möglicherweise zu einer weiteren Vernichtungsaktion, über die der spätere Anstaltsleiter A. I. Bortnickij Anfang der 1970er Jahre berichtete: Einer nicht genannten Anzahl von Patienten sei eine Überdosis Morphium gespritzt worden.19 Nach den ersten Vernichtungsaktionen in Navinki beschloss die Abteilung Gesundheit und Volkspflege des Generalkommissariats „Weißruthenien“, das medizinische Personal der Anstalt zu reduzieren: 28 Pflegerinnen und Pfleger verließen die Kolonie. Ihre 20 Kolleginnen und Kollegen,20 darunter auch die später als „ehemalige Leiterin der jungkommunistischen Organisation“ denunzierte Krankenschwester Amel’janovič,21 blieben vorerst in Navinki. Dass diese grausamen – von Himmler Mitte August 1941 persönlich angeordneten – Mordaktionen in Navinki erst in der zweiten Septemberhälfte geschahen, ist kein Zufall: Die Patienten wurden erst umgebracht, nachdem die Erntearbeiten im SS-Gut abgeschlossen waren und die Besatzer ihre Arbeitskraft nicht mehr benötigten. Bei den geschilderten Krankenmorden handelte es sich um Gräueltaten, welche
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(24.7.1944) und Antonina Ja. Solovej (24.7.1944) durch den Oberuntersuchungsrichter der Staatsanwaltschaft des Gebiets Minsk, Grigorovič, NARB, F. 845, O. 1, D. 63, L. 19–20, 25 u. 39. Vgl. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 135; Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle der Krankenpflegerin Eva K. Kolonickaja (24.7.1944) und der Kassiererin in der Buchhaltung der Anstalt Navinki Vanda I. Naumenko (1944) durch die sowjetische Staatsanwaltschaft, BArch B 162/8425, fol. 3–6, hier: 3, 5 u. 6; Kopien der Vernehmungsprotokolle der ehemaligen Krankenpflegerin Eva K. Kolonickaja (29.7.1969) und der ehemaligen Kassiererin in der Buchhaltung der Anstalt Navinki Vanda I. Naumenko (30.7.1969), der Krankenpflegerin Tat’jana A. Burdilovskaja (31.7.1969), der Ärztin Natal’ja N. Markova (geb. Akimova) (31.7.1969), des Fahrers Roman V. Kačan (29.8.1969) und des Rentners Efim S. Toplenkin (20. 8.1969) durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatsicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov, BArch B 162/8425, fol. 46–65, hier: fol. 47, 48, 51, 54, 55, 58, 61, 64 u. 65; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190; siehe hierzu auch Angelika Ebbinghaus, Gerd Preissler, Die Ermordung psychisch kranker Menschen in der Sowjetunion. Dokumentation, in: Götz Aly, Angelika Ebbinghaus u. a. (Hrsg.), Aussonderung und Tod. Die klinische Vernichtung der Unbrauchbaren, Berlin [West] 1985, S. 75–107, hier: S. 90. Vgl. Bortnickij, Ėtapy stanovlenija i razvitija Respublikanskoj psichiartričeskoj bol’nicy v Novinkach (Anm. 9), S. 8. Vgl. Schreiben des Leiters der Abteilung Gesundheit und Volkspflege, Weber, an den Leiter des Gesundheitsamts in Minsk v. 2.10.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 136. Schreiben Weber an den Gebietskommissar Minsk-Stadt v. 20.10.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 130.
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sowohl die Erprobung der neuen Tötungsmethoden als auch die Ermordung von nunmehr „überflüssigen Arbeitskräften“ bezweckten. Bei den späteren Erschießungen stand die Beseitigung von „unnützen Essern“ im Mittelpunkt. Die Septembermorde waren ein Anzeichen für die bevorstehende Auflösung der Anstalt in Navinki. Die Vernichtung der restlichen Patienten war lediglich eine Frage der Zeit. Die nächste Vernichtungsaktion verzögerte sich allerdings unerwartet um mehr als einen Monat. Der Grund dafür war die Einmischung des SA-Brigadeführers beim Reichskommissariat „Ostland“ in Riga, Dr. Paul Wegener in die Angelegenheiten der Abteilung Gesundheit und Volkspflege im Generalkommissariat „Weißruthenien“. Nach den Anweisungen aus Riga seien „nur die ärztlicherseits als unheilbar anzusehenden Patienten […] der Volksgemeinschaft zu entziehen“. Die Anstalt in Navinki hätte somit fortbestehen sollen, da sich hier „etwa noch 80 arbeitsfähige Geisteskranke“ befanden.22 Trotz der zitierten Anweisungen aus Riga arbeiteten die Zivilverwaltung in Minsk und die SS auf eine möglichst schnelle Ermordung der Patienten hin. Die Mordaktion wurde spätestens am 28. Oktober beschlossen, wobei der Leiter der Abteilung Gesundheit und Volkspflege in Minsk, der auf den Patientenmord bedachte überzeugte „Rassenhygieniker“ Dr. Hans Wolfgang Weber,23 den SS- und Polizeiführer in „Weißruthenien“ bat, „bei der Liquidierung der Geisteskranken der Kolchose Nowinki die im Zivilkrankenhaus II befindlichen Geisteskranken ebenfalls zu liquidieren“.24 Offensichtlich aufgrund der Entscheidung der deutschen Behörden, die Psychiatrie in Navinki zu räumen, beschloss die weißrussische Stadtverwaltung Anfang November 1941, die Lebensmittelversorgung der Anstalt einzustellen. Da die damalige Kolonieleiterin Natal’ja N. Akimova entschlossen dagegen protestierte, hob die deutsche Zivilverwaltung diese Entscheidung in heuchlerischer und zynischer Manier auf und verlängerte die Versorgungsfrist bis zum 15. November. Der Chefärztin Akimova und dem Pflegepersonal sollte zudem der Lohn für die erste Novemberhälfte ausgezahlt werden.25 Am 15. November gab es in Navinki keine Patienten mehr: Die vom Stützpunkt der Gendarmerie in der Kolonie logistisch vorbereitete und von einem deutschen, litauischen oder lettischen Mordkommando am 4. November durchgeführte Erschießung forderte 100 bis 200 Opfer. Die Kolonie wurde aufgelöst und das SS-Gut von der einheimischen Landbevölkerung wei-
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Schreiben Weber an die Abteilung II c des Generalkommissariats „Weißruthenien“ v. 20.10.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 127. So wurde Weber von der Ärztin Ol’ševskaja 1944 dargestellt. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ga I. Ol’ ševskaja (23.7.1944) durch den Oberuntersuchungsrichter der Staatsanwaltschaft des Gebiets Minsk, Grigorovič, NARB, F. 845, O. 1, D. 63, L. 19–20, hier: L. 19. Schreiben Weber an den SS- und Polizeiführer Weißruthenien in Minsk v. 8.10.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 128. Vgl. Schreiben des Stabsarztes Dr. Ellinghaus an die Finanzverwaltung der Stadtverwaltung in Minsk v. 5.11.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 125; Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Natal’ja N. Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), fol. 55.
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ter bewirtschaftet.26 Die Abteilung Gesundheit und Volkspflege beabsichtigte, die „frei gewordenen Betten“ in Minsker Zivilkrankenhäusern zu verwenden, „die an Bettmangel leiden“. Die Bestände der Anstaltsapotheke wurden wiederum für die weißrussische Zivilbevölkerung vorgesehen, „da sie für die Deutschen doch völlig wertlos sind“.27 Die von Dr. Weber für Ende Oktober vorgesehene Massenmordaktion im Zweiten Krankenhaus fand erst im Dezember statt. Am 6. oder 7. Dezember kamen die letzten etwa 80, 100 oder sogar 200 Patienten der Psychiatrieabteilung des Zweiten Stadtkrankenhauses von Minsk ums Leben. Sie wurden von der Sicherheitspolizei (SiPo) abgeholt, brutal geschlagen und am Waldrand außerhalb von Minsk hingerichtet.28 Nach dieser Mordaktion konnte Weber in seinem Schreiben an den Höheren SS- und Polizeiführer in Riga am 12. Januar 1942 zufrieden feststellen: „Zurzeit befinden sich keinerlei psychiatrisch Erkrankte in dem mir zustehenden Gebiet“.29 Drei Tage später hob Weber in seinem Schreiben an den Stadtkommissar von Minsk, Wilhelm Janetzke, einen weiteren Grund für die Ermordung der Patienten hervor: „ Durch Liquidation sämtlicher psychiatrisch unheilbar Erkrankter ist vor etwa 6 Wochen im 2. Zivilkrankenhaus ein ganzes Gebäudes frei geworden“. Die Besatzer benötigten dringend dieses Gebäude, in dem ein Kriegslazarett der Waffen-SS organisiert wurde.30
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Vgl. Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll des Häftlings Bruno Franz Mittmann (15. 12.1945); Protokoll der Gegenüberstellung zwischen dem Häftling Bruno Franz Mittmann und dem Zeugen Maksim I. Makovskij, durchgeführt durch den Oberuntersuchungsrichter des NKVD der BSSR, Pučkov, am 17. 12.1945; Auszug aus dem Urteil des Minsker Prozesses (29. Januar 1946); Kopien der Vernehmungsprotokolle der ehemaligen Krankenpflegerin Eva K. Kolonickaja (29.7.1969), der ehemaligen Kassiererin in der Buchhaltung der Anstalt Navinki Vanda I. Naumenko (30.7.1969), der Krankenpflegerin Tat’jana A. Burdilovskaja (31.7.1969), des Fahrers Roman V. Kačan (29. 8.1969) und der Ärztin Natal’ja N. Markova (geb. Akimova) (31.7.1969) durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov; Schreiben der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Aurich an die Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg v. 25.7.1973, Betr.: Vorermittlungsverfahren II 202 AR-Z 104/68 wegen Tötung der Geisteskranken der Heilund Pflegeanstalt in Nowinki (Krs. Minsk), BArch B 162/8425, fol. 32–41, 46–62, 130–134, hier: fol. 32, 37, 38–41, 48, 49, 51, 52, 55, 56, 58, 59, 61, 62 u. 132; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190. Schreiben Weber an den Höheren SS- und Polizeiführer in Minsk v. 18.11.1941, Betr.: Nowinki, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 124. Vgl. Vernehmungsprotokoll des Häftlings Franz Karl Hess v. 16.12.1945; Auszug aus dem Urteil des Minsker Prozesses (29. Januar 1946); Kopien der Vernehmungsprotokolle der Ärztin Ol’ga I. Ol’ševskaja (26. 8.1969) und der ehemaligen Krankenpflegerin Nadežda Ju. Grablevskaja (18.9.1969) durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov, BArch B 162/8425, fol. 66–76, hier: fol. 68, 69 u. 75; Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 194 f. NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 120. Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Minsk] (nachfolgend GAMn), F. 688, O. 3, D. 1, L. 46, 46ob, 47, hier: L. 46.
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DIE SOWJETISCHE AUFARBEITUNG DER PATIENTENMORDE IN WEISSRUSSLAND NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Nach dem Zweiten Weltkrieg befassten sich die sowjetische Justiz und Staatssicherheit sporadisch mit den Patientenmorden in den besetzten weißrussischen Gebieten: Die NS-Täter Mittmann und Hess wurden im Rahmen des Minsker Prozesses verurteilt und anschließend hingerichtet. Die einheimischen Ärzte Aleksandr Stepanov (weißuss. Aljaksandr Scjapanaŭ) und Nikolaj Pugač (weißruss. Mikalaj Puhač) wurden Ende der 1940 Jahre nicht zuletzt aufgrund ihrer Mitwirkung bei der Vernichtung von psychisch kranken Menschen in Mahilëŭ zur langen Haftstrafen verurteilt.31 1962 und 1963 wurde dem ehemaligen SiPo-Chef in Minsk, Georg Heuser, und zehn seinen ehemaligen Mitarbeitern vor dem Koblenzer Landgericht der Prozess gemacht. Im Rahmen des Prozesses wurde auch die Ermordung der Psychiatriepatienten in Minsk thematisiert.32 Die Zeugen aus der Sowjetunion wurden zum Prozess nicht zugelassen, denn die westdeutsche Justiz ging von einer Manipulation durch den KGB aus. Der Prozess wurde in der sowjetischen Propaganda ausführlich behandelt und zur propagandistischen Verurteilung der „neofaschistischen BRD“ instrumentalisiert. Gleichzeitig sammelte die sowjetische Staatssicherheit selbst Informationen über die Krankenmorde und weitere Verbrechen der Sicherheitspolizei in Minsk.33 Ende der 1960er Jahre setzte sich der KGB Sowjetweißrusslands erneut mit der Vernichtung psychisch kranker Menschen im Raum Minsk auseinander. Das gesammelte Quellenmaterial sollte an die Ludwigsburger Zentrale Stelle geschickt werden.34 Während die Ludwigsburger Ermittler 31 32
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34
Zu Stepanov und Pugač siehe den Beitrag von Andrei Zamoiski in diesem Buch. Vgl. Urteil des Schwurgerichts bei dem Landgericht in Koblenz v. 21.5.1963 in der Strafsache gegen den Kriminaloberrat Georg Albert Wilhelm Heuser u. a. wegen Mordes (9 Ks 2/62), in: Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs u. Christiaan F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945– 1966, Bd. XIX, Amsterdam 1978, S. 159–317, hier: S. 257. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer Franz Stark betonte während des Prozesses, dass er die Vernichtung der psychisch kranken Menschen, an der er in Minsk mitgewirkt hatte, auch mehr als zwanzig Jahre nach diesem Verbrechen, für richtig halte. Vgl. Dietrich Strothmann, Die gehorsamen Mörder. Das Heuser-Verfahren in Koblenz – Porträt eines Prozesses, in: Die Zeit v. 7.6.1963, http://pdf.zeit. de/1963/23/die-gehorsamen-moerder.pdf (1.3.2015). Zu Heuser siehe Dieter Schenk, Auf dem rechten Auge blind. Die brauen Wurzeln des BKA, Köln 2001, S. 178–180; Jürgen Matthäus, Georg Heuser – Routinier des sicherheitspolizeilichen Osteinsatzes, in: Klaus-Michael Mallmann u. Gerhard Paul (Hrsg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2004, S. 114–125. Siehe hierzu z. B. V. Ponomarev, Sud spasaet ubijc, Minsk 1963; Maksim Tank, Abvinavačvae Belarus’!, in: Holas Radzimy 11 (Februar 1963), S. 1–2; TASS, Oni bojatsja razoblačenija gitlerovskich prestupnikov, in: Sovetskaja Belorussija v. 16.1.1963, S. 4; TASS, Sud v Koblence vynes prigovor, in: Sovetskaja Belorussija v. 23.5.1963, S. 3; Vasilij Romanovskij, Net im proščenija!, in: Predat’ zabveniju? Nikogda! Dokumental’nye očerki, Minsk 1965, S. 7–32, hier: S. 14 u. 16. Vgl. Schreiben der westdeutschen Botschaft in Moskau an das Auswärtige Amt in Bonn v. 24.11.1969, Betr.: Vorermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen in der Heil und Pflegeanstalt NOWINKI (Kreis Minsk); Schreiben des Justizministeriums Baden-Württemberg an die Zen-
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die Mordaktionen in Minsk untersuchten, beschäftigte sich die ostdeutsche Staatssicherheit mit einem ehemaligen Mitglied des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B, Georg Frentzel. Frentzel hatte sich am Patientenmord in Mahilëŭ beteiligt. Bei den Ermittlungen gegen Frentzel, der SED-Mitglied gewesen war und 1971 in Karl-Marx-Stadt zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, arbeiteten die Stasi-Ermittler mit ihren Kollegen aus der KGB-Verwaltung in Mahilëŭ zusammen.35 Diese Beispiele zeigen, dass die juristische Aufarbeitung der Krankenmorde in der UdSSR keinen systematischen Charakter besaß, sondern eher beiläufig im Kontext der Aufklärung anderer Verbrechen geschah (so wie etwa bei Mittmann und Hess). In anderen Fällen wurde sie zu propagandistischen Zwecken instrumentalisiert (wie etwa bei Heuser) oder erst durch die Ermittlungen in der Bundesrepublik oder DDR initialisiert. Besonders bemerkenswert ist der spätstalinistische Prozess gegen Stepanov und Pugač, bei dem sich die einheimischen Mediziner für ihre Beteiligung an den Krankenmorden verantworten mussten. Die Rezeption der nationalsozialistischen Verbrechen gegen psychisch kranke Menschen hatte in der UdSSR einen sehr widersprüchlichen Charakter: Sowjetische Autoren berichteten Mitte der 1960er Jahre empört über einzelne Lehrer in Westdeutschland, welche die nationalsozialistische „Euthanasie“ befürworteten.36 Im Kontext der bundesdeutschen Gerichtsprozesse gegen NS-Verbrecher (u. a. im Rahmen der Heyde-Sawade-Affäre 1962) wurde auf die „Euthanasie“ im „Dritten Reich“ hingewiesen und die westdeutsche Justiz, die den Tätern gegenüber zu „nachsichtig“ sei, schonungslos kritisiert.37 So betonte der sowjetische Journalist und spätere Berater von Michail S. Gorbačev, Nikolaj S. Portugalov, in den 1970er Jahren, dass die Nationalsozialisten Zehntausende „tatsächliche“ und „angebliche“ Geisteskranke umgebracht und die Massenvernichtung psychisch kranker Menschen genutzt hätten, um ihre Gegner auszuschalten. Die Opfer der „Zwangssterili-
35
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trale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, v. 20.2.1970, Betr.: Vorermittlungsverfahren II 202 AR-Z 104/68 Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen wegen nationalsozialistischer Verbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Nowinki (Kreis Minsk); hier: Rechtshilfeersuchen an die Sowjetunion, BArch B 162/8425, fol. 15 u. 16. Zu den Krankenmorden in Mahilëŭ und zum Prozess gegen Frentzel siehe Ulrike Winkler u. Gerrit Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“. Die Ermordung der PsychiatriepatientInnen in Mogilew 1941/42, in: Babette Quinkert, Philipp Rauh u. Ulrike Winkler (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950, Göttingen 2010, S. 75–103; vgl. auch die Strafsache gegen Frentzel, Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (nachfolgend BStU), Ministerium für Staatsicherheit (MfS), Hauptabteilung (HA) IX/11, Zentraler Untersuchungsvorgang (ZUV) 9, Bd. 1–33. Vgl. E. Pral’nikov, A teper’ poigraem v Osvencim, in: Holas Radzimy (Dezember 1965), S. 5. Vgl. etwa Za ėto ne nakazyvajut, in: Novoe vremja v. 15.1.1962, S. 23; TASS; Ubijcy na svobode, in: Sovetskaja Belorussija v. 17.12.1967, S. 3; zur Heyde-Sawade-Affäre und ihrer propagandistischen Instrumentalisierung in der DDR siehe Friedrich Karl Kaul, Dr. Sawade macht Karriere, Frankfurt am Main 1971; ders., Nazimordaktion T4 – Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Berlin [Ost] 1973, S. 174–232; ders., Die Psychiatrie im Strudel der Euthanasie, Frankfurt am Main 1979 (=Nazimordaktion T4 – Die Psychiatrie im Strudel von T4, Berlin [Ost] 1973), S. 174–232; zur UdSSR siehe V. Rozen, Nacisty i bonnskaja femida, Moskau 1966, S. 35–48.
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sierung“ seien in Westdeutschland nicht entschädigt worden. Der Autor aus der UdSSR, in der in den 1970er Jahren zahlreiche psychisch gesunde Dissidenten in Psychiatrien eingewiesen wurden, behauptete außerdem, dass zahlreiche gesunde Menschen im „Dritten Reich“ in psychiatrische Anstalten untergebracht und bisher nicht freigelassen worden seien.38 Gleichzeitig erfuhren die Sowjetbürgerinnen und -bürger aus der Presse, aus der historischen Fachliteratur, Geschichtsbüchern oder Dokumentar- bzw. Spielfilmen in der Regel kaum bzw. nichts über die Krankenmorde in der besetzten Sowjetunion. So schilderte die weißrussische Jugendzeitung Znamja junosti („Jugendbanner“) am 17. August 1967 den Prozess gegen Albert Widmann in Stuttgart, wobei sie auf die von dem Chemiker in Minsk und Mahilëŭ durchgeführten „Experimente“ (Vergasung, Sprengung) einging. Die Opfer wurden in dem Beitrag nur als „Sowjetbürger“ bezeichnet.39 Dass diese Sowjetbürgerinnen und -bürger Psychiatriepatienten waren und aus „rassenhygienischen“ Gründen umgebracht worden waren – eine in der DDR-Presse hervorgehobene Tatsache40 –, wurde nicht einmal erwähnt. Ein weiteres Beispiel für die nicht erfolgte öffentliche Aufarbeitung der Krankenmorde in der UdSSR ist der Prozess gegen Frentzel, der in der DDR angesichts der brisanten SED-Vergangenheit des Angeklagten in der Karl-Marx-Städter Presse nur kurz und in der UdSSR überhaupt nicht behandelt wurde.41 In der DDR wurde der nationalsozialistischen „Euthanasie“ eine im Vergleich zur Sowjetunion deutliche größere Aufmerksamkeit gewidmet. Friedrich Karl Kaul (1906–1981), bedeutender Jurist und Schriftsteller der DDR, veröffentlichte 1973 seine Abhandlung „Nazimordaktion T4 – Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes“.42 Vier Jahre später erschien in der Moskauer Fachzeitschrift Pravovedenie („Rechtswissenschaft“) eine sehr positive Rezension der Abhandlung, geschrieben von dem sowjetischen Juristen Nikolaj S. Alekseev, der den „bekannten Rechtsanwalt“ und „talentierten Journalisten“ Kaul für seine „wertvolle Dokumentarstudie“ gebührend würdigte. Der deutsche Autor – bekannt in der DDR nicht zuletzt durch die TV-Reihe „Fragen Sie Professor Kaul“ und weil er aufgrund seiner jüdischen Herkunft in der ostdeutschen antizionistischen Propaganda im Zusammenhang mit dem Sechstagekrieg (1967) ein-
38 39 40
41 42
Vgl. N. Portugalov, Bonn: otmyvajut žiletki, in: Sovetskaja Belorussija v 12.9.1974, S. 3; ders., Za gran’ju zakona, in: Znamja junosti v. 27.1.1976, S. 3; zu Portugalov (1928–2008) siehe Register, in: Der Spiegel 14 (2008), S. 182. Potrjasajuščie otkrovenija ubijcy, in: Znamja junosti v. 17.8.1967, S. 1. Vgl. AND, SS-Mörder auf freiem Fuß. Skandalöse Entscheidung des Stuttgarter Schwurgerichts, in: Bauernecho v. 17.9.1967, S. 2; ADN, SS-Mörder auf freiem Fuß, in: Freiheit v. 18.9.1967, S. 2; siehe auch SS-Mörder freigelassen, in: Lausitzer Rundschau v. 18.9.1967, S. 2; Tausendfacher SS-Mörder frei, in: Freie Erde v. 18.9.1967, S. 2. Vgl. Gerechtes Urteil gegen einen Kriegsverbrecher, in: Freie Presse v. 3.12.1971, S. 2. Vgl. Friedrich Karl Kaul, Nazimordaktion T4 – Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Berlin [Ost] 1973; ders., Die Psychiatrie im Strudel der Euthanasie, Frankfurt am Main 1979 (= Nazimordaktion T4 – Die Psychiatrie im Strudel von T4), Berlin [Ost] 1973).
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gesetzt worden war43 – rufe in seinem Werk die „rechtschaffenen Menschen“ zur Wachsamkeit im Namen der Friedenssicherung und der Sicherheit der Völker auf. Kaul ging in seiner Studie auf die Krankenmorde in der UdSSR nicht ein: Weder in der DDR-Presse aufgegriffene Prozess gegen Widmann in Stuttgart (1967) noch die zwar geheim gehaltenen, jedoch Kaul vermutlich bekannten Stasi-Ermittlungen gegen Frentzel in der DDR wurden erwähnt. So wies der Leningrader JuraProfessor Alekseev in eigenem Namen insbesondere auf die Krankenmorde in den besetzten sowjetischen Gebieten hin und thematisierte dabei die großen Vernichtungsaktionen in den psychiatrischen Krankenhäusern im Raum Gatčina (Gebiet Leningrad, November 1941), in Ejsk (Gebiet Krasnodar, Mitte Oktober 1942) und in Riga (1942–1943). Die großen – nach dem Gerichtsprozess gegen Albert Widmann in Stuttgart auch im Westen bekannten – Mordaktionen in Weißrussland und auch in der Ukraine ließ er in der Rezension aus unbekannten Gründen unerwähnt.44 In seiner Rezension stützte sich Alekseev auf die bis dato einzige zusammenfassende Darstellung der Psychiatriemorde in den besetzten Gebieten, die der Psychiater Dmitrij D. Fedotov 1965 in der psychiatrischen Fachzeitschrift Voprosy social’noj i kliničeskoj psichonevrologii („Fragen der sozialen und klinischen Psychoneurologie“) publiziert hatte. Der Beitrag, in dem auch der Patientenmord in Weißrussland thematisiert wird, umfasst weniger als 20 Seiten und wurde lediglich von einem sehr kleinen Kreis interessierter Spezialisten in der Sowjetunion und in der DDR rezipiert.45 In der BSSR erschienen nach 1945 und bis zum Zusammenbruch der UdSSR insgesamt zwei an das zahlenmäßig kleine Publikum gerichtete wissenschaftliche Publikationen, in denen die Krankenmorde erwähnt werden: die medizinhistorische Dissertation der Psychiaterin Lilija A. Kostejko über die Entwicklung der Psychiatrie in Weißrussland vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Jahre 1960, in der auch auf die nationalsozialistische Mordpolitik gegen psychisch Kranke hingewiesen wurde,46 und der kurze Beitrag des Mediziners Ėduard A. Val’čuk, der in der medizinischen Fachzeitschrift Zdravoochranenie Belorussii („Gesundheitswesen Weißrusslands“) 1974 über die Vernichtung von Ärzten und Patienten im Krankenhaus in Minojty (Rayon Lida, Westweißrussland) in der Anfangsphase des Krieges berichtete.47
43
44 45 46 47
Vgl. Erklärung jüdischer DDR-Bürger. Aggression Israels verurteilt, in: Junge Welt v. 9. 6.1967, S. 4; zu Kaul siehe Annette Rosskopf, Strafverteidigung als ideologische Offensive. Das Leben des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul (1906–1981), in: Forum historiae iuris v. 9.8.1998, http://fhi.rg.mpg.de/articles/9808rosskopf.htm (1.3.2015); dies., Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland (1906–1981), Berlin 2002. Pravovedenie 1 (1977), S. 122–124. Vgl. Dmitrij D. Fedotov, O gibeli duševnobol’nych na territorii SSSR, vremenno okkupirovannoj fašistskimi zachvatčikami v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, in: Voprosy social’noj i kliničeskoj psichonevrologiii 12 (1965), S. 443–459. Vgl. Lilija. A. Kostejko, Razvitie psichiatrii v Belorussii (Konec XVIII veka – 1960 g.), Minsk 1970, S. 12. Vgl. Ėduard A. Val’čuk, Medicinskie rabotniki Lidskogo rajona v bor’be s nemecko-fašistskimi zachvatčikami, in: Zdravoochranenie Belorussii 8 (1974), S. 35–37.
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Angesichts der geschilderten (Nicht)Aufarbeitung der Krankentötungen in der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg stellen sich die berechtigten Fragen, weshalb der Mord an kranken und behinderten Menschen in den besetzten sowjetischen Gebieten aus dem offiziellen, für die eigene Bevölkerung konstruierten Propagandabild des „Großen Vaterländischen Krieges“ weitgehend ausgeklammert und jahrzehntelang de facto verschwiegen wurde. Der sowjetische Umgang mit dem Kranken- und Behindertenmord wurde durch mehrere Faktoren maßgeblich beeinflusst: Die offizielle Propaganda befasste sich lieber mit dem mythologisierten „heldenhaften Kampf“ der Roten Armee, der Partisanen und der gesamten sowjetischen Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer. Der Mut der Widerstandskämpfer wurde hervorgehoben, während die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Hintergrund blieben.48 Die Aufarbeitung des Behinderten- und Krankenmordes wäre zudem mit einer Reihe unangenehmer Fragen verbunden gewesen: Welche Rolle hatte das einheimische medizinische Personal bei der Umsetzung der Mordpolitik gespielt? Warum waren geistig behinderte Heimbewonhner und psychisch kranke Patienten nicht ins sowjetische Hinterland evakuiert worden (auch dann nicht, wenn die logistischen Möglichkeiten dies erlaubt hätten)? Warum waren die Patienten von der sowjetischen Seite nicht selten in unsäglichen Bedingungen zurückgelassen worden? Ein weiterer Faktor dürfte zudem das herabsetzende Bild von psychisch kranken und behinderten Menschen gewesen sein, das sich in der Sowjetunion noch vor 1941 entwickelt hatte, nach 1945 im Bewusstsein der Bevölkerung und der Partei- bzw. Staatsfunktionäre verankert blieb und die staatliche Politik in Bezug auf „Invalide“ und „Geisteskranke“ nachhaltig prägte. Und nicht zuletzt spielte wohl der systematische Missbrauch der Psychiatrie durch die sowjetische Staatsicherheit in ihrem Kampf gegen Andersdenkende in der Nachkriegszeit eine Rolle. Um die Besonderheiten des der Ludwigsburger Zentralen Stelle von sowjetischer Seite zur Verfügung gestellten und in der Forschung bisher kaum verwendeten Materials greifbar zu machen, erscheint es nun angebracht, dieses Quellenmaterial im Kontext des geschilderten offiziellen sowjetischen Umgangs mit dem Behinderten- und Krankenmord und auch der innen- und außenpolitischen Entwicklung der UdSSR Ende der 1960er Jahre zu analysieren.
48
Siehe hierzu etwa Bernd Bonwetsch, Der „Große Vaterländische Krieg“. Vom öffentlichen Schweigen unter Stalin zum Heldenkult unter Breschnew, in: Babette Quinkert (Hrsg.), „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 166–187; Joachim Hösler, Aufarbeitung der Vergangenheit? Der Große Vaterländische Krieg in der Historiographie der UdSSR und Russland, in: Osteuropa 4–6 (April-Juni 2005), S. 115–125; Peter Jahn, Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941–1945, Berlin 2005; Beate Fieseler u. Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘, Essen 2010.
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DAS SOWJETISCHE QUELLENMATERIAL Im August 1968 verfügte die Ludwigsburger Zentrale Stelle über zwei Vernehmungsprotokolle aus dem Jahre 1944, in denen sowjetische Zeuginnen die Mordaktionen in der „psychiatrischen Arbeitskolonie“ Navinki dargestellt hatten, ohne jedoch dabei konkrete Hinweise auf die Täter zu geben.49 Eine weitere Untersuchung der Patientenmorde im Raum Minsk schien den Ludwigsburger Ermittlern 1968 möglich zu sein, wobei sie die relevanten Informationen aus der UdSSR zu erhalten hofften.50 Am 18. November 1969 wurde das einschlägige Material – insgesamt 15 Dokumente – vom Außenministerium der UdSSR an die westdeutsche Botschaft in Moskau übersandt.51 Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg wurde in der UdSSR – ähnlich wie in der DDR – sehr kritisch dargestellt: Man warf ihr vor, die Ermittlungen zu verschleppen, um die NS-Täter vor der juristischen Verfolgung zu retten.52 Nichtsdestotrotz erhielt sie von der Sowjetunion auf diese Weise einige Protokolle von Verhören von Zeugen sowie von den Beschuldigten Mittmann und Hess (1944, 1945), einen Auszug aus dem Urteil des Militärtribunals (1946) und zudem zahlreiche Protokolle von zusätzlichen Zeugenvernehmungen. Diese Zeugen waren von dem Oberuntersuchungsrichter beim KGB der BSSR, Major Senatorov, zwischen Ende Juli und September 1969 sorgfältig vernommen worden. Die übermittelten Akten betrafen die Mordaktionen in Navinki und die Ermordung der Psychiatriepatienten im Zweiten Stadtkrankenhaus von Minsk.53 Einzelne wichtige Dokumente – etwa die protokollierten Vernehmungen einiger Ärztinnen und Krankenpflegerinnen (1944), die die Verwicklung des einheimischen medizinischen Personals schilderten sowie deren Aussagen beim Minsker Prozess (1946) – blieben den westdeutschen Ermittlern vorenthalten.54 Bei den KGB-Akten, die man dem „ideologischen Gegner“ zukommen ließ, fällt der sachliche Charakter der Protokolle auf. Damit sollte die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen erhöht werden. Dass diese 49 50 51 52
53 54
Vgl. Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle der Krankenpflegerin Kolonickaja und der Kassiererin Naumenko (Anm. 10), fol. 3–6; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190. Vgl. Verfügung des Gerichtsassessors Dr. Horskotte (Anm. 4), fol. 2. Vgl. Schreiben der westdeutschen Botschaft in Moskau an das Auswärtige Amt in Bonn (Anm. 34), fol. 15. Vgl. z. B. Lev Bezymenskij, Esli ob’javitsja Adol’f Gitler, in: Golas Radzimy 9 (Februar 1965), S. 7; ders., Počemu Šjule ne prišel k Šjule, in: Predat’ zabveniju? Nikogda! Dokumental’nye očerki, Minsk 1965, S. 33–36; A. Tjupaev, Ščjuku brosili v reku, in: Znamja junosti v. 14.8.1966, S. 1; ADN, Tajnaja amnistyja kabinetnych zlačyncaŭ, in: Čyrvonaja zmena v. 16.4.1967, S. 4; zur Vorbereitung und Durchführung der Propagandakampagnen gegen die Zentrale Stelle siehe Streng geheime Notiz über Besprechung zwischen Genossen Minister Mielke und dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt der UdSSR – Genossen Alexandrow – am 6.7.1965, 11.00–12.00 Uhr im Ministerium für Staatsicherheit (7.7.1965), BStU, MfS, HA IX, 20418, fol. 103–112, hier: fol. 106. Vgl. BArch, B 162/8425, fol. 24–76. Vgl. Kopie der Vernehmungsprotokolle der Ärztin Ol’ševskaja und der Krankenpflegerinnen Butvilovskaja sowie Solovej (Anm. 17), L. 19–20, 25 u. 39.
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Vernehmungsprotokolle vor der Übergabe an die Bundesrepublik gründlich überprüft und möglicherweise sogar verändert worden waren, kann nicht bezweifelt werden. Es handelte sich dabei also nicht nur um von den Vernommenen mitgeteilte Informationen über die Krankenmorde in Minsk, sondern auch um eine offiziell gebilligte und an das „kapitalistische Ausland“ gerichtete Darstellung der Verbrechen gegen psychisch kranke Menschen in der Anfangsphase des Krieges. Dennoch erlaubt dieses Quellenmaterial, die mörderische Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie in Minsk 1941 zu rekonstruieren und ihre Hintergründe zu analysieren. Im offiziellen Bild des „Großen Vaterländischen Krieges“ und der nationalsozialistischen Okkupation wurden die einheimischen Kollaborateure als eine sehr kleine und von der Bevölkerung verabscheute Gruppe von „Verrätern“ dargestellt.55 Dieser Aspekt des offiziellen Kriegsbildes lässt sich auch in den die Krankenmorde in Minsk betreffenden sowjetischen Akten wiederfinden: Die Beteiligung eines baltischen Kommandos am Patientenmord in Navinki wurde nur beiläufig thematisiert.56 Als einziger einheimischer Kollaborateur tauchte in den sowjetischen Vernehmungen der „Wolgadeutsche“ Rempel’ (Rempler) auf, dessen Schicksal nicht weiter erörtert wurde. Rempel’ habe in der Anstalt Navinki vor dem Krieg als Schmied gearbeitet, sei unter der deutschen Herrschaft zum Verwalter des SS-Gutes aufgestiegen und habe gleichzeitig als Dolmetscher fungiert. Außerdem habe er sich an der logistischen Vorbereitung der Mordaktion Anfang November beteiligt.57 Über Fälle freiwilliger Kollaboration unter Medizinern wurde nicht berichtet. Die Ärztinnen betonten vielmehr, dass sie die Patienten zu retten versucht und dabei ihr eigenes Leben riskiert hätten. Sie und auch Krankenschwestern, Krankenpfleger sowie andere Zeugen hoben außerdem hervor, dass die deutschen Täter das weißrussische medizinische Personal und auch die lokale Bevölkerung bei der Durchführung ihrer Verbrechen getäuscht, mit dem Tode bedroht und zu ihren verbrecherischen Zwecken missbraucht hätten.58 So stellte zum Bespiel die Ärztin Ol’ga I. Ol’ševskaja, die vom Major der Staatsicherheit Senatorov am 26. August 1969 befragt wurde, die Vernichtungsaktion im Zweiten Stadtkrankenhaus 55 56 57
58
Siehe etwa Sled vjadze za mjažu, Minsk 1962; Vasil’ P. Ramanoŭski, Saŭdzel’niki ŭ zlačynstvach, Minsk 1964. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), hier: fol. 56. Vgl. Protokoll der Gegenüberstellung zwischen Mitmann und Makovskij (Anm. 26); Kopien der Vernehmungsprotokolle der Kassiererin Naumenko und der Ärztin Markova (geb. Akimova) (Anm. 17), fol. 38–41 u. 50–56; Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 130; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190. Vgl. Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle der Krankenpflegerin Kolonickaja und der Kassiererin Naumenko (Anm. 10), fol. 3, 5 u. 6; Kopien der Vernehmungsprotokolle der ehemaligen Krankenpflegerin Kolonickaja, der ehemaligen Kassiererin Naumenko, der Krankenpflegerin Burdilovskaja, des Fahrers Kačan, des Rentners Toplenkin, des ehemaligen Krankenpflegers Garanovič, der ehemaligen Krankenpflegerin Grablevskaja sowie der Ärztinnen Markova (geb. Akimova) und Ol’ševskaja (Anm. 17 u. 18), fol. 46–76; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190.
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im November 1941 wie folgt dar: Sie – vor dem Krieg Assistentin am Lehrstuhl für Psychiatrie am Medizinischen Institut in Minsk59 und in den ersten Kriegsmonaten Leiterin der Psychiatrieabteilung im Zweiten Krankenhaus – sei zum Krankenhausleiter Sergej Afonskij zitiert worden, der ihr im Beisein eines unbekannten Deutschen und offenbar auf deutsche Anweisung erklärt habe, die chronisch kranken Patienten würden nach Mahilëŭ in die dortige Psychiatrie und die „arbeitsfähigen Kranken“ in die Anstalt Navinki abtransportiert.60 Ol’ševskaja, die zwischen 1944 und 1947 Chefärztin der neu eröffneten Psychiatrie in Navinki war, Ende der 1960er Jahre promoviert wurde, am Institut für Medizin in Minsk lehrte und die Auszeichnung „Verdiente Ärztin Sowjetweißrusslands“ erhielt,61 habe den Abtransport vorzubereiten gehabt.62 Das medizinische Personal habe sich zudem am Verladen von Patienten beteiligen müssen. Diese hätten Kleidung erhalten und ihre Krankenakten seien in Ordnung gebracht worden. Die Deutschen hätten darüber hinaus zwei Krankenpfleger und eine Krankenpflegerin ausgewählt, welche die Opfer auf ihrem letzten Weg in den Waldbunker begleiten mussten. Es handelte sich um einen Schlüsselmoment der geplanten Exekution, denn die Täter befürchteten, dass Panik unter den Patienten im Wald ausbrechen könnte, sie zu fliehen versuchen und dadurch den schnellen und reibungslosen Verlauf des „Sprengstoff-Experiments“ gefährden würden. Die den Opfern vertrauten weißrussischen Krankenschwestern und -pfleger und nicht die fremden Deutschen sollten deshalb dafür sorgen, dass die Patienten im Bunker versammelt würden. An der Geheimhaltung der grausamen Mordaktion waren die Täter erstaunlicherweise nicht interessiert: Das begleitende Pflegepersonal, das die Tragödie der Psychiatriepatienten im Wald miterlebte, wurde zunächst ins Stadtgefängnis von Minsk gebracht und anschließend freigelassen.63 Auch in Navinki mussten die Kolonieinsassen im September 1941 ohne unerwünschte Panik in die Badebaracke gebracht werden, in der anschließend die Vergasung stattfand. Glaubwürdig erscheint die Darstellung der Vernichtungsaktion durch den damaligen Hilfsarbeiter des SS-Gutes Efim S. Toplenkin. Toplenkin sagte 1969 aus, die Patienten seien ruhig geblieben und hätten nicht geschrien, denn das ihnen bekannte Pflegepersonal habe sie in die Baracke geführt und erklärt, sie 59
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Vgl. Nina F. Zmačinskaja, Marina V. Mal’kovec u. Anatolij N. Peresada (Hrsg.), Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta (1921–1996): biografičeskij spravočnik, Minsk 1999, S. 232. Der Lehrstuhl für Psychiatrie und die Psychiatriabteilung des Zweiten Stadtkrankenhauses arbeiteten in der Zwischenkriegszeit sehr eng zusammen. Vgl. V. F. Zajcev, Vtoraja gorodskaja kliničeskaja bol’nica, http://www.minsk-old-new.com/ minsk-3217.htm (1.3.2015). Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ševskaja (Anm. 7), fol. 67. Zmačinskaja u. a., Zavedujuščie kafedrami i professora Minskogo medicinskogo instituta (Anm. 59), S. 232. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ševskaja (Anm. 7), fol. 67. Vgl. Kopien der Vernehmungsprotokolle des ehemaligen Krankenpflegers Garanovič, der ehemaligen Krankenpflegerin Grablevskaja und der Ärztin Ol’ševskaja (Anm. 17), fol. 67–69, 71, 72, 74 u. 75; siehe hierzu auch Vernehmungsprotokoll des Krankenpflegers Mirutko (Anm. 17), fol. 110 u. 111.
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gingen duschen.64 Und auch bei der nächsten Exekution im November 1941 wurden wiederum sowohl die Patienten als auch die Arbeiter des SS-Gutes instrumentalisiert: 12 bis 15 psychisch kranke Männer hoben am Vorabend der Exekution die angeblich für die Aufstellung der deutschen Flakwaffen vorgesehenen und tatsächlich am nächsten Tag zur Erschießung der Kolonieinsassen verwendeten Gruben aus. Zunächst wurden die Frauen, danach die Männer ermordet. In den ausgehobenen Gruben wurden die Opfer begraben. Nach der Erschießung waren es die Arbeiter des SS-Gutes, die die Gruben zuschütten mussten, in denen die Toten lagen.65 Die im Falle von Navinki und des Zweiten Stadtkrankenhauses erzwungene und auch vom Chemiker Albert Widmann hervorgehobene66 Mitwirkung des einheimischen medizinischen Personals an den Vernichtungsaktionen, welche die Durchführung der Mordpolitik erleichterte, machte die Auseinandersetzung mit den Krankenmorden für die sowjetische Seite äußerst unangenehm. Bemerkenswert ist auch, dass die Erinnerung an die ermordeten Patienten in der nach 1945 wiedereröffneten Klinik in Navinki, in der einzelne Augenzeugen der deutschen Verbrechen noch fast 25 Jahre nach Kriegsende arbeiteten, keinesfalls gepflegt wurde. Diese Tatsache war für die sowjetische Seite derart selbstverständlich, dass man sie nicht einmal tarnen wollte. So konnten die Ludwigsburger Ermittler aus den ihnen übermittelten sowjetischen Vernehmungsprotokollen erfahren, dass auf dem Feld, auf dem die Patienten begraben worden waren und auf dem während der Okkupation Roggen und anderes Getreide gesät worden war, weiterhin nachgepflügt werde; dass die für die Vergasung verwendete Badebaracke nicht mehr existiere, wobei an ihrer Stelle ein Wohnhaus errichtet worden war.67 Ein Gedenkstein bzw. eine Gedenktafel für die unschuldigen Opfer der deutschen Mordpolitik wurde nicht erwähnt; offensichtlich sollte nichts in Navinki an sie erinnern. Man wollte die getöteten Psychiatriepatienten vergessen und erwähnte sie
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Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls des Rentners Toplenkin (Anm. 18), fol. 64. Vgl. Protokoll der Gegenüberstellung zwischen Mitmann und Makovskij (Anm. 26); Kopien der Vernehmungsprotokolle der ehemaligen Krankenpflegerin Kolonickaja und der ehemaligen Kassiererin Naumenko (Anm. 18); Schreiben der Staatsanwaltschaft Aurich an die Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg (Anm. 26), fol. 39–41, 46–52 u. 130–134, hier: fol. 40, 47, 51 u. 132; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190. Im Hinblick auf die Sprengung des Bunkers mit den Kranken in Minsk betonte das Schwurgericht in Stuttgart 1967 in seinem Urteil: „Nebe wies den Angeklagten [Widmann] darauf hin, dass die [einheimischen] Ärzte die in Betracht kommenden [später getöteten] Geisteskranken bereits ausgesucht hätten.“ Eine oder zwei Krankenschwestern hätten die Opfer zum Bunker begleitet. Auch bei der Vergasung von Patienten in Mahilëŭ „waren die russischen Anstaltsärzte bzw. -ärztinnen offensichtlich bereits eingeweiht in den Plan Nebes“. Urteil des Schwurgerichts bei dem Landgericht Stuttgart v. 15.9.1967 (Anm. 16), S. 561 f. Vgl. Kopien der Vernehmungsprotokolle der ehemaligen Krankenpflegerin Kolonickaja, der ehemaligen Kassiererin Naumenko und der Krankenpflegerin Burdilovskaja (Anm. 18), fol. 46–52 u. 57–59 hier: fol 48, 51 u. 59; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190.
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– ähnlich wie die Holocaust-Opfer,68 allerdings noch seltener – nur sporadisch zu propagandistischen Zwecken, etwa im für das westliche Publikum bestimmten und gegen die Bundesrepublik gerichteten Dokumentarfilm „Opfer klagen an“ (1962).69 Exemplarischer als mit dem Fall Navinki kann man den Umgang mit dem Behinderten- und Krankenmord in der UdSSR wohl kaum verdeutlichen. In Bezug auf die sowjetischen Vernehmungsprotokolle aus dem Jahre 1969 verdient auch die Darstellung des „jüdischen Themas“ durch nichtjüdische Zeugen besondere Aufmerksamkeit. Die ehemalige Leiterin der psychiatrischen Anstalt Navinki, Natal’ja Markova (geb. Akimova), wies auf 70 jüdische Patienten hin, die im September nach der Vergasung in unbekannte Richtung abtransportiert und offenbar umgebracht wurden.70 Ihre Kollegin Ol’ga Olševskaja, die in der durch die sowjetische Staatsanwaltschaft am 23. Juli 1944 durchgeführten Vernehmung und in ihren Aussagen bei dem Minsker Prozess am 20. Januar 1946 – diese Dokumente wurden den Ludwigsburger Ermittlern nicht übergebenen – die jüdische Herkunft der meisten Opfer der ersten Exekution im Zweiten Zivilkrankenhaus hervorgehoben hatte,71 ließ diese Tatsache 1969 außer Acht.72 Einige Zeugen betonten, dass Juden während der Mordaktionen die „dreckigste Arbeit“ verrichtet hätten: Während der Novemberexekution von Patienten des Zweiten Stadtkrankenhauses hätten etwa zehn Juden aus dem Minsker Ghetto die Opfer der Explosion begraben und seien anschließend zusammen mit dem anwesenden medizinischen Personal ins Stadtgefängnis gebracht worden. Zwei Krankenpfleger und eine Krankenschwester seien freigelassen worden, die Juden hätten im Gefängnis bleiben müssen und seien offensichtlich hingerichtet worden.73 Auch in den Schilderungen der im September 1941 erfolgten Vergasungen in Navinki taucht dieses Ereignismuster auf: Acht eigens nach Navinki gebrachte Häftlinge aus dem Ghetto hätten die vergasten Patienten auf einen LKW geladen.74 Die Krankenschwester Tat’jana A. Burdilovskaja war 1969 der Überzeugung, die Badebaracke sei von Deutschen und von „rekonvaleszenten 68 69 70
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Zum sowjetischen Umgang mit dem Holocaust siehe etwa Zvi Gitelman, Politics and Historiography of the Holocaust in the Soviet Union, in: Zvi Gitelman (Hrsg.), Bitter Legacy. Confronting the Holocaust in the USSR, Bloomington 1997, S. 14–42. Vgl. Žertvy obvinjajut („Opfer klagen an“), Regie: Irina Žukovskaja und Pëtr Šamšur (UdSSR 1962), 0:24:57. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), fol. 55; Bei dem Minsker Prozess im Januar 1946 berichtete die Ärztin von über 80 aus der „Arbeitsabteilung“ der Anstalt abtransportierten Juden. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 135. Vgl. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 194; Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ ševskaja (Anm. 23), L. 19. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ ševskaja (Anm. 7), fol. 66–69. Vgl. Kopien der Vernehmungsprotokolle des ehemaligen Krankenpflegers Garanovič und der ehemaligen Krankenpflegerin Grablevskaja (Anm. 17), hier: fol. 72 u. 75; siehe hierzu auch das Vernehmungsprotokoll des Krankenpflegers Mirutko (Anm. 17), fol. 111. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls des Fahrers Kačan (Anm. 18), fol. 61. Hierzu siehe auch Urteil des Schwurgerichts bei dem Landgericht Stuttgart v. 15.9.1967 (Anm. 16), S. 561 f.
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Kranken“ jüdischer Herkunft zur verbrecherischen Vergasung vorbereitet worden. Sie hätten zudem die Opfer in die Baracke gebracht.75 Ihre ehemalige Kollegin Eva K. Kolonickaja und auch die ehemalige Kassiererin in der Buchhaltung von Navinki, Vanda I. Naumenko, die in ihren ersten Vernehmungen 1944 eigens eine Aktion thematisierten, bei der 42 Juden aus der Psychiatrie abtransportiert worden seien,76 gingen 25 Jahre später auf dieses Verbrechen nicht mehr ein.77 1969 erklärte Naumenko zudem, Juden hätten die Leichen der vergasten Insassen aus der Kolonie unter deutscher Bewachung abtransportiert.78 Diese für Zeugenaussagen dieser Zeit charakteristische Hervorhebung einer „jüdischen Beteiligung“ an NS-Verbrechen kann vermutlich auf das stark antisemitische Klima in der UdSSR nach dem arabisch-israelischen Sechstagekrieg (1967) zurückgeführt werden. In der UdSSR wurde eine antizionistische Propagandakampagne geführt, die zu einer erheblichen Verstärkung judenfeindlicher Ressentiments beitrug. In diesem Zusammenhang griff die Propaganda beispielsweise die Zionisten an, denen eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten unterstellt wurde.79 Einzelne Zeugen, die 1969 über die Mordaktionen in Navinki berichteten, oder auch möglicherweise der KGB-Untersuchungsrichter, der die Protokolle der Vernehmungen anfertigte, scheinen von dieser antisemitischen Propaganda beeinflusst gewesen zu sein. OTTO BÖSE AUF FREIEM FUSS Das sowjetische Quellenmaterial brachte die Ludwigsburger Ermittler ihrem eigentlichen Ziel nicht näher: Die Täter blieben unauffindbar und wurden konsequenterweise nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Dokumente lieferten keine brauchbaren Hinweise auf die Verbrecher. So musste auch Dr. Albert Widmann, der sich nach seiner Freilassung in Stuttgart-Stammheim – weniger als zehn Kilometer von Ludwigsburg entfernt – niederließ,80 eine weitere strafrechtliche Verfolgung wegen der in der Bundesrepublik bisher unbekannten erschreckenden Details der Mordaktionen in Minsk nicht befürchten. 1973 wurden die Ermittlungen tatsächlich einge-
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Kopie des Vernehmungsprotokolls der Krankenpflegerin Burdilovskaja (Anm. 18), fol. 58. Vgl. Übersetzungen der Vernehmungsprotokolle der Krankenpflegerin Kolonickaja und der Kassiererin Naumenko (Anm. 10), fol. 4 u. 6; Aus dem Vernehmungsprotokoll der Zeugin Naumenko (Anm. 10), S. 190. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der ehemaligen Krankenpflegerin Kolonickaja und der ehemaligen Kassiererin Naumenko (Anm. 18), fol. 46–52. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der ehemaligen Kassiererin Naumenko (Anm. 18), hier: fol. 51. Zum sowjetischen Antizionismus siehe etwa William Korey, Russian Antisemitism, Pamyat, and the Demonology of Zionism, Chur 1995; Semyon Reznik, The Nazification of Russia. Antisemitism in the Post-Soviet-Era, Washington DC 1996. Vgl. Abmayr, Albert Widmann (Anm. 3), S. 73. Zu Widmann siehe auch Gaswagen-Morde. Andere Art, in: Der Spiegel 14 (1967), S. 36.
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stellt.81 Auch ein anderer Versuch der Ermittler, NS-Verbrecher strafrechtlich zu verfolgen, war zum Scheitern verurteilt: Noch vor der Einstellung der Ermittlungen gegen Widmann befassten sich die Ermittler mit dem ehemaligen Hauptmann der Schutzpolizei Otto Böse (Jahrgang 1900) sowie dem ehemaligen Obertruppenführer der Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps-Kompanien Werner Hollerbach (Jahrgang 1899). Böse wurde Ende 1945 von dem in Minsk verurteilten Wachtmeister Mittmann belastet. In seiner Schilderung der Mordaktion in Navinki im November 1941 erklärte der Wachtmeister den sowjetischen Untersuchungsrichtern, Oberleutnant Böse sei nach der Exekution zusammen mit den „Litauern“ im Auto nach Minsk zurückgekehrt.82 Am 31. Juli 1969 machte die ehemalige Leiterin der psychiatrischen Anstalt Navinki, Natal’ja Markova, den KGB-Untersuchungsrichter Senatorov auf Werner Hollerbach aufmerksam: Dieser Offizier habe die Ärztin in der Nacht vor der Vergasung gezwungen, ihn bei einer Patientenvisite zu begleiten, er habe während der Visite eine Patientin erschossen und sei am nächsten Tag in den Heimaturlaub gefahren. An der nachfolgenden Mordaktion habe er nicht teilgenommen.83 Während des Minsker Prozesses im Januar 1946 betonte die Ärztin, dass der deutsche Täter –„Chef der örtlichen Polizeibrigade“ – betrunken gewesen sei. Die Patientin habe ihn um eine Zigarette gebeten und versucht, ihn zu küssen. Daraufhin habe er sie mit Abscheu weggestoßen und erschossen. Im Bestreben, seine Tat zu rechtfertigen, habe der Offizier seine von der NS-Rassenideologie entscheidend geprägte Gesinnung gezeigt: Die Deutschen würden die Welt vom „Ballast“ – von „hoffnungslosen Menschen“, die niemand benötige – „befreien“. Um die Patienten nicht zusätzlich zu beunruhigen, wurden die Blutspuren auf deutsche Anweisung beseitigt und die ermordete Frau in der Nacht beigesetzt.84 Die Ermittlungen gegen Böse und Hollerbach hatten keinen Erfolg: Böse wies die Aussagen Mittmanns zurück und behauptete, Navinki niemals besucht zu haben; damit konnte er sich der strafrechtlichen Verfolgung entziehen. Hollerbach starb am 14. April 1972; zu einer Vernehmung kam es nicht mehr.85
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Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Aurich an die Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg (Anm. 26), fol. 130–134. Vgl. BArch B 162/8425. Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), fol. 54 u. 55. Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (Anm. 15), S. 133 f. Die Ärztin nannte den Täter 1946 „Verner Volenbach“ (Werner Wollenbach). 23 Jahre später sprach sie hingegen von „Golerbach“ (Hollerbach). Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Markova (geb. Akimova) (Anm. 10), fol. 54. Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Aurich an die Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg (Anm. 26), fol. 133 u. 134.
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ZUSAMMENFASSUNG Die grausamen Krankenmorde in Minsk im Herbst und im Dezember 1941 sind ein schreckliches Kapitel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den besetzten weißrussischen Gebieten. Psychisch kranke Menschen wurden in Minsk im Rahmen der Suche nach neuen Massentötungsverfahren, als „überflüssige Arbeitskräfte“ und als „unnütze Esser“ umgebracht. Insgesamt kamen mehrere hundert Patienten ums Leben. Die ansonsten zerstrittene SS und deutsche Zivilverwaltung in Minsk arbeiteten bei der Ermordung von Patienten eng zusammen. Um die Ausführung ihrer verbrecherischen Aufgaben zu erleichtern, verwickelten die – oft unbekannt gebliebenen – deutschen Täter das einheimische medizinische Personal in ihre Mordpolitik und missbrauchten dazu auch jüdische und andere lokale Einwohner. Während die eingehende historische und vor allem gesellschaftliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Krankenmorde aufgrund der psychisch Kranke und Behinderte diskriminierenden Stimmung, der ambivalenten Rolle des einheimischen medizinischen Personals, des propagandistischen Bildes vom „Großen Vaterländischen Krieg“ und des Psychiatrie-Missbrauchs in der UdSSR ihren Anfang erst nach dem Zerfall der Sowjetunion nahm, lassen sich in Bezug auf die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Krankenmorde in Minsk drei Etappen hervorheben: 1) 1944 bis 1946: Vernehmung von Zeugen und Angeklagten durch die sowjetischen Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit, Minsker Prozess gegen NS-Verbrecher; 2) 1967: Stuttgarter Prozess gegen Dr. Albert Widmann; 3) 1968 bis 1973: Ermittlungen durch die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Im Laufe dieser Ermittlungen erhielt die Zentrale Stelle Quellenmaterial aus der UdSSR, das die in der Bundesrepublik nach dem Stuttgarter Prozess gegen Widmann verbreitete Vorstellung über das Ausmaß der Krankenmorde in Weißrussland 1941 revidierte und so der historischen Wahrheitsfindung diente. Dieses Quellenmaterial apologetisiert die Rolle des als selbstlos, menschlich und von den nationalsozialistischen Tätern getäuscht dargestellten einheimischen medizinischen Personals. Unfreiwillig bestätigen die sowjetischen Dokumente die marginale Rolle der Patientenmorde in der sowjetischen Erinnerungskultur. Außerdem sind sie in einzelnen Fällen ganz offensichtlich von der sowjetischen antisemitischen Propaganda beeinflusst. Die Feststellung und strafrechtliche Verfolgung der Täter in der Bundesrepublik ermöglichte dieses bemerkenswerte Quellenmaterial jedoch nicht.
EINHEIMISCHE MEDIZINER UND DIE NATIONALSOZIALISTISCHEN KRANKENMORDE IN DER STADT MAHILËŬ Andrei Zamoiski Geprägt von dem nationalsozialistischen rassenhygienischen Gedankengut und bestrebt, „unnütze Esser“ und gleichzeitig eine „gefährliche Quelle für Infektionskrankheiten“ zu beseitigen, ermordete die deutsche Sicherheitspolizei (Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B) im Herbst 1941 und im Frühjahr 1942 etwa 1.200 Psychiatriepatienten in der ostweißrussischen Stadt Mahilëŭ (russ. Mogilëv) (Rückwärtiges Heeresgebiet Mitte). Die deutsche Militärverwaltung, die das Gebäude der 1928 eröffneten psychiatrischen Klinik zu beschlagnahmen beabsichtige, äußerte keinerlei Bedenken gegen die Mordaktionen. Auf der Suche nach neuen, effizienten Vernichtungsmethoden wurden im September 1941 die Sprengung und Vergasung mit Auspuffabgasen an Patienten in Minsk und Mahilëŭ erprobt. Die in Mahilëŭ durchgeführte und eigens verfilmte grausame Vergasung erwies sich als ein „erfolgreiches Experiment“. Die Krankenmorde in Mahilëŭ wurden sowohl in der westlichen als auch in der postsowjetischen weißrussischen Forschung eingehend behandelt, wobei diese Tatsache vor allem auf die erwähnten „Experimente“ zurückgeführt werden kann.1 In ihren Untersuchungen rekonstruierten die weißrussischen und ausländischen Historiker primär die Mordpolitik im Raum Mahilëŭ und analysierten die Verbrechen der deutschen Täter. Auf das einheimische medizinische Personal und seine Rolle in den Krankenmorden ging man hingegen nur am Rande ein. Dieser für das Verständnis der Vernichtungsaktionen in Mahilëŭ sehr wichtige Aspekt steht im Mittelpunkt der vorliegenden Fallstudie.
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Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 1069 ff.; Henry Friedlander, Die Entwicklung der Mordtechnik. Von der „Euthanasie“ zu den Vernichtungslagern der „Endlösung“, in: Ulrich Herbert, Karin Orth u. Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. I, Göttingen 1998, S. 493–507, hier S. 497 ff.; Aleksandr Fridman (= Alexander Friedman), Mogilev – vozmožnyj centr uničtoženija evropejskogo evrejstva?, Uničtoženie pacientov Mogilevskoj psicholečebnicy – put’ k sozdaniju novogo pokolenija dušegubok (zusammen mit Ida Šenderovič), Prestuplenie i nakazanie: poslevoennye sudebnye processy v FRG i GDR, in: Aleksandr Litin (Hrsg.), Istorija Mogileveskogo evrejstva. Dokumenty i ljudi, Bd. 2/2, Mahilëŭ 2009, S. 146 f., 190–193, 203 ff.; Ulrike Winkler u. Gerrit Hohendorf, „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“. Die Ermordung der Psychiatriepatientinnen in Mogilew 1941/42 in: Babette Quinkert, Philipp Rauh u. Ulrike Winkler (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 26), Göttingen 2010, S. 75–103.
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MEDIZINER IN MAHILËŬ UNTER DER DEUTSCHEN OKKUPATION: NIKOLAJ STEPANOV, ALEKSANDR STEPANOV UND NIKOLAJ PUGAČ Am 8. April 1943 veröffentlichte die in Mahilëŭ herausgegebene Zeitung Novyj put’ („Der neue Weg“) eine bemerkenswert kurze anonyme Meldung: Der Stadtbürgermeister Sergej I. Felicin (weißruss. Sjarhej I. Fjalicyn), der Leiter der Gesundheitsabteilung der Stadtverwaltung Nikolaj L. Stepanov (weißruss. Mikalaj L. Scjapanaŭ) und einige weitere Mitarbeiter der Stadtverwaltung wurden von der deutschen Militärverwaltung mit privaten Häusern samt Nebenwirtschaften belohnt. Dadurch würdigten die deutschen Besatzer jene Kollaborateure, die Deutschland treu dienten und somit die „Befreiung Russlands vom Bolschewismus“ beschleunigten.2 Das Schicksal dieser Kollaborateure konnte sich jedoch rasch wenden: Der Stadtbürgermeister und Arzt für Geschlechtskrankheiten, Felicin, der vor dem Kriegsausbruch im Ersten Krankenhaus von Mahilëŭ tätig war, wurde 1944 von den sowjetischen Partisanen erschossen.3 Zwar hatte er offenbar einigen bekannten Juden geholfen, gleichzeitig aber bei der Judenverfolgung – der Konfiszierung ihres Vermögens, Organisation und Liquidierung des Ghettos – mitgewirkt.4 Seine Tochter und Enkelkinder verbrachten den Krieg im sowjetischen Hinterland.5 Die Gründe, die den Mediziner zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern veranlassten, sind unbekannt. Während Felicin in der Sowjetzeit zwar sein Haus verloren hatte, der stalinistische Terror der 1930er Jahre jedoch an ihm vorbei gegangen war,6 hatte sich sein Kollege, der HNO-Arzt Stepanov gezwungenermaßen mit dem Gulag-System vertraut gemacht. Der 1896 in Homel’ geborene Mediziner absolvierte 1915 das orthodoxe Priesterseminar in Mahilëŭ. Da das Priesterdasein im militant atheistischen bolschewistischen Staat nur düstere Zukunftsaussichten versprach, studierte er in den 1920er Jahren Medizin an der Weißrussischen Staatsuniversität in Minsk und arbeitete ab 1927 als Assistenzart an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Medizinischen Instituts in der weißrussischen Hauptstadt. Im März 1931 wechselte er nach Mahilëŭ und übernahm die Leitung der HNO-Abteilung im dortigen Stadtkrankenhaus. Im Oktober 1936 wurde der ehemalige Priesterseminarist verhaftet und zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Ende seiner Haftzeit in einem Lager in der Nähe von Uchta (Raum Pečora) kehrte Stepanov nach Mahilëŭ zurück und fand – offensichtlich dank seiner persönlichen Kontakte und trotz Entzug der Bürgerrechte für zwei weitere Jahre – eine Anstellung als Arzt in der Infektionsabteilung des Stadtkrankenhauses. Vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion bot er zudem eine HNO-Sprechstunde in der städtischen Poliklinik an und hatte Nebenbeschäfti2 3 4 5 6
Nagraždenie rukovodjaščich rabotnikov, in: Novyj put’ [Mahilëŭ] v. 8.4.1943, S. 3. Nikolaj Nožnikov, Mogilev pod sapogom vraga ili Okkupacija glazami očevidcev, in: Vestnik Mogilëva v. 24.8.2012, S. 5. Ida Šenderovič, Spasateli, in: Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 1), S.208. Valentin E. Ljašenko, Karajuščij gorod: dokumental’nyj očerk, Moskau 1961, S.51 f. Ida Šenderovič u. Julija Šenderovič, Moja sem’ja, in: Arkadij L. Šul’man (Hrsg.), Voskresšaja pamjat’. Mestečkovye i semejnye istorii, Bd. 3, Minsk 2007, S. 3–37, hier: S. 32.
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gungen im Tuberkulosekrankenhaus und in der Tuberkulosefürsorgestelle. 1940 schien der Mediziner sich in Mahilëŭ allmählich zu etablieren: Als Facharzt für Halstuberkulose durfte er zur Fortbildung nach Moskau fahren.7 Von tiefem Hass gegen die Sowjetmacht getrieben, nahm Stepanov – ähnlich wie nicht wenige Regimegegner in Mahilëŭ – die deutsche Besatzung als „Befreiung vom Bolschewismus“ wahr. Als ehemaliger Gulag-Häftling ohne Bürgerrechte wurde er nicht in die Rote Armee einberufen. Nachdem die Wehrmacht nach einer erbitterten Schlacht Mahilëŭ am 26. Juli 1941 besetzt hatte, bot Stepanov den Deutschen seine Dienste an, leitete zunächst für kurze Zeit das städtische Krankenhaus und wurde danach zum Leiter der Gesundheitsabteilung in der Stadtverwaltung ernannt.8 Nach dem Kriegsausbruch war Nikolaj Stepanov bewusst in der Stadt geblieben und hatte auf die deutschen Besatzer gewartet. Im Gegensatz zu ihm hatten seine Namensvettern Aleksandr M. Stepanov (weißruss. Aljaksandr M. Scjapanaŭ) und Nikolaj A. Pugač (weißruss. Mikalaj A. Puhač) aufgrund ihrer medizinischen Dienstverpflichtungen nicht evakuiert. Der aus der ukrainischen Stadt Vovčans’k (Gebiet Charkiv) stammende Aleksandr Stepanov (Jahrgang 1913) absolvierte 1939 sein Medizinstudium in Charkiv und setzte seine Karriere in Mahilëŭ fort. 1941 leitete er die Männerabteilung in der lokalen Psychiatrie.9 In dieser Anstalt arbeitete auch der 1917 im Dorf Kaljuha (Gebiet Minsk) geborene Absolvent der Minsker Medizinischen Hochschule, Psychiater Nikolaj Pugač.10 Nach der deutschen Okkupation löste Aleksandr Stepanov seinen früheren Vorgesetzten Meer M. Klipcan als Leiter der psychiatrischen Anstalt ab. Nikolaj Pugač fungierte fortan als Chefarzt dieser medizinischen Einrichtung. Der jüdischstämmige Mediziner Klipcan, der seinen Mitarbeitern A. Stepanov und N. Pugač im Juli 1941 angesichts der kritischen Situation im Krankenhaus eine Evakuierung untersagte, wurde verhaftet und kam im neu eingerichteten Ghetto ums Leben.11 Die 7
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Życcёpіs d-ra Mikalaja Scjapanava, dyrėktara belaruskaha medyčnaha іnstytutu v Novaj Vil’ne [Lebenslauf von Dr. Nikolaj Stepanov, Leiter des „Weißruthenischen Medizinischen Institutes“ in Novaja Vil’na] (3.5.1944), Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 381, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 37, L. (= List) [Blatt] 16. Vermutlich stand N. Stepanov in enger Verbindung mit dem Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B, die Personen aufspürte, die Kontakt zu den Kräften des Widerstands hatten. Vgl. dazu: Wladimir W. Posdnjakoff, German Counterintelligence Activities in Occupied Russia 1941–45, National Archives and Records Administration (nachfolgend NARA), M1035, P-122, P. 9. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov, Alexander Nikolaewitsch, 13. November 1948, Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (nachfolgend BStU), MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 235–237. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Pugatsch Nikolaj Antonowitsch, Mogiljow, 12. Juni 1970, BStU, MfS, HA IX/1.1, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 330. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov Alexander Nikolaewitsch, Grodno, 4. November 1948 und Vernehmungsprotokoll des Zeugen Stepanov Alexander Nikolaewitsch, Fergana, 1. Juli 1970, BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 223, 249, 250; Vospominanija
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Entlassung der jüdischen Mediziner und die Aussonderung der jüdischen Patienten gehörten im Sommer 1941 zu den wichtigsten Aufgaben des städtischen Abteilungsleiters Nikolaj Stepanov, der sich als überzeugter Antisemit und eifriger Kollaborateur profilierte.12 So befasste er sich im Herbst 1941 mit einem Lazarett für verletzte sowjetische Militärangehörige, in dem die Militärärzte Vladimir Kuznecov (weißruss. Uladzimir Kuznjacoŭ), Aleksandr Paršin (weißruss. Aljaksandr Paršyn) und Fëdor Pašanin (weißruss. Fëdar Pašanin) denunziert worden waren und am 17. November hingerichtet wurden. Bestrebt, möglichst viele Rotarmisten zu retten, hatten diese Mediziner die Papiere ihrer Patienten gefälscht.13 Nikolaj Stepanov war auch in die Vorbereitung der Mordaktionen gegen psychisch Kranke involviert. Anhand der zur Verfügung stehenden Quellen kann nicht beurteilt werden, ob er dabei eine aktive und selbständige Rolle spielte oder lediglich die deutschen Befehle erfüllte: Der Leiter der Gesundheitsabteilung ließ – möglicherweise nach einer Absprache mit dem Bürgermeister Felicin – die Lebensmittelversorgung der Anstalt kürzen. So mangelte es der Psychiatrie, die zu Kriegsbeginn mit über 1.200 Patienten belegt war, bald akut an Lebensmitteln; Kranke hungerten und starben an Unterernährung.14 Nikolaj Stepanov forderte seine jüngeren Kollegen Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač in der ersten Septemberhälfte 1941 auf, die Patienten in (1) unbeschäftigte chronisch Kranke, (2) beschäftigte chronisch Kranke und (3) akut Erkrankte mit Behandlungsbedarf einzuteilen, Auskunft über ihre jeweilige Anzahl zu geben und entsprechende Namenslisten mit Angabe der Diagnose und des Gesundheitszustandes vorzubereiten. Er machte keinen Hehl daraus, dass unter Kriegsbedingungen nicht alle Patienten versorgt werden könnten, wobei die „Arbeitsunfähigen“ aus der Stadt evakuiert werden, die verbliebenen Kranken aber in Mahilëŭ arbeiten sollten. Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass N. Stepanov wusste, dass die „Evakuierung“ im Jargon der deutschen Sicherheitspolizei „Vernichtung“ bedeutete.15 Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač erfüllten die Anordnungen von Nikolaj Stepanov, der in seiner Funktion als städtischer Abteilungsleiter ihr Vorgesetzter war: Im Krankenhaus befanden sich insgesamt 1.068 Patienten. Etwa 650 von ihnen wurden am 18. September vom Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B erschossen. 60 jüdische Patienten wurden unabhängig von ihrem Gesundheitszustand
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Zoi Gulevič i Ally Ulanovoj [Erinnerungen von Zoja Gulevič und Anna Ulanova], in: Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 1), S.194. Brief des Stabarztes Gampel’ an Nikolaj Stepanov v. 31.10.1941, in: Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 1), S. 179 f. Andrej Eremenko, V načale vojny, Moskau 1965, S. 176; Nachweis über Dokumentationsmaterial über die verbrecherische Tätigkeit der Mitglieder des Einsatzkommandos 8 im Gebiet Mogiljow der BSSR, 8. Januar 1976, BStU MfS, HA IX/11, RHE 4175, Teil 1, fol. 28. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Pugatsch, Nikolaj Antonowitsch (12.6.1970), BStU, MfS, HA IX/11-9-4, Teil 1, fol. 331. Mitteilung Stepanovs über den Krankenbestand in der Nervenheilanstalt Mogiljow, 4.9.1941, BStU, MfS, HA IX 22321, fol.141; Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov Alexander Nikolaewitsch (13.11.1948) und Vernehmungsprotokoll des Zeugen Stepanov Alexander Nikolaewitsch, Fergana, 1.7.1970, BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 236, 249, 250.
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getötet. Nach der Vernichtungsaktion hielt der Dolmetscher des Einsatzkommandos, Adolf Prieb, es für geboten, Pugač den Sinn der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ zu „erklären“: Die Patienten seien getötet worden, da solche Kranken der Gesellschaft schadeten, sozial gefährlich und unheilbar seien.16 Nachdem die letzten Patienten Ende Januar 1942 ermordet und die Psychiatrie geschlossen worden war, erhielt Aleksandr Stepanov den Posten des medizinischen Direktors im örtlichen Krankenhaus, in dem er zugleich als Psychiater und Nervenarzt praktizierte.17 Sein Namensvetter Nikolaj konzentrierte sich 1942 und 1943 auf die aus der Sicht der deutschen Besatzer besonders wichtige Bekämpfung von Epidemien in Mahilëŭ und eröffnete u. a. ein mikrobiologisches Labor, das Impfstoffe gegen Tollwut und Pocken herstellte.18 Anfang April 1943 stieg er zum Leiter der Medizinischen Hochschule in Mahilëŭ auf.19 Aufgrund seiner bitteren Erfahrungen in der stalinistischen Sowjetunion vor 1941 und sich zudem der eigenen Mitwirkung an der NS-Vernichtungspolitik durchaus bewusst, hatte N. Stepanov keinerlei Illusionen hinsichtlich seiner Zukunft nach dem sowjetischen Sieg. Er verließ daher Weißrussland mit der Wehrmacht, verheimlichte seine Tätigkeit in Mahilëŭ und ließ sich nach dem Krieg in den USA nieder.20 Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač, die 1943 Verbindungen mit den sowjetischen Partisanen knüpften, fühlten sich hingegen durch ihre Tätigkeit in der psychiatrischen Anstalt im Herbst 1941 nicht belastet. Tatsächlich wurden sie nach der Vertreibung der Deutschen durch die sowjetische Staatsicherheit überprüft und dabei auch über den Patientenmord befragt.21 Nach dieser Überprüfung konnte der mit einer Medaille „Für den Sieg über Deutschland“ ausgezeichnete Partisanenkämpfer A. Stepanov angesichts eines akuten Fachkräftemangels im Nachkriegsweißrussland auf eine erfolgreiche Fortsetzung seiner medizini16
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Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 1069 f.; Vernehmungsprotokoll des Zeugen Pugatsch, Nikolaj Antonowitsch, 13.7.1944; Vernehmungsprotokoll des Zeugen Stepanov, Alexander Nikolaewitsch, Fergana, 1.7.1970; Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov, Alexander Nikolaewitsch, Mogiljow, 24.12.1948, BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 242– 246, 254, 320. Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 1069 f.; Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov, Alexander Nikolaewitsch, Mogiljow, 24.12.1948, BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 320; Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm.1), S. 196. Życcёpіs d-ra Mikalaja Scjapanava (Anm. 7); Seuchenbekämpfung bei Mensch und Tier in den besetzten Ostgebieten (März 1942), Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv [Russisches Staatliches Militärarchiv] (nachfolgend RGVA), F. 1358, O. 4, D. 4. L. 23. Vermerk „Medizinschule in Mohilew“ von Dr. Neumann-Overholthaus über das Gespräch mit Prof. Stepanow in Minsk am 12.8.1943, Riga, 1.9.1943, Bundesarchiv Berlin (nachfolgend BArch) R 90/323, fol. 32; Protokoll der Sitzung des wissenschaftlichen Senats des wissenschaftlich-methodischen Instituts in Mahilëŭ, Novaja Vil’na (1.5.1944) und Memorandum des Senats des wissenschaftlich-methodischen Instituts in Mahilëŭ, Novaja Vil’na (16.5.1944), NARB F. 381, O. 1, D. 37, L. 9, 11. Eremenko, V načale vojny (Anm. 13), S. 177. Liste des Gesundheitspersonals der Partisanen im Gebiet Mahilëŭ (1.6.1946), NARB, F. 1450, O. 2, D. 98, L. 197, 204; Vernehmungsprotokoll des Zeugen Pugatsch, Nikolaj Antonowitsch (13.7.1944) und Vernehmungsprotokoll des Zeugen Stepanov, Alexander Nikolaewitsch (13.7.1944), BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd.4/1, fol. 219–222, 253–255.
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schen Karriere hoffen. Bis zum Herbst 1948 leitete er das neu errichtete psychiatrische Krankenhaus in Bajary (Gebiet Hrodna).22 Die von der Staatssicherheit eingeleiteten Ermittlungen über die nationalsozialistischen Verbrechen in Mahilëŭ durchkreuzten jedoch seine Pläne. Stepanov und später auch Pugač wurde vorgeworfen, Namenslisten erstellt und somit zur Vernichtung der Patienten beigetragen zu haben. Stepanov gestand zwar seine Schuld ein, betonte jedoch, die von ihm sonst zur Rettung von Patienten unternommenen Versuche wären gescheitert.23 Mit dieser verzweifelten Strategie versuchte der Angeklagte offenbar, sich in eine Reihe mit dem im Krieg umgekommenen Nervenarzt Makar Kuvšinov (weißruss. Makar Kuvšynaŭ) zu stellen, der zusammen mit loyalem medizinischem Personal unter Lebensgefahr einige Dutzend Patienten hatte retten können.24 Die gewählte Strategie brachte keinen Erfolg: Der Mediziner wurde im Januar 1949 von einem Militärtribunal zu 25 Jahren Lagerhaft und zur Konfiszierung seines Vermögens verurteilt.25 Pugač wurde ebenfalls zu einer Haftstrafe verurteilt.26 Nach dem Tode Stalins aus dem Lager entlassen, führten A. Stepanov und N. Pugač ein unauffälliges Leben außerhalb Weißrusslands. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Heroisierung bzw. Mythologisierung des „Großen Vaterländischen Krieges“ in den 1960er Jahren erschienen in der UdSSR Publikationen, in denen die Mediziner Kuznecov, Paršin, Pašanin und Kuvšinov als „treue sowjetische Ärzte“, Helden“ und „Patrioten“ gefeiert wurden, während N. Stepanov und S. Felicin als „Verräter“ und „Verbrecher“ galten.27 Über A. Stepanov und N. Pugač sowie über die Krankenmorde wurde – auch angesichts der Mitwirkung einheimischer Mediziner – in der Regel nicht berichtet. Ein markantes Beispiel für diese Tendenz bietet ein im Mai 1963 veröffentlichter Beitrag über die Mahilëŭer Psychiatrie in der KGB-nahen Zeitung Holas Radzimy („Stimme des Vaterlandes“), die sich an Weißrussen im Ausland richtete. Der Verfasser M. Karpenka berichtete begeistert über die 1909 eröffnete moderne, sehr gut ausgestattete Klinik mit qualifiziertem Pflegepersonal. Der Autor ließ den Krankenhausleiter Sergej I. Volynec (weißruss. Sjarhej I. Valynec) kurz die Geschichte seiner Anstalt schildern: Volynec betonte, dass die Deutschen die Klinik während des Krieges zum Teil zerstört hät22 23
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Bericht Stepanovs über die Arbeit der Psychiatrischen Klinik in Hrodna für das Jahr 1946, Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russische Föderation] (nachfolgend GARF), F. Р-8009, O. 5, D. 263, L. 19–20. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Stepanov Alexander Nikolaewitsch, Mogiljow (24.12.1948), BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 325;Vernehmungsprotokol des Beschuldigten Stepanov Alexander Nikolaewitsch (13.11.1948), BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 13/2, fol. 335. Mehr zu diesem Thema in dem Artikel über Psychiater von A. Zamoiski in diesem Band. Urteil des Militär-Tribunals: Stepanov Alexander Nikolaewitsch, Mogiljow, 15.1.1949, BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 4/1, fol. 239–241. Litin, Istorija Mogilevskogo evrejstva (Anm. 1), S. 197. Eremenko, V načale vojny (Anm. 13), S. 176; V. Bystrov, Geroi podpol’ja: o bor’be sovetskich patriotov v tylu nemecko-fašistskich zachvatčikov v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 1977, S. 102; Ivan Šamjakin u. a. (Hrsg.), Mogilev: ėnciklopedičeskij spravočnik [Mahilëŭ: enzyklopädisches Handbuch], Minsk 1990, S. 226.
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ten. Auf das tragische Schicksal der Patienten, geschweige denn auf die Tätigkeit seiner Vorgänger Pugač und Stepanov ging der Mediziner mit keinem Wort ein.28 Ihre scheinbar vergessene Mahilëŭer Vergangenheit holte Pugač und Stepanov Anfang der 1970er Jahre unerwartet erneut ein.29 Im Zusammenhang mit den in der DDR eingeleiteten Ermittlungen gegen ein Mitglied des Einsatzkommandos 8, Georg Frentzel, untersuchte die Stasi die Verbrechen der Sicherheitspolizei in Weißrussland und bat ihre sowjetischen Kollegen um Unterstützung.30 Im Laufe der Ermittlungen gerieten die Ärzte so ins Visier des KGB der UdSSR. Aleksandr Stepanov wurde in der usbekischen Stadt Fergana ausfindig gemacht, wo er als Leitender Therapeut in der Gesundheitsabteilung der Gebietsverwaltung tätig war.31 Nikolaj Pugač lebte im Dorf Staraja (Gebiet Leningrad) und litt an Tuberkulose. Eine Reise dieser Zeugen nach Karl-Marx-Stadt, wo die Strafsache gegen Frentzel im Frühjahr 1971 verhandelt wurde, hielt die sowjetische Staatssicherheit angesichts ihres Gesundheitszustandes nicht für möglich.32 Wenn diese Behauptung im Falle Pugač durchaus zutreffend sein könnte, so war die Beteiligung des Mediziners Stepanov am geschlossenen Prozess im „sozialistischen Bruderland“ DDR aufgrund seiner Gulag-Vergangenheit nicht wünschenswert. ZUSAMMENFASSUNG: VERBRECHEN UND STRAFE Unter der deutschen Okkupation kamen in Mahilëŭ etwa 1.200 psychisch kranke Menschen ums Leben. Die Mitwirkung der einheimischen Ärzte Nikolaj Stepanov, Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač erleichterte den nationalsozialistischen Tätern die Umsetzung ihrer Mordpolitik. Während der Bürgermeister Sergej Felicin angesichts der dürftigen Quellenlage eine umstrittene Person bleibt, handelte es sich im Falle des Leiters der Gesundheitsabteilung Nikolaj Stepanov um einen Täter aus Überzeugung, der den Bolschewismus glühend hasste und daher zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern mehr als bereit war. Von seinen antisowjetischen Ressentiments geleitet und möglicherweise mit der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ vertraut, beteiligte er sich am Patientenmord und an der Judenverfolgung. Der im Jahr 1941 erst 28jährige Klinikleiter Aleksandr Stepanov und sein vier Jahre jüngerer Kollege Nikolaj Pugač blieben zunächst gegen ihren Willen in der besetzten Stadt Mahilëŭ und wollten den Krieg überleben. Aus diesem Grund 28 29
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M. Karpenka, Dlja zdaroŭja ljudzej, in: Holas Radzimy 36 (1963), S. 4. Protokoll über die Zeugenvernehmung des Pugatsch, Nikolaj Antonowitsch, 3.9.1975, BStU, MfS, HA IX 22321, fol. 99–100; Ermittlung aus dem Dokumentationsmaterial über die verbrecherische Tätigkeit der Mitglieder des Einsatzkommandos 8 im Gebiet Mogiljow der BSSR, 8. Januar 1976, BStU, MfS, HA IX 21155, fol. 1–2. Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten Frentzel, Georg (1970), BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 8, fol. 155–174. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Stepanov, Alexander Nikolaewitsch, Fergana, 1.7.1970, BstU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 13/2, fol. 150. Auskunft über den Bürger Pugač, Nikolaj Antonovič (2.9.1971), BStU, MfS, HA IX/11, ZUV 9, Bd. 16/1, fol. 225.
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erfüllten sie sorgfältig die Anweisungen des Abteilungsleiters N. Stepanov, lieferten der Sicherheitspolizei jüdische Patienten aus und gingen in der Endphase des Krieges – als der sowjetische Sieg offensichtlich war – zu den Partisanen über. Die juristische Aufarbeitung der Krankenmorde in Mahilëŭ in der stalinistischen UdSSR nach 1945 war alles andere als ein Sieg der Gerechtigkeit: Die sowjetische Justiz konnte den in die USA übersiedelten Mittäter Nikolaj Stepanov nicht belangen, während die als „Verräter“ herabgewürdigten Mitläufer Aleksandr Stepanov und Nikolaj Pugač drastisch bestraft wurden.
EINZELSCHICKSALE IN KRIEGSALLTAG UND TOD Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in Weißrussland Viktoria Latysheva Am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion befand sich eine Vielzahl geistig behinderter und psychisch kranker Menschen auch außerhalb spezieller medizinischer Anstalten. Sie wurden in der Regel von ihren Familienangehörigen, Freunden, Bekannten oder Nachbarn betreut. Nach dem Kriegsausbruch stieg die Zahl psychisch Kranker außerhalb der Psychiatrien an: So entließ zum Beispiel die medizinische Leitung der Psychiatrie in Navinki bei Minsk im Sommer 1941 etwa hundert, nicht auf ständige medizinische Betreuung angewiesene Patienten, deren Versorgung man unter den Kriegsbedingungen nicht mehr gewährleisten konnte.1 Die bisherige Forschung über den nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmord in den besetzten sowjetischen Gebieten konzentrierte sich auf Psychiatriepatienten in medizinischen Einrichtungen. Dagegen sind die Lage psychisch kranker und geistig behinderter Zivilisten außerhalb von Psychiatrien und Behindertenheimen, ebenso wie das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener und verhafteter Untergrundkämpfer, die in Lagern und Gefängnissen psychisch erkrankten, sowie auch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf die psychische Verfassung der Bevölkerung weder von (post)sowjetischen noch ausländischen Forschern bisher systematisch analysiert worden. Diese Themenkomplexe stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages und werden in erster Linie anhand von Quellen sowjetischer Provenienz untersucht. Ausgewertet wurden dafür Berichte sowjetischer Partisanen und Untergrundkämpfer, sowjetische Pressepublikationen aus der Kriegszeit, Justizakten aus der Nachkriegszeit sowie Erinnerungen von Zeitzeugen. MORDAKTIONEN Während des Zweiten Weltkrieges wurden in Weißrussland sowohl Patienten von Psychiatrien als auch psychisch Kranke und geistig Behinderte, die nicht in speziellen medizinischen Anstalten untergebracht waren, getötet. In Weißrussland eingesetzte Polizeibataillone und vor allem die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei 1
Vgl. Kopie des Vernehmungsprotokolls der Ärztin Ol’ga I. Ol’ ševskaja durch den Oberuntersuchungsrichter des Komitees für Staatsicherheit beim Ministerrat der Weißrussischen SSR, Major Senatorov (26.8.1969), Bundesarchiv (nachfolgend BArch) B 162/8425, fol. 66–69, hier: fol. 67.
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und des SD wiesen in ihren Tätigkeitsberichten auf geräumte „Irrenhäuser“ und etliche getötete „Geisteskranke“ hin. So wurde im Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppen für Oktober 1941 eine Mordaktion in einer namentlich nicht erwähnten Stadt in „Weißruthenien“ erwähnt: „Die roten Truppen hatten bei ihrem Abzug das Irrenhaus geöffnet und einen Teil der Insassen bewaffnet. 21 Geisteskranke konnten inzwischen erfaßt und liquidiert werden.“2 Erinnerungen von Holocaustüberlebenden und sowjetischen Augenzeugen bestätigen, dass die Ermordung psychisch kranker und gegistig behinderter Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft in Weißrussland bereits in den ersten Kriegstagen und -wochen begann und sich im Laufe des Krieges fortsetzte: In Dokšycy (Raum Vicebsk) beispielsweise erschossen die Besatzer in den ersten Kriegstagen den psychisch kranken David M., der das erste jüdische Opfer in dieser Ortschaft darstellte.3 In der Ortschaft Juravičy (Raum Homel’) tötete eine deutsche Einheit Ende August 1941 den „geisteskranken“ Juden G.4 In Mazyr griff ein „Geisteskranker“ im Sommer 1941 einen „deutschen Offizier“ an und wurde dafür umgebracht.5 Der junge geistig behinderte Hirte Mikola aus dem Dorf Kasmyry (Rayon Čašniki) wurde entweder von „betrunkenen deutschen Soldaten“ oder von einem einheimischen Ordnungsdienstler hingerichtet.6 Zu insgesamt sieben Personen, die im Dorf Selišča (Rayon Lahojsk) Anfang Mai 1943 festgenommen wurden, gehörte auch der psychisch Kranke Iosif S., der ebenfalls ermordet wurde.7 Die Mordaktionen in Dokšycy, Juravičy, Mazyr, Kasmyry und Selišča lassen sich anhand von Erinnerungen zumindest teilweise rekonstruieren. Die Zeitzeugenberichte enthalten oft erschütternde Schilderungen des Ablaufs der Morde. Waren die in diesen Berichten erwähnten „Deutschen“ bzw. „deutschen Soldaten und Offiziere“ tatsächlich Wehrmachtsangehörige? Betrachteten die von der nationalsozialistischen Rassenhygiene geprägten Täter psychisch kranke und geistig behinderte Menschen als „minderwertige Wesen“ bzw. „unnütze Leben“, die vernichtet werden sollten, oder wurden psychisch Kranke (wie etwa im Falle Mazyr) getötet, weil sie Widerstand geleistet hatten? Die ausgewerteten Quellen geben in der Regel keine Antworten auf diese zentralen Fragen. Gleichzeitig zeigen Zeitzeugenbe2 3 4 5 6 7
Zitiert nach: Peter Klein (Hrsg.),Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 222–244, hier: S. 229. Dokszyc-Parafianow Memorial Book (Dokshytsy, Belarus). Translation of Sefer Dokshitz-Parafianov Hebrew and Yiddish Editor: David Stockfish. Published in Tel Aviv, 1970 http://www.jewishgen.org/yizkor/Dokshitsy/dok219.html [1.3.2015]. Vgl. B. S. Katcėn, Zmrok nad Juravičami, in: Vasil’ R. Feranc (Hrsg.), Pamjac’: Hist.-dakum. chronika Kalinkavickaha raёna, Minsk 1999, S. 202. Z uspaminaŭ F. M. Kurcer, in: Michail A. Kapač u. Vasil’ R. Feranc (Hrsg.), Pamjac’: Hist.-dakum. hronika Mazyra i Mazyrskaha raёna, Мinsk 1997, S. 200. Interview Viktoria Latysheva mit Zinaida S. Šypul’ (geb. 1932) u. Michail I. Šypul’ (geb. 1929), Dorf Kasmyry (Rayon Čašniki), Februar 2010. Vgl. Protokoll über die nationalsozialistischen Gräueltaten im Gebiet und in der Stadt Minsk [23.5.1943], Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 750p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 230, L. (= List) [Blatt] 72.
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richte, dass eine flächendeckende Vernichtung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen nichtjüdischer Herkunft außerhalb medizinischer Einrichtungen und Behindertenheimen von den Besatzern nicht beabsichtigt wurde. Das Schicksal psychisch Kranker und geistig Behinderter hing vom Eifer bzw. von der Barmherzigkeit von SS- und Wehrmachtsangehörigen ab, die ihre Opfer entweder töten oder am Leben lassen konnten. Während die Einsatzgruppe B und Polizeibataillone den Kranken- und Behindertenmord in Weißrussland vorantrieben und ihre „Ergebnisse“ dadurch verbesserten, verschonte eine unbekannte deutsche Einheit – von den Zeitzeugen nur als „deutsche Soldaten“ bezeichnet – ein 14jähriges Mädchen aus dem Dorf Abol’cy im Rayon Taločyn. Die Eltern des Mädchens hatten ins sowjetische Hinterland evakuiert werden können. Ihre geisteskranke Tochter ließen sie aber in Abol’cy zurück. „Deutsche Soldaten“ beschlagnahmten das Haus der Familie und vertrieben das Kind. Das Mädchen wurde jedoch am Leben gelassen und überlebte den Krieg, weil barmherzige Dorfbewohner das Kind nicht im Stich gelassen, sondern sich um es gekümmert hatten.8 DER ALLTAG PSYCHISCH KRANKER UND GEISTIG BEHINDERTER MENSCHEN IN WEISSRUSSLAND WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES Nachdem Psychiatriepatienten in Weißrussland 1941 und im Frühjahr 1942 getötet und die psychiatrischen Einrichtungen aufgelöst worden waren, wurden die leerstehenden Gebäude durch die Wehrmacht und die deutsche Zivilverwaltung beschlagnahmt. Das medizinische Personal wurde entlassen oder versetzt.9 Eine qualifizierte medizinische Versorgung von psychisch Kranken konnte unter diesen Umständen meistens nicht mehr gewährleistet werden. Während in Minsk in der Kriegszeit wenigstens eine spezielle Anstalt arbeitete, in der vor allem Patienten mit neurologischen Erkrankungen (so genannte „Nervenkranke“) und auch Menschen mit psychischen Störungen behandelt werden konnten, blieben psychisch Kranke in der weißrussischen Provinz ihrem Schicksal überlassen.10 Mit der Unterstützung einheimischer Lokalverwaltungen konnten psychisch Kranke und geistig Behinderte in den meisten Fällen nicht rechnen. Ein Beispiel ist die Geschichte der 22jährigen Gunefa B. aus dem Dorf Zavrutak im westweißrussischen Rayon Majdzel’. Gunefas Mutter Juzefa stellte im März 1943 einen Antrag bei der Rayonverwaltung von Majdzel, in dem sie um eine Einweisung ihrer Tochter ins Krankenhaus von Vilejka bat: Die besorgte Frau betonte, dass die an einer „agitierten Psychose“ erkrankte Gunefa eine Bedrohung für das Leben und die Ge8 9 10
Interview Viktoria Latysheva mit Nina V. Mazurok (Jahrgang 1930), Dorf Harščėŭčyna (Rayon Taločyn), Februar 2011. Hierzu siehe den Beitrag von A. Friedman über den Patientenmord in Minsk in diesem Band. Vgl. Moisej A. Chazanov u. Roman A. Krasnopёrko, Zabolevanija nervnoj sistemy naselenija BSSR v svjazi s nemeckoj okkupaciej, in: Sbornik naučnych rabot, posvjaščёnnych 20-letiju vysšego medicinskogo obrazovanija, Bd. 1, Minsk 1948, S. 290.
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sundheit sowohl der Mutter selbst als auch der Nachbarschaft darstelle. Juzefa B. konnte die Rayonverwaltung nicht überzeugen. Dort sah man keinen Handlungsbedarf und bemerkte lapidar, Gunefa B. brauche keine Behandlung im Krankenhaus. Sie „wird sich das von selbst abgewöhnen“.11 Das weitere Schicksal von Mutter und Tochter B. ist unbekannt. Ähnlich wie Gunefa B. oder auch das Mädchen aus dem Dorf Abol’cy hatten psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in den weißrussischen Gebieten – soweit sie von der deutschen Mordpolitik nicht betroffen waren – überhaupt nur dann eine Überlebenschance, wenn sie von ihrer Umgebung betreut und versorgt wurden. Im Fall Abol’cy waren es die mitleidigen Dorfnachbarn, im Fall Gunefa B. die Mutter. In Minsk bewies die fünfköpfige Familie L’vov ihre Nächstenliebe, indem sie eine hilfsbedürftige ältere geisteskranke Frau aufnahm.12 Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft führte allgemein zu einer dramatischen Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung: Jüdische Frauen und RomaFrauen, die bei Vernichtungsaktionen die grausame Misshandlung ihrer Kinder miterleben mussten und sogar von den deutschen Tätern gezwungen worden waren, bei der Hinrichtung mitzuwirken, verloren vor ihrem Tod nicht selten den Verstand.13 Menschen, welche deutsche Strafaktionen erlebten, litten jahrelang unter psychischen Störungen.14 Das erschreckende Bild einer Mutter, die den Verlust ihrer Kinder nicht bewältigen konnte und dadurch psychisch erkrankte, wurde auch in der sowjetischen Propaganda verbreitet mit dem Ziel, die antideutsche Stimmung zu verstärken. Beispielsweise berichtete die im sowjetischen Hinterland herausgegebene Zeitung Saveckaja Belarus’ („Sowjetweißrussland“) 1942 über den Mord an den Schwestern N. in Vicebsk: Die 21jährige Vol’ha und die zwei Jahre jüngere Varvara seien Anfang März 1942 von „vier betrunkenen deutschen Offizieren“ festgenommen worden. Die Deutschen hätten ihnen vorgeworfen, sowjetische Partisanen versteckt zu haben. Die jungen Frauen seien zunächst brutal misshandelt und danach umgebracht worden. Die Täter hätten ihre verstümmelten Leichen vor dem Elternhaus aufgehängt. Vol’has und Varvaras Mutter sei in der Folge psychisch krank geworden.15 Sowohl in Gefängnissen als auch in Lagern wurden sowjetische Kriegsgefangene und Untergrundkämpfer systematisch physisch und psychisch gefoltert. Im 11 12 13 14 15
Schreiben Juzefa B.’s an den Chef des Rayons Mjadzel’ [März 1943]. Gosudarstvennyj archiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend, GAMn), F. 4223p, O. 1, D. 17, L. 62. Vgl. Schreiben N. L’vovas an die Abteilung für Sozialfürsorge der Stadtverwaltung Minsk, 23.6.1942, GAMn, F. 622p, O. 1, D. 3, L. 48. Hiezu siehe beispielsweise Aleksandr Fridman (= Alexander Friedman), „…Tol’ko potomu, čto oni cygane…“. K voprosu o genocide cyganskogo naselenija Belarusi v period sovetskonemeckoj vojny, in: Holokost i sučasnist’6 (2009), S. 168–171. Vgl. Interview Viktoria Latysheva mit Uladzimir M. Sidarcoŭ (geb. 1935), Minsk, 20. März 2012. Fašysckija zverstvy ŭ Vicebsku, in: Saveckaja Belarus’ v. 3.3.1942, NARB, F. 750p, O.1, D. 235, L. 147.
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Rayon Bjalyničy (Gebiet Mahilëŭ) hielt der im Mai 1942 festgenommene 28jährige sowjetische Hauptmann B. die ihm zugefügte Folter nicht aus. An einer „psychischen Störung“ erkrankt, wurde er Ende 1943 vergast.16 In Kriegsgefangenenlagern gehörten auch Suizide zum Alltag.17 Ein sowjetischer Mediziner, der 1941 und 1942 mehrere Monate in den Lagerlazaretten in Juchnov, Roslavl’, Kryčaŭ und Babrujsk verbrachte, schilderte in seinem Tagebuch, wie Hunger, Kälte und körperliche Erschöpfung die psychische Gesundheit der Häftlinge ruinierten, sie in Psychosen trieben und sogar zum Kannibalismus führten.18 Im berüchtigten Stalag Nr. 352 in Masjukoŭščyna bei Minsk regten die deutschen Ärzte im April 1942 eine „Säuberung“ des Lagers von „Amputierten“, Blinden, Gelähmten, Kopfverletzten, psychisch Kranken, Tuberkulosekranken im Endstadium, „Ausgezehrten“ und „unheilbar chronisch Kranken“ an: Nach einer sorgfältigen Überprüfung wurden diese Menschen ins Sonderlager in Berazvečča bei Hlybokae abtransportiert und dort isoliert. Das Lager in Berazvečča galt als Sammelbecken für „unnütze Leben“, die dort dahinvegetieren und sterben sollten. Ausgerechnet mit diesem Lager verbanden jedoch nicht wenige verzweifelte, von der Außenwelt isolierte Häftlinge von Masjukoŭščyna die Hoffnung, dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen. So verbreitete sich in Masjukoŭščyna das irreführende Gerücht, in Berazvečča würden die kranken Häftlinge besser behandelt. Im Bestreben, nach Berazvečča zu kommen, versuchten einzelne Häftlinge Krankheiten vorzutäuschen und schreckten sogar vor Selbstverstümmelung nicht zurück.19 FAZIT Im Sommer 1944 sorgte der Fall Anna N. für Aufregung in der ostweißrussischen Ortschaft Chalapeničy. Kurz vor der Befreiung der Ortschaft durch die Rote Armee wurde die Ehefrau des Ordnungsdienstmitglieds Michail N. festgenommen, nachdem sie ihre neugeborene Tochter umgebracht hatte. Nach der Geburt des Kindes litt Anna N. unter einer Wochenbettdepression, die durch Furunkulose im Brustbereich zusätzlich verkompliziert wurde. Geplagt von Schmerzen erwürgte Anna N. ihr Baby. Michail N. setzte sich für seine Frau ein und bat in einem Antrag an den Chef des Ordnungsdienstes, Molčanov, Anna freizulassen und sie von Ärzten be16
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Schreiben eines Einwohners des Dorfes Prisna (Rayon Mahilëŭ) an den Leiter des Weißrussischen Stabes der Partisanenbewegung P. Z. Kalinin v. 20.3.1944 betr. die Vernichtung sowjetischer Bürger durch die Hitler-Besatzer im Mahilëŭer Gefängnis und über die Verwischung der Spuren dieser Verbrechen im Zeitraum vom 15. September bis zum 4. November 1943, in: Z. I. Beluga u. a. (Hrsg.), Prestuplenija nemecko-fašistskich okkupantov v Belorussii. 1941–1944, Minsk 1963, S.148. Vgl. V. Viktorov, Polockaja tragedija. V Gomele prodolžaetsja sudebnyj process nad predateljami, in: Znamja junosti v. 1.12.1967, S. 2. „Die Wahrheit über die Deutschen“ (20 Monate in deutscher Gefangenschaft). Tagebuch des Mediziners L. A. Atanasjan (1943), NARB, F. 750p, O. 1, D. 135, L. 11, 12. Vgl. Z uspaminaŭ Uladzimira Kabajkina, byloha vjaz’nja Berazveckaha lahera smerci, in: Barys I. Sačanka (Hrsg.), Pamjac’. Hist.-dak. Chronika Hlybockaha raëna, Minsk 1995, S. 197 f.
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handeln zu lassen. Molčanov ignorierte den Antrag und beließ Anna F. vorerst hinter Gittern.20 Es fehlen die Quellen, die es ermöglichen würden, das Schicksal Anna N.s und ihres Mannes nach der Vertreibung der Wehrmacht aus Weißrussland zu rekonstruieren. Im Sommer 1944 gehörte Frau N. zu den zahlreichen Menschen in Weißrussland, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft dringend psychiatrische Hilfe benötigten. Das veranlasste die sowjetische Verwaltung, die Psychiatrie in Navinki bereits am 8. August 1944 wieder zu eröffnen, knapp einen Monat nach der Befreiung von Minsk.21 In dieser Anstalt wurden danach sowohl Zivilisten (Holocaustüberlebende, Ostarbeiter etc.) als auch Militärangehörige behandelt.22 Diese Menschen hatten eine dramatische Kriegsepoche hinter sich. Zwischen 1941 und 1944 hatten die nationalsozialistischen Besatzer Weißrussland zum Schauplatz ihrer Massenmordpolitik gemacht. Im Rahmen dieser Mordpolitik waren Psychiatrien und Behindertenheime aufgelöst und Patienten sowie Heimbewohner getötet worden. Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, die nicht in speziellen Anstalten untergebracht waren, wurden oft ebenfalls zu Opfern der Mordaktionen. Ein gezielter flächendeckender Mord an nichtjüdischen psychisch Kranken und geistig Behinderten fand zwar nicht statt, dennoch nutzten etwa die Einsatzgruppe B und weitere deutsche Einheiten sich bietende Gelegenheiten, um nebenbei auch die „unnützen Leben“ zu beseitigen. Ohne medizinische Betreuung und ohne Unterstützung durch einheimische Verwaltungen waren psychisch Kranke und geistig Behinderte im Krieg auf die Hilfe und Barmherzigkeit ihrer Umgebung angewiesen. Auch schuf der Krieg neue psychische Erkrankungen: Während der Besatzung erlebten Juden, Roma, weißrussische Zivilisten, sowjetische Kriegsgefangene und Untergrundkämpfer erschreckende persönliche Tragödien, die ihre Psyche oft nicht bewältigen konnte. Übersetzung: Dr. Elena Tregubova
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Vgl. N.’s Schreiben an Molčanov v. 7.6.1944, GAMn, F. 1039p, O. 1, D. 100, L. 233. Vgl. Verfügung des Rates der Volkskommissare der BSSR Nr. 701 v. 31.10.1944, GAMn, F. 2p, O. 2, D. 4, L. 81. Vgl. Registrationslisten des Krankenhauses 1945 bis 1948, Bibliothek des Republikanischen wissenschaftlich-praktischen Zentrums für psychiatrische Gesundheit (Minsk).
KRANKENTÖTUNGEN IN WESTWEISSRUSSLAND Viktoria Latysheva Das Schicksal psychisch kranker Menschen im ehemals ostpolnischen Westweißrussland wurde bislang weder in der weißrussischen noch in der ausländischen Forschung systematisch untersucht. Diese Tatsache ist in erster Linie auf die dürftige, disparate Quellenlage zurückzuführen: Die zur Verfügung stehenden und im vorliegenden Beitrag ausgewerteten Berichte der sowjetischen Untersuchungskommissionen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie Erinnerungen von Zeitzeugen erlauben es in der Regel nur ansatzweise, den Ablauf der Mordaktionen zu rekonstruieren. In diesem Beitrag wird zunächst die Entwicklung des Psychiatriewesens in Westweißrussland nach 1939 thematisiert. Anschließend wird auf die Patientenmorde in diesem Teil der BSSR eingegangen. PSYCHIATRIEWESEN IN WESTWEISSRUSSLAND (1939 BIS 1941) Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, dem darauffolgenden sowjetischen Einmarsch in die polnischen westweißrussischen und westukrainischen Gebiete sowie ihrer Annexion durch die UdSSR veröffentlichte die sowjetische Fachzeitschrift Gigiena i sanitarija („Hygiene und Sanitätswesen“) im November 1939 einen Aufsatz, in dem sich der Mediziner D. V. Gorfin mit der Entwicklung des Gesundheitswesens in Westweißrussland und in der Westukraine auseinandersetzte. Der Verfasser betonte u. a., dass Polen vor dem 1. September 1939 über insgesamt 30 psychiatrische Anstalten verfügt habe. Von diesen 30 Psychiatrien sei nur eine Klinik in den östlichen Woiwodschaften (Kresy Wschodnie) gewesen.1 Gemeint war die Anstalt in der kleinen Ortschaft Choroszcz bei Białystok. Gorfins Beitrag war ein Teil der in der UdSSR Ende der 1930er Jahre vorangetriebenen antipolnischen Propaganda und sollte die Benachteiligung bzw. Unterdrückung der nichtpolnischen Minderheiten im polnischen Staat veranschaulichen: Warschau habe psychisch kranke Weißrussen und Ukrainer de facto im Stich gelassen. In den folgenden Monaten betonten sowjetische Autoren eine erfolgreiche Entwicklung des Gesundheitswesens in den neusowjetischen westweißrussischen und
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Vgl. D. V. Gorfin, Sostojanie zdravoochranenija v byvšej Pol’še: Zapadnaja Ukraina i Zapadnaja Belorussija, in: Gigiena i sanitarija 11 (1939), S. 7.
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westukrainischen Gebieten.2 Unter der sowjetischen Herrschaft kam es in Westweißrussland tatsächlich zu einer Verbesserung der psychiatrischen Versorgung: Das Netz der psychiatrischen Einrichtungen wurde erheblich ausgebaut, wobei eine kleine Psychiatrie (für insgesamt zwanzig Personen) in Pinsk, ebenso Anstalten für psychisch kranke, behinderte und alte Menschen in den Dörfern Vasiliški, Minojty und Malejkaŭščyzna in der Nähe von Lida eröffnet wurden. Zu diesem Zweck wurden im Raum Lida die Häuser einzelner polnischer Gutsherren beschlagnahmt. Während die Psychiatrie in Malejkaŭščyzna 1940 etwa 30 Männer und Frauen aufnehmen konnte, wurden im Krankenhaus in Minojty im selben Jahr mehr als 100 Patienten behandelt.3 Es wurde im Frühjahr 1940 außerdem geplant, die Psychiatrie in Choroszcz beträchtlich auszuweiten, eine weitere „Arbeitskolonie“ für 500 psychisch Kranke in dieser Ortschaft einzurichten und darüber hinaus eine weitere psychiatrische Klinik in Baranavičy zu errichten.4 Der Kriegsausbruch im Juni 1941 durchkreuzte diese ambitionierten Pläne. PATIENTENMORDE IN WESTWEISSRUSSLAND Choroszcz und Lida wurden von der Wehrmacht bereits in den ersten Kriegstagen und Pinsk Anfang Juli besetzt. Die Mordaktion in Choroszcz fand Anfang Juli statt: Die Feldkommandantur Białystok benötigte das Gebäude der Klinik, um dort die vorrückenden deutschen Truppen unterzubringen. 464 Patienten wurden von der Wehrmacht kurzerhand erschossen.5 Am 8. Juli 1941 kam es auch in Minojty zu einer Mordaktion: 120 Patienten und der jüdische Arzt Rubinovič wurden am Rande des Dorfes vor den Augen der einheimischen Bevölkerung erschossen. Der Vorwand der Besatzer für die Mordaktion war die Verhinderung der angeblichen Ausbreitung der Tuberkulose. Die Täter wurden in einem Bericht der sowjetischen Untersuchungskommission als „Soldaten“ bezeichnet. Die Frage, ob es sich tatsächlich um Wehrmachtsangehörige handelte oder die Mordaktion von einer anderen deutschen Einheit durchgeführt wurde, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.6 Im Hinblick auf den Patientenmord in Malejkovššizna berichteten sowje2 3 4
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Vgl. beispielsweise Vračej pribylo, in: Polesskaja pravda v. 1.4.1940, S. 1; Zdravoochranenie v Zapadnoj Belorussii, in: Sovetskaja Belorussija v. 17.4.1940, S. 1. Vgl. Hanna I. Duleba, Sacyjal’na-ėkanamičnaja charaktarystyka Lidskaha raëna (1940 g.), in: Hanna I. Duleba (Hrsg.), Pamjac: Hist.-dak. chronika Lidy i Lidskaha raëna, Minsk 2004, S. 161. Anordnung des ZK der KP(b)B „Über Maßnahmen und Einrichtungen des Gesundheitswesens in den westlichen Gebieten der BSSR“ v. 3./4.1.1940, Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 4p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 14917, L. (= List) [Blatt] 545–547, hier: L. 546. Vgl. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 1067. Kopie des Berichts der außerordentlichen Staatlichen Sonderkommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eindringlinge in der Stadt Lida v. 17.11.1944, NARB, F. 845p, O. 1, D. 6, L. 8.
Krankentötungen in Westweißrussland
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tische Zeitzeugen über „deutsche Soldaten“, die im Juli nachts einige Patienten erstochen und danach alle Kranken umgebracht hätten. Auch in Vasiliški wurde die Psychiatrie „geräumt“.7 Ebenso haben die Psychiatriepatienten in Pinsk die deutsche Okkupation nicht überlebt. Sie wurden 1941 oder 1942 in der Nähe des Dorfes Kazljakovičy hingerichtet. 1942 fand eine weitere Mordaktion in Kazljakovičy statt: Die deutsche Zivilverwaltung forderte den Judenrat des Pinsker Ghettos auf, Listen unheilbar und psychisch kranker Ghettobewohner zusammenzustellen, da sie angeblich in ein Krankenhaus in Brėst vėrlegt werden sollten. Sie wurden tatsächlich von einer unbekannten deutschen Einheit abtransportiert und erschossen. Der jüdische Ordnungsdienst war beim Zusammentreiben der Patienten eingesetzt worden.8 ZUSAMMENFASSUNG Die Patienten der westweißrussischen Psychiatrien wurden bereits in den ersten Kriegswochen umgebracht. Die Patientenmorde in diesem Teil Weißrusslands markierten die erste Etappe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen psychisch kranke und behinderte Menschen. Die große Mordaktion in Choroszcz wurde von der Wehrmacht organisiert und durchgeführt. Ihr Ziel war die Beschlagnahmung des Klinikgebäudes für die deutschen Truppen. In Minojty befürchteten die Besatzer die Ausbreitung der Tuberkulose und beschlossen daher, die Psychiatrie aufgrund der potentiellen Seuchengefahr zu liquidieren. In Minojty und in weiteren Ortschaften im Raum Lida wirkte die Wehrmacht möglicherweise beim Patientenmord mit. Psychisch kranke Menschen – Juden und Nichtjuden – wurden außerdem 1941 und 1942 in Pinsk getötet.
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Vgl. Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 5), S. 1073. Vgl. Evgenij S. Rozenblat u. Irina Ė Elenskaja, Pinskie evrei. 1939–1944 gg., Brėst 1997, S. 136.
DIE LAGE DER KÖRPERLICH BEHINDERTEN IN DEN BESETZTEN WEISSRUSSISCHEN GEBIETEN Vasili Matokh Die Quellengrundlage dieses Beitrags bilden Akten aus dem Nationalarchiv Weißrusslands: Protokolle und Akten der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Untersuchung und Feststellung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Eroberer und zur Ermittlung des von ihnen verursachten Schadens in der Weißrussischen SSR“, Untersuchungsmaterialien der Verwaltung des 168. NKVD-Lagers für deutsche Kriegsgefangene in Minsk, Dokumente der Kommission zur Geschichte des „Großen Vaterländischen Krieges“ beim ZK der KP(b)B und Erinnerungen von Partisanen, Untergrundkämpfern sowie KZ-Häftlingen. Im Staatsarchiv des Gebietes Minsk wurden Archivbestände weißrussischer Land-, Gemeinde-, Stadt- und Rayonverwaltungen ausgewertet sowie Dokumente der Minsker Gebietskommission zur Unterstützung der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission. Ebenfalls wurden Dokumentensammlungen und Erinnerungen zur Geschichte der Besatzung und des Holocausts verwendet, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Weißrussland veröffentlicht wurden. Dazu kommen Monographien und Aufsätze deutscher, weißrussischer und russischer Historiker, die sich mit Fragen der Sozialfürsorge und der Lage von arbeitsunfähigen Menschen – darunter von körperlich Behinderten – im besetzten Weißrussland beschäftigen sowie mit NS-Verbrechen.1 Einzelne Informationen über die Lage von Menschen mit Behinderungen während der Okkupation wurden in der sowjetischen Presse der Nachkriegszeit und in Memoiren gefunden. Dieser Beitrag hat nicht zum Ziel, das soziale System in den besetzten Gebieten der UdSSR vollständig zu beschreiben, sondern stellt solche Aspekte in den Mittel1
Vgl. z. B. Irina. Ė. Elenskaja, K voprosu o prodovol’stvennom snabženii i social’noj pomošči naseleniju Brestčiny v gody okkupacii (istočnikovedčeskij analiz dokumentov GABO), in: Staronkі vaennaj hіstoryі Belarusі, Minsk 1998, S. 115–132; A. V. Beljaev, Mediko-sanitarnye i social’nye meroprijatija mestnoj okkupacionnoj administracii v Belorussii (1941–1944 gg.), in: 55 hadoŭ Peramohі ŭ Vjalіkaj Ajčynnaj vajne: pohljad praz hady, novyja kancėpcyі і padyhody: matėryjaly navuk.-tėarėt. kanf., 4–5 maja 2000 g., Mіnsk 2000, Bd. 1, S. 94–97; E. A. Greben’ (= Jaŭhen Hrėben’), Social’nyj aspekt trudovoj politiki nemeckich okkupacionnych vlastej na Belarusi (1941–1944 gg.), in: Belarus’ і Germanіja: hіstoryja і sučasnasc’: mat-ly Mіžnarod. navuk. kanf., Mіnsk, 13 maja 2005 g., Minsk 2005, S. 76–82; I. G. Ermolov, Zdravooсhranenie i social’naja politika na okkupirovannoj territorii RSFSR, in: Voprosy istorii 10 (2010), S. 72–79; Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998, S. 114–129; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 21999, insbesondere S. 449–501.
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punkt, die den Alltag von körperlich Behinderten bestimmten. Ebenso werden die Überlebenschancen von Menschen mit Behinderungen während der Besatzung sowie die Vernichtungspolitik gegenüber behinderten Menschen untersucht. Zunächst werden die Vernichtungsaktionen in Behindertenheimen (russ. doma invalidov), das Schicksal der jüdischen Behinderten und der behinderten sowjetischen Kriegsgefangenen dargestellt. Danach wird das Versorgungssystem für die behinderte und arbeitsunfähige Bevölkerung in den besetzten Gebieten thematisiert. BEHINDERTENHEIME IN DEN BESETZTEN GEBIETEN Im Sommer 1941 gelang es den sowjetischen Behörden nicht, die Zivilbevölkerung des westlichen und zentralen Teils der BSSR zu evakuieren. Der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare der BSSR Ivan S. Bylinski berichtete dem Rat der Volkskommissare der UdSSR im Juli 1941, dass während der Evakuierung die größte Aufmerksamkeit „der wertvollsten Ausrüstung, Rohstoffen und Nahrungsmitteln“ zuteil geworden sei und dass die organisierte Evakuierung der Bevölkerung aus den westlichen Gebieten der BSSR und aus dem Gebiet Minsk nicht habe durchgeführt werden können.2 Im Bericht des Ersten Sekretärs des ZK der KP(b)B Pancelejmon K. Panamarėnka über die Ergebnisse der Evakuierung aus der BSSR wurde die Evakuierung der Bevölkerung überhaupt nicht erwähnt.3 Im Gegensatz zu behinderten Menschen, die in Dörfern und Städten bei Verwandten lebten, waren die Insassen der Behindertenheime völlig von der staatlichen Unterstützung abhängig, die mit dem Beginn der Okkupation endete. Im Staatsarchiv des Gebietes Minsk sind Akten über das Behindertenheim in Čėrven’ erhalten geblieben, die auf Mai 1944 datiert sind.4 Somit kann davon ausgegangen werden, dass einige Heime für Behinderte zumindest bis zur Evakuierung der Bevölkerung durch die Deutschen 1944 weiter bestanden. Während der Okkupation wurden weiterhin neue Insassen aufgenommen. So erhielt zum Beispiel im Oktober 1943 der Bürgermeister von Babrujsk einen Brief von einer Frau aus Homel’, die während des Rückzugs von deutschen Truppen evakuiert worden 2
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V. I. Adamuško (Hrsg.), Belarus’ v pervye mesjacy Velikoj Otečestvennoj vojny (22 ijunja – avgust 1941 g.): dokumenty i materialy, Minsk 2006, S. 235–238. Zu den Evakuierungen vgl. Alexander Friedman, Die Evakuierung von 1941 in der Sowjetunion zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Der Fall Weißrussland, in: Fabian Lemmes, Johannes Großmann, Nicholas Williams, Olivier Forcade u. Rainer Hudemann (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe, Berlin 2014, S. 141–156. Adamuško, Belarus’ v pervye mesjacy Velikoj Otečestvennoj vojny (Anm. 2), S. 252–254. Briefwechsel der Verwaltung des Behindertenheimes in Červen’ mit dem Ordnungsdienst über die Ausgabe von Ausweispapieren für die Bewohner des Behindertenheimes (Mai 1944), Gosudarstvennyj arсhiv Minskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Minsk] (nachfolgend GAMn), F. (= Fond) 1039, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 141, L. (= List) [Blatt] 38. Zu Červen̕ siehe auch den Beitrag von Viktoria Latysheva, Alexander Pesetsky und Alexander Friedman in diesem Band.
Die Lage der körperlich Behinderten in den besetzten weißrussischen Gebieten
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war. Die Frau bat darum, sie in der Stadt registrieren zu lassen, und um Mittel für ihren Lebensunterhalt. Da die Antragstellerin gehörlos und arbeitsunfähig war, gab der Bürgermeister dem Direktor des städtischen Behindertenheimes Anweisung sie aufzunehmen.5 Für Behindertenheime waren während der Besatzungszeit die Rayon- und weißrussischen Stadtverwaltungen zuständig. Im Staatsarchiv des Gebietes Minsk gibt es eine Liste von Gegenständen, die im Dezember 1942 auf Anordnung des Bürgermeisters von Barysaŭ, Stanislaŭ I. Stankevič, dem Behindertenheim in Zembin übergeben wurden. Anhand dieser Liste wird deutlich, dass im Heim mindestens einige Dutzend behinderte Menschen wohnten.6 Nach Angaben sowjetischer Partisanen wurden alle Einwohner der Behindertenheime in Barysaŭ und Zembin Anfang April 1943 durch die Nationalsozialisten ermordet.7 In der offiziellen „Erklärung“ der Regierung der Weißrussischen SSR an die sowjetische Regierung über die Gräueltaten der deutschen Besatzer auf dem Territorium Weißrusslands, verfasst 1943, wurde die Vernichtung aller Behinderten in Barysaŭ und Zembin ebenfalls erwähnt.8 Es ist jedoch zu beachten, dass Partisanenberichte über die Lage in den besetzten Gebieten der UdSSR nicht unbedingt als eine zuverlässige Quelle angesehen werden können. Oft wurden keine Informationsquellen angegeben, häufig waren es auch einfach Gerüchte, die unter der Bevölkerung der besetzten Gebiete kursierten.9 Diese offiziellen „Erklärungen“ über die deutschen Gräueltaten in den besetzten Gebieten, die auf Partisanenberichten basierten, wurden vor allem zu Propagandazwecken verfasst. Als zuverlässigere Quellen erweisen sich dagegen Protokolle von Zeugenvernehmungen, die von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission durchgeführt wurden.10 In diesen Protokollen sind persönliche Daten der Zeugen enthalten sowie Informationen darüber, ob diese die Verbrechen persönlich gesehen oder nur über andere von ihnen gehört hatten. Die Zeugen wurden über die Folgen von Falschaussagen aufgeklärt.11 Allerdings warnen einige Historiker, wie 5 6 7
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A. M. Litvin, Ja. A. Hrėben’ u. S. Ja. Novikau (Hrsg.), Vjartanne ŭ rabstva: prymusovaja praca nasel’nictva Belarusi (1941–1945), Mіnsk 2010, S. 265. Anweisung der Rayonverwaltung Barysaŭ zur Herausgabe von Gerätschaften an das Behindertenheim in Zembin (Dezember 1942), GAMn, F. 624, O. 1, D. 8, L. 318. Informationsschreiben des Weißrussischen Stabes der Partisanenbewegung über die Gräueltaten der deutschen Faschisten in den besetzten Gebieten Weißrusslands (1943), Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv Weißrusslands] (nachfolgend NARB), F. 1450, O. 2, D. 8, L. 57. Erklärung der Regierung der BSSR, des Präsidiums des Obersten Sowjets der BSSR und des ZK der KPB(b) an die Regierung der UdSSR, das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR und das ZK der VKP(b) über die Verbrechen der deutschen Besatzer in den besetzten sowjetischen Gebieten (1942), NARB, F. 750, O. 1, D. 223, L. 1–18. Bericht der Minsker operativen Gruppe über den Zustand der Partisanenbewegung vom 15. September bis 31. Dezember 1942, GAMn, F. 1p, O. 1а, D. 212, L. 1–40ob. GAMn, F. 7021 (Minsker Gebietskommission zur Unterstützung der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission); NARB, F. 845 (Weißrussische Republikanische Kommission zur Unterstützung der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission). N. S. Lebedeva, Podgotovka Njurnbergskogo processa, Moskau 1975; M. Sorokina, People and procedure: toward the history of the Soviet investigations of the Nazi war crimes, in: Kritika:
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beispielsweise Dieter Pohl, auch vor einer eindeutigen Auslegung der Dokumente der Außerordentlichen Kommission. Sie geben zu bedenken, dass Partei und Staatssicherheit die Ergebnisse dieser Untersuchungen hätten beeinflussen können.12 Zudem ermöglichen es diese Akten in der Regel nicht, Dienstgrad und -zugehörigkeit der Täter festzustellen. Letztere werden lediglich als „Deutsche“ bzw. „Faschisten“ bezeichnet. Die uns bekannten Schicksale der Behindertenheime zeigen allerdings, dass die Existenz dieser Einrichtungen in den besetzten Gebieten eher eine Ausnahme war. In Dorogobuž (Gebiet Smolensk) im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte erschossen die Besatzer kurz nach der Einnahme der Stadt einen Teil der Insassen des Pflegeheims außerhalb der Stadt. Die übrigen Behinderten und Alten wurden zusammen mit Tuberkulose- und Typhus-Patienten in zwei Häusern untergebracht, was zwangsläufig zu einer Epidemie führen musste. An den Häusern hingen Schilder mit der Aufschrift „Betreten verboten“. Beim Rückzug der deutschen Truppen aus Dorogobuž blieben in diesen Häusern noch einige Dutzend Behinderte zurück. Bei der Evakuierung und Zerstörung der Häuser wurden die Menschen mit Behinderungen, unter denen es auch Blinde gab, zwangsläufig vertrieben. Viele von ihnen starben. Alle diese Details enthielt der Brief einer Frau, die während der Besatzung in Dorogobuž wohnte, an die Führung der BSSR aus dem Jahr 1946.13 Bemerkenswerterweise wurde der Brief an die Führung der BSSR und nicht der RSFSR geschickt, obwohl Dorogobuž eigentlich zu letzterer gehörte. Möglicherweise geschah dies unter dem Eindruck des Prozesses gegen deutsche Kriegsverbrecher in Minsk im Januar 1946. 18 Angehörige der Wehrmacht, der SS, der Polizei und der Gendarmerie wurden aufgrund ihrer Teilnahme an der Ermordung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen zu Haftstrafen oder zum Tode verurteilt.14 Es gibt Zeugnisse davon, dass solche Vorkommnisse wie in Dorogobuž keine Einzelfälle waren. Petr Mylov, Einwohner des Rayons Volchov (Gebiet Leningrad), teilte am 27. Mai 1947 mit, dass es auf der Insel Krasnyj Oktjabr’ ein Pflegeheim gab, welches nicht evakuiert worden war. Den Insassen dieses Behindertenheims waren Nahrungsmittel vorenthalten worden und wenn sie einen extremen Erschöpfungszustand erreicht hatten, wurden sie erschossen.15 Eine Bewohnerin des Rayons Krasnoe Selo im Gebiet Leningrad, Marija Banas, sagte am 2. März 1947 aus,
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Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005) H. 4, S. 797–831; dies., On the Way to Nuremberg: The Soviet Commission for the investigation of Nazi war crimes, in: Beth A. Griech-Polelle (Hrsg.), The Nuremberg War Crimes Trial and its Policy Consequences Today, Baden-Baden 2009, S. 33–42. Dieter Pohl, Die einheimischen Forschungen und der Mord an Juden in den besetzten Gebieten, in: Wolf Kaiser (Hrsg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin 2002, S. 206. NARB, F. 861, O. 1, D. 38, L. 14–15. Prigovor po delu o zlodejanijaсh, soveršennyсh nemecko-fašistskimi prestupnikami v BSSR, priveden v ispolnenie, in: Sovetskaja Belorussija v. 1.2.1946, S. 4. Zu den Prozessen siehe auch den Beitrag von Anatolij Šarkov in diesem Band. Protokoll der Vernehmung des Zeugen Petr Dmitrievič Mylov (27.5.1947), NARB, F. 861, O. 1, D. 21, L. 248–249.
Die Lage der körperlich Behinderten in den besetzten weißrussischen Gebieten
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dass die Deutschen im November bzw. Dezember 1941 bei ihrem Dorf behinderte und ältere Menschen begraben hätten, die im Heim in Petergof (Peterhof) an Unterernährung gestorben waren.16 In den Akten der Staatlichen Sonderkommission wurde neben der Vernichtung von Patienten des psychiatrischen Krankenhauses in Mahilëŭ auch die Ermordung von bis zu vierzig Insassen des Heims für ältere Behinderte in Palykavičy durch Injektionen erwähnt.17 Der deutsche Historiker Christian Gerlach berichtet in seinem Werk „Kalkulierte Morde“ von Vernichtungsaktionen gegen arbeitsunfähige Menschen mit Behinderungen in Heimen in Hrodna und Mahilëŭ.18 Von den fünf Behindertenheimen des Gebietes Minsk gab es zum Zeitpunkt der Befreiung kein einziges mehr. Die während der Okkupation noch bestehenden Gebäude der Behindertenheime waren von den Deutschen bei ihrem Rückzug 1944 zerstört worden.19 Die Gebäude der Behindertenheime waren im Krieg von großem Interesse für die Besatzer. Der deutsche Historiker Bernhard Chiari schildert in seiner Studie „Alltag hinter der Front“ detalliert die Ermordung von Kindern eines weißrussischen Waisenhauses im Dorf Damačova (Gebiet Brėst) im Jahr 1942.20 Der Grund dafür war das Interesse der Besatzer am Gebäude des Kinderheims. Gerlach zeigt im Zusammenhang mit den Vernichtungsaktionen gegen psychisch Kranke auf dem Territorium Weißrusslands, dass die Deutschen für die Vernichtung „einen äußeren Anlass“ brauchten. Das war zum Beispiel ein materielles Interesse an den Gebäuden der psychiatrischen Kliniken oder die Gefahr der Ausbreitung von Epidemien – in einigen Fällen freilich bloß vorgeschoben. Die Besatzer bevorzugten es, sich der arbeitsunfähigen Insassen der Behindertenheime durch physische Vernichtung zu entledigen, um „unnütze Esser“ zu beseitigen und die Gebäude zu beschlagnahmen. Hier gibt es Parallelen zur Vernichtung von psychisch Kranken in den besetzten Gebieten. Die Entscheidung über die Vernichtung von Kindern und körperlich wie geistig Behinderten und Psychiatriepatienten wurde von der deutschen Zivilund Militärverwaltung und der SS getroffen.21 Die Isolierung der Behinderten und Psychiatriepatienten erleichterte den Deutschen die Aufgabe der Massentötung, die so für die lokale Bevölkerung unauffällig erfolgen konnte. Die Vernichtung der Bewohner von Behindertenheimen war jedoch kein so kategorisches Vorhaben wie die Vernichtung von psychisch Kranken und Juden. Im besetzten Weißrussland bestanden einige Heime für behinderte Patienten weiterhin. Aber eine 16 17 18 19 20 21
Protokoll der Vernehmung der Zeugin Marija Petrovna Banas (2.3.1947), NARB, F. 861, O. 1, D. 21, L. 295. Protokoll der Mahilëŭer Gebietskommission zur Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer in der Stadt Mahilëŭ (5.10.1944), NARB, F. 845, O. 1, D. 68, L. 1–7. Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 1074. Ausgewertete Daten, Register und Protokolle über die Schäden, welche die deutsch-faschisistischen Besatzer der Minsker Gebietsabteilung für Sozialfürsorge zugefügt haben (1944), GAMn, F. 7021, O. 87, D. 113, L. 1–18. Chiari, Alltag hinter der Front (Anm. 1), S. 204 f. Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 1067, 1069, 1071–1073; Chiari, Alltag hinter der Front (Anm. 1), S. 201–206.
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völlige Nichteignung (aus der Sicht der Besatzer) für die Zwangsarbeit und die Abhängigkeit von der zentralisierten Versorgung machte die Lage der Insassen der Heime äußerst riskant. Die Heime für körperlich Behinderte in den besetzten Gebieten der UdSSR wurden im Gegensatz zu Heimen für geistig Behinderte zwar nicht ohne Ausnahme liquidiert, aber dennoch systematisch.22 Am Vorabend des deutschen Überfalls auf die UdSSR hatte es auf dem Territorium der BSSR (zusammen mit Westweißrussland) vierzig Behindertenheime mit mehr als viertausend Patienten gegeben.23 Am 1. Januar 1945 waren es in Weißrussland noch 24 Behindertenheime mit 1.004 Patienten, von denen 89 Kriegsinvaliden des Zweiten Weltkrieges waren.24 JÜDISCHE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN Wenn die Lage der Insassen der Behindertenheime als sehr gefährlich bewertet werden muss, so war die Lage der behinderten Juden unabhängig davon, ob sie in einem Behindertenheim oder bei Verwandten lebten, fast aussichtslos. Die Juden, Roma und Familienmitglieder von Kommunisten und Partisanen waren aus dem System der Sozialversorgung ausgeschlossen. Die Besatzer und die Kollaborateure – wie etwa das „Weißruthenische Hilfswerk“ – plünderten das jüdische Eigentum und finanzierten dadurch ihre „wohltätigen Aktionen“ wie Verteilung von Kleidung unter hilfsbedürftigen Einheimischen etc., soweit sie es nicht für Eigenzwecke abzweigten.25 Arbeitsunfähige Juden wurden während der „Umsiedlungen“ in Ghettos und Mordaktionen als erste vernichtet. In Barysaŭ ließen einzelne Juden, die ins Ghetto umgesiedelt wurden, in den Wohnungen Behinderte und kleine Kinder zurück, möglicherweise in der Hoffnung, dass sie so der Vernichtung entgehen könnten. Der weißrussische Ordnungsdienst in Barysaŭ wandte sich an den Bürgermeister Stankevič mit der Frage, was mit den zurückgelassenen Behinderten und Kindern zu tun sei.26 Etwaige daraufhin erfolgte Anweisungen des Bürgermeisters wurden 22 23 24
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26
Zur Vernichtung geistig Behinderter siehe die Beiträge von Björn M. Felder und Alexander Friedman in diesem Band. E. T. Hucenkova, Socyjal’nae zabespjačenne ŭ Belaruskaj SSR za hady Soveckoj ulady, Mіnsk 1957, S. 14. Brief des Bevollmächtigten für die BSSR der Staatlichen Planungskommission beim Rat der Volkskommissare der UdSSR an die Zentralverwaltung für Statistik der UdSSR (26.5.1945), Rossijskij gosudarstvennyj arсhiv ėkonomiki [Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft] (nachfolgend RGAĖ), F. 1562, O. 18, D. 306, L. 72–72ob. Briefwechsel der Minsker Rayonverwaltung mit verschiedenen Institutionen der Besatzungsverwaltung über Fragen der Erfassung, Konfiszierung und Verteilung jüdischen Besitzes (1941–1944), GAMn, F. 623, O. 1, D. 1, L. 138–142, 152–154, GAMn, F. 623, O. 1, D. 121, L. 1–9; Vernehmungsprotokoll des Verhafteten Ėgof, David Davidovič (28.2.1947), NARB, F. 845, O. 1, D. 237, L. 277; Bericht der Barysaŭer Stadtverwaltung über die Übergabe jüdischen Besitzes an die Lager der Abteilung für Sozialfürsorge bei der Stadtverwaltung von Barysaŭ für den Zeitraum vom 8.9.1941 bis 1.4.1942, NARB, F. 845, O. 1, D. 237, L. 283. Briefwechsel des Ordnungsdienstes von Barysaŭ mit dem Bürgermeister der Stadt Barysaŭ, GAMn, F. 635, O. 1, D. 37, L. 30–31.
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in den Archivdokumenten nicht gefunden. Die behinderten Juden wurden offensichtlich entweder sofort umgebracht oder ins Ghetto abtransportiert. Laut Zeugenaussagen gab es im Minsker Ghetto ein Heim für behinderte und ältere Menschen; in demselben Gebäude war auch ein Kinderheim untergebracht.27 Bei fast jeder Mordaktion im Minsker Ghetto wurden alle Insassen des Heims – auch des Kinderheims – vernichtet, so unter anderem bei der Vernichtungsaktion am 2. März 1942 sowie bei dem nächtlichen Pogrom Ende April 1943.28 Tatsächlich war das Ghetto-Heim nichts anderes als eine Sammelstelle für die arbeitsunfähigen Bewohner des Ghettos, in welchem diese leicht identifiziert und ermordet werden konnten. Jüdische Menschen mit Behinderungen, die sich in Behindertenheimen in den besetzten Gebieten befanden, wurden ausgesondert und als erste vernichtet. 1942 gab es im Zivilkrankenhaus in der russischen Stadt Voronež während der deutschen Besatzung einige kranke Juden. Der Leiter des Krankenhauses, Professor Veržblovskij, beschloss, die Juden als Behinderte im naheliegenden Behindertenheim unterzubringen, um sie vor dem Erschießen zu retten. Die Deutschen fanden das allerdings heraus und erschossen die Juden zusammen mit Professor Veržblovskij im Hof. Wenig später traf das gleiche Schicksal auch andere Insassen des Behindertenheims in Voronež.29 KRIEGSGEFANGENE BEHINDERTE Es ist bekannt, dass es auf dem Territorium Weißrusslands und der Ukraine Sonderlager gab, in denen arbeitsunfähige Kriegsgefangene – Schwerverletzte, Behinderte und andere – interniert wurden, wie zum Beispiel in der ukrainischen Stadt Slavuta und der weißrussischen Stadt Hlybokae.30 In diesen Lagern zielte alles auf den schnellen Erschöpfungstod der behinderten Gefangenen ab. Hier wurden Infektionskranke mit Typhus, Tuberkulose oder Ruhr nicht von den Verwundeten und Behinderten getrennt. Es gab kein Trinkwasser, keine Medikamente, Bettwäsche oder Heizung.31 Infolgedessen starben die Gefangenen schnell an Krankheiten und Erschöpfung. Nicht besser war die Lage der behinderten Kriegsgefangenen, die sich 27
28 29 30 31
Vasilij Grossman u. Il’ja Ėrenburg (Hrsg.), Černaja kniga: O zlodejskom povsemestnom ubijstve evreev nemecko-fašistskimi zaсhvatčikami vo vremenno okkupirovannyсh rajonaсh Sovetskogo Sojuza i v lagerjaсh Pol’ši vo vremja vojny 1941–1945 gg., Vilnius 1993, S. 117; Ė. G. Ioffe (Hrsg.), Сholokost v Belarusi, 1941–1944: dokumenty i materialy, Minsk 2002, S. 181. Grossman u. Ėrenburg, Černaja kniga (Anm. 27), S. 117, 126–127. Protokoll der Vernehmung der Zeugin Varvara Vladimirovna Tichonova (17.11.1948), NARB, F. 861, O. 1, D. 16, L. 37–37ob. Befehl des Kommandanten der Kriegsgefangenenlager über die Konzentration behinderter Kriegsgefangener im Lager der Stadt Hlybokae (15.4.1942), GAMn, F. 7021, O. 87, D. 137, L. 79. G. I. Caregorodcev u. N. Decker, Zu den Folgen der faschistischen Politik für das Gesundheitswesen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion, in: Achim Thom u. Genadij I. Caregorodcev (Hrsg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin [Ost] 1989, S. 417–429, hier: S. 422 f.
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in allgemeinen Kriegsgefangenenlagern befanden. Nach der Aussage des kriegsgefangenen Arztes L. Atanasjan, der im Lazarett des Kriegsgefangenenlagers in Babrujsk arbeitete, starben Behinderte in solchen Lagern schnell an Erschöpfung (da sie nicht arbeiten konnten, wurden sie noch schlechter als andere Gefangene ernährt) und in Folge des Mangels an ausreichender medizinischer Versorgung.32 Ähnlich war die Lage der Behinderten in den Lagern für die Zivilbevölkerung. Laut Zeugenaussagen wurden im Minsker SD-Lager in der Šyrokaja-Straße alle arbeitsunfähigen Gefangenen, einschließlich der Behinderten, systematisch selektiert und in das Vernichtungslager Maly Trascjanec vor den Toren von Minsk eingewiesen.33 BEHINDERTE MENSCHEN WÄHREND DER ZWANGSEVAKUIERUNG DER ZIVILBEVÖLKERUNG DURCH DIE WEHRMACHT 1944: DIE LAGER BEI AZARYČY In den besetzten Gebieten waren Behinderte von der Zwangsarbeit (Reparatur von Verbindungs- und Infrastrukturobjekten) befreit.34 Sie wurden auch nicht nach Deutschland abtransportiert. Vielmehr selektierten die lokalen Behörden bei der Rekrutierung arbeitsunfähige ältere Menschen, Kinder und Jugendliche sowie Personen mit schweren körperlichen Behinderungen (schlechtes Seh- oder Hörvermögen, amputierte Körperglieder) und Menschen mit Tuberkulose, Typhus und psychischen Krankheiten aus.35 Allerdings forderten die Befehlshaber der Wehrmacht Ende 1943, nachdem die Rote Armee mehrere östliche Gebiete Weißrusslands befreit hatte, die „totale Verwendung“ der lokalen Arbeitskraft, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht.36 Arbeitsfähige Bürger in der Frontzone wurden für den Bau von militärischen Befestigungen zwangsrekrutiert37 oder zur Arbeit nach Deutschland abtransportiert.38 Die arbeitsunfähige Bevölkerung einschließlich der Behinderten musste von der Frontlinie evakuiert werden.39 Im Frühjahr 1944 evakuierte die Wehrmacht auf dem Territorium Ostweißrusslands eine große Zahl von arbeitsunfähigen Menschen in spezielle Lager. Die größten unter ihnen lagen in der Nähe der Siedlung Azaryčy 32 33
34 35 36 37 38 39
Tagebuch des Mediziners L. A. Atanasjan (Oktober 1941 bis Mai 1943), NARB, F. 750, O. 1, D. 135, L. 30–32. Protokoll der Vernehmung des Zeugen Leonid Aleksandrovič Mojsievič – ehemaliger oberster Sanitäter im Lazarett des Lagers in der Šyrokaja Straße (1944), GAMn, F. 7021, O. 87, D. 124, L. 178–179; V. I. Adamuško (Hrsg.), Lager’ smerti Trostenec: Dokumenty i materialy, Minsk 2003, S. 98. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 106. Ebd., S. 242; G. D. Knat’ko (Hrsg.), Ostarbajtery. Prinuditel’nyj trud belorusskogo naselenija v Avstrii: Dokumenty i materialy, Graz u. Minsk 2003, S. 201. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 62. Norbert Müller (Hrsg.), Wehrmacht und Okkupation 1941–1944, Berlin [Ost] 1971, S. 203. Christoph Rass, „Menschenmaterial“. Deutsche Soldaten an der Ostfront: Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003, S. 368. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 66.
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und der Dörfer Padasinnik und Dzerc’ im Gebiet Homel’. Diese Lager existierten ungefähr eine Woche lang und stellten versumpfte Territorien dar, die mit Stacheldraht umzäunt waren. Es gab keine Gebäude und es war verboten, Zelte aufzubauen und Lagerfeuer zu machen. In den Lagern wurde den Menschen fast kein Essen und auch kein Wasser gegeben. Die Gefangenen erhielten keinerlei medizinische Versorgung und starben massenhaft an Hunger, Kälte und epidemischen Krankheiten. Nach der Mitteilung der sowjetischen Sonderkommission waren von den mehr als 50.000 Gefangenen zur Zeit der Befreiung durch die Rote Armee am 18./19 März 1944 noch etwa 33.000 am Leben, darunter 1732 Behinderte. Viele der Befreiten starben bald darauf.40 In den Akten der Staatlichen Sonderkommission gibt es Zeugnisse von Menschen, die diese Umsiedlungen erlebt hatten. Ihnen zufolge erschossen Wehrmacht und Polizei erbarmungslos diejenigen, die hinter den Kolonnen zurückblieben – Frauen mit Kindern, Behinderte, ältere Menschen. Ein Einwohner von Barysaŭ, Maksim Matveenko, bezeugte beispielsweise, dass die Deutschen während der Evakuierung im März 1944 einen Beinamputierten und seine ältere Mutter getötet hätten, nur weil sie nicht mit dem Tempo der Kolonne Schritt halten konnten.41 Es gibt Dutzende von ähnlichen Beispielen in allen Gebieten Weißrusslands. Eine Bewohnerin des Rayons Žlobin, Varvara Savickaja, erzählte, dass während der Zwangsumsiedlung im März 1944 ihre alte Mutter und ihre eigene Tochter, die an Knochentuberkulose erkrankt war und an Krücken ging, verschwanden. Sie waren hinter den anderen zurückgeblieben; über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.42 Ein Bewohner des Rayons Žlobin, der eine Beinprothese tragende Vasilij Chodarenko, erzählte, dass während der Evakuierung im März 1944 die Deutschen alle erschossen hatten, die hinter der Kolonne zurückgeblieben waren.43 Ihm selbst sei es nur schwer gelungen Schritt zu halten, trotz der Schläge der Wache. Bemerkenswert ist die Geschichte der blinden Marija Nesterenko, Einwohnerin des Rayons Rahačoŭ. Ende Februar 1944 wurde ihr Dorf von den Deutschen evakuiert. Marija wurde nicht erlaubt zu bleiben. Damit sie mitgehen konnte, wurde für sie ein Begleiter aus dem Dorf gefunden. Die Evakuierten wurden bei einer Bahnstation zusammengetrieben, wo sie in die Wagen geladen wurden. Marija konnte nicht sehen, aber sie hörte, dass etwas Schreckliches geschah: Kinderweinen, Schüsse und Geschrei. Während des Einsteigens in die Waggons wurden viele Menschen getötet oder verstümmelt. Auch hier töteten die Deutschen alle, die hinter der Kolonne zurückblieben. Marija erinnerte sich daran, dass der Lärm, das Weinen und Schreien eine wahre „Hölle“ gewesen waren. Die Evakuierten wurden ins Lager gebracht, wo sie drei Tage lang festgehalten wurden. Marijas Begleiter 40 41 42 43
G. D. Knat’ko (Hrsg.), Založniki vermaсhta (Ozariči – lager’ smerti): Dokumenty i materialy, Minsk 1999, S. 9, 11, 41 f. Vgl. den Beitrag von C. Rass in diesem Buch. Protokoll der Vernehmung des Zeugen Maksim Savel’evič Matveenko (März 1944), NARB, F. 845, O. 1, D. 58, L. 123. Protokoll der Vernehmung der Zeugin Varvara Evmenovna Savickaja (März 1944), NARB, F. 845, O. 1, D. 60, L. 50–52. Protokoll der Vernehmung des Zeugen Vasilij Vasil’evič Chodarenko, NARB, F. 845, O. 1, D. 60, L. 69–71.
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starb vor Erschöpfung.44 Das sind nur einige Episoden, die in den Akten der Sonderkommission beschrieben sind. Den Aussagen von Zeugen zufolge bestand die Bewachung sowohl aus deutschen Soldaten und Gendarmen als auch aus russischen Freiwilligen der Wehrmacht.45 Der Befehlshaber der 35. Infanterie-Division der Wehrmacht, Johann Georg Richert, in dessen Verantwortungsbereich die Azaryčy-Lager lagen, wurde beim Prozess in Minsk 1946 zum Tode verurteilt.46 Im Prozess sagte er aus, dass die Lager auf Befehl des Oberbefehlshabers der 9. Armee, Josef Harpe, und des Befehlshabers des 56. Panzer-Korps, Friedrich Hoßbach, geschaffen worden waren.47 Hoßbach bestätigt dies in seinen Memoiren.48 Man kann darüber diskutieren, welche Ziele die Wehrmacht mit der Schaffung solcher Lager verfolgte, aber das Ergebnis dieser Aktion war der massenhafte Tod der Zivilbevölkerung – Greise, Frauen, Kinder und Behinderte. Der deutsche Historiker Hans-Heinrich Nolte verglich die Behandlung der Gefangenen in diesen Lagern mit der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen im Winter 1941/42.49 Es lässt sich feststellen, dass der Tod der arbeitsunfähigen Bevölkerung in den Azaryči-Lagern den logischen Abschluss der nationalsozialistischen Politik in den besetzten Gebieten darstellte, welche die arbeitsunfähige Bevölkerung als „unnütze Esser“ betrachtete.50 Anzumerken ist, dass Anweisungen für die Schaffung spezieller Lager für die arbeitsunfähige Bevölkerung, darunter auch Behinderte, bereits zuvor erfolgten. Das Kommando der 3. Panzerarmee der Wehrmacht gab während der Durchführung von Anti-Partisanenaktionen im Gebiet Vicebsk (Herbst 1943 und Winter 1943/44) eine besondere Anweisung heraus, der zufolge festgenommene Greise, Behinderte, Kranke und Frauen mit Kindern in so genannte „Sperrgemeinden“ zu schicken waren.51 Diese Gemeinden sollten auf der Grundlage unzerstörter Dörfer abseits der Verkehrsknotenpunkte geschaffen werden. Offensichtlich waren diese „Sperrgemeinden“ als Art Reservate für die arbeitsunfähige Bevölkerung gedacht und sollten abseits der Partisanenzonen liegen. Allerdings gibt es keine Informationen über die reale Existenz dieser Gemeinden. Dafür enthalten die Akten der Staatlichen Sonderkommission ein Protokoll der Zeugenaussagen von Natal’ja 44 45 46 47 48 49 50 51
Protokoll der Vernehmung der Zeugin Marija Stepanovna Nesterenko (2.4.1944), NARB, F. 845, O. 1, D. 24, L. 50–52ob. Protokoll der Vernehmung von Lidija Lavrent’evna Bykova, in: Knat’ko, Založniki vermaсhta (Anm. 40), S. 49; Protokoll der Vernehmung von Nadežda Konstantinovna Andreeva, in: ebd., S. 57. Prigovor po delu o zlodejanijaсh, soveršennyсh nemecko-fašistskimi prestupnikami v BSSR, priveden v ispolnenie, in: Sovetskaja Belorussija v. 1.2.1946, S. 4. Stenogramm der Befragung des Kommandeurs der 35. Infanteriedivison der Wehrmacht Generalleutnant Johann Richert im Minsker Gerichtsprozess gegen Kriegsverbrecher (15.1.1946), in: Knat’ko, Založniki vermaсhta (Anm. 40), S. 187. Hans-Heinriсh Nolte, Ozariči, in: Knat’ko, Založniki vermaсhta (Anm. 40), S. 274. Ebd., S. 275. M. Mostert, Useless Eaters: Disability as genocidal marker in Nazi Germany, in: Journal of Special Education 36 (2002) H. 3, S. 157–170. Zitiert nach: Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 488–491.
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Vasil’kova aus dem Rayon Liozna (Gebiet Vicebsk). Im Herbst 1943 versteckte sie sich zusammen mit den anderen Einwohnern ihres Dorfes Ackovaja im Wald, um nicht als Zwangsarbeiterin nach Deutschland abtransportiert zu werden. Ihre Mutter, die an Rheuma litt, blieb mit vier anderen älteren Frauen in einem der Häuser im Dorf zurück. Am 9. Oktober, nach der Befreiung des Rayons von den deutschen Truppen, kehrte Natal’ja ins Dorf zurück und fand heraus, dass es niedergebrannt und ihre Mutter und die anderen Frauen getötet worden waren.52 Es gibt Ähnlichkeiten zwischen den Lagern für die arbeitsunfähige Zivilbevölkerung in Weißrussland und den Plänen für die Schaffung von sogenannten „Rentnerdörfern“ auf dem Territorium des besetzten Polen.53 In den „Rentnerdörfern“ wurde die Vernichtung von behinderten, älteren und anderen arbeitsunfähigen polnischen Bürgern geplant. Jedoch wurden diese Pläne nicht umgesetzt. BEHINDERTE IN DEN BESETZTEN GEBIETEN: VERSORGUNG UND ÜBERLEBEN Aus Sicht der Besatzer war die Bevölkerung Weißrusslands vor allem ein Arbeitskräftereservoir.54 Daher wurden von Anfang an Arbeitsfähige und Arbeitsunfähige getrennt. Den Arbeitsfähigen wurden (verhältnismäßig) bessere Ernährung sowie eine begrenzte medizinische Versorgung und Sozialfürsorge zur Verfügung gestellt. Die Versorgung von Arbeitsunfähigen geschah nach dem Restprinzip. Die Initiative wurde dabei den einheimischen Rayon-, Stadt- und Gemeindeverwaltungen überlassen, die auf dem Territorium des Generalkommissariats „Weißruthenien“ und des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte in der Regel von Weißrussen, Polen und Russen kontrolliert wurden.55 Bald nach der Besetzung Weißrusslands, im Herbst 1941, gaben die Sozialfürsorgeabteilungen der Rayonverwaltungen den Dorfältesten Anweisungen, Listen der in ihren Dörfern lebenden arbeitsunfähigen Menschen (Greise, Behinderte und Waisen) zu erstellen.56 Die Listen enthielten Informationen darüber, von wem der Behinderte unterhalten wurde und wie die finanzielle Situation seiner Familie oder des Vormundes war.57 Die behinderten Menschen im besetzten Weißrussland wurden sowohl im Generalkommissariat „Weißruthenien“ als
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Protokoll der Vernehmung der Zeugin Natal’ja Egorovna Vasil’kova (11.10.1943), NARB, F. 861, O. 1, D. 4, L. 281–282ob. N. Decker, Die Auswirkungen der faschistischen Okkupation auf das Gesundheitswesen Polens und den Gesundheitszustand des polnischen Volkes, in: Thom u. Caregorodcev, Medizin unterm Hakenkreuz (Anm. 31), S. 401–415, hier: S. 411. Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 1073. Ju. Turonak, Madėrnaja hіstoryja Belarusі, Vilnius 2006, S. 577. Anordnung der Klecker Rayonabteilung für Sozialfürsorge über die Erstellung von Listen mit Alten, Behinderten und Waisen (1941), GAMn, F. 1566, O. 1. D. 1, L. 5–6. Listen mit Alten, Behinderten und Waisen des Amtsbezirks Sinjava, Rayon Kleck (1941), GAMn, F. 1566, O. 1, D. 1, L. 3, 7–11, 17, 26.
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auch im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte erfasst.58 Unter der Militärverwaltung kamen die Anweisungen zur Erfassung von Behinderten unter anderem von den Kommandanturen der Wehrmacht. So befahl zum Beispiel die Ortskommandantur in Hlusk der weißrussischen Stadtverwaltung, alle Einwohner der Stadt zu erfassen, wobei Kinder und Behinderte gesondert aufgeführt werden sollten.59 Auch in den besetzten Gebieten der RSFSR wurden Personen mit Behinderungen registriert.60 Während der Registrierung der Bevölkerung in den Arbeitsämtern wurden ebenfalls arbeitsunfähige Bürger erfasst. Im Januar 1944 forderte das Arbeitsamt Babrujsk, dass alle arbeitsunfähigen Bürger zur Neuregistrierung kommen sollten, einschließlich der Menschen mit Behinderungen der Invaliditätsgruppe I., Männer über 65 und Frauen über 60 Jahren. Der Vorschlag des Bürgermeisters in Babrujsk, die Neuregistrierung für diese Bevölkerungsgruppen auf Grund ihrer Unzweckmäßigkeit auszusetzen, wurde vom Arbeitsamt abgelehnt.61 In den besetzten Städten Weißrusslands konnten Menschen mit Behinderung (neben den anderen arbeitsunfähigen Bevölkerungsgruppen) dank der Rationen der Stadtverwaltungen versorgt werden.62 Im Frühjahr 1942 standen Kindern und Behinderten in Mahilëŭ 200 Gramm Brot pro Tag zu (Arbeitern und Angestellten 300 Gramm).63 Im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte gab es fünf Kategorien von Lebensmittelkarten, abhängig von der „Nützlichkeit“ des Menschen für die deutsche Wirtschaft: Gruppe I – Kinder unter 14 Jahren, Gruppe II – nicht erwerbstätige Bürger, Gruppe III – Arbeiter, Gruppe IV – Arbeiter mit schwerer Arbeit, Gruppe V – Arbeiter mit besonders schwerer Arbeit.64 Menschen mit Behinderungen wurden in Mahilëŭ allerdings am schlechtesten versorgt, sie waren Kindern gleichgestellt. Nach den Berechnungen des weißrussischen Historikers Jaŭhen Hrėben’ betrug der Kaloriengehalt der Lebensmitteltagesnorm je nach den Kategorien I – V 333 bis 1.146 kcal; ein Erwach58
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Behindertenlisten des Rayons Starobin (1941–1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 44, L. 1–3; Behindertenliste des 1. Staražoŭskaja-Ambulatoriums der Stadt Minsk (1942–1943), GAMn, F. 1039, O. 1, D. 238, L. 6–9; Listen über Flüchtlinge, arbeitsunfähige Bürger und Behinderte zum Erhalt von Lebensmitteln, GAMn, F. 623, O. 1, D. 177, L. 28–28ob,155–164,179–179ob, 237–238, 404–404ob, 467–467ob, 508–508ob, 747–752; Musterformular zur Erstellung von Bevölkerungslisten (1943), GAMn, F. 1604, O. 2, D. 3, L. 36; Daten über die Anzahl von Behinderten im Amtsbezirk Bobr, Rayon Krupki (1941–1943), GAMn, F. 686, O. 1, D. 1, L. 346; Liste der in der Stadt Hlusk wohnhaften Behinderten (1942), GAMn, F. 1613, O. 1, D. 11, L. 29. Anordnung der Ortskommandantur Hlusk über das Einholen von Informationen bezüglich der Anzahl von Bürgern, Kindern und Behinderten in der Stadt Hlusk (1942), GAMn, F. 1613, O. 1, D. 6, L. 30. Ermolov, Zdravooсhranenie i social’naja politika na okkupirovannoj territorii RSFSR (Anm. 1), S. 77 f. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 93 f. Briefwechsel der Rayonverwaltung Barysaŭ mit der landwirtschaftlichen Verwaltung Barysaŭ zu Fragen der Ausgabe von Lebensmittelrationen an die Bevölkerung (darunter auch Behinderte), GAMn, F. 624, O. 2, D. 1, L. 16. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 171. Anweisung des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte über die Lebensmittelversorgung der städtischen arbeitenden und nicht-arbeitenden Bevölkerung (1942), GAMn, F. 686, O. 1, D. 16, L. 10.
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sener, der eine sitzende Tätigkeit ausübt, benötigt je nach Alter und Geschlecht zwischen 2.200 bis 2.700 Kalorien pro Tag. Auch bei der medizinischen Versorgung in den besetzten Gebieten wurden Arbeiter und die Kollaborateure bevorzugt. Arbeitsunfähige Bürger und Behinderte wurden mit der geringsten Priorität versorgt.65 Unter den Bedingungen der Okkupation bedeutete dies in der Praxis das Fehlen allgemeiner medizinischer Hilfe für Menschen mit Behinderungen. Es gibt keinerlei Informationen über spezialisierte medizinische Versorgung für Behinderte in den besetzten Gebieten. Behinderte, die vor dem Krieg Rente erhalten hatten, konnten diese unter Umständen weiterhin von den lokalen Verwaltungen beziehen, wenn sie ihre Behinderung durch die ärztliche Expertenkommission bestätigen ließen. Solche Kommissionen arbeiteten zum Beispiel bei den Stadtverwaltungen Minsk, Uzda und Kojdanava.66 Die Rayonverwaltung von Minsk zahlte Behinderten und älteren Menschen die Rente nach Lohnbüchern des sowjetischen Modells aus, obwohl die Zählblätter der Behinderten bereits dem neuen Okkupationsmuster entsprachen.67 Allerdings waren die Ressourcen der lokalen Verwaltungen äußerst begrenzt: Prioritär mussten alle obligatorischen Lieferungen für die deutsche Wirtschaft erfüllt und die Arbeitsfähigen und insbesondere die Kollaborateure versorgt werden. Auf dem Land konnten Zeugen und lokale Verwaltungen den Status des Behinderten und die Tatsache des Rentenerhaltes vor der Okkupation bestätigen.68 In Dorfgemeinden wurde an Behinderte kein Land zum Zweck der Eigenbewirtschaftung vergeben,69 sodass sie sich mit der Bitte um materielle Hilfe an die lokalen Verwaltungen wenden mussten, welche sie ihnen in Form von Lebensmitteln oder Kleidung geben konnten.70 So erhielt zum Beispiel im März 1942 der Behinderte 65 66
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Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 173 f., 181. Angaben über die Arbeit der ärztlichen Expertenkommission der Minsker Rayonverwaltung (1942), GAMn, F. 623, O. 1, D. 158, L. 46, 92–93, 127; Anweisung des Chefs des Rayons Kojdanava über die Bildung einer medizinischen Kommission zur Feststellung der Invalidität von Bürgern (1942), GAMn, F. 681, O. 2, D. 2, L. 8; Sitzungsprotokolle einer Ärztekommission zur Einführung einer Invaliditätsgruppe bei der Rayonverwaltung von Uzda (1943–1944), GAMn, F. 628, O. 1, D. 71. Verrechnungsbuch und Berechnungskarten für Rentner und Behinderte des Rayons Minsk (1941–1942), GAMn, F. 623, O. 2, D. 14–19. Auskunft zur Bestätigung der Invalidität des Bürgers K. (1942–1943), GAMn, F. 1613, O. 1, D. 2, L. 44; Auskunft zur Bestätigung der Invalidität der Einwohnerin der Stadt Hlusk B. (September 1943), GAMn, F. 1613, O. 1, D. 6, L. 83–85; Auskunft über die schwierige materielle Lage des Behinderten Z. (6.9.1943), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 46, L. 52–52ob; Bescheinigung über die Behinderung des Einwohners Herr B., Starobin (18.6.1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 57, L. 100. Liste der arbeitsunfähigen Bürger ohne Grundbesitz im Amtsbezirk Listapadaŭ, Rayon Starobin, (1941–1944), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 44, L. 3a; Liste von Bürgern des Rayon Starobin, die aus Gründen der Behinderung, Arbeitsunfähigkeit oder Minderjährigkeit keinen Grundbesitz erhalten (1943–1944), GAMn, F. 618, O. 1, D. 46, L. 5,6,13–13ob; Liste der Bürger im Amtsbezirk Čepeli, Rayon Starobin, die aus Gründen der Behinderung keinen Grundbesitz erhalten (14.8.1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 47, L. 61. Gesuche behinderter und hochbetagter Bürger um materielle Hilfeleistungen, GAMn, F. 1618, O. 1, D. 56, L. 26, 37, 48–49, 65–65ob, GAMn, F. 1618, O. 1, D. 57, L. 17, 18, 31, 125.
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Porfirij Ja. aus Pryjamina (Rayon Barysaŭ) Nahrungsmittelhilfe von der Rayonverwaltung.71 Im Mai 1942 leistete die Dorfverwaltung von Čyrvony Dvor dem Behinderten Ivan S. Hilfe in Form eines Mantels.72 Ein blinder Einwohner des Ortes Starobin erhielt im Herbst 1942 außerdem finanzielle Unterstützung von der Rayonverwaltung.73 Dokumente der Stadtverwaltung von Barysaŭ enthalten Informationen über Hilfsleistungen an Behinderte, Flüchtlinge und andere bedürftige Bürger im Juni 1944.74 Eine gewisse Rolle in der Behindertenhilfe spielte das „Weißruthenische Selbsthilfewerk“, das zusammen mit der orthodoxen und katholischen Kirche Spendenkampagnen unter der lokalen Bevölkerung durchführte, um Gelder, Kleidung und Lebensmittel für die Flüchtlinge, Waisen, Behinderten und älteren Menschen zu sammeln, und auch Lotterien veranstaltete.75 Die lokalen Verwaltungen leiteten manchmal Bitten und Anfragen von Behinderten an das „Weißruthenische Selbsthilfewerk“ weiter.76 Das Selbsthilfewerk organisierte beispielsweise kostenlose Mittagessen für Bedürftige. Laut einem Bericht der Minsker Stadtverwaltung gab das Selbsthilfewerk zwischen Januar und März 1944 in Minsk 54.303 kostenlose Mittagessen aus. In demselben Bericht stand allerdings auch, dass der Kaloriengehalt eines durchschnittlichen kostenlosen Mittagessens des Selbsthilfewerkes nur 1.159 kcal betrug, was offensichtlich nicht ausreichend war. Im gleichen Zeitraum gab das Selbsthilfewerk für die bedürftige Bevölkerung der Stadt 6.869 Kilogramm Lebensmittel (Weizen, Mehl, Getreide, Kartoffeln) aus. Das Selbsthilfewerk half auch mit finanziellen Zuwendungen: Von Januar bis März 1944 wurden in Minsk dank der Spenden von Bürgern, der katholischen Kirche, von Schulen und durch Mitgliedsbeiträge 14.489 RM gesammelt, die später unter den Ärmsten ver-
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Anweisung der Landwirtschaftsverwaltung des Rayons Barysaŭ an den Bürgermeister des Amtsbezirks Lošnica zur materiellen Hilfeleistung an den behinderten Rentner Porfirij Ja. (19.3.1942), GAMn, F. 624, O. 2, D. 1, L. 16. Auskunft zur Bestätigung der Behinderung des Bürgers Ivan S. (5.5.1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 47, L. 89–89ob. Bescheinigung über den Erhalt materieller Hilfe für den Behinderten Ivan S. (1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 57, L. 12. Verzeichnis über die Vergabe finanzieller Hilfe an Behinderte, Flüchtlinge und die Ärmsten unter der Bevölkerung der Stadt Barysaŭ (Juni 1944), GAMn, F. 622, O. 1, D. 11. Brief der Starobiner Abteilung des „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“ an die russisch-orthodoxen Geistlichen des Rayons über eine Spendensammlung zugunsten Behinderter und anderen unter den Gemeindemitgliedern (12.05.1944), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 51, L. 14; Informationen der Abteilung Starobin des „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“ über die Tätigkeit russisch-orthodoxer Geistlicher bei der Spendensammlung für das Selbsthilfewerk (1942), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 56, L. 13–13ob; Verzeichnisse über die Ausgabe finanzieller und materieller Unterstützung durch die Starobiner Abteilung des „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“ an Alte, Waisen, Behinderte und Flüchtlinge, wohnhaft in der Stadt sowie im Rayon Starobin (1943), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 62. Anträge der Amtsbezirksverwaltungen des Rayons Starobin auf Hilfszuweisungen für Behinderte und hochbetagte Bürger durch das „Weißruthenische Selbsthilfewerk“ (1943), GAMn, F. 1618, O. 1, D. 49, L. 19–20, 25, 31–33, 41–42.
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teilt wurden.77 In Westweißrussland widmete sich die katholische Kirche der Lebensmittel- und Kleidungssammlung für Bedürftige, aber bereits seit Herbst 1941 begann die deutsche Zivilverwaltung (Stadt- und Gebietskommissare in Hrodna), dies aktiv zu verhindern, was sie offiziell mit dem Mangel an Lebensmitteln und Konsumgütern begründete.78 Einige Leiter von Lokalverwaltungen appellierten sogar an die Bevölkerung. So veröffentlichte zum Beispiel der erwähnte Bürgermeister von Barysaŭ, Stankevič, im März 1942 einen pathetischen Aufruf an die Bevölkerung der Stadt und des Rayons Barysaŭ, aus Kriegsgefangenenlagern entlassene Kriegsgefangene aufzunehmen.79 Ebenfalls erwähnt werden muss die Versorgung von Menschen, die sich während der Arbeit für die deutsche Wirtschaft oder während des Dienstes in der Polizei und Verwaltung Verletzungen mit bleibenden Schäden zuzogen. Ab 1942 kamen die ersten „Ostarbeiter“ nach Weißrussland zurück, die in Deutschland schwere Krankheiten und Verletzungen erlitten hatten.80 Im November 1943 wurden im Rayon Kojdanava Bürger registriert, die aus Deutschland zurückkkehrten. Eine der ehemaligen „Ostarbeiterinnen“ zeigte ein Dokument vor, das von einem deutschen Lagerkommandanten unterschrieben war und in dem der Grund der Rückkehr stand: Epilepsie.81 Erst im Frühjahr 1943 wurde für die „Ostarbeiter“ eine „Kriegsversehrtenrente“ und für die Frauen verstorbener Arbeiter eine „Witwenrente“ eingeführt. Aber diese Renten wurden im besetzten Weißrussland nicht ausgezahlt.82 Im Rayon Hlusk wandte sich im November 1943 eine ehemalige „Ostarbeiterin“ mit der Bitte um die monatliche Behindertenzuwendung an die Verwaltung. Doch der Leiter der Rayonverwaltung bewilligte lediglich eine einmalige Unterstützung in Höhe von 500 Rubeln.83 Bürger dagegen, die ihre Arbeitsfähigkeit im Kampf gegen Partisanen verloren hatten, sollten zusätzlich zu Auszeichnungen und medizinischer Versorgung eine lebenslange finanzielle Unterstützung aus Mitteln der Dorfgemeinden bekommen. Im Falle des Todes dieser Person sollte die Unterstützung an deren Erben ausgezahlt werden. Darüber hinaus erhielt diese Kategorie von Bürgern Nahrungsmittelhilfe und es wurden ihnen Wohnungen zur Verfügung gestellt.84 77 78 79 80 81 82 83 84
Tätigkeitsbericht der Stadtabteilung Minsk des „Weißruthenischen Selbsthilfewerks“, Januar – März 1944, NARB, F. 381, O. 1, D. 15, L. 4–6. Ė. S. Jarmusik, Katoličeskij kostel v Belorussii v gody Vtoroj mirovoj vojny (1939–1945), Hrodna 2002, S. 103 f. Aufruf des Bürgermeisters der Stadt Barysaŭ an die Bevölkerung von Stadt und Rayon Barysaŭ (30.3.1942), GAMn, F. 635, O. 1, D. 3, L. 56. G. D. Knat’ko (Hrsg.), Belorusskie ostarbajtery. Ugon naselenija Belarusi na prinuditel’nye raboty v Germaniju, 1941–1944: Dokumenty i materialy: Bd. 1 u. 2, Bd. 1: 1941–1942, Minsk 1996, S. 99. GAMn, F. 681, O.1, D. 2, L. 531, 539–540. Litvin, Hrėben’ u. Novikaŭ, Vjartanne ŭ rabstva (Anm. 5), S. 225. GAMn, F. 1613, O. 1, D.9, L. 63. Ermolov, Zdravooсhranenie i social’naja politika na okkupirovannoj territorii RSFSR (Anm. 1), S. 77.
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Im Alltag fielen nichtjüdische behinderte Menschen während der Besatzung deutlich häufiger als andere den Strafaktionen zum Opfer oder wurden während der Zwangsarbeit oder der Zwangsevakuierung verletzt. In der Liste der Verbrechen der deutschen Besatzer auf dem Territorium Weißrusslands, die von der Regierung der BSSR anhand von Partisanenberichten erstellt wurde, sind Vorfälle in Korma (Gebiet Homel’) erwähnt, wo die Deutschen 68 Menschen mit Behinderungen und Greise unter den zu militärischen Bauarbeiten Zusammengetriebenen erschossen.85 Im Juni 1943 wurde das Dorf Berahavaja Slabada (Rayon Rečyca, Gebiet Homel’) niedergebrannt. Im Feuer kamen zwei ältere Frauen ums Leben, die es nicht geschafft hatten sich zu verstecken – eine von ihnen war blind.86 Aus dem Dorf Dzjaniski (Gebiet Minsk) wurden 1943 während einer Strafaktion 70 Menschen, die sich nicht verstecken konnten, in unbekannte Richtung abgeführt – darunter vor allem Greise, Kinder und Behinderte. Diese Menschen wurden offensichtlich ermordet.87 Unter den Bedingungen des brutalisierten Besatzungsalltags, in dem Grausamkeit und Mord Normalität waren, konnte sich jedes Missverständnis zwischen Menschen als fatal erweisen. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Artem D., einem gehörlosen Einwohner von Barysaŭ. Als er im März 1942 mit Brennholz aus dem Wald kam, hörte er den Zuruf eines Ordnungsdienst-Mitgliedes nicht. Der Wachposten, der in der Stadteinfahrt stand, rief ihn mehrmals an, dann begann er entsprechend seinen Anweisungen zu schießen und verletzte D. schwer. D.s Frau wandte sich später an die Abteilung für Sozialfürsorge der Stadt Barysaŭ. Sie beschrieb diesen Fall und bat, ihren Mann unentgeltlich stationär zu behandeln.88 Gehörlose Kinder etwa starben beim Spielen mit Minen und Granaten, die nach den Kriegshandlungen zurück geblieben waren. So starb zum Beispiel im Herbst 1941 ein zwölfjähriger gehörloser Junge in Barysaŭ.89 Die Behinderung war also in der Regel ein zusätzlicher Risikofaktor im Krieg. Andererseits konnte sie aber auch zu einem Faktor werden, der die Überlebenschancen erhöhte. Beispielsweise erregten Behinderte in der Widerstandsbewegung seltener den Verdacht der Besatzungsbehörden, wie sich sowjetische Partisanen und Untergrundkämpfer in ihren Memoiren erinnerten. Ungewöhnlich war die Biographie des Leiters einer Partisanenabteilung im Rayon Kalinkavičy, Konstantin 85
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Erklärung der Regierung der BSSR, des Präsidiums des Obersten Sowjets der BSSR und des ZK der KPB(b) an die Regierung der UdSSR, das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR und das ZK der VKP(b) über die Verbrechen der deutschen Besatzer in den besetzten sowjetischen Gebieten (1942), NARB, F. 750, O. 1, D. 223, L. 1–18. Berichte über die Gräueltaten der deutsch-faschistischen Kriegsverbrecher in den Gebieten Homel’ und Mahilëŭ, NARB, F. 750, O. 1, D. 227, L. 44–44ob. Berichte über die Gräueltaten der deutsch-faschistischen Kriegsverbrecher im Gebiet Minsk, NARB, F. 750, O. 1, D. 228, L. 6–6ob. Gesuch der Bürgerin Elizaveta L. an die Abteilung für Sozialfürsorge der Stadtverwaltung Barysaŭ (26.5.1942), GAMn, F. 622, O. 1, D. 3, L. 18–18ob. Protokoll der Befragung von Augenzeugen und der Besichtigung des Tatorts, Beschluss zur Sache der Explosion einer Granate in der Wohnung der Bürgerin S. (1941), GAMn, F. 635, O. 1, D. 14, L. 1–3.
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Morozov. Im September 1941 wurde er in der Ukraine schwer am Bein verwundet und geriet in deutsche Gefangenschaft. Im Mai 1942 wurde er, zusammen mit einigen Tausend aus der Sicht der Deutschen absolut kampfunfähigen behinderten Kriegsgefangenen, aus dem Krankenhaus in Žitomir entlassen. Zu Fuß, auf Krücken, ging er mehrere Monate durch die besetzte Ukraine nach Weißrussland und trat dort einer Partisanenabteilung bei.90 Eine der Untergrundgruppen des Rayons Sluck versteckte einen Rundfunkempfänger im Haus eines Behinderten, denn er zog keinen Verdacht der Besatzer auf sich.91 Der Beinamputierte Ivan Papko verbreitete auf Anweisung von Partisanen Meldungen des Sowjetischen Informationsbüros unter der Bevölkerung und sammelte Informationen über die deutschen Garnisonen im Rayon Staryja Dorohi (Gebiet Minsk).92 Der Leiter des Blindenverbandes Sowjetweißrusslands, der von Geburt blinde Isidor Volček, war während der Okkupation Melder bei der Voronjanskij-Partisanenabteilung.93 Der gehbehinderte Arzt Iosif Krjuk half verwundeten Partisanen, versteckte ein Funkgerät bei sich und wurde zu einem der Gründer einer Partisanenabteilung.94 Nikolaj Filjuta, Kriegsinvalide des sowjetisch-finnischen Krieges, blind, mit Beinprothesen und handamputiert, war während der Okkupation Partisanenmelder und Informant. Unter dem Vorwand des Almosensammelns ging er durch die Städte und gab Informationen weiter, verteilte Medikamente und Sprengstoff. Der sehbehinderte Pavel Šidlovskij war während der Okkupation ebenfalls in einer Partisanenabteilung aktiv.95 Eine solche Maskierung half jedoch nicht immer: Die Abwehr, der militärische Nachrichtendienst der Wehrmacht, empfahl den deutschen Soldaten, besonderes Augenmerk auf ältere Menschen, Behinderte und Kinder in der Frontlinie als äußerst wahrscheinliche Informanten der Partisanen zu richten.96 Auf die Frage nach der Zahl der Opfer unter den Menschen mit Behinderungen im besetzten Weißrussland lässt sich leider keine vollständige Antwort geben, weil es dafür keine ausreichenden statistischen Daten gibt. Es ist bekannt, dass das Volkskommissariat für Sozialfürsorge der BSSR am 1. Januar 1940 an 44.948 Personen ihre Rente auszahlte. Von ihnen waren 21.953 Behinderte, 2.339 erhielten aufgrund ihres Alters und Dienstalters Rente, 20.656 waren Familienangehörige von Arbeitsbehinderten. Darüber hinaus erhielten auch 4.051 Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs Rente sowie 4.695 ihrer Familienangehörige, außerdem
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Aufruf des früheren Sekretärs des Untergrundkomitees der KPB(b) im Gebiet Palesse I. D. Vetrov an das ZK der KPB(b) (1965), NARB, F. 1344, O. 1, D. 4, L. 17. Auskunft über die Tätigkeit des Untergrundparteigruppe in Hacuk während des Zweiten Weltkrieges (1976), NARB, F. 1393, O. 1, D. 22, L. 7. Erinnerungen eines Mitgliedes der Partei- und Komsomoluntergrundorganisation im Rayon Staryja Darohi Ivan Papko (1979), NARB (1979), F. 1393, O. 1, D. 94, L. 176–177. A. I. Netyl’kin u. A. M. Ivanenko (Hrsg.), 100 let škole slepyсh Belarusi, Minsk 1997, S. 5. Saveckі patryët, in: Saveckaja Radzіma v. 13.5.1945, S. 3. V. S. Padaljaka, Sonca svecіc’ usіm, Mіnsk 1975, S. 3–10. Abwehr-Nachrichten der Armeeabteilung Narva, Folge 2 – Juni 1944, NARB, F. 655, O.1, D. 2, L. 35–38.
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4.348 Personen aus anderen Gründen.97 Insgesamt waren bei der Rentenversorgungsstelle des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR am 1. Januar 1940 58.042 Menschen registriert, davon waren 37,8 % (21.953 Menschen) Arbeitsbehinderte und 6,9 % (4.051 Personen) Kriegsversehrte. Andere Rentner zählten nicht als behindert. Vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR hatten sich diese Zahlen 1939/40 zwangsläufig erhöht, da zusätzlich behinderte Menschen aus Westweißrussland, das im Herbst 1939 an die BSSR angeschlossen wurde, erfasst worden waren. Im Bericht des Beauftragten des Staatlichen Planungskomitees der BSSR vom 1. April 1945 ist zu lesen, dass am 1. Januar 1945 12.366 Arbeitsbehinderte in der BSSR von den Versorgungsbehörden Rente bezogen, sowie 4.693 Rentner auf Grund ihres Alters und Dienstalters und 8.279 Familienangehörige von Arbeitsbehinderten.98 Eine Rente wurde auch an 26.273 Kriegsinvaliden99 ausgezahlt, davon waren 84,9 % (22.328) Kriegsinvaliden des deutsch-sowjetischen Krieges.100 Insgesamt waren am 1. Januar 1945 offiziell 52.760 Menschen auf der Rentenversorgungsstelle des Volkskommissariats für Sozialfürsorge der BSSR verzeichnet. Unter ihnen waren 23,4 % (12.366) Arbeitsbehinderte, 42,3 % (22.328) waren Kriegsverletzte des deutsch-sowjetischen Krieges und 7,4 % (3.945) Invaliden des Bürgerkrieges. Daraus ist ersichtlich, dass nach der amtlichen Statistik die Zahl der Menschen mit arbeits- und kriegsbedingten Behinderungen sowohl in absoluter als auch in prozentualer Hinsicht 1945 deutlich geringer als 1940 war. Leider ist es unmöglich, anhand der verfügbaren Quellen festzustellen, wie viele der 1940 als behindert geführten Menschen tatsächlich die deutsche Besatzung Weißrusslands überlebten. ZUSAMMENFASSUNG Analysiert man die Lage der körperlich behinderten Menschen in den besetzten Gebieten der UdSSR, so kann man folgenden Widerspruch feststellen: Auf der Ebene der lokalen (weißrussisch-russisch-polnischen) Verwaltungen wurden Maßnahmen (wenn auch sehr begrenzte) zur Unterstützung und Versorgung von behinderten und anderen arbeitsunfähigen und bedürftigen Menschen (mit Ausnahme der Juden und Roma) ergriffen. Gleichzeitig zogen die deutsche Zivil- und Militärverwaltung, die Wehrmacht und die SS es in vielen Fällen vor, sich der Behinderten zu entledigen und die ohnehin knappen Ressourcen für deren Unterhalt einzusparen (Gebäude, Lebensmittel usw.). Körperlich Behinderte, die einzeln in den besetzten Gebieten in der Obhut von Verwandten und Freunden lebten, wurden von den Deut97 Zusammengefasster Jahresbericht des Volkskommissariats für Sozialfürsorge des BSSR über Anzahl und Zusammensetzung der Rentner, die von den Versorgungsorganen eine Rente erhalten, Stand 1.1.1940, RGAĖ F. 1562, O. 18, D. 190, L. 98–100. 98 RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 306 L. 71–71ob. 99 Ebd. 100 Brief des BSSR-Bevollmächtigen des Staatsplanungskomitees beim Rat der Volkskommissare der BSSR an die Statistische Zentralverwaltung der UdSSR (26.5.1945), RGAĖ, F. 1562, O. 18, D. 306, L. 72–72ob.
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schen nicht gezielt gesucht und getötet. Große Gruppen von behinderten Menschen, die eine zentralisierte Versorgung benötigten, wie beispielsweise Behinderte in Heimen und in Lagern, die während der Zwangsevakuierung der Bevölkerung für behinderte und arbeitsunfähige Bürger geschaffen worden waren, wurden massenhaft und systematisch umgebracht. Die Vernichtungsmethoden bei Behinderten unterschieden sich nicht von den Methoden der Vernichtung von Kriegsgefangenen: In Dorogobuž isolierten die Deutschen Behinderte zusammen mit Infektionskranken, wie es auch im Lager für behinderte Kriegsgefangene in Slavuta praktiziert wurde. Ähnliche Methoden wurden auch in Lagern in Azaryčy angewendet: ein absoluter Mangel an medizinischer Hilfe führte zur Typhusepidemie unter der behinderten und arbeitsunfähigen Zivilbevölkerung, die in diesen Lagern interniert wurde. Wie auch psychisch Kranke, wurden Menschen mit körperlichen Behinderungen in den besetzten Gebieten zu Opfern der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“, die sie als „lebensunwerte Leben“ und „unnütze Esser“ betrachtete.101 Vertreter der deutschen Zivil- und Militärverwaltung, der Wehrmacht, der SS und der Polizei trafen die Entscheidungen zur Vernichtung von Behinderten vor Ort. Sie gingen offiziell von „praktischen Gründen“ aus: Bedarf an Ressourcen und Gebäuden, Prävention von Epidemien usw. Eine Ausnahme bildeten dabei jüdische Behinderte, die ohne solche „pragmatischen“ Gründe ermordet wurden. Selbst bei denjenigen behinderten Menschen, die den Massenvernichtungsaktionen entgingen, waren die Überlebenschancen in kritischen Situationen unter den unmenschlichen Bedingungen des Besatzungsregimes viel geringer als die der anderen Bevölkerungsgruppen. Behinderte Menschen wurden häufiger als andere Opfer von „Vergeltungsaktionen“ der Deutschen; oft wurden sie wegen ihrer eingeschränkten Mobilität und Arbeitsfähigkeit misshandelt und umgebracht. Aufgrund der unmenschlichen Alltagsbedingungen der Okkupation trugen zahlreiche Menschen bleibende Schäden von ihren Aufenthalten in Gefängnissen und Konzentrationslagern oder Zwangsarbeitseinsätzen davon. Nach Kriegshandlungen auf dem Territorium Weißrusslands blieb eine enorme Menge an nicht explodierten Minen und Granaten zurück. Deren nachträgliche Explosion, die zum Tod oder zu Behinderungen führte, wurde eine weit verbreitete Erscheinung bereits während der Okkupation, gerade aber auch in den ersten Nachkriegsjahren. Ärzte, die ehemalige Insassen von Lagern für die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten untersuchten, stellten häufig schwere Erschöpfung und daraus resultierende Taubheit fest, sowie Infektionskrankheiten und überstandene Krankheiten (in den meisten Fällen Typhus).102 Viele Menschen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland abtransportiert worden waren, kamen mit schwerwiegenden bleibenden Schäden zurück, verursacht durch Arbeitsunfälle, Missbrauch oder
101 Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 1067. 102 Epidemiologische Anamnese der aus deutschen Lagern im Palesse-Sumpfgebiet befreiten Bürger (Raum Azaryčy) (März-April 1944), NARB, F. 845, O. 1, D. 82, 83.
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Bombenangriffe.103 All dies wurde durch den Mangel an ausreichender medizinischer Versorgung für die lokale Bevölkerung in den besetzten Gebieten verschlimmert. Die sowjetische Sonderkommission unternahm zu Kriegsende den Versuch, die Schäden einzuschätzen, die einigen Bürgern durch die deutsche Besatzung zugefügt worden waren – darunter körperliche und geistige Behinderungen.104 In ihren Akten findet sich ein Punkt über das in Folge der Behinderungen verlorene Einkommen sowie über die Ausgaben für die medizinische Behandlung. Genaue Quantifizierungen erlauben auch diese Unterlagen jedoch nicht. Behinderte erfuhren unter der deutschen Besatzung eine Fülle unterschiedlicher Behandlungen. Die Verbrechen sowie die unmittelbaren und – für die Überlebenden – die langfristigen Schäden reichten weit über die gezielten Mordaktionen hinaus, von denen sich aufgrund der Quellenlage zudem ebenfalls nur wenige in ihrem Umfang genauer quantifizieren lassen. Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
103 Protokoll der Vernehmung der Zeugin Vera Georgievna Koval’skaja, frühere Mitarbeiterin der Ärztekommission zur Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland (1944), GAMn, F. 7021, O. 87, D. 124, L. 137. 104 GAMn, F. 7021, O. 87, D. 18.
DIE WEHRMACHT, DIE DEUTSCHE ZIVILVERWALTUNG UND DIE ERMORDUNG GEISTIG BEHINDERTER KINDER IN ČĖRVEN’ (GEBIET MINSK) IM MAI 1942 Viktoria Latysheva / Alexander Friedman / Alexander Pesetsky Nachdem die Patienten der großen Psychiatrien in Minsk und Mahilëŭ 1941 und im Frühjahr 1942 von der deutschen Sicherheitspolizei, Gendarmerie und anderen Einheiten getötet und die medizinischen Einrichtungen geschlossen worden waren, wurden behinderte Kinder aus dem spezialisierten Kinderheim in Čėrven’ (dt. Tscherwen, Gebiet Minsk) im Mai 1942 erschossen. Bei dieser großen – in der deutschen Forschung inzwischen bekannten1 – Massenvernichtungsaktion arbeiteten die deutsche Sicherheitspolizei, Wehrmacht und Zivilverwaltung eng zusammen. Wehrmacht und Zivilverwaltung, nicht die Sicherheitspolizei, waren die treibende Kraft des Kindermordes. Die Ermordung behinderter Kinder in Čėrven’ steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages. Zudem wird auf die Entwicklung des Kinderheims für nichtjüdische Kinder eingegangen. Ausgewertet werden dabei vor allem zahlreiche Quellen deutscher Provenienz sowie Erinnerungen von Zeitzeugen und Publikationen der russischsprachigen Besatzungspresse. EINE „GÄNZLICH UNPRODUKTIVE EINRICHTUNG“ In den 1930er Jahren wurde ein Heim für behinderte Kinder in Čėrven’ eröffnet. Die meisten Heimbewohner/innen vor dem Krieg waren Kinder mit körperlichen Behinderungen. Nach dem Kriegsausbruch sind in diesem Heim hingegen in erster Linie geistig behinderte Kinder geblieben.2 In der ersten Augusthälfte 1941 sammelte die zuvor installierte weißrussische Rayonverwaltung von Čėrven’ – offenbar im Auftrag der deutschen Ortskommandantur – Informationen über die Zahl und Lage der Kinder- und Altersheime im Rayon. In ihrem Bericht stellte die Rayonverwaltung am 11. August fest, dass das in den 1930er Jahren eröffnete Heim für behinderte Kinder lediglich über Lebensmittelvorräte für zwei weitere Wochen verfüge.3 1
2 3
Vgl. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941–1944, Düsseldorf 1998, S 203 f.; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 21999, S. 1071 f. Vgl. Elena Poljakova, Naš dom, in: Raënny vesnik [Čėrven’] v. 8.9.2014, http://www.cherven. by/?p=39255 (28.2.2015). Vgl. Tätigkeitsbericht der Rayonverwaltung Čėrven’ vom 1. bis 15. August 1941, Angaben über die Zahl der Kinder- und Altenheime im Rayon Čėrven’, Stand 11. August 1941.
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Mit der Situation im Kinderheim vertraut und durch die sich abzeichnende Hungersnot in der Anstalt alarmiert, informierte die Ortskommandantur in Čėrven’ am 27. August die Feldkommandantur Minsk-Land über das als „Anstalt für geistig minderwertige Kinder“ charakterisierte Heim, das aus fünf Holzhäusern, einer Schule und einer Werkstätte bestehe und in der insgesamt 144 Kinder (darunter 34 Juden) untergebracht und von 30 Mitarbeitern betreut würden. Im Bericht wurde eigens hervorgehoben, dass der sowjetische Heimleiter seine Anstalt nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR verlassen und somit die Kinder ihrem Schicksal überlassen habe. Eine ehemalige Lehrerin übernahm die faktische Leitung des nicht evakuierten und nunmehr der weißrussischen Rayonverwaltung unterstellten Heims. Die Ortskommandantur schlug eine umgehende Auflösung der „gänzlich unproduktiven Einrichtung“ vor. Um die Feldkommandantur von der Notwendigkeit dieser Maßnahme zu überzeugen, hob man die sehr schwierige Lage des Kinderheims (akute Probleme mit der Lebensmittelversorgung; Mangel an Leib- und Bettwäsche, Seife, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln; Fehlen von Winterbekleidung; schlechter Zustand des Schuhwerks, Verfall des Gebäudes) hervor und stellte die Kinder – „nur 60 halbwegs arbeitsfähig, die übrigen sind ausgesprochene Idioten“ – als „unnütze Esser“ dar, die niemals „geistig gesunden würde[n]“, von der einheimischen Lokalverwaltung versorgt werden sollten und somit eine „Bürde“ für die Gemeinde seien.4 Weitere Überzeugungsarbeit war nicht notwendig. Die Feldkommandantur Minsk-Land und auch der Leiter der Abteilung Gesundheit und Volkspflege im Generalkommissariat „Weißruthenien“, Hans Wolfgang Weber, setzten sich mit dem Bericht auseinander, befürworteten entschlossen die Vernichtung der Kinder und baten die Sicherheitspolizei um die „Liquidierung“ der Anstalt, die – wie Weber in seinem Schreiben an den Höheren SS- und Polizeiführer in Minsk, SS-Brigadeführer Carl Zenner, am 26. September 1941 betonte – „eine erhebliche Belastung des Haushalts“ der Gemeinde Čėrven’ darstelle und deren Verpflegung „in Frage gestellt“ sei. Das einheimische Pflegepersonal beabsichtigte Weber in der Stadt Čėrven’ einzusetzen.5 SS-Brigadeführer Carl Zenner – NSDAP-Mitglied (1925), SS-Mitglied (1926), ehemaliger Aachener Polizeipräsident und überzeugter Judenhasser –, dessen Männer im Herbst 1941 die Mordaktionen in den Ghettos im Raum Minsk veranstaltet und dabei auch Kinder getötet sowie psychisch kranke Menschen erschossen hatten,6 reagierte nicht auf die Anfragen der Wehrmacht und der Zivilverwaltung. Weber, der nach dem Krieg seine Mitwirkung bei dem Kindermord in Čėrven’ und weiteren Verbrechen entschlossen leugnete,7 war jedoch bestrebt, das „Problem“
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Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) 393p, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 81, L. (= List) [Blatt] 18. NARB, F. 370, O. 1, D. 141a., L. 117, 117ob. NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 115, 116, 118. Zum Massenmord im Raum Minsk im Spätsommer und Herbst 1941 siehe Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 555–587. Vgl. ebd., S. 1072.
Wehrmacht, deutsche Zivilverwaltung und die Ermordung geistig behinderter Kinder
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der „Geisteskranken“ in seinem Einflussgebiet möglichst schnell zu lösen. Nach der endgültigen „Räumung“ der Psychiatrie in Navinki bei Minsk wandte er sich am 19. November erneut an Zenner.8 Die Mordaktion im Kinderheim in Čėrven’ fand jedoch Ende 1941 (noch) nicht statt. Sie wurde von Zenner angesichts der „Arbeitsüberlastung“ der SS-Männer im Raum Minsk verschoben:9 Die Sicherheitspolizei betrachtete die Tötung der „lebensunwerten Leben“ nicht als ihre zentrale Aufgabe und konzentrierte sich Ende 1941 und im Frühjahr 1942 auf die Judenvernichtung.10 Erst im Mai 1942 ging Zenner dem Wunsch Webers nach: das Kinderheim wurde aufgelöst und seine Insassen wurden getötet.11 Der Zeitzeuge Viktor V. Seleš, der nach dem Krieg mit der Leitung des neu errichteten Heims für geistig behinderte Kinder betraut worden war, erklärte 2011 in einem Interview, die Leichen der getöteten Kinder seien in einem Gebäude – bekannt als „Deutscher Pferdestall“ – auf dem Gelände seiner Anstalt gefunden worden.12 Im Hinblick auf die Tragödie der geistig behinderten Kinder in Čėrven’ ist zu beachten, dass die erste große Vernichtungsaktion in der Stadt, bei der 139 Juden getötet worden waren,13 bereits am 4. September 1941 durchgeführt wurde. Obwohl die Feldkommandantur Minsk-Land die Sicherheitspolizei noch vor diesem Tag um die Auflösung der Anstalt gebeten hatte,14 wurde das Gesuch der Wehrmacht einfach ignoriert. Im Frühjahr 1942 setzte die Sicherheitspolizei den Judenmord im Raum Čėrven’ fort: Am 1. Februar 1942 vernichtete sie zusammen mit dem weißrussischen Ordnungsdienst das im Herbst 1941 eingerichtete Ghetto in Čėrven’. Bei diesem Gewaltverbrechen kamen etwa 1.500–2.000 Menschen – darunter auch jüdische Waisenkinder und jüdische Kinder aus dem Heim für geistig Behinderte – ums Leben. Behinderte Juden, jüdische Babys und auch der jüdische Mediziner Čertov wurden dabei ebenfalls erschossen. Čertov war in der Ende Juni 1941 besetzten Stadt geblieben, obgleich er hätte evakuiert werden können. Der deutsche Ortskommandant, der sich für die Ermordung von Heimkindern einsetzte, wäre im Sommer 1941 angesichts des akuten Mangels an Medizinern bereit gewesen, Čertov ein Leben außerhalb des Ghettos zu erlauben. Da dieser jedoch seine 8 9 10 11
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NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 118. Ebd., L. 119. Hierzu siehe Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 585–628, 683–688. Für seine Verbrechen wurde Zenner zu 15 Jahren Haftstrafe verurteilt. Vgl. Urteil des Schwurgerichts bei dem Landgericht in Koblenz v. 12.6.1961 in der Strafsache gegen den kaufmännischen Angestellten Hans-Hermann Remmers und Diplom-Kaufmann Carl Zenner v. 12.6.1961 wegen Mordes (9 Ks 1/61), in: Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs u. Christiaan F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XVII, Amsterdam 1977, S. 489–553; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2003, S. 692; Bettina Nehmer, Täter als Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 635–668, hier: S. 651–656. Interview von Viktoria Latysheva mit Viktor V. Seleš am 15. Februar 2011. Vgl. Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 1), S. 568. Vgl. Übergabevermerk der Feldkommandantur 812 Minsk, Abteilung VII-Kriegsverwaltung v. 4.9.1941, NARB, F. 370, O. 1, D. 141a, L. 115.
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Familie nicht hätte mitnehmen können, schlug der Mediziner dieses Angebot aus – und bezahlte dies letztlich mit seinem Leben.15 Die Einheiten der Sicherheitspolizei waren also sowohl Anfang September 1941 als auch Anfang Februar 1942 in Čėrven’ und hätten somit die von der Wehrmacht und Zivilverwaltung angestrebte „Räumung der Idiotenanstalt“ vollziehen können. Auf die Judenvernichtung bedacht und möglicherweise durch eine besonders belastende Erschießung von Kindern abgeschreckt, verschob die Sicherheitspolizei die Auflösung der Anstalt bis Mai 1942. KINDERHEIM FÜR NICHTJÜDISCHE KINDER: PROPAGANDA UND WIRKLICHKEIT Während jüdische Kinder und geistig behinderte Heimkinder bis zum Mai 1942 getötet worden waren, existierte weiterhin ein Kinderheim für nichtjüdische Kinder in Čėrven’. Die nationalsozialistische Besatzungspresse griff diese Einrichtung auf, um die „Normalisierung des Lebens“ unter der Okkupation und die „kinderfreundliche Politik“ der Besatzer und einheimischen Kollaborateure zu betonen. So veröffentlichte die in Čėrven’ herausgegebene Zeitung Novyj put’ („Der neue Weg“) am 3. Oktober 1943 einen Beitrag des Heimdirektors F. Ostapenko. Der Verfasser wies auf insgesamt 155 Heimkinder (28 von ihnen jünger als 6 Jahre) hin, die von 25 Mitarbeitern betreut würden. Diese Kinder hätten eine Balletttruppe organisiert und ein Klavier sowie weitere Musikinstrumente. Auch eine kleine Bibliothek stehe ihnen zur Verfügung. Im Hinblick auf die Versorgung der Anstalt wurde berichtet, dass das in der Besatzungszeit sanierte Heim über eine eigene Wirtschaft, in der die Kinder arbeiteten, und auch über Nutztiere (Kühe, Schweine) verfüge. Es werde von der Wehrmacht und einheimischen Institutionen (Stadtverwaltung, Ordnungsdienst, „Russische Befreiungsarmee“) und Wohlfahrtsorganisationen unterstützt. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, den Heimkindern zu helfen.16 Auf die Vernichtung der jüdischen Heimkinder, die Ostapenkos Vorgängerin Elena P. Zadorina auf Befehl der Besatzer ausgeliefert hatte, auf den Abtransport älterer Kinder als Zwangsarbeiter nach Deutschland und auf die unzureichende Lebensmittelversorgung17 ging der Autor nicht ein.
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Vgl. 70 hadoŭ z dnja žudasnaha rasstrėlu jaŭrėjaŭ, in: Raënny vesnik [Čėrven’] v. 1.2.2002, http://www.cherven.by/?p=16507 (28.2.2015); Marat Botvinnik, Pamjatniki genocida evreev Belarusi, Minsk 2000, S. 54; Interview von Alesja Belanovič mit Nina A. Kumanjeva (Jahrgang 1928) am 17.8.2009 in Minsk. F. Ostapenko, Detskij dom i ego žizn’, in: Novyj put’ [Čėrven’] v. 3.10.1943, S. 3. Vgl. Interview von Belanovič mit Kumanjaeva (Anm. 15).
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ZUSAMMENFASSUNG Die Auflösung des Heimes für behinderte Kinder in Čėrven’ und die Ermordung seiner Insassen ist ein weiteres tragisches Kapitel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen behinderte und kranke Menschen in den besetzten weißrussischen Gebieten. Für dieses Verbrechen waren vor allem die Ortskommandantur, die Feldkommandantur Minsk-Land und persönlich der Abteilungsleiter Gesundheit und Volkspflege im Generalkommissariat „Weißruthenien“ Weber verantwortlich. Zwar wollte Weber nach dem Zweiten Weltkrieg nichts über die Anstalt wissen, er hatte jedoch die auf die Judenvernichtung im Raum Minsk konzentrierte Sicherheitspolizei 1941 und 1942 systematisch zur Beseitigung „unnützer Esser“ in Čėrven’ aufgefordert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Sicherheitspolizei und der weißrussische Ordnungsdienst bei einer großen „Judenaktion“ in Čėrven’ (Februar 1942) die geistig behinderten jüdischen Kinder umgebracht, die nicht jüdischen Kinder jedoch bis Mai 1942 am Leben gelassen hatten. Webers Anliegen war somit zunächst nicht berücksichtigt worden: die deutschen und weißrussischen Täter verzichteten auf eine zusätzliche und zudem psychisch besonders belastende Erschießung. Während die Vorbereitung der Mordaktion im Mai 1942 gut dokumentiert ist, bleibt ihre Durchführung sowie die Zahl der Opfer weitestgehend unbekannt. Im Kontext dieser und weiterer nationalsozialistischer Gräueltaten im Raum Čėrven’ erscheint der Ende 1943 in der Zeitung Novyj put’ veröffentlichte Beitrag über das Kinderheim in der Stadt besonders zynisch: Im Bestreben, die einheimische Bevölkerung für die Besatzungsmacht und die Kollaborateure zu gewinnen, suggerierte die Besatzungspresse ein glückliches Dasein weißrussischer Heimkinder unter der deutschen Okkupation.
KINDER UND KRANKE ALS „UNNÜTZE ESSER“ Der Umgang der deutschen 9. Armee mit der Zivilbevölkerung Weißrusslands 1943/44 Christoph Rass EINFÜHRUNG Im Sommer des Jahres 1941 traf der Überfall der deutschen Wehrmacht Weißrussland mit furchtbarer Wucht. Es begann eine drei Jahre währende Besatzungsherrschaft, an deren Ende das Territorium der heutigen Republik Weißrussland zu denjenigen Gebieten im Machtbereich des „Dritten Reiches“ zählte, die anteilig die höchsten Verluste an Menschenleben, dramatische materielle Zerstörungen und erbarmungslose Ausbeutung hatten ertragen müssen. Dabei bemächtigten sich die Deutschen eines Landes, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine Reihe traumatisierender und umwälzender Erfahrungen gezeichnet hatte, denn seit dem Ersten Weltkrieg hatte Weißrussland kaum mehr Ruhe finden können.1 Die westlichen Teile der 1914 zum Zarenreich gehörenden Region wurden im Verlauf des Ersten Weltkrieges zum Kriegsschauplatz und gerieten zum ersten Mal unter deutsche Besatzung, die bei Kriegsende auch Minsk erfasste. Der auf die russische Revolution von 1917 folgende Bürgerkrieg griff nach dem Abzug der Deutschen auch auf die westlichen Regionen Weißrusslands über und prägte die Übergangsphase von der im März 1918 ausgerufenen Weißrussischen Volksrepublik zur Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Januar 1919. Als sich die Grenzen dieses neuen Staates mit dem Friedensvertrag von Riga 1921 stabilisierten, schlug dieser die westlichen Landesteile Polen zu, so dass die Weißrussische SSR bis 1939 nur einen Teil ihres ursprünglichen Territoriums umfasste und sich die weißrussische Bevölkerung auf zwei Staaten verteilte.2 Die Weißrussische SSR indes erlebte in den 1920er Jahren eine kurze Blütephase, in der die vier großen Bevölkerungsgruppen, Weißrussen, Juden, Polen und Russen, Anlauf nahmen, ihr Land aufzubauen. Die bald einsetzende gewaltsame Transformation ihrer Gesellschaft beendete allerdings diese kurze Episode. Schon zu Beginn der 1930er Jahre leiteten Repressionen gegen die Eliten des Landes eine 1 2
Petra Rentrop, Das Zeitalter der Katastrophen. Weißrussland im 20. Jahrhundert, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 5 (2004), Heft 2, S. 116–132, hier: S. 116 f.; Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009, S. 438. David R. Marples, Die sozialistische Sowjetrepublik Weißrussland (1917–1945), in: Dietrich Beyrau u. Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen 2001, S. 135–152, hier: S. 135 ff.; Werner Benecke, Kresy. Die weißrussischen Territorien in der Polnischen Republik, in: ebd., S. 153–165, hier: S. 153 ff.
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brutale soziale und ökonomische Neuordnung ein, die sich in dem agrarisch geprägten und kaum industrialisierten Weißrussland vor allem auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Zerschlagung des Großgrundbesitzes konzentrierte. Rund 900.000 vermeintliche „Staatsfeinde“ deportierten die Sowjets in den Terrorjahren in Richtung Osten. Während auf der einen Seite gewisse Modernisierungsimpulse von der Umwandlung Weißrusslands in eine Sowjetrepublik ausgegangen sein mögen und tatsächlich erste Ansätze einer modernen Infrastruktur im Land entstanden – darunter nicht zuletzt erste psychiatrische Einrichtungen, Krankenhäuser sowie Kinderheime –, erodierten zugleich durch den mehr und mehr willkürlichen Umgang staatlicher Organe mit der Zivilbevölkerung soziale Bindungen, insbesondere im Kontext der nun unter hohen Druck geratenden traditionellen dörflichen Strukturen.3 Als die deutsche Aggression im Juni 1941 das weißrussische Kernland erreichte, hatten diejenigen Teile des Landes, die 1921 Polen überlassen worden waren, bereits fast zwei Jahre sowjetische Besatzung ertragen, denn infolge der geheimen Zusatzvereinbarungen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 hatten das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Polen ein weiteres Mal geteilt. Die westliche Hälfte des Landes und mit ihr die Kresy Wschodnie („östliche Randgebiete“) waren nach dem Angriff des „Dritten Reiches“ auf Polen im September 1939 unter sowjetische Herrschaft gelangt.4 Im Sommer 1941 überrannte die Wehrmacht die sowjetische Grenzverteidigung und schon im Herbst hatte sich die Front weit nach Osten auf russisches Gebiet verschoben. Weißrussland lag nun weit im Hinterland der deutschen Truppen und geriet zum Schauplatz einer beispiellosen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik.5 WEISSRUSSLAND UNTER DEUTSCHER OKKUPATION Nach der Eroberung wurde Weißrussland zunächst in vier Zonen mit unterschiedlichen Besatzungsregimen zerschlagen: den nordwestlichen Teil, die Region um Białystok erhielt Ostpreußen, der Süden zählte ab 1941 zum Reichskommissariat Ukraine, aus dem weißrussischen Kernland um die Städte Minsk, Baranavičy und Sluck hingegen entstand das Generalkommissariat „Weißruthenien“ unter Wilhelm Kube, das gemeinsam mit den baltischen Staaten einen Teil des Reichskommissariats Ostland bildete. Dagegen verblieb der Landstrich östlich der Bjarėzina unter
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Thomas M. Bohn, Minsk. Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln u. a. 2008, S. 56 ff. Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 97 f.; Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland, Düsseldorf 1998, S. 29 f. Dazu grundlegend Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 21999.
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Militärverwaltung und fungierte als rückwärtiges Gebiet der Heeresgruppe Mitte.6 In diesen administrativen Zusammenhängen überrollte die erste Mordwelle nationalsozialistischer Vernichtungspolitik die Region. Sie traf 1941/42 vor allem die jüdische Bevölkerung sowie Repräsentanten des sowjetischen Staates und umfasste auch die erste Phase systematischer Kranken- und Kindermorde, die vor allem Patienten in Krankenhäusern, psychiatrischen Einrichtungen sowie die in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen erfasste.7 Hinzu kam das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener im ersten Winter des „Ostkrieges“, das sich auch in den Kriegsgefangenenlagern auf weißrussischem Gebiet vollzog. Während sich dann in den Jahren 1942/43 in erster Linie im Generalkommissariat „Weißruthenien“ Ansätze eines tiefgreifenden Umbaus nach deutschen Vorstellungen entspannen,8 setzte in allen vier Besatzungszonen großflächig die ökonomische Ausbeutung des Landes ein. Sie bezog sich vor allem auf die Ausnutzung der bescheidenen gewerblichen Wirtschaft sowie die landwirtschaftlichen Erträge und der noch verfügbaren Arbeitskräfte, die zu Tausenden vor Ort oder im Reichsgebiet Zwangsarbeit leisten mussten.9 Zu diesem Zeitpunkt integrierte man Weißrussland durch die Einrichtung von Ghettos in zahlreichen kleineren und größeren Städten sowie durch den Aufbau eines Netzes von Lagern, in denen teilweise auch Vernichtungsaktionen durchgeführt wurden, in die Maschinerie des Holocaust. Aus dem dezentralen Morden der Einsatzgruppen und anderer Akteure des Völkermordes bzw. des Vernichtungskrieges von 1941 wurde mit der Festigung der Besatzungsherrschaft in den Jahren 1942/43 ein systematisches Ausbeuten und Morden durch einen institutionalisierten Apparat.10 Im Verlauf des Jahres 1942 gewann allerdings auch der Widerstand gegen die deutsche Besatzung in einer durchaus heterogenen Partisanenbewegung Kontur. Ohne dass es den neuen Herren des Landes gelang, eine Antwort auf das schier unlösbare Problem zu finden, ihren Herrschaftsanspruch flächendeckend und dauerhaft zu projizieren, setzte mit der nun fast ununterbrochenen Folge von Operationen im Rahmen der sogenannten „Bandenbekämpfung“ eine neuerliche Radikali-
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Bogdan Musial, Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit, Paderborn u. a. 2009, S. 29 f. Siehe dazu die Beiträge von Alexander Friedman, Boris Kovalev, Viktoria Latysheva und Alexander Pesetsky in diesem Band. Siehe exemplarisch Babette Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland. Die deutsche „geistige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn u. a. 2009, passim; Alexander Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz. Baranowicze 1939 bis 1994. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn u. a. 2009, passim. Chiari, Alltag hinter der Front (Anm. 4), passim. Martin Dean, Ghettos im Generalkommissariat, in: Sebastian Lehmann (Hrsg.), Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt, Paderborn u. a. 2012, S. 89–100; ders., Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–1944, Basingstoke u. a. 2001, passim; siehe zur Ordnungspolizei in Weißrussland: Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941– 1944, Paderborn u. a. 2006, Kapitel 4 und 5.
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sierung ein.11 In ihr verband sich der Versuch, ganze Landstriche durch brutale Vergeltungsaktionen an der Zivilbevölkerung gepaart mit der Verwüstung der dafür ausgewählten Regionen zur „verbrannten Erde“ und damit als Operationsräume für die Partisanen unbrauchbar zu machen, mit der Idee, dabei die Ressourcen der solchermaßen „befriedeten“ Territorien zu „verwerten“.12 Als im September 1943 die deutsche Herrschaft über Weißrussland mit der Befreiung der ersten östlichen Landstriche durch die Rote Armee zu wanken begann, hatten die Besatzungsbehörden eine weitgehende Räumung der Gebiete bereits vorbereitet, deren Aufgabe man nun antizipierte. Während Besatzungsverwaltung, Polizeiorgane und Wehrmacht ihren eigenen Absprung vorbereiteten, liefen bereits Anfang 1943 Operationen an, in denen Wirtschaftsgüter, Rohstoffe, Vieh und schließlich auch Menschen rücksichtslos in Richtung Westen geschafft wurden, um der vorrückenden Roten Armee ein verbranntes und menschenleeres Land zu hinterlassen, in dem die Befreier keine nutzbaren Ressourcen mehr vorfinden sollten.13 Nachdem sich die Front im Winter 1943/44 noch einmal vorübergehend auf weißrussischem Territorium stabilisiert hatte, beendete die sowjetische Sommeroffensive „Bagration“, die am 22. Juni 1944 über die Heeresgruppe Mitte hereinbrach, die deutsche Herrschaft über Weißrussland. Binnen weniger Wochen räumten die letzten Verbände der Wehrmacht nicht selten fluchtartig weißrussisches Gebiet.14 Die dreijährige deutsche Präsenz in Weißrussland von 1941 bis 1944 hinterließ ein verwüstetes Land und eine zutiefst traumatisierte Bevölkerung, die ungeheure menschliche wie materielle Verluste zu erdulden hatte. Nahezu 700.000 der vor dem Krieg etwa 820.000 jüdischen Einwohner überlebten den Holocaust nicht. Mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Maly Trascjanec nahe Minsk lag auf weißrussischem Territorium einer der neben den Vernichtungslagern im polnischen Raum furchtbarsten Tatorte des Völkermordes. Mit den weißrussischen Juden starb eine Bevölkerungsgruppe, die über Jahrhunderte fester und vielfach zentraler Bestandteil der weißrussischen Gesellschaft gewesen war. Insgesamt fielen – genaue statistische Angaben sind fast unmöglich – zwischen 2,2 und 3 Millionen der etwa 12 Millionen Menschen, die vor dem Krieg auf dem Gebiet des späteren Weißrussland gelebt hatten, dem Krieg zum Opfer, darunter wahrscheinlich bis zu 900.000 zivile nicht-jüdische direkte und indirekte Opfer der deutschen Besatzung. Nahezu jede Familie hatte Tote zu beklagen. Die materielle Schadensbilanz zählt neben 209 vollkommen zerstörten Städten weitere 9200 Dörfer auf, die die Deutschen und ihre Helfershelfer dem Erdboden gleichgemacht hatten. Viele waren ähnlich brutalen Vernichtungsaktionen zum Opfer gefallen wie das Dorf Chatyn’ bei Minsk, dessen 11 12 13 14
Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg (Anm. 1), S. 762; Witalij Wilenchik, Die Partisanenbewegung in Weißrussland 1941–1944, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 34 (1984), S. 129–297; Musial, Sowjetische Partisanen (Anm. 6). Dazu ausführlich Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 5), S. 859–1055 sowie Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 32011, Kapitel 7. Snyder, Bloodlands (Anm. 12), S. 256. Walter Scott Dunn, Soviet Blitzkrieg. The Battle for White Russia, Boulder 2000.
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109 Einwohner bei einem „Bandenunternehmen“ brutal ermordet worden waren.15 In diese Bilanz der deutschen Besatzungsherrschaft sind jedoch auch zahlreiche Verbrechen eingegangen, die von der Forschung bisher weniger intensiv analysiert worden sind, deren Betrachtung jedoch nicht nur die Bandbreite der situativen und institutionellen Konstellationen erweitert, die zu radikalem Handeln geführt haben, sondern auch die fatalen Pfadabhängigkeiten der deutschen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik verdeutlicht. Dies gilt insbesondere, wenn der Schauplatz solcher Ereignisse nicht im Handlungsraum der deutschen Zivilverwaltung lag, vornehmlich also im Generalkommissariat Weißruthenien, sondern in den Gebieten östlich der Bjarėzina. Dort agierte die Wehrmacht als Täterorganisation eines eigenen Besatzungsregimes, in das sich in der letzten Kriegsphase auch die Fronttruppen auf ihrem Rückzug nach und durch Weißrussland integrierten.16 Im Folgenden greift dieser Beitrag daher ein Kriegsverbrechen der Wehrmacht auf, das sich im März 1944 ereignete. An seinem Beispiel lässt sich die Radikalisierung im Umgangs des Militärs mit der Zivilbevölkerung aufzeigen und insbesondere auch, in welch hohem Maß die Schwächsten: Frauen, Kleinkinder, ältere sowie behinderte Menschen in Weißrussland in der letzten Kriegsphase zu Opfern deutscher Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik wurden. KRIEGSVERBRECHEN DER WEHRMACHT AUF DEM RÜCKZUG DURCH WEISSRUSSLAND 1943/44 Nach der Niederlage bei Stalingrad, dem Scheitern der Operation „Zitadelle“ und dem Ende der Belagerung Leningrads hatte sich die Wehrmacht im Verlauf des Jahres 1943 unter ständigen Schlägen der Roten Armee aus Teilen der besetzten Sowjetunion zurückgezogen. Anfang 1944 verlief die Front bereits einige Hundert Kilometer westlich von Leningrad, während die Wehrmacht im Süden weite Teil der Ukraine räumte. Auch bei der Heeresgruppe Mitte fand 1943 eine Reihe erster größerer Rückzugsbewegungen statt. Die Front stabilisierte sich jedoch mit dem Anbruch der Schlammperiode im Herbst auf weißrussischem Gebiet.17
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Rentrop, Zeitalter der Katastrophen (Anm. 1), S. 118 f.; Petr Schupljak, Weißrussland als Opfer. Besatzungszeit auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus, in: Olga Kurilo u. GerdUlrich Herrmann (Hrsg.), Täter, Opfer, Helden. Der Zweite Weltkrieg in der weißrussischen und deutschen Erinnerung, Berlin 2008, S. 29–38, S. 35 f. Jörn Hasenclever, Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943, Paderborn u. a. 2010, passim. Dieter Pohl, Die deutsche Militärbesatzung und die Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion, in: Christian Hartmann u. a. (Hrsg.), Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München 2009, S. 73–94, hier: S. 90 f.; zum Umgang mit der Zivilbevölkerung: Rolf-Dieter Müller, Menschenjagd. Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in der besetzten Sowjetunion, in: Hannes Heer u. Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Frankfurt/M. 1997, S. 92–103, hier: S. 97 f.
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Mit dem deutschen Rückzug kehrten die Fronttruppen nach Weißrussland zurück und damit deren Militärverwaltung in Gebiete, die zuvor unter Zivilverwaltung oder dem Besatzungsregime der rückwärtigen Heeresgebiete gestanden hatte. Im Südosten Weißrusslands übernahm jetzt die 9. Armee das Kommando und errichtete ihr Hauptquartier in Babrujsk. Ihre Verbände lagen in einem weiten Halbkreis östlich der Stadt und bildeten den südlichen Abschnitt der Frontlinie der Heeresgruppe Mitte. Im Nordosten des Armeegebiets hielt das LV. Armeekorps einen ca. 30 km langen, in nordsüdlicher Richtung verlaufenden Streifen entlang des Druc’. Ihm waren die 5. und 20. Panzerdivision sowie die 296. und 707. Infanteriedivision unterstellt. Südlicher Nachbar war das XXXV. Korps, bestehend aus der 6., 45. und 383. Infanteriedivision. Seine Stellungen verliefen südlich von Žlobin nach Südwesten, wo sie in Richtung Bjarėzina einschwenkten. Der Fluss markierte gleichzeitig die Grenze zum südöstlich stehenden XXXXI. Korps, dem Anfang 1944 die 36., 134. und 253. Infanteriedivision zugeteilt waren. Den südlichen Abschluss bildete das LVI. Panzerkorps mit der 35., 110. und 129. Infanteriedivision. Insgesamt kontrollierte die 9. Armee ein Gebiet von mehr als 5000 Quadratkilometern: Einen Frontabschnitt von etwa 100 Kilometern Länge und 50 bis 60 Kilometern Tiefe in Richtung Westen.18 Diese Rückkehr der Frontverbände der Wehrmacht nach Weißrussland veränderte in mehrfacher Hinsicht das dortige Besatzungsregime. Aus den bisherigen rückwärtigen Heeresgebieten wurden nun wieder rückwärtige Armeegebiete, Korps- und Divisionsbereiche. Den Fronttruppen ging es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um die Errichtung dauerhafter Strukturen oder eine weit in die Zukunft reichende Planung. Ihr Ziel war es vielmehr, den von ihnen kontrollierten Raum zu sichern und so zu durchherrschen, dass seine Ressourcen in den Dienst ihrer Kriegführung gestellt und die Reste bei der Preisgabe des Gebietes vollständig vernichtet werden konnten. Dabei brachten die Kampfverbände spezifische Erfahrungen im Umgang mit der Zivilbevölkerung mit, die sie seit 1941 im Zuge ihrer Besatzungsherrschaft im Operationsgebiet gesammelt hatten. Dazu gehörte nicht zuletzt das „Leben aus dem Lande“, der organisierte Kahlfraß besetzter Gebiete ohne jede Rücksichtnahme.19 Zivilisten selbst wurden vor allem in drei Handlungszusammenhängen zu Objekten des Besatzungsregimes dieser Einheiten und in entsprechende Gruppen eingeteilt, die man spezifischen Handlungsmustern unterwarf.20 Erstens waren Zivilisten als Konkurrenten um Ressourcen wie Wohnraum, Nahrungsmittel oder Bekleidung einem fortschreitenden Prozess der Entrechtung, Verdrängung und Beraubung bis hin zur direkten oder indirekten Vernichtung ausgesetzt, dies galt insbesondere für alle von der Wehrmacht als „arbeitsunfähig“ eingestufte Menschen. 18 19 20
Christoph Rass, „Menschenmaterial“. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn u. a. 2003, S. 389. Vgl. Karte unten S. 478. Ders., Verbrecherische Kriegsführung an der Ostfront. Eine Infanteriedivision und ihre Soldaten, in: Ulrike Jureit, Christian Hartmann u. Johannes Hürter (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005, S. 80–90. Siehe allgemein: Pohl, Herrschaft der Wehrmacht (Anm. 4), S. 99.
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Zweitens wurden Teile der Zivilbevölkerung aber auch zu einer wertvollen Ressource, wenn es um die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch die Frontverbände ging. In vielen Abschnitten der „Ostfront“ endete der Bewegungskrieg für die Wehrmacht bereits 1942. Bis zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 folgten zwischen 1942 und 1944 immer wieder monatelange Stellungskämpfe mit nur wenig Bewegung auf mehr oder weniger vorbereitete und kontrollierte Rückzugsoperationen, nach denen sich die Front wieder für einige Zeit stabilisierte. In diesen Zeiträumen errichteten die Frontverbände lokale Besatzungsstrukturen, die sie nach jeder Rücknahme der Front schnell in ähnlicher Form wieder etablierten. Zu den Routinen dieses Besatzungsregimes gehörte die Abschiebung unproduktiver Bevölkerungsteile in rückwärtige Gebiete und die Rekrutierung von Arbeitskräften für den Einsatz als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft einerseits. Andererseits organisierte man die noch verbliebene Bevölkerung in Arbeitskommandos, die vom Stellungsbau bis zur Feldbestellung in den militärischen Apparat integriert wurden und die Arbeitskommandos aus sowjetischen Kriegsgefangenen, den sogenannten „Hilfswilligen“, verstärkten.21 Zu diesem Besatzungsregime gehörte es auch, bei einem Rückzug alle Ressourcen, die man zurücklassen musste, zu vernichten und die Zivilbevölkerung so weit möglich in Richtung Westen mitzunehmen. So deportierten die Felddivisionen der Wehrmacht vor Rückzugsbewegungen regelmäßig ihre zivilen Arbeitskommandos, um sie etwa dem Zwangsarbeitssystem im Reich zur Verfügung zu stellen, und rekrutierten dann in ihren neuen Stellungen aus der dort noch ansässigen Bevölkerung neue Arbeitskräfte für die Zwangsarbeit vor Ort in sogenannten ZivilenArbeitsdienst-Abteilungen.22 Drittens wurde die Zivilbevölkerung Objekt von Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen, die Widerstand oder die Unterstützung von Partisanen verhindern sollten und zugleich gewährleisten mussten, dass Krankheiten und Epidemien, die unter der Zivilbevölkerung grassierten, nicht auf die Wehrmachtsverbände übergriffen.23 Die 9. Armee und ihre Großverbände kamen also Ende 1943 mit eingeübten und eingespielten Mustern und genauen Vorstellungen darüber, wie mit der Zivilbevölkerung in ihrem neuen Besatzungsgebiet umzugehen sei, nach Weißrussland. Die Extraktion von Ressourcen, die Ausbeutung der Arbeitskraft, die Deportation unproduktiver Bevölkerungsteile und, als dritter Aspekt, eine strikte Sicherheitsund Seuchenkontrolle zählten hierbei zu ihren zentralen Handlungsfeldern. In diesem Zusammenhang galt seit Beginn der großen Rückzugsbewegungen der Heeresgruppe Mitte im Jahr 1943 der Grundsatz, die Zivilbevölkerung aufgegebener Ge21
22 23
Rass, „Menschenmaterial“ (Anm. 18), S. 348 ff.; siehe dazu auch Gennadij Bordjugov, Terror der Wehrmacht gegenüber der russischen Zivilbevölkerung, in: Gabriele Gorzka u. Knut Stang (Hrsg.), Der Vernichtungskrieg im Osten. Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion – aus Sicht russischer Historiker, Kassel 1999, S. 53–68. Rass, „Menschenmaterial“ (Anm.18), S. 378 ff. Hierzu grundlegend: Paul Julian Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890– 1945, Oxford u. a. 2003.
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biete – sofern sie den Deutschen nicht freiwillig nach Westen folgte – zwangsweise zurückzuführen. Das Ziel war es, der vorrückenden Roten Armee nicht nur ein verwüstetes, sondern auch ein menschenleeres Land zu hinterlassen. Als Folge dieser Strategie schoben die vorderen Verbände der Heeresgruppe Mitte sukzessive Tausende von Zivilisten aus den Divisions- und Korpsbereichen in die rückwärtigen Gebiete ab, in denen sich immer mehr Menschen zusammendrängten.24 Dieses Vorgehen spitzte aber mit dem Rückzug der Wehrmacht in den immer kleiner werdenden Raum, den das „Dritte Reich“ in Osteuropa beherrschte, bestimmte Konflikt- und Konkurrenzverhältnisse zu. Während die Arbeitseinsatzverwaltung noch immer daran interessiert war, möglichst viele Arbeitskräfte aus dem Operationsgebiet zu gewinnen, wollten die Fronttruppen vor allem „Arbeitsunfähige“ nach hinten abschieben und „Arbeitsfähige“ in ihren eigenen Diensten halten. Schon während der letzten Monate des Jahres 1943 begannen sich die rückwärtigen Stellen der Heeresgruppe Mitte immer häufiger zu weigern, solche für sie nicht produktiv einsetzbare Deportierte aufzunehmen. Im Februar 1944 hieß es dazu schließlich in einem Befehl des Oberkommandos der 9. Armee: „Ernährungslage und Raumnot lassen es nicht mehr zu, im rückwärtigen Armeegebiet oder in weiter rückwärtig gelegenen Gebieten Evakuierte unterzubringen. Evakuierungen aus dem Gefechtsgebiet heraus sind nur mit Genehmigung vom AOK 9 möglich.“25
Die Deportationsstrategie der Wehrmacht schien an ihre Grenzen zu stoßen.26 Das Auskämmen der arbeitsfähigen Bevölkerungsteile und das Zurücklassen von deren nicht für Zwangsarbeit oder militärische Hilfsdienste tauglichen Angehörigen verschärfte im Bereich der Frontverbände ein Phänomen, das sich über die gesamte Besatzungsherrschaft der Deutschen in Osteuropa herausgebildet hatte: Im Jahr 1944 wies die in den ländlichen Gebieten und Städten verbliebene Zivilbevölkerung ein dramatisch verzerrtes demografisches Profil auf. Kriegsereignisse und deutsche Besatzungsherrschaft, Vertreibungen und Deportationen, die Verschleppung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sowie die harten Lebensbedingungen, geprägt von Unterversorgung und Gewalt, die Tausende Opfer gefordert hatte und der Ausbreitung von Krankheiten Vorschub leistete, hatten 1944 dazu geführt, dass vielerorts vor allem ältere Menschen, Kranke, behinderte Menschen sowie Mütter mit Kleinkindern in prekären Lebensverhältnissen zurückgeblieben waren. Nun entzogen die den Rückzugsoperationen vorlaufenden Auskämmaktionen und Räumungsmaßnahmen der Zivilbevölkerung die letzten „Arbeitsfähigen“ und damit die letzten Ernährer und Versorger, um sie entweder in die Hilfsformationen der Wehr24 25 26
Christoph Rass, Ozarichi 1944. Entscheidungs- und Handlungsebenen eines Kriegsverbrechens, in: Timm C. Richter (Hrsg.), Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 197–206, S. 198. National Archives and Records Administration (nachfolgend NARA), T-314, Film 1441, Zusammenfassung der grundlegenden Bestimmungen über Evakuierung/Erfassung von Arbeitskräften/Einsatz von Arbeitskräften, O.Qu./Qu.2 Nr. 4007/44 vom 18.2.1944. NARA, T-314, Film 990, Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des XXXXI. Korps; Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg (nachfolgend BArch-MA), RH 25 56 342, Fernschreiben AOK 9 an LVI. Panzerkorps vom 7.3.1944.
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macht einzureihen oder weiter zurück nach Westen zu schaffen.27 Je näher man nun der Front kam, desto drastischer zeichneten die dort noch verbliebenen Menschen dieses Profil: Sie bildeten einen demografischen Schatten der deutschen Herrschaft. Gegenüber den in den Besatzungszonen zurückgebliebenen Menschen begann sich nun das Handeln von Wehrmacht und Besatzungsbehörden zu radikalisieren. Denn sie taugten nicht als Arbeitskräfte, konnten sich allerdings auch nicht eigenständig versorgen. Als Objekte der Ressourcengewinnung fielen sie damit aus, wurden aber zugleich Objekte von Kontroll- und Sicherungsbemühungen. Dies umso mehr, als das Standardvorgehen der Frontverbände zunehmend auf Gegenwehr aus den eigenen Reihen stieß: ein einfaches Abschieben der unproduktiven Bevölkerungsteile in rückwärtige Gebiete war nicht mehr möglich. Das „Problem“ musste vor Ort gelöst werden. Um den Jahreswechsel 1943/44 wuchsen die Spannungen weiter. Die Rückkehr der Frontverbände hatte die Zahl der deutschen Soldaten in Weißrussland vervielfacht und die Konkurrenz zwischen Wehrmacht und Zivilbevölkerung um Wohnraum und Nahrungsmittel verstärkt. Zugleich trafen der Winter und die immer schlechtere Versorgung der Zivilisten die Schwächsten unter ihnen am härtesten, so dass im Winter 1943/44 die Zahl der Typhuskranken explodierte und die Epidemie auch die vielfach eng mit den Zivilisten zusammenlebenden Soldaten bedrohte. Zunächst radikalisierte die Wehrmacht ihre Haltung gegenüber den Zivilisten, die sich nun zunehmend verzweifelt als Bittsteller und Bettler um Nahrung an die Soldaten wandten. Bei der 253. Infanteriedivision, zu diesem Zeitpunkt Teil der 9. Armee und bei Paryčy stationiert, erging dazu der Befehl, keinerlei Lebensmittel mehr an Kinder abzugeben: „[Es] kann immer wieder beobachtet werden, dass insbesondere Kinder zu Betteln von Brot und zum Essenholen an den Feldküchen herumlungern. Das führt dazu, dass ganze Familien sich auf diese Weise ohne jede Arbeitsleistung ernähren und sich wochen- und monatelang jeder Arbeit entziehen. Jede Humanität ist hier unangebracht, jede Abgabe von Brot oder Essen an Bettler oder bettelnde Kinder daher zu unterbinden.“28
In den folgenden Monaten verschärfte die Division zudem ihr Vorgehen bei der Rekrutierung der letzten arbeitsfähigen Zivilisten, dazu hieß es beispielsweise Ende März 1944: „Der Truppe muss klar gemacht werden, dass die restlose Ausschöpfung der Arbeitskräfte zur Führung des Kriegs unumgänglich notwendig geworden ist […] Wie viel grausamer und brutaler würden die Sowjets gegen das deutsche Volk wüten, wenn sie in unser Land kämen, weil wir es aus falscher Humanitätsduselei versäumt haben, alle Arbeitskräfte zur Erzwingung des Endsieges zu organisieren […] Jeder Soldat muss sich darüber im Klaren sein, dass er Verrat am deutschen Volke übt, wenn er aus nichtangebrachter menschlicher Weichheit die für die Erfassung der Arbeitskräfte gegebenen Befehle nicht wörtlich und unnachsichtig ausführt. Über Volksverräter urteilt das Kriegsgericht – Hierüber ist jeder Soldat unmittelbar vor dem Einsatz zu belehren.“29
27 28 29
Rass, „Menschenmaterial“ (Anm. 18), S. 366 f. NARA, T-314, Film 948, Frame 978, Besondere Anordnung für die Versorgung Nr. 166 vom 24.7.1943. BArch-MA, RH 20 9 200, Erfassung von Arbeitskräften im Gefechtsgebiet, 30.3.1944.
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Welches Schicksal die verbliebenen Zivilisten in den Divisionsbereichen schließlich erwarten konnte, die nicht zum Arbeitseinsatz taugten, beleuchtet ein dritter Befehl der 253. Infanteriedivision aus dem April 1944, die die Dorfbewohner dazu verurteilte, als lebende Minenräumgeräte gefährdete Straßen abzulaufen: „Unter Einsatz der Zivilbevölkerung sind die wichtigsten durch das Gebiet der Ortskommandanturen führenden Straßen täglich mit Beginn der Morgendämmerung durch Abeggen oder Abwalzen zu entminen.“30
Auf den sich unter der Zivilbevölkerung ausbreitenden Typhus reagierte die 9. Armee in Weißrussland mit einem bereits seit 1941 auch von der Wehrmacht praktizierten Verfahren: Sie erklärte in betroffenen Regionen einzelne Siedlungen zu sogenannten „Seuchendörfern“, konzentrierte die Erkrankten dort, räumte die Orte, verhängte unter Todesstrafe eine Zwangsquarantäne und überließ die Kranken ihrem Schicksal. In den Städten brachte man Erkrankte in einzelnen Stadtvierteln oder Zivilkrankenhäusern unter, die diese Bezeichnung kaum je verdienten. Unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte die 9. Armee schließlich eine brutale Lösung für diese von ihr selbst verursachte Problemlage. Im Februar 1944 gab die Armee zunächst bekannt, dass keine weiteren Deportationen unproduktiver Bevölkerungsteile ins rückwärtige Gebiet mehr zulässig seien. Zugleich erging der Befehl, genau diese Menschen bei Rückzugsbewegungen zurückzulassen: „Der Roten Armee alle Arbeits- und Wehrfähigen entziehen; der eigenen Armee recht viele Arbeitskräfte zuführen; der Roten Armee recht viele Esser (Frauen mit mehreren kleinen Kindern, Kinder und Greise) überlassen; die eigene Armee und ihr Hinterland nicht mit unnötigen Essern belasten […] Zurückzulassen sind: Invaliden und Krüppel, ansteckend Kranke, Nichtarbeitsfähige (Greise, Kinder, Frauen mit mehreren Kleinkindern), soweit sie nicht zum Anhang des O. D. [Ordnungsdienstes], der landeseigenen Dienststellen, der bei Wehrmachtsdienststellen beschäftigten Angestellten und des Weißruthenischen Jugendwerkes gehören; zu ihrer notdürftigen Betreuung benötigte Frauen und Kinder.“31
Von diesem Punkt war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu einem Plan, „überflüssige Esser“ zu beseitigen, indem man sie aus Gebieten, die noch von der Wehrmacht gehalten wurden, gezielt in Bereiche deportierte, aus denen sich die Deutschen zurückzogen. Im März 1944 ging die 9. Armee diesen entscheidenden Schritt und entschied, alle unproduktiven Zivilisten aus dem Armeegebiet in einem frontnahen Lagerkomplex zu konzentrieren. Zwischen dem 12. und dem 17. März 1944 trieben die Großverbände der 9. Armee dazu gemeinsam mit dem Sonderkommando 7a der Einsatzgruppe B des SD etwa 50.000 Zivilisten, die man entsprechend eingestuft hatte, im gesamten Armeegebiet zusammen und brachten ihre Opfer unmittelbar hinter die deutsche Hauptkampflinie. Dann verlegten die dort liegenden Truppenteile die Hauptkampflinie nach hinten und ließen die Zivilisten im Niemandsland zwischen deutscher und sowjetischer Hauptkampflinie zurück. Wenige Tage darauf befreiten Einheiten der 65. sowjetischen Armee die Lager und 30 31
NARA, T-314, Film 1437, Frame 651. NARA, T-314, Film 1441, Zusammenfassung der grundlegenden Bestimmungen über Evakuierung/Erfassung von Arbeitskräften/Einsatz von Arbeitskräften, O.Qu./Qu.2 Nr. 4007/44 vom 18.2.1944.
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bargen die Überlebenden. Etwa 9.000 Menschen starben durch Gewalt oder an Entkräftung während der Deportation sowie an ihren unmittelbaren Folgen wie Unterernährung, Unterkühlung sowie einer in den Lagern grassierenden Typhusepidemie.32 DIE LAGER BEI AZARYČY IM MÄRZ 1944 Während die Deportationen das gesamte Gebiet der 9. Armee erfassten und sich alle ihre Großverbände daran beteiligten, spielte sich die Endphase dieser dramatischen Ereignisse nur wenige Kilometer westlich des Dorfes Azaryčy (russ. Ozariči) ab. Dort errichtete die Wehrmacht die Lager, in denen sie ihre Opfer zurücklassen wollte. Azaryčy selbst, das etwa 80 Kilometer südlich der Stadt Babrujsk in Weißrussland liegt, war zu diesem Zeitpunkt bereits befreit und befand sich unmittelbar hinter der Hauptkampflinie der Roten Armee. Obgleich die Dimensionen dieses Kriegsverbrechens über das gesamte Herrschaftsgebiet der 9. Armee reichte – also weit über diesen lokalen Kontext hinaus –, hat diese kleine Ortschaft, in deren Nähe heute das Mahnmal für die Opfer dieses Kriegsverbrechens steht, den schrecklichen Ereignissen seinen Namen geliehen.33 Überhaupt denkbar wurde eine solche Austreibung von Zivilisten seitens der Wehrmacht nicht nur durch den Druck der Verhältnisse im Besatzungsgebiet, sondern auch durch eine ungewöhnliche Lage, die sich im Frühjahr 1944 beim LVI. Panzerkorps eingestellt hatte: Ungünstiges Terrain erforderte die taktische Aufgabe eines Frontvorsprungs, der sich mit Beginn des Tauwetters in einen Sumpf verwandeln würde.34 Die seltene Genehmigung zu einer kontrollierten Räumung von Territorium, die schließlich Hitler selbst erteilte, bildete die grundlegende Voraussetzung für den nun reifenden Plan, Zivilisten, von denen sich die Wehrmacht keinen Nutzen mehr versprach, in diesen Frontvorsprung zu bringen und dort zurückzulassen. Ein vom 9. März datierender Befehl von General Josef Harpe, dem Oberkommandierenden der 9. Armee, ordnete die Deportation von zunächst 20.000 Zivilisten aus dem gesamten Armeegebiet an.35 An dem Plan, den dieses Schriftstück in 32 33
34 35
Rass, „Menschenmaterial“ (Anm. 18), S. 386–402. Siehe zu Azaryčy auch, jedoch ohne vollständige Rekonstruktion und Analyse: Norbert Müller, Wehrmacht und Okkupation 1941–1944. Zur Rolle der Wehrmacht und ihrer Führungsorgane im Okkupationsregime des faschistischen deutschen Imperialismus auf sowjetischem Territorium, Berlin [Ost] 1971, S. 283 f.; Gerlach, Kalkulierte Morde, (Anm. 5), S. 1097 f.; ders., Verbrechen deutscher Fronttruppen in Weißrussland 1941–1944, in: Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen Staat, Göttingen 1999, S. 89–115; Hans-Heinrich Nolte, Osariči 1944, in: Gerd Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 187–194. BArch-MA, RH 20 9 197, Erfahrungsbericht der 9. Armee über den Abschub nichtarbeitsfähiger Zivilisten vom 28.3.1944. Alle Exemplare des Befehls wurden am 18.3.1944 vernichtet. Sein Inhalt ist im Tagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps erhalten, NARA, T-314, Film 1438.
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einen Befehl und damit in konkrete Handlungsanweisungen fasste, hatten – neben dem Armeeoberbefehlshaber selbst – sowohl Kommandeure von Fronteinheiten als auch Angehörige einiger Generalkommandos sowie des Armeestabes mitgearbeitet.36 Die Detailplanung übernahmen die Quartiermeisterabteilungen unter Federführung des Armeeoberquartiermeisters, Oberst Werner Bodenstein.37 Bedingt durch die unterschiedlichen Entfernungen der Korpsgebiete zu dem Lagerkomplex bei Azaryčy sowie der Verfügbarkeit von Transportmitteln sollten das LVI. und das XXXXI. Korps, deren Abschnitte sich am nächsten zur geplanten „Absetzzone“ im Süden des Armeebereiches befanden, die von ihnen zusammengetriebenen Zivilisten zu Fuß oder mit Lastkraft- bzw. Pferdewagen zu den Lagern bringen. Den weiter entfernt liegenden XXXV. und LV. Korps im nördlichen Armeebereich dagegen stand das Eisenbahnnetz zur Verfügung. Als zentrale Achse für den Transport der Zivilisten aus dem gesamten Armeegebiet in die Lager diente die Bahnlinie von Žlobin über Babrujsk zur Station Rudabelka, dem frontnächsten Versorgungsbahnhof für die südliche Hälfte der 9. Armee, die während der Deportationen von Versorgungszügen freigehalten wurde. Vor dort war der Weitermarsch der Zivilisten zu Fuß über die Straße von Rudabelka in Richtung Azaryčy vorgesehen.38 Neben organisatorischen Belangen regelte der Befehl die Unterstellung aller beteiligten Wehrmachtseinheiten im Abschnitt zwischen dieser Ausladestation sowie den „Sammellagern“ bzw. den „Endlagern“ unter das Sonderkommando 7a des SD.39 Das Sonderkommando 7a war zu diesem Zeitpunkt in Babrujsk stationiert und hatte im Umland der Stadt bereits seit mehreren Monaten gemeinsam mit der Wehrmacht Zwangsarbeiterrekrutierungen durchgeführt. Den SD-Männern war dabei die Aufgabe zugefallen, „arbeitsunfähige“ Zivilisten zunächst in einem Lager zu sammeln und schließlich in den Wäldern vor der Stadt zu ermorden. So lag es nahe, das Sonderkommando zu der geplanten Massendeportation hinzuzuziehen und bei dem für die Täter schwierigsten Teilstück des Transports einzusetzen, auf dem es galt, eine mehrtausendköpfige Menschenmenge unerbittlich in Richtung der Lager zu treiben.40 Ferner ordnete der Befehl vom 9. März an, bei der Zurücknahme der eigenen Hauptkampflinie das Entfliehen der Zivilisten und eine mögliche Annäherung an die deutschen Linien durch eine Beschießung der Lager und das Verlegen von Minensperren zu verhindern.41 Im Zielgebiet der Deportationen entstand daraufhin innerhalb weniger Tage ein Lagersystem, das die Zusammenfassung der Zivilisten und ihren Transport über die letzten Kilometer bis in die drei vorgesehenen „Endlager“ erleichtern sollte. Die 129. Infanteriedivision sorgte in 36 37 38 39 40 41
Rass, Ozarichi 1944 (Anm. 24), S. 202. BArch-MA, Personalakte Werner Bodenstein. BArch-MA, RH 20 9 197, Erfahrungsbericht über Abschub nichtarbeitsfähiger Zivilisten vom 28.3.1944, mit Karte (siehe unten S. 478). NARA, T-314, Film 1440, Frame 990 ff., Sicherheitspolizei und SD, Sonderkommando 7a, geh.Tg.B.Br. 17/44 g vom 30.3.1944. BArch Ludwigsburg, Verfahren 202 AR-Z 96/60, Bd. 8. NARA, T-314, Film 1438, Frame 914 ff., Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps, Eintrag vom 9.3.1944.
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der Nähe des „Ausladebahnhofs“ Rudabelka für ein „Sammellager“, das 6.000 Menschen Platz bieten sollte. In diesem Lager wurden zwischen dem 13. und 15. März schließlich zwischen 12.000 und 16.000 Menschen zusammengepfercht, bevor sie den Marsch in das ihnen zugedachte Endlager antraten. Dieser rund 35 Kilometer lange Marsch führte sie über ein „Zwischenlager“ auf etwa halber Strecke in das bei dem Dorf Dert gelegene „Endlager Süd“, das von der 35. Infanteriedivision eingerichtet worden war und etwa 12.000 Menschen fassen sollte. Neben dieser Hauptachse für den Transport der Zivilisten errichteten die 35., die 129. und die 110. ID kleinere Zwischenlager in der Nähe der Dörfer Nestanovičy, Paraslišča und Mikul’-Haradok, die alle Zivilisten aus den Bereichen des LVI. und des XXXXI. Korps aufnehmen sollten, bevor man sie in die für sie vorgesehenen „Endlager I“ bei Myslaŭ Roh bzw. „Endlager II“ in der Nähe von Litvinovičy trieb. Die sogenannten „Endlager“ selbst bestanden aus einem zweifachen Stacheldrahtzaun mit einfachen Wachtürmen und lagen in einem bewaldeten Sumpfgebiet. Um die Rote Armee nicht vor dem geplanten Rückzug auf die Aktion aufmerksam zu machen, war trotz der empfindlichen Kälte den Zivilisten das Anzünden von Feuern verboten.42 Am 12. März 1944 liefen um vier Uhr morgens überall im Armeegebiet die Deportationen an. In einer ersten Phase sammelten die Divisionen die Zivilbevölkerung an den Verladepunkten der Eisenbahn. In der zweiten Phase, die am 12. März überlappend einsetzte und bis zum 15. März dauerte, transportierten insgesamt neun Güterzüge mehr als 20.000 Menschen von verschiedenen Einladestationen nach Rudabelka. In der dritten Phase, die noch vor dem Eintreffen des letzten Transportes begann, wurden von dort große Marschkolonnen zu Fuß in Richtung des größten südlichen „Endlagers“ getrieben. Parallel dazu nahmen die beiden nördlich gelegenen kleineren „Endlager“ Zivilisten aus den umliegenden Korpsbereichen auf, die man teils zu Fuß, teils mit Lastwagen in diese Lager schaffte. Am 16. März befanden sich alle Zivilisten in den Lagern und in der Nacht zum 17. März endete die Operation mit der Rücknahme der deutschen Hauptkampflinie.43 Um möglichst große Entlastung in ihrem jeweiligen Bereich bemüht, hatte allerdings jeder beteiligte Verband das ihm zugestandene Deportationskontingent überschritten. Dieses Vorgehen verdoppelte die Zahl der Opfer, wobei wegen der ungenauen Zählungen – nicht zuletzt auch weil sich die Beteiligten nicht einigen konnten, ob die vielen Tausend Kinder und Säuglinge zu zählen oder nicht zu zählen seien – bleibt die Gesamtzahl der Opfer schwer zu ermitteln. Die Akten der Wehrmacht selbst führen allein für die nördlichen Korps die Erfassung von 30.873 Menschen auf, von denen man schließlich 23.519 mit den neun verfügbaren Zug-
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Rass, „Menschenmaterial“ (Anm. 18), S. 397. BArch-MA, RH 24 55 131, Betr. Erfassungsaktion am 12.3.1944, vom 20.3.1944; BArch-MA, RH 24 55 129, Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LV. Korps; NARA, T-314, Film 1438, Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps; NARA, T-314, Film 990, Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des XXXXI. Korps.
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läufen nach Rudabelka brachte.44 Dem Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps liegt daneben eine Übersicht über die „Befüllung“ der Lager zwischen dem 14. und 16. März bei. Aus dieser geht eine Gesamtzahl von 39.597 erwachsenen Zivilisten hervor, zu denen man allerdings noch „einige Tausend Kleinkinder“ ungezählt hinzuschlug.45 Das Sonderkommando 7a hingegen ermittelte für seinen Bericht eine Gesamtzahl von 47.461 Personen und verwies ebenfalls auf die hohe Zahl von Kleinkindern.46 Die Rote Armee registrierte schließlich nach der Evakuierung 33.000 Überlebende, wobei vermutlich nicht alle Menschen erfasst wurden und ebenfalls ungeklärt bleibt, wie Kinder und Säuglinge in diese Statistik eingegangen sind.47 Die Verdopplung der geplanten Opferzahl verschärfte die Bedingungen für die Zivilisten, da weder die Lebensmittelzuteilungen noch Transportmittel hierfür vorgesehen waren. Als eine weitere Opfergruppe kamen rund 7.000 Fleckfieberkranke in die Lager, da die 9. Armee die Gelegenheit nutzte, die Seuchenlazarette in den Städten sowie die „Seuchendörfer“ im ländlichen Raum zu räumen. In den Lagern trug die Vermischung von Gesunden und Kranken unter den katastrophalen Lebensbedingungen zu einer epidemischen Ausbreitung der Seuche und zu einer extrem hohen Sterblichkeit unter den Kranken bei.48 Die genaue Zahl der Todesopfer liegt bis heute im Dunkeln. Wehrmacht und SD verzeichneten „rund“ 500 Tote auf den Transporten in die Lager, zählten allerdings nicht die dort Sterbenden.49 Im Verlauf der Operation eskalierte die Anwendung von Gewalt durch Soldaten und SD-Männer mit zunehmender Dauer und dem Anwachsen der zu bewegenden Menschenmenge. Das Zusammentreiben der Bevölkerung in den Dörfern und der Stadt Žlobin beispielsweise verlief, so berichten Überlebende, zwar unter massiver Einschüchterung der Bevölkerung, jedoch noch weitgehend ohne körperliche Gewalt. Erste Exzesse ereigneten sich dann beim Verladen der Menschen in die Züge, bei der die damit beauftragten Wehrmachtsangehörigen äußerst brutal vorgingen. Am Ausladebahnhof Rudabelka mussten die in schneller Folge eintreffenden Züge ausgeladen und rangiert werden. Rasch mussten die Opfer die Güterwagen verlassen und hatten kaum Zeit ihre wenigen Habseligkeiten zu packen, bevor sie von den Wachmannschaften den steilen Bahndamm hinabgetrieben wurden. An diesem 44 45 46 47 48
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Vgl. Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps, S. 110. Dort ist für den 13.3. vermerkt, dass sich die Zahl der Zivilisten verdoppelt. Vgl. NARA, T-314, Film 1438, Frame 922, Kriegstagebuch der Quartiermeisterabteilung des LVI. Korps, Eintrag vom 16.3.1944. Vgl. NARA T-314, Film 1440, Frame 990 ff., Sicherheitspolizei und SD, Sonderkommando 7a, geh.Tg.B.Br. 17/44 g vom 30.3.1944. Staatsarchiv Nürnberg, Dokument USSR-4. Protokoll Nr. 29. Sitzung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vom 29. April 1944; vgl. auch Gerlach, Kalkulierte Morde (Anm. 5), S. 1098. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Band VII. Verhandlungsniederschriften 5. Februar 1946–19. Februar 1946, Nürnberg 1947, S. 635; Staatsarchiv Nürnberg, Dokument USSR-4. Protokoll Nr. 29. Sitzung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vom 29. April 1944. Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ u. a. (Hrsg.), Založniki vermachta. Ozariči – lager’ smerti: dokumenty i materialy, Minsk 1999.
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Bahndamm und auf dem Weg ins erste nur wenige Hundert Meter entfernte Auffanglager ereigneten sich vermutlich die ersten Tötungen. Der Marsch der Hauptkolonne aus diesem Auffanglager ins „Endlager“ nahe Azaryčy entwickelte sich dann zum Todesmarsch. SD-Männer bewachten Spitze und Ende der Kolonne, an den Flanken waren Wehrmachtssoldaten eingesetzt. Überlebende berichteten später vom gnadenlosen Mord an Menschen jeden Alters, die den Strapazen des Marsches nicht gewachsen waren. Im Lager angekommen schossen die Wachkommandos der Wehrmacht auf Menschen, die sich dem Zaun nähern oder Feuer entfachen wollen, um jedem Fluchtversuch zuvorzukommen.50 Die Planer auf Armee- und Korpsebene gehörten zu den wenigen Beteiligten, denen sich die tatsächliche Dimension der Deportationen erschloss. In den Akten spiegeln sie sich als militärische Fachleute, die auch die Deportation von Zivilisten vor die eigene Front als eine Problemlösungsstrategie mit militärischer Professionalität und Effizienz organisieren, ohne selbst aktiv in das Geschehen einzugreifen. Bei dem an zentraler Stelle tätigen Oberquartiermeister der 9. Armee und den Korpsquartiermeistern schloss sich dann bereits der Kreis derjenigen, die Details der Operation kannten und das Geschehen überblickten. Die Divisionskommandeure und ihre Quartiermeister waren über das Geschehen nur grob orientiert. Sie setzten den ihnen jeweils zugedachten Teil der Vorbereitungen und schließlich das Kriegsverbrechen selbst um. Die Soldaten derjenigen Einheiten, welche die Lager anlegten und gemeinsam mit dem SD die großen Marschkolonnen in die „Absetzzone“ führten, nahmen zumindest in Form der unübersehbaren Menschenmenge, die sie in Richtung Front trieben, den Umfang der Deportationen wahr. Die Mehrzahl der Tausende in der ein oder anderen Form an der Durchführung der Operation beteiligten Soldaten führten jedoch meist nur Befehle aus, die einen eng umgrenzten Tatbeitrag forderten und sich wenig vom üblichen – verbrecherischen – Umgang mit der Zivilbevölkerung unterschieden.51 Nähern wir uns allerdings täterseitig exemplarisch den verschiedenen Handlungs- und Erfahrungsebenen dieses Kriegsverbrechens, so fällt unmittelbar auf, wie selbst die Täter in jedem Handlungszusammenhang das ungewöhnliche Sozialprofil ihrer Opfer reflektierten. Ein Nachschuboffizier der 253. Infanteriedivision beispielsweise, der die Deportationen im Divisionsgebiet koordinierte, schrieb am 14. März – einen Tag nach seinem Einsatz – in einem Gnadengesuch an das Divisionsgericht, das ihn wegen einer Beziehung zu seiner russischen Dolmetscherin verurteilt hatte: „Wenn die Anklage ausführt, ich hätte von der Zivilbevölkerung nicht den nötigen Abstand und bringe nicht die Härte den Zivilisten gegenüber auf, […] so ist hierzu zu sagen, dass [ich] noch am 13. des Monats alte Frauen, Fleckfieberkranke und Kinder unter Zurücklassung der jungen arbeitsfähigen Mütter usw. evakuiert habe. Welche Rücksichtslosigkeiten gegenüber der russischen Zivilbevölkerung hierbei gefordert werden, kann nur der ermessen, der mit solchen Aufgaben betraut wurde.“52
50 51 52
Auswertung der Interviews zum Dokumentarfilm Ozarichi 1944 – Spuren eines Kriegsverbrechens [2006]. Rass, „Menschenmaterial“ (Anm. 18); Rass, Verbrecherische Kriegsführung (Anm. 19). BArch-MA, RH 26 253 G 436.
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Ähnlich äußerte sich auch ein Offizier, der mit seinem Kommando Dörfer im Bereich der 20. Panzerdivision räumte und die von ihm erfassten Zivilisten den Transportkommandos zu einem der Einladebahnhöfe übergab, im Verhör nach seiner Gefangennahme durch die Rote Armee im Sommer 1944: „Das Dorf, in dem ich die Erfassung und Abtransportierung durchführen musste, bestand aus ungefähr 25 Häusern. Bei Beginn der Aktion stellte ich auf beiden Seiten des Dorfes je ein Maschinengewehr auf, damit niemand ausreißen konnte. Dann schickte ich einen Soldaten, der Russisch sprach, zum Dorfältesten […] Dabei habe ich befohlen, dass sich alle in 30 Minuten versammeln und das notdürftigste Gepäck mitnehmen sollen. So habe ich aus dem einen Dorf ca. 100 Menschen erfasst, die unter Bewachung in das Dorf Kapustino [Kapuscina] geführt wurden, darunter Männer und Frauen, Greise und Kinder.“53
Ein Feldgeistlicher der 129. ID beschrieb die Zustände in der Endphase der Aktion, als die Gewalt gegen die Opfer im Umfeld des „Endlagers“ bei Dert ihren Höhepunkt erreicht hatte, in seinem Tagebuch so: „Ich spürte die Veränderung zuerst an einem seltsamen erregenden Geräusch, welches ich nicht näher bestimmen konnte, bis ich in der Ferne das Lager entdeckte. Ein ununterbrochenes leises Wehklagen vieler Stimmen stieg daraus zum Himmel auf. Und dann sah ich, wie man gerade vor mir die Leiche eines alten Mannes abschleppte wie ein Stück Vieh. Man hatte einen Strick um sein Bein gebunden. Eine Greisin lag tot am Wege mit frischer Schusswunde in der Stirn. Ein Posten der Feldgendarmerie belehrte mich weiter. Er wies auf ein paar Bündel im Dreck hin: Tote Kinder, über die er ein Kissen gelegt hatte. Frauen haben ihre Kinder, die sie nicht mehr tragen konnten, am Wege liegen lassen. Auch sie wurden erschossen, wie überhaupt alles „umgelegt“ wird, was wegen Krankheit, Alter und Schwäche nicht mehr weiter kann.“54
Tatsächlich waren alte Menschen und kleine Kinder unter den Opfern stark überrepräsentiert. Dieses besondere Profil der Opfer erklärt sich aus zwei Zusammenhängen. Zum einen entsprach es gerade der Zielsetzung der Deportationen, „Arbeitsunfähige“, sogenannte „unnütze Esser“, aus dem eigenen Gebiet zu entfernen und sie geradezu als Bürde und zu lösendes Problem über das Gefechtsfeld zur Roten Armee abzuschieben. Im Deportationsbefehl hieß es dazu konsequent, es seien gezielt „Seuchenkranke, Krüppel, Greise und Frauen mit mehr als 2 Kindern unter 10 Jahren“ zu erfassen. Aus den deutschen Akten wissen wir ebenfalls, dass sich unter den Opfern Tausende Kleinkinder befanden, deren Sterblichkeit in den Lagern, wie Überlebende berichten, besonders hoch lag. Die beteiligte Einheit des SD schätzt in ihrem Bericht, mindestens 6500 Klein- und Kleinstkinder in die Lager gebracht zu haben. Die Wehrmacht spricht lapidar von „einigen Tausend Kleinkindern“ unter den Opfern. Dabei gilt es nicht zu vergessen, dass die Wehrmacht einerseits Tausende Tote zurückließ. Andererseits trugen die Überlebenden starke Traumatisierungen in sich, als Soldaten der 65. sowjetischen Armee sie aus den befreiten Lagern evakuierten. Eltern hatten ihre kleinen Kinder sterben sehen. Manche Mutter hatte erschöpft auf dem Marsch ein Kind im Schnee zurückgelassen und mit ansehen müssen, wie die deutschen Wachmannschaften es töteten. Kinder hatten ihre 53 54
Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] (nachfolgend NARB), F. (= Fond) [Bestand] 1363, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 2758. Josef Perau, Priester im Heere Hitlers. Erinnerungen 1940–1945, Essen 1962.
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Eltern verloren, Brüder waren im Lager neben einem über Nacht gestorbenen Schwesterchen erwacht. Eltern und Kinder suchten nach der Befreiung tote Angehörige in den schneebedeckten Leichenbergen. Solch einschneidende Erfahrungen begleiten viele der aus den Lagern befreiten Menschen über ihr ganzes Leben. Über den Todesmarsch in die Lager berichtete eine Überlebende kurz nach ihrer Befreiung: „Nachts wurden wir durch knietiefen Schlamm in ein Lager getrieben. Aus diesem Lager wurden wir in ein anderes geführt. Die Deutschen schlugen uns auf dem Weg und erschossen alle, die zurückblieben. Eine Frau hatte drei Kinder bei sich. Eines der Kleinen fiel hin. Ein Deutscher erschoss es. Als die Mutter und die beiden anderen Kinder sich entsetzt umsahen, schoss der […] Soldat sie nacheinander nieder.“55
Ähnliche Szenen beobachteten viele der Überlebenden, so auch eine Zeitzeugin, die – selbst noch ein kleines Kind – mit der Marschkolonne von Rudabelka ins „Endlager Süd“ getrieben wurde: „Ich erinnere mich an Folgendes: Vor mir eine Frau. Sie trug einen Säugling auf dem Arm und noch zwei Kinder hielten sich an ihren Kleidern fest. Die Kinder weinen, schrien nach Essen und sie hatte nichts. Die Frau ging einfach mit dem Menschenstrom mit. Dann legte sie plötzlich das Baby am Straßenrand und, ohne sich umzudrehen, ging sie mit den anderen Kindern weiter. Ein Deutscher ist gekommen mit einem Gewehr und erschoss das Baby. Es hatte ein kleines rosa Gesicht. Das Baby war neun Monate alt. Als ich das gesehen habe, umarmte ich meine Mutter um den Hals und weinte. Ich sagte: Ich werde zu Fuß gehen, lass mich nur nicht los – sonst erschießen sie mich.“56
Zu den Opfern nahezu ohne Überlebenschance zählten die Insassen der „Seuchendörfer“ und „Seuchenlazarette“ im Armeebereich. Bereits wenige Wochen zuvor hatte die Armee bei der Räumung der Stadt Rahačoŭ veranlasst, dass etwa 1.250 Typhuskranke aus Žlobin mit Lastwagen in das zur Räumung vorgesehene Gebiet gebracht und dort zurückgelassen wurden.57 Bei den Deportationen von Azaryčy wiederholte sich diese Vorgehensweise in weit umfangreicherer Dimension. Bis zu 7.000 Typhuskranke wurden an den verschiedenen Verladebahnhöfen gemeinsam mit Gesunden in die Waggons geladen. Zugleich brachte man aus den „Seuchendörfern“ im ländlichen Raum Kranke per Lastwagen in die Lager. Überlebende berichteten später, wie Wehrmachtslastwagen in die Lager fuhren und Soldaten die Erkrankten, teils kaum bekleidet und bereits ohnmächtig, von der Ladefläche in den Schnee warfen.58 Überlebt haben wahrscheinlich nur sehr wenige dieser Primärerkrankten diese Behandlung. Im Kalkül der Wehrmacht hatten ihre Verbringung in die Lager und ihr Tod bereits ihren doppelten Zweck erfüllt. Die 9. Armee hatte mit der Deporta55 56 57 58
Staatsarchiv Nürnberg, Dokument USSR-4. Protokoll Nr. 29. Sitzung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vom 29. April 1944. Auswertung der Interviews zum Dokumentarfilm Ozarichi 1944 – Spuren eines Kriegsverbrechens [2006]. BArch-MA, RH 24–55/131, Gen. Kdo. LV. AK, Qu., Nr. 291/44 Erfassungsaktion am 12.3.1944, 20.3.1944. Ebd.
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tion der Typhuskranken Krankheitsherde beseitigt und die Ausbreitung der Epidemie eingedämmt. Wichtiger noch, die Durchmischung der Erkrankten und der geschwächten, aber größtenteils noch gesunden übrigen Zivilisten führte unmittelbar zu einer Verbreitung des Typhus in den Lagern. Diese Typhusepidemie hat wahrscheinlich den größten Teil der Todesopfer während der Deportationen gefordert. Keine deutsche Dienststelle hat die Zahl der Typhuskranken und der Typhustoten unter den Deportierten gezählt. Klar ist, dass diese Menschen nicht nur der Krankheit, sondern auch dem Umstand zum Opfer gefallen sind, dass sich die 9. Armee ohne jede Rücksichtnahme aller Erkrankter entledigte und dabei bewusst die Ausbreitung der Epidemie und ihren Tod in Kauf genommen hat. Zu den Zielvorstellungen der Wehrmacht gehörte es aber nicht nur, der Roten Armee geschwächte und typhuskranke Zivilisten zu überlassen, sondern auch, durch das Zusammentreffen der sowjetischen Soldaten mit diesen Menschen in den Einheiten der Roten Armee eine Typhusepidemie auszulösen.59 ERKENNTNISSE Die Deportationen von Azaryčy stechen jedoch nicht nur durch ihre gewaltige Dimension und die Tatherrschaft der Wehrmacht sowie das Sozialprofil seiner Opfer hervor. Die Austreibung der sogenannten „unnützen Esser“, der Frauen mit Kleinkindern, der Alten und Kranken, der behinderten Menschen aus dem deutschen Machtbereich durch die Wehrmacht, sollte im Jahr 1944, so deuten die deutschen Quellen an, zu einem institutionalisierten Teil der eigenen Kriegführung werden. Das ebenso schlagartige wie rücksichtslose Zusammentreiben der noch verbliebenen Bevölkerungsteile, die Selektion der letzten Arbeitsfähigen und schließlich die Deportation in frontnahe Lager öffnete der Wehrmacht die Möglichkeit, sich aus einer immer drängenderen Problemlage zu winden und zugleich nicht nur eigene defensive Truppenbewegungen durch diese Zivilisten zu decken, sondern auch den Gegner in seinem Vormarsch zu verlangsamen. Als Preis gaben die deutschen Soldaten den letzten Rest von Zurückhaltung und Humanität gegenüber der ihrer Herrschaft unterworfenen Zivilbevölkerung auf und machten nun die letzten bisher verschonten Frauen, Kinder, Alten und behinderten Menschen zu ihren Opfern. Für eine solche Interpretation spricht nicht nur die akribische Dokumentation und Evaluation der Operation bei Azaryčy durch die 9. Armee, die im Nachgang einen detaillierten Bericht mit Handlungsanweisungen für künftige vergleichbare Deportationen für die Heeresgruppe Mitte verfasste. Es gibt zudem konkrete Hinweise darauf, dass die 9. Armee wenige Wochen später weitere Absetzzonen vorbereitete und damit auch vergleichbare Operationen. Schließlich vermerkte der Beratende Hygieniker der 9. Armee in seinem Bericht über das Unternehmen:
59
Siehe dazu nun auch Michael Jones, Total War. From Stalingrad to Berlin, London 2011, Kapitel 2.
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„Die Abschiebung der überflüssigen Esser und hygienisch schwer übersehbaren Elemente feind- oder banditenwärts ist innerhalb der Armee zu einem Grundsatz erhoben und durch einen entsprechenden Ia-Befehl, der unter maßgebender Beteiligung der IVb entstanden ist, geregelt.“60
Dies aber bedeutet nichts weniger als eine weitere Eskalation im Umgang der Wehrmacht mit den schwächsten und daher in besonderem Maße hilfs- und schutzbedürftigen Menschen unter ihrer Herrschaft. Diese Menschen, darunter vor allem Kranke und Kinder, ermordete die Wehrmacht zwar nicht unmittelbar – obwohl bereits Hunderte Menschen während der Deportation ums Leben kamen bzw. deutscher Gewalt zum Opfer fielen –, unterwarf sie jedoch in vollem Bewusstsein der furchtbaren Folgen systematisch einer Behandlung, die Tausende Opfer kosten musste. Und mehr noch, sie machte das Leben und das Leid dieser Menschen zu einem Mittel ihrer eigenen Kriegführung.
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BArch-MA, H 20 5/8, Beratender Hygieniker Professor von Bormann, 9. Armee, Erfahrungsbericht Fleckfieber 31.12.1943–15.5.1944.
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Kartenskizze der Wehrmacht zum Ablauf der Deportationen bei Azaryčy / Ozarichi Quelle: BArch-MA, RH 20 9 197, Erfahrungsbericht über Abschub nichtarbeitsfähiger Zivilisten vom 28.3.1944, Anlage.
VII. UMGANG MIT KRANKENMORDEN UND WEITEREN NS-VERBRECHEN IN DER UDSSR NACH 1945
SOWJETISCHE STRAFVERFOLGUNG NATIONALSOZIALISTISCHER KRIEGSVERBRECHEN Zur Vernichtung psychisch kranker Menschen in Weißrussland Anatolij V. Šarkov In der Geschichte Weißrusslands und seines Volkes hat der Krieg eine grauenhafte und schreckliche Spur hinterlassen. Auf dem besetzten Gebiet begingen die Besatzer Verbrechen und Gräueltaten, die sich jedem Verständnis entziehen. Im Laufe der dreijährigen Okkupation haben die Nationalsozialisten etwa 1,5 Millionen weißrussische Zivilisten und allein in Weißrussland darüber hinaus mehr als 800.000 sowjetische Kriegsgefangene umgebracht. Auf weißrussischem Territorium wurden ca. 4.800 Siedlungen zerstört, 628 weißrussische Dörfer teilten das Schicksal des Dorfes Chatyn’, das zusammen mit seinen Einwohnern niedergebrannt wurde. 380.000 junge Bürger Weißrusslands wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, viele von ihnen haben ihre Heimat nie wieder gesehen. Millionen von Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie Sowjetbürger, Juden oder etwa Sinti und Roma waren, wurden zu „Asozialen“, „Untermenschen“ oder „Vieh“ erklärt. Gegen sie wurden Maßnahmen angewendet, welche die Anhänger Hitlers als „Sonderbehandlung“, „Liquidierung“ oder „Endlösung“ bezeichneten, und sie wurden ermordet, unabhängig von ihrem Alter und Geschlecht. Das gleiche Schicksal ereilte auch psychisch kranke Menschen. Die Vernichtung von Patienten psychiatrischer Kliniken auf dem Territorium der UdSSR, insbesondere in Weißrussland, betrachteten die Nationalsozialisten als Teil der „Rassenreinhaltung“. Sie hielten diese Menschen für „lebensunwert“. Sie wurden erschossen, vergast und gesprengt, um die freigemachten Gebäude zu „Wehrmachtszwecken“ zu nutzen. Vernichtungsaktionen gegen psychisch kranke Menschen wurden unter anderem in Vicebsk, Minsk, Mahilëŭ und Lida durchgeführt. Zweifellos mussten die Täter für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. De jure folgte die unvermeidliche Vergeltung aus der auf der Moskauer Außenministerkonferenz verabschiedeten „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“ vom 30. Oktober 1943, die von den drei Regierungschefs der Alliierten unterzeichnet wurde – Großbritannien, USA und der UdSSR.1 In der Erklärung wurde festgehalten, dass diejenigen deutschen 1
R. Magid, Vnešnjaja politika Sovetskogo Sojuza v period otečestvennoj vojny [Die Außenpolitik der Sowjetunion während des Großen Vaterländischen Krieges], 3 Bde., Bd. 1, Мoskau 1946, S. 419. Zu einer umfangreicheren Darstellung der nicht die Behindertenmorde betreffenden Prozessabläufe siehe Anatolij Šarkov, Stalinsche Urteile gegen ausländische Kriegsgefangene
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Offiziere, Soldaten und Mitglieder der NSDAP, die für die Gräueltaten, Morde und Hinrichtungen verantwortlich waren oder sich freiwillig daran beteiligt hatten, vor ein Gericht gestellt und bestraft werden sollten, gemäß den Gesetzen der Länder, in denen diese Verbrechen begangen worden waren. Die Grundsätze der Erklärung wurden im Potsdamer Abkommen der Siegerstaaten entwickelt und später von der UNO als Grundsätze des Völkerrechts in der Resolution der UN-Generalversammlung vom 11. Oktober 1946 anerkannt und bestätigt.2 Noch früher, am 19. April 1943, hatte die sowjetische Regierung einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter, die der Ermordung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten schuldig sind, sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern“ verabschiedet.3 Dieses Dokument legte den Prozessweg gegen Kriegsverbrecher fest und sah neue Formen der Bestrafung vor: Die Todesstrafe durch Erhängen und eine Verbannung mit Zwangsarbeit von 15 bis 20 Jahren. Für die zur Zwangsarbeit Verurteilten sah das Gesetz spezielle Orte des Freiheitsentzuges vor.4 Alle nach dem Erlass vom 19. April 1943 Angeklagten galten als Helfershelfer der verbrecherischen Politik NS-Deutschlands und seiner Verbündeten auf dem besetzten Territorium der UdSSR. Die Dienststelle oder der Charakter der Dienstpflichten einer Person spielten eine entscheidende Rolle bei der Schuldbemessung. Am 29. November 1949 verabschiedeten das Innenministerium, das Ministerium für Staatssicherheit und die Staatsanwaltschaft der UdSSR eine gemeinsame Direktive, nach der kriegsgefangene Offiziere, die Befehls- und Operationspositionen in Organen und Truppen der SS innegehabt hatten, gemäß Art. 16 (Mittäterschaft) des Strafgesetzbuches der RSFSR und dem Erlass vom 19. April 1943 als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen werden konnten. Führungspersonal und Wehrmachtsangehörige, die während des Krieges in Konzentrationslagern oder Lagern für sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten gedient hatten, sowie Mit-
2 3 4
in der BSSR, in dem zweisprachigen Band: Stefan Karner u. Vjačeslav Selemenev (Hrsg.), Österreicher und Sudentendeutsche vor sowjetischen Militär- und Strafgerichten in Weißrussland 1945–1950, Graz u. Minsk 2007, S. 78–205. Vgl. auch Manfred Zeidler, Der Minsker Kriegsverbrecherprozeß vom Januar 1946. Kritische Anmerkungen zu einem sowjetischen Schauprozeß gegen deutsche Kriegsgefangene, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 211–244, der auch genauere biographische Informationen zu einigen der im folgenden genannten Personen bietet. Eine – im Gegensatz zu späteren sowjetischen Prozessen 1949/50 – insgesamt korrekte Verhandlungsführung konstatiert Manfred Messerschmidt, Der Minsker Prozeß 1946. Gedanken zu einem sowjetischen Kriegsverbrechertribunal, in: Hannes Heer u. Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1997, S. 551–568. Vgl. auch unten Anm. 14. Aleksandr M. Rekunkov (Hrsg.), Njurnbergskij process [Der Nürnberger Prozess]. Sb. Materialov [Sammelband], 8 Bde., Bd. 1, Мoskau 1987, S. 105. V. Egorov, Tribunaly v gody vojny [Tribunale in den Kriegsjahren], in: Čelovek i zakon [Mensch und Gesetz] 10 (1991), S. 82. Sovetskoe gosudarstvo i pravo v period Velikoj Otečestvennoj vojny [Sowjetischer Staat und sowjetisches Recht während des Großen Vaterländischen Krieges], Teil 2, Мoskau 1948, S. 50–51.
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arbeiter der Straforgane, der Gerichte, der Staatsanwaltschaften, der Polizei und der Untersuchungsbehörden wurden auf der gleichen Grundlage vor Gericht gestellt. Für die Ermittlung und Untersuchung von Kriegsverbrechen wurden Sonderermittlungs- und Justizorgane geschaffen bzw. verstärkt: „SMERSCH“ (SMERt’ SCHpionam, von russ. „Tod den Spionen“) und Feldkriegsgerichte. Straftaten dieser Kategorie wurden außerdem von außergerichtlichen Organen untersucht, denen spezielle gerichtliche Funktionen übertragen wurden (Sonderbehörden beim NKVD/MVD; NKGB/MGB der UdSSR u. a.). Über die Tätigkeit der Feldkriegsgerichte ist wenig bekannt. Allerdings existierten diese Gerichte bei den Divisionen und Korps der Roten Armee zwischen 1943 und 1945 nicht nur auf sowjetischem Territorium, sondern auch in Deutschland. Die Feldkriegsgerichte bestanden aus dem Vorsitzenden des Militärtribunals der jeweiligen Division (Gerichtsvorstand) und den Leitern der politischen und der Sonderabteilungen (Mitglieder des Gerichts), unter verbindlicher Teilnahme des Militärstaatsanwaltes am Verfahren. Die Urteile mussten durch den Divisionskommandeur bestätigt werden und wurden unmittelbar im Anschluss und öffentlich vollstreckt. Die Gerichtsordnung der Feldkriegsgerichte wurde durch eine Anordnung der Hauptverwaltung der Militärtribunale vom 18. Mai 1943 „Über die Verfahrensordnung der Feldkriegsgerichte bei Divisionen der Armee im Felde“ reglementiert. Die Gerichte nahmen die Arbeit sofort nach der Befreiung des besetzten Territoriums auf und waren damit die ersten, welche die verübten Verbrechen gerichtlich ahndeten. Feldkriegsgerichte existierten auch innerhalb der Truppen, die Weißrussland befreiten. Aus dem Vernehmungsprotokoll vom 20./21. Januar 1944 eines bei Homel’ gefangengenommenen Feldwebels der deutschen Armee, Heinrich Hupe, ist ersichtlich, dass die Vernehmung durch den Hauptuntersuchungsführer der Verwaltung der Spionageabwehr „SMERSCH“ der 1. Weißrussischen Front, Hauptmann Gricaev, durchgeführt wurde. Der Kriegsgefangene erklärte, dass er seit Kriegsbeginn bis zur Gefangenschaft verschiedene Dienstgrade im 299. Pionierbataillon der 299. Infanteriedivision der 35. Armee innegehabt hatte. Seit Oktober 1943 war er stellvertretender Kompaniechef für technische Fragen der 3. Kompanie. Zu seinen Aufgaben gehörte die Planung der Verminung von Straßen, Brücken und anderen Objekten. Am Vorabend des Rückzugs aus Homel’ sprengte seine Kompanie ungefähr 25 große steinerne Gebäude und verbrannte etwa 80 weitere. Am 14. Oktober des Vorjahres hatte die Kompanie 93 Zivilisten erschossen. Dafür wurde „der Angeklagte Heinrich Hupe vom Feldkriegsgericht zum Tod durch Erhängen verurteilt“, wie aus der zu Ende der Vernehmung erstellten Bescheinigung folgt.5 Dieses Dokument zeigt exemplarisch die gängige Verfahrensordnung bei der Tätigkeit von Feldkriegsgerichten: Verhör, Verurteilung und sofortige Vollstrekkung. 5
Anatolij V. Šarkov, Voennoplennye i internirovannye na territorii Belarusi: Rol’ organov vnutrennich del v ich soderžanii i trudovom ispol’zovanii (1944–1951) [Kriegsgefangene und Internierte auf dem Territorium Weißrusslands: Die Rolle der Organe für Innere Angelegenheiten für ihren Unterhalt und Arbeitseinsatz (1944–1951)], Minsk 1997, S. 129–130.
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Es ist zu betonen, dass der Einsatz von Feldkriegsgerichten auf dem Territorium Weißrusslands im Allgemeinen nicht sehr verbreitet war, weil in der Zeit des raschen Vormarsches alle Divisionen oder Korps fast ständig in Bewegung waren. Man konnte unter diesen Bedingungen im Prinzip nur Fälle bearbeiten, bei denen Mitglieder von Strafkommandos und ihre Komplizen sozusagen auf frischer Tat ertappt wurden und wenn deren Verbrechen so offensichtlich waren, dass sie keiner speziellen Untersuchung bedurften. In den übrigen Fällen wurden verdächtigte Straftäter an Militärtribunale übergeben. Die Prozessordnung der Militärtribunale wurde durch die „Verordnung über Militärtribunale in Gebieten unter Kriegsrecht und in Kriegsgebieten“ reglementiert, die vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 22. Juni 1941 genehmigt worden war.6 Dieses Dokument regelte auch die Tätigkeit der Feldkriegsgerichte, die sich nach der Bekanntgabe der Mobilisierung und durch die Erweiterung des Netzes der Tribunale der NKVD-Truppen deutlich vermehrt hatten. Unter den vielen Ausnahmen von den allgemeinen Regeln eines Gerichtsverfahrens, welche die Verordnung schuf, sind z. B. die Anhörung, die spätestens 24 Stunden nach Einreichung der Anklageakte durchgeführt werden sollte, sowie die Abschaffung des Berufungsrechts zu nennen. Das erste gerichtliche Verfahren der UdSSR, in dem die Gräueltaten der nationalsozialistischen Besatzer und ihrer Komplizen untersucht wurden, war ein vor einem Militärtribunal in Krasnodar geführter Prozess. Er fand im Juli 1943 statt und wurde öffentlich verhandelt. Ähnliche Prozesse fanden im August 1943 in Krasnodon sowie im Dezember 1943 in Charkiv und Smolensk statt. Die ersten von Militärtribunalen noch vor Kriegsende geführten Prozesse stießen weltweit auf große Resonanz. Dies waren präzedenzlose Fälle von Gerichtsverfahren, nicht nur gegen Kollaborateure – also Landesverräter – sondern auch gegen Nazi-Täter, die wegen schwerer Kriegsverbrechen verurteilt wurden. Später fanden öffentliche Prozesse gegen die Beteiligten an nationalsozialistischen Gräueltaten auch in Kiew, Riga, Leningrad, Brjansk, Velikie Luki und in einigen anderen Regionen statt. An die Militärtribunale wurden ehemalige Wehrmachtsangehörige und Mitarbeiter der deutschen Straforgane übergeben. Ähnliche Prozesse führte man auch auf dem Territorium Weißrusslands durch. Der erste Prozess dieser Art fand vom 15. bis 29. Januar 1946 in der Hauptstadt statt. Vor dem Gericht des Militärtribunals im Militärbezirk Minsk wurden 18 ehemalige Angehörige der Wehrmacht und der Polizei in Sachen Gräueltaten der nationalsozialistischen Eindringlinge in der Weißrussischen SSR angeklagt. Unter ihnen waren Johann Richert, Generalleutnant, ehemaliger Kommandeur der 286. Sicherungsdivision und später der 35. Infanteriedivision; Eberhard Herf, Generalmajor der Polizei und SS-Brigadeführer, 1943/44 Befehlshaber der Ordnungspolizei in Minsk; Gottfried Heinrich von Erdmannsdorf, Generalmajor, ehemaliger Kommandant von Mahilëŭ und des Festungsrayons Mahilëŭ; Georg Weißig, Oberstleut6
Stepan P. Margunskij u. a., Istorija gosudarstva i prava Belorusskoj SSR (1937–1975 gg.) [Geschichte des Staates und des Rechts der Belarussischen SSR (1937–1975)], Bd. 2, Moskau 1975, S. 255.
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nant der Polizei, 1943/44 Kommandeur des 26. Polizeiregiments; Ernst Falk, Polizeihauptmann, ehemaliger Kommandeur des 2. Bataillons des 26. Polizeiregiments; Reinhard Moll, Major, 1942–1944 Ortskommandant in Babrujsk und Palici; Carl Languth, Gestapo-Beamter und ehemaliger stellvertretender Kommandant des Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Babrujsk; Hans Hermann Koch, SS-Obersturmführer, Offizier in einem Sonderkommando der Einsatzgruppe B und Sicherheitspolizeichef von Vorša, Barysaŭ und Slonim, ehemaliger Gestapo-Kommissar; Rolf Burchard, ehemaliger Sonderführer und Dolmetscher an der Ortskommandantur in Babrujsk; Josef Bittner, Leutnant, ehemaliger Sonderführer und Chef der Landwirtschaftsabteilung der Kommandantur in Babrujsk; Bruno Götze, ehemaliger Sonderoffizier und Stellvertretender Ortskommandant in Babrujsk; Paul Eik, Hauptmann, ehemaliger Sonderoffizier der Kommandantur in Vorša; Bruno Mittmann, ehemaliger Wachtmeister der Gendarmerie in Minsk; Franz Hess, ehemaliger Unterscharführer des 32. Sonderkommandos der SS und des SD in Minsk; Heinz Fischer, ehemaliger Obergefreiter der 8. SS-Kavalleriedivision; Hans Josef Höchtl, ehemaliger Soldat des 718. Feldausbildungsregiments; Alois Hetterich, ehemaliger Soldat der 12. Kompanie des 395. Regiments der 327. Infanteriedivision; sowie Albert Rodenbusch, ehemaliger Soldat des 3. Bataillons des 70. Panzerregiments der 20. Panzerdivision.7 Diese Personen wurden der Organisation und unmittelbaren Beteiligung an der Massenvernichtung von Sowjetbürgern, ihrer Zwangsdeportation nach Deutschland, der Zerstörung von Städten, Dörfern, Industriebetrieben und anderer Gräueltaten beschuldigt. Koch und Hess wurden außerdem wegen der Ermordung psychisch kranker Menschen in den psychiatrischen Krankenhäusern in Orël und Minsk angeklagt. Da diesem Prozess eine besondere politische Bedeutung beigemessen wurde, gingen ihm große organisatorische Vorarbeiten voraus, welche die Organe für innere Angelegenheiten und Staatssicherheit der Republik leisteten. Sie mussten ein hohes Niveau der Untersuchungsvorbereitung und des gerichtlichen Verfahrens selbst gewährleisten. Gerichtsvorstand war Generalmajor der Justiz Kedrov, Vorsitzender des Militärtribunals des Militärbezirks in Baranavičy; staatlicher Ankläger war Generalmajor der Justiz Jačenin, Militärstaatsanwalt der Besatzungsmächte in Deutschland. Zur Unterstützung bei der Untersuchung sowie der Organisation, Vorbereitung und Durchführung des gerichtlichen Verfahrens wurde aus Moskau eine Gruppe von vier operativen Mitarbeitern des NKVD, des NKGB der UdSSR und der Hauptverwaltung für Spionageabwehr „SMERSCH“ unter der Leitung des Obersts der Staatssicherheit, Ljutyj, nach Minsk geschickt.8 7
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Sudebnyj process po delu o zlodejanijach soveršennych nemecko-fašistskimi zachvatčikami v Belorusskoj SSR (15–29 janvarja 1946 goda), Minsk 1947, S. 3 f. Einige hier angeführte Namen und Positionen wurden nach den Angaben bei Zeidler, Minsker Kriegsverbrecherprozess (Anm. 1), und Karner, Militär- und Strafgerichte (Anm. 1), durch die Herausgeber vervollständigt. Archiv Ministerstva vnutrennich del Respubliki Belarus’ [Archiv des Innenministeriums der Republik Belarus’] (nachfolgend AMVDRB), F. (= Fond) 45, O. (= Opis’) [Verzeichnis] 1, D. (= Delo) [Akte] 8, L. (= List) [Blatt] 6.
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Alle Angeklagten wurden ins Gefängnis №1 des NKVD nach Minsk gebracht. Die Mitarbeiter des Gefängnisses (21 Aufseher), die für die Bewachung und Betreuung der angeklagten Deutschen zuständig waren, wurden ausführlich informiert; ihre Tätigkeit wurde streng kontrolliert. Es war ihnen strikt verboten, sich mit den Gefangenen zu unterhalten oder sich im Flur über die Angeklagten auszutauschen. Zudem organisierte man eine strenge Überwachung der Angeklagten. Sie wurde von zehn geheimen Mitarbeitern des NKVD übernommen, die zusammen mit den Angeklagten in den Zellen untergebracht waren. Es handelte sich hierbei um verurteilte Sowjetbürger, die unterschiedliche Strafen für ihre Verbrechen verbüßten, Deutsch beherrschten und der geheimen Zusammenarbeit mit dem NKVD zugestimmt hatten. Diese Mitarbeiter standen in Kontakt mit Oberst Ščerbakov, der die Untersuchung in dieser Sache leitete.9 Die Aufgaben der geheimen Mitarbeiter bestanden nicht nur darin, für die Untersuchung wichtige Informationen zu sammeln, sondern auch, einen Selbstmord der Angeklagten zu verhindern. Die erhaltenen Informationen wurden systematisiert und in täglichen Agentenberichten festgehalten. Zur Bewachung der Angeklagten im Bezirkshaus der Offiziere, in dem das Verfahren stattfinden sollte, und als Geleitschutz zum Ort des Verfahrens wurde ein Bataillon von NKVD-Truppen bereitgestellt. Der Ordnungsschutz im Gebäude oblag Soldaten der Truppen des Innenministeriums, die dem Gerichtskommandanten Oberst V. N. Rejnov zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem waren Maßnahmen vorgesehen, um Reaktionen verschiedener lokaler Bevölkerungsteile sowie der Kriegsgefangenen auf das Gerichtsverfahren zu beobachten. Täglich wurden etwa 300 Menschen aus verschiedenen Regionen der Republik im Gerichtssaal erwartet, die mit Autos nach Minsk gebracht wurden.10 Die Organisatoren des Prozesses schufen einen effizienten Untersuchungsapparat sowie gute Bedingungen für dessen Tätigkeit. Die vorbereitenden Aufgaben der Ankläger bestanden in der Zusammenstellung und Ergänzung sämtlichen dokumentarischen Beweismaterials für die Anklage und in der Vernehmung der Angeklagten und Zeugen im Vorfeld des Prozesses. Das umfangreiche Beweismaterial, das die Verbrechen der nationalsozialistischen Eindringlinge auf dem Territorium Weißrusslands beweisen sollte, wurde von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Republik bereitgestellt. Zur Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der nationalsozialistischen Besatzer und ihrer Helfershelfer hatte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 2. November 1942 die Außerordentliche Staatliche Kommission der UdSSR sowie republikanische, territoriale, regionale und Gebiets- und Rayonkommissionen eingesetzt. In Weißrussland stellte sich der Erste Sekretär des ZK der KP(b)B P. K. Panamarėnka an die Spitze einer solchen Kommission, die Anfang 1944 gegründet wurde. Gebietskommissionen zur Unterstützung gab es in Baranavičy, Babrujsk, Brėst, Vicebsk, Homel’, Hrodna, Minsk, Mahilëŭ, Maladzečna, Pinsk, Palesse und Polack. Sie sammelten Beweise, insbesondere 9 10
Ebd., F. 45, O. 1, D. 8, L. 31. Ebd., F. 45, O. 1, D. 8, L. 36.
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Zeugenaussagen, und nahmen Protokolle über die Gräueltaten und den angerichteten Schaden auf. Sie hatten das Recht, die zuständigen Behörden anzuweisen, Opfer zu befragen und Zeugenaussagen sowie andere Beweise für Gewalt, Gräueltaten, Massenvernichtungen, Plünderungen, Zerstörungen und andere verbrecherische Aktivitäten der Besatzer und Kollaborateure zu sammeln. Akten, Berichte und andere Materialien der Außerordentlichen Staatlichen Kommission wurden in den Nürnberger Prozessen sowie in den Prozessen in Minsk, Homel’, Vicebsk, Babrujsk und anderen Städten verwendet. Sie dienten den Justizbehörden als unbestrittene Beweise für die Schuld deutscher Kriegsverbrecher. Die Vorverhöre der angeklagten Kriegsgefangenen begannen noch vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens. Die Verhöre wurden gemäß der sowjetischen Prozessgesetzgebung mit Hilfe eines Dolmetschers durchgeführt, die Ergebnisse in Protokollen festgehalten. Das durch den Angeklagten unterschriebene Vernehmungsprotokoll wurde zum offiziellen Dokument, das gerichtliche Beweiskraft hatte. Für die Sammlung und Dokumentation der Aussagen und für die Suche nach Zeugen und Dokumenten, die bei Gericht vorgelegt werden konnten, wurde ein erheblicher Aufwand betrieben. Die gesammelten Materialien, die die Schuld der Angeklagten bewiesen, wurden nach bestimmten Verbrechenskategorien systematisiert: Ermordung sowjetischer Zivilisten, Ermordung und Misshandlungen sowjetischer Kriegsgefangener, Massendeportation der Zivilbevölkerung nach Deutschland, Zerstörung von Städten und Dörfern und Plünderungen der Zivilbevölkerung. Die gesammelten Beweise wurden auch für jeden einzelnen Angeklagten systematisiert. Auf Grundlage der Untersuchungsmaterialien und Akten der Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Untersuchung der Gräueltaten der deutschfaschistischen Eindringlinge in der Weißrussischen SSR wurden dann die Anklageschriften vorbereitet. Kopien dieser Schriften überreichte man den Angeklagten in der vorbereitenden Sitzung des Militärtribunals des Minsker Militärbezirks am 13. Januar 1946 zur Kenntnisnahme. Nach dem damaligen sowjetischen Prozessrecht gab es folgende Arten von Beweisen: Zeugenaussagen (mündliche und schriftliche), Aussagen und Erläuterungen der Angeklagten (mündliche und schriftliche), Dokumente und Sachbeweise. In Bezug auf die Vernichtung psychisch kranker Menschen sind die Anklageschriften gegen die Angeklagten Koch und Hess interessant. So tötete der angeklagte Gestapo-Kommissar Hans Hermann Koch als Chef der Sicherheitspolizei in Orël, Vorša, Barysaŭ und Slonim sowjetische Zivilisten in so genannten Gaswagen. Im Verhör vom 27. Dezember 1945 sagte er Folgendes aus: „Im Winter 1942/1943 tötete ich auf Befehl von Major Blum im Gaswagen bis zu 30 Sowjetbürger, die aus dem Krankenhaus gebracht worden waren. Im Mai 1943 wurden von mir auf Befehl von Oberstleutnant Rabe wieder bis zu 30 sowjetische Bürger ermordet.“ Während seiner Arbeit in Orël und Vorša beteiligte sich Koch an der Erschießung von 39 sowjetischen Bürgern, darunter acht Kindern, und der Ermordung einer großen Zahl von Zivilisten in Gaswagen. Als Chef der Sicherheitspolizei des Sonderkommandos „7-B“ in Orša leitete Koch das Lager Arėchaǔsk, in dem sich bis zu 3.000 sowjetische Bürger befanden. Die Häftlinge dieses Lagers litten unter unerträgli-
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chen Lebensbedingungen, sie wurden massenhaft erschossen und brutal misshandelt. Aufgrund von Nahrungsmangel und harter Arbeit herrschte im Lager eine hohe Sterblichkeit. Im Oktober 1943 schickte Koch 700 Sowjetbürger aus diesem Lager nach Lublin (Majdanek) in den Tod. In Barysaŭ war Koch für die Verhaftung von 250 Zivilisten verantwortlich, von denen 30 Menschen erschossen wurden, während die anderen in Lager geschickt wurden. In Slonim ließ Koch 1944 wiederum 80 Weißrussen verhaften, die in Lager deportiert wurden. 1944 wurden auf seinen Befehl hin vier Zivilisten erschossen, darunter eine Frau und ein Kind. Die Untersuchung ergab auch, dass Ende 1943 in Vorša und Barysaŭ auf Befehl Kochs mehr als 3.000 Leichen erschossener und vergaster Zivilisten verbrannt wurden.11 Der angeklagte Unteroffizier der SS- und SD-Einheiten Franz Karl Hess, der im Sonderkommando № 8 und in der Sicherheitspolizei in Minsk und später in Vilejka gedient hatte, nahm mehrmals an Erschießungen und Misshandlungen von Sowjetbürgern teil. Anfang Dezember 1941 beteiligte er sich als Angehöriger eines SS-Kommandos an der Erschießung von 100 Zivilisten, die in der psychiatrischen Klinik behandelt wurden. Anfang Dezember 1941 war Hess an der Erschießung von 250 Gefangenen des Gefängnisses in Minsk beteiligt, Mitte Dezember 1941 an der Ermordung von 2.000 sowjetischen Zivilisten in Minsk, darunter ältere Menschen, Frauen und Kinder. Im Frühjahr 1942 nahm er an der Erschießung von 150 Sowjetbürgern im Städtchen Ilija, Gebiet Maladzečna teil, wo er persönlich mehr als 60 Menschen erschoss. Nach der Hinrichtung wurden die Leichen mit Benzin übergossen und verbrannt. Im Sommer 1942 beteiligte sich Hess an der Erschießung von etwa 2.000 sowjetischen Bürgern jüdischer Nationalität, darunter ältere Menschen, Frauen und Kinder aus dem Ghetto in Valožyn. Hess selbst erschoss dabei 120 Personen. Ende Juni 1942 war der Angeklagte Hess als Mitglied der Kommandos der Sicherheitspolizei und des SD auch an der Massenvergasung jüdischer Bürger des Minsker Ghettos beteiligt. Gemäß den Normen der sowjetischen Strafprozessgesetzgebung wurde den Angeklagten das Recht auf Verteidigung gewährt, die von acht Anwälten übernommen wurde. Diese wurden zuvor sorgfältig ausgewählt und geprüft. Bemerkenswerterweise äußerte der Angeklagte Franz Hess den Wunsch, sich selbst zu verteidigen. Der Prozess begann am 15. Januar 1946. Vorsitzender war der Generalmajor der Justiz Kedrov, die Mitglieder des Gerichts waren die Obersten Sacharov und Vinogradov, Ersatzmitglied war Oberstleutnant der Justiz, Kapustin, Gerichtssekretär Justizmajor Ivanov. Nach dem Verlesen der Anklageschriften zeigten sich alle Angeklagten geständig, außer Josef Bittner, der sich nur zum Teil für schuldig bekannte. Auch die Angeklagten Koch und Hess stritten ihre Schuld nicht ab. So sagte der Angeklagte Koch während der Vormittagssitzung des Tribunals am 18. Januar 1946 in Bezug auf die Vernichtung von psychisch kranken Menschen Folgendes aus: Staatsanwalt: „Sagen Sie, wozu wurden psychisch kranke Menschen vernichtet?“ – Koch: „Wir brauchten die Gebäude, in denen sich diese Patienten befanden.“ – Staatsanwalt: „Deswegen wurden kranke sowjetische Menschen vernichtet?“ – Koch: „Ja.“ – Staatsanwalt: „Wie viele solcher Menschen wurden getötet und auf welche Weise?“ – Koch: „In Orël wurden 100 Men11
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schen getötet. Einige von ihnen wurden erschossen. 20 Personen, die sich selbst nicht bewegen konnten, wurden in Gaswagen vernichtet.“
Ein ähnlicher Dialog zwischen den Mitgliedern des Tribunals und dem Angeklagten Hess fand während der Abendsitzung am 19. Januar 1946 statt: Vorsitzender: „Angeklagter Hess, bestätigen Sie Ihre Aussagen aus der Voruntersuchung?“ – Hess: „Ja, ich bestätige sie voll und ganz.“ – Vorsitzender: „Genosse Staatsanwalt, haben Sie Fragen an den Angeklagten?“ – Staatsanwalt: „Ja.“ – Staatsanwalt (zu Hess): „Erzählen Sie über Ihre Beteiligung an der Vernichtung der Patienten im psychiatrischen Krankenhaus.“ – Hess: „Am 6. und 7. Dezember kamen wir in dieses Krankenhaus mit drei Lastwagen. Es gab auch ein paar PKW. Wir verluden ungefähr 100 psychisch kranke Patienten und fuhren sie außerhalb, weg von Minsk, wo sie von uns erschossen wurden.“ – Staatsanwalt: „Wessen Befehl war es, diese Patienten zu erschießen?“ – Hess: „Dies war ein Befehl von Ehrlinger, dem unser Kommando unterstellt war.“ – Staatsanwalt: „Waren Sie ihm direkt unterstellt?“ – Hess: „Wir waren ihm untergeordnet. Aber unser Kommando war auch dem Untersturmführer Burgdorf untergeordnet.“ – Staatsanwalt: „Wohin, in welche Richtung haben Sie die Kranken weggefahren?“ – Hess: „Ich kann es nicht genau sagen, aber ich glaube, es war Richtung Moskau, 30 Kilometer von Minsk entfernt.“ – Staatsanwalt: „Wo, in welchem Ort wurden sie erschossen?“ – Hess: „Diese Menschen wurden am Rande eines Waldes erschossen, in der Nähe eines Dorfes.“ – Staatsanwalt: „Wo wurden die Leichen der Erschossenen begraben?“ – Hess: „Da, wohin diese Menschen abtransportiert wurden, wurden sechs bis acht Gräben vorbereitet.“ – Staatsanwalt:“ Wie haben Sie sich konkret an der Erschießung beteiligt?“ – Hess: „Ich stand in einiger Entfernung vom Ort der Erschießung und beobachtete.“ – Staatsanwalt: „Wozu hatten Sie diese Beobachtungsstelle?“ – Hess: „Meine Aufgabe war es, zu verhindern, dass Menschen kommen und unsere Arbeit beobachten.“ – Staatsanwalt: „Und auch um die zur Erschießung gebrachten Menschen zu bewachen und zu verhindern, dass sie flüchten?“ – Hess: „Ja, das auch.“ – Staatsanwalt: „Glauben Sie, dass die Patienten weggelaufen wären, wenn es die Wache nicht gegeben hätte?“ – Hess: „Diese Menschen konnten nicht weglaufen.“ – Staatsanwalt: „Warum?“ – Hess: „Weil sie schwer krank waren.“ – Staatsanwalt: „Betrachten Sie sich selbst als aktiv Beteiligten an der Erschießung dieser 100 Patienten?“ – Hess: „Ja, ich war daran aktiv beteiligt.“ – Staatsanwalt: „[…] Für welche Verbrechen wurden diese Patienten erschossen, was haben sie Schlimmes für die deutsche Armee gemacht?“ – Hess: „Sie haben nichts gemacht.“ – Staatsanwalt: „Warum wurden sie dann erschossen, für welche Verbrechen?“ – Hess: „Ich weiß es nicht.“ – Staatsanwalt: „Aber gab es in Ihrem Kommando, das am Erschießen beteiligt war, Gespräche über den Grund der Erschießung?“ Hess: „Man sagte, dies seien unwürdige Menschen.“ – Staatsanwalt: „Warum unwürdige?“ – Hess: „Ich weiß es nicht.“
Während des Prozesses vom 15. bis zum 29. Januar 1946 führte das Tribunal 28 öffentliche Sitzungen durch, in denen es 57 Zeugen anhörte, eine Vielzahl von schriftlichen Aussagen und anderen Dokumenten untersuchte und als zusätzlichen Sachbeweis den Dokumentarfilm „Über die Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eindringlinge auf dem Territorium der Weißrussischen SSR“ zeigte. Die Zeugin Olga I. Ol’ševskaja, eine 1908 in Homel’ geborene Psychiaterin, sagte in der Morgensitzung am 20. Januar 1946 in Bezug auf die Vernichtung psychisch kranker Menschen Folgendes aus: Ol’ševskaja: „Die Ereignisse, über die ich berichten werde, fanden im November und Dezember 1941 statt, in Minsk im 2. Klinischen Krankenhaus, wo ich als Ärztin tätig war. Im Herbst 1941 gab es in der psychiatrischen Abteilung des 2. Krankenhauses ungefähr 400 Patienten, die aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Hause entlassen werden konnten. Ungefähr im November haben die deutschen Militärbehörden angeordnet, die Patienten mit chronischen Krankheiten zum Abtransport nach Mahilëŭ und in die Arbeitskolonie Navinki vorzubereiten.
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Anatolij V. Šarkov Einige Tage später wurde die Abteilung, in der sich diese Patienten befanden, von der Polizei umzingelt, und es begann die Verladung der Patienten in Fahrzeuge mit verdeckter Ladefläche. Die Verladung der Patienten verlief brutal, unter Androhung des Gebrauchs von Waffen und Gummiknüppeln sowohl gegen das medizinische Personal als auch gegen die Patienten. Insgesamt wurden ungefähr 300 Menschen weggefahren, darunter alle jüdischen Patienten, unabhängig vom Gesundheitszustand. Noch am selben Abend erfuhr ich von Leuten, die die Fahrzeuge begleitet hatten (obwohl ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten worden war, darüber zu reden), dass alle Patienten auf der Bahnstation Kalodziščy durch Sprengstoff getötet worden waren. Anfang Dezember 1941 wurde die Abteilung erneut von einem Polizeiaufgebot umzingelt und es begann die Verladung weiterer Patienten. Ungefähr 100 Patienten wurden dabei erfasst. Über das weitere Schicksal dieser Patienten ist mir nichts bekannt, da Versuche, etwas darüber zu erfahren, unter Todesstrafe gestellt wurden. Aber ausgehend davon, dass die Patienten im Dezember nur in Unterwäsche aus der Abteilung weggeführt und in nicht geheizte Autos verladen wurden, war klar, dass diese Patienten zur Ermordung weggebracht wurden. So wurden im November und Dezember 1941 aus dem 2. Klinischen Krankenhaus fast 400 unschuldige, hilflose und schwerkranke Menschen weggefahren und ermordet.“ Vorsitzender: „Hat der Staatsanwalt Fragen?“ – Staatsanwalt: „Ja. Wurden die Patienten erschossen oder durch Gas vergiftet?“ – Ol’ševskaja: „Anhand der Informationen, die ich vom Personal habe, das die Fahrzeuge begleitete, wurden sie durch Granaten gesprengt. Man sagte, es seien große Gruben in Form von Bunkern gebaut worden, die Patienten wurden nebeneinander gesetzt. Dann fuhren die Autos weg und man konnte starke Explosionen hören und danach Schreie und Stöhnen.“ Vorsitzender: „Hat Hess oder jemand von den Angeklagten Fragen an die Zeugin?“ – Hess: „Darf ich?“ – Vorsitzender: „Ja, bitte.“ – Hess: „100 Patienten wurden erschossen, nicht durch Sprengstoff getötet.“ – Vorsitzender: „Warum gab es dann eine Explosion?“ – Hess: „Ich weiß es nicht.“ – Vorsitzender: „Waren Sie dort?“ – Hess: „Ich war bei den 100 Patienten, die erschossen wurden.“ – Vorsitzender: „Die Zeugin spricht von einem anderen Fall.“ – Hess: „Ja.“ – Ol’ševskaja: „Ich spreche über die Patienten, die beim ersten Mal weggefahren und durch Sprengung getötet wurden. Über das Schicksal der 100 anderen weiß ich nichts.“12
In der Abendsitzung des Gerichts vom 28. Januar und in der Morgensitzung des darauffolgenden Tages wurden die letzten Worte der Angeklagten angehört. Dabei ergänzten sie ihre Aussagen aus Voruntersuchung und Gerichtsverhandlung und baten das Gericht um Strafmilderung aufgrund ihrer Reue. Nur der Angeklagte Koch sagte dem Gericht im Gegensatz zu den anderen, dass er Nationalsozialist sei und auch jetzt bleibe, deswegen solle das Gericht ihn zum Tode durch Erschießen verurteilen.13 Während des gerichtlichen Verfahrens wurde das tragische Ausmaß der unmenschlichen Taten der Besatzer in Weißrussland deutlich. Viele Angehörige der Polizei und des SD wurden schrecklichster Verbrechen überführt. Ihre Beteiligung am Terror, an der Gewalt und den unmenschlichen Morden rief sogar bei den Angeklagten selbst Empörung hervor. So hob der Gefangene Rodenbusch beim Verlassen des Gerichtssaals einmal hervor, dass Koch die größte Schuld an der Vernichtung des russischen Volkes trage. Ihre Verachtung gegenüber diesen Mördern brachten auch andere Angeklagte zum Ausdruck. So sagte Moll über Koch, dass er 12 13
Sudebnyj process (Anm. 7), S. 176–188, 193–195. AMVDRB, F. 45, O. 1, D. 8, L. 111.
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ein „Unmensch“ sei: „Für all das, was Koch getan hat, muss er getötet werden. Wenn das Gericht Koch zum Tode durch Erschießen verurteilt, wird dies noch eine zu milde Strafe für ihn sein, aber wenn er ins Lager geschickt wird, wird er da ermordet, denn ich werde als erster über seine Gräueltaten erzählen“.14 Die Schuld der Angeklagten in allen Anklagepunkten wurde bewiesen. Das Gericht erkannte das blinde Ausführen von Befehlen des Kommandos weder als Strafmilderungs- noch als Schuldausschließungsgrund an. Das Militärtribunal erklärte alle schuldig gemäß Art. 1 des oben zitierten Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943 „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter“ und verurteilte vierzehn Angeklagte zum Tode durch den Strang. Bruno Götze und Hans Josef Höchtl wurden zu je 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, Alois Hetterich und Albert Rodenbusch zu je 15 Jahren.15 Für einige Angeklagte, vor allem für Offiziere der Polizei, war eine solch harte Strafe keine Überraschung. Angesichts der Schwere der Verbrechen waren sie sicher, dass sie zum Tode verurteilt würden. Die Angeklagten aus den Mannschaften hofften allerdings auf ein günstigeres Ergebnis. Ihrer Meinung nach musste das Gericht berücksichtigen, dass sie nur Befehle ausgeführt hatten. Einige Angeklagte blieben indifferent gegenüber ihrem Schicksal. Nach der Urteilsverkündung und bis zur Hinrichtung befanden sich die Angeklagten in speziell ausgestatteten Räumen des Hauses der Offiziere. Am 30. Januar 1946 um 15 Uhr wurde das Urteil über 14 Kriegsverbrecher öffentlich, in Anwesenheit von etwa 200.000 Menschen, an der Minsker Rennbahn vollstreckt. Die zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten wurden in spezielle Haftanstalten außerhalb der Republik überführt. Wie die Medien damals berichteten, habe das weißrussische Volk die Übergabe der nationalsozialistischen Verbrecher an das Gericht sowie die harten Strafen für ihre verbrecherischen Taten mit tiefer Befriedigung wahrgenommen. Eine Reaktion auf den Prozess gab es auch von Seiten der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, die sich in NKVD-Lagern für Kriegsgefangene befanden. Der Großteil der Mannschaften sprach sich im Hinblick auf die Gerechtigkeit der Prozesse dafür aus, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, einfache Soldaten allerdings zu verschonen, da sie lediglich Befehle ihrer Kommandeure ausgeführt hätten. Einige Kriegsgefangene, vor allem ehemalige Offiziere, missbilligten die Durchführung solcher Prozesse nicht nur in Minsk, sondern auch in Brjansk und Smolensk. Es wurde etwa die Meinung geäußert, dass diejenigen, die jetzt vor Gericht stünden, keine Kriegsverbrecher seien, sie hätten, wie auch russische Soldaten, nur ehrlich ihre Pflicht erfüllt. Nach der Haager Konvention von 1907 habe man kein Recht, über sie Gericht zu halten, denn dies widerspreche dem Völkerrecht. Auch dürfe man Soldaten nicht erhängen. Wenn sie zum Tode verurteilt würden, sollten sie erschossen werden.16 14 15 16
Anatolij V. Šarkov, Archipelag GUPVI: Voennoplennye i internirovannye na territorii Belarusi: 1944–1951 gg. [Archipel GUPVI: Kriegsgefangene und Internierte auf dem Territorium Weißrusslands: 1944–1951], Minsk 2003, S. 133. Sudebnyj process (Anm. 7), S. 471. AMVDRB, F. 45, O. 1, D. 8, L. 142.
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Der Prozess in Minsk markierte den Beginn einer gerichtlichen Praxis in der Anwendung der Strafgesetzgebung gegen Personen, die sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten. Öffentliche Prozesse gegen Kriegsgefangene, in denen Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Republik aufgedeckt wurden, fanden in Babrujsk, Vicebsk und Homel’ statt. In Babrujsk erschienen 21 Angeklagte vor Gericht, in Vicebsk zehn, in Homel’ 16; insgesamt also 47 Angeklagte. Unter ihnen waren elf Generäle, zwei Oberste, fünf Oberstleutnants, vier Majore, sechs Hauptleute, sechs Oberleutnants, ein Leutnant, drei Unteroffiziere, fünf Obergefreite, ein Gefreiter und drei Feldwebel der ehemaligen deutschen Armee.17 Alle öffentlichen Prozesse in Babrujsk, Vicebsk und Homel’ fanden in Anwesenheit einer großen Zahl von Menschen statt, die eine harte Strafe für die Täter forderten. Im Laufe der Verhandlungen wurde die Schuld aller angeklagten Personen, gemäß Art. 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943, festgestellt. Die Strafen waren hart. Da am 26. Mai 1947 die Todesstrafe abgeschafft worden war, wurden alle 47 Personen, ehemalige Angehörige der deutschen Armee und der Straforgane, von den Militärgerichten zu 25 Jahren Haft mit Verbüßung der Strafe in speziellen Lagern des Innenministeriums der UdSSR verurteilt.18 Es ist zu betonen, dass keiner der Angeklagten in dieser Sache auch der Vernichtung von psychisch kranken Menschen beschuldigt wurde. Neben den öffentlichen Prozessen gab es in Weißrussland eine Reihe von geschlossenen Gerichtsverfahren gegen Kriegsgefangene, die für begangene Verbrechen während des Krieges und während des Aufenthalts in Lagern vor Gericht kamen. Über die Tätigkeit dieser Gerichte und über diese Prozesse gibt es fast keinerlei Informationen in der historischen Literatur und anderen Quellen. Diese Gerichte waren bis 1951 auf dem Territorium der Republik tätig und befassten sich mit der gerichtlichen Verfolgung von Personen, die u. a. der Vernichtung von psychisch kranken Menschen beschuldigt wurden. Die Entscheidung über die Einführung nicht-öffentlicher Gerichte wurde im Oktober 1947 getroffen. Die Verfügung № 739/18/15/331 des Innenministeriums, des Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft der UdSSR vom 24. November 1947 mit dem Titel „Über die Weitergabe der abgeschlossenen Untersuchungsakten für Kriegsgefangene, die an Gräueltaten in den zeitweise besetzten Gebieten der UdSSR beteiligt waren, zur Verhandlung an geschlossene Gerichte an den jeweiligen Haftorten“ schrieb den Innenministern der Unionsrepubliken und den Vorsitzenden der Militärtribunale der Truppen des Innenministeriums Folgendes vor: Abgeschlossene Untersuchungsakten ehemaliger Militärangehöriger feindlicher Armeen, die beschuldigt wurden, Gräueltaten in den sowjetischen Gebieten begangen zu haben, und über die Berichte an das Innenministerium der UdSSR eingereicht worden waren, waren über die Militärstaatsanwälte an die Militärtribunale der Truppen des Innenministeriums am Haftort der Verbrecher weiterzugeben. Die anschließenden Verhandlungen sollten in Form geschlossener Gerichtsprozesse 17 18
AMVDRB, F. 45, O. 1, D. 19, L. 64. AMVDRB, F. 45, O. 1, D. 19, L. 20–21.
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durchgeführt werden. Dabei waren die Regelungen der Strafprozessordnung zu berücksichtigen, die Anklagen waren in Übereinstimmung mit Teil 1 des Erlasses des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 und unter Berücksichtigung des Erlasses vom 26. Mai 1947 (über die Abschaffung der Todesstrafe) zu gestalten und das Strafmaß auf 25 Jahre Zwangsarbeit im Arbeitslager festzusetzen. Alle Strafsachen waren im Dezember zu verhandeln, ohne Beteiligung der betroffenen Seiten und ohne Vorladung von Zeugen, mit Ausnahme jener Fälle, in denen sich die Zeugen unter den Kriegsgefangenen oder sowjetischen Staatsbürgern in der Unionsrepublik bzw. in dem Gebiet aufhielten, wo der Prozess stattfand. Im Gegensatz zu den öffentlichen Prozessen wurden diese geschlossenen Verfahren in einer vereinfachten Form durchgeführt. Die Verfahrensordnung der geschlossenen Prozesse wurde durch den Militärstaatsanwalt nach der Untersuchung der Ermittlungsmaterialien und der Genehmigung der Anklageakte bestimmt, was bei der Übergabe der Akten an die Gerichte (Militärtribunale) in Begleitmaterialien vermerkt wurde. Diese Verhandlungsordnung wurde bei der Vorverhandlung durch das Militärtribunal erneut geprüft, ebenso wie die Anklageschrift. Nach der Genehmigung und während der Sitzung des Militärtribunals wurden den Angeklagten Kopien dieser Anklageschriften gegen Bescheinigung überreicht. Gleichzeitig wurde ihnen erklärt, dass sie das Recht hätten, Zeugen und Experten vorladen sowie verschiedene Arten von Beweisen heranziehen zu lassen. Dabei musste im Vorfeld angegeben werden, für die Bestätigung welcher Fakten man Zeugen oder Experten vorladen wollte oder welchen Beweis man benötigte. Den Angeklagten wurde auch ihr Recht auf Verteidigung und einen Dolmetscher erklärt. Es ist jedoch hervorzuheben, dass diese Rechte, außer dem Recht auf einen Dolmetscher, einen rein formellen und deklarativen Charakter hatten und während des Verfahrens nicht berücksichtigt wurden. So wurde die inständige Bitte des Angeklagten Hans-Heinrich Sixt von Armin, Zeugen vor Gericht zu laden, die den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen bestätigen könnten, zu Unrecht abgelehnt. Ähnliches ereignete sich auch in anderen Fällen. Geschlossene Verhandlungen wurden von einem Vorsitzenden, zwei Mitgliedern des Gerichts und einem Sekretär durchgeführt. Die Verfahrensordnung sah wie folgt aus: Die Anklageakte und die Aussagen von Zeugen wurden (falls diese selbst am Prozess teilnehmen durften, hörte man ihre Aussagen an) vorgelesen, danach wurde dem Angeklagten das Wort übergeben. Danach folgte die Urteilsverkündung. Einige verurteilte Kriegsgefangene machten von ihrem Berufungsrecht Gebrauch. So gab es Fälle von Berufungen, bei denen sich die Angeklagten direkt an den Obersten Sowjet der UdSSR wandten mit der Bitte um Begnadigung. Diese Bitten wurden allerdings abgelehnt. Nach dem Inkrafttreten des Urteils wurde der verurteilte Kriegsgefangene zur Verbüßung seiner Strafe in ein Sonderlager des Innenministeriums der UdSSR verbracht. Bei der Bestimmung des Ortes der Strafverbüßung wurden alle verurteilten Kriegsverbrecher in zwei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe umfasste Kriegsgefangene, die für den Tatbestand der „Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eindringlinge auf dem Territorium der UdSSR“ verurteilt worden waren. Sie verbüßten ihre Strafe unabhängig vom Gesundheitszu-
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stand im Arbeitslager des Innenministeriums in Vorkuta. Kriegsgefangene, die anderer Verbrechen für schuldig gesprochen worden waren, bildeten die zweite Gruppe. Diejenigen, die ihrem Gesundheitszustand nach zur 1. und 2. Arbeitskategorie gehörten, wurden in Arbeitslager in Vorkuta und Noril’sk geschickt, Arbeitsunfähige in Arbeitslager in Tomsk und Ponyš. In Lagern, Arbeitsbataillonen des Innenministeriums und Sonderlazaretten führten Mitarbeiter des operativen Lagerpersonals die Ermittlungsarbeit in Bezug auf kriegsgefangene Verbrecher durch, gemäß der Direktive des NKVD der UdSSR № 84 vom 11. Mai 1945 „Zur Organisation der Agententätigkeit in Lagern, zur Ermittlung von Personen, die Gräueltaten auf dem Territorium der UdSSR begangen haben“.19 Wenn die gesammelten Materialien auf verbrecherische Handlungen eines Kriegsgefangenen deuteten, wurde gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet. Er wurde verhaftet und nach der Untersuchung dem Militärgericht übergeben. Dabei suchte man vor allem nach Personen, die aufgrund ihrer bisherigen Arbeit möglicherweise über für die Sowjetunion wichtige Informationen verfügten. Besonderen Wert wurde auf die Identifizierung von Agenten ausländischer Geheimdienste gelegt, die auf dem Territorium der UdSSR sowie in anderen europäischen Ländern arbeiteten. Ab 1946 wurde die operative Sucharbeit in Bezug auf Kriegsgefangene und Internierte immer zielgerichteter, so dass zu diesem Zeitpunkt auch das operative Personal aufgestockt wurde (von 154 Personen waren 141 fest angestellt). Die meisten operativen Mitarbeiter verfügten über eine spezielle geheimdienstliche Ausbildung. Auch hinsichtlich der Zahl der Übersetzer und Dolmetscher verbesserte sich die Situation erheblich. Von 106 Personen waren 64 vollzeitbeschäftigt. Allerdings war die Lage im Bereich der Übersetzung für ungarische Kriegsgefangene nach wie vor schlecht. Bis Mitte 1946 gab es keinen einzigen Ungarisch-Übersetzer in den Lagern. Eine Ausweitung der operativen Tätigkeiten erfolgte im Zuge der Direktive des Innenministeriums der UdSSR № 285 vom 3. Dezember 1946 „Zur Ermittlung von Kriegsverbrechern unter den kriegsgefangenen und internierten Deutschen“. Die Direktive schrieb vor, erfahrene leitende Mitarbeiter des MVD/UMVD in die Lager abzukommandieren. Sie sollten sofort damit beginnen, unter den in den Lagern, den Arbeitsbataillonen des Innenministeriums und den Sonderlazaretten inhaftierten kriegsgefangenen und internierten Deutschen jene Personen zu ermitteln, die unter die Kategorie der Kriegsverbrecher fielen. Keiner der ermittelten Verbrecher durfte aus einem Lager freigelassen und nach Hause geschickt werden, unabhängig von seinem Gesundheitszustand. Während der Untersuchungsarbeit unter den Kriegsgefangenen, die in verschiedenen Wehrmachtsdivisionen gedient hatten, ermittelten operative Mitarbeiter diejenigen Personen, die sich freiwillig an der Vernichtung der Zivilbevölkerung, darunter auch der psychisch Kranken, beteiligt hatten. So erhielt der Geheimdienst bspw. im Oktober 1949 die Information, dass sich der ehemalige SS-Scharführer Georg Max Medler während der Okkupation Weiß19
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russlands als Mitglied des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B an Gräueltaten und Verbrechen beteiligt habe. Diese Einheit organisierte die Judenvernichtung in Mahilëŭ und den Patientenmord in der lokalen Psychiatrie.20 Nach der Durchführung der notwendigen Untersuchungsarbeit kam der Internierte vor das Gericht des Militärtribunals der Truppen des Innenministeriums im Gebiet Minsk. Medler wurde angeklagt, im September 1941 mit dem Polizeikommando in Babrujsk mehr als 100 Sowjetbürger, ehemalige Angehörige der sowjetischen Armee, verhaftet und in ein Lager geschickt zu haben. Im Juli 1942 hatte Medler an einer Strafexpedition im Rayon Kryčaŭ teilgenommen, bei der die Angehörigen des Strafkommandos mehrere Dörfer niedergebrannt und das Eigentum der Bevölkerung geplündert hatten. 1943 nahm er mehrmals an Verhaftungen unter der Zivilbevölkerung von Mahilëŭ teil. Von Oktober 1943 bis Juni 1944 diente Medler beim SD in Baranavičy, wo er an der Verhaftung und Plünderung des Eigentums von bis zu 500 Zivilisten beteiligt war. Zur Ermordung psychisch kranker Menschen im psychiatrischen Krankenhaus in Mahilëŭ sagte der am Verfahren beteiligte Konstantin P. Bazylenko Folgendes aus: „1941 waren im psychiatrischen Pjačėrskaja-Republikkrankenhaus ca. 1.200 Patienten in Behandlung. Die Deutschen untersuchten kurz nach der Besetzung von Mahilëŭ das Krankenhaus und vergifteten im Endeffekt alle Patienten mit Gas. Eines der Krankenzimmer des Krankenhauses wurde isoliert, dort wurden die Patienten in Gruppen hineingetrieben. Man ließ Gas von Wagen durch eine Öffnung herein, offenbar vom Gasgenerator. Die Ermordeten sind im Wald in Pjačėrsk begraben. Im Pflegeheim in Palykavičy wurden 1941 alle Gelähmten, insgesamt ca. 40 Personen, von den Deutschen durch Giftinjektionen ermordet.“ Die Vernichtung psychisch kranker Menschen bestätigten auch andere Zeugen. Die ehemalige Krankenschwester des psychiatrischen Krankenhauses Valentina I. Mos’kina beschreibt dieses Verfahren wie folgt: „ … es war im Herbst 1941, früh am Morgen kam ein deutsches Auto, aus dem ein paar mit Maschinengewehren und -pistolen bewaffnete Soldaten und deutsche Offiziere ausstiegen, sie gingen ins Krankenhaus hinein und sagten, dass das ganze medizinische Personal da bleiben sollte. … Die Deutschen begannen, Patienten abzuholen. Sie stießen sie zu jeweils ca. 50 bis 60 Personen in einen kleinen Raum hinein, dann leiteten sie Gas ein und vergifteten sie auf diese Weise. So ging es bis zum Abend, bis alle Patienten tot waren.“ In seinen Aussagen erklärte der Zeuge Nikolaj A. Pugač, dass „ … das deutsche Kommando die Leichen ermordeter Patienten Richtung Minsk in abgedeckten Fahrzeugen wegfuhr, wo die Leichen in der Nähe der Stadt in Panzergräben geworfen wurden.“ Das Militärtribunal erklärte Medler für schuldig gemäß Teil 1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943 und nach Art. 319–320 der Strafprozessordnung der BSSR und verurteilte ihn zu 25 Jahren Haft mit der Verbüßung der Strafe in einem Arbeitslager.21
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Zum Patientenmord in Mahilëŭ siehe den Beitrag von Andrei Zamoiski in diesem Band. AMVDRB, F. 1363, O. 1, D.1660, L. 92, 99 u. 104.
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So gewährleistete die gerichtliche Praxis, die auf der sowjetischen Gesetzgebung sowie internationalen Abkommen und Vereinbarungen basierte, die Bestrafung von Kriegsverbrechen, die in den besetzten Gebieten begangen worden waren. Die Politik der UdSSR dieser Zeit gegenüber ehemaligen Soldaten und Offizieren der Wehrmacht und gegenüber den nationalsozialistischen Straforganen hatte zwei Seiten – eine sichtbare und eine verborgene. Erstere fand ihren Ausdruck in den öffentlichen Gerichtsprozessen (in Weißrussland in den Jahren 1946 bis 1947), letztere in der Strafverfolgung von Kriegsgefangenen, Vertretern des deutschen Staatsapparats und anderen Personen, die entweder als potentielle Gefahr für das sowjetische Regime erachtet oder aufgrund politischer Motive strafrechtlich verfolgt wurden. Bemerkenswert in Bezug auf die öffentlichen Gerichtsprozesse war nicht nur die politische Resonanz, die sie erzeugten, sondern auch die Tatsache, dass sie der sowjetischen Strafprozessgesetzgebung entsprachen. So wurde die Verteidigung für die Angeklagten gewährleistet, jedem Angeklagten wurden nur solche Taten angelastet, die zuvor sorgfältig nach den vorliegenden Unterlagen geprüft worden waren. Die Durchführung der Prozesse widersprach dementsprechend nicht den Normen des Völkerrechts. Bei der Tätigkeit der Feldkriegsgerichte und der nicht-öffentlichen Gerichte der Militärtribunale wurden (bei Ersteren wegen der Notwendigkeit einer schnellen Reaktion, bei Letzteren aufgrund ihres geschlossenen Charakters) diese Verfahrensgarantien kaum gewährt, was dazu führte, dass sie sich nur wenig von Organen der außergerichtlichen Repression unterschieden. Wie die Analyse der Archivdokumente zeigt (im Nationalarchiv der Republik Belarus sind 2897 Strafakten enthalten), wurden in Weißrussland für Kriegs- und andere Verbrechen während des Krieges und bis 1951 3618 Kriegsgefangene und Internierte vor Gericht gestellt. Zum größten Teil handelte es sich dabei um ehemalige deutsche Staatsangehörige (sowie insgesamt 150 Österreicher). 24 von ihnen wurden zum Tode, die anderen zu Zwangsarbeit zwischen zehn und 25 Jahren verurteilt. Bei 21 Angeklagten wurden die Strafverfahren im Laufe der Verhandlung eingestellt. In der Regel lag dies entweder an der nicht ausreichenden Beweislage für die Schuld des Angeklagten oder an dessen Tod. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Kriegsgefangenen wurde in Weißrussland nach dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 für Kriegsverbrechen gegen die Völker der UdSSR angeklagt und verurteilt. Unter ihnen waren 57 Generäle, eine beträchtliche Zahl von Offizieren und 38 Mitarbeiter des SD. Für die Vernichtung von psychisch kranken Menschen wurden nur drei Gefangene verurteilt. Für Verbrechen, die in den Kriegsgefangenenlagern begangen wurden, verurteilte man 454 Personen, darunter 322 für den Diebstahl persönlichen sowie sozialistischen Eigentums; 34 für Selbstverstümmelung und -beschädigung zum Zweck der schnellen Entlassung und Repatriierung; 14 für Verweigerung und Versäumnis der Arbeit; 10 für antisowjetische Aussagen; 25 für Propaganda und Sabotage bei der Arbeit; 10 für so genannte Schädlingstätigkeit; für revanchistische Aussagen 17, für das Verprügeln von Landsleuten 5 Personen, für die Flucht aus dem Lager 15 Personen und für andere Straftaten 12 Personen. Für die Zugehörigkeit zu Orga-
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nisationen und militärischen Einheiten, die für verbrecherisch erklärt worden waren, wurden mehr als 132 Kriegsgefangene verurteilt, weil sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit „zur Stärkung des faschistischen Regimes beigetragen haben“.22 Die Untersuchung der Strafpraxis der damaligen Zeit zeigt, dass neben der wirklich notwendigen und berechtigten Bestrafung der an Kriegsverbrechen Beteiligten, die Rechtsschutzorgane auch Verletzungen der Strafgesetzgebung zuließen. Dies kann man als Reaktion auf die Brutalität der nationalsozialistischen Okkupation erklären, sowie mit fehlender Professionalität, dem Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter und dem Wunsch, so schnell wie möglich Andersdenkende zu neutralisieren und eine Ordnung nach eigenem Muster herzustellen. Dabei muss bedacht werden, dass es unter den Bedingungen permanenten Zeitdrucks, des Mangels an qualifiziertem Personal und der erforderlichen Mittel sowie unter dem Einfluss bestimmter politischer Richtlinien unmöglich war, die erforderliche Qualität der Arbeit zu gewährleisten. So kam es auch zu Verletzungen der Normen der Strafprozessordnung. Unbestritten ist weiterhin die Tatsache, dass in der Tätigkeit der ausführenden Organe des UPVI eine Verflechtung der Exekutive mit der Untersuchungsarbeit, und damit der Judikative, zugelassen wurde. Allerdings muss unterstrichen werden, dass ungeachtet der Abscheulichkeit der verübten Verbrechen und der extremen Bedingungen des Krieges die Beschuldigten dieser Kategorie niemals außerhalb des geltenden Gesetzes gestellt wurden. Im Grunde handelten die sowjetischen Rechtsbehörden im Rahmen der damals geltenden Gesetzgebung. Die Überzeugung von einer kollektiven Verantwortung der deutschen Soldaten und Beamten für Verbrechen in den Kriegsjahren in den besetzten sowjetischen Gebieten kam auch in der Gerichtspraxis zum Tragen. Der Dienst in jenen Einheiten, die zur Liste der verbrecherischen Gruppen und Organisationen gehörten, oder aber in solchen, die durch Willkürakte gegenüber der Zivilbevölkerung oder gegenüber Kriegsgefangenen von sich reden gemacht hatten oder bei denen ein solches Vorgehen zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden musste, wurde häufig zur einzigen Grundlage für eine gerichtliche Verfolgung. Als Ergebnis dessen war das weitere Schicksal einer beträchtlichen Zahl von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und ihrer Verbündeten oft tragisch. Bei aller heutigen Kritik am sowjetischen Justizsystem, das klassen-ideologischen und politischen Zielen häufig mehr Wert beimaß als moralischen Prinzipien oder gar dem Leben nicht nur ehemaliger Feinde, sondern auch der eigenen Bürger, darf doch eines nicht vergessen werden: Der Grund dafür, dass NS-Kriegsverbrecher vor sowjetische Gerichte kamen. Übersetzung: Elizaveta Slepovitch
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Zahlen durch den Autor ermittelt, nach Dokumenten des AMVDRB, F.1363, O.1.
LET THE VICTIMS SPEAK Memories of Belarusian Roma as Sources for Holocaust Studies1 Volha Bartash In the last twenty years the National Socialist persecution of European Roma and Sinti has become a core issue of Holocaust studies. The academic discourse in the field includes a wide range of questions. Researchers extensively debate on an appropriate term for the National Socialist policy towards Roma, the number of victims, the differences in persecution of nomadic and settled Roma, etc. Nonetheless, large geographic regions where large-scale exterminations of Roma took place remain empirically under-studied. Not much is known about how Roma in the countries of the former Soviet Union experienced the National Socialist genocide; incomprehensive archival sources complicate the evaluation of the persecutions that took place.2 In this situation family memories of Roma acquire particular importance. This article intends to discuss the ways in which oral history study could contribute to the research on the National Socialist genocide of Belarusian Roma. The overarching goal is to draw the attention of the scientific community to the survivors’ reminiscences and to inspire more active research on the subject. As Stewart has rightly suggested, the opinion that Roma “forget rather than remember their history” still prevails within the scientific community.3 In spite of the growing scholarly interest in the post-Holocaust memories and identities of Roma, most authors focus on the commemorative acts of national elites, bypassing common remembering practices.4
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I am grateful to Alexander Friedman for his appropriate and helpful comments on the first draft of this paper. I also wish to thank Federico Buccellati, University of Frankfurt/M. for his corrections. Cf. discussion in Martin Holler, The National Socialist Genocide of the Roma in the German-occupied Soviet Union. Report for the Documentary and Cultural Centre of German Sinti and Roma, Heidelberg 2009, http://www.sintiundroma.de/uploads/media/martinholler.pdf (14.3.2013). Michael Stewart, Remembering without commemoration: the mnemonics and the politics of Holocaust memories among European Roma, in: Journal of the Royal Anthropological Institute (N. S.) 10 (2004), pp. 561–582, cf. p. 561. Cf. Gabrielle Tyrnauer, Holocaust History and the Gypsies, in: Alice L. Eckardt (ed.), Burning Memory: Times of Testing and Reckoning, Oxford 1993, pp. 283–295; Slawomir Kapralski, The Voices of a Mute Memory. The Holocaust and the Identity of the Eastern European Romanies, in: Felicitas Fischer von Weikersthal et al. (eds.), Der nationalsozialistische Genozid an den Roma Osteuropas, Cologne, Weimar, Vienna 2008, pp. 93–114; Huub van Baar, Cultural policy and the governmentalization of Holocaust remembrance in Europe: Romani memory between denial and recognition, in: International Journal of Cultural Policy, Vol. 17, No. 1 (2011), pp. 1–17.
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The interviews used in the paper were conducted during my ethnographic fieldwork in nine Romani communities in Belarus between 2005 and 2010. My Ph. D. research was primarily aimed at the social structures of Roma but it was impossible to avoid discussing World War II during the interviews. The National Socialist genocide was considered by my informants as the main event of their modern history. The majority of Belarusian Roma had not managed to escape the rapid approach of the Nazi troops in 1941 and found themselves under occupation until 1944. During the occupation, hundreds of them were exterminated individually and in groups, deported to Germany for forced labor or interned in concentration camps. The number of Roma uprooted during the National Socialist occupation in Belarus was discussed in several historical studies.5 According to the calculations of Gerlach, at least 3 000 Belarusian Roma were murdered by different sections of the Nazi forces.6 In his preliminary study of Soviet archives Bessonov has counted about 1 000 Romani victims, acknowledging that this number can increase after a careful investigation of the Soviet and German sources.7 Though the number of victims is uncertain so far, the interviews conducted demonstrate that each Romani family, no matter whether it was sedentary or nomadic, has its survivors, victims or heroes to remember. On the other hand, Roma do not confine themselves to family memories. In different localities where I carried out my research, the stories under the general theme “how Roma survived the war” contained common interpretations of the events. It seems that in the course of oral narration Roma have been elaborating the concept of their past, which once more testifies against the conclusions about their indifference towards native history. Some scholars have expressed the opinion that the period during which oral history data remains reliable is rather short, usually no more than eighty years after the event.8 Although almost seventy years have passed, survivors (at least those who were children during World War II) remain available for personal interviewing. Some survivors were able to pass their reminiscences to their children with precise details such as names of the victims, their age and family status, places and time of executions. The historical value of Roma’ family memories has been confirmed by the recent work of Bessonov9 which couples them with data derived from archives. This approach seems to be fruitful since it permits us to consider the events not only from an outsider’s point of view but from the perspective of the
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Christian Gerlach, Kalkulierte Morde: die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 21999; Nikolaj Bessonov, Nazistowskie ludobójstwo Cyganów na Białorusi [The Nazi Genocide of Gypsies in Belarus], in: Studia Romologica, Vol. 3 (2010), pp. 21–40. Cf. Gerlach, Kalkulierte Morde (fn. 5), p. 1063. Cf. Bessonov, Nazistowskie ludobójstwo (fn. 5), p. 39. Jan Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis, Munich 2007, p. 51. Nikolaj Bessonov, Tsyganskaia tragediia1941–1945. Fakty, dokumenty, vospominaniia, Vol. II, Vooruzhennyĭ Otpor [The Gypsy’s Tragedy 1941–1945. Facts, Documents, memoires, Vol. 2, Armed resistance], Moscow 2010.
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persecuted as well. Apparently, many significant factors of Roma’ survival on the occupied territories have been under-estimated; traditional lifestyle and internal organization of each Romani group, its relations with local population and survival strategies are among them. In order to assess these factors, the article analyses the remembrances of Belarusian Roma as well as historical and ethnographical data. LIFESTYLE AND RELATIONS WITH SURROUNDING POPULATION Most Roma who were traveling in Belarus during World War II had inhabited Belarus for centuries. As far as the medieval sources go, first groups of Roma reached Belarusian lands in the late 15th and early 16th century during their first migration wave from Western Europe.10 During centuries of living together, Romani language and culture have been heavily influenced by Slavic surroundings. The term “seasonal traveling” proposed by Matras11 is very suitable to characterize a lifestyle of Belarusian Roma. In the region under consideration winters are cold and snowy which makes winter traveling impossible. In winter, Roma were sheltered by peasants at their cottages and therefore participated in village economies which were based on bartering food for goods and services among neighbors. Instead of rental payments, Roma assisted their hosts in running farms and put their horses at peasants’ disposal. Many families acquired cattle for themselves and turned their small farms mobile in spring. During winter festivities Roma who were talented dancers and musicians participated in cultural events of village communities. This, nevertheless, does not mean that Roma were perceived as native village dwellers. For instance, the masks of a Tsyhan (Bel. “Gypsy man”) and a Tsyhanka (Bel. “Gypsy woman”) were used by peasants in ritual games along with the masks of other „aliens“, such as a Jew, a priest and a doctor.12 During the warm nomadic season contact zones between Roma and peasants remained but were restricted to economic purposes. Roma set their camps close to villages in order to allow their women to earn livelihoods by fortunetelling, healing and begging. The men involved in horse-dealing carried on business with the rural population at weekend county fairs. Seasonal specifics in the Roma – peasants’ relations are well-illustrated by Romani folklore which lacks spring and summer calendar poetry, while Christmas songs are performed in Belarusian or Polish. A part of Roma in Belarus was sedentary and entirely adopted the lifestyle of peasants.
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Elena Marushiakova and Vesselin Popov, De l’Est à l’Ouest. Chronologie et typologie des migrations Tsiganes en Europe (du XVème siècle jusqu’à présent), in: Études Tsiganes, No. 27– 28 (2006), pp. 10–25. Yaron Matras, Romani Migrations in the Post-Communist Era: Their Historical and Political Significance, in: Cambridge Review of International Affairs, No. 13/2 (2000), pp. 32–50. Cf. Tatsts’jana Kukharonak, Maski ŭ kaliandarnaĭ abradnastsi belarusaŭ, Minsk 2001, pp. 29, 43–45, 58, 59, 69, 80, 107, 108, 133, 135, 136, 146, 158–160, 169, 170, 173, 216.
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Similarly to other regions where Roma interacted with non-Roma farmers13, each side discoursed upon the other’s cultural differences, asserting their own moral superiority. The narratives of the 19th and early 20th centuries portray Tsyhany (Gypsies) as dangerous thieves, tricky horse-dealers and fraud healers.14 They were condemned for religious ignorance15 and for using faith for personal purposes – by gaining well-to-do godparents for their children, for instance. The intercommunication was accompanied by lots of myths. Elder Belarusians who live in villages still believe that nomadic Roma stole children from peasants. Roma on their side composed the anecdotes about “greedy” and “suspicious” peasants, praising their own intellectual superiority and the traditions of collectivism. Nonetheless, it seems that the parties possessed the patterns of a quite peaceful living together. How those patterns operated under the threat of extermination, -was a factor of crucial importance for Roma’ survival. “Local” Roma, indeed, had many more chances to be sheltered by farmers than the groups who migrated from other places. Few of approximately two hundred Kelderari who had moved to Belarus before the war survived.16 In the interwar period most Roma in western Belarus continued traveling. Since the region was a part of Poland in 1921–1939, it was not affected by the Soviet policy of collectivization that consolidated the family economies of peasants into collective farms. In the BSSR (Belarusian Soviet Socialist Republic) seasonal traveling was more complicated – the natural economy to which traditional lifestyle of Roma had been linked was being destroyed by forced involvement of the rural population in collective farming. Soviet government launched projects of Romani cooperative farms; however the attempts to settle Roma in the interwar period failed.17 The partition of Belarus into “western” and “eastern” sectors is well remembered by Roma due to its impact on their identities.18 The ancestors of those who call themselves Polska (Polish) Roma today traveled on the territory of western Belarus and were Catholics. The Ruska (Russian) Roma, on the contrary, were orthodox and traveled in the regions close to Russia. In the interwar time many Roma 13 14 15 16 17
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Cf. Ada I. Engebrigtsen, Within or outside? Perception of self and other among Rom groups in Romania and Norway, in: Romani Studies, Vol. 21, No. 2 (2011), pp. 123–144. Cf. Aleksandr Dembovetskiĭ, Opyt Opisaniia Mogilevskoĭ Gubernii, Mahilëŭ 1882; Kirill T. Anikievich, Sennenskiĭ Uezd Mogilevskoĭ Gubernii, Mahilëŭ 1907, pp. 102–104. Like in other countries, Roma in Belarus follow the religion of the majority population. Most Belarusian Roma are Orthodox Christians, some of them are Catholics and, more recently, Protestants. Bessonov, Nazistowskie ludobójstwo (fn. 5), p. 22. Cf. Elena Marushiakova and Vesselin Popov, Ethnic identities and economic strategies of the Gypsies in the countries of the former USSR. Mitteilungen des SFB ‚Differenz und Integration‘, 4/1: Nomaden und Sesshafte – Fragen, Methoden, Ergebnisse, in: Orientwissenschaftliche Hefte (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), 9 (2003), pp. 289–310. Cf. Vol’ha Bartash (=Volha Bartash), Tsyganje Belarusi: skvoz’ prizmu transformacii [Roma in Belarus: in the light of transformation], in: Interstitio. Eastern European Review of Historical and Cultural Anthropology, Vol. 2, No. 2 (4) (2008), pp. 17–29, http://gypsy-life.net/etno-06. htm (12.3.2013).
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from western Belarus managed to immigrate to Poland; some of them were repatriated to Poland as “native Poles” after the war. Official registration as Poles or Belarusians helped many sedentary Roma survive the National Socialist occupation. In the eyes of persecutors the “official” nationality of settled Roma was confirmed by their lifestyle, and sometimes by their “blue eyes and blond hair” appearance, the result of marriages with peasants. INTERNAL ORGANIZATION Memories and post-memories of nomadic Roma give us the idea of how they were organized.19 When leaving villages in late March or early April Romani families gathered in traveling groups called tabors. Each tabor consisted of several nuclear families, usually tied by kinships. Tabors of Belarusian Roma were not as large as tabors of the Kelderari mentioned above. Usually there were no more than about forty to fifty members. Non-relatives also could join a traveling group; however Roma from other subgroups20 were not welcome. Each family was quite independent at the level of family decisions and was free to join another traveling group in spring. Nuclear families occupied separate tents in encampments; they had their own transport (usually a horse and a wagon), kitchen utensils and beddings. The tabor relations were based on the principles of cooperation, solidarity and mutual support. There was a strict differentiation of responsibilities between men and women. Women cooperated for cooking, mushroom gathering and begging in villages. Men were responsible for social life. All important decisions regarding the relations with other tabors or surrounding populations were taken at the gatherings of married men. Internal disputes were settled by the institute of Romani traditional law sendo (court).21 Being accepted, a family found itself under protection of the community but had to submit to the mechanisms of social control. In case one of its members breaking traditional moral or collective decisions, the family could be punished by social exclusion. For instance, if an unmarried girl had lost her virginity her family was excluded from the tabor and had to travel on their own. It was almost impossible for them to join another traveling group in the same locality since effective communication networks permitted everybody to be informed about their shame. Mutual dependency made nomadic Roma strong enough to uphold their rights while being surrounded by other populations; but this turned out to be a disadvan19
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Belarusian Roma who had survived the war continued to travel during the post-war decade. They began to settle after the Soviet decree of 1956 which had ordered them to take up permanent residences. Therefore I had the opportunity to interview the people raised in nomadic groups. Migrations and living in multiple cultural surroundings caused significant ethnographic and linguistic differences among Roma. To define cultural and linguistic communities of Roma, scholars use the term „Romani groups “. Elena Marushiakova and Vesselin Popov, The Gypsy Court in Eastern Europe, in: Romani Studies, Vol. 17, No. 1 (2007), pp. 67–101.
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tage during the National Socialist occupation. The persecutors were aware enough of the communal nature of nomadic Roma to elaborate a proper policy towards them. Nomadic Roma were detained and exterminated in groups. TORTURES AND SURVIVALS IN MEMORIES AND POST-MEMORIES The National Socialist occupation was sudden for Belarusian Roma as well as for the majority of civilian population remote from the centers of Soviet propaganda; no one, indeed, could foretell the consequences. The percentage of Roma who joined the stream of refugees was very small even in the eastern regions of the country. In his book Bessonov explains this fact by the mechanisms of collective memory. In 1941 many Belarusian Roma remembered German occupation during World War I (1914–1918) and therefore did not associate the new invasion with any serious danger.22 Moreover, it seems that the threat of ethnic persecution was hardly known to them. Since the time of Roma’ arrival in the Grand Duchy of Lithuania there had not been any historical evidence of their victimization. Many informants hardly realize the “racial” motives of the Nazi persecutions even at present, naïvely supposing that they provoked the aggression in some way. The most common opinion is that “Germans started to murder Roma because many of them had joined partisans”.23 Historians emphasize that there were not any concrete plans or orders to persecute Roma, whether sedentary or nomadic, at the beginning of the occupation.24 The “death squads” slaughtered nomadic groups on their own initiative when coming in contact with them. Mass extirpations started in spring 1942. Survival strategies initiated by Roma varied greatly or, to be more precise, each sedentary family or nomadic group was guided by its own logic. According to the Nazi ideology, settled Roma seemed to be more advanced “racially and culturally” than nomadic. However not all of them preferred to stay in villages, mingling with other populations. Some families who had been sedentary for several generations joined tabors. The newcomers considered sheltering in the woods to be a safer strategy than staying in the places controlled by the Nazi administration. Others, whose houses had been burnt, had no other choice than to join nomadic relatives. Hiding in the woods is one of central motives in the reminiscences of my informants. The stories tell how they survived severe winters, covering their wagons with pine branches.25 The vulnerability of nomadic Roma was that, like in peacetime, their subsistence depended on peasants. The Roma – peasants’ relations during the war is a de22 23 24
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Cf. Bessonov, Tsyganskaia tragediia (fn. 9), p. 23. Archive of the Institute of Arts, Ethnography and Folklore (hereafter AIAEF), National Academy of Sciences of Belarus, F. (= Fond) [fund] 8, O. (= Opis’) [inventory] 2010, D. (= Delo) [file] 1, Materials of Ethnographic Expeditions of Volha Bartash (2005–2010), p. 42. Cf. Gerlach, Kalkulierte Morde (fn. 5); Michael Zimmermann, The Soviet Union and the Baltic States 1941–44: The massacre of the Gypsies, in: Donald Kenrick and Grattan Puxon (eds.), In the shadow of the Swastika: The Gypsies during the Second World War, Vol. 2, Hatfield 1999, pp. 131–148. AIAEF (fn. 23), pp. 1–66.
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manding issue. On the one hand, each story with happy end recounts how a Romani man or woman was sheltered by some family, or a tabor was informed by peasants about the danger.26 Indeed, people who had lived together with Roma for centuries could not ignore the extermination of the latter. Nevertheless, the peasants went through the war in extremely hard conditions, since all parties – the invaders, the partisans and the bands of deserters, all of them – regularly demanded supplies. As the informants recollect, the men from tabors used to steal from peasants in order to survive. Unlike in peacetime, when women had practiced pickpocketing during the day time, men came to the farms tonight. This probably provoked the complaints of the rural population. The murders of Romani thieves by the Nazi police have been mentioned to me by several informants. The archival evidence is provided by Gerlach.27 The tortures which the victims underwent before death occupy an important place in family memories of Roma. Relatives of the deceased used to gather eyewitness testimonies afterwards. According to the testimonies, the “death squads” practiced a typical model for exterminating Roma. Tabors were often captured either en route or during their stays in villages. Then the victims were driven to some remote places (fields or woods) with an armed escort. They were forced to dig a collective grave for themselves, or the grave was dug by the locals, often those who had tried in vain to shelter them. Then, after terrible tortures and humiliation, persecutors or their auxiliaries from the local population shot the grown-ups on the edge of the grave. Pregnant women and children were murdered with especial cruelty. Executors used to strike pregnant women in the abdomen with their legs and did not spoil any cartridges for killing children; bayonets or simple beating to death came into play instead.28 Pregnant women, children, old people and people with physical disabilities can be regarded as the most defenseless members of tabors because of their physical limitations for escapement. Moreover, the lives of these people were often sacrificed for the survival of healthy adult individuals, irrespectively of the differences in attitudes towards old age, disability and pregnancy in Roma communities.29 Writing on the National Socialist genocide of Belarusian Roma, Bessonov cites his female informant who has recounted her father’s reminiscence of the extermination of a nomadic group near the town of Pastavy. During the Nazi raid upon the village, the informant’s father, grandmother and a brother sheltered in a bathhouse: “My dad was not alone at the bathhouse. His mother and his son, a baby, were with him 26 27 28 29
Ibid. Gerlach, Kalkulierte Morde (fn. 5), p. 1063. AIAEF (fn. 23), p. 1–66. Roma usually took pity on orphans and people with physical or psychical disabilities. Excluded from their own families, non-Roma with disabilities often obtained new homes in Romani families. Elder people, both men and women, were respected as family advisors and major experts in Romani traditional law. On the contrary, women of reproductive age were considered to be impure, and their impurity considerably increased during pregnancy. Men avoided contacts with pregnant women in order to prevent the pollution. The same attitude extended to babies – men were candid about nursing.
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(she held the baby in her arms). If the baby cried, it would be the end for my dad. He could not stand that and decided to creep away from the bathhouse. The Germans had not noticed him. When the dad saw their motorcycles moving away he came back [to the bathhouse]. His mother and son survived because the Germans had not checked the building”30. Likewise, the story I have recorded in the town of Ashmiany tells how a man left his wife and a daughter during the Nazi raid: “There is the village of Slabada not far from here. People remember a beautiful Romani woman who lived in Slabada. She was killed during the war but her husband survived because of her beauty. When the Germans came to the village he fled and left her at home alone. They entered the house and were amazed by her beauty. First they had raped her and then shot her down. Her daughter of five years old was also slaughtered”.31 Women’s fates during the occupation are a favorite theme of narration. Women recount these stories especially willingly. In the performance of the third generation the narratives considerably loose in their preciseness, focusing on ideas. The details of executions are often hyperbolized and poeticized (“moving graves”, “blood oozed out the ground” and etc.). Thus the moments of suffering continue to live in the collective memory of Roma. It is a well-known psychological phenomenon that human memory is not inclined to cope with humiliation. Anguished memory of a people always tries to “restore its grace”.32 This story has been told to me by the woman of 34 years in Ashmiany: “My grandmother was killed during the war when a ‘death squadron’ came to the village [the informant’s grandmother was from a sedentary family]. She was pregnant and could not escape. She and her sister had been sheltered by one man under the stove but the Germans found them. They compelled the man to dig a grave for my granny and her sister. One German had struck my granny in the belly with his leg. The strike had been so strong that the baby was delivered. Before being killed my grandmother asked to sing a song, perhaps, to cope with fear. When the song was over they slaughtered her (it was the man who told us everything afterwards). Just at the same moment other Roma from my granny’s village who sheltered in the wood were telling her fortune by the sand. [To imitate a grave] they filled a basin with sand and put a wooden cross into it. Then they took my grandmother’s nightshirt and put it on the cross. To call the ancestors’ ghosts, they said: ‘If she is alive, then let us hear a clatter of hoofs. If she is dead, then let us hear a shot’. They heard the shot. Everybody ran to take the nightshirt off the cross. If they did not manage to do that they would be suffocated by the ghosts”.33 In spite of some imaginary mystical details the above story represents a remarkable sample of the genocide memory in the third generation. Of course, we do not know whether the part about fortunetelling was composed during the war or later, or whether the fortunetelling had taken
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Bessonov, Nazistowskie ludobójstwo (fn. 5), p. 35. AIAEF (fn. 23), p. 34. Lawrence L. Langer, Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, Yale 1993, p. 186. AIAEF (fn. 23), p. 33.
Let the Victims Speak: Memories of Belarusian Roma
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place.34 Moreover, in the context of Romani culture, the use of sorcery does not seem paradoxical at all. Holler stresses that for the Soviet Roma “the direct personal perception of the war was not exclusively connected with sorrow and pain, but was also associated with a feeling of pride and triumph” because of the “contribution to the defeat of the German invaders, no matter whether they were soldiers, partisans or workers”.35 Indeed, many of the Belarusian Roma participated in the partisan movement in the German-occupied territories of the Soviet Union. Some nomadic groups had connections with partisans from the very beginning of the movement, though Roma usually joined partisan groups after their tabors had been destroyed or villages had been burnt. The families of former partisans are very proud to have their own heroes. They preserve old pictures and local newspapers which mention the names of their ancestors at family archives. To have partisans in a family was especially prestigious in the post-war decade. The informants remember the former partisans who led tabors; some of them even got characteristic nicknames, for instance, “Basyl, The Force”.36 Participation in the partisan movement is one of the main reasons for Roma’ pride at present. “Do you know that Roma used to beat the Nazi?” informants asked me starting the conversation. Post-Holocaust memories of Belarusian Roma surely deserve a thorough study. This article deals with the outcome of my preliminary research and does not cover the recollections of Roma who were interned in concentration camps or deported to Germany. Nothing is known about the destinies of those who had managed to join the stream of refugees in 1941. The projects on collecting war remembrances of Roma remain in high demand.
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Cf. Anna Bravo, Lilia Davite and Daniele Jalla, Myth, Impotence and Survival in the Concentration Camps, in: Raphael Samuel und Paul Thompson (eds.), The Myths We Live By, London 1990, pp. 95–110 for a more elaborate discussion on the role of myths and fortunetelling in extreme conditions. Holler, The National Socialist Genocide of the Roma in the German-occupied Soviet Union (Anm. 2). AIAEF (fn. 23), p. 62.
VII. PSYCHISCH KRANKE UND BEHINDERTE MENSCHEN IM OSTBLOCK NACH DEM KRIEG UND IM POSTSOWJETISCHEN RAUM
„DER WAHRE SOZIALISTISCHE MENSCH“. DER SOWJETISCHE KAMPFFLIEGER ALEKSEJ P. MARES’EV (1916–2001) UND SEINE REZEPTION IN DER DDR Alexander Friedman Die sozialistische Behindertenpolitik und die Lage von Menschen mit Behinderungen sowie Kriegsinvaliden in der UdSSR und in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg werden in der modernen westlichen und russischen Forschung behandelt.1 Im Hinblick auf die Sowjetunion kommt der Arbeit V SSSR invalidov net…! (englischer Titer „There Are No Invalids in the USSR…!“, London 1986) des sowjetischen Dissidenten Valerij A. Fefelov (1949–2008) große Bedeutung zu. Fefelov musste die Sowjetunion unter dem Druck der sowjetischen Staatssicherheit 1982 verlassen und ließ sich in Frankfurt am Main nieder. In seinem Werk reflektierte er die behindertenfeindliche Politik der sowjetischen Regierung und betonte, in der Sowjetunion würden die Behinderten (invalidy) aus sozialen und politischen Gründen geächtet.2 Die bedrückende Lage sowjetischer Kriegsinvaliden nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht die deutsche Historikerin Beate Fieseler.3 Mit der Situation von Menschen mit Behinderungen (insbesondere mit geistigen Behinderungen) in der DDR beschäftigt sich der deutsche Historiker und Bildungswissenschaftler Sebastian Barsch in seinen Publikationen.4 1
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Hierzu siehe vor allem Michael Rasell u. Elena Iarskaia-Smirnova (= Elena Jarskaja-Smirnova) (Hrsg.), Disability in Eastern Europe and the Former Soviet Union, London u. New York 2014. Siehe auch Elena R. Jarskaja-Smirnova u. Pavel V. Romanov (Hrsg.), Sovetskaja social’naja politika: sceny i dejstvujuščie lica, 1940–1985, Moskau 2008. Zum Forschungsstand siehe auch die Beiträge von Vasili Matokh in diesem Band. Vgl. Valerij Fefelov, V SSSR invalidov net!…, London 1986. Vgl. Beate Fizeler (= Beate Fieseler), „Niščie pobediteli“: invalidy Velikoj Otečestvennoj vojny v Sovetskom Sojuze, in: Neprikosnovennyj zapas: debaty o politike i kul’ture 2/3 (2005), S. 290–297; dies., The bitter legacy of the ‘Great Patriotic War’. Red Army disabled soldiers under late Stalinism, in: Juliane Fürst (Hrsg.), Late Stalinist Russia. Society between reconstruction and reinvention, London u. New York 2006, S. 46–61; dies., De la „génération perdue“ aux bénéficiaires de la politique sociale? Les invalides de guerre en URSS, 1945– 1964, in: Bruno Cabanes u. Guillaume Piketty (Hrsg.), Retour à l’intime au sortir de la guerre, Paris 2009, S. 133–148; dies., Soviet-style Welfare: The disabled soldiers of the ‘Great Patriotic War’, in: Rasell u. Iarskaia-Smirnova, Disability in Eastern Europe and the Former Soviet Union (Anm. 1), S. 18–41. Siehe auch Mark Edele, Soviet Veterans of the Second World War: A Popular Movement in an Authoritarian Society, 1941–1991, Oxford 2009. Vgl. bspw. Sebastian Barsch, Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung-BildungBetreuung, Oberhausen 2007; ders., Bildung, Arbeit und geistige Behinderung in der DDR – zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Deutschland Archiv 3 (2008), S. 480–487; ders., Menschen mit Behinderungen in der DDR, in: Jan Cantow u. Katrin Grüber (Hrsg.), Eine Welt ohne Behinderung – Vision oder Alptraum, Berlin 2009, S. 51–64.
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Eine systematische kritische Untersuchung der Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Behinderung“ in der sozialistischen Presse und eine fundierte Analyse von hinter dem „eisernen Vorhang“ medial vermittelten Vorstellungen über behinderte Menschen und deren Rolle in der sozialistischen Gesellschaft bleiben ein Desiderat der Forschung. Diese wichtigen Themenkomplexe werden in der vorliegenden diskursanalytischen Fallstudie aufgegriffen, die sich dem „Helden der UdSSR“, dem legendären „Kampfflieger ohne Beine“ Aleksej P. Mares’ev (1916–2001), widmet und dessen Rezeption in der DDR in erster Linie anhand relevanter Publikationen der ostdeutschen Presse (Tageszeitungen Neues Deutschland, Neue Zeit und Berliner Zeitung) exemplarisch beleuchtet. Es wird gezeigt, dass die Figur des sowjetischen Helden Mares’ev im SED-Staat propagandistisch instrumentalisiert wurde, um 1) das antifaschistische Selbstbild der DDR und deren enge Verbindung und Freundschaft mit der UdSSR hervorzuheben; 2) die Bundesrepublik Deutschland zu diffamieren und die DDR als „besseres Deutschland“ dazustellen; 3) den Topos des „wahren sozialistischen Menschen“ und das im Ostblock verankerte propagandistische Wunschbild von Menschen mit Behinderungen im Sozialismus zu verbreiten. „TREUER FREUND DER DDR“ Am 4. April 1942 schoss die deutsche Luftwaffe ein sowjetisches Jagdflugzeug im Gebiet Novgorod ab: der verletzte Flieger, Oberleutnant Aleksej Mares’ev, verbrachte 18 Tage in einem Wald. Er überlebte. Seine Beine wurden aber unterhalb des Knies amputiert. Dank seiner außergewöhnlichen Willensstärke kehrte der 1943 als „Held der UdSSR“ ausgezeichnete Offizier in die Rote Armee zurück und setzte seine Fliegerkarriere fort. Mares’ev wäre möglicherweise einer von vielen unbekannten sowjetischen Kriegshelden geblieben, wenn der Pravda-Reporter und Schriftsteller Boris N. Polevoj (1908–1981) ihn nicht 1943 kennengelernt und beschlossen hätte, seine außergewöhnliche Lebensgeschichte literarisch zu verarbeiten. Von der Persönlichkeit des Fliegers angetan, verfasste Polevoj den überwiegend wahrheitsgetreuen Roman Povest’ o nastojaščem čeloveke („Der wahre Mensch“, 1946). Der Name des Protagonisten wurde lediglich leicht gerändert: aus Aleksej Mares’ev (DDR-Schreibweise: Alexei Maresjew) machte der Schriftsteller Aleksej Meres’ev. Der von Stalin und seinem Sohn Vasilij (Generalleutnant der sowjetischen Luftwaffe) geförderte und auch von Stalins Nachfolgern hoch geschätzte Veteran verkörperte in der UdSSR das Heldentum und die Selbstaufopferung der Rotarmisten im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Krieg wurde Major (ab 1978 Oberst) Mares’ev mit einer militärhistorischen Dissertation über die Schlacht im Kursker Bogen (1943) promoviert und stand als verantwortlicher Sekretär des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit. Er nahm aktiv am gesellschaftlichen Leben in der UdSSR und im Ausland teil und setzte sich außerdem stark für behinderte Kriegsveteranen ein, deren Leben er erträglicher zu machen versuchte.5 5
Ausführlich zu Mares’ev und zu seiner Rezeption in der Sowjetunion siehe Alexander Friedman, Kriegsinvaliden in der Sowjetunion nach 1945: Aleksej Mares’ev und Gurban Durdy, in:
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In der DDR war Mares’ev in erster Linie als Protagonist des Romans Polevojs bekannt. Der Roman „Der wahre Mensch“ wurde in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre von Oswald Tornberg ins Deutsche übersetzt, erschien 1950 in der DDR6 und wurde in der ostdeutschen Presse regelmäßig als „Meisterwerk der sozialistischen Literatur“ gelobt.7 Die gleichnamige sowjetische Verfilmung des Romans durch Aleksandr Stolper mit Pavel Kadočnikov in der Hauptrolle (1948) wurde in der DDR gezeigt.8 Sergej Prokof’evs letzte Oper Povest’ o nastojaščem čeloveke (1948, Libretto: Sergej Prokof’ev und Mira Mendel’son-Prokof’eva nach dem Roman Boris Polevojs), die in der UdSSR erst im Oktober 1960 zum ersten Mal auf die Bühne kam, wurde im April 1961 in Radio DDR in verkürzter Fassung übertragen.9 Polevoj und Mares’ev galten in der DDR als „treue Freunde“, denen die deutsch-sowjetische Freundschaft besonders am Herzen lag.10 Mehrere DDR-Auszeichnungen
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Heike Karge, Sara Bernasconi u. Friederike Kind-Kovács (Hrsg.), The Hour of the Expert: Public Health in Twentieth Century Europe [erscheint 2016]. Vgl. Boris Polewoj, Der wahre Mensch, Dresden 1950. Vgl. Der Söhne Tagebuch, in: Neues Deutschland v. 19.3.1967, S. 11; Georg Antosch, Themen vordegründig dialogisiert, in: Neue Zeit v. 12.11.1974, S. 4; ADN, Hohe Auszeichnung, in: Neues Deutschland v. 17.3.1984, S. 4; Eva Schönewerk, Begegnung mit Boris Polewoi, in: Neues Deutschland v. 12.6.1978, S. 4; Wissenswert, in: Neues Deutschland v. 2.7.1983, S. 13. Vgl. Povest’ o nastojaščem čeloveke, Spielfilm von Aleksandr Stolper (Sowjetunion 1947), 96 Minuten. Zu diesem Film siehe Beate Fieseler, The Wounds of War: Experiences of War-Related Disablement in Soviet Feature Films, in: Withold Bonner u. Arja Rosenholm (Hrsg.), Recalling the Past – (Re)-constructing the Past. Collective and Individual Memory of World War II in Russia and Germany, Helsinki 2008, S. 277–287, hier: S. 280 ff.; dies., Keine Leidensbilder. Die Invaliden des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ im sowjetischen Spielfilm, in: dies. u. Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Kriegsbilder. Mediale Repräsentation des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘, Essen 2010, S. 77–94, hier: S. 83 f. Vgl. Heino Lüdicke, Einfachheit und Tiefe der Empfindung. Zum Gedenken an den sowjetischen Komponisten Sergej Prokofjew an seinem 70. Geburtstag, in: Neue Zeit v. 24.4.1961, S. 4; ders., Eines Menschen Sieg über sich selbst. Gedanken zu Prokofjews letzter Oper, in: Neue Zeit v. 30.4.1961, S. 7. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die DDR-Literaturwissenschaftlerin Irmtraud Gutschke (Jahrgang 1950) hinzuweisen, die sich in der Redaktion der Zeitung Neues Deutschland (ND) mit der ausländischen Literatur befasste und die ND-Leser/innen dabei auf Boris Polevoj und seine Werke aufmerksam machte. Im Hinblick auf den Schriftsteller Polevoj wurde betont, dass er nicht nur den legendären Flieger Mares’ev entdeckt, sondern auch zwei weiteren Helden das „literarische Denkmal“ gesetzt habe: dem deutschen Antifaschisten Fritz Schmenkel, der in Weißrussland auf der Seite von sowjetischen Partisanen kämpfte, und dem aus Weißrussland stammenden sowjetischen Soldaten Trifon Luk’janovič, der in Berlin 1945 ein Mädchen rettete und selbst dabei starb. Von seinem Schicksal ließ sich der Bildhauer Evgenij V. Vučetič bei der Errichtung des sowjetischen Ehrenmals im Berliner Treptower Park (1949) inspirieren, vgl. Irmtraud Gutschke, In der Wirklichkeit fand er seine Helden. Zum 70. Geburtstag von Boris Polewoi, in: Neues Deutschland v. 17.3.1978, S. 4; dies., Wie sich der Traum vom wahren Menschen im Leben erfüllt hat. Erinnerungen Boris Polewois erschienen im Verlag Volk und Welt, in: Neues Deutschland v. 26.1.1982, S. 4; dies., Die Größe unserer Zeit zeigte er im Menschen. Heute wäre Boris Polewoi 75 Jahre alt geworden, in: Neues Deutschland v. 17.3.1983, S. 4. Siehe auch Klaus-Dieter Schönewerk, Seine Helden – unsere Weggefährten. Dem sowjetischen Schriftsteller Boris Polewoi zum Gedenken, in: Neues Deutschland v. 15.7.1981, S. 4; Helga Dathe, Tatsachen und Träume von „wahren Menschen“.
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ergänzten die umfangreiche Liste von sowjetischen und ausländischen Orden sowie Medaillen, mit denen Aleksej Mares’ev ausgezeichnet worden war: Ende 1959 erhielt er die DDR-Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“.11 Im Frühjahr 1967 überreichte der DDR-Militärattaché in Moskau, Generalmajor Richard Fischer, ihm die Freundschaftsmedaille der Freien Deutschen Jugend (FDJ).12 Verschiedene DDR-Funktionäre ließen sich sehr gerne mit dem berühmten sowjetischen Kriegshelden in Verbindung bringen: So veröffentlichte am 15. Juli 1962 die Zeitung Neue Zeit eine gemeinsames Foto des Präsidenten des Obersten Gerichts der DDR, Dr. Heinrich Toeplitz, und Aleksej Mares’ev auf ihrer Titelseite. Toeplitz traf Mares’ev während seines Moskau-Besuchs.13 Ende Juni 1963 berichtete der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) über den Besuch einer Delegation des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR in Moskau. Man betonte, dass die von dem Sekretär des Komitees Georg Spielmann geleitete Delegation von dem sowjetischen Komitee der Kriegsveteranen eingeladen und von Mares’ev am Moskauer Flughafen Šeremet’evo begrüßt worden sei.14 Zwischen dem 29. März und dem 8. April 1966 fand in Moskau der 23. Parteitag der KPdSU statt. Am Rande des Parteitages traf sich eine von dem Ersten Sekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Walter Ulbricht geleitete Delegation mit dem verantwortlichen Sekretär des sowjetischen Veteranenkomitees Aleksej Mares’ev. Der Fotograf Lev Ivanov (sowjetische Presseagentur Novosti) dokumentierte das Treffen, bei dem sich Mares’ev vor allem mit dem SEDPolitbüro-Mitglied Erich Honecker unterhielt.15 Im Fall Mares’ev sorgten Ulbricht und Honecker dafür, dass der Kriegsveteran zu den bekanntesten Sowjetbürgern in der DDR gehörte. Aleksej Mares’ev war im „sozialistischen Bruderstaat“ öfters zu Gast: Im Mai 1950 hatte er dieses Land zum ersten Mal besucht und am 1. Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin teilgenommen.16 Im September 1958 stand Mares’ev an der Spitze einer 25köpfigen so-
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Heute wäre Boris Polewoi 80 Jahre alt geworden, in: Neues Deutschland v. 17.3.1988, S. 6; Uta Kolbow, Helden der Wirklichkeit. Zum 80. Geburtstag von Boris Polewoi, in: Berliner Zeitung v. 17.3.1988, S. 7. Vgl. ADN, DDR-Auszeichnung für Alexei Maresjew, in: Neues Deutschland v. 23.12.1959, S. 5. Siehe auch Auslandsnotizen, in: Berliner Zeitung v. 20.5.1966, S. 5. Vgl. Freundschaftsmedaille für Fliegerhelden Maresjew, in: Neues Deutschland v. 18.2.1967, S. 2; ADN/BZ, FDJ ehrte Maresjew, in: Berliner Zeitung v. 18.2.1967, S. 1. Unter diesem ADN-Zentralbild-Foto druckte man einen kurzen Kommentar: „Freundschaftsbande werden in Moskau geknüpft. Dr. Heinrich Toeplitz, Präsident des Obersten Gerichts der DDR im Gespräch mit Alexei Maresjew […], dem Sekretär des sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen, dessen Schicksal der Schriftsteller Boris Polewoi in ‚Der wahre Mensch‘ gestaltete“. Neue Zeit v. 15.7.1962, S. 1. Vgl. ADN, In Moskau zu Gast, in: Neues Deutschland v. 28.6.1963, S. 7. Vgl.http://visualrian.ru/ru/site/gallery/index/id/704378/context/%7B%22q%22%3A% 22%5Cu041c%5Cu0430%5Cu0440%5Cu0435%5Cu0441%5Cu044c%5Cu0435%5Cu0432 +%5Cu0423%5Cu043b%5Cu044c%5Cu0431%5Cu0440%5Cu0438%5Cu0445%5Cu0442% 22%2C%22orientation%22%3A%22all%22%7D/#704378 (1.5.2015). Vgl. TASS, Obščegermanskij kongress molodych borcov za mir v Berline, in: Pravda v. 26.5.1950, S. 4; Klaus Haupt, Ein Buch und sein Held. Gespräch mit dem ehemaligen Flieger
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wjetischen Delegation, die an der feierlichen Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte im ehemaligen KZ Buchenwald teilgenommen hat.17 In der Sowjetunion besuchte der charismatische volksnahe Veteran oft Betriebe, Schulen und Hochschulen, traf sich regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen und leistete dadurch einen Beitrag zur „patriotischen Erziehung“ der sowjetischen Bevölkerung. Des großen propagandistischen Potenzials des sowjetischen Gastes bewusst, organisierte die SED-Führung seine Treffen mit ostdeutschen Schülern, Studenten, Arbeitern und weiteren Bürgern: Am 16. Oktober 1960 berichtete die Berliner Zeitung, dass Mares’ev die Wilhelm-Pieck-Oberschule in Berlin-Pankow besucht, bei den Schülern „unbeschreibliche Freunde“ ausgelöst und ihnen „wertvolle Hinweise“ gegeben habe. Der promovierte Historiker aus der UdSSR legte den Berliner Schülern nahe, auf das „schädliche“ Vorsagen und Abschreiben zu verzichten. Besonders „glücklich“ seien die Schüler der 8. Klasse gewesen: Sie hätten Mares’ev persönlich kennengelernt und seien zudem stolz auf ihre Klassenlehrerin gewesen, die beschlossen habe, Kandidat der SED zu werden.18 Auch bei Thälmann-Pionieren in Jena hinterließ der Veteran einen bleibenden Eindruck: Im Oktober 1967 erzählten sie „voller Stolz“ dem Staatsratsvorsitzenden Ulbricht über den Mares’ev-Besuch und über den Freundschaftsklub in Jena, der den Namen des „Helden der Sowjetunion“ trug.19 Sieben Jahre später empfing Mares’ev eine Arbeiterdelegation des Werkzeugmaschinenbaukombinats „7. Oktober“ aus Berlin, Leipzig, Karl-MarxStadt und Dresden, die aufgrund ihrer herausragenden Produktionsleistungen mit einer zehntägigen Reise nach Moskau belohnt wurden.20 Rückblickend schwärmte Aleksej Mares’ev in der Zeitung Neues Deutschland Mitte der 1980er Jahre von seinen „unvergesslichen Besuchen in der DDR“ und vor allem von seinen Begegnungen mit jungen Deutschen, die leidenschaftlich für den Frieden und für die Freundschaft unter den Völkern kämpfen würden. Besonders blieben ihm die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin (28. Juli–5. August 1973) in Erinnerung.21 Erich Honecker, der Walter Ulbricht 1971 an der Spitze des ZK der SED abgelöst hatte, betrachtete die Weltfestspiele als eine für die DDR sowohl innen- als auch außenpolitisch wichtige Veranstaltung. Der ehemalige KZ-Häftling Honecker (Jahrgang 1912), dessen antifaschistische Vergangenheit in der DDR hervorgehoben wurde, pflegte eine enge Beziehung zu dem fast gleichaltrigen sowjetischen Flieger Mares’ev (Jahrgang 1916) und trieb dessen Glorifizierung in der DDR voran. 1973 wurde Mares’ev zu den Weltfestspielen nach Ost-Berlin eingeladen und zählte neben der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis, der ersten 17 18 19 20 21
Alexej Petrowitsch Maresjew, in: Neues Deutschland v. 3.5.1980, S. 11. Vgl. ADN, Ausländische Widerstandskämpfer in der DDR, in: Neues Deutschland v. 10.9.1960, S. 6. Pionierbriefkasten, in: Berliner Zeitung v. 16.10.1960, S. 14. Walter Ulbricht besuchte Festplätze, in: Berliner Zeitung v. 16.10.1967, S. 3. Vgl. Günter Brock, Er hat bei uns viele Freunde. DDR-Arbeiter trafen sich mit Konstantin Simonow, in: Neues Deutschland v. 30.10.1974, S. 4. ADN, Sowjetischer Kriegsveteran: Das Bekenntnis zum Frieden wird in Torgau erneuert. Alexej Maresjew zur Wiederkehr des Treffens an der Elbe, in: Neues Deutschland v. 7.3. 1985, S. 1
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Frau im Weltraum Valentina V. Tereškova und dem Anführer der Palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) Jassir Arafat zu den prominentesten Gästen dieser Veranstaltung. Am 3. August trat Mares’ev bei der „Feierlichen Ehrung der im Kampf um die Befreiung Europas vom Faschismus gefallenen sowjetischen Soldaten“ vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Treptower Park auf. Diese „Feierliche Ehrung“ wurde von den Festivaldelegationen der UdSSR und der DDR organisiert.22 Am 3. August 1973 um 21.00 Uhr versammelten sich etwa 50.000 Menschen (Delegationen des FDJ und des sowjetischen Komsomol, weitere Teilenehmer/innen der Weltfestspiele) im Treptower Park. Der Sprecher der DDR-Delegation Hans Coppi beschreibt die Stimmung an diesem denkwürdigen Abend wie folgt: „Es war ein lauer Sommerabend. An der Zeremonie nahmen Tausende Teilnehmer des internationalen Festivals teil. Es verbreitete sich eine Atmosphäre der Anteilnahme und Verbundenheit mit der Roten Armee und der Sowjetunion. Die Skulptur mit dem Rotarmisten und dem von ihm geretteten Mädchen war angestrahlt. Viele hatten auch Fackeln in den Händen…“23
Honecker, der sowjetische Botschafter in der DDR Michail T. Efremov und weitere Gäste hörten eine bewegende Rede des Sprechers der sowjetischen Delegation Aleksej Mares’ev, der die Jugend der Welt aufforderte, die Lehren der Geschichte nicht zu vergessen, für ein friedliches und freies Leben zu kämpfen und ihre „antiimperialistische Solidarität“ zu stärken. Coppis Eltern Hans und Hilde gehörten den von der Gestapo dem Fahndungskomplex „Rote Kapelle“ zugeordneten Berliner Widerstandskreisen an und waren in der Berliner Hinrichtungsstätte Plötzensee getötet worden. Der Sohn zeigte in seiner anschließenden Rede seinen tiefen Respekt vor dem sowjetischen Gast und seinem Lebenswerk.24 Über die Veranstaltung im Treptower Park wurde sowohl in der ostdeutschen als auch in der sowjetischen Presse ausführlich berichtet.25 22
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„Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten“. Feierliche Ehrung der im Kampf um die Befreiung Europas vom Faschismus gefallenen sowjetischen Soldaten [Einladung zur Gedenkveranstaltung am 3.8.1973 um 21 Uhr]. Der Verfasser bedankt sich bei Herrn Hans Coppi (Berlin) für die Zusendung dieser Einladung und sowjetischer Presseberichte über die Veranstaltung im Treptower Park. Erinnerungen von Hans Coppi (E-Mail an Alexander Friedman v. 17.7.2015, Telefonat am 21.7.2015). In seinen Erinnerungen an diese Veranstaltung betont Hans Coppi, dass das Arrangement mit Mares’ev und ihm erst ziemlich spät entstanden sei. Seine Rede sei durch Mitarbeiter des Zentralrats der FDJ „gegengelesen“ und verändert worden. Erinnerungen von Hans Coppi (ebd.). Vgl. Dietmar Jammer u. Horst Richter, Wofür Ihr gefallen seid, dafür wollen wir leben und kämpfen! Die Jugend ehrt die im Ringen um die Befreiung Europas gefallenen sowjetischen Soldaten, in: Neues Deutschland v. 4.8.1973, S. 3; Schließt die Reihen enger, vervielfacht eure Kräfte! Rede von Alexei Maresjew, Sprecher der Delegation der UdSSR, in: ebd.; Immer bewährt sich unsere unzerstörbare Freundschaft. Rede von Hans Coppi, Sprecher der Delegation der DDR, in: ebd.; Günther Koch u. Klaus Weise, Bewegende Ehrung der Helden der Sowjetarmee in Treptow. Anläßlich der X. Weltfestspiele: Feierliches Gedenken von FDJ, Komsomol und anderen Delegationen. Repräsentanten der DDR und der UdSSR bekräftigten durch ihre Teilnahme brüderliche Verbundenheit, in: Berliner Zeitung v. 4.8.1973, S, 1; Ehrung der Helden, in: Neue Zeit v. 5.8.1973, S. 1; aus der Ansprache von Alexei P. Maresjew, in: Neue Zeit v. 5.8.1973, S. 5; V. Žigulenkov, An. Makarov u. L. Stepanov, Kljatva junych, in: Izvestija v.
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IM KAMPF GEGEN DEN „WESTDEUTSCHEN REVANCHISMUS“ Als verantwortlicher Sekretär des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen profilierte sich Aleksej Mares’ev als Friedensaktivist, der die internationale Öffentlichkeit für die UdSSR zu gewinnen versuchte und sich in der Sowjetunion- und DDRfreundlichen Fédération Internationale des Résistants (Internationale Föderation der Widerstandkämpfer, FIR) engagierte.26 In der Presse, im Rahmen seiner Vorträge auf FIR-Kongressen und bei anderen internationalen Veranstaltungen pries der sowjetische Veteran die DDR als „erster antifaschistischer Staat auf deutschem Boden“ und „Bastion des Friedens“, der den Sozialismus erfolgreich aufbaue und in dem man kulturvoll leben könne, die Menschen nicht ausgebeutet würden, es die Arbeitslosigkeit nicht gebe und die Jugend nach Bildung strebe. Mares’ev war der Ansicht, je stärker die DDR sei, desto stärker sei auch die sozialistische Gemeinschaft.27 Hingegen griff er die Bundesrepublik scharf an. In den 1960er Jahren betonte die DDR-Presse zufrieden, dass Mares’ev und seine weiteren FIR-Kollegen über markante „neofaschistische Tendenzen“ in Westdeutschland besorgt seien,28 wobei der sowjetische Veteran insbesondere vor den „militaristischen Kräften“ in
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5.8.1973, S. 2; G. Bočarov u. V. Černyšev, Rekviem, in: Komsomol’skaja pravda v. 5.8.1973, S. 1; Serdca bjutsja v takt, in: ebd., S. 3. Zur DDR-Berichterstattung über die Festspiele siehe Kathrin Kirchler, „Die Festivalidee wird in alle Richtungen der Windrose getragen“. Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten als PR-Event, in: Anke Fiedler u. Michael Meyen (Hrsg.), Fiktionen für das Volk: DDR-Zeitungen als PR-Instrument. Fallstudien zu den Zentralorganen Neues Deutschland, Junge Welt, Neue Zeit und Der Morgen, Münster 2011, S. 245– 268. Zu den Festspielen siehe Wolf Oschlies, „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“. Geschichte, Auftrag und Ertrag kommunistischer Jugendfestivals, Köln 1985, S. 36 ff.; Denise Wesenberg, Unter „operativer Kontrolle“. Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Ost-Berlin, Erfurt 2007; Andreas Ruhl, Stalin-Kult und Rotes Woodstock. Die Weltjugendspiele 1951 und 1973 in Ostberlin, Marburg 2009, S. 55–94. Vgl. Treffen an Bord der „Batory“, in: Neues Deutschland v. 10.9.1954, S. 5; Katja Stern, UdSSR begann Unterschriftensammlung gegen Atomkriegsvorbereitung, in: Neues Deutschland. v. 2.4.1955, S. 5; ADN, Generalrat der FIR tagt in Wien. Hermann Matern: Wir helfen unseren Landsleuten im Westen, die Militaristen zu bändigen, in: Neues Deutschland v. 2.9.1961, S. 5; ADN/BZ, Auslandsnotizen, in: Berliner Zeitung v. 1.6.1967, S. 5; Anna Mudry, Antifaschisten aus 23 Ländern beraten. Generalratstagung der FIR in der Hauptstadt, in: Berliner Zeitung v. 4.12.1967, S. 1; Widerstandskämpfer in einer Front, in: Berliner Zeitung v. 5.12.1967, S. 2; Kongreß polnischer Widerstandskämpfer, in: Neues Deutschland v. 20.9.1969, S. 7; ADN, Arbeitstagung des Büros der FIR in Berlin eröffnet. „Kriegsverbrecher in der BRD müssen endlich bestraft werden“, in: Neues Deutschland v. 9.10.1971, S. 2; ADN/BZ, Vermächtnis der Opfer des Faschismus wird in der UdSSR erfüllt, in: Berliner Zeitung V. 29.11.1984, S. 5; ADN, Sowjetischer Kriegsveteran: Das Bekenntnis zum Frieden wird in Torgau erneuert. Alexej Maresjew zur Wiederkehr des Treffens an der Elbe, in: Neues Deutschland v. 7.3. 1985, S. 1; ADN, Sowjetischer Kriegsveteran zum Treffen an der Elbe: Bekenntnis zum Frieden in Torgau erneuern. Effektive Vereinbarungen in Genf gefordert, in: Berliner Zeitung v. 7.3.1985, S. 1. Haupt, Ein Buch und sein Held (Anm. 16). ADN, Giorgi Dimitroffs Kampfgefährte mahnt: Steckt die Kriegshetzer in Zwangsjacken. Machtvolle Kundgebung der VVN in Westberlin zum 27. Jahrestag der faschistischen Reichstagbrandstiftung, in: Neues Deutschland v. 29.2.1960, S. 2.
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der Bundesrepublik warnte, die keinen Zugang zu Kernwaffen erhalten dürften.29 In einem Interview mit der Zeitung Neues Deutschland hob Mares’ev Anfang der 1980er Jahre hervor, dass Westdeutschland eine akute Gefahr sowohl für die DDR als auch für die gesamte sozialistische Staatengemeinschaft darstelle.30 „NÜTZLICHE MITGLIEDER DER SOZIALISTISCHEN GESELLSCHAFT“ Aleksej Mares’ev ging mit seiner Behinderung offensiv und souverän um. Er wollte sich nicht als Behinderter fühlen und lehnte sogar einen Gehstock entgegen medizinischem Rat ab. Der Kriegsveteran wollte keine Bürde für seine Familie und für die sowjetische Gesellschaft sein.31 Diese Lebenseinstellung entsprach dem wichtigsten Grundsatz der sowjetischen Behindertenpolitik, welche die Invalidy unbedingt für die Gesellschaft „nützlich“ machen wollte. An die Tradition der stalinistischen Propaganda der Vorkriegszeit anknüpfend, welche über Behinderte berichtete, die sich mit ihrem für die Gesellschaft „nutzlosen Invalidensein“ nicht abfinden wollten,32 pries die Ostblock-Presse die vermeintlich behindertenfreundliche sozialistische Sozialpolitik und stilisierte Mares’ev zum Vorbild für behinderte Bürger/innen sowie zum Idealbild eines pflichtbewussten, tüchtigen und disziplinierten „wahren sozialistischen Menschen“. An diesem Menschen, der „zur Entfaltung letzter Kraftreserven bereit“ sei, sein tragisches Schicksal überwinde33 und Übermenschliches leiste, sollten sich vor allem Kinder und Jugendliche orientieren. Diese bemerkenswerte Tendenz spiegeln das Landespionierlager in Markgrafenheide bei Rostock34 und in erster Linie die Polytechnische Oberschule für Körperbehinderte in Neubrandenburg wider, die den Namen des sowjetischen Helden trugen. Über die Schule in Neubrandenburg wurde in der DDR-Presse sporadisch berichtet, um die Sorgen des sozialistischen Staates um seinen Nachwuchs zu veranschaulichen. In der DDR galt sie als Vorzeigeanstalt. Für den Ostblock typische und etwa von Valerij Fefelov in seinem zitierten Buch heftig kritisierte Exklusion von Behinderten35 war ein wesentliches Merkmal der Neubrandenburger Einrichtung. Anfang der 1980er Jahre wurden in der Schule insgesamt 166 Mädchen und Jungen aus dem Norden der DDR bis zur 10. Klasse unterrichtet und medizinisch betreut. Die Schule verfügte über einen Kindergarten, ein Internat sowie eine Schwimm-
29 30 31 32 33 34 35
Widerstandskämpfer in einer Front (Anm. 26). Vgl. Haupt, Ein Buch und sein Held (Anm. 16). Vgl. Aleksandr Chochlov, Nastojaščij čelovek posle vojny. Personal’nuju mašinu Mares’evu vručil Stalin, i ee ne smog otobrat’ daže El’cin, in: Novye izvestija v. 18.5.2004, S. 7. Hierzu siehe die Beiträge von Vasili Matokh in diesem Band. Antosch, Themen vordergründig dialogisiert (Anm. 7); Inge Kania, Ein wahrer Mensch, in: Neues Deutschland v. 30.10.1966, S. 3. Vgl. Freundschaftspionierleiter Joachim Krenz, Knüppelkuchenfest, in: Neues Deutschland v. 27.7.1967, S. 5. Vgl. Fefelov, V SSSR invalidov net!… (Anm. 2).
„Der wahre sozialistische Mensch“. Kampfflieger Mares’ev in der DDR-Rezeption
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und Turnhalle.36 Die Neue Zeit betonte in einer Reportage (Oktober 1986) die erstklassige Betreuung „geschädigter Kinder“ in Neubandenburg: Sie würden dort nicht verhätschelt, sondern geistig und körperlich gefordert und gefördert. Man bereite sie „einfühlsam und verständnisvoll auf das Leben“ vor. Statt Mitleid würden sie dort Liebe bekommen. Die Neue Zeit – Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Partei Deutschlands (Blockpartei Ost-CDU) – wies ihre Leser/innen insbesondere auf die Kindergärtnerin im Vorschulteil Ines Busse hin. Busse – überzeugte Christin, Ost-CDU-Mitglied und zudem ehrenamtliche Richterin37 – wurde als vorbildliche empathische Erzieherin gelobt.38 Der für Probleme von Menschen mit Behinderungen besonders aufgeschlossene Aleksej Mares’ev ließ sich von der Qualität der Oberschule in Neubrandenburg im September 1982 überzeugen. Anlässlich der feierlichen Namensgebung kam er nach Neubrandenburg und ließ sich die Anstalt zeigen, erkundigte sich über die Einrichtung der Schule und Freizeitaktivitäten der Schüler. Um die Kinder zu ermutigen, betonte der sowjetische Gast: „Helden werden nicht geboren. Sie werden stark, wenn sie die Pflichten des Alltags erfüllen.“39 Als Helden und „wahre sozialistische Menschen“ galten in der DDR der kubanische Doktorand der Hochschule für Ökonomie Berlin (HfÖ) Fausto Diaz und die Mecklenburger Lehrerin Hanna Leibold, die sich von Aleksej Mares’ev inspirieren ließen. Die Lehrerin und Schulleiterin Leibold aus dem Dorf Mecklenburg bei Wismar wurde aufgrund einer schweren Erkrankung operiert. Ihre Beine blieben gelähmt. Die Ärzte empfahlen der Lehrerin, sich zu schonen. Leibold ignorierte diese Empfehlungen, denn sie wollte weiterhin „nützlich“ bleiben und weiter in ihrer Schule arbeiten. Die Schulleitung zeigte jedoch wenig Verständnis dafür und stieß – wie die Zeitung Neues Deutschland (ND) im Oktober 1966 berichtete – Leibold als „Invalide“ aus. Erst nachdem die hartnäckige Lehrerin sich an die SED-Kreisleitung und die Abteilung Volksbildung bei dem ZK der SED gewandt hatte und von diesen unterstützt worden war, sah die Schule ihre „Fehler“ ein und akzeptierte die behinderte Frau, die – wie die Zeitung hervorhob – nun „an unserem gemeinsamen Kampf für die glückliche Zukunft unseres Volkes“ weiter teilnehme.40 Die zitierte ND-Reportage war kein Zufall. Als „Zentralorgan der SED“ nutzte das Neue Deutschland den Fall Leibold, um die Grundsätze der sozialistischen Behindertenpolitik und das ihr zugrunde liegende Nützlichkeitsprinzip zu erörtern. Im Falle des im Ostblock gefeierten kubanischen Revolutionärs Fausto Diaz waren Fidel Castros Kuba, die Sowjetunion und die DDR bestrebt, den propagandistischen Profit zu schlagen. Der 18jährige Hilfsarbeiter Diaz, der seine Beine und 36 37 38 39 40
Vgl. Franz Krahn, Alexej Maresjew besuchte Neubrandenburger Kinder. Sie kannten ihn gut aus dem Roman „Der wahre Mensch“, in: Neues Deutschland v. 25.9.1982, S. 7. Vgl. NZ/ADN, Vor den Kommunalwahlen: Im Wohngebiet gute Bekannte. Kandidatenprüfungen werden fortgesetzt, in: Neue Zeit v. 7.3.1989, S. 1. Vgl. Gudrun Skulski, Ausgleich schaffen für das Verzichtenmüssen. Begegnung mit Unionsfreundin Ines Busse, in: Neue Zeit v. 18.10.1986, S. 8. Krahn, Alexej Maresjew besuchte Neubrandenburger Kinder (Anm. 36). Kania, Auf dem Spuren eines Leserbriefes (Anm. 33).
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seinen rechten Arm infolge eines US-amerikanischen Luftangriffes bei der Schlacht in Playa Girón am 18. April 1961 verloren hatte, anschließend studierte, eine Karriere in der kommunistischen Jugendbewegung Kubas machte und dadurch die Bemühungen des sozialistischen Staates um seine behinderten Bürger/innen veranschaulichte, wurde zum „Opfer des amerikanischen Imperialismus“ und gleichzeitig zum „Symbol des antiimperialistischen Kampfes des kubanischen Volkes“ stilisiert: Die sowjetische Zeitung Pravda („Wahrheit“) berichtete bereits Ende Juli 1961 über Diaz. Dieses Zentralorgan der KPdSU informierte seine Leser über den Kuba-Besuch des sowjetischen Kosmonauten Jurij A. Gagarin, der mit dem „verletzen“ Fausto Diaz in Havanna Bekanntschaft machte. Das Ausmaß und die Folgen seiner dramatischen Verletzung wurden in der sowjetischen Reportage nicht erwähnt.41 Nach seiner Verletzung kam Diaz in die DDR und absolvierte dort einen Erholungsurlaub bzw. eine medizinische Rehabilitation in Neuruppin und Ost-Berlin.42 Am 10. Februar 1962 meldete die Neue Zeit: „Die Mitarbeiter der Berliner Justiz übergaben dem jungen Kubaner Fausto Diaz, der bei der Aggression der USA schwer verletzt wurde und gegenwärtig zu einem Erholungsurkaub in der DDR weilt, eine Solidaritätsspende.“43
Zusammen mit dem Boxer Teófilo Stevenson (Olympiasieger 1972, 1976 sowie 1980), dem Machetero (Arbeiter in der Zuckerrohrernte) Juan Torreblanca und der Studentin Alina Trujillo gehörte Diaz zu einer Delegation, welche die „Insel der Freiheit“ bei den X. Weltjugendfestspielen vertrat. Über Diaz, der 1973 in OstBerlin sein Vorbild Aleksej Mares’ev persönlich kennenlernte,44 und weitere Kubaner wurde auch in der DDR-Presse im April und August 1973 berichtet.45 Auf seine Behinderung wurde allerdings in diesem Zusammenhang nicht explizit hingewiesen. 1981 veröffentlichte die Neue Zeit eine Reportage über Diaz, der zu diesem Zeitpunkt in Ost-Berlin weilte und seine Doktorarbeit an der HfÖ schrieb. In dieser Reportage wurde nun auch die Geschichte seiner Behinderung thematisiert.46 Auf Kuba, in der DDR und in der UdSSR wurde der Rollstuhlfahrer Diaz als geachteter 41 42 43 44 45
46
N. Denisov u V. Borovskij, Vsenarodnoe toržestvo na Kube, in: Pravda v. 28.7.1961, S. 5. Vgl. Gisela Wenck, Berliner Gästebuch. Held der Schlacht von Playa Giron, in: Neue Zeit v. 21.2.1981, S. 6. Justiz sammelt für Kuba, in: Neue Zeit v. 10.2.1962, S. 12. Vgl. S. Furin, Druz’ja Sojuza pionerov, in: Junyj technik 8 (1978), S 25 ff. Vgl. In der ganzen Welt Kurs auf X. Festival, in: Neues Deutschland v. 5.4.1973, S. 7; ADN/ BZ, Mit Bestleistungen zum Festival nach Berlin. Sonderschichten für den Solidaritätsfonds, in: Berliner Zeitung v. 15.4.1973, S 5; Jürgen Nowak, Beispiel für Lateinamerika, in: Neues Deutschland v. 1.8.1973, S. 3. Am 8. August 1973 veröffentlichte das Neue Deutschland ein ADN-Zentralbild-Foto des „herzlichen Gesprächs“ des Kubaners mit dem Ersten Sekretär des sowjetischen Komsomol Evgenij M. Tjažel’nikov. An diesem in Berlin während der Weltfestspiele aufgenommenen Bild ist interessant, dass der sowjetische Komsomol-Chef im Vordergrund steht, während Diaz von hinten gezeigt wird, wobei sein Gesicht kaum zu sehen ist. Vgl. Festivalbewegung ist auf eine höhere Stufe gehoben. Interview des 1. Sekretärs des ZK des Komsomol, Genossen J. M. Tjashelnikow für die Korrespondenten der Presseagentur Nowosti W. Gorodnow und I. Chutorny, in: Neues Deutschland v. 8.8.1973, S. 6. Vgl. Wenck, Berliner Gästebuch (Anm. 42).
„Der wahre sozialistische Mensch“. Kampfflieger Mares’ev in der DDR-Rezeption
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„kubanischer Mares’ev“ wahrgenommen, der besser sterben als seinen nahen Verwandten und der Revolution zur Last fallen wollte47 und der sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss des sowjetischen Kampffliegers – vom Gefühl der „physischen Behinderung“ habe befreien können.48 Am 30. Oktober 1966 schwärmte die ND-Autorin Inge Kania von Aleksej Mares’ev: „Die legendäre Selbstüberwindung dieses tapferen Mannes, dem weder Hunger, Erschöpfung, Schmerzen, noch schließlich der Verlust beider Füße den Willen nehmen konnten, weiter zu leben und zu kämpfen, bleibt jedem unvergeßlich, der einmal sein Schicksal verfolgte.“49 Ihr Kollege Klaus Haupt hob am 3. Mai 1980 hervor, dass Mares’evs Persönlichkeit eine „ganze Generation junger Antifaschisten“ in der DDR geprägt habe.50 Die große Wirkung des Vorbildes Mares’ev veranschaulicht die Geschichte einer Zimmerbrigade des BMK Chemie Halle aus dem Jahr 1985. Die von dem 31jährigen Jürgen Homuth geleitete Brigade wurde bei dem Bau der Erdgasstraße aus der UdSSR nach Europa am Standort Pervomajskij bei Tambov eingesetzt. Dass diese Brigade den Namen „Mares’ev“ trug, war nicht außergewöhnlich: in mehreren ostdeutschen Betrieben wurden Brigaden nach dem sowjetischen Kriegsveteranen benannt.51 Außergewöhnlich war vielmehr die Tatsache, dass Homuth und seine Kollegen, die sich am Thälmann-Aufgebot in Vorbereitung des 11. Parteitages der SED (April 1986) beteiligten, Aleksej Mares’ev zum „Brigademitglied Nr. 1“ machten, für ihn die Leistungen (8.500 Arbeitsstunden im Jahr 1985) erbrachten und darüber hinaus – wie Jürgen Homuth Erich Honecker informierte – Mares’evs „Leben und seine Taten zur Befreiung der Völker vom Hitlerfaschismus“ studierten.52 ZUSAMMENFASSUNG Wusste „Brigademitglied Nr. 1“ Aleksej Mares’ev überhaupt von „seinem“ Brigadeleiter, „Helden der Arbeit“ Jürgen Homuth und „seinen“ Kollegen, die in Pervomajskij die für die sowjetische und ostdeutsche Wirtschaft so wichtige Erdgasstraße bauten? Diese Frage lässt sich anhand der zur Verfügung stehenden Quellen nicht 47 48 49 50 51 52
Vgl. Furin, Druz’ja Sojuza pionerov (Anm. 44); Achenor Marti, Geroj Plaja-Chirona, in: Kuba 6 (1979), S. 30 f. Valentin Osipov, O čem rasskazali dorogi, in: Smena 14 (Juni 1973), S. 11, 20. Kania, Ein wahrer Mensch (Anm. 33). Haupt, Ein Buch und sein Held (Anm. 16). Vgl. Monika Eichhorn, Tag für Tag: Tausend Besucher. Notizen über das Zentrale Haus des DSF, in: Neues Deutschland v. 5.9.1969, S. 8. Jürgen Homuth, Wissenschaft und Technik als Kampffeld der Jugend, in: Neues Deutschland v. 15.6.1985, S. 8; Kollektive der Erdgasstraße UdSSR an das ZK der SED. Unser Arbeiterwort: Täglich gute Bilanz am Jugendobjekt. Hohe Ziele der FDJ-Brigade des BMK Chemie Halle in Perwomaiskij, in: Neues Deutschland v. 19.6.1985, S. 3; 51 Helden der Arbeit an das ZK der SED: Höchstleistungsschichten zum Weltfriedenstag 1987, in: Neues Deutschland v. 25.4.1987, S. 3.
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beantworten. Jedenfalls war sich der überzeugte Kommunist und Sowjetpatriot Mares’ev der Verherrlichung seiner Persönlichkeit bewusst, die in der DDR wie in anderen Ostblockstaaten zu innen- und außenpolitischen Zwecken betrieben wurde. Für die SED-Propaganda war der „wahre Mensch“ Mares’ev, der sich für die DDR einsetzte, dieses Land für „friedliches“ und „antifaschistisches“ Deutschland hielt, Westdeutschland kritisierte, bei der „patriotischen Erziehung“ mitwirkte und als Vorbild für Menschen mit und ohne Behinderungen fungierte, eine beliebte Figur. Aleksej Mares’ev, Hanna Leibold und Fausto Diaz verkörperten das sozialistische Wunschbild der Menschen mit Behinderungen: Entschlossen überwanden sie die dramatischen Schicksalsschläge, blieben stark und taten alles, um keine Belastung für ihre Umgebung und für die Gesellschaft zu sein. Nicht ihre Leidensgeschichten, die lediglich am Rande beleuchtet wurden und diese „wahren sozialistischen Menschen“ nicht hätten entmutigen können, sondern ihre Siege über das Schicksal standen im Mittelpunkt der ostdeutschen und sowjetischen Pressepublikationen. Trotz seiner privilegierten Position in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock blieb Aleksej Mares’ev aber ein bodenständiger, bescheidener Mensch, dem die überschwänglichen propagandistischen Lobpreisungen eher unangenehm waren.53 Auch eine gravierende Diskrepanz zwischen den Propagandabekundungen über die sozialistische Behindertenpolitik und den Propagandabildern der „nützlichen“ Behinderten einerseits und der tatsächlichen Situation von Behinderten in der Sowjetunion andererseits, die stigmatisiert sowie de facto aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden und oft ein kümmerliches Dasein fristeten, entging ihm zweifelsohne nicht.
53
Als Beispiel kann die Ausgabe der Zeitung Neues Deutschland v. 10.7.1951 erwähnt werden. In dieser Ausgabe wurde die Geschichte der jungen sowjetischen Stadt Komsomol’sk am Amur geschildert, die in den 1930er Jahren entstanden war und von der sowjetischen Jugend gebaut wurde. Zwischen 1934 und 1937 wirkte der spätere Flieger Mares’ev u. a. als Mechaniker und Metalldreher bei diesem stalinistischen Großprojekt mit. Im Zusammenhang mit der Entstehung der Stadt wies die ostdeutsche Zeitung explizit auf Mares’ev und seine Geschichte im Zweiten Weltrieg hin. Gleichzeitig veröffentlichte man die Erinnerungen des Fliegers, in denen er seine Zeit in Komsomol’sk Revue passieren ließ, ihren Einfluss auf seine Charaktereigenschaften (Ausdauer, Wille etc.) hervorhob, aber auf die Kriegsepisode seines Lebens überhaupt nicht einging. Vgl. Die Sowjetjugend baut ein neues Komsomolsk. Stadt der jungen Erbauer des größten Wasserkraftwerkes der Welt / Ihr großes Vorbild „Komsomolsk am Amur“, in: Neues Deutschland v. 10.7.1951, S. 6; Held der Sowjetunion Alexej Maresjew: So entstand Komsomolsk am Amur, in: ebd.
MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG UND CHRONISCH PSYCHISCH KRANKE IN DER REPUBLIK BELARUS NACH DEM ZERFALL DER UDSSR Herbert Wohlhüter DIE SITUATION IM JAHRE 1991 Wer in den ersten Jahren nach den großen Umbrüchen von Perestroika und Glasnost in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sich nach der Situation von Menschen mit Behinderungen erkundigte, brachte seinen Gesprächspartner meistens in Verlegenheit. Da in der sowjetischen Gesetzgebung weder der Begriff Behinderung noch die Präzisierung von geistiger Behinderung in Gebrauch waren, wurde die Frage überhaupt nicht verstanden. Wo Worte fehlten, breitete sich über diese Personengruppe von Behinderten ein Schweigen aus. Bekannt war der Begriff „Invalide“,1 womit gebrechliche Alte und körperbehinderte und im Besonderen körperversehrte Kriegsveteranen und Unfallverletzte gemeint waren. Die Frage nach behinderten Menschen – es war ein unbekanntes Thema. Als im Juni 1991 eine Gruppe von deutschen Jugendlichen mit geistiger Behinderung und mit therapieresistenten Anfallsleiden an einer Fahrt nach Minsk teilnahm, spürte man auf Schritt und Tritt, wie ungewohnt in der belarussischen Öffentlichkeit die Begegnung mit behinderten Menschen damals empfunden wurde. Geistig Behinderte und chronisch psychisch kranke Menschen hielten sich fast ausschließlich in den Wohnungen auf, sie wurden von ihren Angehörigen betreut, in 80 % der Familien war die Mutter alleinerziehend, da die Männer nach Geburt eines behinderten Kindes die Beziehung verlassen hatten. Behinderte, die nicht in der Familie betreut werden konnten, kamen in die sogenannten Psychiatrisch-Neurologischen Internate. Wenn ein behindertes Kind auf die Welt kam, wurde den Müttern oftmals mit sanftem Druck eine Entlastung angeboten, dass sie das Kind in ein Kinderinternat abgeben könnte. Die Gruppe von Personen mit geistigen und psychischen Behinderungen kam weder in der Gesetzgebung noch im öffentlichen Bild der sowjetischen Gesellschaft vor. Wer die Entwicklungen in Deutschland seit den 1950er und 1960er Jahren auf dem Gebiet der Behindertenarbeit kannte, verglich die Situation in Belarus zu Be1
Die konzeptionelle Entwicklung in postsowjetischer Zeit ist unter der linguistischen Perspektive dargestellt in: Claudia Radünzel, Das Wortfeld „Behinderter“ und seine Russischen Entsprechungen (=Europäische Hochschulschriften, Reihe 16: Slawische Sprachen und Literaturen, Band 59), Frankfurt/M. 1998.
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ginn der 1990er Jahre mit der Zeit um 1950 bis 1965 in Deutschland. Die „Euthanasie“ der Hitlerzeit hatte in der Folgezeit Sprachlosigkeit mit sich gebracht, die Situation von geistig Behinderten und psychisch Kranken wurde verschwiegen, die Probleme den oft überforderten Angehörigen überlassen oder, falls es notwendig war, wurden die Betroffenen in geschlossenen und abgeschiedenen Anstalten, psychiatrischen Krankenhäusern und Heimen verwahrt. 2011 – ZWANZIG JAHRE SPÄTER Es gibt in Belarus mehrere republikanische Rehabilitationszentren für Früherkennung und Frühförderung behinderter Kinder. Geistig behinderte Kinder sollen in den Kindergärten aufgenommen werden. Über 143 Korrektionszentren sind verantwortlich für die integrative schulische Bildung behinderter Kinder. Das Gesetz vom 29.04.2007 über die Bildung, soziale Anpassung und Integration von Personen mit psycho-physischen Besonderheiten weist ausdrücklich darauf hin, dass man nicht mehr von Bildungsunfähigkeit geistig behinderter Kinder sprechen darf. Alle Kinderinternate, die dem Bildungsministerium unterstehen, sollen bis 2015 aufgelöst sein. Alternativen für die außerfamiliäre Unterbringung von behinderten Kindern sind gemeinwesenintegrierte Kleinheime, Pflegefamilien usw. Diese neuen Versorgungskonzepte lassen allerdings in der praktischen Umsetzung schwerst-mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche außen vor. Probleme einer Umwelt voller räumlichen Barrieren und fehlende Transportmöglichkeiten, aber auch fehlende fachliche Qualifikation des Fachpersonals für den Umgang mit schwerstbehinderten Menschen, besonders im ländlichen Bereich, setzen (noch) Grenzen in der Umsetzung der staatlichen Vorgabe, dass alle behinderten Kinder und Jugendlichen bildungsfähig wären. Auch die Kinderinternate mit der Gruppe der sehr schwer und mehrfach Behinderten und als solche dem Sozialministerium unterstellt, sind nicht von dem Erlass des Präsidenten vom 15. Mai 2006 zur Auflösung von Kinderinternaten berührt.2 Ein großer Schritt zur Betreuung von Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher Behinderung war dann der Erlass des Präsidenten vom 17.09.2007. Danach sollte innerhalb eines Jahres an jedem der 156 Sozial-Territorialzentren eine Abteilung zur Tagesbetreuung für Menschen mit geistiger Behinderung ab 18 Jahren eingerichtet werden. Mit diesem Auftrag wurden die regionalen und lokalen Verwaltungen in den staatlichen Strukturen mit der Frage nach ihren jugendlichen und erwachsenen Mitbürgern beschäftigt, die aufgrund ihrer geistigen Behinderung in ihren Familien, meistens unbeschäftigt, leben. 2
Im Programm „Kinder von Weißrussland 2006–2010“ (Erlass des Präsidenten Nr. 318 vom 15. Mai 2006) wurde die Schließung der Kinderinternate und der Heime für Sozialwaisen festgesetzt. Das Programm wurde aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen nicht so zügig umgesetzt wie geplant, jedoch verringerte sich die Zahl der Internate zwischen 2006 und 1. Januar 2009 um immerhin 12 %. Die Zahl der in den Kinderinternaten untergebrachten Kinder sank zwischen 2004 und 2009 um 27 %.
Menschen mit geistiger Behinderung im postsowjetischen Belarus
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In der Zivilgesellschaft engagieren sich zahlreiche Initiativen, um Behinderten und deren Familien direkte und indirekte Hilfen zukommen zu lassen. Über 56 lokale Elternorganisationen sind in der Nationalen Elternorganisation BelapdiMi zusammengefasst3. Daneben gibt es kleinere Nichtregierungsorganisationen, die sich mit speziellen Behinderungsproblemen beschäftigen, wie z. B. psychischen Erkrankungen von Kindern, Down Syndrom, Autismus und andere mehr. Seit der Gründung der nationalen Elternorganisation BelapdiMi im Jahre 1995 sind zahlreiche Impulse zur Förderung und Betreuung von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft und in die Politik sowie in die soziale Gesetzgebung eingegangen. Zahlreiche praktische Beispiele für die Betreuung und Förderung wurden in diesen NGOs gegeben. Die soziale Arbeit der Kirchen konnte sich in den letzten Jahren frei entfalten und verwirklichte an verschiedenen Stellen im Land Leuchtturmprojekte, die die Förderung und Betreuung von Menschen mit Behinderungen beispielhaft darstellen sollten. Der teilnehmende Beobachter aus Deutschland kommt ins Staunen, dass nach der in der Sowjetzeit viele Jahrzehnten dauernden sozialpolitischen Stagnation innerhalb von zwanzig Jahren eine solche positive Entwicklung in Gang gekommen ist, in der Menschen mit geistiger Behinderung Beachtung finden, in der Öffentlichkeit und in den Medien zu Wort kommen, und dass einzelne bedeutsame Entwicklungen in der Gesetzgebung Eingang gefunden haben. Die sozialen Entwicklungen in Belarus auf dem Gebiet der Behindertenhilfe sind nicht denkbar ohne die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, in die deutsche und darüber hinaus westeuropäische Initiativen mit eingebunden waren. WELCHE FAKTOREN HABEN DIE ENTWICKLUNG IN GANG GEBRACHT? Nach über siebzig Jahren staatlich verordneter Untätigkeit im sozialen Bereich konnten die Kirchen, hier ist im besonderen die Russisch-orthodoxe Kirche von Belarus gemeint, durch ihre hauptamtlichen Priester und ihre wieder neu entstandenen, ehrenamtlich tätigen „Schwesternschaften der Barmherzigkeit“ in die meist abseits gelegenen und verschlossenen neurologisch-psychiatrischen Institutionen („Internate“) hineingehen und den Menschen begegnen, die aufgrund ihrer geistigen oder seelischen Behinderungen aus dem allgemein gesellschaftlichen Leben ausgegliedert und nun entmündigt und rechtlos der öffentlichen Institution ausgeliefert waren. Die Erfahrungen aus der Begegnung mit diesen geschlossenen und totalen Institutionen führten sehr früh in einigen Gemeinden zu dem Entschluss, selbst Alternativen zu den Internaten zu entwickeln. Beispiele sind Werkstätten für Behinderte zur Förderung und zur Tagesbetreuung, ein Kleinheim für Kurzbetreuung von Jugendlichen, Besuchsdienste von Ehrenamtlichen in Internaten oder ein familienunterstützender Dienst für Familien mit schwerstbehinderten Kindern. 3
Siehe BelapdiMi unter www.belapdi.org (5.2.2015). Die Internetseite gibt zahlreiche weitere amtliche und nicht-amtliche Informationen zur Situation der Behinderten in Belarus.
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Sehr früh nach dem Ende der Sowjetzeit begann auch in anderen religiösen Gruppen das Interesse an der Lebenssituation und an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen. Auch während der sowjetkommunistischen Zeit gab es im Bereich der beruflichen Rehabilitation von Körperbehinderten, Unfallverletzten und Kriegsbeschädigten Institutionen, die als sogenannte gesellschaftliche Vereinigungen im staatlichen System eingebettet, finanziell staatlich gefördert und dementsprechend von den staatlichen Autoritäten auch gesteuert wurden. Die in der Zeit der beginnenden Transformation der 1990er Jahre entstehenden Nichtregierungsorganisationen bedeuteten für den Staat und für die Gesellschaft eine Herausforderung. Sie gründeten sich auf Initiative von Betroffenen und ihren Angehörigen, sie brachten ihre eigene Lebenssituation öffentlich zur Sprache, solidarisierten sich mit Gleichgesinnten und formulierten ihre Vorstellungen, welche Hilfen sie brauchen, um dann einen Teil davon in Selbstregie auch umzusetzen. Hier strahlte etwas Neues auf: Betroffene wurden zu Akteuren, die von der Politik, vom Staat und von der Gesellschaft Unterstützung in ihrer Situation einforderten. Neu war auch, dass Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen und deren Angehörige durch die Bildung von Selbsthilfegruppen in der Öffentlichkeit sich allmählich eine Stimme verschafften.4 Viele Schwierigkeiten mussten überwunden werden, um als registrierte NGO anerkannt zu werden und arbeiten zu dürfen. Durch die praktische Arbeit gewannen jedoch diese Organisationen in den vergangenen zwei Jahrzehnten bei staatlichen und lokalen Vertretern der Politik und Administration immer mehr Anerkennung. In einzelnen Städten, Kommunen und Landkreisen von Belarus konnte durch die aktive Überzeugungsarbeit von Elternorganisationen oder anderen NGOs das jeweilige Exekutivkomitee gewonnen werden, um für die Einrichtung oder für den Betrieb einer Tagesstätte für Behinderte Sachkostenzuschüsse zu gewähren oder Räume mietfrei zu überlassen. Und das alles als freiwillige Leistungen ohne nationale gesetzliche Grundlagen – dies war die Situation in den neunziger Jahren. Ein Ergebnis war, dass durch die zahlreichen Initiativgruppen im ganzen Land an vielen Orten politische Gremien und Personen sich mit den Fragen von geistig Behinderten beschäftigten. Es entstanden für Vorschulkinder und für Kinder im schulpflichtigen Alter Fördertagesstätten, unterschiedlich in der Ausstattung und sehr verschieden im Blick auf das inhaltliche Niveau, doch ein erster Schritt war getan. Elterngruppen haben sich und der Gesellschaft den Beweis geliefert, dass Kinder mit geistiger und mehrfacher Behinderung bildungsfähig sind, bis in den Jahren nach 1999 mehrere Gesetze und Verordnungen für die vorschulische und schulische Bildung behinderter Kinder wegweisend die künftige Entwicklung vorgaben. Diese zivilgesellschaftliche Bewegung, die in der Hilfe für Behinderte einiges bewegte, ist allerdings nur im Zusammenhang mit der internationalen Hilfe zu sehen, die in Folge der Katastrophe von Tschernobyl (1986) in Westeuropa entstanden ist. Sehr bald hat ein Teil der zahlreichen Tschernobyl-Initiativgruppen ihre 4
Siehe Herbert Wohlhüter, Integration statt Separation. Menschen mit Behinderungen in Belarus, in: Osteuropa 54 (2004) Nr. 2, S. 137–146.
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Unterstützung nicht auf die Erholungsreisen von Kindern aus den verstrahlten Gebieten von Belarus nach Deutschland (oder anderen westeuropäischen Ländern) beschränkt. Sie haben vor Ort belarussischen Initiativgruppen menschliche, fachliche und natürlich materielle und finanzielle Unterstützung zukommen lassen, damit Kinder und Jugendliche mit Behinderungen entsprechende Bildung und Förderung erhalten. Ende der 1990er Jahre wurden in der Bundesrepublik über 600 Tschernobyl-Initiativen gezählt,5 die große und kleine Aktivitäten in Belarus betreiben. Die meisten von ihnen leisteten direkte humanitäre Hilfen, einige unter ihnen brachten vor Ort wichtige Impulse zum Aufbau von sozialen Strukturen in der belarussischen Gesellschaft ein. Die eigenen Erfahrungen in Deutschland nach 1950 wirkten dabei als Motivation, meistens unbewusst: So wie westeuropäische und angelsächsische Länder Deutschland nach dem Krieg beim Aufbau von sozialen Strukturen geholfen haben, so wollten deutsche Initiativen Belarus nach der Wende Unterstützung zukommen lassen. Und so wie die Behindertenhilfe in Deutschland durch die Ideen von den westlichen Nachbarn in den 1970er Jahren, auch vermittelt durch die neu entstandenen Elternorganisationen der Lebenshilfe, zu neuen Ideen inspiriert wurde, so wollten deutsche Initiativgruppen konzeptionelle Impulse in Belarus weitergeben. Allerdings ist das Bewusstsein, dass einst in den Jahren von 1941 bis 1944 unter deutscher Besatzung aus Deutschland die besessene Idee der Krankentötung von behinderten und psychisch kranken Menschen nach Belarus importiert wurde, kaum unter den deutschen Initiativen vorhanden gewesen. Das Wissen über die „Euthanasie“ in Belarus während der Besatzungszeit war und ist bis heute sehr mangelhaft, auf deutscher und erst recht auf belarussischer Seite. SCHRITTE EINER BEHINDERTENPOLITIK NACH 1991 Die individuelle Unterstützung für belarussische Bürger mit Behinderungen wurde in einem Gesetz aus dem Jahre 1991 geregelt. Danach sollen behinderte Personen, die Betreuung und Unterstützung benötigen, persönliche Betreuung zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen wie Internaten durch staatliche soziale Dienste erhalten. Trotz dieser Grundaussage mussten ausländische Beobachter im Jahre 2004 feststellen, dass die staatliche Fürsorge für Menschen mit geistigen und Mehrfach-Behinderungen sich fast ausschließlich auf das Angebot einer stationären Unterbringung in einem der psychiatrisch-neurologische Internate bezieht.6 Zurzeit (November 2011) wird ein Gesetz vorbereitet, wonach die häusliche Pflege, einschließlich hauswirtschaftlicher Dienste, auch Personen mit geistigen Behinderungen zur Verfügung stehen sollen bzw. eingekauft werden können.
5 6
Initiativ-Handbuch Belarus, Internationales Bildungs-und Begegnungswerk, Dortmund 2002. Der Beitrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe für die Entwicklung der Elternorganisationen behinderter Kinder in Belarus ist besonders hervorzuheben. Human Rights of Persons with intellectual Disabilities. Country Report Republic of Belarus, Hrsg. Inclusion Europe, Brüssel 2003, S.22 ff.
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Das Gesetz7 zum sozialen Schutz von behinderten Menschen in der Republik Belarus (1991) garantiert allen behinderten Menschen staatliche Unterstützung, unabhängig von der Art ihrer Behinderung, durch soziale Vergünstigungen und durch direkte finanzielle Zuwendungen. Bei aller Anerkennung dieser generellen Berücksichtigung des Personenkreises von geistig behinderten Mitbürgern ist die Höhe der Unterstützung bei weitem nicht ausreichend, um die häuslichen Kosten von behinderten Familienangehörigen zu decken. Die soziale Situation von Familien mit behinderten Kindern war gerade in den neunziger Jahren dadurch gekennzeichnet, dass in fast neunzig Prozent der betroffenen Familien die Männer wegen der Geburt eines behinderten Kindes die Familie verlassen hatten. Die alleinerziehenden Mütter mussten arbeiten. Heute hat sich diese familiäre Situation verbessert, da behinderte Kinder und deren Familie eine entsprechende therapeutische Begleitung erfahren. Die hohe Scheidungsrate in Familien mit einem behinderten Kind trifft heutzutage nicht mehr zu wie in den neunziger Jahren. Je schwerer die Behinderung eines Familienangehörigen ist, desto weniger reicht die finanzielle und soziale Unterstützung aus, die der Staat der Familie gewährt. Der Länderreport Belarus von Inclusion International trifft diese Aussage 2004, und sie gilt auch noch bis heute.8 Der Vorschlag des Länderreports, die Staatsausgaben, die für die Betreuung von behinderten Kindern in den staatlichen Internaten aufgewandt werden, teilweise umzuschichten für eine bessere Betreuung von behinderten Kindern in ihren Ursprungsfamilien, steht immer noch im Raum. Für diese Probleme haben wir Deutsche als Gäste in Belarus durchaus Verständnis, denn auch bei uns dauerte es ziemlich lange, bis eine veränderte Finanzstruktur und Finanzierungsschwerpunkte einem neuen und veränderten Paradigma zur ambulanten Betreuung von behinderten Menschen folgten.9 Die Idee, möglichst früh auf eine Behinderung bei Kindern durch Früherkennung und Frühförderung zu reagieren, kam mit der Öffnung des Staates zu den Eltern behinderter Kinder und ihren Organisationen. In den 1990er Jahren begannen die Nationale Elternorganisation BelapdiMi in Verbindung mit deutschen, englischen, schwedischen und niederländischen Fachorganisationen in Belarus ein breitgespanntes Fortbildungsangebot anzubieten, das offen stand für die Mitarbeiter aus den Einrichtungen der Elternorganisation selbst, aber auch für pädagogische und therapeutische Berufe, die bisher in ihren Ausbildungen mit den in Westeuropa eingeführten Therapiemethoden noch nicht bekannt gemacht wurden. Die Durchführung dieser Qualifizierungsangebote wurde ermöglicht durch die Förderung von staatlichen Programmen westeuropäischer Länder oder von Stiftungen, wie z. B. Aktion Mensch, oder der Robert Bosch Stiftung und Star of Hope (Schweden). Im Rückblick betrachtet, beruht der Erfolg dieser Qualifizierungsangebote auch darauf, dass dabei neben den Praktikern auch immer wieder Vertreter der Hochschulen mit einbezogen waren. Der wichtigste Erfolgsfaktor war die hohe Motivation und 7 8 9
Act 1224, XII vom November 1991. Country Report Belarus (Anm. 6). Erst vor ca. zehn Jahren fand in der Bundesrepublik Deutschland der Grundsatz „ambulant vor stationär“ Eingang in die Verordnungen zur Behindertenhilfe.
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Lernbereitschaft, neue Methoden der Therapie und der Förderung für behinderte Menschen kennenzulernen und nicht bloß stehenzubleiben bei einer klinischen Diagnostik, wie sie noch aus sowjetischer Zeit an den Universitäten gelehrt wurde. Außerdem betätigten sich zahlreiche Absolventen der Kurse als Multiplikatoren. Die Inhalte dieser Qualifizierungsoffensive durch belarussische und westeuropäische NGOs waren: Umgang mit Autismus, Ausbildung zum Ergotherapeuten (einem neuen Berufsbild in Belarus), Frühförderung, heilpädagogischer Umgang mit Risikokindern, Musiktherapie, physiotherapeutische Methoden in der Frühförderung. Diese Kurse brachten eine beachtliche Anzahl von Fachkräften hervor, welche in den ersten Einrichtungen arbeiteten, die von Seiten der Elternorganisationen für behinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet wurden. Im Jahre 1995 wurde von BelapdiMi die erste Tagesstätte für behinderte Kinder eröffnet. „Insel der Hoffnung“ in Minsk-West war der Name dieser Einrichtung. In der Folgezeit wurden von lokalen Organisationen von BelapdiMi an verschiedenen Orten in Belarus mit Unterstützung lokaler staatlicher Autoritäten und mit Hilfe von ausländischen Sponsoren – in der Regel Tschernobyl-Initiativgruppen aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern – weitere solcher Tagesstätten zur vorschulischen und schulischen Förderung von Kindern mit geistiger und mehrfacher Behinderung eingerichtet. Die Namen der von Eltern initiierten und geschaffenen Einrichtungen spiegeln etwas von deren Zuversicht wider, die betroffene Eltern mit dieser Einrichtung verbinden: Insel der Hoffnung. Wenige Jahre nach den ersten Gründungen dieser Tages- und Förderstätten für behinderte Kinder durch die Elternorganisationen und andere NGOs wurden staatliche Rehabilitationszentren in Belarus errichtet, in denen neben der Diagnostik und Therapie von Kleinkindern und Kindern mit mehrfachen Behinderungen auch die Eltern aktiv mit in die Programme durch entsprechende Kurzzeitaufenthalte einbezogen wurden.10 Im Bereich der vorschulischen Bildung arbeiten 48 Sonderkindergärten, daneben gibt es im Land 376 integrierte Gruppen der vorschulischen Bildung. Entsprechend der Nachfragen von Eltern behinderter Kinder hat sich die Zahl der integrierten Gruppen in der staatlichen vorschulischen Bildungsarbeit seit 2004 verdoppelt.
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Im Jahre 2002 wurde das erste Zentrum für Früherkennung und Frühförderung für Kleinstkinder in Minsk eröffnet. Mittlerweile gibt es in jeder Bezirksstadt von Belarus ein solches Zentrum. In der Metropole Minsk bestehen drei Zentren für Kleinstkinder (0–3) Jahre mit Behinderungen. Darüber hinaus gibt es in Belarus zahlreiche Behandlungsteams zur Früherkennung und Frühförderung für Kleinkinder.
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SCHULISCHE BILDUNG Ab dem Jahre 199911 wurden unter der Federführung des Bildungsministeriums der Republik Belarus Korrektionszentren errichtet. Mit diesem Konzept wurde das Ziel verfolgt, dass alle behinderten Kinder eine schulische Bildung erhalten. Die sog. Korrektionszentren sind schulische Förderzentren, die konzeptionell eine dreifache Zielsetzung haben: (1) die schulische Förderung von solchen behinderten Kindern, die in den Regelschulen auch dann, wenn sie in gesonderten Integrationsklassen zusammengefasst sind, aufgrund ihrer Behinderung nicht gefördert werden. (2) Durchführung von therapeutischen Angeboten (wie z. B. Logopädie oder Bewegungstherapie) für solche behinderte Kinder, die in die Schulen des entsprechenden Schulbezirkes gehen, und (3) Betreuung und Beratung der Schulen im Schulbezirk, in denen behinderte Kinder in integrierten Klassen oder in gesonderten Gruppen unterrichtet werden. Auf diese Weise kommt die Konzeption der sog. Korrektionszentren den beiden Zielvorstellungen schulischer Förderung von behinderten Kinder ziemlich nahe: das Korrektionszentrum ist ein Kompetenzzentrum für die schulische Förderung behinderter Kinder innerhalb eines Schulbezirkes, das die Schulen zur integrativen schulischen Bildung behinderter Kinder befähigen soll, und zugleich sollen die Regelschulen als Mainstream-Schulen Kinder mit Behinderungen aufnehmen und integrieren. Im Jahre 2010 sind in Belarus 143 Korrektionszentren eingerichtet. Diese Bemühungen des Bildungsministeriums sind für die Lebenssituation von Familien mit geistig behinderten Kindern eine große Entlastung. Allerdings muss die Einschränkung vermerkt werden: Kinder mit schweren Mehrfach-Behinderungen und Kinder mit schwerem autistischem Verhalten werden oft nicht in die direkte Förderung der Korrektionszentren aufgenommen. Vielmehr erhalten sie Heimunterricht. Dieser Heimunterricht ist allerdings nicht regelmäßig, wird von schlecht bezahlten Lehrern wahrgenommen und ist für die betroffenen Kinder im Blick auf deren schulische Förderung eine massive Benachteiligung gegenüber den übrigen Kindern. Neben den Transportproblemen – vor allem im ländlichen Raum –, und den räumlichen Bedingungen in den Gebäuden der Korrektionszentren ist mangelndes Know-how im Umgang mit solcher Schwere und Vielfalt von Behinderungen das Hauptproblem. ARBEITS- UND BILDUNGSANGEBOTE FÜR ERWACHSENE MIT GEISTIGEN BEHINDERUNGEN Schon sehr früh in den 1990er Jahren erkannten in Belarus zivilgesellschaftliche Akteure die Beschäftigungssituation und die Lebensbedingungen von Personen mit geistigen Behinderungen, die älter als 18 Jahre sind, als ein drängendes Problem. Eltern mit erwachsenen behinderten Kindern gehörten mit zur Gründergeneration 11
Verordnung Nr. 559 des Ministeriums für Bildung der Republik Belarus vom 31.08.1999. Heute in Belarus 143 Korrektionszentren, die alle Dienstleistungen für Kinder mit Behinderungen und mit psycho-physischen Besonderheiten verantworten, selbst durchführen bzw. überwachen.
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der Elternvereine. Das Problem, wie junge Erwachsene neben ihrer familiären Unterbringung Beschäftigungs- und Bildungsangebote erhalten, war von Anfang präsent, wurde aber in den letzten zehn Jahren immer drängender, nachdem der Staat für die schulische und vorschulische Förderung aktiv geworden ist. In den Tagesstätten für Kinder der Elternvereine von BelapdiMi wurden auch zunehmend Jugendliche und junge Erwachsenen betreut. Eine Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche12 erkannte sehr früh die Notwendigkeit, für Menschen mit geistiger Behinderung eine Werkstatt zu entwickeln, in denen diese Menschen entsprechend ihren Möglichkeiten einer Beschäftigung nachgehen könnten. Bei ihren Besuchen in einem der großen Internate in Belarus erkannte der Priester und die ehrenamtlichen Schwestern der Barmherzigkeit, wie die Untätigkeit und Perspektivlosigkeit die behinderten Menschen abstumpfen lassen. So sahen bereits im Jahre 1992 die ersten Pläne zum Aufbau eines Gemeindezentrums in Minsk West vor, dass innerhalb eines Gemeindezentrums eine Werkstatt für Behinderte eingerichtet werden sollte. Diese Idee wirkt noch nach zwanzig Jahren im Rückblick als visionär. Zu einer Zeit, in der Menschen mit geistigen Behinderungen in der belorussischen Gesellschaft versteckt wurden, plante eine Gemeinde, dass auf ihrem Territorium, das von vielen Hunderten Menschen tagtäglich besucht werden sollte, geistig Behinderte mit dazu gehören, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kommen und Gehen, mit ihrem Leben. Und auch die Angehörigen sollten sich eingeladen fühlen und dazugehören. In provisorischen Räumen des Gemeindezentrums wurden ab 1996 die ersten erwachsenen Behinderten in eine Beschäftigungswerkstatt aufgenommen (Nähen, Papierverarbeitung), bis dann ab 2001 die Räume erstellt waren für die Beschäftigung von über 100 behinderten Menschen. Durch deutsche Partner vermittelt, konnte die Werkstatt für Behinderte durch finanzielle Zuwendungen von Stiftungen und von deutschen Kirchen errichtet werden. Diese Werkstatt ist offen für alle, auch für Menschen mit schweren Behinderungen und Störungen. Entgegen den staatlichen Vorgaben, wonach viele geistig behinderte Menschen aufgrund ihrer medizinischen Diagnose nicht arbeiten dürfen, sind diese Menschen dort zur Arbeit eingeladen und werden dazu auch motiviert. Jeder, der neu aufgenommen wird, erhält eine zweijährige Einübungs- und Trainingszeit, bis er dann in einer der Abteilungen mitarbeitet: Näherei, Papierverarbeitung, Druck, Holzbearbeitung, Metallbearbeitung, Kerzenherstellung, Gemüsegarten und Landschaftspflege. Offiziell dürfen ihre Produkte gemäß der belarussischen Steuergesetzgebung nicht verkauft werden. Seit über zehn Jahren finanziert die Minsker Kirchengemeinde und ihr deutscher Partner (von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel) diese Arbeit, ohne dass der belarussischen Staat irgendeine Zuwendung gibt, obgleich über 100 Behinderte durch die Werkstatt mehr Selbstständigkeit, Kompetenz und Zufriedenheit hinzugewinnen und dem Staat die Kosten einer stationären Unterbringung erspart bleiben.
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Siehe Website der Gemeinde: www.sobor.by/bethel-werkst.php (5.2.2013).
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Im Jahre 2007 überraschte ein Erlass des Präsidenten13 die Akteure der Behindertenhilfe in Belarus: Bis zum Jahresende sollten an allen 154 Territorialzentren Abteilungen eingerichtet werden, in denen schulentlassene, geistig behinderte junge Menschen einen Tagesaufenthalt erhalten sollten. Viele Territorialzentren erreichten in relativ kurzer Zeit, die äußeren räumlichen und personellen Voraussetzungen für diese neue Aufgabenstellung zu schaffen. Allerdings war die Ratlosigkeit unter dem dafür vorgesehenen Personal sehr groß, denn unvorbereitet und auch nicht dafür ausgebildet waren die Sozialarbeiter und sonstigen Mitarbeiter, die diese Aufgaben der Beschäftigung von geistig Behinderten wahrnehmen sollten. In kurzer Zeit wurde vom deutschen Projektpartner in Zusammenarbeit mit der Kirchlichen Werkstatt ein Curriculum erarbeitet, deutsche Dozenten und Fachleute der Praxis wurden herangezogen, und in Kooperation mit dem Qualifizierungszentrum, das dem Belarussischen Sozial- und Arbeitsministerium unterstellt ist, wurde ein Modellkurs für dreißig Abteilungsleiter dieser neu eingerichteten Abteilungen durchgeführt. Dieser Kurs war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum ersten Mal fand eine staatlich anerkannte Qualifizierungsmaßnahme statt, an der auch NGOs teilnahmen. Die teilnehmerorientierte Lernform, die theoriegeleitete Praxisreflexion, das eigenorganisierte Lernen in den regionalen Lerngruppen – das alles waren Neuerungen für die Teilnehmer und das Qualifikationszentrum für berufliches Lernen beim Arbeits- und Sozialministerium. Die Materialien des Kurses wurden in einem Handbuch veröffentlicht und allen Dienststellen im Land, den Hochschulen und der Praxis zur Verfügung gestellt. Diese Abteilungen an den Sozialzentren wurden von den Angehörigen von Behinderten mit großer Erleichterung aufgenommen, es war die erste Betreuungsform für erwachsene, nicht mehr schulpflichtige behinderte Jugendliche, außerhalb der Internate, in familiennaher und gemeindenaher Form. Allerdings soll in diesen Abteilungen zum Tagesverbleib von geistig behinderten Menschen die Freizeitbeschäftigung im Vordergrund stehen, und nicht die ziel- und ergebnisorientierte Beschäftigung. Die Produkte der Beschäftigung dürfen nicht verkauft werden. Die sog. Zirkelarbeit (Hobbygruppen) bestimmt den Tagesrhythmus und nicht eine Struktur von Arbeit, die dem individuellen behinderten Menschen angepasst ist. In einigen Psychiatrisch-Neurologischen Internaten wird auch die Beschäftigung der Heimbewohner zunehmend thematisiert. In manchen Internaten werden Werkstätten reaktiviert bzw. neu eingerichtet. Allerdings werden die Bemühungen, Arbeitsangebote für geistig behinderte Menschen zu entwickeln, gebremst, wenn nicht blockiert. Die meisten Personen mit geistiger oder psychischer Behinderung dürfen aufgrund einer medizinischen Kategorisierung nicht arbeiten. Und die andere staatliche Verordnung verbietet sozialen Einrichtungen geradezu wirtschaftliches und nützliches Denken in der Arbeit mit erwachsenen Behinderten: Eine soziale Einrichtung darf nichts verkaufen, das bedeutet, sie darf nichts herstellen, das 13
Nach dem Erlass vom 17. September 2007 (Nr. 114) sind die bestehenden 154 Territorialzentren flächendeckend in der Republik Belarus für soziale Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche, Familien, Suchtkranke, Arbeitslose und Alte zuständig. Innerhalb kürzester Zeit waren an 145 Zentren zusätzlich Abteilungen für geistig behinderte Erwachsene eingerichtet.
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für die Allgemeinheit nützlich ist und deshalb dementsprechend auch mit Geld bewertet werden kann. Bei den für die soziale Arbeit Verantwortlichen, auch bei den politischen Entscheidungsgremien, wird diese Problematik zur Zeit zunehmend als nicht hinnehmbar gesehen, es wird nach Lösungen gesucht, wobei der deutsche Gesprächspartner und Experten zum Mitdenken eingeladen wurden. ÖFFENTLICHKEIT IN BELARUS ÖFFNET SICH IHREN BEHINDERTEN MITBÜRGERN Im Rückblick auf die Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre in der Hilfe für Kinder und Erwachsene mit geistigen Behinderungen kann gesagt werden, dass viele wichtige Schritte unternommen wurden, um für den Personenkreis derer, die von einer geistigen Behinderung betroffen sind, vorschulische, schulische und weitere soziale Betreuung landesweit zu ermöglichen. Der geistig Behinderte ist in den Blick der Öffentlichkeit getreten, er benutzt den öffentlichen Verkehr, er bewegt sich in den Straßen, um an den Ort des Lernens und der Förderung zu kommen. In öffentlichen Medien wird nicht nur über ihn und seine Fördermöglichkeiten berichtet, sondern er selbst kommt in Interviews zur Sprache. Bei Stadtteilfesten, bei sportlichen Veranstaltungen und an kulturellen Aktivitäten nimmt er auch aktiv teil. Natürlich sind die öffentlichen Wege und Verkehrsmöglichkeiten voll von Barrieren, doch das Bewusstsein nimmt zu, dass die Umwelt anders gestaltet werden muss, damit sie für Menschen mit mehrfachen Behinderungen zugänglich wird. Es war ein wichtiger Beitrag in den vielen Begegnungen zwischen belarussischen und deutschen Initiativen, sowohl im Land Belarus als auch bei den Reisen nach Deutschland, dass Belarussen wahrgenommen haben, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen mit geistigen Behinderungen ihr Leben in der Gemeinschaft führen. Dies kann so gesagt werden, obgleich wir in Deutschland immer wieder Erfahrungen machen müssen, die uns aufzeigen, wie viel wir in unserer deutschen Gesellschaft noch an Toleranz und Akzeptanz zu lernen haben, im Sinne des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: normal sei es, verschieden zu sein. OFFENE THEMEN IN DER SOZIALPOLITIK VON BELARUS FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG UND DEREN UMSETZUNG – PERSPEKTIVEN DER ENTWICKLUNG Vieles hat sich in Belarus auf dem Gebiet der Betreuung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen nach der Stagnation der sowjetischen Zeit in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt. Ein Merkmal jedoch kennzeichnet die gegenwärtige Praxis der Behindertenhilfe in Belarus, das kräftig in die „alte sowjetische Zeit“ hineinreicht, ja geradezu auch mit der Epoche verbunden ist, in die die Geschehnisse der Krankenmorde reichen. Die Hilfe für Menschen mit geistiger Behinderung ist noch stark medikalisiert, die geistige Behinderung wird – immer noch – als Defekt angesehen und mit dieser Sichtweise wird die geistig behinderte
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Person definiert als kranker bzw. defekter Mensch. Die traditionellen Internate sind als Krankenhaus organisiert. Der Arzt definiert den geistig behinderten Menschen aufgrund seiner defizitorientierten Betrachtungsweise als krank und nicht arbeitsfähig. Dementsprechend darf der geistig behinderte und chronisch seelisch Behinderte nicht arbeiten. Immer noch nennen Sonder- oder Heilpädagogen ihre eigene Profession „Defektologie“. Es geht mehr als nur um Begriffsdefinitionen. Es geht um das Grundverständnis von geistiger Behinderung und infolgedessen um einen Paradigmenwechsel. Solange der Arzt mit seinem Krankheitsverständnis die alleinige Definitionsmacht über die Person mit geistiger Behinderung wahrnimmt, wird der Behinderte nicht in seinen Potentialen, nicht in seiner Andersartigkeit als Person, nicht in seinen Möglichkeiten gesehen. Es ist ein interdisziplinärer Ansatz im Verständnis von geistiger Behinderung nötig. Von dieser Grundsatzentscheidung hängt vieles ab: die Arbeitsweise und die Zuständigkeiten in der Förderung von behinderten Menschen, die Abkehr von der reinen Bewahrung und Pflege von Erwachsenen mit geistigen Behinderungen hin zu einem entwicklungsorientierten, aktivierenden Umgang mit erwachsenen Behinderten in einer stimulierend gestalteten Lebenswelt, die mehr der gesellschaftlichen Normalität entspricht und weniger eine Sonderwelt z. B. in einer isolierten Anstalt anzeigt. Erst wenn Personen mit einer geistigen Behinderung oder mit wesentlichen psychischen Beeinträchtigungen nicht mehr die Möglichkeit für eine Tätigkeit in einer beschützenden Umgebung verwehrt wird, können rehabilitative Konzepte für Erwachsene mit Behinderungen flächendeckend umgesetzt werden. In der belarussischen Gesetzgebung müssten die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung differenzierter beschrieben werden.14 Noch werden Behinderte, die nicht mehr in ihren Familien versorgt werden können, und in eine stationäre Betreuung eines Internates kommen, bei Aufnahme in das Internat entmündigt. Der Direktor des Internates erhält die Vollmacht über alle Angelegenheiten des behinderten Heimbewohners. Der Vertreter der Institution bestimmt umfassend über das persönliche Ergehen des behinderten Bewohners. Es versteht sich, dass ein Interessenkonflikt zwischen Internat und dem Individuum oft im Interesse der Institution entschieden wird, zumal Leitungspersonen in der postsowjetischen Administration bei besonderen Vorkommnissen sehr schnell und mit harten Konsequenzen, ohne große oder aufwendige Ursachenforschung, persönlich zur Verantwortung gezogen werden. In den vergangenen drei Jahren wurde mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung und von Aktion Mensch vom IBB Dortmund in Kooperation mit den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Belarus ein Projekt durchgeführt, das sich mit den Fragen der Erwachsenen mit geistiger und seelischer Behinderung auseinandersetzte. Neben Fachkonferenzen und zahlreichen Tagesseminaren in den Regionen von Belarus wurde auch eine russischsprachige Zeitschrift herausgegeben. Das Projekt sollte die verantwortlichen Akteure auf staatlicher und zivilgesell14
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahre 1992 das alte Vormundschaftsrecht von einem Betreuungsrecht abgelöst wurde, das die Rechte und die Möglichkeiten von betreuungsbedürftigen Personen stärkt.
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schaftlicher Seite für die besonderen Bedürfnisse von Erwachsenen mit Behinderungen sensibilisieren. Nachdem konzeptionell für Kinder mit geistiger Behinderung ein flächendeckendes, familien- und gemeindenahes Versorgungsangebot entwickelt wurde, muss nun auch für Erwachsene durch die Errichtung von über die Tagesverbleibstätten an den Territorialzentren hinausgehenden Arbeitsangeboten (wie Werkstätten für Behinderte) und von gemeinwesenintegrierten Wohnangeboten15 eine Alternative zu den Institutionen der Internate geschaffen werden. Dieser Schritt, Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für erwachsene Personen mit geistiger Behinderung in den Dörfern und Städten in ganz Belarus zu schaffen, scheint sehr groß zu sein. Wenn man jedoch die Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre im Kinderbereich ansieht, könnte diese nächste Phase im Aufbau von Familien- und integrierten Versorgungsstrukturen in der Behindertenhilfe als machbar erscheinen, wenn er von den staatlichen Strukturen gewollt wird. Die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die von der Republik Belarus bereits unterschrieben wurde und deren Ratifizierung durch das belarussische Parlament demnächst ansteht, gibt der konzeptionellen Weiterentwicklung im Blick auf geistig behinderte Erwachsene einen zusätzlichen Schub. Wenn endlich die staatlichen Strukturen die Potenziale der zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Weise nutzen, dass nichtstaatliche Organisationen (wie kirchliche Sozialarbeit oder Elternorganisationen) durch soziale staatliche Beauftragung16 an der Realisierung von sozialen Angeboten teilhaben können und dementsprechend auch aus staatlichen Budgets Zuwendungen erhalten, dann könnte die Realisierung eines gemeindenahen Versorgungskonzeptes schnell vorankommen. Leider tun sich bisher Politik und staatliche Strukturen sehr schwer, bei der Durchführung von Programmen zivilgesellschaftliche Akteure zu beteiligen und konkret finanziell zu unterstützen.17 Die belarussischen NGOs und ihre deutschen Partner hoffen darauf, dass die staatlichen Akteure in Belarus die Chancen erkennen, die NGOs bei der Gestaltung einer behindertenfreundlichen Gesellschaft mit einzubeziehen, auch wenn die politische Grundstimmung eher den Staat als alleinigen Akteur verwirklicht sehen möchte. Die Sozialpolitik und Administration begrüßt nach wie vor die Beteiligung deutscher Initiativen in der Behindertenhilfe von Belarus. Deutsche 15 16
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Stadtteilintegrierte Wohnheime, Wohngruppen im Allgemeinen Wohnungsbau, betreutes Wohnen, psychiatrische Familienpflege. Seit Anfang 2010 wird in belarussischen Ministerien über die Beauftragung von NGOs mit der Wahrnehmung sozialer Aufgaben beraten. Das IBB Johannes Rau Minsk veranstaltete dazu öffentliche Veranstaltungen mit deutschen Experten. Im Ministerium für Arbeit und Sozialschutz von Belarus fanden mehrere Hearings statt, an denen Fachleute aus den Ministerien mit deutschen Experten über den sogenannten sozialen staatlichen Auftrag diskutierten. Seit Oktober 2011 befinden sich die Gesetzesvorlagen im Abstimmungsprozess innerhalb der Regierung. (Nachtrag: Seit Anfang 2013 ist das Gesetz zum staatlichen sozialen Auftrag Grundlage für die Vergabe sozialer Aufträge an Nichtregierungsorganisationen). Die von NGOs in den 1990er Jahren begonnene Arbeit für Kinder und Jugendliche wurde mit der Einführung eines Programms vom Staat übernommen. Die von NGOs und deren ausländischen Partnern geleistete Mitarbeiterqualifizierung und erworbene Praxiserfahrung wirkten somit weiter in den vom Staat betriebenen und finanzierten Diensten und Einrichtungen.
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Initiativen sehen ihr Engagement in Belarus als eine kleine Bringschuld an, gerade im Blick auf behinderte Menschen aus der Vergangenheit zu lernen und dabei zu helfen, eine menschenfreundliche Zukunft für sie zu gestalten.
FAKTOREN DER ÜBERLEBENSCHANCEN VON BEHINDERTEN UND PSYCHISCH KRANKEN IN KRIEGSSITUATIONEN: EIN NACHWORT Rainer Hudemann Dieses Buch zeigt eine große Bandbreite unterschiedlicher Bedingungen, aus denen sich kleinere oder größere Überlebenschancen für Behinderte und chronisch psychisch Kranke ergeben konnten oder unter denen sie zu Tode kamen. Die gezielten Morde waren nur eine unter ihnen. Teilweise sind es Bedingungen, die aus der spezifisch nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa resultierten. Andere weisen hin auf allgemeinere Umstände, unter denen Kriege auf die Überlebenssituationen von Behinderten einwirken. In dem Forschungsprojekt, aus dem hier berichtet wird, lassen sich insbesondere zwölf Faktorenbündel konturieren. 1. GEZIELTE MORDAKTIONEN Gezielte Mordaktionen waren seit den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegsjahre und in Belarus für die Krankenanstalten in Minsk-Navinki und in Mahilëŭ seit einiger Zeit in der Forschung in Grundzügen bekannt. Täter waren teils die SSEinsatzgruppen, teils andere SS- und Polizei-Einheiten und teils Wehrmachtsangehörige, ebenso aus der kämpfenden Truppe wie – oft besonders zielgerichtet – aus der Zivilverwaltung. Als Instrumente dienten vor allem die aus dem Reich bekannten Gasmordwagen, Erschießungen sowie Sprengungen. Eine umfassende, programmatische und allgemeine Vernichtungspolitik wie gegen Juden und Roma oder wie in der innerdeutschen „Euthanasie“-Politik seit 1939 wurde in der Sowjetunion jedoch nicht ins Werk gesetzt. Die Ursprünge der Morde waren weitaus vielfältiger. 2. ANTISEMITISMUS UND BEHINDERTEN- UND KRANKENMORDE Unter dem Gesichtspunkt der NS-Rassenpolitik betrafen die Morde jüdische und nicht-jüdische Behinderte und als chronisch psychisch krank eingestufte Menschen gleichermaßen. Jedoch war das Vorgehen gegen Juden meist noch radikaler, häufig wurden sie als erste ermordet. Insofern ist innerhalb der Vernichtungspolitik eine ideologische Abstufung zu erkennen. Dass in der sowjetischen amtlichen Statistik Juden im Regelfall als eigene „Nationalität“ (nacional’nost‘) ausgewiesen wurden, erleichterte den Mördern solche Unterscheidungen. Behinderte und kranke Juden und Roma hatten damit besonders geringe Überlebenschancen. Rassismus wendete
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sich aber, ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, in sehr breitem Maße auch gegen die nicht-jüdische Bevölkerung und ihre Behinderten. 3. IDEOLOGIE UND SITUATIV BEDINGTE ENTSCHEIDUNGEN Die Ideologie selbst konnte für Einzelpersonen in den Besatzungsinstitutionen und unter den mit ihr gezwungen, situationsbedingt oder aus freien Stücken zusammenarbeitenden einheimischen Kräften in Polizei, Verwaltung, Arzt- und Pflegepersonal ein im Einzelfall ausschlaggebendes Gewicht haben. Die breit erforschten Eugenikund „Euthanasie“-Diskussionen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kamen unter einheimischem Personal in den besetzten Teilen der Sowjetunion zu einer verstärkenden Wirkung; besonders deutlich ist das im Baltikum. Soweit die Mord- und Todesumstände sich rekonstruieren ließen, kamen als entscheidende auslösende Faktoren jedoch weitere hinzu. Bei den systematischen Mordaktionen handelte es sich oft – tatsächlich oder vorgeblich – um die Räumung von Krankenhausbetten für Verletzte der Besatzungsmacht, also vorrangig SS und Wehrmacht, oder um eine „Entlastung“ der Versorgungsengpässe. Diese waren ihrerseits dadurch bedingt, dass das Reich zugleich exorbitante Abgaben in Naturalien und Zwangsarbeitern aus den besetzten Gebieten forderte und zusätzlich die Versorgung der gesamten Besatzungsverwaltung und -truppen aus dem Land voraussetzte. Zivilverwaltungs- und Wehrmachtsdienststellen spielten bei den Entscheidungen häufig die maßgebliche Rolle. Die Quellen machen es in vielen Fällen aber schwierig oder unmöglich, Einheiten oder gar Einzelpersonen präzise als Verantwortliche zu bestimmen. Überlebende Zeitzeugen standen in ihren Aussagen – auch in den Nachkriegsprozessen – nicht zuletzt vor der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, sich in den Mäandern der Strukturen der Besatzungstruppen und -verwaltungen zurechtzufinden. Zudem wandelten diese sich ständig. Dennoch sind zahlreiche Situationen und Befehlsketten auch zweifelsfrei zu belegen, nicht zuletzt aus den deutschsprachigen Quellen verschiedenster Provenienz einschließlich der Nachkriegsprozesse. 4. EVAKUIERUNGEN Zur indirekten Mordpolitik gehört die Evakuierungspolitik. Die Sowjetunion nahm beim deutschen Überfall im Juni 1941 auf Behinderte wenig Rücksicht: Parteikader und Arbeitskräfte standen an den ersten Stellen in den Prioritäten. Angesichts der jahrelangen sowjetischen Berichterstattung – ob Propaganda oder nicht – über die NS-Politik auch gegen Kranke und Behinderte in Deutschland, welche die Beiträge über Propaganda in diesem Buch in ihrer Vielfalt zeigen, musste den Verantwortlichen klar sein, welchem Schicksal sie die Behinderten damit auszusetzen drohten. Umgekehrt verbot die Wehrmacht auf ihrem Rückzug im Frühjahr 1944 Evakuierungen: Die katastrophalen Folgen für die Betroffenen legt Christoph Rass am Beispiel von Azaryčy/Ozariči im Februar 1944 dar. Behinderte gerieten damit besonders stark in das Zentrum von Kampfhandlungen.
Faktoren der Überlebenschancen von Behinderten und psychisch Kranken
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5. GESELLSCHAFTLICHE RANDPOSITIONEN, IDEOLOGIE UND DISKRIMINIERUNGEN Behinderte erlebten Diskriminierungen alltäglich auch vor dem Krieg, dieses Buch zeigt ihre Vielfalt. Sie schwächten in vielfältigen Formen die Überlebenschancen der Betroffenen angesichts des breiten Spektrums von Gefährdungssituationen im Krieg und unter der Wirkung der nationalsozialistischen Kriegführungs- und Vernichtungspolitik. Denn Randpositionen eröffneten nicht nur Aktionspotentiale für Vernichtungsideologien, sondern führten unmittelbar zum Zusammenbruch gesellschaftlich an sich verankerter Schutzmechanismen. Die physische Isolierung von körperlich und geistig Behinderten und chronisch psychisch Kranken – sei es in normalen Behindertenheimen oder innerhalb der von den Besatzern geschaffenen jüdischen Ghettos vor allem nach ihrer Verschleppung in gesonderte Behausungen – erleichterte die Reduzierung oder Ausschaltung der Möglichkeit des Kontaktes zu ihren Familien. Das wiederum setzte sie umso mehr der Willkür von Verwaltungen und Mordkommandos aus. Eine jegliche Rücksicht und Humanität gezielt negierende Ausbeutungspolitik, welche Massenmord offen in Kauf nimmt, zerstört nicht nur Menschen, sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Strukturen. Behinderte und Kranke geraten damit mehrfach in Gefahr: Sie können, wie in der nationalsozialistischen – auch wenn nicht von allen Besatzungsangehörigen geteilten – Ideologie, Opfer von neuen Diskriminierungen werden, die unter Extrembedingungen zum direkten oder indirekten Mord führen. Der Zusammenbruch und die gezielte Zerstörung von gesellschaftlichen und privaten Solidaritäts- und Schutzmechanismen bringt solche Schwachen in der Gesellschaft aber zusätzlich in Lebensgefahr. In Städten und auf dem Land konnten solche Schutzmechanismen höchst unterschiedlich wirksam oder wirkungslos werden. Sind Behinderte und Kranke in Kriegssituationen ohnehin schon besonders gefährdet, so gilt das für Situationen wie die nationalsozialistische Herrschaft in Ost- und Ostmitteleuropa in vielfacher Dimension. 6. SITUATIONSBEDINGTE UND GEPLANTE VERSORGUNGSENGPÄSSE Die Zerstörungspolitik auf dem sowjetischen Territorium verursachte sofort die genannten großen Versorgungsengpässe. Damit gerieten auch Krankenhauspatienten und Insassen von Behindertenheimen in zusätzliche unmittelbare Gefahr. In diesem Buch werden zahlreiche Situationen analysiert, in denen deutsche und einheimische Stellen durch Reduzierung oder Sperrung von Lebensmittellieferungen Behinderte und Kranke in Lebensgefahr brachten oder bewusst dem Hungertod auslieferten. Hier kamen in den deutschen Quellen gleichfalls ideologische Stereotype wie „unnütze Esser“ und „lebensunwertes Leben“, welche auch Wehrmachtsangehörige und Verantwortliche der deutschen Zivilverwaltung in nachweisbaren Fällen verinnerlicht hatten und zur Begründung anführten, zu grausamer Wirkung. In der Grundtendenz entsprach dies den unter anderem von Christian Gerlach analysierten nationalsozialistischen Plänen, 30 Millionen Menschen in der Sowjetunion Hun-
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gers sterben zu lassen, um die Versorgung der deutschen Bevölkerung unabhängig von Blockaden wie im Ersten Weltkrieg zu sichern. Insofern lag die Vernichtung von Behinderten und Kranken auch dann, wenn sie nicht gezielt erfolgte, in der Konsequenz der deutschen „Lebensraum“- und Ausbeutungspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten. 7. „LEBENDE MINENRÄUMGERÄTE“ UND „SEUCHENDÖRFER“ Behinderte gehörten wie Kranke, Mütter mit Kleinkindern und Alte zu den Bevölkerungsgruppen, deren relatives Gewicht im Verlauf der Besatzungsherrschaft in dem Maße anwuchs, wie die arbeitsfähige Bevölkerung „ausgekämmt“ und in andere Regionen oder nach Deutschland deportiert wurde. Sie bildeten „einen demographischen Schatten der deutschen Herrschaft“, nicht zuletzt auch als „lebende Minenräumgeräte“ (Rass). Christoph Rass und Vasili Matokh legen das besonders differenziert dar. Einfaches Abschieben ins Hinterland durch die Wehrmacht wurde nun immer weniger möglich. Bei Epidemien wurden Gesunde oft gemeinsam mit Kranken interniert und so durch Ansteckung indirekt getötet, Typhus-Kranke wurden in „Seuchendörfern“ ihrem Schicksal überlassen, bei Rückzugsbewegungen wurden Schwache zurückgelassen oder in sehr großer Zahl unmittelbar erschossen. Dabei teilten Behinderte vielfach das allgemeine Schicksal der Schwachen in der Gesellschaft. Oft wurde ihnen allerdings auch ihre spezifische Behinderung zum Verhängnis – so wenn Gehbehinderte den Trecks nicht mehr folgen konnten oder Gehörlose auf Warnanrufe nicht reagierten und deshalb erschossen wurden. 8. KRIEGSGEFANGENE Etwa drei Fünftel der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher „Obhut“, überlebten die Gefangenschaft bekanntlich nicht. Gegen sie setzte die Wehrmacht, die für sie verantwortlich war, Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit und Verweigerung medizinischer Versorgung in Deutschland und in den besetzten Gebieten in besonders großem Ausmaß als direkte Vernichtungsinstrumente und zusätzlich zu Morden durch Erschießen ein. Behinderte und kranke Kriegsgefangene hatten besonders geringe Überlebenschancen. 9. AMBIVALENZEN Charakteristisch für die Situation von Behinderten sind auch die Ambivalenzen unter den Bedingungen solcher totalen Kriege. Behinderung konnte Schutz bedeuten, wenn die Menschen als weniger gefährlich betrachtet wurden im Vergleich zu voll kampffähigen Personen. Deshalb setzten beispielsweise Partisanenverbände Behinderte bisweilen ein als Kuriere oder Spione, unter dem Deckmantel von Hausieren oder Bettelei. Das wiederum wusste auch die Besatzungsmacht, so dass Befehle
Faktoren der Überlebenschancen von Behinderten und psychisch Kranken
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nicht selten sind, welche die Ermordung von Behinderten mit derartigen Begründungen auch unabhängig von konkretem Verdacht pauschal befahlen. Anderen rettete ihr Engagement bei den Partisanen das Leben. Arbeitseinsatz konnte zeitweise Schutz gewähren oder bei sinkender Einsatzfähigkeit dem Einzelnen den Tod bringen. Solche und viele weitere lebensgefährliche Ambivalenzen konnten für Behinderte die Aussichtslosigkeit ihrer Lage noch weiter verschärfen. 10. KRIEGS- UND BESATZUNGSFOLGEN Das Projekt ist ursprünglich ausgegangen von den Menschen, welche zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion geistig behindert oder chronisch psychisch krank waren. Sie stehen auch im Zentrum der vielen vorliegenden Studien zu den „Euthanasie“-Morden im nationalsozialistisch beherrschten Europa seit 1939. Opfer der Behindertenpolitik und des Krieges in ihren vielfältigen Ausprägungen war aber auch die gewaltige Zahl von Behinderten, welche ihre psychischen und physischen Verletzungen aufgrund von vielen anderen, in diesem Buch dargelegten Situationen erlitten. Zu ihnen gehörten beispielsweise die Mehrheit der für ihr verbleibendes Leben behinderten Kriegsgefangenen, Opfer von Folterungen oder durch die Kämpfe und die Morde traumatisierte Menschen, welche etwa oft besonders den Tod von eigenen Kindern – vielfach im Säuglingsalter – und von anderen Angehörigen und Freunden miterleben mussten. 11. UMFANG Gezielte Morde erfassen nur einen Teil der Opfer, denen dieses Buch gewidmet ist. Die Zahl der Behinderten, welche in Weißrussland und in anderen sowjetischen Gebieten ums Leben kamen oder durch die Kriegsereignisse zu Behinderten wurden, lässt sich aufgrund der sowjetischen Sozialstatistik – die Matokh analysiert – in Teilen erfassen. Eine genaue Gesamtschätzung entzieht sich aufgrund der Quellenlage, der vielfältigen Umfeld-Situationen und der individuellen Todesumstände außerhalb von Krankenanstalten jedoch den Möglichkeiten eines solchen Forschungsprojektes. Die Fülle der Gefährdungssituationen, welche dieses Projekt zutage gefördert hat, lässt die Möglichkeit zuverlässiger Gesamtschätzungen von Opferzahlen darüber hinaus höchst ungewiss erscheinen. Die hoch komplexe Quellenlage veranlasst zu großer methodischer Vorsicht bei quantitativen Angaben zu den Opferzahlen auch dann, wenn solche aufzufinden sind. Dieses Buch zeigt über die Analysen der unmittelbaren Krankenmorde hinaus die Bandbreite der Gründe dafür auf. Soweit Angaben überhaupt vorliegen, sind sie, je nach der jeweils speziellen Quellenlage im Einzelfall, oft ebenfalls eher als Anhaltspunkte denn als genaue Informationen zu werten. Gesamtstatistiken zu einzelnen sowjetischen Gebieten, beispielsweise auf der Basis eines diachronischen Vergleichs von Bevölkerungs- und Behindertenzahlen, lassen sich zudem für viele Fragestellungen nur in begrenztem Maße erstellen, weil die – im Gebiet des deutsch besetzten Weißruss-
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land und der Ukraine besonders zahlreichen – großen und kleinen Grenzverschiebungen im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert sie oft sehr schwierig oder unmöglich machen. Es ist aber vor allem die Fülle von Opfersituationen bis hin zu den dauerhafte Erkankung verursachenden Traumatisierungen, welche es kaum erlaubt, das Ausmaß der nationalsozialistischen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik im Hinblick auf psychische und physische Behinderungen in klaren Zahlen zu fassen. Auch dieses Problem betrifft keineswegs die besetzten sowjetischen Gebiete allein. 12. MORDPOLITIK IM REICH ALS VORSTUFE Die Mordpolitik in der Sowjetunion setzte in vielfältigen Formen die innerhalb des Reiches unter dem Nationalsozialismus ins Werk gesetzte Ausgrenzungspolitik fort, welche sofort nach Kriegsbeginn in die Vorbereitung und ab 1940 in die Durchführung des Massenmordes an psychisch Kranken und Behinderten mündete. Graue Gasmordwagen der T4-Aktion dienten schon 1939 in Polen und ab Juni 1941 in der Sowjetunion als eines der Tötungsinstrumente. Die geplante Reduzierung der Nahrungsmittelversorgung ließ Patienten und Behinderte bereits 1939/40 im Reich verhungern oder schwächte sie so sehr, dass sie Krankheiten und Epidemien leicht zum Opfer fielen. Die Verschleppung in Zwischenstationen erfolgte im Reich offenbar systematischer als im Kriegschaos der besetzten Gebiete, diente jedoch gleichfalls als eines der Mittel, um den Kontakt zum sozialen Umfeld zu kappen und die Morde damit – bekanntlich erfolglos – zu verschleiern zu versuchen. Ärzte, Pflegepersonal, Soldaten und Verwaltungsangehörige führten vielfach eine ähnliche Sprache in ihren Scheinbegründungen, wenn sie sich freiwillig an solchen Aktionen beteiligten. Doch brachten Krieg und Besatzungsherrschaft eine Fülle weiterer Gefährdungen. Dieses Projekt hat die Vielfältigkeit der Gefahren, die behinderten und psychisch kranken Menschen in Kriegszeiten besonders drohen, ausdifferenzieren können. Viele solcher Faktoren wirkten im sowjetischen und im spezifisch weißrussischen Fall auf die individuellen Schicksale in besonderer Weise ein. Andere Kriegssituationen weisen teilweise andere Gefährdungsmechanismen auf. Körperlich und geistig behinderte und psychisch kranke Menschen sollten als spezifische und ganz besonders gefährdete Opfer von Krieg und Vernichtung deutlicher als bisher in das öffentliche Bewusstsein dringen.
ABKÜRZUNGEN AAN
Archiwum Akt Nowych w Warszawie [Zentralarchiv für moderne Akten in Warschau] ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst [DDR] AIAEF Archive of the Institute of Arts, Ethnography and Folklore, National Academy of Sciences of Belarus AMVDRB Archiv Ministerstva vnutrennich del Respubliki Belarus’ [Archiv des Innenministeriums der Republik Belarus] AOK Armeeoberkommando ARA American Relief Administration ArbKor Arbeiterkorrespondent AVMPSC Archiv des Vilnius Miesto Psichinos Sveikatos Centras [Zentrum für psychische Gesundheit, Vilnius] AŻIH Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego [Archiv des Jüdschen Historischen Instituts, Warschau] BArch Bundesarchiv BArch-MA Bundesarchiv-Militärarchiv BDU Belaruski Dzjaržaŭny Universitėt [Staatsuniversität Weißrusslands] BelAn Belaruskaja Akadėmija Navuk [Weißrussische Akademie der Wissenschaften]. BelapdiMi Belorusskaja associacija pomošči detjam-invalidam i molodym invalidam [Weißrussischer Hilfsverband für Kinder mit Behinderungen und junge Behinderte] BGU Belorusskij Gosudarstvennyj Universitet [Staatsuniversität Weißrusslands] BIKO Belorusskoe invalidnoe kooperativnoe obščestvo [Weißrussische Behindertengenossenschaftsgesellschaft] BMD Belaruskaja Mėdyčnaja Dumka [Weißrussischer medizinischer Gedanke] BND Bundesnachrichtendienst BNR Belaruskaja narodnaja rėspublika [Weißrussische Volksrepublik] BNS Belaruskaja narodnaja samapomač [Weißruthenisches Selbsthilfewerk] BNT Belaruskae navukovae tavarystva [Weißruthenische wissenschaftliche Gesellschaft] BRD Bundesrepublik Deutschland BSSR Belaruskaja Saveckaja Sacyjalistyčnaja Rėspublika [Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik] BStU Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik CDU Christlich Demokratische Union
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CIAMAC CIK DADO DALO DDR DorfKor EMSO FDJ FIR FON FSB GABO GAGom GAMn GAPO GARF GAVt GK GVSU HA HfÖ IAC ICA IfZ InKorr Joint KGB KP KP(b)B
Abkürzungen
Conférence Internationale des Associations de Mutilés et Anciens Combattants Zentralexekutivkomitee Deržavnij archiv Donec’koji oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Donec’k] Deržavnij archiv Luhan’skoji oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Luhan’sk] Deutsche Demokratische Republik Dorfkorrespondenten Evrejskoe mediko-sanitarnoe obščestvo [Jüdische Vereinigung für Medizin und Hygiene] Freie Deutsche Jugend Fédération Internationale des Résistants [Internationale Föderation der Widerstandkämpfer] Fakultet obščestvennych nauk [Fakultät der Gesellschaftswissenschaften] Federal’naja služba bezopasnosti [Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation] Gosudarstvennyj archiv Brjanskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Brjansk] Gosudarstvennyj archiv Gomel’skoj oblasti [Staatsarchiv des Gebietes Homel’] Gosudarstvennyj archiv Minskoj Oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Minsk] Gosudarstvennyj archiv Pskovskoj oblasti [Staatliches Archiv des Gebiets Pskov] Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii [Staatsarchiv der Russischen Föderation] Gosudarstvennyj arvchiv Vitebskoj oblasti [Staatsarchiv des Gebiets Vicebsk] Generalkommissariat Glavnoe voennoe sanitarnoe upravlenie [Militärische Sanitätshauptverwaltung] Hauptabteilung Hochschule für Ökonomie Berlin Internationale des Anciens Combattants et Victimes de la Guerre International Co-operative Association [Internationaler Genossenschaftsbund] Institut für Zeitgeschichte, München Invalidenkorrespondenten American Jewish Joint Distribution Committee Komitet gosudarstvennoj Bezopasnosti [Komitee für Staatssicherheit beim Mininsterrat der UdSSR] Kommunistische Partei Kommunistische Partei Weißrusslands (Bolschewiki)
Abkürzungen
KPdSU KZ LCVA
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Kommunistische Partei der Sowjetunion Konzentrationslager Lietuvos Centrinis Valstybes Archyvas [Zentrales Staatsarchiv Litauens] LVVA Latvijas Valsts Vēstures archīvs [Historisches Staatsarchiv Lettlands] LYA Lietuvis Ypatingasis Archyvas [Sonderarchiv Litauens] LVA Latvijas Valsts arhīvs [Staatsarchiv Lettlands] MChaT Moskovskij chudožestvennyj akademičeskij teatr [Moskauer akademisches Kunsttheater] MedFak Medizinische Fakultät MfS Ministerium für Staatsicherheit [DDR] MGB Ministerstvo gosudarstvennoj bezopasnosti [Ministerium für Staatsicherheit] MVD Ministerstvo vnutrennich del [Innenministeirum] MZ Minsker Zeitung NARA National Archives and Records Administration NARB Nacional’nyj archiv Respubliki Belarus’ [Nationalarchiv der Republik Belarus] NarKomPros Narodnyj komissariat prosveščenija [Volkskommissariat für Bildung] ND Neues Deutschland NGO Non Governmental Organization [Nichtregierungsorganisation] NIAB Nacional’nyj istoričeskij archiv Respubliki Belarus’ [Historisches Nationalarchiv der Republik Belarus] NKGB Narodnyj komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti [Volkskommissariat für Staatssicherheit] NKVD Narodnyj komissariat vnutrennich del [Volkskommissariat des Inneren] NÖP Neue Ökonomische Politik NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei PLO Palestine liberation organisation [Palästinensische Befreiungsorganisation] PTE Polskie Towarzystwo Eugeniczne [Polnische eugenische Gesellschaft] RabFak Rabočij fakul’tet [Arbeiterfakultät] ReGeDe Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands REO Russkoe evgeničesko obščestvo [Russische Eugenische Gesellschaft] RGAE Rossijskij gosudarstvennyj arсhiv ėkonomiki [Russisches Staatsarchiv für Wirschaft] RGASPI Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii [Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte] RGVA Rossijskij gosudarstvennyj voennyj archiv [Russisches Staatliches Militärarchiv] RHE Rechtshilfeersuchen RM Reichsmark
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RSFSR
Abkürzungen
Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika [Russische Sozialistische Föderative Republik] RSHA Reichssicherheitshauptamt SBM Sajuz belaruskaj moladzi [Weißruthenisches Jugendwerk] SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SD Sicherheitsdienst der SS SiPo Sicherheitspolizei SMERSCH SMERt’ SCHpionam, von russ. „Tod den Spionen“ SNK Sovet narodnych komissarov [Rat der Volkskommissare] SS Schutzstaffel SSR Sozialistische Sowjetrepublik SSSR Sojuz Sovetskich Socialističeskich Respublik [UdSSR] Stasi Staatssicherheit TOZ Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej [Gesellschaft für jüdische Gesundheitsfürsorge] UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken USA United States of America USSR Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik UPVI Upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych [Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte] VIKO Vserossijskoe invalidnoe kooperativnoe obščestvo [Allrussische Behindertengenossenschaftsgesellschaft] VKP(b) Vsesojuznaja kommunističeskaja partija (bol’ševikov) [Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki)] VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes WJW Sajuz belaruskaj moladzi [Weißruthenisches Jugendwerk] YIVO Yidisher visnshaftlekher institut, New York ZAMO Central’nyj archiv Ministerstva oborony Rossijskoj Federacii [Zentralarchiv des Ministeriums für Verteidigung der Russischen Föderation] ZDAGO Central’nij deržavnij archіv hromads’kich ob’jednan’ Ukrajini [Zentralarchiv für gesellschaftliche Organisationen der Ukraine] ZK Zentralkomitee ZUV Zentraler Untersuchungsvorgang
AUTORINNEN UND AUTOREN Gerhard Baader, Professor Dr. phil., ist Historiker und em. Professor für Geschichte der Medizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, lehrt seit 1967 an der Freien Universität Berlin, befasst sich mit Wissenschaftsgeschichte, der Sozialgeschichte der Medizin, insbesondere mit der Medizin im Nationalsozialismus, seiner Vorgeschichte, seinen aktuellen medizinethischen Implikationen sowie medizinischer Zeitgeschichte. Volha Bartash, PhD, ist Historikerin und Ethnologin, research fellow am Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Studies, wurde mit dem Marian Madison Gypsy Lore Society Young Scholar‘s Prize in Romani studies (2012) ausgezeichnet, befasst sich mit der Geschichte und mit dem Alltagsleben der Roma in Osteuropa Svetlana Burmistr, Dr. phil., ist freie Historikerin, befasst sich mit der nationalsozialistischen Propaganda, mit der deutschen Besazungspolitik in Weißrussland, mit dem Holocaust in Transnistrien und mit der Erinnerungspolitik in Osteuropa. Björn M. Felder, Dr. phil., ist Historiker und Lehrbeauftragter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August Universität Göttingen, wurde mit dem Fraenkel-Prize der Wiener Library, Institute of Contemporaty History in London (2007) ausgezeichnet, befasst sich mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion sowie der baltischen Staaten mit den Schwerpunkten Totalitarismusforschung, Modernisierungsgeschichte, sowie Wissenschafts- und Medizingeschichte. Alexander Friedman, Dr. phil., ist Historiker und Senior Researcher in der Forschungseinheit Education, Culture, Cognition and Society (ECCS) der Universität Luxemburg, lehrt an der Universität des Saarlandes und am deutsch-französischen Grundstudium von Sciences Po Paris in Nancy, beschäftigt sich in erster Linie mit der sowjetischen Geschichte, Geschichte der Juden in Osteuropa und mit dem Nationalsozialismus. Rainer Hudemann, Professor Dr. phil. Dr. h.c., Historiker, em. Professor an der Universität des Saarlandes und Professeur émérite d‘Histoire contemporaine de l‘Allemagne et des pays germaniques an der Université Paris-Sorbonne, befasst sich u.a. mit Transfer- und Integrationsprozessen in Europa, mit deutsch-französischen Beziehungen im 19. und. 20. Jahrhundert, mit Stadt- und Sozialgeschichte in Westeuropa im 20. Jahrhundert und mit dem Nationalsozialismus.
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Autorinnen und Autoren
Boris N. Kovalev, Professor Dr., ist Historiker und Professor an der Staatsuniversität „Jaroslav Mudryj“ in Velikij Novgorod und führender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschichtsinstitut der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation (Sankt Petersburg), befasst sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und vor allem mit der Kollaboration und Propaganda in den besetzten russischen Gebieten, mit dem Raub von Kulturgütern im Zweiten Weltkrieg und mit der Rolle der Allierten von Nazideutschland im Krieg gegen die UdSSR. Viktoria Latysheva, Dr.hist/BY, ist Historikerin und Dozentin am Lehrstuhl für Quellenkunde der Geschichtsfakultät der Staatsuniversität Weißrusslands in Minsk, befasst sich mit der Geschichte Weißrusslands im 20. Jahrhundert, mit Militär- und Medizingeschichte sowie mit Methoden der Geschichtswissenschaft. Vasili Matokh, cand. phil., ist Archivar, Historiker und wissenschaftllicher Mitarbeiter am Staatsarchiv des Gebietes Minsk, befasst sich mit der Geschichte Weißrusslands, mit dem Zweiten Weltkrieg und mit der Lage von Menschen mit Behinderungen in der UdSSR und in Osteuropa. Alexander Pesetsky, cand. phil., ist freier Historiker und Journalist, befasst sich mit der Wirtschaftsgeschichte Polen-Litauens im 16. Jahrhundert, mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere mit der Geschlechtergeschichte in der UdSSR und in Osteuropa im 20. Jahrhundert. Christoph Rass, Professor Dr. phil., ist Historiker und Professor für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung sowie Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück, befasst sich insbesondere mit historischer Migrationsforschung und Gesellschaftsgeschichte des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert. Viktoria Silwanowitsch, M.A., ist Historikerin und Bibliothekarin am Deutschen Historischen Institut in Moskau, befasst sich mit der sowjetischen Geschichte und vor allem mit der russischsprachigen Besatzungspresse im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte. Elizaveta Slepovitch, M.A., ist Ethnologin und Doktorandin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München, befasst sich mit den informellen Beziehungen in Sowjetweißrussland nach dem Zweiten Weltkrieg. Anatolij V. Šarkov, Professor Dr., ist Jurist, Historiker, Schriftsteller, Oberst der Miliz a.D. und Professor am Lehrstuhl für Strafvollzugsrecht an der Akademie des Innenministeriums der Republik Belarus (Minsk); er befasst sich insbesondere mit der Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges, mit der Entwicklung der Milizorgane in Weißrussland sowie mit dem Strafvollzugsrecht.
Autorinnen und Autoren
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Dmytro Tytarenko, Professor Dr., ist Historiker und Professor am Lehrstuhl für Sozial- und Geisteswissenschaft des Jura-Insituts des Innenministeriums der Ukraine in Donec’k (zur Zeit in Krivij Rih), befasst sich mit der Geschichte der Ostukraine im Zweiten Weltkrieg, insbesondere mit der nationalsozialistischen Propaganda in den besetzten Gebieten. Johannes Wiggering, M.A., Historiker, befasst sich mit der Geschichte der deutschen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, Medien als Herrschaftsinstrument in Diktaturen sowie Handelsnetzen und Wirtschaftspolitik im Ostseeraum des Hoch- und Spätmittelalters. Herbert Wohlhüter ist evangelischer Pfarrer, arbeitete unter anderem in Leitungsfunktionen in den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld (1979 2001), pflegt seit 1991 zahlreiche Kontakte zu staatlichen, kirchlichen und sonstigen gemeinnützigen Trägern der sozialen Arbeit im postsowjetischen Raum und organisiert in diesem Zusammenhang zahlreiche Fachtagungen, Fortbildungsseminare und Beratungen zur Entwicklung zeitgerechter Formen der Behindertenhilfe in Weißrussland. Andrei Zamoiski, Dr. phil., ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, befasst sich mit der Geschichte der Juden im Russischen Zarenreich, in der Sowjetunion und in Osteuropa, mit der Medizingeschichte in der UdSSR und mit digital humanities. Sergej Zhumar, Dr.hist/BY, ist Archivar, Historiker und stellvertretender Direktor des Weißrussischen Forschungsinstituts für Dokumenten- und Archivkunde (Minsk), befasst sich mit dem Zweten Weltkrieg und mit Methoden der Archivkunde.
ORTS- UND NAMENSREGISTER Im Text werden die Orts- und Personennamen grundsätzlich in der im jeweiligen Kontext vorherrschenden Sprache zitiert. Im Register erscheinen sie in aktueller wissenschaftlicher Transkription der Form des jeweiligen Landes, mit den weiteren Formen in Klammern. Querverweise stehen nur, wenn die Anfangsbuchstaben besonders stark voneinander abweichen. Namen in Anmerkungen werden kursiv erfasst, jedoch nur dann, wenn es sich um Sachinformationen handelt, nicht bei reinen Nachweisen. ORTSREGISTER A Aachen 332, 454 Abčuha (russ. Občuga) 217 Abol’cy (russ. Obol’cy) 425 Ackovaja (russ. Ockovaja) 443 Aglona (dt. Aglohn) 325 Amsterdam 259 Arėchaŭsk (russ. Orechovsk) 487 Asipovičy (russ. Osipoviči) 302 Astrašycki Haradok (russ. Ostrošickij Gorodok) 129 Ašmjany (poln. Oszmiana, russ. Ošmjany) 506 Athen 259 Azaryčy (russ. Ozariči, dt. Osaritschi) 27, 440, 442, 451, 469, 470, 473, 475, 476, 538 B Babrujsk (russ. Bobrujsk) 62, 129, 130, 200, 201, 202, 208, 232, 233, 277, 287, 302, 427, 434, 440, 444, 464, 469, 470, 485–487, 492, 495 Bachmut (seit 1924 Artemivs’k, russ. Artëmovsk) 358 Bahušėŭsk (russ. Boguševsk) 216, 219, 220 Baranavičy (poln. Baranowicze, russ. Baranoviči, dt. Baranowitsche) 18, 21, 25, 28, 43, 157, 179–195, 269, 288, 430, 460, 485, 486, 495 Barysaŭ (russ. Borisov) 43, 57, 60, 61, 182, 202, 228, 229, 237, 238, 286, 291, 306, 307, 435, 438, 441, 444, 446–448, 485, 487, 488 Batumi 81 Belgrad 259
Berahavaja Slabada (russ. Beregovaja Sloboda) 448 Berazvečča (poln. Berezwecz, russ. Berezveč’e) 427 Berlin 10, 95, 96, 98, 101, 104, 114, 119, 181, 182, 188, 231, 245, 265, 267, 271, 272, 512, 514–516, 519, 520, 546 Bethel 9, 10, 531, 534 Białystok (weißruss. Belastok, russ. Belostok) 142, 145, 347, 429, 430, 460 Bielefeld 9, 10 Bihosava (russ. Bigosovo) 221 Bjalyničy (russ. Belyniči) 427 Bonn 386–388, Braunlage 264 Brėst (poln. Brześć, russ. Brest) 18, 21, 25, 28, 43 Brjansk 277, 278, 280, 282, 289, 484, 491, 546 Broža 200, 298 Brüssel 81, 259, 527 Buchenwald 515 Bulgarien 244, 273 Bychaŭ (russ. Bychov) 62 C Caricyn s. Stalingrad Chalapeničy (russ. Cholopeniči) 427 Charkiv (russ. Char’kov, dt. Charkow) 69, 72, 89, 157, 342, 355, 356, 361, 362, 365, 366, 369, 417, 484 Chatyn’ 462, 481 China 83 Cholm 325
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Orts- und Namensregister
Čornobil’ s. Tschernobyl Choroszcz (weißruss. Chorašč, russ. Chorošč) 142, 143, 145, 156, 429–431 Cinkaŭcy (russ. Tinkovcy) 221 Cjaluša (russ. Teluša) 201 Cold Spring Harbor 318 Č Čačėrsk (russ. Čečersk) 213–215 Čašniki 424 Černihiv (russ. Černigov) 356, 358, 359, 365 Černjakoviči 325, 373, 374, 376, 377 Čėrven’ (russ. Červen’, dt. Tscherwen) 26, 64, 231, 434, 453–457 Čyrvony Berah (russ. Krasnyj Bereg) 232 Čyrvony Dvor (russ. Krasnyj Dvor) 446 D Damanavičy (russ. Domanoviči) 219, 223 Damačova (poln. Domaczewo, russ. Domačevo) 437 Daugavpils (dt. Dünaburg) 321, 325 Deutschland, Bundesrepublik 9, 15f., 22, 25, 29, 31f., 187, 385, 392f., 396, 403f., 408, 411f., 414, 512,517 f., 522, 527f., 534 Deutsche Demokratische Republik , 15f., 22, 25, 388, 392, 393, 403–405, 511–522 Dnipropetrovs’k (russ. Dnepropetrovsk) 365 Dokšycy (poln. Dokszyce, russ. Dokšicy) 424 Donbas (russ. Donbass) 362, 364 Donec’k (russ. Doneck, dt. Donezk; vgl. Stalino) 277, 280, 281, 283, 285, 287, 288, 355, 357–363, 364, 366, 367, 369, 370, 371, 546 Dorogobuž 436, 451 Dorpat s. Tartu Drazdy (russ. Drozdy) 399 Dresden 513, 515 Dujanaŭka (russ. Dujanovka) 62 Düsseldorf 11, 395 Dzerc’ (russ. Dert’) 441 Dzjaniski (russ. Deniski) 448 E Ejsk 405 Estland 28, 38, 101, 242, 321–339 F Fergana (usbekisch Farg’ona) 417–419, 421 Frankfurt am Main 120, 511 Frankreich 10, 16, 244, 273, 317
G Im Russischen mit G beginnende Namen erscheinen im Register häufig in ihrer weißrussischen, mit H beginnenden Form, siehe dort. Galizien 355 Gatčina s. Krasnogvardejsk 325 Genf 81, 82, 517 Georgien 81 Großbritannien 10, 120, 481 H Havanna 520 Heidelberg 10, 11, 15 Hindenburg (poln. Zabrze) 386 Hlusk (russ. Glusk) 205, 444, 445, 447 Hlybokae (poln. Głębokie, russ. Glubokae) 427, 439 Homel’ (russ. Gomel’) 20, 40, 41, 113, 119, 125, 128, 129, 130, 132, 133, 143, 144, 145, 146, 155, 157, 158, 199, 200, 204, 231, 233, 297, 299, 300, 305, 306, 416, 424, 434, 441, 448, 483, 486, 487, 489, 492, 546 Horlivka (russ. Gorlovka) 357, 368 Hrodna (poln. Grodno, russ. Grodno) 20, 41, 95, 125, 157, 420, 437, 447, 486 I Ihren’ (russ. Igren’) 365 Ilija 488 Indiana 317, 341 Innsbruck 103 Irkutsk 144 Israel 10, 405, 412 Italien 211, 273, 333, 363 Ivangorod 249 Ivanovo 139 Izjum 369 Iževsk 156 J Jam 249 Janavičy (russ. Janoviči) 231 Japan 211 Jaroslavl’ 156 Jasjanec (russ. Jasenec) 302 Jämejala 329 Jelgava (dt. Mitau) 326, 331 Jena 312, 316, 515 Juchnov 427 Juzivka s. Stalino Jugoslawien 244
Orts- und Namensregister Juravičy (russ. Juroviči) 424 Jur’ev s. Tartu K Kalinkavičy (russ. Kalinkoviči) 424, 448 Kaldyčava (russ. Koldyčevo) 187 Kalodziščy (russ. Kolodišči) 398, 490 Kalvarija (poln. Kalwaria) 327–330 Kapuscina (russ. Kapustino) 474 Kapyl’ (russ. Kopyl’) 149, 208 Karl-Marx-Stadt (seit 1990 Chemnitz) 403, 404, 421, 515 Karlovy Vary (Karlsbad) 98 Karytnjany (russ. Korytnjany) 302 Kasmyry (russ. Kosmyri) 424 Kaunas (poln. Kowno) 329, 334, 337 Kazan’ (dt. Kasan) 345 Kazljakovičy (poln. Kozłiakowicze, russ. Kozljakoviči) 431 Kiew (ukr. Kyjiv, russ. Kiev) 96, 256, 259, 342, 343, 360, 365, 484 Klincy (dt. Klinzy) 280, 388 Koblenz 402, 455 Kojdanava (russ. Kojadanovo) 445, 447 Kolmovo 373, 377–383 Komsomol’sk am Amur 522 Konstanz 389–392 Kopor’e 249 Korela 249 Kostjantynivka (russ. Konstanstinovka) 362, 366, 368 Kostroma 139 Korma 448 Kramators’k (russ. Kramatorsk) 369 Krasnae (russ. Krasnoe) 221 Krasnyj Dvor s. Čyrvony Dvor Krasnodar 405, 484 Krasnodon 484 Krasnoe Selo 436 Krasnogvardejsk (seit 1944 Gatčina) 325 Krasnyj Oktjabr’ 436 Kremenčuk (russ. Kremenčug) 362 Krim 249, 277, 278 Krupki 63, 142, 217, 220, 304, 444 Kryčaŭ (russ. Kričev) 427, 495 Kuba 519–521 Kursk 512 Königsberg 98, 99 L Lahojsk (russ. Logojsk) 424 Leipzig 11, 174, 386, 515
555
Lel’čycy (russ. Lel’čicy) 205, 221 Leningrad (zwischen 1914 und 1924 Petrograd) 63, 65, 117, 138, 139, 156, 238, 246, 324, 325, 345, 351, 377, 378, 382, 383, 385, 389, 405, 421, 436, 463, 484 Lettland 242, 321–333,338–340, 547 Lida 145, 148, 187, 405, 430, 431, 481 Liepāja (dt. Libau) 108, 326 Liozna (russ. Liozno) 443 Litauen 22, 28, 242, 249, 273, 321–333, 335, 336, 338–340 Litvinovičy (russ. Litvinoviči) 471 Ljuban’ (Gebiet Leningrad) 389 Ljuban’ (Gebiet Minsk) 217, 302 Ljuboničy (russ. Ljuboniči) 201 London 108, 120, 318, 511 Lozy 189 Lublin 488 Luc’k (russ. Luck, dt. Luzk) 289 Ludwigsburg 395, 396, 406, 407, 410–412, 414 Luga 324, 373 Luhans’k (russ. Lugansk, vgl. Vorošilovhrad) 355, 361 M Mahilëŭ (russ. Mogilev, dt. Mogiljow) 10, 17, 21, 23, 29, 39–41, 43, 56, 62, 113, 125, 128, 129, 131, 132–137, 140, 141, 146, 150, 152–154, 156–159, 163, 201, 202, 269, 281, 282, 289, 290, 291, 297, 302, 342, 345, 403, 404, 409, 410, 415–422, 427, 437, 444, 448, 453, 481, 484, 486, 489, 495, 502, 537 Majdanek 488 Makar’evo 25, 385, 389, 390, 391–393 Makijivka (russ. Makeevka) 358, 366, 367 Maladzečna (russ. Molodečno) 486, 488 Malejkaŭščyzna (russ. Malejkovščizna) 430 Maly Trascjanec (russ. Malyj Trostenec, dt. Maly Trostenez) 153, 440, 467 Mariupol’ 358, 363, 364, 369, 370 Markgrafenheide 430 Masjukoŭščyna (russ. Mosjukovščina) 427 Mazyr (russ. Mozyr’) 145, 424 Mecklenburg 519 Mikul’-Haradok (russ. Mikul’-Gorodok) 471 Minojty 405, 430, 431 Minsk 10, 17, 18, 20, 21, 25, 26, 27, 38–44, 48, 50, 53, 55, 57, 58–63, 69, 70, 75, 80, 90, 91, 95, 96, 97, 98, 100–105, 107–110, 112–114, 116, 117, 123, 125–131, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 140, 141, 143, 144–152,
556
Orts- und Namensregister
154, 156, 157–171, 175–177, 180, 181, 184, 185, 186, 187, 189, 191, 199, 202–205, 208, 209, 211, 212, 215, 216, 218, 224, 228–230, 231, 232, 233, 237, 239, 240, 243, 246, 259, 264, 269, 271, 273, 277, 286, 287, 290, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 305–308, 344, 345, 349–351, 395–398, 399, 400–404, 405, 407–409, 410, 411–417, 419, 420, 423, 424, 425–428, 430, 433–437, 438, 439, 440, 441, 442, 444, 445, 446, 447, 448, 449, 453, 472, 481, 482, 483, 484–489, 491, 492, 495, 501, 523, 529, 531, 535, 537 Mir 199 Mitau s. Jelgava Mjadzel (poln. Miadzioł, russ. Mjadel’) 426 Mogilev s. Mahilëŭ Mogutovo 324, 377 Moldawien 9, 242 Moskau 13, 25, 48, 54, 61, 63, 69, 79, 84, 89, 96, 99, 100, 103, 107, 108–110, 112, 113, 117–119, 129, 138–140, 157, 159, 163, 165, 166, 168, 200, 204, 207, 223, 245, 249–257, 287, 342, 343–345, 351, 404, 407, 417, 481, 485, 489, 514, 515 München 10, 101 Myslaŭ Roh (russ. Myslov Rog) 471 N Naliboki 155 Narva 324, 449 Navahrudak (poln. Nowogródek, russ. Novogrudok) 41, 142, 201 Navinki (russ. Novinki) 40, 129, 135, 144–147, 151, 155, 157, 396–400, 401, 407–413, 423, 428, 455, 489, 537 Nekrasovo 284 Nestanovičy (russ. Nestanoviči) 471 Neubrandenburg 518, 519 Neuruppin 520 New York 318 Nikol’skoe 383 Nižyn (russ. Nežin) 358, 359 Njasviž (poln. Nieśwież, russ. Nesviž) 194 Noril’sk 494 Novaja Vieljka 126, 290 Novaja Vil’nja (lit. Naujoji Vilnia) 150, 270, 417, 419 Novgorod (s. Velikij Novgorod) Novosel’sk 377
O Im Russischen mit O beginnende Namen erscheinen im Register häufig in ihrer weißrussischen, mit A beginnenden Form, siehe dort. Odessa (ukr. Odesa) 163, 278, 343 Österreich 10, 30, 88, 119f., 175, 244, 496 Ösel s. Saaremaa Orël (Orel) 96, 275, 276, 277, 278, 281, 282, 283, 284, 286, 287, 288, 289, 291, 292, 485, 487, 488 Orša s. Vorša Oslo 259, 318 P Padasinnik (russ. Podosinnik) 441 Palesse (poln. Polesie, russ. Poles’e) 205, 449, 451, 486 Palykavičy (russ. Polykoviči) 437, 495 Paraslišča (russ. Poroslišče) 471 Paris 10, 259 Paryčy (russ. Pariči) 301, 467 Pastavy (russ. Postavy) 505 Pečora 416 Pervomajskij 521 Petergof (dt. Peterhof) 437 Petrograd s. Leningrad Petrykaŭ (russ. Petrikov) 231 Pinsk (poln. Pińsk) 145, 430, 431, 486 Pjačėrsk (russ. Pečersk) 495 Playa Girón 520 Plisa 219 Polack (russ. Polock) 41, 205, 225, 486 Polen 10, 13–15, 16, 17, 22, 23, 38, 56, 136, 142, 155, 162, 179, 186, 187, 211, 249, 254, 320, 324, 331, 336, 340, 342, 347, 348, 351, 429, 443, 459, 460, 542, Polen-Litauen 250, 550 Poltava 365 Ponyš 494 Posen (poln. Poznań) 16, 156, 320, 336, 346, 348 Prag 54 Priluki 358 Pryjamina (russ. Prijamino) 446 Pskov (dt. Pleskau) 325, 373–377, 381, 546 Pärnu (dt. Pernau) 101 R Rahačoŭ (russ. Rogačev) 231, 441, 475 Rėčyca (russ. Rečica) 448 Rėčycy (russ. Rečicy) 232
Orts- und Namensregister Riga 259, 321, 322–324, 326, 327, 330, 333, 338, 400, 401, 405, 419, 459, 484 Roslavl’ 385, 386, 427 Rostock 96, 98, 518 Rothenberg s. Sarkankalns Rudabelka (russ. Rudobelka) 470–472, 475 Rumbulā (dt. Rumbula) 321 Rūdiškės 336 S Saarbrücken 10, 11 Saaremaa (dt. Ösel) 329 Sankt Petersburg; vgl. Leningrad 163, 332, 379, 383 Saratov 343 Sarkankalns (dt. Rothenberg) 321, 325, 326, 334 Schweden 10, 249, 250, 252, 307, 341, 528 Schweiz 120, 212, 318 Selišča (russ. Selišče) 424 Sen’kava (russ. Sen’kovo) 125 Sibirien 249 Siegkreis 386 Simferopol’ 277, 278, 282, 283, 285, 291 Sirocin (russ. Sirotin) 220, 299 Sivoricy 383 Sjaljucičy (russ. Seljutiči) 221 Slabada (russ. Sloboda) 506 Slavuta 439, 451 Slonim (poln. Słonim) 185, 187, 485, 487. 488 Slov”jan’sk (russ. Slavjansk) 89, 369 Sluck (poln. Słuck, dt. Sluzk) 41, 208, 215, 299, 449, 460 Smolensk 25, 53, 60, 89, 164, 282, 285, 286, 287, 288, 291, 292, 385, 386, 393, 436, 484, 491 Snižne (russ. Snežnoe) 358 Sosnowiec (dt. Sosnowitz) 336 Stalingrad (vor 1925 Caricyn, nach 1961 Volgograd) 260, 463 Stalino (vor 1924 Juzivka, nach 1961 Donec’k; vgl. dort) (russ. Stalino, Juzovka) 277, 281, 283, 287, 288, 356, 358, 359–361, 363, 366, 369, 370 Staraja 421 Starobin 444, 445, 446 Staryja Darohi (russ. Starye Dorogi) 300, 449 Strenči (dt. Stackeln) 326 Stuttgart 395, 398, 399, 404, 405, 412, 414 Sumy 356 Svatove (russ. Svatovo) 366
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Š Ščadryn 301 Šeremet’evo 514 Škloŭ (russ. Šklov) 213, 214, 219 Šumjači 25, 385–393 T Taločyn (russ. Toločin) 425 Tambov 521 Tartu (russ. Jur’ev, dt. Dorpat) 163, 323, 327, 328, 329, 332, 333, 337 Tajgovo 380 Tinkovcy s. Cinkaŭcy 221 Teluša s. Cjaluša 201 Tomsk 135, 494 Toronto 185 Transnistrien 355, 549 Tschernobyl (ukr. Čornobil’, weißr. Čarnobyl’, russ. Černobyl’) 307, 526, 527, 529 Tscherwen s. Čėrven’ U Uchta 416 Ufa 126, 345 Uglič 250, 254 Ukraine 9, 11, 13 14, 16, 17, 28, 69, 74, 85, 126 128, 141, 145, 154, 157, 160, 245, 273, 278, 349, 280, 289, 343, 355, 358, 361, 364, 365, 366, 372, 405, 429, 439, 449, 460, 461, 463, 542 Ul’janavičy (russ. Ul’janoviči) 346 USA 15, 120, 121, 187, 211, 244, 247, 332, 344, 419, 422, 481, 515, 520 Uvaravičy (russ. Uvaroviči) 204 Uzda 445 V Valkininkai 336 Valožyn (poln. Wołożyn, russ. Voložin) 488 Varacec (russ. Vorotec) 221 Vasiliški (poln. Wasiliszki) 430, 431 Vaŭkavysk (poln. Wołkowysk, russ. Volkovysk) 349 Velikie Luki 484 Velikij Novgorod 373, 377, 378, 379, 383, 512 Vicebsk (russ. Vitebsk) 23, 40, 41, 57, 59, 65, 87–92, 113, 125, 129, 135, 137, 144, 146, 158, 160, 163, 215, 231, 232, 233, 245, 276, 278–280, 281, 284–287, 289, 290, 291, 299, 346, 424, 426, 442, 443, 481, 486, 487, 492, 546
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Orts- und Namensregister
Vilejka (poln. Wilejka) 270, 425, 488 Viljandi (dt. Fellin) 329 Vilnius s. Wilna Vinnicja (poln. Winnica, russ. Vinnica, dt. Winniza) 289 Volchov 436 Volgograd s. Stalingrad Volnovacha 370 Vorkuta 494 Voronež 439 Vorošilovhrad (russ. Vorošilovgrad, seit 1990 Luhans’k, vgl. dort) 356, 358, 361 Vorša (russ. Orša) 145, 485, 487, 488 Vovčans’k (russ. Volčansk) 417
W Warschau 13, 95, 142, 153, 336, 346, 347, 429 Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno, weißruss. Vil’na, russ. Vil’no) 88, 125, 156, 162, 163, 164, 181, 182, 186, 187, 347, 350 Wismar 519 Z Zabalocce (russ. Zabolot’e) 221 Zakal’nae (russ. Zakal’noe) 302 Zavrutak (russ. Zavrutok) 425 Zembin 435 Ž Zabrze (dt. Hindenburg) 385 Žitomir 449 Žlobin 200, 231, 232, 441, 464, 470, 472, 475
NAMENSREGISTER A Abramava, Nadzeja A. 146, 149, 232, 351 Abramovskij, Abram Ja. 180 Ach, Narziß 110 Afonskaja, T. 147 Afonskij, Sergej 146, 151, 155, 409 Akkerman, Vladimir I. 143, 144, 145, 156–158 Aleksandr I. (Alexander I.) 253 Aleksandr II. (Alexander II.) 254 Aleksandrov, G. F. 103 Alekseev, Nikolaj S. 383, 404, 405 Aljachnovič, Francišak K. 182 Amel’janovič 399 Andrievskij, Ivan M. 378, 379, 381 Aniščanka, Valeryj A. 211 Annufriev, G. I. 104 Arafat, Jassir 515 Arājs, Viktors 326 Ašak, Janis Ju. 64 Atanasjan, L. A. 427, 440 B Banas, Marija P. 436, 437 Barbusse, Henri 81 Barsenkov, Aleksandr S. 257 Barsukoŭ, Michail I. 98, 130, 131, 134, 140, 200 Báthory, Stephan 249 Bazilevič, Konstantin V. 255 Bazylenko, Konstantin P. 495 Becker, Johann Ewald 271
Beljaev, Anatolij A. 283, 284 Bel’kevič 59 Bergs 334 Berkengejm, Boris M. 168, 174 Berkovskij 148 Bielschowsky, Max 120 Bilharz, Theodor 266 Binding, Karl 319 Bittner, Josef 485, 488 Bjarozka, Anatol’ (Rėpkaŭ-Smarščok, Mitrafan) 185, 193, 195 Blies, Ludwig 390, 391 Blum, Albert 65, 246 Bodenstein, Werner 470 Bogdanovič, Michail O. 177 Bogomolova 383 Bondarenko, Evdokija A. 299, 300 Böse, Otto 412, 413 Bromberg, R. I. 104 Buduls, Hermanis 321, 322, 332, 334, 338 Bulat, Evgenij 299 Buračėŭski, Pavel P. 131, 141 Burak, Samuil M. 177 Burchard, Rolf 485 Burckhardt, Karl 360 Burdilovskaja, Tat’jana A. 399, 401, 408, 410, 411, 412 Busse, Ines 519 Buščik, Luk’jan P. 256 Bühler, Karl 110 Bylinski, Ivan S. 434
Orts- und Namensregister C Cassin, René 82 Castro, Fidel 519 Chazanov, Moisej A. 113, 425 Chmelev, Nikolaj P. 256 Chodarenko, Vasilij V. 441 Conrad, Johannes 316 Conti, Leonardo 260 Coppi, Hans 516 Coppi, Hilde 516 Č Čarugin, Andrej I. 359 Čarvjakoŭ, Aljaksandr R. 63 Čertov 455 D Darwin, Charles 311, 312 Davis, Angela 515 Deresz, Stanisław 142, 143 Diaz, Fausto 519, 520, 522 Dmitrij (Demetrius, Sohn des Zaren Ivan IV., 1582–1591) 250, 252–254 Dokukin, M. V. 104 Draper, William 311, 312 Drechsler, Otto 340 Dziaminski 304 Döring, Wilhelm 386–390, 392 E Efremov, Michail T. 516 Eik, Paul 485 Elisabeth I. (Königin von England 1558–1603) 251 Eliseeva 284 El’cin, Boris N. 257, 518 Erdmannsdorff, Gottfried Heinrich von 484 Erlich 283 Ermačėnka, Ivan A. 149, 187, 189, 207 F Falk, Ernst 485 Fedjušin, Anatolij V. 168 Fedorovskij 288 Fedotov, Dmitrij D. 16, 325, 405 Fëdor I. (Zar von Russland 1584–1598) 25, 249–258 Fefelov, Valerij A. 511, 518 Felicin, Sergej I. 416, 418, 420, 421 Filipčenko, Jurij A. 343 Filistinskij, Boris A. 378, 379 Filjuta, Nikolaj 449
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Fischer, Heinz 485 Fischer, Richard 514 Fitilev 359 Fletcher, Giles 251, 252, 254, 255, 258 Fraas, Eberhard 316 Frenkėl, G. 172, 173, 177 Frentzel, Georg 388, 389, 403–405, 421 Friken, Aleksandr A. fon (Fricken, Alexander von) 377 G Gagarin, Jurij A. 520 Galton, Francis 311, 318, 341 Gannuškin, Pëtr B. 118, 132 Garičas, Feliksas 328 Gečečiladze, G. E. 291 Geniuš, Ivan P. (Heniuš, Ivan P.) 187 Genkin, I. L. 90, 91 Genzel’, Andrej A. 359 Georgi, Felix 120 Giljarovskij, Vladimir A. 118, 125, 140, 146 Godunov, Boris F. 249–258 Godunova, Irina F. 251, 252 Goethe, Johann Wolfgang von 111 Goldstein, Kurt 120 Golikov, Ivan K. 59, 60 Gol’blat, German O. 129, 135, 138 Gorbačev, Michail S. 403 Gorfin, David V. 429 Gricaev 483 Gringberg, Zachar 109 Gutin, Jakov 136 Gutkovskaja, O. 155 Guttmann, Ludwig 120 Götze, Bruno 485, 491 H Haeckel, Ernst 312–314, 316, 318, 319 Haladzed, Mikalaj M. 220, 230 Hamann, Joachim 327 Han’ko, Michas’ 350, 351 Haroška, Leŭ 185, 186, 193 Harpe, Josef 442, 469 Haupt, Klaus 514, 521 Hausmann, Marie 102 Hausmann, Theodor 26, 95–105, 151, 170, 176, 177 Herf, Eberhard 484 Herodes der Große 254 Hess, Franz Karl 395, 401, 402, 403, 407, 485, 487–490 Hetterich, Alois 485, 491
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Orts- und Namensregister
Heuser, Georg 402, 403 Heyde, Werner (Sawade, Fritz) 403 Heydrich, Reinhard 179 Hikala, Mikalaj F. 230 Himmler, Heinrich 25, 397–399 Hippokrates 46, 153, 155, 383 Hitler, Adolf 14, 18, 104, 181, 191, 232, 263, 351, 388, 469, 481 Hoche, Alfred 319 Hollerbach, Werner 413 Homuth, Jürgen 521 Honecker, Erich 514–516, 521 Hoßbach, Friedrich 442 Hrynkiewicz, Stanisław (Hrynkevič, Stanislaŭ S.) 143, 156 Hubig, Hermann 389–392 Humboldt, Wilhelm von 110 Hupe, Heinrich 483 Höchtl, Hans Josef 485, 491 J Jačenin, Leonid I. 485 Janet, Pierre 144 Janetzke, Wilhelm 401 Johann III. (König von Schweden 1568–1592) 250 Jäger, Karl 325, 327, 340 I Indrašius, Napoleonas 337, 339 Ivan IV. der Schreckliche 249, 251, 252 Ivanov 359 Ivanov, Lev 514 Ivanova, Marija T. 374, 376 Izykson, Ovsej G. 180 K Kadočnikov, Pavel P. 513 Kaganovič, Lazar’ M. 202 Kairiūkštis, Jonas 329 Kalwaryjski, Bernard 148 Kania, Inge 518, 519, 521 Kapustin 488 Karamzin, Nikolaj M. 252, 253 Karanovič, Georgij G. 345 Karmilin, G. A. 239 Karpenka, M. 420 Katharina II. (Ekaterina II.) 87 Kaul, Friedrich Karl 403, 404, 405 Kaufman 360 Kedrov 485, 488 Kempf 192
Kirov, Sergej M. 238 Kisjalëŭ, Kuz’ma V. 141, 205 Klipcan, Meer M. 147, 148, 154, 155, 417 Ključevskij, Vasilij O. 251, 252, 253 Koch, Hans Hermann 485, 487, 488, 490, 491 Koch, Robert 266, 291 Kolonickaja, Eva A. 397, 399, 401, 407, 408, 410, 412 Kol’cov, Nikolaj K. 343, 344 Kol’de 373–375 Konfudor, Jurij Ju. 256 Kopystynskij, Evgenij A. 132, 342, 346 Korolëva, K. I. 380 Korol’kova, Ekaterina A. 382 Kostejko, Lilija A. 90, 91, 121, 125, 158, 160, 405 Kostomarov Nikolaj I. 251, 252 Kotov, Viktor N. 256 Kovel’, Ol’ga 204 Koževnikov, Aleksej 108 Kraepelin, Emil 313 Krajnov, Andrej 152 Kravčenko, I. S. 104 Krjuk, Iosif K. 449 Krol’, Michail B. 107–123, 165, 166, 168, 171–176, 177, 204 Kroon, Doora 327 Krupp, Friedrich Adolf 316 Kubaš 364 Kube, Wilhelm 43, 102, 149, 264, 269, 270, 397, 460 Kudrjašova, V. I. 383 Kupreev 290 Kuvšinov, Makar P. 153, 155, 420 Kuznecov, Vladimir P. 418, 420 Küchler, Georg von 390 Kühn, Alfred 267 Külpe, Oswald 110 L Lange, Rudolf 330, 340 Lebedev, Vladimir I. 251, 255 Lebedeva Vera P. 51, 236 Leibold, Hanna 519, 522 Lejbengrub, Pavel S. 256 Lenc, Aleksandr K. (Lentz, Alexander K.) 131, 134, 136–138, 171, 346 Lenin, Vladimir I. 71, 72, 112, 122, 134, 167, 215, 220, 243, 369 Levy, Friedrich H. 120 Litvin, M. 135, 138 Litzmann, Karl 339, 340
Orts- und Namensregister Ljandacher 291 Ljutyj 485 Lohse, Hinrich 340 Lope de Vega 251 Louis XIV. 256 Lukašėnja 187, 188 Luk’janovič, Trifon A. 513 Lunkin, Georgij M. 371 Łuniewski, Witold 348 Lupanova, Marija D. 378–380 Lyn’kova, Anna 300 M Malecki, Jazėp 180, 184, 185, 186, 187, 188, 193, 194 Malevič, Ol’ga A. 299 Marbe, Karl 110 Mares’ev, Aleksej P. 25, 511–522 Markus, Š. 348, 349 Marie, Pierre 111 Mar’jasin, M. A. 53 Margulis, Michail S. 122 Markelov, D. P. 379 Markov, Daniil A. 103, 113, 114, 119, 121 Markova geb. Akimova, Natal’ja N. 144, 147, 152, 157, 397–401, 408, 411, 413 Marnitz, Harry 326, 330, 331 Mašėraŭ, Pëtr M. 302 Matveenko, Maksim S. 441 Matulionis, Balys 328, 331, 335, 336 Mayer-Gross, Wilhelm 120 Medem, Walter-Eberhard von 331 Medler, Georg Max 494, 495 Melkich, Sergej M. 97, 168, 204 Mel’nikova, Marija V. 379 Mendel’son-Prokof’eva, Mira A. 513 Mengele, Josef 267 Messer, August 111 Meuer, Adolph 267 Miljutin, Nikolaj A. 72 Minor, Lazar’ S. 108, 113, 122 Mittmann, Bruno Franz 395, 401, 402, 403, 407, 413, 485 Mjacel’ski, Aljaksej 149, 208 Molčanov 427, 428 Moll, Reinhard 485, 490 Monachov, Kondratij K. 177 Monogarov, Ivan P. 379–381 Morel, Bénedict Augustin 313 Morozov, Konstantin 448, 449 Moskvin, Ivan M. 256 Mos’kina, Valentina I. 495
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Muraško 290 Musorgskij, Modest P. 253 Mylov, Petr D. 436 Müller 367 Müller-Freienfels, Richard 111 N Najdzjuk, Jazėp A. 91 Napoleon I. 253 Naumenko, Vanda I. 397, 399, 401, 407, 408, 410, 412 Nebe, Arthur 397, 398, 410 Nechamin, Uruchim 65 Nečkina, Milica V. 256 Nesterenko, Marija S. 441, 442 Nikolaj I. (Nikolaus I.) 253, 254 Nikol’skij, Nikolaj M. 103 Novikaŭ, Ivan A. 182, 188 O Obst 335 Oktan, Michail A. 278 Ol’ševskaja, Ol’ga I. 131, 136, 137, 147, 151, 152, 157, 396, 398, 400, 401, 407, 408, 409, 489, 490 Orlov, Aleksandr 373 Ostapenko, F. 456 P Panamarėnka, Panceljamon K. (Ponomarenko, Pantelejmon K.) 103, 155, 182, 188, 291, 434, 486 Paršin, Aleksandr 418, 420 Papko, Ivan 449 Pašanin, Fëdor I. 418, 420 Pavlov, Ivan P. 117, 137, 338 Penzin, Aleksej A. 378, 380, 382 Penzina, Marija N. 382 Peredol’skaja, Ol’ga V. 382 Perepečaenko, Mitrofan I. 368 Pičėta, Uladzimir I. (Pičeta, Vladimir I.) 109, 116, 168, 169, 174 Pieck, Wilhelm 515 Platnickaja, Marija 154 Platonov, Sergej F. 249–251, 252, 253 Plavinskij, Aleksandr K. 146, 156, 158 Ploetz, Alfred 314, 315 Pokrovskij, Michail N. 255 Polevoj, Boris N. 512, 513 Polovcev, V. V. 342 Portugalov, Nikolaj S. 403, 404 Prieb, Adolf 419
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Orts- und Namensregister
Prochanov, Aleksandr A. 257 Prokof’ev, Sergej S. 513 Propper-Graščenkov, Nikolaj I. 90, 122, 140, 206 Protasevič, T. 147 Provotorov, P. 79 Pseudodmitrij I. (Pseudodemetrius I.) 250 Pseudodmitrij II. (Pseudodemetrius II.) 250 Pugač, Nikolaj A. (Puhač, Mikalaj I.) 23, 153, 154, 156, 402, 403, 416–422, 495 Puškin, Aleksandr S. 253, 254, 258 Puzyrijskij, S. A. 55 Päts, Kostantin 323, 333 R Rabe 487 Raefler 386, 387, 391 Ramón y Cajal , Santiago 111 Rapoport, Aleksandr M. 90, 140, 141, 146 Rappaport, Rachil’ 146, 148, 149, 154, 155, 157, 158, 349 Rejnov, V. N. 486 Rempel’ (Rempler) 408 Renteln, Adrian von 331, 335, 340 Richert, Johann Georg 442, 484 Richter, Hans 82 Rjabceva 284 Rodenbusch, Albert 485, 490, 491 Rogoz, Boris V. 363, 367 Roguski, Gracjan 347 Romoza 380 Rosenberg, Alfred 149, 335 Rozenštejn, Lev M. 134 Rubenčik 154 Rubinčik 148 Rubinovič 430 Rusanov, Vadim 278, 282 Rusavskij, Ivan V. 366 Rybakov (Arzt) 291 Rybakov, Boris A. (Historiker) 256 Rüdin, Ernst 333, 338 S Sabaleŭski, Jury A. 186, 191, 192 Sacharov 488 Saenko-Polončuk, Majja I. 361, 369 Sakodynec, Georgij 62, 238 Samujlënak, Ėduard L. 246 Sandberger, Martin 340 Sapieha, Lew 250 Sapir, Isaj D. 131, 134, 136 Savickaja, Varvara E. 441
Schallmayer, Wilhelm 314, 316, 317 Schmenkel, Fritz 513 Schuster, Paul 120 Segal’, Judif’ 136, 137, 140, 156 Seleš, Viktor V. 455 Selz, Otto 110 Semaško, Nikolaj A. 96, 108, 127, 199, 200, 343, Semënov, Aleksandr 205 Semënov, I. 301 Senatorov 396–399, 401, 407, 408, 412, 423 Sigismund III. Wasa 249, 250 Simeon Bekbulatovič 252 Simons, Arthur 120 Sinegovskij, Stepan 300 Siwitza, Joseph 191 Sixt von Armin, Hans-Heinrich 493 Sjarhejčyk, P. 301, 302 Skaryna, Franzysk 182 Skurat, Jaŭchim 191 Skvirskij 199 Slanimski, Pëtr 185 Slepjan, Michail F. 127, 128, 129, 136 Slepkov, Vasilij N. 344, 345 Smalstys, Antanas 329, 336, 337, 340 Smetona, Antanas 323, 333 Smirnov, Aleksej A. 91, 137 Solov’ev, Sergej M. 252, 253 Soročinskij 202, 203 Spielmann, Georg 514 Stachanov, Aleksej G. 238, 239 Stahlecker, Franz Walter 325, 331, 389, 390 Stalin, Iosif V. 14, 18, 49, 78, 131, 159, 211, 219, 221, 222, 228, 232, 233, 238, 242, 243, 245, 246, 255, 256, 296, 338, 366, 406, 420, 462, 481, 512, 518 Stalin, Vasilij I. 512 Stanislavskij, Konstantin A. 254, 256 Stankevič, Stanislaŭ I. 435, 438, 447 Starov, Aleksandr S. 284 Stepanov, Aleksandr M. (Scjapanaŭ, Aljaksandr M.) 23, 147, 152, 154, 156, 402, 403, 416–422 Stepanov, Nikolaj L. (Scjapanaŭ, Mikalaj L.) 23, 150, 416–422 Stepanova 383 Stevenson, Teófilo 520 Stoljarova, Ol’ga A. 382 Stolper, Aleksandr B. 513 Surta, Ivan Z. 131, 141
Orts- und Namensregister Š Šaginjan, Mariėtta S. 132, 139, 203 Ščerbakov 486 Ščitkovec, Anton Ja. 300 Šidlovskij, Pavel 449 Šliupas, Jonas 338, 339 Šmuklerman, Iosif 134 Šuba, Aleksej M. 300 Šujskij, Vasilij I. (Zar von Russland 1606– 1610) 250 Švyrkunov, Kirill Z. 299 Šybut 92 T Tereškova, Valentina V. 516 Titov, Ivan T. 103 Tjažel’nikov, Evgenij M. 520 Tkačenko, Nikolaj K. 370, 371 Toeplitz, Heinrich 514 Tolstoj, Graf Aleksej A. 254–256 Toplenkin, Efim S. 399, 408, 409, 410 Torreblanca, Juan 520 Trujillo, Alina 520 Turuk, Fëdar F. (Turuk, Fëdor F.) 109, 163 U Ulbricht, Walter 514, 515 Ulmanis, Kārlis 323, 333 Upners, Theodors 338, 339 Ustrjalov, Nikolaj G. 252, 253 V Vajsman, Al’vida F. 136 Vajtėnka (Vojtėnka), Viktar 181, 185–187, 189, 190, 192, 194 Val’čuk, Ėduard A. 20, 405 Varuškin, I. M. 291, 292 Vasil’eva, Marina A. 374–377 Vasil’kova, Natal’ja E. 443 Vdovin, Aleksandr I. 257 Veičiūnas, Vincas 329, 330 Verschuer, Ottmar von 267
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Veržblovskij, Vladimir M. 439 Vetochin, Ivan A. 207, 208 Vevel’ 304 Vinogradov 488 Vladimirskij, Michail F. 134, 203 Vojaček, Vladimir I. 245 Vojnar, Aleksej I. 359 Volček, Isidor M. 449 Volockoj, Michail V. 344 Voločkovič, Semen 127, 136 Volodichin, Dmitrij V. 257, 258 Vol’fson, Semën Ja. 20, 66, 172, 175, 205, 344, 345 Volynec, Sergej I. 420 Voronov, Andrej 346 Vorošilov, Klement E. 135, 218, 239 Vučetič, Evgenij V. 513 W Walewski, Jan 347 Wauk, Elfriede 262 Weber, Hans Wolfgang 26, 147, 151, 152, 186, 187, 399, 400, 401, 454, 455, 457 Wegener, Paul 148, 149, 400 Weismann, August 316 Weißig, Georg 484 Werner, Rudolf 191 Wernic, Leon 347 Whitney, William D. 111 Widmann, Albert 395, 398, 399, 404, 405, 410, 412–414 Władysław IV. Wasa 250 Wolf 191, 192 Z Zakovskij, Leonid M. 20, 65, 66 Zenner, Carl 454, 455 Ziegler, Ernst 316 Zinevič, I. M. 149, 296, 299 Zubarev, Boris 186, 187 Zadorina, Elena P. 456
Alexander Friedman
Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941 Propaganda und Erfahrungen Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa – Band 78
Alexander Friedman greift ein Themenfeld auf, das trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für das Verständnis der sowjetischen und deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Forschung bisher keine besondere Aufmerksamkeit fand.
Alexander Friedman Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941 428 Seiten. Kartoniert. & 978-3-515-09796-3 @ 978-3-515-10819-5
Anhand eines breiten Quellenspektrums, insbesondere lange Zeit gesperrter sowjetischer Partei- und Geheimpolizeiakten, analysiert er die Deutschlandbilder, die die Einwohner der westlichen Grenzrepublik der Sowjetunion, der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, entwickelten. Gerade sie standen unter dem wechselseitigen Einfluss der bolschewistischen Propaganda, ihrer eigenen Erfahrungen mit den Deutschen im Ersten Weltkrieg, mit der deutschen Sprache, Geschichte und Kultur sowie mit der sowjetischen Herrschaft der folgenden Jahrzehnte. Die Deutschlandbilder prägten nicht zuletzt die Haltung der Bevölkerung gegenüber den Besatzern in der Anfangsphase des deutsch-sowjetischen Krieges. .............................................................................
Der Autor Alexander Friedman, geb. in Minsk (Belarus), studierte an der Staatsuniversität Weißrusslands und der Universität des Saarlandes. Er war von 2009 - 2011 Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte der RuprechtKarls-Universität Heidelberg im Forschungsprojekt „Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, 1941-1944“ und ist seit Juli 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität des Saarlandes.
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Behinderte und psychisch Kranke wurden in der stalinistischen Sowjetunion diskriminiert. Viele von ihnen überlebten die nationalsozialistische Mordpolitik nicht. Nach 1945 blieben sie in der UdSSR, im Ostblock und auch im Westen als Opfer des Zweiten Weltkrieges vergessen. Unter welchen Umständen lebten Behinderte und Kranke in der UdSSR vor dem deutschen Überfall? Wie wurden sie in der sowjetischen und deutschen Propaganda dargestellt? Wie entwickelte sich das sowjetische Gesundheitswesen? Waren eugenische Theorien in der Sowjetunion im Umlauf? Wie verliefen die nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmorde in den besetzten Gebieten? Wie lässt sich die schleppende Aufarbeitung dieser Verbrechen nach 1945 erklären? Wie war die Lage von Kranken und Behinderten in der UdSSR, im Ostblock und im postsowjetischen Raum? Forscher aus Weißrussland, Russland, Deutschland und der Ukraine analysieren diese und weitere bislang wenig erforschte Probleme, welche große Bevölkerungsteile betrafen. Es werden dabei umfangreiche, lange Zeit gesperrte und bis heute für westliche Wissenschaftler kaum zugängliche postsowjetische Archivund Bibliotheksbestände ausgewertet.
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ISBN 978-3-515-11266-6