Dietrich Bonhoeffer: Vorlage:Bonhoeffer, Dietrich 353426469X, 9783534264698

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) war ein lutherischer Theologie, Vertreter der Bekennenden Kirche und Widerstandskämpfer

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German Pages 256 [255] Year 2015

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung der Herausgeber
2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers
3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers
4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden
5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie
6. Friedensethik und Widerstandsbeteiligung
7. Kirchenkritik und Kirchenreform
8. Bonhoeffer-Rezeption nach dem Krieg bis in die Gegenwart
9. Anhang
Zeittafel zur Biographie Bonhoeffers
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
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Dietrich Bonhoeffer: Vorlage:Bonhoeffer, Dietrich
 353426469X, 9783534264698

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Dietrich Bonhoeffer Neue Wege der Forschung Herausgegeben von Karl Martin † in Verbindung mit Detlef Bald und Axel Denecke

In dankbarer Erinnerung Karl Martin gewidmet, der während der Konzeption dieses Buches nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben ist. Wir haben sein Werk in seinem Sinne weitergeführt und zum Abschluss gebracht. Detlef Bald – Axel Denecke

Bearbeitung von Dr. Detlef Bald und Prof. Dr. Axel Denecke. Dieses Buch entstand in Kooperation mit dem Dietrich-Bonhoeffer-Verein. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt. Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Einbandabbildung: Dietrich Bonhoeffer © picture-alliance/dp Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26469-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73986-8 eBook (epub): 978-3-534-73987-5

Inhaltsverzeichnis 1. Einführung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie . . . . . . .

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6. Friedensethik und Widerstandsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . .

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7. Kirchenkritik und Kirchenreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Bonhoeffer-Rezeption nach dem Krieg bis in die Gegenwart

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9. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zeittafel zur Biographie Bonhoeffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einführung der Herausgeber 1. Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 geboren; nicht einmal 39 Jahre alt fand er den Tod im Morgengrauen des 9. Aprils 1945 im Konzentrationslager von Flossenbürg, von einem SS-Standgericht hingerichtet am Galgen. Diese Lebensdaten sind immer wieder Anlass für ein Bonhoeffer-Gedenken. Der protestantische Theologe und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime hat heutzutage ein öffentliches, ein kirchliches und theologisches sowie ein gesellschaftliches und politisches Interesse erweckt, das Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Menschen mit anregender Aufmerksamkeit wahrnimmt. Die Bedeutung Bonhoeffers geht weit über den Raum der Kirche hinaus, theologisch hat er eine weltweite, auch die katholische Lehre inspirierende Anerkennung, dem Frieden Christi zu leben, erfahren. Seine Wahrnehmung aber gibt Anstöße im weiten Sinne des Wortes: erweiternde Anregung vs. anstößige Ablehnung. Anstößig war Dietrich Bonhoeffer, weil er seine theologische Existenz, die Bibelauslegung und seine christliche Botschaft auf seine Erfahrungswelt der Politik, Kirche und Geschichte richtete. Er wollte die „Relevanz“ seiner Erkenntnisse an der Wirklichkeit messen, d. h. Stellung nehmen, verändern und reformieren. Bis zum Äußersten verlangte er Wahrhaftigkeit im Denken und Handeln. Das fasziniert an seinem Tun. Historisch erklärt sich manches, warum Kirche und Christen mit Bonhoeffer nicht ins Reine kamen, war er doch ihr Mahner und Kritiker schon vor dem Beginn des NS-Regimes 1933. Dessen menschenverachtende Ideologie und menschenvernichtende Politik des hochmütigen und herrischen Rassismus erspürte er früh – berühmt sind seine Worte gegen Antisemitismus und den sog. ‚Arierparagraphen‘, man müsse dem Rad in die Speichen fallen. Für die Kirche wurde Bonhoeffer anstößig, weil er in der Lage war, die Zeichen der Zeit zu deuten. Daher lehnte er die Kooperation der Deutschen Christen mit dem Nationalsozialismus ab. Der große Erfolg eines protestantischen Gegenentwurfs im Predigerseminar in Finkenwalde blieb Bonhoeffer letztlich versagt; dieser Ansatz lässt jedoch Geist und Format einer tiefen Christlichkeit erkennen. Anstößig wurde Dietrich Bonhoeffer besonders durch seine Tätigkeit im aktiven Widerstand gegen das NS-Regime, als er den Kampf gegen ein Regime des Unrechts, das die von Gott gegebene Ordnung verletze, aufnahm und so am Ende als Märtyrer aus dem Leben schied. Seine Friedenstheologie auf dem Fundament der Bergpredigt ist grundlegend christlich, auch wenn die Berührungen zum aktiven Pazifismus eines Mahatma Gandhi

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1. Einführung der Herausgeber

spürbar sind. Doch für die Vertreter der Kirche war Widerstand gegen den Staat in den vierziger Jahren nicht zulässig – und diese Haltung währte lange Jahrzehnte fort. So versteht sich, wie schwer es nach dem Weltkrieg der Kirche fiel, Bonhoeffer als Christenmensch und als Theologen der Bekennenden Kirche anzuerkennen. Bonhoeffers programmatische Worte aus der Haft am Ende seines Lebens: „Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie Kirche für andere ist“ können nicht nur als Vermächtnis und Auftrag für uns heute verstanden werden, sondern sind zugleich auch Mahnung für die verfasste Kirche, immer neu nach ihrem Grund in Jesus Christus zu fragen. Theologie und Leben Dietrich Bonhoeffers haben eine Strahlkraft für alle Menschen, die sich in christlicher Gläubigkeit „von guten Mächten“ geborgen fühlen. 2. Das Werk Dietrich Bonhoeffers umfasst in der gegenwärtig zugänglichen Gesamtausgabe1 17 Bände mit ca. 12 000 Seiten. Hinzu kommen noch einige Zusatzbände. Die Sekundärliteratur ist schon im deutschsprachigen Raum kaum noch überschaubar, jedes Jahr werden neue Nachträge veröffentlicht. Es versteht sich daher von selbst, dass in diesem Band in der Reihe „Neue Wege der Forschung“ nur ein allerkleinster Ausschnitt des Werkes Bonhoeffers und seiner Interpretation von Theologen und Nicht-Theologen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als erste Einführung in Bonhoeffers Denken und Leben (der Zusammenhang von „Leben und Werk“ ist bei Bonhoeffer besonders wichtig) geboten werden kann. Oft mussten wir schmerzhafte Kompromisse machen, was die Auswahl der Texte und vor allem auch, was Kürzungen in der Literatur über Bonhoeffer anbelangt. Bei den Originaltexten Bonhoeffers haben wir allerdings nicht gekürzt, denn es ist in sich schon eine Auswahl, die weitere Kürzungen um des Gesamtzusammenhangs willen nicht sinnvoll erschienen ließ. Die Kürzungen, die wir bei den Fremdtexten vornehmen mussten (in den Herausgeberanmerkungen in den meisten Fällen auch quantitativ ausgewiesen, wenn es mehr als 10%, im höchsten Fall aber 50% waren) wurden nach folgenden Gesichtspunkten getroffen: a. Situationsbedingte Erläuterungen bzw. Veranschaulichungen von theologischen Grundaussagen, die gegenwärtig für den Leser nicht mehr gut nachvollziehbar sind (z. B. wenn situativ zur Veranschaulichung eines Gedankens Bonhoeffers auf in einer bestimmten Zeit (etwa die Biafra-Krise in den sechziger Jahren) höchst aktuelle Zusammenhänge verwiesen wird, die heute jedoch obsolet sind).

1. Einführung der Herausgeber

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b. Theologische Spezialdiskussionen, die innertheologisch ein wissenschaftliches Zeitgespräch aufgreifen und einen (heute manchmal nur noch schwer nachvollziehbaren) theologischen Expertenstreit betreffen. c. Die in manchen Artikeln anzutreffende Überfülle an klugen Anmerkungen mit vielen Nebenthemen und Sonderproblemen, die auch nur wieder für den Spezialisten und akribischen Experten interessant sind. Das betrifft in den Anmerkungen auch die Fülle an Hinweisen auf weitere Literatur, wissenschaftliche Expertendiskussionen usw. Zeitgebunden waren diese Hinweise in den Anmerkungen zwar um der Korrektheit der eigenen Positionsbestimmung (gegenüber anderen Positionen) wichtig, haben sich aber heute oft überholt und sind vor allem für den ersten Einstieg in die Theologie und das Leben Bonhoeffers nicht so wichtig. 3. In diesem Buch wollen wir eine erste Einführung in Bonhoeffers Denken und in die Bonhoeffer-Interpretation bieten. Wir haben an Leserinnen und Leser gedacht, die nach einem ersten Zugang zu Bonhoeffers Leben und Denken suchen. In der Suche nach der Auswahl der Texte Bonhoeffers und seiner Interpreten haben wir uns daher von folgenden Gesichtspunkten leiten lassen: a. Die Originaltexte Bonhoeffers sind sog. „klassische“ Texte, die immer wieder in der Literatur zitiert werden. Das betrifft z. B. den berühmten „Entwurf für eine Arbeit“ (bei uns unter 7.1 abgedruckt), aus seinen Gefängnisbriefen „Widerstand und Ergebung“ und über die „Neugestaltung der Kirche nach dem Kriege“. Es gibt kaum Texte, in denen nicht kontrovers darauf Bezug genommen wird. Das betrifft aber auch Texte aus anderen klassischen Werken wie „Nachfolge“, „Bergpredigt“ und die „Ethik“. b. Wir verhehlen dabei nicht, dass es uns sehr schwer gefallen ist, wichtige Texte und Themen Bonhoeffers nicht berücksichtigen zu können. Um nur ein Beispiel zu nennen: In seinen Briefen aus der Haft („Widerstand und Ergebung“) hat er am Ende seines Lebens sowohl seine theologische Grundposition wie auch seine existentielle Lebenssituation in poetischen Worten (10 Gedichte aus dem Jahren 1943/1944) geäußert. Allein diese Gedichte zu dokumentieren und zu kommentieren, wäre eine eigene Monographie wert. Denn es stellt sich dabei die spannende Frage, warum Bonhoeffer auf einmal Theologie in Form von Poesie betrieben hat. Unseres Erachtens steht eine bewusst theologische Entscheidung dahinter2. Lei-

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1. Einführung der Herausgeber

der konnten wir auch anderen Themen wie „Akt und Sein“, „Schöpfung und Fall“, „die Christologie“3, „Gemeinsames Leben“, „Die Mandatenlehre“, „Die Vikarsausbildung“, „Das Bibelverständnis“ keinen eigenen Abschnitt widmen. Indirekt wird jedoch darauf in den abgedruckten Texten Bezug genommen. Wir können hier nur auf die Fülle an Literatur verweisen. c. Anderseits haben wir Themen aufgenommen, die gerade heute eine besondere Dringlichkeit gewinnen und denen dabei eine überaktuelle Bedeutung zukommt. Zum Beispiel war uns ganz wichtig, Bonhoeffers geradezu prophetische Stellungnahme zur Judenproblematik (der Arierparagraph) im Dritten Reich aufzunehmen und danach zu fragen, was Bonhoeffer für eine „Theologie nach Auschwitz“ uns mit den Weg gegeben hat (vgl. Abschnitt 4) Auch die immer wieder und gerade heute angesichts schwindender Mitgliedschaft in den großen Volkskirchen anstehenden Frage einer Kirchenreform (Abschnitt 7) bis hinein in ganz aktuelle Frage der durch Bonhoeffer angeregten „Neuordnung der Kirchenfinanzen“ (7.4) wäre hier zu nennen. Denn es gilt, Bonhoeffer nicht nur historisch zu gedenken und einzuordnen, sondern eben auch in die heutige Situation der Kirchen strittig zu übertragen. Dass dazu auch die „Friedensethik und Widerstandsbeteiligung“ (Abschnitt 5) gehört, versteht sich fast von selbst. Das betrifft am Ende aber auch die Frage nach der „Bonhoeffer-Rezeption“ (Abschnitt 8) in der Zeit nach 1945 (erst ganz langsam wurde Bonhoeffer bekannt und auch geschätzt, oft auch in kirchlichen Kreisen noch als „Verräter“ geschmäht) bis heute. Gerade die Rezeption Bonhoeffers ist bis heute bei aller Hochschätzung seiner Person sehr kontrovers geblieben. d. Was schließlich die Auswahl der Fremdtexte (Interpretationen Bonhoeffers) anbetrifft, so haben wir aus der Überfülle an zur Verfügung stehenden Literatur vor allem Texte ausgewählt, die nicht so schnell allgemein zugänglich sind, unseres Erachtens aber doch Grundgedanken Bonhoeffers aufgreifen und nach vorn hin fortschreiben. Dabei haben wir besonders darauf geachtet, Texte zu präsentieren, die von den Freunden und Vertrauten Bonhoeffers stammen (natürlich vor allem von seinem besten Freund Eberhard Bethge, dessen 1000 Seite lange fulminante Biographie bereits an dieser Stelle nur wärmstens empfohlen werden kann). Die heute kaum noch zugänglichen ersten Würdigungen Bonhoeffers nach dem Kriege im Jahr 1945 (in deutscher (!) Sprache in der Trinity-Church in London, siehe unter 2.1) waren uns als Einführung in seine Leben besonders wichtig, ebenso natürlich wie E. Bethges Parforce-Ritt durch das Leben Bonhoeffers selbst (2.2). Es sind also vor allem Texte über Bonhoeffer, die sich anschicken, sein Leben und sein Werk nicht nur zu würdigen, sondern in un-

1. Einführung der Herausgeber

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sere heutige Zeit hinein weiter zu schreiben. Manche Interpretationen Bonhoeffers (z. B. was die Fortschreibung der „Kirchenreform“ 7.3 und 7.4 anbetrifft) mögen durchaus Kontroversen hervorrufen, das ist aber ganz im Sinne Bonhoeffers, der in seinem Leben nie Kontroversen (z. B. nicht nur mit den „Deutschen Christen“, sondern eben auch mit der „Bekennenden Kirche“) ausgewichen ist. 4. Was am Ende die technische Präsentation der Texte anbetrifft, so haben wir die Herausgeber-Vorbemerkungen zu den einzelnen Abschnitten immer so strukturiert, dass zu den folgenden Texten kurze Lesehilfen und Anmerkungen angeboten werden. In diesen Vorbemerkungen werden Zitate aus den dann folgenden Texten ohne weitere Quellenangabe dargeboten. Wenn in den Vorbemerkungen Zitate ohne Quellenangabe angeführt werden, stammen sie aus den Texten, die in dem betreffenden Absatz auf die Vorbemerkungen folgen. Was die dann folgenden Texte betrifft: Bei Texten aus DBW sind die Anmerkungen in DBW weggelassen. Bei allen übrigen Texten sind weithin (wenn nicht aus oben genannten Gründen gestrichen) die Anmerkungen, die sich in den Originalvorlagen finden, übernommen worden. Gelegentliche Erläuterungen der Herausgeber Karl Martin, Detlef Bald und Axel Denecke sind Fußnoten, die durch ein vorangestelltes „Hg:“ besonders gekennzeichnet sind, wenn es nicht aus dem Zusammenhang selbst ersichtlich ist. Dabei haben wir versucht darauf zu achten, dass theologische Spezialbegriffe, wenn sie nicht ganz zu vermeiden waren, durch uns kommentierend als Herausgeber-Anmerkungen erläutert werden. Entstanden ist dieses Buch in Kooperation mit dem „Dietrich-BonhoefferVerein“ (dbv), der seit über 30 Jahren das Erbe Bonhoeffers in die Praxis unserer Kirchen zu übertragen versucht. Nun bleibt uns nicht nur der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und ihrer Lektorin, Cana Nurtsch, zu danken für die gute Zusammenarbeit und die Präsentation von „Dietrich Bonhoeffer“ in dieser anspruchsvollen wissenschaftlichen Reihe, sondern auch zu hoffen, dass alle Leserinnen und Leser einen ersten Zugang zu Dietrich Bonhoeffer finden, der sie ermuntert, Weiteres von und über Bonhoeffer zu lesen und das Gelesene zu vertiefen und zu erweitern. Berlin, Hannover und München, September 2014 Karl Martin †

Axel Denecke

Detlef Bald

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1. Einführung der Herausgeber

Anmerkungen 1

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3

Die gesammelten Werke Dietrich Bonhoeffers (in Folge abgekürzt: DBW) sind im Gütersloher Verlagshaus (ehemals auch Christian Kaiser Verlag) ab 1988 herausgegeben worden. Für Interessierte: Vgl. dazu die Monographie von A. Denecke, Gott ist bei uns . . . Theo-Poesie. Bonhoeffers späte Wende hin zu einer poetischen Theologie, Sonderausgabe der Zeitschrift „Verantwortung“, Berlin 2014. Es ist z. B. für uns besonders schmerzlich, nicht die tiefsinnige und mehr als nur geistreiche Vorlesung Bonhoeffers aus dem Jahr 1933 „Wer ist und wer war Jesus Christus?“ (vgl. DBW 13) mit seiner ganz eigenständigen Stellungnahme zur altkirchlichen und lutherisch-reformierten Christologie präsentieren zu können. Aber das gehört eben schon zum theologischen Spezialwissen und nicht zu einer ersten Einführung in Bonhoeffers Denken.

2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers Vorbemerkungen Wir haben bewusst sehr frühe Dokumente zur Würdigung der Biographie Bonhoeffers ausgewählt. Sie atmen noch den Geist der frühesten, auch sehr persönlich geprägten Erinnerungen (1945 und 1954) an den Freund Dietrich Bonhoeffer. Zu den ‚nackten Lebensdaten‘ Bonhoeffers verweisen wir auf den Anhang zu E. Bethges Bonhoeffer-Biographie (vgl. Anm. 1), S. 1089–1099 sowie auf unsere Zusammenstellung im Anhang: „Zeittafel zur Biographie Bonhoeffers“.

Zu 2.1 Ansprache des Bischofs von Chichester, Dr. Bell Bischof Bell hielt diese Ansprache bei einer Gedenkfeier (Trauergottesdienst) zum Tode Bonhoeffers am 27. Juli 1945 in der Holy Trinity Church London, noch lange bevor in Deutschland Bonhoeffers gedacht werden konnte, „und gedachte wenige Wochen nach Kriegsende eines Deutschen, in dem sie einen Zeugen des Friedens und einen Zeugen des guten Deutschen sah“ (E. Bethge).

Zu 2.2 Ansprache des Pastors Franz Hildebrandt Der Theologe Franz Hildebrandt, ein guter Freund Bonhoeffers aus Berliner Tagen (1929), drei Jahre jünger als Bonhoeffer, emigrierte wegen seiner jüdischen Herkunft 1937 aus Deutschland und hat auf der oben genannten Gedenkfeier in London in deutscher (!) Sprache die hier dokumentierte sehr persönliche Erinnerungsrede gehalten.

Zu 2.3 Dietrich Bonhoeffer. Person und Werk. Von Eberhard Bethge „Person und Werk“ meint jenen Zusammenhang, der später „Biographie und Theologie“ (vgl. Gremmels -Pfeifer: Theologie und Biographie: Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983) genannt wurde. Bei wohl keinem Theologen sind „Person und Werk“ so eng miteinander verbunden wie bei Bonhoeffer, so dass man durchaus sagen kann: ohne die Biographie Bonhoeffers zu kennen, ist seine Theologie nicht zu verstehen. Eberhard Bethge1 hat als sein lebenslanger Freund und Vermittler des Vermächtnisses Bonhoeffers an uns Nachgeborene diesen Vortrag (hier gekürzt) im Jahre 1954 zur Eröffnung des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses in

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2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers

Bonn gehalten. Der Vortrag atmet den Geist dieser Zeit (viele Schriften Bonhoeffers, jetzt zugänglich, waren noch nicht veröffentlicht) und ist stark geprägt von der persönlichen Freundschaft der beiden. Er ist ein Zeichen dafür, wie im damaligen Nachkriegsdeutschland der Name Bonhoeffer auch gegen manche Widerstände (Bonhoeffer sei in seinem Widerstand gegen Hitler ein „Vaterlandsverräter“ gewesen, dies wurde auch in kirchenleitenden Kreisen geäußert) langsam erst werbend der breiten kirchlichen Öffentlichkeit nahe gebracht werden musste, auch wenn unter ‚Insidern‘ der Name Bonhoeffer als mutiger „Christ und Zeitgenosse“ bereits vertraut, anerkannt und hoch geachtet war.

2.1 Gedenkgottesdienst für Pastor Dietrich Bonhoeffer am 27. Juli 1945 in London2 Ansprache des Bischofs von Chichester, Dr. Bell3 In dieser Kirche, die im Krieg durch viele Erinnerungen christlicher Gemeinschaft geheiligt ist, versammeln wir uns jetzt im Gedenken an Dietrich Bonhoeffer, unseren lieben Bruder und Märtyrer der Kirche. Er wurde am 4. Februar 1906 in Breslau geboren. Er war der Sohn eines berühmten Arztes und gehört zu einer Familie, die in vergangenen Generationen nicht wenige hervorragende Geistliche, Richter und Künstler zu den ihren zählt. Dietrich selbst hat schon als junger Mann auf seinem eigenen Gebiet, der Theologie, hohe Bedeutung erlangt. Nachdem er nicht nur in Deutschland, sondern auch in Barcelona, Rom und New York seinen Studien nachgegangen war, wurde er 1930 Privatdozent der Systematischen Theologie an der Universität Berlin und 1931 ordiniert. Vor dem Krieg hat er etwa fünf Bücher veröffentlicht, und in diesen letzten Jahren beschäftigte ihn eine Arbeit über die christliche Ethik. Es gab, menschlich geredet, keinen Zweifel, daß er im Reich der theologischen Wissenschaft und als Lehrer mit Recht einen ersten Platz eingenommen hätte, wenn Gott seine Gaben so hätte gebrauchen wollen. Er liebte das Leben und genoß menschliche Bindungen und menschliche Freuden, Heim und Freundschaft, Literatur, Musik und Kunst. Er war ein Mann, dessen Scharm und Humor, dessen Charakter und Gaben seine Gesellschaft zu einem Vergnügen machten. Am 30. Januar 1933 war er noch nicht ganz 27 Jahre alt, als der Mann Reichskanzler wurde, den die Geschichte sicher als Quelle der größten Schande und des Ruins Deutschlands bezeichnen wird. Und dieses Ereignis war es, das den Lauf von Dietrichs restlichem Leben bestimmte. So jung er war, erfaßte er doch unmittelbar und instinktiv die Bedeutung der national-

2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers

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sozialistischen Revolution, mit ihrer Vernichtung aller menschlichen Rechte und ihrer Verwerfung Gottes. Wie wenig andere sah er richtig, daß der Angriff auf die Juden ein Angriff auf Christus wie ein Angriff auf Menschen war. Vom ersten Augenblick an bemühte er sich um beides, wie er Gott und der Kirche am besten im Kampf gegen Hitler dienen und wie er Deutschlands Seele vor den Dämonen retten könne, die es von allen Seiten angriffen. Zwei Jahre lang amtierte er in London als deutscher Pfarrer. Während er zweifellos seinen zwei Gemeinden hingebend diente, sah er viele britische Freunde und half ihnen zur ersten Einsicht in das Wesen des deutschen Kirchenkampfes. 1935 ging er nach Deutschland zurück und leitete ein illegales Seminar der Bekennenden Kirche in Pommern. Unterbrochen durch Besuche in Amerika und England gab er Pastoren innerhalb der Bekennenden Kirche bis zum Ausbruch des Krieges Hilfe und Anleitung. Außerdem nahm er den aktiven und streitbaren Anteil an der Opposition gegen Hitler und am Widerstand gegen die barbarischen Taten seiner Regierung. Er haßte den Krieg. Meine vorletzte Erinnerung an Dietrich ist ein langes Gespräch im Sommer 1939 in Chichester, als er den Krieg für unvermeidlich hielt. Es ging darum, was seine Pflicht wäre, wenn er einberufen würde. Tatsächlich wurde ihm die Prüfung, in der Armee zu dienen, erspart. Seine ganze Kraft widmete er der Arbeit für die Bekennende Kirche und half der unterirdischen politischen Opposition, die den Sturz des Führers plante. Sein illegales Seminar wurde 1940 zum zweiten Male aufgelöst. Dann reiste er durch das Land und visitierte für die Bekennende Kirche die Gemeinden. Ende 1940 erhielt er Rede- und Predigtverbot von der Gestapo. 1941 und 1942 befaßte er sich mit seinem Buch über christliche Ethik und arbeitete Memoranden für die Bruderräte aus, währen er seine Abende der politischen Tätigkeit widmete. Es war im Mai 1942, als ich ihn zum letzten Male in Stockholm sah. Vollkommen unerwartet erschien er unter Lebensgefahr aus Berlin, um mir Informationen von äußerster Wichtigkeit zu geben über die Oppositionsbewegung in Deutschland, die Hitler und seine Hauptmitarbeitern beseitigen (eliminate) und eine neue Regierung einsetzen wollte. Diese sollte die Nürnberger Gesetze aufheben, Hitlers Taten, soweit wie möglich rückgängig machen und Frieden mit den Alliierten suchen. Von diesen letzten ernsten (solemn) Gesprächen mit Dietrich will ich nichts weiter sagen als dieses: So tief er sich dem Plan der Beseitigung verpflichtet fühlte (deeply committed as he was to the plan for elimination), war es ihm doch in keiner Weise leicht, diesen Entschluß als Christ zu fassen. „Es muß eine Strafe von Gott geben“, sagte er, „wir wollen der Sühne (repentance) nicht entfliehen.“ Die Beseitigung selbst – darauf bestand er – muß als ein Akt der Sühne verstanden werden. „Strafe muß über uns kommen! Christen wünschen nicht, der Sühne oder der Strafe zu entgehen, wenn Gott sie über

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2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers

uns bringen will. Wir müssen dieses Gericht als Christen ertragen.“ Sehr bewegt war unsere Unterhaltung, sehr bewegt unser Abschied. Und den letzten Brief, den ich von ihm kurz vor seiner Rückkehr nach Berlin bekam – als er wohl wußte, was ihn dort erwarten könnte –, werde ich als Vermächtnis für mein ganzes Leben aufbewahren. Wenige Monate nach seiner Rückkehr wurde er verhaftet. Lange Zeit hielt man ihn im Gefängnis und im Konzentrationslager. Im Anfang dieses Jahres fand die Verhandlung gegen ihn vor dem Volksgerichtshof statt wegen seines Anteils an den Ereignissen des 20. Juli 1944. Er wurde zusammen mit seinem Bruder Klaus und seinem Schwager Dr. Rüdiger Schleicher zum Tode verurteilt. Ein anderer Schwager, Dr. v. Dohnanyi, wurde zur selben Zeit verhaftet und erkrankte im Konzentrationslager. Obwohl das Urteil durch den Tod des Richters bei einem Luftangriff nicht vollstreckt werden konnte und wir so sehr hofften, daß er für die Zukunft Deutschlands gerettet werden könnte, wurden Dietrich und Klaus im Konzentrationslager Flossenburg ermordet, nur wenige Tage, bevor die Amerikaner ankamen, um die Gefangengen zu befreien4. Und nun ist Dietrich von uns gegangen. Er starb mit seinem Bruder als Geisel. Unsere Verpflichtung ihnen und allen anderen gegenüber, die auf ähnliche Weise gemordet wurden, ist übergroß. Sein Tod ist ein Tod für Deutschland – ja in der Tat auch für Europa. Er opferte seine menschlichen Aussichten, Heim, Freunde und berufliche Zukunft, weil er an Gottes Ruf für dieses Land glaubte. Er weigerte sich, jenen falschen Führern zu folgen, die die Diener des Teufels waren. Er wurde begeistert durch seinen Glauben an den lebendigen Gott und die Hingabe an Wahrheit und Ehre. So ist sein Tod, wie sein Leben, von tiefstem Wert im Zeugnis der Bekennenden Kirche. In der edlen Gemeinschaft der Märtyrer verschiedener Traditionen verkörpert er beides: den Widerstand der gläubigen Seele gegen den Angriff des Bösen im Namen Gottes, und ebenso die moralische und politische Erhebung des menschlichen Gewissens gegen Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Er und seine Freunde stehen auf dem Grund der Apostel und Propheten. Und es war die Leidenschaft für Gerechtigkeit, die ihn und so viele andere in der Bekennenden Kirche, die mit ihm übereinstimmten, in so enge Gemeinschaft mit anderen Männern des Widerstandes brachte. Obgleich sie außerhalb der Kirche standen, teilten sie dieselben menschlichen und freiheitlichen Ansichten.

2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers

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2.2 Ansprache von Pastor Franz Hildebrandt5 „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehnen sich nach Dir.“ (2. Chron. 20,12)

Im Mai 1932, ein paar Monate vor Hitlers Machtergreifung, stand Dietrich Bonhoeffer auf der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche in Berlin und predigte über diesen Text. Er war damals Studentenpfarrer der Technischen Hochschule neben seiner Privatdozentur an der Universität. Der Text hat ihn lange zuvor und lange hernach beschäftigt, und heute dürfen wir ihn brauchen als die Überschrift zu dem Bilde seines Lebens, das uns vor Augen steht. Wir hätten unsern Freund und Bruder schlecht verstanden, wenn wir uns hier ins Biographische verlieren wollten; aber die persönliche Erinnerung mag die Illustration abgeben zu dem Wort, das im Zentrum seines Denkens stand und in dessen Dienst er sich vermehrt hat. Er stammt aus akademischem Haus, und zum Akademiker schien er geboren. Der Gelehrtentradition seiner Väter, der Bildung und Kultur seiner Familie hat er sich nicht geschämt, und die theologische Mode der Humanistenverachtung hat er nie mitgemacht. Er kannte seine Klassiker in Kunst, Musik und Literatur, ehe er sie kritisierte: er wußte zu lesen und zuzuhören, ehe er ein Urteil abgab, in der Dissertation über die Sanctorum Communio und der Habilitationsschrift über „Akt und Sein“, geschah es mit einem Grad von Reife und einer Kraft der Konzentration, die es fast unglaubhaft machten, daß der Verfasser eben erst 21 oder 24 Jahre alt war. Sie konnten stolz auf ihn sein zu Hause in der Wangenheimstraße, stolz auf ihn wie auf seine älteren Brüder, von denen einer sein Los geteilt, einer jung im vorigen Krieg gefallen und nur einer noch am Leben ist, bis zur Stunde in Unkenntnis über Dietrichs Schicksal . . . „Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“ Vor dem jungen Theologen stand das Problem des christlichen Lebens und Handelns. Vorläufige und konventionelle Antworten befriedigten ihn nicht. Mit sokratischer Gründlichkeit fragte er weiter, wo die anderen aufhörten; und sein Fragen teilte sich den Schülern mit. Es zeigte sich sehr bald, daß seine eigenste Begabung auf erzieherischem Felde lag. Die Konfirmandenklasse im Berliner Norden, mit der er drei Monate lang in engster Gemeinschaft hauste, war das Vorspiel zu Plänen, die später im Seminar von Finkenwalde ihre Verwirklichung fanden. Dazwischen, wenn er nur gewollt hätte, hätte eine gesicherte und glänzende akademische Zukunft ihm offen gestanden. Stattdessen ging er nach London. Es war nicht die erste Tätigkeit im Ausland; er war als Vikar in Barcelona und als Austauschstudent und -dozent in New York gewesen. Wichtige ökumenische Fäden hatten sich

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2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers

geknüpft. Aber die Abreise im Herbst 1933 war doch von besonderer, demonstrativer Bedeutung. Sie bezeichnete den klaren Bruch mit der Kirche des Dritten Reichs. Als er sich weigerte, unter falscher Flagge zurückzusteuern, sagte ihm einer der neuen Amtsträger: „Was seid ihr doch für komplizierte Menschen!“ Er kannte Dietrich Bonhoeffer schlecht. Seine Kompliziertheit war nicht von der Art, daß sie ihn zwischen Recht und Unrecht schwanken ließ. Seine Vertiefung in das ethische Problem war keine selbstgefällige Freude an der Problematik dialektischer Theologie. Das Suchen mußte aus Ziel führen, das Fragen erlangt Antwort. In den 18 Monaten, die er in London verbrachte, begann die endgültige Klärung seines Kurses. Von dem, was er als Pfarrer von St. Pauls und Sydenham getan hat, muß an anderer Stelle berichtet werden; seine Gemeindemitglieder, die unter uns sind, wissen alle, wie die kurze Spanne seines Wirkens in ihre Geschichte eingegriffen hat, und wer als Gast mit ihm in Forest Hill gewohnt hat, kann diese Zeit nie vergessen. Eine Predigt ist mir deutlich im Gedächtnis, die er damals am Totensonntag hielt über den Text: „Aber sie sind im Frieden“, und in der er den Fall eines Patienten erzählte, der von den Ärzten aufgegeben und bewußtlos, schwebend zwischen Tod und Leben und gleichsam über die Grenze schauernd ausrief: „Gott, ist das schön!“ In manchen Gesprächen jener Tage erklärte er, daß es eigentlich genug für einen Christenmenschen sei, 36 oder 37 Jahre alt geworden zu sein. So bleibt er ökumenisch in seiner Haltung, stärker vielleicht als irgendein anderer deutscher Theologe seiner Generation; so weigert er sich, aktiv mit der Waffe in den zweiten Weltkrieg einzutreten, so erneuert er die Verbindung mit den englischen Brüdern, als schon die Grenzen geschlossen sind und Reisen ins neutrale Ausland gefährlicher werden als je. Das Dilemma der deutschen Christenheit in ihrer Isolierung wird immer ärger; wie in der Geschichte von Samson droht eines Mannes Arm das ganze Haus mit sich zu Fall zu bringen; und draußen rührt sich mit seltensten Ausnahmen, keine Stimme, die verstände, und keine Hand, die hilft. Politische Aktion wird unvermeidlich. „Warum“, so hat Dietrich bei seinem letzten Besuch hier gefragt, „sollen immer nur die schlechten Leute Revolution machen?“ In diesem Kampf setze er, wie sein Bruder, seine Schwäger, seine Freunde, alles aufs Spiel. Der Ausgang war zumindest ungewiß, nicht nur für die Person, sondern für die Sache. Der Bischof hat von den apokalyptischen Tönen gesprochen, die in seiner letzten Stockholmer Unterredung mit ihm anklangen; der Untergang Deutschlands, ja Europas, schien ihm zur Gewißheit geworden. Aber auch jetzt noch und gerade jetzt behielt das Wort seine Geltung: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehen nach Dir.“ Auch die letzten zwei Jahre im Gefängnis und in der unerwarteten Möglichkeit der Seelsorge dort, und die letzten beiden Monate seit dem Todesurteil über die zwei Brüder, können ihm nichts an-

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deres gewesen sein als ein neues höheres Stadium der Nachfolge. Von der Gnade des Martyriums hatte er in seinem Buch geschrieben. Und der Text seiner allerersten Predigt war: „Also auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“ Es ist vielleicht bezeichnend, daß wir wenig gute Bilder von ihm haben; er war den Photographen abhold; und die besten Aufnahmen zeigen ihn im Kreise seiner Eltern und Geschwister, denen er aufs engste zugehörte und die ihn bis zum bitteren Ende begleitet haben: die Eltern zur Gerichtsverhandlung, zwei Schwäger ins Konzentrationslagern und ein Bruder in den Tod. An einem der glücklichsten, freiesten und tapfersten Häuser in Deutschland, das so seiner Kinder beraubt worden ist, zeigt sich in den grellsten Farben, wo die wahren Opfer dieses Krieges zu suchen sind. Uns will Sprache und Hoffnung versagen; wir wissen nicht, was wir tun sollen. Aber laßt uns nicht hier haltmachen, sondern dem Text folgen: unsere Augen sehen nach Dir. In dieser Wendung von der quälenden Frage in die getroste Nachfolge Christi liegt doch das Geheiminis der Person Dietrich Bonhoeffers und sein Vermächtnis an uns. Man kann es an der Entwicklung seines Stils verfolgen, wie von den ersten abstrakten Untersuchungen bis zu den letzten Seiten der „Nachfolge“ alles immer unbeschwerter und einfältiger wird: „Auf diesen nicht einmal hundert Seiten“, schreibt ein Kritiker seiner Genesisauslegung, „steht mehr drin als in vielen dicken theologischen Wälzern; jedes Wort ist überlegt und jeder Satz sitzt.“ Es ist in seinem Leben nicht anders gegangen. Das Joch, das er auf sich nahm, war sanft und die Last seines Herrn leicht, der Blick klärte sich ihm in dem Maße, in dem er auf Jesus sah, hinweg von sich selbst, und was er einst vor Jahren von der Hoffnung des Christen schrieb, ging ihm in Erfüllung: „Er wird, was er war, oder doch nie war, ein Kind.“

2.3 Dietrich Bonhoeffer – Person und Werk6 Eberhard Bethge I. Dietrich Bonhoeffer wußte zwei Dinge. Er wußte, daß einer die Schönheit dieser Welt genießen kann, indem er bereit ist, sie zu opfern: die Früchte der Erde, die Wärme der Sonne, Freundschaften, Humor und die Spiele des Geistes. Er hatte eine Schwäche für Menschen, die mit Geschmack aus einer Mahlzeit etwas zu machen verstanden. Er lehrte, wie man Feste feiert. Er konnte diese Dinge opfern, und als er sie opferte, liebte er, ande-

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ren zu zeigen, wie man mit den Schönheiten der Erde umgeht. „Genießt, was Euch noch begegnet“ schrieb er mitten in Verhören und unter Bombenteppichen. Er war immer sehr großzügig. Zum anderen: Er wußte, daß Worte nur Gewicht haben, wenn sie die Ermächtigung der Situation und der Persönlichkeit mit sich tragen. Sein Werk war ständig begleitet von Experimenten und Wagnissen. Er war gequält von der Zungenfertigkeit und von der langweiligen Gedehntheit des christlichen Redens und Predigens, des Dreinredens und Darüberhinredens. Er hat gemeint, daß man eher Gefahren der Mißverständnisse eingehen und lieber vor den Kopf stoßen soll, als die Kostbarkeit des Evangeliums weiter aufs Spiel zu setzen. Mir scheint jetzt, daß dieses Wissen um die Kostbarkeit des Wortes Jesus Christus das durchgehende Thema in Bonhoeffers Leben ist; die Sorge ob der lästerlichen Verschleuderung der geheime Antrieb durch alle drei Perioden seines Werkes und Seins. Die Partner und Adressaten seiner Arbeit haben gewechselt. Zunächst sind es die T h e o l o g e n gewesen, in deren Gespräch er sich souverän und präzis hineinarbeitet; ihnen sagt er wider alle vage Verflüchtigung, daß Jesus Christus nirgends anders zu haben ist als in den konkreten und armselig konsistorial verfaßten Kirchen. Dann ist es die K i r c h e selber; in deren Kampf er von Beginn an in voller Parteinahme eintritt; ihr sagt er, daß sie mit der bindungslosen billigen Verschleuderung der Gnade die Welt um die Gnade Christi betrügt. Und am Ende sind es schuldbeladene Te i l h a b e r an dem rasenden Ablauf eines Weltabschnittes: Juristen, Soldaten, Wächter und Gefangene, Verschwörer und Atheisten; ihnen zeigt er, daß Jesus Christus keine Gestalt einer verdrängten religiösen Provinz ist, ein Stück aus dem religiösen Warenhaus zu herabgesetzten Preisen, sondern ein brüderlicher Herr dieser modernen Welt. Weil seine Sache so kostbar ist, muß Bonhoeffer soviel offen lassen. Nie ist er fertig, nie weiß er schon alles; nie wiederholt er, wenn er einmal seinen Beitrag gegeben hat. Das Kostbare kommt nicht auf das literarische Produktionsband. Jesus Christus bedeutet für ihn in jedem Abschnitt eine verwirrende Fülle neuer Entdeckungen, reich und herausfordernd, enthüllend und beschämend, er bindet und kommt daher mit lauter freundlichen Erlaubnissen. Ein Rabbiner schrieb mir nach dem Erscheinen von „Widerstand und Ergebung“, durch Bonhoeffer sei ihm zum erstenmal verständlich geworden, daß einer zur Anbetung der Person Jesu kommen könne.

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II. Zweimal hatte Bonhoeffer eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. Jedesmal brach sie ab, was er sich für seinen eigenen Weg gewünscht hatte. 1. Als er 1934 Pfarrer in London war, bekam er eine Einladung nach Indien, Gandhi zu treffen. Schon in New York war er 1930 von den verschiedenen Formen des Pazifismus und den Problemen des Stadtteiles Harlem angezogen. [. . .] Mitten in die Vorbereitungen für Indien kam der Ruf, eines der neu einzurichtenden Predigerseminare der Bekennenden Kirche zu übernehmen. Die Bekennende Kirche war zu dem Entschluß gekommen, keinen ihrer Theologen mehr auf die Seminare der offiziellen Kirche zu schicken. Ein Aufschub konnte nicht riskiert werden. So fiel die Entscheidung im Frühjahr 1935: zurück in ein pommersches strohgedecktes Provisorium, in dem Humor und Kirchenkampfbegeisterung über vieles hinweghalfen. Diese Entscheidung Bonhoeffers bedeutete noch keine Lebensbedrohung. Trotz aller Ungewißheit und persönlicher Opfer war sie ein Teil der ersten Kirchenkampfjahre, die jetzt im Rückblick voller Optimismus erscheinen. Aber aus der gehorsamen Entscheidung resultierte eine neue Konzentration auf den Gehorsam der Kirche. Die erste Vorlesung des Seminars führte uns mitten in seine Auslegung der Bergpredigt. Es entstand die „Nachfolge“, die ihn damals bekanntgemacht hat. Die Formel klang anstößig, aber sie blieb hängen: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt“ (Nachfolge, 19). Wir protestierten, aber er lehrte uns, die Frage des Gehorsams in eigenem Gehorsam zu überprüfen, um zu erfahren, daß nur die teure Gnade Gnade ist, die billige aber aus der Kirche einen Kramladen macht. In dieser Zeit entstand das Bruderhaus in Finkenwalde, dessen Fama von einem düsteren klösterlichen Leben alsbald die Runde machte. [. . .] Bis zur Auflösung des Seminars durch einen Himmler-Erlaß im August 1937 lebte dieser Versuch eines Bruderhauses. So sind nicht Forderungen und Wünsche, sondern praktische Erfahrungen in das Büchlein „Gemeinsames Leben“ eingegangen. Anstöße liegen schon in Bonhoeffers Zeit in England, wo er aufmerksam anglikanische evangelische Klöster besucht und manche Anregung für den praktischen Ablauf des Tages einer solchen Gemeinschaft empfangen hatte. 2. Die andere Entscheidung griff tiefer. Diesmal rührte sie an das Leben. Ende Mai 1939 ging er an Bord der Europa nach USA. Die Gründe für diese Reise sind ein ganzes Bündel und die Begründungen auch. Es lagen Einladungen vor vom Federal Council of Churches und vom Union Theological Seminary, wo Bonhoeffer 1930 studiert hatte. Niebuhr

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[deutscher Theologieprofessor in den USA], der die Sache betrieb, hatte nicht ohne Grund gemeint, diesen Mann aus der kommenden Entscheidung heraushalten zu müssen, wenn es an ihn komme, den Dienst mit der Waffe zu tun. Bonhoeffer war tatsächlich in den Jahren seiner Beschäftigung mit dem christlichen Pazifismus so weit gekommen, daß er zu dieser Zeit die Kriegsdienstverweigerung für seine eigene Person in Betracht zog. Der Bruderrat der Bekennenden Kirche hatte nach langen Überlegungen endlich eingewilligt, den brennend benötigten Lehrer im Namen der wenigen noch existierenden ökumenischen Verbindungen gehen zu lassen. Kaum in USA, begann Bonhoeffer aber schon wieder, mit den Einladenden darüber zu verhandeln, wie er sich den Weg zurück offen halten könne. So steht in einem Tagebuch: „Ich begreife nicht, warum ich hier bin . . . Das kurze Gebet, in dem wir an die deutschen Brüder dachten, hat mich fast überwältigt . . . Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland . . . Ich will für den Kriegsfall nicht hier sein . . .“ Und wenig später heißt es: „Seit ich auf dem Schiff bin, hat die innere Entzweiung über die Zukunft aufgehört.“ Paul Lehmann, Professor für Ethik in Princeton, war noch auf das Schiff gekommen, um ihn vielleicht doch noch herunterzuholen. Er ahnte wohl, was diese Reise bedeutete. [. . .] Er war in den Westen gegangen, um das Schwert nicht nehmen zu müssen, und er kehrte um, es zu nehmen. Er hat gewußt und ausgesprochen, daß, wer es nimmt, auch dadurch umkommen wird. Die Bereitschaft, diesen Richtspruch willig anzunehmen, war das innere Thema, das zunächst tastend und dann immer klarer die Jahre beherrschte. Als er damit spielte, sich herauszuhalten und seine reichlichen Möglichkeiten zu nutzen, wußte er doch, daß er zu zahlen hatte. Wie – das war nicht sofort deutlich. Aber nun ging er aus den „letzten“ in die „vorletzten Dinge“. Die letzten schienen klar und einfach, die vorletzten waren verwickelt und mußten es auf sich nehmen, nicht mehr eindeutig sein zu können und dennoch mit Blut bezahlt werden zu sollen. Gleichwohl begann jetzt nicht etwa eine Zeit der Düsternis und der Bedrücktheit; es erschien kein Glanz des Tragischen, des ungelösten Konfliktes über ihm, sondern eine neue Freiheit und Freude an Menschen, Spielen und Farben. In dieser Zeit hat er sich auch verlobt. 1935 begann er die „Nachfolge“ zu schreiben, 1939 machte er sich an die „Ethik“. Später hat er selbst gesagt, daß die Nachfolge einen Abschluß bedeute, von dem er freilich auch nicht zurücktreten wolle (WE 248). Es war lange keine Ethik mehr geschrieben worden, und er war der erste, der sich bewußt wieder an dieses eine zeitlang verpönte Fach der Theologie heranmachte. [. . .] Er hat zwar die abstrakte Luft der akademischen Tradition, in der er aufgewachsen war, niemals billig verlästert; aber Denken und Existenz durchdringen sich bei ihm unlöslich. Er kommt aus Amerika

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zurück und es entsteht eben ein Kapitel mit der Überschrift „Schuldübernahme“ (Ethik, 186). Wie so oft, ist es nicht zu entscheiden, ob die Gedanken seine neue Existenz und ihre Aktionen bestimmen, oder ob die spezifische Existenz und ihre Erfordernisse die Gedanken ins Leben riefen. Die Verantwortung, über die er schreibt und lehren will, kam mit jedem Tag kompakter auf ihn zu. Zum Verständnis dieser Jahre noch ein anderes. In der „Ethik“ bestreitet er die absolute Ethik. Es komme alles darauf an, den eigenen relativen Standort zu erkennen und von diesem aus im Glauben zu handeln und zu gehorchen. Christus wird nicht im Absoluten, sondern in diesem Relativen nur ernsthaft angenommen. Darum hat jeder das Seine, die Verantwortung und Schuld der eigenen Sphäre anzunehmen. Bonhoeffer wurde es jetzt immer dringender, die Verantwortung seiner persönlichen Herkunft und ihr Gericht zu erkennen. Er wurde sich immer mehr seiner bürgerlichen Herkunft bewußt. Er konnte es jetzt weniger gut vertragen, wenn der Bürger verächtlich gemacht wurde. Er bekam eine neue Vorliebe für das 19. Jahrhundert. In der Finkenwalder Zeit hatte er versucht, uns aus den bürgerlichen Bindungen zu lösen: die großen Feste sollten nicht mehr der Familie, sondern den Brüdern gehören. Jetzt genoß er, was er nur immer von dem Elternhaus noch haben konnte – die Gestapo versuchte seit 1940, ihn davon abzuschneiden. Das Fragment des Romanes, den er in der Zelle begann, ist nichts anderes als eine Liebeserklärung an seine bürgerliche Heimat. Und in dem anderen, ebenso abgebrochenen Versuch eines Dramas läßt er den sehr gesunden, durch den Krieg freilich vom Tode gezeichneten Sohn eines bürgerlichen Hauses (eines Arzthauses) mit einem jungen Proletarier in einen Disput kommen: „Christoph: ,. . . Aber auch Du kennst meine Welt nicht. Ich stamme aus einem sogenannten guten Haus, d. h. aus einer alten angesehenen Bürgerfamilie, und ich gehöre nicht zu denen, die sich schämen, das auszusprechen. Im Gegenteil, ich weiß, was für eine stille Kraft in einem guten Bürgerhaus lebt. Das kann keiner wissen, der nicht hineingewachsen ist . . . Aber eins mußt Du wissen: Wir sind groß geworden in der Ehrfurcht vor dem Gewordenen und dem Gegebenen und damit in der Achtung vor jedem Menschen. Mißtrauen gilt uns als gemein und niederträchtig. Das unbefangene Wort und die unbefangene Tat des anderen Menschen suchen wir und wollen wir ohne Argwohn hinnehmen . . .‘ Heinrich: ‚. . . Wir wollen etwas viel Einfacheres. Boden unter den Füßen, um leben zu können. Das ist es, was ich das Fundament nannte. Spürst Du den Unterschied nicht? Ihr habt ein Fundament, Ihr habt Boden unter den Füßen, Ihr habt einen Platz in der Welt, für Euch gibt es Selbstverständlichkeiten, für

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2. Die Biographie Dietrich Bonhoeffers die Ihr einsteht und für die Ihr Euch auch ruhig den Kopf abschlagen lassen könnt, weil Ihr wißt; daß Eure Wurzeln so tief liegen, daß sie wieder treiben werden . . . Diesen Boden haben wir nicht; . . . darum haben wir nichts, wofür wir uns den Kopf abschlagen lassen können und wollen . . .‘ Christoph (nachdenklich geworden): ‚Boden unter den Füßen. Ich habe das so nicht gewußt. Ich glaube, Du hast recht. Ich verstehe, Boden unter den Füßen – um leben und sterben zu können.‘ Heinrich: , . . . welche Schuld trifft die, die man ins Leben hineingestoßen hat, ohne ihnen Boden unter die Füße zu geben? Kannst Du an ihnen vorübergehen und vorbeireden? . . .‘“

Hier sind Bonhoeffers Erlebnisse mit den Konfirmanden aus dem Berliner Wedding 1929 und die Wohnlaube in Biesental, die er für sie einrichtete, wieder da – in dem Moment, als es für ihn darauf ankam, in Tegel das Vertrauen der Wächter und Zellennachbarn zu haben. „Ja, Boden unter den Füßen . . . ich habe das so nicht gewußt.“ Er wußte um das vage Existenzrecht des Bürgertums. Er war bereit, einzustehen für das auf dem Höhepunkt angelangte Aufgeben der Verantwortlichkeit für das Öffentliche und dem Namen des Bürgers wiederzugeben, was er verloren hatte. Ein Mensch wird so weit in das Gedächtnis der Menschen eingeschrieben, wie er seinen Ort wahrnimmt und an ihm tut, was auf ihn – und nicht auf seinen Nebenmann – zukommt. Er wird so wirksam, wie er seine spezifische – und nicht eine immer gleichbleibende – Aufgabe sieht und angreift. [. . .]

[Bonhoeffers Aussagen über eine] Grenzsituation gehören nun freilich auch in die spezifische Situation von Kenntnis und Beteiligung, in der Bonhoeffer durch seine engste Umgebung stand. Hans von Dohnanyi, Freund und Schwager, war einer der Hauptbeauftragten des Generals Beck; er hatte u. a. die Dokumente zu sammeln, die nach Gefangennahme oder Beseitigung Hitlers dem deutschen Volk die Hintergründe und Verbrechen des Regimes evident machten. Damit sollte das Entstehen einer Dolchstoßlegende verhindert werden. Ein gewisser Höhepunkt dieser Tätigkeit war mit der General-Fritsch-Krise im Februar 1938 erreicht. Von nun an war Bonhoeffer ständig über Fortschritt und Rückfall der Widerstandsarbeit unterrichtet. Etwa diese Zeit markiert den Wendepunkt. Er fand sich mehr und mehr aus der mittelbaren Mitverantwortlichkeit am deutschen Schicksal in die unmittelbare Mitschuld und Mitverhaftung hineingezogen. In der mittelbaren konnte man mit seinem Einsatz für die Kirche das Übrige ruhig Gott befehlen. In der unmittelbaren war es aber gerade dieses „Übrige“, in dem Gott nach Leuten rief, die sich endlich be-

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währten. Wenn die Bürger in den verschiedenen Mandaten des Rechtes, der Verwaltung, des Heeres, der Forschung die ihnen befohlene Verantwortlichkeit Schritt um Schritt delegierten an einen, der jenseits der Verantwortung stand, wenn sie Würde gegen Würden eintauschten, dann konnte es unter den Sehenden eben auch an einen Pastor kommen: willst Du in dieser Notstands- und Grenzlage stellvertretend ein Stück der Verantwortlichkeiten mit übernehmen, die nicht genug Träger mehr finden? Als ein italienischer Mitgefangener beim Spaziergang auf dem Hof Bonhoeffer einmal fragte, wie er denn als Christ und Pfarrer sich an einem Komplott beteiligen könne – es war keine Zeit, lange zu argumentieren –, sagte er: „Wenn ein Wahnsinniger auf dem Kurfürstendamm sein Auto über den Gehweg steuert, so kann ich als Pastor nicht nur die Toten beerdigen und die Angehörigen trösten; ich muß hinzuspringen und den Fahrer vom Steuer reißen, wenn ich eben gerade an dieser Stelle stehe.“ Der Gedanke findet sich übrigens schon sehr früh in einem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“: „Die dritte Möglichkeit (der Kirche) besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen . . .“ Wie viel Gedanken man sich gemacht hat, ob es denn erlaubt und recht sei, den Mann am Steuer abzuschießen oder ihn zu verhaften und vor ein Gericht zu stellen, ist inzwischen genügend bekannt. Bonhoeffer, der mit Moltke 1942 eine längere gemeinsame Reise im Auftrag der Abwehr nach Norwegen machte, teilte dessen Ansicht nicht, daß man das Gericht am deutschen Volk bis zum Ende sich austoben lassen müsse. Er war an den Überlegungen über die Art der Gewaltanwendung in vielen Stadien beteiligt. Er führte jetzt sein Leben zwischen den Aufträgen der Bekennenden Kirche und den durch das Amt Canaris ermöglichten Reisen u. a. nach Basel oder Stockholm; zwischen Visitationen, theologischer Arbeit an der „Ethik“ im Kloster Ettal, auf dem Kleistschen Gut in Klein-Krössin und der zwielichtigen Beantragung von Pässen und Kurierausweisen mit dem Stempel der Abwehr – so zwielichtig, daß selbst Karl Barth an Bonhoeffers Loyalität einmal zweifelte, als dieser allzu glatt bei ihm in Basel erschien. Deshalb war Dietrich Bonhoeffer die Zigarre so wichtig, die ihm Barth als einen sakramental-leiblich greifbaren Gruß der Gemeinschaft in die Zelle nach Tegel schickte (WE 106)! Bonhoeffer hat wohl unterschiedene Perioden der Verantwortlichkeit in seinem Leben gesehen, aber er hat keinen inneren Bruch zwischen der Zeit der „Nachfolge“ und der Zeit der „Ethik“ gespürt und anerkennen wollen7. [. . .] Wie es an ihn gekommen ist, wäre es ihm als eine unerlaubte Flucht erschienen, sich den ihm zugewachsenen Kontakten zu entziehen in einen sündlosen Raum. Das war ja gerade die Sünde seiner Klasse vor Gott und Menschen: die Flucht vor der Verantwortung, gleichgültig ob in einen

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frommen Raum oder in private Versicherungen oder in öffentliche Würden. Nicht jeder sollte so handeln wie er, aber jeder sollte den Ruf an seinem Ort vernehmen und ihm nicht ausweichen. „Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest, das Wagnis des Handelns“ (Ethik, 268). [. . .] Die Kirche . . . fühlt sich in offiziellen Gremien unwohl bei der Herausforderung ihres Dieners Bonhoeffer. Vor der Einweihung einer Tafel in der Kirche des Todesortes gab es ein Zögern in einer Kirchenleitung: es müßte erst geprüft werden, ob Bonhoeffer wirklich für Christus den Tod erlitten habe. So sucht man sich den Bonhoeffer der „Nachfolge“ oder des „Gemeinsamen Lebens“ heraus. Aber er läßt keine Ruhe . . . 1946 schrieben Pastoren einer norddeutschen Stadt an Bonhoeffers Vater, daß der sozialistische Stadtrat neue Straßennamen beschließen und mitten unter den politischen und sozialistischen Opfern auch Dietrichs Namen anbringen wolle. Er möchte doch etwas tun, daß Dietrichs Name nicht in dieser Umgebung auftauche. Er antwortete kurz: sein Sohn sei mit lauter Verschwörern zusammen gestorben, er sähe nicht, warum er daran etwas verfälschen solle! [. . .]

III. Dieser Mann hat nun ein Werk hinterlassen, das übersehbar ist. Kein sehr dicker Band ist unter den Büchern. Keine verbesserten und veränderten Neuauflagen sind zu vergleichen und zu studieren. Es beginnt mit sehr gerafften und geschlossenen Arbeiten und endet mit posthumen Fragmenten. Es fängt an mit einer souveränen Fähigkeit zu argumentieren und sich der Fülle der theologischen Gesprächspartner zu stellen und es schließt ab weit vorn bei der ungemütlichen, ungesicherten Vorhut. Es ist schwer, mit dem schwerfälligen Gros zu folgen und die Verbindung nach vorn intakt zu halten. 1. Mit 21 Jahren schrieb er das eben wieder aufgelegte Buch „ S a n c t o r u m C o m m u n i o “ , eine strenge dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche. Ernst Wolf, der es wieder herausgegeben hat, sagt davon: Diese Dissertation sei „fast unbekannt geblieben oder es geworden“ aber sie sei „innerhalb der verhältnismäßig geringen Zahl neuerer Monographien zur Lehre von der Kirche wohl die scharfsinnigste und vielleicht tiefsinnigste Behandlung der Frage nach der wesenhaften Struktur der Kirche . . .“ (SC 5). Es folgte „ A k t u n d S e i n “ , die Habilitationsschrift 1930/31. . . Mit einigen Aufsätzen, der Antrittsvorlesung und der sehr schönen Rede zu Harnacks Begräbnis im Namen von dessen Schülern (1930) bezeichnen diese zwei Bücher die erste Periode. Es sind strenge systematische Unter-

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suchungen – so geschlossen wie schwer lesbar. Aber in beiden wird schon deutlich, wie es Bonhoeffer um die erdhafte, empirische ecclesia geht, die Gegenwart Christi in der damaligen konsistorialen Volkskirche. „Liebe und tiefer dogmatischer Einblick in den Sinn der Geschichtlichkeit der Kirche haben es Luther schwer gemacht, sich von der römischen Kirche loszureißen. Ressentiment und dogmatischer Leichtsinn sollen uns nicht kurzer Hand unsere geschichtliche evangelische Kirche nehmen können“ (SC 166). – „Die Versammlung der Gläubigen bleibt unsere Mutter“ (SC 171). Er fragt nach der Soziologie des Leibes Christi. „Christus als Gemeinde existierend“ (so der ständig wiederkehrende Begriff) hat seine eigentümliche Gestalt mitten unter uns als eine Personengemeinschaft, als Kollektivperson und (leider auch) als ein Herrschaftsverband. Die Offenbarung Gottes ist nichts anderes als Christus mitten unter uns als Gemeinde existierend; diese ist eine Gemeinschaft, in der man stellvertretend für einander da ist. Einige der frühen Freunde Bonhoeffers meinen, Karl Barth sei von dem hier schon bei Bonhoeffer auftauchenden Begriff der „Mitmenschlichkeit“ angeregt worden. Die zentralen Begriffe aus den letzten erregenden Blättern der Gefängniszeit, die Stellvertretung und das Füreinanderdasein, sind hier schon voll entwickelt. [. . .] 2. So kreist sein Denken um die Gegenwärtigkeit Christi in der Kirche. Bisher hatte es sein Schwergewicht in der Herausarbeitung, daß Christus in der armseligen empirischen Kirche am Ort gegenwärtig sei. Später wird es sein Schwergewicht haben in der Verantwortung, daß es auch wirklich Christus sei, der da gegenwärtig ist und kein neuer oder zahmer Herr. Das verändert mit dem Wechsel der Atmosphäre für das Theologisieren um 1933 den ganzen Stil der folgenden Periode. Das Predigen rückt in den Vordergrund. Die Schrift wird befragt. Bonhoeffer ist sich nicht mehr sicher, ob er bei der Systematik bleiben soll. Seine ganze Leidenschaft ist bei der Auslegung von Stücken des Neuen und vor allem auch des Alten Testaments. Reich und fruchtbar ist seine Exegese, und es ist zu hoffen, daß aus dieser Zeit noch dies und das zugänglich gemacht werden kann. Das Argumentieren tritt in den Hintergrund; die Stimme Christi zu vernehmen und das Gehörte weiterzugeben, bedarf aller Aufmerksamkeit; und wenn es ans Argumentieren kommt, hat es eine neue gefährliche Schärfe. Stellung beziehen ist kein Spiel mehr, sondern confessio und damnamus. Diese zweite Periode reicht von „ S c h ö p f u n g u n d F a l l “ (1934) über die „ N a c h f o l g e “ (1937) bis etwa zum „ G e m e i n s a m e n L e b e n “ (1938). Die alte Frage ist geblieben, was der Leib Christi sei. Und es gibt immer neue Gelegenheiten und Herausforderungen, das zu verstehen und zu beschreiben. Wie er in der Form der Bekennenden Kirche unter den anderen

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Bekenntnissen der Oekumene existiert (Bonhoeffer trifft als Mitglied der Vorbereitungskommission der Bekennenden Kirche für Oxford 1937 auf die Delegation der Marahrens’schen Reichskirchenregierung). Wie der Leib Christi sich von seinen Verfälschungen im Kirchenkampf befreit. Was seine Lebensgesetze sind im täglichen Leben einer christlichen Gemeinschaft. „ Z u r F r a g e n a c h d e r K i r c h e n g e m e i n s c h a f t “ ist der Aufsatz in der Evangelischen Theologie 1936, der einen Sturm entfesselt hat, entzündet an dem wieder und wieder isoliert zitierten Satz: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trennt, scheidet sich vom Heil“ (Ev. Th. 1936, S. 231). Gollwitzer stellte kritische Fragen und Bonhoeffer antwortete wieder mit „ F r a g e n “ (Ev. Th. 1936, S. 405ff.). Ich fürchte, er wäre uns heute ein unbequemer Zeitgenosse in der Auseinandersetzung um den Charakter der Evangelischen Kirche in Deutschland. „Ist die Bekenntnisunion mit den Reformierten für den Lutheraner ein definitiv verbotener Weg? Verbietet es das Wort Gottes ein für allemal, die nicht wegzuleugnenden Lehrdifferenzen zwischen Reformierten und Lutheranern in der Einen Bekennenden Kirche zu ertragen? Oder bleibt gerade für ein rechtes Verständnis der lutherischen Bekenntnisse auch diese Möglichkeit offen für das Wort Gottes selbst? Bleibt sie aber endgültig verschlossen, dann ist die Bekennende Kirche wirklich nicht Kirche, sondern eben eine der vielen genannten Größen, die der Unwahrheit und Verfälschung des Evangeliums Raum gibt . . .“ (Ev. Th. 1936, S. 409).

Hätte es Bonhoeffer mit angesehen, das Wort „Union“ unter die nicht mehr stubenreinen Begriffe fallen zu lassen? In dem anderen Aufsatz, „ D i e B e k e n n e n d e K i r c h e u n d d i e O e k u m e n e “ (Ev, Th. 1935, S. 245–261), trägt er seine Sorge vor, daß wir den Schritt Christi mit seinen zertrennten Kirchen verpassen könnten, im Zurückbleiben oder auch im Vorschnellen, mit Subtraktion- und Additionsverfahren. Nicht eine etwa endlich gefundene und zu beschließende Lösung der alten Differenzen, die einmal unter ganz anderen Voraussetzungen entstanden sind, bringt die Einheit voran, sondern daß die Getrennten in einer gegenwärtigen Not und Herausforderung den Namen Christi gemeinsam aussprechen – und dieses dann allerdings dankbar wahrhaben wollen. „Die Bekennende Kirche ist die Kirche, die nicht aus ihrer Reinheit, sondern in ihrer Unreinheit lebt – die Kirche der Sünder; die Kirche der Buße und der Gnade, die Kirche, die allein durch Christus, allein durch die Gnade, allein durch den Glauben leben kann. Als solche Kirche, die täglich in der Buße

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steht, ist sie Kirche, die ihre Schuld an der Zerrissenheit der Christenheit bekennt . . . sie ist frei für das Hören auf den anderen, der sie zur Buße ruft . . . Weil diese Kirche nicht aus sich selbst, sondern von außen her ihr Leben empfängt, darum existiert sie immer schon in jedem Wort, das sie sagt, von der Ökumene her. Das ist ihre innerste Nötigung zur ökumenischen Arbeit“ (S. 260).

3. Die letzte Periode, die unter dem Veröffentlichungsverbot der Reichsschrifttumskammer stand und deren Manuskripte und Blätter im Schreibtisch verborgen, zeitweise bei der Gestapo lagen oder unter Dachziegeln geschoben überdauerten, hat nun posthum eine überraschende Wirkung hervorgerufen, zunächst durch die Briefe, dann durch die fragmentarische Ethik. Ich habe viermal einen kräftigen Rumor um Bonhoeffer miterlebt. Da war der Rumor um den Satz vom Heil in der Bekennenden Kirche – man hielt Bonhoeffer für einen kompletten Schwärmer. Da war der andere um die teure Gnade – man hielt ihn für einen finsteren Pietisten. Da war der Rumor um die „Feindkontakte“ – man hält ihn für einen Hoch- und Landesverräter. Und nun der um das religionslose Christentum – auf einem Pfarrkonvent meinte ein wohlwollender Pfarrer: man dürfe doch hoffen, daß Bonhoeffer ganz am Ende zu seinem Glauben wieder zurückgefunden habe. Der erste Rumor hat einmal viel Druckerschwärze beansprucht, er ist eingeschlafen, es ließe sich manches wieder aufwecken. Der zweite ist durch die neueren überdeckt, aber es ist doch gut zu wissen, daß der letzten Periode dies vorangegangen ist, wie eben Luthers Entdeckung der puren Gnade der bittere Kampf um den gnädigen Gott voranging. Der dritte bedarf aufmerksamer Beobachtung; er könnte sich festsetzen, nachdem der Vorsitzende im Braunschweiger Remer-Prozeß sein Entsetzen über den konspirierenden Pfarrer mit breitem Presseecho geäußert hat und nachdem Huppenkothen und Thorbeck, zwei Standgerichtsmitglieder aus der Nacht zum 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg, zunächst haben freigesprochen werden können. Wenn eine Gemeinschaft ihr Haus mit dem Namen Bonhoeffers nennt, sollte sie dafür besonders bedankt sein, wenn das in Richtung gegen den dritten Rumor eine Stellungnahme sein darf. Der vierte ist nun in Gang gekommen und geht erst seiner vollen Stärke entgegen. Die einen spüren, daß ihnen eine große Befreiung ihres Glaubens an Christus durch Bonhoeffers Vorstoß widerfährt. Andere möchten ihm am liebsten einen Vorwurf machen, daß seine briefliche Meditation abbricht, als es gerade verspricht, aufregend und konkret zu werden: „Ich freue mich . . . schon, das Positive schreiben zu können“,

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ist sein letzter Satz zum Thema (WE 268). Ich habe lange Jahre gezögert, ehe ich den Mut fand, Auszüge aus den Briefen zu veröffentlichen. Zunächst dachte ich nur daran, die streng theologischen Entwürfe zugänglich zu machen. Aber ich merkte, daß es nötig war, sie in ihrer brieflichen Umgebung erscheinen zu lassen. Denn es sind Briefe, es sind nicht Diskussionsbeiträge. Das mag ihre Schwäche sein, es ist ebenso ihre Stärke. Diskussionsbeiträge kommen aus einem Lager und versuchen, Breschen in den Zaun des anderen Lagers zu reißen. Briefe aber reden von Person zu Person, und es ist schwerer, sich ihnen zu entziehen. Sie bitten und raten, sie drängen um Hilfe und suchen die Stelle, wo einer des neuen Wortes bedarf. Beiträge aber kommen mit der Diplomatie der Wissenschaft daher, die keine Blöße zeigen darf. Die Briefe sind unbekümmert um Sicherung und Allgemeingültigkeit und suchen den Menschen am gegenwärtigen Ort, in der gegenwärtigen Zeit und in den gegenwärtigen Umständen. Ein Professor hat mir geschrieben, „Widerstand und Ergebung“ läge als ein Brevier auf seinem Nachttisch. Das tut man nicht mit Dissertationen und kaum mit Episteln, aber mit Briefen, und sie setzen die Erkenntnis mächtiger in Bewegung als jene. Bonhoeffers Briefe gehen wohl einmal bis an die Grenze der Epistel, als er sich entschuldigt, daß er unversehens in die unleserliche deutsche Handschrift verfallen sei, die er nur anwende, wenn er für sich allein arbeite (WE 185 und 268). Bonhoeffer hat nicht die Form der Epistel gewählt, um in ihr eine Abhandlung besonders geschickt einzukleiden. Er hat Briefe hinterlassen, die um Rat und Hilfe in einer sehr dringenden Sache bitten und die uns an einer gegenwärtigen, gebundenen Stelle frei machen wollen. Da ist kein Katheder zwischen ihm und den Lesern und auch kein Talar. Man kann nur sagen, der Brief ist nicht an mich gerichtet, er betrifft mich nicht – oder man hört seine Stimme und dann begleitet sie einen in den Aufgaben, die er schon gesehen hat, und denen zehn Jahre Restauration nichts an Dringlichkeit haben nehmen können. Wer Christus in einer religionslosen, mündigen Welt sei, diese Frage hat er zurückgelassen. Wie diese Frage wieder in seinen Lebensumständen, in dem Kontakt mit angespannt tätigen Menschen verwurzelt ist, zeigt ein Brief, der mir jetzt wieder in die Hände fiel: „25.6.42 (im D-Zug Berlin-München): . . . Meine in der letzten Zeit doch stark auf dem weltlichen Sektor liegende Tätigkeit gibt mir immer wieder zu denken. Ich wundere mich, daß ich tagelang ohne die Bibel lebe und leben kann – ich würde es dann nicht als Gehorsam, sondern als Autosuggestion empfinden, wenn ich mich dazu zwingen würde. Ich verstehe, daß solche Autosuggestion eine große Hilfe sein könnte und ist, aber ich fürchte auf diese Weise eine echte Erfahrung zu verfälschen und letzten Endes doch nicht die

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echte Hilfe zu erfahren. Wenn ich dann wieder die Bibel aufschlage, ist sie mir neu und beglückend wie nie, und ich möchte einmal wieder predigen. Ich weiß, daß ich nur meine eigenen Bücher aufzuschlagen brauche, um zu hören, was sich gegen dies alles sagen läßt. Ich will mich auch nicht rechtfertigen, sondern ich erkenne, daß ich „geistlich“ viel reichere Zeiten gehabt habe. Aber ich spüre, wie in mir der Widerstand gegen alles „Religiöse“ wächst. Oft bis zu einer instinktiven Abscheu, – was sicher auch nicht gut ist. Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muß ich immerfort denken; an Echtheit, an Leben, an Freiheit. und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel. Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich. Verstehst Du? Das sind alles gar keine neuen Gedanken und Einsichten; aber da ich glaube, daß mir hier jetzt ein Knoten platzen soll, lasse ich den Dingen ihren Lauf und setze mich nicht zur Wehr. In diesem Sinne verstehe ich eben auch meine jetzige Tätigkeit auf dem weltlichen Sektor.“

Zum Thema selbst einige Hinweise. a) Zunächst sollte man den früheren Bonhoeffer nicht von dem letzten trennen und jenen etwa löschen, im Namen eines neuen Programmes: „Nicht-religiöse Interpretation“. Das meiste, was er jetzt sagt, ist – wenn auch nicht so scharf erfaßt – in früheren Schriften schon angesetzt. Es geht dem Bonhoeffer dieser letzten Periode um die gleiche kostbare Gegenwärtigkeit Christi wie dem der ersten und zweiten. Es sind keine Sorgen der Exegese und der Interpretation zunächst, die einer am Schreibtisch hat, sondern Bonhoeffer ist von der brennenden Glaubens- und Lebensfrage getrieben, „wer Christus für uns heute eigentlich ist“ (WE 178). Das bedeutet aber, daß man nicht darauf hoffen kann, die Forderung der „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“8 (WE 233) am Schreibtisch zu erfüllen. Es wird kein Nachschlagewerk geben, in dem man alles Nötige auf „weltlich“, auf „nicht-religiös“ nachsucht, wenn man eine wirksamere Evangeliums-Crusade unter Modernen zu starten gedenkt. Zunächst wird mehr zu zahlen sein als ein monatlicher Subskriptionspreis. Bonhoeffer hat selbst deutlich genug gemacht, daß seine Frage eine an die Existenz der Kirche ist und erst dann eine an ihr „Gedächtnis“, die Theologie (AS 124). Das allzu ungeduldige Fragen, was Bonhoeffer wohl gemeint haben könnte, will es aber umgekehrt. Wir werden hier gewiß nicht w i s s e n , was wir nicht t u n . Rezepte werden erst aufgeschrieben, nachdem man das Kochen probiert, hat. Es ist nicht ausgemacht, wer hier Kompetenteres zu sagen hat: das Katheder oder ein Versuch wie etwa Mainz-Kastel. b) Der Terminus „die mündige Welt“ hat Zweifel und Fragen hervorgerufen. Die Analyse stimme nicht zu unserer Umgebung und Bonhoeffer

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führe eine neue Anknüpfungstheologie herauf, nun mit einem negativen Anknüpfungspunkt, dem negativum absolutum. Bonhoeffer hätte sicher nicht bestritten, daß es noch einen zähen Bestand an „Religion“ um ihn herum gab: auch ohne daß er die späteren Restaurierungen und die erstaunlich erwachten religiösen Geborgenheitsbedürfnisse noch miterlebte! Er weiß auch einiges über die ungeheuerlichen Entmündigungsversuche moderner Staaten zu sagen, wie man leicht in der „Ethik“ feststellen kann. Ebenso hat er kaum die Selbstverständlichkeit übersehen, daß Christus auch Herr der Religiösen ist und sein wird. Er hat auch nicht lieblos Altes zerbrochen, wo es noch lebt. Welche Rolle spielen in den Briefen die Paul-Gerhardt-Lieder! Aber er möchte in der Mixtur und der Verzahnung der Zeitalter mit Christus offene Augen für die neuen Ströme haben. Und er meint eben, daß von Feuerbach und Marx her eine Welt schon heraufgekommen ist, der man im Namen Christi keine „religiösen Bedingungen“ stellen und der man nicht mit der ausgesparten religiösen Provinz kommen kann. Nicht um ihrer willen, sondern um Christi willen. Bonhoeffer hat sehr genau um die Gefahren des „Anknüpfungspunktes“ gewußt und diese moderne Welt nicht ernster genommen, als ihr zukommt. Aber er wollte nachkommen, wie und wo Christus sie ernst nimmt und dahinter möglichst wenig zurückbleiben. Es scheint mir wichtig, zu beobachten, daß Bonhoeffer nie mehr das Wort „Säkularisierung“ gebraucht. Er spürt in dem häufigen Gebrauch dieser Formel das Rückschauen der Kirche in eine goldene Zeit, das nur Schwäche ist. Darum redet er nur noch von der „Mündigkeit“ der Welt. Mit Christus ist er fähig, ohne Romantik und Betäubung gegenwärtig zu sein. Und er ist schon darauf gespannt, wie Christus seinen merkwürdig ohnmächtigen Angriff auf die militant mündige Welt auszuführen beginnt. In den letzten Lebenstagen ließ er sich von einem Mitgefangenen, einem Neffen Molotows, Russisch beibringen und er lehrte diesen, was das Christentum sei! c) Was mag er diesem Manne gesagt haben? Ob es sich wohl ablesen läßt an den entscheidenden Stellen der Briefe? Ob dort nicht doch schon die Ansätze der nicht-religiösen Interpretation sichtbar sind? Da, wo er den großen Sprung vom Glauben an den Deus ex machina zu der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt vollzieht? An dem Gedicht „Christen und Heiden“ hat ihm viel gelegen. Er meinte, daß es in Kürze alles aussage: „Menschen gehen zu Gott in i h r e r N o t . . .“ – „Menschen gehen zu Gott in S e i n e r N o t . . .“ (WE 246f.). Christ werden heißt nun nicht mehr, an die eigenen Fragen und Ängste denken, sondern sich mit Christus in die gottlose Welt hineinbegeben und ihre Gottferne teilen, „sich in den Weg Jesu Christi mit hineinreißen lassen“ (WE 244). Das erst verwandelt die Oster-Repetition in ein Oster-Kerygma. Bonhoeffer gewinnt hier eine seltene, unorthodoxe Freiheit, mit neuen und zwingend ein-

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fachen Worten von der Person Jesu zu reden, ohne einen Augenblick den Anschein zu erwecken, als wäre dieser etwa nicht sein Gott. „Bonhoeffer war einer der sehr wenigen Menschen, die ich jemals getroffen habe, für die Gott real und immer nahe war“, erzählt Payne Best, ein englischer Genosse seiner letzten Tage, der vorher nichts von ihm gewußt hatte. [. . .] d) Endlich noch eine Bemerkung zu dem wiederholten Hinweis Bonhoeffers auf die Arkandisziplin, die altkirchliche Geheimhaltung des zentralen Gottesdienstes vor Außenstehenden (WE 180, 184). Sie gibt uns Rätsel auf und man kann sie leicht übersehen. Ich glaube aber, daß sie kein Feldweg neben der Hauptstraße ist . . . Es ist der Gedanke, der u. a. schon hinter der Formel von der billigen und teuren Gnade steckte. Es ist der Gedanke, daß die Kirche durch Zeiten des Schweigens zu gehen habe, da sie nur noch im Beten und Tun des Gerechten lebt (WE 207) . . . Der Schutz des Zentralen vor der Profanierung im Arkanum heißt bei Bonhoeffer nicht die Errichtung einer unangreifbaren – nun doch wieder, religiösen Provinz. Das Bruderhaus in Finkenwalde war gerade kein refugium vor der Welt, sondern eine konzentriertere Ermöglichung eines Dienstes in und für die Welt. Bonhoeffer hatte keinen besonders ausgeprägten Sinn für Weihehandlungen. Nur „wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“, hat er mir in jenen Jahren einmal gesagt. Und vergessen waren die Sätze nie, die in einem Vortrag 1933 stehen („Dein Reich komme“ aus: Das kommende Reich, Furche-Verlag 1933 S. 29): „Hinterweltlerisch sind wir, seit wir den bösen Kniff herausbekamen, religiös, ja sogar ‚christlich‘ zu sein auf Kosten der Erde. Im Hinterweltlertum läßt es sich prächtig leben. Man springt immer dort, wo das Leben peinlich und zudringlich zu werden beginnt, mit kühnem Abstoß in die Luft und schwingt sich erleichtert und unbekümmert in sogenannte ewige Gefilde.“

Nein, kein Rückzug, aber die Verantwortung, die kostbare Perle um der Welt willen nicht zu verschleudern. Die Verantwortung um den Zeitpunkt, um das „suum cuique“ (Ethik, 99) auch in der Verkündigung, um die Ermächtigung und die Besorgnis darum, daß nicht jedes Wort jederzeit in jeden Mund und vor jedes Ohr gehört. Jesus hat so oft geboten, zu schweigen, und an bestimmten Punkten nur drei Jüngern aus den vielen zugemutet, mit ihm zu sein. Wie der frühe und der späte Bonhoeffer nicht zertrennt werden dürfen, so darf man auch nicht die Dialektik auflösen zwischen dem Bonhoeffer der Arkandisziplin und dem, der sich an die Welt verschwendet. Wer den einen für sich in Anspruch nimmt, soll nachdrücklich an den anderen erin-

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nert werden. Man hörte nicht das Christuszeugnis, das er gibt. Man würde nicht einmal seine Persönlichkeit in ihrer Wirkung verstehen können, wenn man nicht die Existenz eines Arkanum in diesem Leben annähme und spürte, das jedem Dozieren und jeder geschwätzigen Ausbreitung entzogen blieb. Eben darum war er ja der gute Lehrer, weil so wenig an ihm dozierte; deshalb der gute Überzeuger, weil er die eigene Entscheidung nicht jedem zumutete. Er konnte sehr eindringlich sein, aber nie zudringlich. Die Offenheit und die Fähigkeit, jedem Menschen zuzuhören, hatte ihre Kraft gerade aus einem sensiblen Gefühl für die Distanz.

IV. Zu Beginn beschrieb ich den Cantus firmus in Bonhoeffers Leben als das Wissen um die Kostbarkeit des Wortes Jesus Christus. Das ist zugleich das Geheimnis seiner Konzentration wie seiner Offenheit, seiner Unbeugsamkeit wie seiner Biegsamkeit. „Je ausschließlicher wir Christus als unseren Herrn erkennen und bekennen, desto mehr enthüllt sich uns die Weite seines Herrschaftsbereiches“ (E 161). Die Konzentration machte ihn nicht einlinig, sondern gab ihm gerade die Wendigkeit. Und je enger und endgültiger ihn der Gehorsam in seiner Bewegungsfreiheit hemmte, um so freier und weiter schritt sein Geist hinaus in die Weite der Erde. Es hat etwas Verwirrendes, wie er in den verschiedenen Perioden Themen und ihren zugehörigen Stil aufnimmt und wieder verläßt. Wenn es erlaubt ist, zu vereinfachen, kann man sagen: Der Bonhoeffer der zwanziger Jahre hat den T h e o l o g e n gesagt: Euer Thema ist die K i r c h e ! Der Bonhoeffer der dreißiger Jahre hat der K i r c h e gesagt: Dein Thema ist die We l t ! Und der Bonhoeffer der vierziger Jahre hat der Welt gesagt: Dein Thema, die Verlassenheit, ist G o t t e s Thema selbst; und mit seinem Thema betrügt er dich nicht um das volle Leben, sondern er schließt es dir auf! [. . .]

Anmerkungen 1

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Hg: Vgl. zum Ganzen die monumentale Biographie Bethges: Dietrich Bonhoeffer – Eine Biographie: Theologe – Christ – Zeitgenosse, München 1967, 1099 S. Hg: E. Bethge (Hg), Bonhoeffer Gedenkheft, Verlag Haus und Schule, Berlin 1947. Hg: Deutsche Übersetzung der Ansprache, in. Bonhoeffer Gedenkheft, a. a. O. S. 10–12.

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Der wirkliche Hergang war zur Zeit der Feier noch unvollständig und fehlerhaft in England bekannt. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi wurden am 5. April 1943 in gemeinsamer Sache verhaftet und im April 1945 in Flossenburg und Sachenhausen ums Leben gebracht, ohne daß eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte. Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher wurden gemeinsam im Oktober 1944 verhaftet, am 2. Februar 1945 vom Volksgericht zum Tode verurteilt (der erwähnte Luftangriff war am 3. Februar) und am 23. April unmittelbar vor dem Einmarsch der Russen von der Gestapo in Berlin ermordet. Hg. E. Bethge (HG), Bonhoeffer Gedenkheft, a. a. O. S. 13–16 Diese Ansprache wurde von Franz Hildebrandt in der Holy Trinity Church London auf Deutsch gehalten. Hg: Vortrag von E. Bethge zur Einweihung des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses am 12. November 1954 in Bonn, abgedruckt in: Evangelische Theologie, Heft 4/5, Jahrgang XV, 1955, hier um ca 1/3 gekürzt. Hg: Zu erinnern ist hier an Bonhoeffers eigene innere Bilanz seines Lebens in WE „(Ich) stehe ganz unter dem Eindruck, dass mein Leben – so merkwürdig es klingt – völlig geradlinig und ungebrochen verlaufen ist.“ (DBW 8, 391 am 11. 4. 1944) – Vgl. dazu auch Chr. Gremmels, H. Pfeifer, Theologie und Biographie – Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983, 128f. Hg: Vgl. dazu in diesem Buch A. Denecke, Das Leben nicht-religiös interpretieren, unten unter 5.4.

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers Vorbemerkungen Zu 3.1 Mönchisch, orthodox, liberal und politisch Bei dem Text „Dietrich Bonhoeffer – Der Mensch und sein Zeugnis“ von Eberhard Bethge handelt es sich um einen Vortrag, gehalten auf der Feier zum 10jährigen Todestag Bonhoeffers; die Feier wurde veranstaltet von der Evangelischen Kirche der Union in Bonn am 11. 4. 1955.1 Der Vortrag von Eberhard Bethge ist eine der frühesten Gesamtdarstellungen der Theologie Dietrich Bonhoeffers.2 In seinem Vortrag unternimmt Eberhard Bethge den Versuch, „das Zeugnis des ganzen Bonhoeffer zu fassen“. Dabei stellt er vier Hauptaspekte seines Wirkens vor: es gebe den mönchischen, den orthodoxen, den liberalen und den politischen Bonhoeffer. Mit dem mönchischen Bonhoeffer ist seine Zeit als Seminardirektor des Predigerseminars in Finkenwalde ab 1935 gemeint. Es ist der Bonhoeffer angesprochen, „der die Geheimnisse der Nachfolge und des Gemeinsamen Lebens aufdeckt“.3 Dem orthodoxen, an Bibel und Bekenntnis orientierten Bonhoeffer geht es um die Entfaltung seiner Ekklesiologie. Die Beziehung Bonhoeffers zu seiner Kirche – der Bekennenden Kirche – war von Freude und Sorge, aber auch von Enttäuschung und Hoffnung geprägt. Der liberale Bonhoeffer wird kirchenkritischer und religionskritischer. Er sucht nach dem Christus, der „der tatsächliche Herr dieser religionslosen modernen Welt ist.“ Mit dem politischen Bonhoeffer tut sich die Kirche am schwersten. Sie kennt seit alters das Martyrium um des Namens Jesu willen (Matth. 5,11; 10, 39). Das Martyrium um humanitärer Grundwerte willen – zur Beendigung eines Krieges und zur Lebensrettung von Millionen Menschen! – ist eine neue Herausforderung für das theologische Nach-Denken.

Zu 3.2 Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth Dietrich Bonhoeffer und sein Lehrer Karl Barth sind beides „orthodoxe“ Theologen („Rechtgläubige“ im Gegensatz zu den „Irrgläubigen“ der Deutschen Christen). Der Briefwechsel zwischen Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth belegt die gemeinsamen Anliegen in den theologischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit, aber auch die Grenzen des ge-

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genseitigen Verstehens (vgl. den besonders wichtigen Brief Bonhoeffers an Barth vom 24. Okt. 1933).

Zu 3.3 Dietrich Bonhoeffer und Adolf von Harnack Bonhoeffer sagt von sich selbst, er fühle sich „als ein ‚moderner‘ Theologe [d. h. von der als ‚modern‘ geltenden Dialektischen Theologie geprägt], der doch noch das Erbe der liberalen Theologie in sich trägt [. . .] Es wird unter den Jüngeren nicht viele geben, die das beides in sich verbinden.“4 Bonhoeffers liberales Erbe tritt in seinen letzten Lebensjahren immer deutlicher hervor. Der Text „Bonhoeffers liberales Erbe“ von Karl Martin zeigt, dass und wie die Vermittlung dieses Erbes vor allem über den Berliner Theologieprofessor Adolf von Harnack stattfand.

3.1 Mönchisch, orthodox, liberal und politisch Dietrich Bonhoeffer – Der Mensch und sein Zeugnis Eberhard Bethge5 Wer versucht, das Zeugnis des ganzen Bonhoeffer zu fassen, findet die widersprüchlichsten Formeln, jede voll explosiver Kraft. 1. Man kann und man hat sich ihm genähert von der „Nachfolge“ und vom „Gemeinsamen Leben“ her. Und man findet einen Mann mit überzeugendem Ruf zu Gehorsam und Zucht. 2. Man kann sich ihm nähern von den Schriften und Aufsätzen über die Kirche und ihre Grenzen. Und man findet einen Mann, der das Seelenheil überzeugend an die Grenzen der Kirche bindet. 3. Man kann sich ihm nähern – und Unzählige tun das heute – von der heftigen Kritik an der Kirche und ihrer Predigt in den Briefen der letzten Zeit. Und man findet endlich einen Mann, der vom Dogma befreit und selbst für Christus nach neuen Umschreibungen greift. 4. Man kann sich ihm nähern von der „Ethik“ und der Widerstandsbewegung her. Und man findet endlich einen Christen, der handelnd und schreibend Revolution und Pazifismus nicht den Minderwertigen überläßt. Das Bild muß viermal gemalt werden: der mönchische, der orthodoxe, der liberale und der politische Bonhoeffer. Es gäbe freilich noch Elemente, die zum Ganzen der Person und ihrem Verständnis dazugehören: eine unübersehbare bürgerliche und konservative Seite. Sie wird sichtbar in der Ethik, im Roman und Dramenfragment.

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Es gibt dort Stellen, die fast dazu verleiten, Bonhoeffer zum vollmächtigen Vertreter der Idee des christlichen Abendlandes zu machen. Ausländer haben gelegentlich Schwierigkeiten und fragen, ob er nicht doch nur ein Deutschland von 1910 im Herzen hat und vertritt. Tatsächlich ist seine ganze Persönlichkeit aus Herkunft und Umgang – noch einmal gesteigert grade in den letzten Lebensjahren – gesättigt mit einer Liebe zur Tradition und zur Kontinuität des geschichtlichen Erbes. Der Mensch braucht „Boden unter den Füßen“ (Mündige Welt [I] S. 13). Da ist ein anderes Element, das Karl Barth mit der „lutherischen Schwermut“ oder mit der „schwermütigen Theologie der norddeutschen Tiefebene“ umschreibt (Ev. Theol. 55, 245). Es gäbe einiges zu berichten, wie die acedia (WE 926) zuweilen eine zerstörerische Gewalt in Bonhoeffers Leben bekommen konnte –, aber es wäre auch zu berichten von ihrem schönen Gegenstück, der hilaritas, welche er in Widerstand und Ergebung (S. 1567) in langer Ahnenreihe von Walter von der Vogelweide bis zu Barth selber hin entdeckt und die er „als Zuversicht zum eigenen Werk, als Kühnheit und Herausforderung der Welt und des vulgären Urteils, als feste Gewißheit, der Welt mit dem eigenen Werk, auch wenn es ihr nicht gefällt, etwas Gutes zu erweisen, als hochgemute Selbstgewißheit beschreiben möchte“. Und mit Genuß entdeckt er den Satz von Lessing „Ich bin zu stolz, mich unglücklich zu denken – knirsche eins mit den Zähnen – und lasse den Kahn gehen, wie Wind und Wellen wollen. Genug, daß ich ihn nicht selbst umstürzen will!“ (WE S. 1348). Ich möchte aber das Bild in den vorhergenannten vier Richtungen ein wenig näher andeuten. Ich möchte einladen, je die Richtung des Weges mit voller Wendung einzuschlagen und, was da anzutreffen ist, in seiner Ausschließlichkeit stehenzulassen und lange auszuhalten. Bonhoeffer will hinhören, wenn der Wille Gottes zu erlauschen ist. Er hat Furcht, ihn durch eine frühzeitige Systematisierung nur zu zähmen. Die kleine Bibelarbeit „Versuchung“9 ist mir immer ein klassisches Beispiel gewesen, wie er hinhört und keinen vorzeitigen systematischen Ausgleich widerspruchsvoller Worte der Schrift versucht. Bonhoeffer kennt vielleicht nur ein Verbot: nämlich von Christi Aufträgen und von seinen Erlaubnissen zu klein und zu milde zu denken. So wird es nicht darum gehen können, ein wohlgeordnetes, domestiziertes Zeugnis Bonhoeffers herauszukristallisieren, um ihm einen zufriedenen Beifall zu spenden, sondern darum, daß wir ohne Ängstlichkeit seine Fragen im eigenen Experiment überprüfen. 1. Da ist zunächst ein Bonhoeffer, der wie ein mönchischer Asket erscheint. Nicht nur Karl Barth hat seine Bedenken über ihn geäußert (s. „Mündige

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Welt“ [I] S. 119f.). Man fürchtete, daß ein Mann mit seinem Einfluß und Format ein Führer in eine unevangelische Richtung werden könnte. Man hörte aus der Nachfolge heraus, daß er aus der Gnade Gottes eine unerschwinglich teure Sache macht. Wirklich hat sich Bonhoeffer während seiner englischen Zeit die evangelischen neuen Kloster- und Ordensgründungen der Anglikaner interessiert angesehen und immer eine Offenheit für ihre Ordnung eines gemeinsamen Lebens behalten. Wirklich hat er selbst den Versuch eines „Bruderhauses“ gewagt, den Bruderrat der Altpreußischen Union in Anspruch genommen und erstaunlicherweise damals dessen Erlaubnis und die Freigabe der „Brüder“ für Finkenwalde erreicht. Nicht er, sondern Himmlers Auflösung des Predigerseminars beendete den Versuch nach zwei Jahren Bestehen. Wirklich hat Bonhoeffer uns zugemutet, Weihnachten und Ostern dort und nicht zu Hause zu verbringen, in der christlichen und nicht in der bürgerlichen Gemeinschaft. Er hat auch gemeint, nicht nur Theologie, sondern ebenso das Beten lehren zu müssen. Er hat es fertiggebracht, die Praxis der Beichte zu erneuern, ohne vorher aufdringlich doziertes Programm. Zucht im Umgang miteinander und im Reden übereinander waren plötzlich Realitäten. Wenn sich heute entstehende christliche Lebensgemeinschaften in Deutschland oder in Frankreich für Bonhoeffer interessieren, haben sie ein legitimes Recht dazu. Dieser Bonhoeffer ist stark und unübersehbar. Aber die Zucht wurde doch nie ein Selbstzweck. Das ist sehr deutlich zu lesen in dem Brief an den Altpreußischen Rat zur Einführung des Bruderhauses („Mündige Welt“ [I] S. 9f.10). Dazu sei noch ein anderes Dokument zitiert, das uns in manchen modernen Auseinandersetzungen hilfreich sein könnte. In einer Debatte 1936 mit den sogenannten „Neutralen“ hatten Bonhoeffers Schüler die Geduld verloren und jemand prangerte den „zügellosen Beifall und den dämonisierten Fanatismus der radikalen Finkenwalder“ an. Bonhoeffer schrieb darauf: „. . . Wenn es in einer solchen Stunde (i. e. wo es um den rechten oder unrechten Weg der Kirche geht) dann auch einmal zu leichten psychischen Explosionen kommt, so kann ich mich darüber nicht so sehr ereifern. Es geht ja wirklich um noch Wichtigeres . . . Verfehlungen im Ton der Rede und im zuchtvollen Verhalten sind reparabel . . . Sehr viel schwerer reparabel aber ist es, wenn die Kirche in ihrem Zeugnis von Christus den Weg der Treue und der Wahrheit verläßt. Eine Zucht, die nicht mehr dem leidenschaftlichen Protest gegen die Verfälschung der Wahrheit Raum läßt, kommt nicht mehr aus der Ganzheit des Gehorsams gegen Jesus Christus, den Herrn, sondern wird zu einem willkürlichen christlichen Ideal, einem selbsterwählten Werk. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich mit Ihnen darin einig bin, daß jede Zuchtlosigkeit die von uns verkündigte Wahrheit

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unglaubwürdig macht. Aber Verheißung hat allein das rechte Zeugnis von Christus und nicht das Werk der Zucht.“11 Bonhoeffers Eindringlichkeit ist die Fähigkeit, die Sache aufregend und bindend zu machen. Sie ist fern jeder Zudringlichkeit, weil er nichts höher achtet, als Menschen auf die eigenen Füße zu stellen. Das Gefühl für Zeit, Ort und Situation des Gegenübers waren außerordentlich wach in ihm. Ich erinnere an die charakteristische Stelle, als er im Bombenhagel dem nach Gott schreienden Mann neben sich mit dem Blick auf die Uhr nur zuruft: „Es dauert höchstens noch zehn Minuten“ (WE S. 14012). Der Bonhoeffer, der die Geheimnisse der Nachfolge13 und des Gemeinsamen Lebens14 aufdeckt, weiß auch zwingend die Geheimnisse des irdischen Lebens zu öffnen. Wie kann er über die Sonne reden, daß sie ihm wieder einmal auf die Haut brennen möchte und den ganzen Körper zum Glühen bringt, „so daß man wieder weiß, daß man ein leibliches Wesen ist“ (WE S. 22715). Er freut sich über die heiße und glühende Liebe des Hohen Liedes: „Es ist wirklich gut, daß es in der Bibel steht, all denen gegenüber, die das Christliche in der Temperierung der Leidenschaften sehen“ (WE S. 19216). Seinem Nachfolger im Predigerseminar 1939 (Amerikareise) hinterließ er einen Zettel17 auf dem Schreibtisch mit der Bitte, im Unterricht die angegebenen Gegenstände weiterzuführen, mit der Ermunterung, daß er eine der schönsten Arbeiten in der Bekennenden Kirche übernehme, und dann mit der ausdrücklichen Ermahnung, bitte recht viel mit den Brüdern in dem nahen Wald spazierenzugehen. 2. Der zweite ist ein orthodoxer Bonhoeffer. Dieser scheint die Kirche zu verabsolutieren und zum reinen Selbstzweck zu machen. Tatsächlich ist sie in ihrer empirischen Gestalt die Wirklichkeit, in der er lebt und denkt; aus ihr und für sie hat er geschrieben und gesprochen. Sie war die Entdeckung seiner ersten Periode, sie war die Freude und Sorge der zweiten – und sie war die Enttäuschung und die Hoffnung der dritten Periode. Eine andere als die Bekennende Kirche anzuerkennen, hat er in den Jahren der Verwirrung und der Schwäche nicht für möglich gehalten. Tatsächlich konnte man ihn so verstehen, als wenn er die Grenzen der Bekennenden Kirche mit Gottes eigenen Grenzen unbarmherzig gleichsetze. Tatsächlich hat er mit Gründen des Seelenheils um Neutrale und Abtrünnige gerungen. Und tatsächlich hat er in den Entscheidungen der Bekenntnissynoden Entscheidungen des Heiligen Geistes selber gesehen. Mit wachsender Trauer sah er freilich so ernsthafte kirchliche Beschäftigungen wie die Liturgik zum Alibi für andere Unterlassungen werden; „nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“. Mit wachsender Verachtung sah er innerhalb der Bekennenden Kirche auch den beginnenden Rückzug hinter die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts – die

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er doch selber so gut kannte und die er in jedem Semester von neuem zu lehren liebte. Aber die Union hielt er eher für etwas Verheißungsvolles als für etwas Böses. Mit lautem Protest sah er 1938 das Zurückweichen in der Eidesfrage mit an: „Ich kann die Schuld, die die Bekennende Kirche durch die ‚Weisung‘ zur Eidesleistung auf sich geladen hat, nur als Folge eines Weges ansehen, auf dem der Mangel an Vollmacht, an Bekenntnisfreudigkeit, Glaubensmut und Leidensbereitschaft schon längere Zeit mitten unter uns spürbar geworden ist . . .“ (Brief an APU-Bruderrat vom 11. 8. 38.18) Aber Trauer, Verachtung und Protest haben seine theologisch ver wurzelte Bindung an die vorhandene empirische Kirche nicht in Frage gestellt. Hierher gehörte eigentlich ein ausführlicher Abschnitt über den oekumenischen Bonhoeffer, der gerade aus seiner antiliberalen Entdeckung der Kirche zu einem der stärksten frühen Vorkämpfer der Oekumene in Deutschland geworden ist, in Handlungen, in einer noch nicht zusammengestellten, spannenden Korrespondenz und in grundsätzlichen Aufsätzen. Er sah die Probleme der Konfessionen und Denominationen in ihrer ganzen Schärfe, aber ebenso ihre oekumenischen Möglichkeiten nach vorn. Aus seiner „orthodoxen“ Treue zur Kirche hat er dann so unorthodox reden können. Aus dieser Treue kommt die Schärfe, mit der er daran leidet, daß die Kirche zum Selbstzweck erstarrt ist. „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck; ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen der Welt zu sein“ (WE S. 20619). „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muß sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend“ (WE S. 26120). Wird aus dem Orthodoxen hier nun doch der Schwärmer?21 Und mit ihm dann zum Beispiel auch H. Symanowski mit seinem Mainzer Versuch? Wenn wir die Sache damit beiseiteschieben, sind wir jedenfalls nur noch schwächliche Orthodoxe, absorbiert vom Flicken der BekenntnisZäune um unsere Schrebergärten, einem hobby für den Feierabend. 3. Dem mönchischen und dem orthodoxen Bonhoeffer steht nun heute noch ein ganz anderer gegenüber, wieder ein zweifacher: der liberale und der gefährlich politische Bonhoeffer. Dieser dritte und vierte scheint endlich die Kirche so resolut zu verlassen, wie der erste und zweite unerbittlich hat an sie fesseln wollen.

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Am Grabe Adolf von Harnacks hat Bonhoeffer im Namen der Schüler gesprochen: „. . . Es wurde uns an ihm deutlich, daß Wahrheit nur aus Freiheit geboren wird. Wir sahen in ihm den Vorkämpfer des freien Ausdrucks einmal erkannter Wahrheit, der sein freies Urteil je und je neu bildete und es ungeachtet der ängstlichen Gebundenheit der vielen je wieder deutlich zum Ausdruck brachte“ (15. 6. 193022). Bonhoeffer fühlte sich verpflichtet dem guten Erbe derjenigen liberalen Theologie, die in ihren besten Intentionen nicht mehr sagen wollte, als sie auch verstehen und verantworten konnte. Bonhoeffer erkannte und schätzte sowohl die Bescheidenheit wie auch die Hybris, die dieses Programm zugleich enthielt. So setzt er sich am Ende, als nach dem Scheitern des 20. Juli eigentlich alles für ihn zu Ende ist, in seiner Zelle noch hin und schreibt die kurze Skizze, die auszuführen er uns hinterlassen hat: „Die Kirche muß aus ihrer Stagnation heraus . . . in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung . . . Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen“ (WE S. 25723). Bonhoeffer greift nun an, was solange Religion genannt wurde. Er greift auch das Christentum an, sofern es eine Religion wird, die nur noch ein weltflüchtiges refugium ist, zugänglich für einige wenige Bevorzugte oder Benachteiligte; das Christentum, das eine mehr oder weniger gut gehende Apotheke geworden ist für seelische Hypochonder24; einige approbierte Angestellte halten in ihr die pharmaka athanasias in kleinen Dosen feil. Er wußte zwar schon aus der Philosophie und Wissenschaft, daß der Mensch jetzt ohne die Arbeitshypothese Gott mit seinen Problemen fertig wird, selbst mit dem Tod – aber im Umgang mit handelnden Männern jedes oder auch gar keines Bekenntnisses wurde diese Situation noch ganz anders deutlich und brennend. Er wußte zwar schon aus der Theologie, daß die Kirche eine glatte Gotteslästerung begeht, wenn sie Gott zu einem Lückenbüßer macht, der wenigstens noch die unentdeckten Räume des Alls beherrschen oder die seelischen Hinterstuben des Menschen bewohnen darf – aber hier verbot es ihm den Mund. Gott ist ein Gott in der Mitte dieses Lebens oder er ist keiner. Hier herrscht und leidet er oder nirgends. So kommt es zu dem entschlossenen Aufbruch und der Suche nach dem Christus, der nicht nur das refugium der Zukurzgekommenen, sondern der tatsächliche Herr dieser religionslosen modernen Welt. ist. Es ist aber keine unwissende Suche, kein ewig schwankender und unsicherer, sondern ein höchst gewisser Aufbruch; Bonhoeffer weiß wohl um die zukünftige Last der Anstrengungen auf dem Wege, sowohl im intellektuellen Bereich wie im Einsatz der Existenz; aber er ist schon fröhlich in der Gewißheit zukünftiger Entdeckungen. Und er entdeckt, wie dieser Herr in seinem Wesen so gänzlich dieser Welt zugewendet ist, in seiner Lehre, in seiner leidenden Erfahrung mit dieser Welt, und auch in der langen Vorgeschichte auf sein Erscheinen hin, nämlich im Alten Testament. Und

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diese Entdeckungen Bonhoeffers, niedergeschrieben in den Briefen zwischen schrecklichen Aufregungen, verbinden sich mit seinem eigenen Schicksal, Wollen und Leiden, das dieser Welt in der Gestalt unseres Heimatlandes zugewendet ist. Der Aufbruch aus den alten Vorstellungen heraus geht nicht vom Schreibtisch aus und nicht vom Katheder. So wird er auch nicht weitergeführt werden in Seminaren und Monographien – wie nötig auch die Kontrolle der intellektuell-theologischen Verdeutlichung werden wird. Er muß sich bewähren in neuen Experimenten und Entscheidungen von Menschen der Kirche, die „ungeachtet der ängstlichen Gebundenheit“ in die engste Fühlung mit Menschen treten, die in Fabriken, in öffentlichen Verantwortungen leben, erst recht in den Gebundenheiten moderner Totalitarismen und die sich wenig oder keinen kirchlichen Luxus mehr leisten können. Die Beobachtung scheint mir bedeutsam, daß Bonhoeffers Gedanken nicht der Ost-Westteilung unterworfen sind, sondern auf beiden Seiten als eine befreiende Herausforderung und Hilfe erfahren werden. Wenn wir im Nachbuchstabieren der explosiven Andeutungen Bonhoeffers besser eindringen in den grundstützenden Umschlag von der Deus-ex-machina-Vorstellung in die Erfahrung des durch Leiden zum Herrn werdenden Gott, wird unsere Predigt den Apothekenstil eines Tages verlieren und ein wenig besser die Herrschaft Christi proklamieren. Bonhoeffers Andeutungen entspringen nicht der Kapitulation vor der modernen gottlosen Welt; sie kommen aus der konzentrierten Versenkung in Wesen und Leben des Stifters unseres Glaubens. Er macht nicht durch Subtraktionsverfahren annehmbar, was die Zollschranke des Modernen allenfalls passieren kann. Er will der Gegenwart Christi heute auf der Spur bleiben, sie besser verstehen und bezeugen. Und hier zerbrechen die Begriffspaare liberal und orthodox; aber es bleibt: ein Mensch mit Christus, frei und ausgestattet mit wachen Augen. 4. Dieser Bonhoeffer mag noch nicht jeden erreichen. Aber der politische ist eine Frage an seine Kirche – und an das Land, zu dem er und wir gehören. Unsere Kirche fühlt sich durch den politischen Bonhoeffer nicht nur bereichert, sondern von ihrer Geschichte her herausfordernd belastet. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, wie Bonhoeffer selbst seine Situation an der Grenze verstanden, wie er die auf ihn gefallene Verantwortlichkeit geklärt und entschieden hat (s. „Mündige WeIt“ [I,] S. 10–15). Unsere Kirche wird hoffentlich nicht zu spät eine Stellung dazu einnehmen, daß einer ihrer Besten nicht mehr in frommen Zirkeln, sondern bei den Deutschen in ihrer höchsten Gewissensnot hat sein wollen. Diese Gedenkfeier wird von der Heimatkirche Paul Schneiders aus Dickenschied ausgerichtet.25 Schneider und Bonhoeffer sind beide Blutzeugen für den einen

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Gott des Dekaloges; Schneider für die erste Tafel, Bonhoeffer für die zweite. Paul Schneider ruft die Welt zur Kirche, Dietrich Bonhoeffer ruft die Kirche zur Welt [„MündigeWelt“ [I], S. 15). Wir haben beide Zeugen zu hören und den ganzen Reichtum weiterzugeben, der aus jener Zeit auf uns gekommen ist. Aber Bonhoeffer und seine toten Mitverschworenen sind erst recht eine Frage an unser Vaterland. Dieses Land ist geographisch zerrissen. Aber tödlicher ist die Bedrohung, daß es zerrissen und unsicher darüber ist, wo die Güter seiner Tradition liegen. Ohne sie kann auch die deutsche Demokratie nicht leben. Diese Güter unterliegen unserer verantwortlichen Wahl. Es ist nicht gleichgültig, ob wir uns verschließen oder annehmen, ob wir eine sterile Tradition konservieren oder Mutationen unseres Geschichtserbes aufnehmen und weitergeben. Mit Bonhoeffer, der nur einer aus den Vielen des Widerstandes ist, trat etwas Neues in unser deutsches Geschichtserbe ein, das wir vorher so nicht besaßen. Es ist dies, daß Christen und Nicht-Christen eine Revolution auf sich genommen haben mit all ihren Konsequenzen aus Scham und Liebe. Daß sie aus ihr heraus zu einer freien Verantwortung durchstießen. Daß sie aus ihr deckungslos und ohne Anlehnung an Beifall oder Befehl das Notwendige taten. Wer heute in der Verehrung Bonhoeffers und seiner Mitverschworenen ein Element der Staatsgefährdung sieht, hat noch nicht das Herz dieser deutschen Verschwörung entdeckt: die Durchbrechung der Ordnung aus Scham und Liebe – wo aber gäbe es eine tiefere und festere Bindung? In ihr wurzelt der anhaltende und kühl und zielstrebig gewordene Zorn der Verschwörer und in ihr der Wille – nicht zur eigenen – aber zu Deutschlands Zukunft inmitten seiner Nachbarn. Unser Geschichtskalender steht in unseren Nachbarländern noch immer im Zeichen von Fanatikern, die schrecklich mit sich selbst beschäftigt waren. Wir sind jetzt in der Lage, diesen Kalender langsam zu verändern. [. . .]

3.2 Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth Der Briefwechsel zwischen Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth26 [HG: Bonhoeffer wurde Ende 1924 auf den 20 Jahre älteren Theologen Karl Barth aufmerksam. „Zwischen dem Romaufenthalt [Bonhoeffers] und dem Beginn der Dissertation [desselben], d. h. zwischen dem Sommer 1924 und dem Sommer 1925, hat die Entdeckung Barths stattgefunden. Man kann sie auf den Beginn des Winters 1924/25 eingrenzen.“27 Die erste persönliche Begegnung zwischen beiden Theologen ereignete sich im Rahmen von Bonhoeffers Bonn-Reise im Juli 1931.

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Der Briefwechsel zwischen Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth beginnt mit dem Brief Bonhoeffers vom 24. Dezember 1932. „Dieser Dankesbrief steht an der Schwelle vom zweiten zum dritten Stadium der Barth-Bonhoefferschen Beziehungen.“28] AN KARL BARTH29 Berlin-Grunewald, den 24. Dez[ember] 1932 Lieber Herr Professor! Zum Ausgang des Jahres möchte ich Ihnen noch einmal danken für alles, was ich im Laufe dieses Jahres von Ihnen empfangen habe. Der Abend hier in Berlin [am 11. 4. 1932] und dann die unvergleichlich schönen Stunden mit Ihnen auf dem Bergli [Barths Schweizer Feriendomizil] gehören zu den Augenblicken in diesem Jahr, die bleiben. Wenn ich Ihnen im August damals durch mein vielleicht zu hartnäckiges und – wie Sie einmal sagten: – „gottloses“ Fragen zur Last gewesen bin, so bitte ich Sie das zu verzeihen. Aber bitte wissen Sie dann auch, daß ich niemanden weiß, der mich von diesem zählebigen Fragen30 zu befreien vermöchte, als eben Sie und daß ich darum gerade zu Ihnen so reden muß, weil ich, es ist schwer zu sagen, warum, bei Ihnen das ganz eigentümlich sichere Gefühl habe, daß, so wie Sie die Dinge sehen, es einfach irgendwie richtig ist; ich werde einfach im Augenblick des Gesprächs mit Ihnen in die unmittelbare Nähe der Sache selbst gebracht, um die ich immer nur in der Ferne herumkreiste, und das ist für mich das ganz untrügliche Zeichen dafür, daß hier die Mitte irgendwie getroffen ist. Und weil nirgends sonst das Bewußtsein in auch nur ähnlicher Intensität aufkommt, darum werde ich Sie immer wieder bitten müssen, mir hin und wieder etwas von Ihrer Zeit zu schenken; und, bitte, verzeihen Sie das dann. Die kurzen Stunden des Zusammenseins in diesem Jahr haben es fertig gebracht, meine immer wieder ins „gottlose“ Fragen absinken wollenden Gedanken zu dirigieren und bei der Sache zu halten. Dafür möchte ich Ihnen danken. Das Semester hier war schön. Es sind viele Studenten da, und darunter doch auch einige, die wirklich mittun. Fürs neue Jahr wünsche ich Ihnen, daß der Fortgang Ihrer Arbeit an der Dogmatik, die uns durch Sie unsere Kirche schenkt und an deren Gelingen so sehr viel liegt, „Deo iuvante et nostris orationibus“31 ein guter sei. In großer Dankbarkeit und Verehrung bin ich Ihr Dietrich Bonhoeffer

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers VON KARL BARTH32 Bonn am Rhein, 4. Februar 1933 Lieber Herr Kollege! Ihr freundlicher Weihnachtsbrief soll nicht länger unbeantwortet bleiben. Ich bin ja meinerseits so froh, um Ihre Existenz zu wissen und freue mich immer wieder, wenn ich auf dem Umweg über Frau Staewen33 oder auch durch Studenten von der Art höre, wie Sie dort Ihren schwierigen Posten versehen. Haben Sie auch herzlichen Dank für die Zusendung Ihres Heimartikels34 und nicht zum Wenigsten dafür, daß Sie sich darin meiner so tapfer und geschickt angenommen haben. Ich stehe seit Monaten immer intensiver unter dem Eindruck, daß sehr Vieles von dem, was man in den letzten Jahren an theologischen Zusammengehörigkeiten auf dem deutschen Felde zu sehen meinte, Täuschung gewesen ist und habe mich Althaus, Brunner und Gogarten gegenüber auch in diesem Sinne ausgesprochen. Ich kann mich in das was ich gerade diese meine „Nächsten“ gerade in den entscheidenden Punkten treiben sehe weder formal noch sachlich finden, sondern es kommt mir vor, ich sei wieder so ziemlich in dieselbe Einsamkeit zurückgeworfen, aus der und in der ich vor 12 Jahren [1921] in diese merkwürdige Arena [deutschen Professorentums] eingeritten bin. Und es kommt mir jetzt unwahrscheinlicher vor als damals, daß dies jemals wieder anders werden könnte. Mit grimmigem Vergnügen hörte ich eben dieser Tage aus einem Brief von Frau Staewen einige Andeutungen über die Vorgänge in der Berliner Fakultät [wegen der Nachfolge des Systematikers Titius]. Ich nehme an, daß es sich um „Fakultätsgeheimnisse“ handelt und werde also niemandem, am Wenigsten meinem für dgl. brennend interessierten neutestamentlichen Nachbarn [dem Bonner Professor K. L. Schmidt] etwas davon erzählen, sondern mich nur im Stillen daran freuen. Genau so müssen ja die Dinge laufen und es wäre fast ein Wunder, wenn sie anders liefen. Ich bin eben an der Lektüre von Lietzmanns Kirchengeschichte und weiß also aus frischester Quelle, was man dort [in Berlin] immer noch für Theologie hält. In der Ära des Reichskanzlers Hitler wird sich ja gewiß Wobbermin [als Nachfolger Titius’] auf dem Lehrstuhle Schleiermachers stilechter ausnehmen, als ich dies getan hätte. Ich höre, daß Sie sich meinetwegen exponiert haben dort. Auch dafür möchte ich Ihnen dankbar die Hand drücken, weil ich weiß, was Sie dabei gewollt und gemeint haben. Ich würde ohne Zweifel angenommen haben aber wie sollte ich einem so großen und verdienten Forscher wie Wobbermin nicht gerne den Vortritt lassen und wie sollte ich nicht auch von Herzen gern hier in Bonn bleiben? Übrigens bin ich seit 1 1⁄ 2 Wochen außer Gefecht gesetzt durch die Grippe und ihre bez[üglich] des genossenen Chinin üble[n] Nachwirkungen. In der ersten Hälfte März fahre ich zu einem Vortrag nach Kopenhagen. Vielleicht, daß ich auf dem

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers Rückweg auch kurz in Berlin Einkehr halte, zum Glück diesmal nicht zu einem Vortrag und also ohne Aussicht auf darauf folgende Beschimpfung durch das Protestantenblatt [des Protestantenvereins in Berlin]. Doch, wenn auch! Die Welt liegt im Argen, aber nichtwahr, wir wollen uns die Pfeife auf keinen Fall ausgehen lassen. Herzlichst Ihr Karl Barth

AN KARL BARTH35 Berlin-Grunewald, den 14. 4.1933 Lieber Herr Professor! Es geht hier die Rede um, Sie würden vielleicht im nächsten Semester nicht mehr nach Bonn zurückkehren können [wegen der Säuberung der Hochschulen]. Dies Gerücht versetzt hier viele in nicht geringe Bestürzung. Georg Merz [Dozent an der Theologischen Schule Bethel], der vor ein paar Tagen hier war, hat mir persönlich näheres erzählt. Nun haben einige theologische Freunde mit mir vor, in einem solchen Fall sofort eine Eingabe einzuleiten, um hier einen verhängnisvollen Fehler zu verhüten. Ein solches Unternehmen hat freilich nur Sinn, wenn man schon etwas genaues über den Ausgang Ihrer Sache weiß, d. h. darf ich Sie zugleich im Namen derer, die z. Zt. aufs höchste durch diese Nachrichten beunruhigt sind, bitten, mir kurz Bescheid zu geben, wie die Dinge stehen.36 Es dürfte gegebenenfalls ja kein Augenblick verloren werden. Die Stellung der Deutschen Christen zu Ihnen scheint übrigens doch noch nicht geklärt zu sein. Wenn doch diese fortwährende Beunruhigung es wenigstens nicht fertig brächte die Stille Ihrer Ferienwochen und Arbeit gänzlich zu stören. Wir denken viel an Sie. Sehr danken möchte ich Ihnen auch noch einmal für den Abend in Berlin [auf dem Rückweg Barths von Kopenhagen]. Wenn so etwas nur alle Jahre einmal vorkäme, dann ließe es sich in Berlin noch eine Zeitlang trotz allem aushalten. Ich bin begierig auf den Semesterbeginn. In treuer Dankbarkeit und Verehrung bin ich Ihr Dietrich Bonhoeffer

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers VON KARL BARTH37 Bern-Wabern, Bellevuestraße 152, 18. April 1933 Lieber Herr Kollege Bonhöffer [sic!]! Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief vom 14. [April 1933] und für Ihre ganze Teilnahme. Nach dem was man bis jetzt wissen kann, scheint es eigentlich wahrscheinlicher, daß meine Arbeit in Bonn wie gewohnt weiter gehen kann und wird. Ich habe dem Minister [für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung] Rust einen Brief geschrieben und ihn (unter Mitteilung, daß ich aus der S.P.D. nicht austreten werde) um Auskunft über meine Zukunft gebeten. Eine Antwort darauf erhielt ich bis jetzt nicht, doch vernahm ich auf Umwegen, daß diese meine Démarche Unter den Linden [Sitz des preußischen Kultusministeriums] nicht einmal schlechten Eindruck gemacht habe und auf der ersten neulich veröffentlichten Proskriptionsliste [Liste der geächteten Hochschullehrer] ist mein Name denn auch wirklich nicht erschienen, obwohl es doch gewiß nicht vergessen ist, daß ich mich kaum vor Jahresfrist mit [dem geächteten] Günther Dehn „persönlich und sachlich solidarisch“ erklärt habe. Es scheint auch, daß längst alle möglichen Instanzen zugunsten meines Verbleibens am Werke sind. Für den Augenblick steht also Alles so „gut“ wie nach den Umständen möglich ist. Eine ganz andere Frage wird ja die sein, ob und wie ich mich in dem so anders gewordenen Deutschland innerlich werde zurechtfinden können. Auch und gerade in der Zoellner’schen „Evangelischen Kirche deutscher Nation“. Schon der Name dieses verheißenen Kindleins . . .! Aber ich will auch in dieser Hinsicht so ruhig als es eben geht abwarten. Ich bin ja wirklich froh, so viele Zeichen wahrzunehmen, daß die Kirche diesmal doch ein wenig anders auf ihrem Posten ist als 1914. Seien Sie mit allen Freunden herzlichst gegrüßt von Ihrem Karl Barth AN KARL BARTH38 [Berlin-Grunewald, 19. 4.1933] Lieber, hochverehrter Herr Professor! Sie werden es zwar selbst längst wissen, aber ich will es doch auf alle Fälle gleich schreiben, daß man mir soeben aus sicherster Quelle erzählt hat, daß in Bonn alles (auch im NT) unverändert bleibt. Ich bin sehr glücklich und mit mir atmen sicher viele auf. Daß auch die Kirche hier anscheinend das ihre getan hat, muß Ihnen doch wohl tun. Daß es so ist, wie Sie mir gestern schrieben, daß die Kirche heute wirklich mehr auf dem Posten ist als 1914,

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers das läßt mich mit immer neuer Dankbarkeit Ihrer Arbeit in dem letzten Jahrzehnt gedenken. Ich wünsche Ihnen sehr einen ruhigen Abschluß der Ferien und bin Ihr Ihnen stets in Verehrung dankbar ergebener Dietrich Bonhoeffer

AN KARL BARTH39 Berlin, den 9.9.33 Lieber Herr Professor! In Ihrer In Ihrer Schrift haben Sie gesagt, daß dort, wo eine Kirche den Arierparagraphen einführen würde, sie aufhört christliche Kirche zu sein.40 In dieser Meinung ist sich ein großer Teil hiesiger Pfarrer mit Ihnen einig. Nun ist das zu Erwartende eingetreten,41 und ich bitte Sie im Namen vieler Freunde, Pfarrer und Studenten darum, uns wissen zu lassen, ob Sie es für eine Möglichkeit halten, in einer Kirche, die aufgehört hat, christliche Kirche zu sein, zu bleiben, beziehungsweise ein Pfarramt, das zu einem Privileg für Arier geworden ist, weiter zu verwalten. Wir haben zunächst eine Erklärung aufgesetzt, in der wir der Kirchenregierung mitteilen wollen, daß mit dem Arierparagraphen sich die evangelische Kirche der Altpreußischen Union von der Kirche Christi getrennt hat42 und wollen die Antwort darauf abwarten, d. h. ob die unterzeichneten Pfarrer entlassen werden oder ob man sich etwas derartiges unbekümmert sagen läßt. Mehreren unter uns liegt jetzt der Gedanke der Freikirche sehr nahe. Der Unterschied zwischen unserer heutigen Situation und der Luthers liegt doch wohl darin, daß die katholische Kirche Luther unter Bezeichnung der häretischen Sätze ausstieß, daß aber unser Kirchenregiment das nicht kann, weil ihm der Begriff des Häretischen überhaupt gänzlich fehlt. Darum läßt sich auch nicht einfach von Luthers Haltung her argumentieren. Ich weiß, daß jetzt viele auf Ihr Urteil warten, weiß auch, daß die meisten der Ansicht sind, Sie würden dazu raten zu bleiben bis man herausgetan wird. Nun sind aber schon welche herausgetan, nämlich die JudenChristen und anderen wird sehr bald unter Angabe völlig unkirchlicher Gründe dasselbe geschehen. Was folgt daraus für uns, wenn die Kirche wirklich nicht nur jeweils einzelne Gemeinde ist, wie steht es mit der Solidarität der Pfarrer untereinander, wann gibt es überhaupt eine Möglichkeit des Austritts aus der Kirche? Daß der status confessionis [Bekenntnisnotstand] da ist, daran kann ja nicht gezweifelt werden, aber worin sich die confessio heute am sachgemäßesten ausdrückt, darüber sind wir uns nicht im klaren. Gleichzeitig erlaube ich mir, Ihnen einen Durchschlag eines Entwurfes einer Bekenntnisarbeit zu schicken, der in Bethel gemacht worden ist und dem-

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers nächst im Druck erscheinen soll.43 Ich bin in Bethel ausdrücklich gebeten worden, Sie um Ihr Urteil und Ihre Korrektur sehr herzlich zu bitten. Verzeihen Sie bitte diese beiden Fragen; die in Ihre Zeit einigermaßen eingreifen. Aber das sind die Dinge, die gegenwärtig bei uns Tausenden von Theologen nahegehen und denen sie und wir alle hier nicht gewachsen sind. Haben Sie vielen Dank für alle Hilfe. In großer Dankbarkeit und aufrichtiger Verehrung bin ich, lieber Herr Professor, Ihr Ihnen stets ergebener Dietrich Bonhoeffer VON KARL BARTH44 Bergli, Oberrieden (Kt. Zürich), 11. September 1933 Lieber Herr Kollege! Auf Ihren freundlichen Brief möchte ich Ihnen wenigstens gleich einen Gruß schicken. Der Bekenntnisentwurf von dem Sie schreiben, lag Ihrem Briefe nicht bei.45 Aber auch die Fragen, die Sie sonst stellen, sind ernst genug. Ich habe auch von hier aus Alles verfolgt, was draußen geschehen ist. Soll man nicht fast dankbar sein dafür, daß Alles so energisch einer Krisis entgegenzutreiben scheint? Aber freilich bei der Frage: Was dann? kann es einem wohl heiß und kalt werden. Natürlich ist mit dem Beschluß der [altpreußischen] Generalsynode [vom 6. 9. 1933] jene von mir erwogene Möglichkeit wenigstens z. T. Wirklichkeit geworden. Bis zum Ausschluß der Nicht-Arier von der Kirchenmitgliedschaft scheint man ja nicht oder noch nicht gehen zu wollen. Aber auch die Verfügung hinsichtlich der Beamten und Pfarrer ist untragbar und auch ich bin der Meinung, daß der status confessionis gegeben sei. Das wird aber in der Tat zunächst dies bedeuten, daß man es der Kirchenregierung bezw. der durch sie vertretenen angeblichen oder wirklichen Mehrheit der Kirchenmitglieder in direkter Eingabe, aber auch öffentlich sagt: „Ihr seid in diesem Stück nicht mehr Kirche Christi!“ Und es ist klar, daß dieser Protest nicht nur ein einmaliger sein kann, sondern weiter und weitergehen muß, bis das Ärgernis beseitigt ist – oder bis die Kirche mit einem Ausschluß oder mit einer Mundtotmachung der Protestierenden antwortet. Der von Ihnen beabsichtigte Schritt scheint mir also zunächst das Richtige zu sein.46 Er wird aber, was auch sein Erfolg sein möge, von weitern entsprechenden Schritten gefolgt sein müssen. Im Übrigen bin ich in der Tat für Abwarten. Das Schisma muß, wenn es kommt, von der andern Seite kommen. Vielleicht kommt es sofort in Form der Antwort auf den Protest wegen der judenchristlichen Pfarrer. Vielleicht muß sich die heillose Lehre die nun in der Kirche regiert, zuerst noch in andern und schlimmeren Abweichungen und Verfälschungen Luft machen: ich habe hier im Zusammenhang eine Menge

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers deutsch-christlicher Literatur zu mir genommen und kann nur sagen, daß ich nach allen Seiten auf das Schlimmste gefaßt bin. Es könnte dann wohl sein, daß der Zusammenstoß an einer noch centraleren Stelle erfolgt. Jedenfalls muß man auch den jetzt gefaßten üblen Beschluß sich erst auswirken, das geschaffene Faktum sozus[agen] sprechend werden lassen. Wenn die Leute so fortfahren, wird die Freikirche eines Tages einfach da sein. Vorher sollte man wohl mit der Möglichkeit noch nicht einmal spielen. Die Sache ist zu verantwortlich, als daß man irgendwie damit umgehen dürfte, sie „starten“ zu wollen. Ich vermute ja, daß man schon an tausend Ecken heimlich damit umgeht! Aber wir werden nur unter den letzten sein dürfen, die das sinkende Schiff wirklich verlassen, wenn es so weit kommen sollte, daß wir es nur noch als sinkendes Schiff betrachten können. Vielleicht darf man dann nicht unter allen Umständen darauf warten wollen, daß man ausgeschlossen oder abgesetzt wird. Vielleicht muß man dann wirklich „austreten“. Aber das dürfte doch nur eine ultima ratio sein für uns. Wir haben uns durch viel, sehr viel andersartiges Ärgernis auch aus der Dibelius- Kirche der Vergangenheit [bis 1933] mit Recht nicht gleich hinausdrängen lassen, sondern haben in ihr selbst unsern Protest angemeldet. Dazu sind wir nun auch in der [deutschchristlich beherrschten] Hossenfelder-Kirche jedenfalls fürs Erste aufgerufen. Ein höchst aktives polemisches Warten wird uns auch hier später auf keinen Fall zu reuen brauchen. Ich denke natürlich daran, daß uns dabei allerlei Unberufene mit dieser oder jener wilden Neugründung zuvorkommen können. Aber es wird sich lohnen, wenn wir uns vornehmen, jetzt auf keinen Fall taktisch, sondern so gut wir es können und verstehen, geistlich zu denken. [. . .] Und nun erwarte ich also Ihren Bekenntnisentwurf mit Spannung.47 Der Name „Bethel“ versetzt mich ja wie ich Ihnen nicht verhehlen will, in leise Unruhe. Die mittlere Linie, die Georg Merz in der letzten Nummer von Z[wischen] d[en] Z[eiten] innehalten wollte, war unerträglich. Ich könnte auch bei einer „Freikirche der mittleren Linie“, wie ich sie von dorther im besten Fall erwarte, sicher nicht dabei sein. Vielleicht werde ich über kurz oder lang wieder etwas zu schreiben versuchen. Aber noch bin ich für mich selbst nicht so weit, deutlich zu sehen, was jetzt eigentlich passiert und passieren müßte. Sie würden mich zu großem Dank verpflichten, wenn Sie mich von Zeit zu Zeit über das was Sie wissen und denken, unterrichten würden. Inzwischen lassen Sie sich herzlichst grüßen von Ihrem [Karl Barth]

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers AN KARL BARTH48 London, den 24. Okt. 33 Lieber Herr Professor! Nun schreibe ich Ihnen den Brief, den ich schon vor 6 Wochen schreiben wollte und der vielleicht damals einen völlig anderen Lauf meines persönlichen Lebens zur Folge gehabt hätte. Warum ich ihn damals nicht schrieb, ist mir jetzt fast unverständlich. Ich weiß nur noch, daß zwei Dinge mitspielten. Ich wußte, daß Sie mit 1000 anderen Sachen beschäftigt waren und es schien mir in jenen erregten Wochen49 ein persönliches äußeres Schicksal so ungeheuer belanglos zu sein, daß ich es einfach nicht für wichtig genug halten konnte, um an Sie zu schreiben. Zweitens aber glaube ich zu wissen, daß ein Stück Angst mit im Spiel war; ich wußte, daß ich doch hätte tun müssen, was Sie mir gesagt hätten, und ich wollte frei bleiben; darum entzog ich mich wohl einfach. Ich weiß heute, daß das falsch war und daß ich Sie um Verzeihung bitten muß. Denn ich habe mich nun „frei“ entschieden, ohne im Blick auf Sie frei sein zu können. Ich wollte Sie fragen, ob ich als Pfarrer nach London gehen sollte oder nicht. Ich hätte Ihnen einfach geglaubt, daß Sie mir das Richtige sagen würden, Ihnen allein, bis auf einen Menschen, der aber an meinem persönlichen Schicksal so fortwährend Anteil nimmt, daß er in meine Unsicherheit mit hineingerissen wurde.50 Ich wollte immer gern Pfarrer werden, das hatte ich Ihnen ja schon ein paarmal gesagt. Im Juli kam die Londoner Sache an mich heran. Ich sagte mit Vorbehalt zu, reiste für 2 Tage hierher, fand ziemlich verwahrloste Gemeindeverhältnisse und blieb unsicher. Als im September die Sache entschieden werden mußte, sagte ich zu. Die formelle Bindung ist leicht. Halbjährige Kündigung. Von der Universität nahm ich nur Urlaub. Wieweit die Bindung an die Gemeinde fester wird, ist heute noch nicht abzusehen. Es war mir gleichzeitig in Berlin ein Pfarramt im Osten [in der Lazarus-Kirchengemeinde] angeboten worden, die Wahl war sicher. Da kam der Arierparagraph in Preußen [am 6. 9. 1933] und ich wußte, daß ich das Pfarramt, nach dem ich mich gesehnt hätte gerade in dieser Gegend, nicht annehmen durfte, wenn ich nicht die Haltung unbedingter Opposition gegen diese Kirche aufgeben wollte, wenn ich mich nicht von vornherein meiner Gemeinde unglaubwürdig machen wollte, wenn ich nicht aus der Solidarität mit den judenchristliehen Pfarrern – mein nächster Freund [Franz Hildebrandt] gehört zu ihnen und steht gegenwärtig vor dem Nichts, er kommt jetzt zu mir nach England – heraustreten wollte. So blieb die Alternative Privatdozent oder Pfarrer, und Pfarrer jedenfalls nicht in Preußen. Ich kann Ihnen nun die Fülle der Für und Wider gar nicht aufzählen, obwohl ich sie noch längst nicht überwunden habe, vielleicht nie überwinden werde. Ich hoffe, daß ich nicht aus Verdruß über unsere kirch-

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers lichen Zustände und auch über die Haltung gerade unserer Gruppe gegangen bin. Es hätte allerdings wahrscheinlich nicht lange gedauert, bis ich mich von meinen Freunden förmlich hätte lossagen müssen – aber ich glaube wirklich, daß das alles viel stärker gegen London sprach als dafür. Wenn man überhaupt in solchen Entscheidungen nachher ganz bestimmte Gründe ausfindig machen will, so war, glaub ich, einer der stärksten, daß ich mich den Fragen und Ansprüchen, die an mich herantraten, einfach innerlich nicht mehr gewachsen fühlte. Ich fühlte, daß ich mich unbegreiflicherweise gegen alle meine Freunde in einer radikalen Opposition befände,51 ich geriet mit meinen Ansichten über die Sache immer mehr in die Isolierung, obwohl ich persönlich in nächster Beziehung mit diesen Menschen stand und blieb – und das alles machte mir Angst, machte mich unsicher, ich fürchtete, daß ich mich aus Rechthaberei verrennen würde – und dabei sah ich garkeinen Grund dafür, daß ich jetzt gerade diese Dinge richtiger und besser sehen sollte, als so manche ganz tüchtige und gute Pfarrer, zu denen ich einfach aufsehe – und so dachte ich, es wäre wohl Zeit, für eine Weile in die Wüste zu gehen und einfach Pfarrarbeit zu tun, so anspruchslos wie irgendmöglich. Die Gefahr, in der gegenwärtigen Stunde eine [falsche] Geste zu machen, schien mir größer als die, sich in die Stille zu begeben. So ist es dann gekommen. Ein Symptom war mir außerdem noch, daß für das Betheler Bekenntnis, an dem ich wirklich leidenschaftlich mitgearbeitet hatte, so fast garkein Verständnis aufgebracht wurde. Daß mich das nicht persönlich verstimmt hat, glaube ich bestimmt zu wissen; dazu war auch wirklich nicht der geringste Anlaß. Ich wurde einfach sachlich unsicher. Dann kam noch 10 Tage vor meiner Abreise ein Anruf von der Kirchenkanzlei, meine Entsendung mache Schwierigkeiten wegen meiner oppositionellen Haltung den D. C. gegenüber. Es kam zum Glück zu einer Unterredung mit [Reichsbischof] Müller, dem ich sagte, ich könne selbstverständlich davon [von dem Plan, nach London zu gehen] nicht zurück und ich bliebe viel lieber hier [in London] als [in Berlin] unter falscher Flagge zu segeln, könne auch draußen die D. C. nicht vertreten. Das alles wurde auf meine Bitte zu den Akten genommen. M[üller] machte einen unsäglich dürftigen Eindruck, sagte mir zur Beruhigung: „im übrigen habe ich bereits angeordnet, daß die bestehenden Gegensätze ausgeräumt werden.“ Er blieb aber in meiner Sache unsicher und ich hoffte, die Entscheidung komme nun einfach von außen und war sehr froh. Am nächsten Tag kam die Nachricht, ich solle ausreisen. Angst vor der Ökumene – widerwärtig. Jetzt bin ich seit 8 Tagen hier, muß jeden Sonntag predigen und bekomme fast täglich Nachrichten aus Berlin über den Stand der Dinge. Das zerreißt einen innerlich fast. Und nun sind Sie bald [zu einem Vortrag] in Berlin und ich kann nicht da sein. Es kommt mir auch so vor, als sei ich Ihnen durch mein Weggehen persönlich untreu geworden. Sie werden das vielleicht nicht

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers einmal verstehen. Mir ist das aber eine sehr große Realität. Und bei alledem freue ich mich unendlich in einer Gemeinde zu sein, auch so ganz abseits. Und dann hoffe ich ja auch, daß sich mir hier nun die Fragen der Ökumene wirklich klären werden. Denn diese Arbeit will ich hier weitertreiben. Vielleicht kann man auf diesem Wege der deutschen Kirche noch einmal wirklich in etwas beistehen. Noch weiß ich nicht, wie lange es mich hier hält. Wenn ich wüßte, daß ich drüben wirklich gebraucht würde, – es ist so unendlich schwer zu wissen, was wir tun sollen. „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber . . .“ 2 Chr.52 So, nun ist dieser Brief geschrieben. Es sind nur persönliche Dinge; aber solche, von denen ich gern wollte, daß Sie sie wüßten. Wenn ich je wieder ein Wort von Ihnen hören würde, wäre es sehr schön. Ich denke sehr viel an Sie und Ihre Arbeit und wo wir wären, wenn die nicht wäre. Würden Sie mir einmal ganz offen Ihre Meinung zu alldem schreiben? Ich wäre auch für ein scharfes Wort offen und dankbar, glaube ich. – Zur Sache möchte ich Ihnen ein andermal schreiben, wenn meine Maschine da ist. So ist’s zu mühsam für Sie. In alter Dankbarkeit bin ich Ihr treu ergebener Dietrich Bonhoeffer. VON KARL BARTH53 20. November 1933 Lieber Herr Kollege! Sie können schon aus dieser Anrede entnehmen, daß ich gar nicht daran denke, Ihren Abmarsch nach England anders denn als ein vielleicht persönlich notwendiges Zwischenspiel zu betrachten. Sie hatten, da Sie diese Sache nun einmal im Sinn hatten, sehr recht, meinen weisen Rat dazu nicht erst einzuholen. Denn ich würde Ihnen bedingungslos und wahrlich unter Aufführung schwersten Geschützes davon abgeraten haben. Und da Sie mich nun nachträglich wegen dieser Sache anreden, kann ich Ihnen wahrlich nichts Anderes zurufen als: Schleunigst zurück auf Ihren Berliner Posten! Was heißt „Abseitsgehen“, „Stille des Pfarramts“ usw. in einem Augenblick, wo Sie in Deutschland einfach gefordert sind? Sie, der Sie so genau wissen wie ich, daß die Berliner Opposition und die kirchliche Opposition in Deutschland überhaupt innerlich auf so schwachen Füßen steht! Daß jeder ehrliche Mann alle Hände voll damit zu tun haben müßte, sie scharf und klar und fest zu machen! Daß jetzt vielleicht Alles kaputt geht nicht an der wahrlich nicht allzu großen Macht und List der D. C., wohl aber an der Sturheit und Dämlichkeit, an der heillosen Ungrundsätzlichkeit gerade der Anti-D. C.! Daß man jetzt unter kei-

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers nen Umständen weder Elia unter dem Wacholder54 noch Jona unter dem Kürbis55 spielen darf sondern aus allen Rohren schießen muß! Was soll das Lob, das Sie mir spenden – von der andern Seite des Kanals her? Was sollte die Botschaft, die mir Ihr Schüler ausrichtete56 als ich gerade mitten im Gemenge mit dem famosen „Brüderrat“ des Notbundes war57 – statt daß Sie dagewesen und mir diesen Brüdern gegenüber beigestanden hätten? Sehn Sie, ich bin ja nun in den letzten Wochen zweimal in Berlin gewesen und glaube nun ziemlich genau zu wissen, was dort gespielt wird, habe mich auch redlich bemüht, das Steuer herumzureißen, habe wohl auch einige Teilerfolge gehabt, hätte aber, wenn die Dinge sich zum Guten wenden sollten, ganz, ganz andere Erfolge haben müssen und bin darum speziell das zweite mal sehr deprimiert von jener Stätte weggegangen. Warum waren Sie nicht da, um mit am Seil zu ziehen, das ich fast allein ja wirklich kaum vom Fleck kriegen konnte? Warum sind Sie nicht dauernd dort, wo nun so viel darauf ankäme, daß ein paar beherzte Leute bei jedem großen oder kleinen Anlaß auf der Wache wären und versuchten zu retten, was zu retten ist? Warum, warum? Sehn Sie ich unterstelle ja, wie schon gesagt gerne, daß dieser Ihr Abmarsch für Sie persönlich notwendig war! Aber ich muß schon hinzufügen dürfen: Was heißt im gegenwärtigen Augenblick sogar „persönliche Notwendigkeit“? Ich meine aus Ihrem Briefe zu sehen, daß Sie, wie wir Alle – jawohl wie wir Alle! – leiden unter der ganz ungemeinen Schwierigkeit, in dem gegenwärtigen Chaos „gewisse Tritte“58 zu tun. Aber sollte es Ihnen nicht einleuchten, daß das kein Grund ist, sich diesem Chaos zu entziehen, daß wir vielmehr in und mit unsrer Ungewißheit, und wenn wir zehnmal und hundertmal straucheln und irren sollten gefordert sind, unsern Mann zu stellen, wie gut oder schlecht wir dann unsre Sache machen mögen. Mir will es einfach so gar nicht gefallen, daß Sie angesichts dessen, worum es für die deutsche Kirche heute geht, jetzt noch eine solche Privattragödie auf die Bühne stellen mögen, als ob nicht nachher, wenn wir so Gott will aus dem Schlamassel wieder ein wenig heraus sind, zur Abreagierung der verschiedenen Komplexe und Hemmungen, an denen Sie leiden wie andere auch darunter zu leiden haben, Zeit genug wäre. Nein, ich kann und ich werde Ihnen auf alle Begründungen oder Entschuldigungen, die Sie mir vielleicht noch vortragen könnten, immer nur antworten: Und die deutsche Kirche? Und die deutsche Kirche? – bis Sie wieder in Berlin sind, um treu und brav Ihr dort verlassenes Maschinengewehr zu bedienen. Merken Sie noch nicht, daß jetzt eine Zeit gänzlich undialektischer Theologie angebrochen ist, in der es auf keinen Fall angeht, sich mit „Vielleicht – vielleicht auch nicht!“ in Reserve zu halten, sondern daß jetzt jeder beliebige Bibelspruch uns förmlich zuschreit, wir verlorenen und verdammten Sünder sollten jetzt einfach glauben, glauben, glauben?! Sollten Sie mit Ihrem schönen theologischen Rüstzeug, und dazu noch eine solche Germanengestalt wie Sie, sich nicht fast ein wenig genieren etwa vor einem Mann wie Heinz Vogel [gemeint: Heinrich Vogel], der verhutzelt und aufgeregt

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers wie er ist, einfach immer wieder da ist, seine Arme kreisen läßt wie eine Windmühle und „Bekenntnis, Bekenntnis!“ schreit und in seiner Weise, – in Kraft oder Schwachheit darauf kommt jetzt nicht so viel an – tatsächlich ablegt? Ich kann Ihnen ja wirklich nicht die Beteiligung an einem Triumph in Aussicht stellen, wenn ich Sie bitte, wieder nach Deutschland zurückzukommen. Es ist hier Alles so mühselig und unerfreulich wie nur möglich und so wie man sich auf ein taktisches oder geschichtsphilosophisches Denken auch nur ein bißchen einläßt, kann man sich jeden Augenblick klar machen, daß – es rast der See und will sein Opfer haben59 – alle Mühe doch umsonst, die deutsche Kirche doch verloren ist. Sie werden aus der Fortsetzung der neuen Schriftenreihe [„Theologische Existenz heute“] – sie bringt auch in Heft 3 und 4 mehr oder weniger aktuelle Dinge von mir – sehen, wieviel Mühe ich selber habe, mich der Müdigkeit zu erwehren. Aber nichtwahr, man darf ja jetzt nicht müde werden. Und so darf man jetzt noch weniger nach England gehen! Was in aller Welt sollen und wollen Sie dort drüben? Seien Sie froh, daß ich Sie nicht persönlich hier habe, denn ich würde sonst noch ganz anders eindringlich auf Sie losgehen mit der Forderung, Sie müßten jetzt alle noch so interessanten denkerischen Schnörkel und Sondererwägungen fallen lassen und nur das Eine bedenken, daß Sie ein Deutscher sind, daß das Haus Ihrer Kirche brennt, daß Sie genug wissen und was Sie wissen gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein und daß Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müßten! Nun, sagen wir: mit dem übernächsten! Aber ich kann Ihnen schon nicht ausdrücklich und eindringlich genug aussprechen, daß Sie nach Berlin und nicht nach London gehören. Da auch Sie mir im Grunde nur dies geschrieben haben; daß Sie nun eben dort seien, will ich Ihnen für diesmal auch nichts Anderes schreiben als dies, daß Sie in Berlin sein sollten. Leider muß ich mir Ihre Adresse erst durch Gertrud Staeven schicken lassen, so daß Sie dieser Brief erst mit einiger Verspätung erreichen kann. Sie werden ihn so freundschaftlich verstehen wie er gemeint ist. Wenn mir nicht so an Ihnen gelegen wäre, würde ich Ihnen nicht so ans Portepee greifen. Mit herzlichem Gruß Ihr [Karl Barth] Grüßen Sie Herrn Hildebrandt. Ich wurde mir erst nachträglich klar darüber, daß er ja der Mann ist, der das Buch „Est“60 geschrieben hat und darin ja wohl auch einiges Böse über mich gesagt haben soll. Ich habe es nicht gelesen und bin schon darum bereit ihm Alles zu verzeihen.

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers AN KARL BARTH61 Finkenwalde, den 19. 9.1936 Hochverehrter, lieber Herr Professor! Als ich neulich in der Schweiz war, wollte ich sehr gern nach langer Zeit Ihnen einen Besuch machen. Mein Freund Sutz hatte mich wohl auch schon angemeldet, leider zu einem Zeitpunkt, von dem ich ihm garnichts geschrieben hatte. Ich habe nun gehört, daß Sie eines Sonntags nachmittags Sutz und mich vergeblich erwartet haben. Das tut mir furchtbar leid. Denn es ist mir schon immer eine Überwindung zu denken, daß ich Ihnen durch einen Besuch viel von Ihrer Zeit nehme, die Ihnen schon von allen Seiten geraubt wird. Und wenn ich nichts unbedingt wichtiges hätte, würde ich es auch gewiß nicht tun. Diesmal hätte ich es nun aber wirklich gern getan, und da war es zu spät. Das war mir sehr schmerzlich. Nun muß ich Ihnen aber wenigstens schreiben; denn ich habe wirklich lange genug geschwiegen. Unsere letzte Begegnung war ein Telephongespräch, in dem ich Sie für Jacobi nach Berlin bitten sollte. Seit Sie mir damals nach England schrieben, ich solle mit dem nächsten oder doch mit dem übernächsten Schiff zurückkommen, haben Sie wohl persönlich von mir nichts gehört. Ich muß dafür um Verzeihung bitten. Der Stachel hat übrigens damals gesessen. Ich glaube, es war wirklich das übernächste Schiff, mit dem ich kam. Nun bin ich seit anderthalb Jahren wieder hier und bin doch in vieler Hinsicht froh, daß ich drüben war, aber noch froher, daß ich wieder hier bin. Daß ich seitdem nicht schrieb, hat wohl allerlei Gründe gehabt. Ich dachte immer, wenn ich Ihnen schreibe, muß ich auch was vernünftiges zu schreiben haben; und so etwas vernünftiges hatte ich eben tatsächlich nie, jedenfalls nie so, daß ich meinte, ich dürfte Sie nun dafür schon in Anspruch nehmen. Und ich habe es nun auch heute noch nicht. Und dann war es wirklich so, daß ich mit den Fragen, die mir aus der Schrift erwachsen waren und die mich fortwährend beschäftigten, erst einmal selbst zu einem gewissen Ziel kommen wollte, wobei ich dann freilich auch immer wieder erkannte, daß ich mich in manchem wohl von dem, was Sie selbst dazu sagen, entfernte. Imgrunde war die ganze Zeit eine andauernde stillschweigende Auseinandersetzung mit Ihnen und darum mußte ich eine Weile schweigen. Es sind hauptsächlich die Fragen der Auslegung der Bergpredigt und der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung und Heiligung. Ich bin an einer Arbeit darüber [Vorbereitung für das Buch „Nachfolge“] und hätte jetzt allerdings sehr, sehr gern vieles von Ihnen erfragt und erfahren. Es geht ja wohl den meisten von uns immer wieder so, die meinen, sie müßten sich eine Weile lang aus irgendwelchen theologischen Gründen von Ihnen entfernen, daß sie nachher bei einer persönlichen Besprechung erfahren, daß man wieder einmal alles viel zu primitiv gesehen hat. Nun hoffe ich jetzt ernstlich auf eine andere Gelegenheit, Sie einmal ausführlich sehen und sprechen zu dürfen. Schließlich muß ich wohl der Klarheit wegen sagen – ich habe

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers es sonst zu keinem gesagt – daß ich mich aus Ihrem Kreis dadurch etwas ausgeschlossen fühlte, daß ich an Ihrer Festschrift62 nicht beteiligt wurde. Ich hätte Ihnen sehr gern einen Beitrag geschrieben; bitte mißverstehen Sie das nicht. Ich habe es einfach für ein objektives Urteil genommen, daß ich nicht zu den Ihnen verbundenen Theologen gerechnet werde. Das tat mir leid, weil ich weiß, daß es nicht zutrifft. So, das waren wohl etwa die Gründe meines längeren Schweigens. Die Arbeit im Seminar macht mir Freude. Wissenschaftliche und praktische Arbeit sind schön miteinander verbunden. Ich finde, daß auf der ganzen Linie von den jungen Theologen, die ins Seminar kommen, dieselben Fragen gestellt werden, die mich in der letzten Zeit beschäftigt haben, und von dorther ist das gemeinsame Leben natürlich stark mitbestimmt. Ich bin fest davon überzeugt, daß die jungen Theologen sowohl im Blick auf das, was sie von der Universität her mitbringen, wie auch im Blick auf das, was in den Gemeinden – besonders hier im Osten – so an selbständiger Arbeit von ihnen gefordert wird, eine ganz andere Vorbildung brauchen, in die ein solches gemeinsames Seminarleben unbedingt hineingehört. Man macht sich ja gar kein Bild davon, wie leer, ja völlig ausgebrannt die meisten der Brüder ins Seminar kommen. Leer sowohl inbezug auf theologische Erkenntnisse und erst recht biblisches Wissen, wie auch inbezug auf ihr persönliches Leben. Sie haben einmal, lieber Herr Professor, in einem offenen Abend – dem einzigen, den ich [bei meinem Bonn-Besuch 1931] mitgemacht habe – sehr ernst zu den Studenten gesprochen, daß es Ihnen manchmal so zumute sei, als sollten Sie lieber einmal alle Vorlesungen lassen und statt dessen dem einzelnen auf die Bude rücken und ihn stellen, wie der alte [Hallenser Prof. Friedrich August Gottreu] Tholuck: wie steht es mit Deiner Seele? Die Not ist seitdem nicht behoben, auch durch die Bekennende Kirche nicht. Aber es sind sehr wenige da, die diese Aufgabe an den jungen Theologen als kirchliche Aufgabe erkennen und ausführen. Imgrunde aber wartet jeder darauf. Ich kann es leider auch nicht richtig, aber ich weise die Brüder aneinander, und das scheint mir das allerwichtigste. Daß aber sowohl theologische Arbeit wie auch wirkliche seelsorgerliche Gemeinschaft nur erwachsen kann in einem Leben, das durch morgendliche und abendliche Sammlung um das Wort, durch feste Gebetszeit bestimmt ist, ist gewiß, und ist wohl auch nur eine Folge von dem, was Sie an Anselm von Canterbury sehr klar gemacht haben.63 Der Vorwurf, das sei gesetzlich, trifft mich wirklich garnicht. Was soll daran wirklich gesetzlich sein, daß ein Christ sich anschickt zu lernen, was beten ist und an dieses Lernen einen guten Teil seiner Zeit setzt? Wenn mir neulich ein führender Mann der Bekennenden Kirche gesagt hat: „für Meditation haben wir jetzt keine Zeit, die Kandidaten sollen lernen zu predigen und katechesieren“, so ist das entweder totale Unkenntnis dessen, was ein junger Theologe heute ist, oder es ist frevelhafte Unwissenheit darüber, wie eine Predigt und Katechese entsteht. Die Fragen, die heute im Ernst von jungen Theologen an uns gestellt werden, heißen: wie lerne ich beten? wie

3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers lerne ich die Schrift lesen? Entweder wir können ihnen da helfen oder wir helfen ihnen überhaupt nicht. Selbstverständlich ist da wirklich garnichts! Und zu sagen: wenn einer das noch nicht weiß, so soll er eben nicht Theologe sein!, schlösse die allermeisten von uns aus diesem Beruf aus. Daß alle diese Dinge nur ihr Recht haben, wenn daneben und dabei – ganz gleichzeitig! – wirklich ernsthafteste saubere theologische, exegetische und dogmatische Arbeit getan wird, ist mir ganz klar. Sonst bekommen alle diese Fragen einen falschen Akzent. Aber überhören will ich diese Fragen um alles in der Welt nicht, darum geht es mir! Und gerade diese Dinge wären es, über die ich am allerliebsten mit Ihnen einmal gesprochen hätte. Leider bin ich zur Zeit in einen heftigen Streit über meinen Artikel über die Kirchengemeinschaft64 hineingezogen. Man regt sich furchtbar darüber auf. Und ich hatte gemeint, eigentlich etwas selbstverständliches zu schreiben. Sehr gern hätte ich ja einmal von Ihnen ein Wort dazu gehört. Aber ich will Sie damit wirklich nicht belasten. Wir müssen uns da eben jetzt allein durchbeißen. Das ist wohl auch ganz gesund. [. . .] Nun will ich schließen. Vieles kann man eben nur persönlich besprechen. Darauf freue ich mich sehr. Mit vielen Grüßen und guten Wünschen bin ich in großer Dankbarkeit und Verehrung Ihr Dietrich Bonhoeffer.

VON KARL BARTH65 Bergli, Oberrieden (Kanton Zürich), 14. Oktober 1936 Lieber Herr Kollege Bonhoeffer! Nach der kurzen Empfangsbestätigung aus Ungarn sollen Sie nun doch auch noch eine etwas richtigere Antwort auf Ihren Brief vom 19. September von mir bekommen. Es war an jenem Sonntagnachmittag in der Tat so, daß ich Sie hier schon von einer Minute auf die andere erwartet hatte, bis dann ein Telephon mit Sutz die Sache aufklärte. Umso mehr hat es mich gefreut, nun brieflich so ausführlich von Ihnen zu hören. Sie hätten mir ruhig längst wieder schreiben können, auch wenn Sie inzwischen einige theologische Kurven beschrieben haben sollten, die mit den meinigen nicht ganz parallel liefen. Welchen Anspruch sollte ich auch darauf haben, daß Sie mir irgend eine feierliche Rechenschaft schuldig wären? Wissen Sie, was damals nach jener Sache mit dem „übernächsten Schiff“ lange Zeit das Einzige war, was Ich von Ihnen wußter? Die seltsame Nachricht, Sie beabsichtigten nach Indien zugehen, um sich dort bei

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3. Die Theologie Dietrich Bonhoeffers Gandhi oder einem andern dortigen Gottesfreund irgend eine geistliche Technik anzueignen, von deren Anwendung im Westen Sie sich große Dinge versprächen! Aber dann war ja vor einem Jahr Ihr Inspektor [im Finkenwalder Predigerseminar Wilhelm] Rott hier bei mir und sorgte dafür, daß das Bild etwas plastischer wurde. [. . .] Und nun höre ich also auch von Ihnen selbst, daß Sie theoretisch und praktisch in besonderer Weise mit dem unerschöpflichen Thema Rechtfertigung und Heiligung beschäftigt sind. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Ergebnisse, sowohl hinsichtlich des beabsichtigten Buches66 wie auch hinsichtlich dessen, was Ihr Seminar an neuen Möglichkeiten zu Tage fördern wird. Sie werden es nicht anders von mir erwarten, als daß ich der Sache offen, aber auch nicht ohne Sorge entgegensehe. Offen: weil es mir klar genug ist, daß hier in Lehre und Leben immer neue Fragen gestellt und Versuche gemacht werden müssen, weil wir wirklich nicht meinen können, in der kirchlichen Verkündigung und Lebensgestalt auch nur von ferne schon zu der Wahrheit vorgestoßen zu sein, die sich uns von Schrift und Bekenntnis her in einer fast ungreifbaren Fülle aufdrängt. Nicht ohne Sorge: weil ich nun seit 15 Jahren unter einem fast ununterbrochenen Trommelfeuer von Einwänden, „Anliegen“, Ergänzungs- und Überbietungsvorschlägen gerade hinsichtlich dieses Themas stehe, deren grundsätzliche Berechtigung ich niemals abstreiten konnte oder wollte, in deren konkreter Ausführung ich dann aber alsbald irgend eine Rückkehr zu den Fleischtöpfen Ägyptens erblicken mußte. Ich denke an die Religiös-Sozialen, an die Wuppertaler Pietisten im Jahrzehnt vor dem Kirchenkampf, an die Berneuchener, an [Paul] Althaus und [Emanuel] Hirsch und doch auch an die D. C., zuletzt an die Oxforder [Gruppenbewegung] samt Emil Brunner. Sie verstehen, daß sich mir hier allmählich die Anschauung eines gemeinsamen Nenners herausgebildet hat: Resignation gegenüber dem ursprünglichen christologisch-eschatologischen Ansatz zugunsten irgendwelcher (faktisch immer abstrakter!) Verwirklichungen in einem dem Menschen eigenen Raum. Sie verstehen auch, daß ich nach dieser Richtung – ohne die prinzipielle Berechtigung der Frage leugnen zu können – immer kritischer geworden bin, immer genauer hinsehe, ob es sich bei den immer erneuten Ankündigungen besserer Lösungen nicht doch aufs Neue darum handle, den Spatzen in der Hand zugunsten einer Taube auf dem Dach preiszugeben. Und nun sehe ich schon, daß wohl speziell unter der heutigen Jugend gerade der Bekenntniskirche eine weitere Welle dieser Art im Anzug ist, in der dann auch alles Frühere neue Aktualität gewinnen wird und es kann auch wohl sein, daß gerade Sie berufen und befähigt sind, hier Sprecher und Führer zu sein. Ist es diesmal kein blinder Lärm, so hoffe ich noch nicht zu alt zu sein, um diesmal zu lernen, was zu lernen ist und nötigenfalls meine Hefte zu korrigieren, wie ich es ja in anderer Hinsicht auch schon getan habe. Sie müssen aber ebenfalls verstehen, wenn ich zunächst abwarte. [. . .]

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Für weitere „harte, schwere Kost“ wird übrigens nach der langen Zeit der Theologischen Existenz heute der zweite Band meiner Dogmatik67, der Ende des Winters D. b. v.68 herauskommen soll, einigermaßen sorgen. Genug für heute. Seien Sie meiner freundschaftlichen Gesinnung und meiner ernsten Anteilnahme an Ihrer Arbeit versichert und empfangen Sie die besten Grüße von Ihrem [Karl Barth]

3.3 Dietrich Bonhoeffer und Adolf von Harnack Bonhoeffers liberales Erbe Karl Martin69 1. Bonhoeffers Begegnungen mit Adolf von Harnack [. . .] Nach dem Beginn des Theologiestudiums in Tübingen 1923 geht Bonhoeffer 1924 nach Berlin und wird dort Hörer bei Adolf von Harnack. Als sich Bonhoeffer nach seiner Promotion von der Fakultät dankend verabschieden wollte [am 17. Dez. 1927], schrieb er sich dafür einige Stichworte auf sein Thesenblatt; der Satz, den er an Harnack richten wollte, lautet dort: „Zu eng mit meiner ganzen Person“70 Am 10. Juni 1930 verstirbt Adolf von Harnack in Heidelberg. In der Gedächtnisfeier der Kaiser-WilhelmGesellschaft, Vorgängerin der Max-Planck-Gesellschaft, am 15. Juni 1930 in Berlin spricht Lic. Dietrich Bonhoeffer die Trauerrede für den letzten Schülerkreis des Verstorbenen.71 Fast gleichzeitig mit dem Studienbeginn bei Harnack hat Bonhoeffers Entdeckung des Theologen Karl Barth und der Dialektischen Theologie stattgefunden. [. . .] Die Anfänge der strittig-streitbaren Diskussionen zwischen liberaler und dialektischer Theologie finden auch in dem Seminar von Harnack ihren Niederschlag. „Über das Harnack-Seminar – es war das über Augustins De Civitate Dei im Winter 1925/26 – schrieb Helmut Goes [der Bruder des Dichters Albrecht Goes]: „Schon bei den ersten Sitzungen fiel mir Dietrich Bonhoeffer auf. Nicht nur, daß er uns an theologischem Wissen und Können fast alle überragte, war mir das eigentlich Eindrückliche, sondern was mich an Bonhoeffer leidenschaftlich anzog, war die Wahrnehmung, daß hier einer nicht nur lernte und die verba und scripta irgendwelcher magistri in sich aufnahm, sondern daß hier einer selbständig dachte und schon wußte, was er wollte und wohl auch wollte, was er

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wußte. Ich erlebte (mir war das etwas beängstigend und großartig Neues!), daß da ein junger blonder Student dem verehrten Polyhistor, der Exellenz von Harnack, widersprach, höflich, aber bestimmt sachlich-theologisch widersprach. Harnack antwortete, aber der Student widersprach wieder und wieder. Ich weiß nicht mehr recht den Gegenstand der Diskussion – es war von Karl Barth die Rede –, aber ich erinnere mich noch der heimlichen Begeisterung, die ich empfand für das freie, kritische und selbständige Denken in der Theologie.“72 Die Umstellung von einem Denksystem auf das andere vollzieht sich nicht ruckartig, sondern in einem allmählichen Prozess. [. . .] Im WS 1931/32 hält Bonhoeffer eine Vorlesung über „Die Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts“.73 „Darin widmet er ein ganzes Kapitel dem ‚Wesen des Christentums‘. Er rühmt Harnacks ‚große innere Wärme und echtes Wahrheitsstreben‘, dessen Offenheit gegenüber jedem ernsthaften Widerspruch. Inhaltlich jedoch steht Bonhoeffer eindeutig kritisch zu dem Entwurf seines Lehrers.“74 Im SS 1932 ist es dann soweit. Die Rede vom „Wesen des Christentums“ (so der Titel von Harnacks berühmter Vorlesung aus dem WS 1899/1900) wird bei Bonhoeffer durch eine neue Formulierung abgelöst. Wichtiger und richtiger als die Frage nach dem „Wesen des Christentums“ ist jetzt die Frage nach dem „Wesen der Kirche“ – so der Titel von Bonhoeffers Vorlesung im SS 1932. Wenn man die beiden Vorlesungstitel vergleicht, wird sofort deutlich, wo Bonhoeffer gegenüber Harnack neue Akzente setzt. Das Christentum kommt nicht als Empfinden, als Bewusstsein und kulturelles Ereignis in Individuen (die Harnacksche „Persönlichkeit“) zu seinem Wesen und Ziel. Es bedarf zu seiner Realisierung der Kirche, der Gemeinde, der Gemeinschaft, des Gottesdienstes, einer Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit gemeinsamen Glaubens und Lebens. Mit diesem neuen Kirchenverständnis gehörte Bonhoeffer zu jenen, die die Gründung der Bekennenden Kirche bereits vor 1933 theologisch vorbereiteten. [. . .] Der drohende und schließlich 1939 ausbrechende Krieg sowie die konspirativen Aktivitäten zwingen zu neuen Überlegungen. „Nach der Kontaktaufnahme mit der ‚Abwehr‘ (1940) und der sich daraus ergebenden Beteiligung Bonhoeffers an der Konspiration gegen das NS-Regime zeigt sich bei Bonhoeffer ein allmählich immer stärker werdendes neues Interesse an seinem liberalen Erbe. Forcierend in dieser Richtung wirkt, daß Bonhoeffer die Stagnation innerhalb der Bekennenden Kirche ein Problem zu werden beginnt. Er bekommt Furcht vor einer muffigen Orthodoxie. Grund genug also, um die progressiven Elemente des Liberalismus auf ihre Tauglichkeit hin neu zu überprüfen.“75 Der theologische Liberalismus

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und insbesondere Adolf von Harnack verkörperten auf dem ethischen und politischen Feld wichtige Impulse. [. . .] Die unterschiedlichen Auffassungen der Kreise, in denen Adolf von Harnack auf der einen Seite und Reinhold Seeberg auf der anderen Seite verkehrten (die einen „schon beinahe links“76, die anderen „nationalistisch“ gesinnt), fallen auf. Vielleicht erklärt sich auf diesem Hintergrund noch einmal ein Stück plausibler, warum ausgerechnet Adolf von Harnack einen stärkeren Einfluss auf Bonhoeffers theologische Entwicklung genommen hat. [. . .] In seiner Entscheidung zur Teilnahme am Widerstand konnte sich Bonhoeffer durch die liberale Tradition, wie sie Adolf von Harnack verkörperte, bestätigt fühlen. Mit seiner Einlieferung in das Gefängnis 1943 bekommt Bonhoeffer Gelegenheit, sich intensiver mit Harnack-Lektüre zu beschäftigen. In seinem Brief vom 29. und 30. Januar 1944 an Eberhard Bethge schreibt er: „Ich habe gerade angefangen, Harnacks Geschichte der Preußischen Akademie [der Wissenschaften zu Berlin] zu lesen, sehr schön. Ich glaube, in diesem Thema schlägt eigentlich sein Herz und er hat mehrfach gesagt, daß er sie für sein bestes Buch halte.“77 Und in dem Brief an seine Eltern vom 2. März 1944 heißt es: „Die Harnacksche Akademiegeschichte hat mich sehr beeindruckt und mich teils glücklich teils wehmütig gestimmt. Es gibt heute so wenige Menschen, die an das 19. und 18. Jahrhundert noch innerlich und geistig Anschluß suchen; die Musik versucht sich aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu erneuern, die Theologie aus der Reformationszeit, die Philosophie aus Thomas v. Aquino und Aristoteles, die heutige Weltanschauung aus der frühgermanischen Vergangenheit – aber wer ahnt überhaupt noch, was im vorigen Jahrhundert, also von unseren Großvätern, gearbeitet und geleistet worden ist, und wieviel von dem, was sie gewußt haben, ist uns bereits verloren gegangen! Ich glaube, die Menschen werden eines Tages aus dem Staunen über die Fruchtbarkeit dieser jetzt vielfach so mißachteten und kaum gekannten Zeit nicht herauskommen. – Könntet Ihr mir bitte Dilthey: ‚Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation‘ verschaffen?“78 [. . .] Das bei Harnack gelesene Stichwort „Weltlichkeit“ geht Bonhoeffer weiter durch den Kopf. [. . .] Bonhoeffer möchte eine neue „Weltlichkeit“ entfalten, die es früher schon einmal im Mittelalter gab, die dann aber im Verlauf der Entstehung der Neuzeit verschüttet wurde. Diese Weltlichkeit soll ohne kirchlich-klerikale Bevormundung sein. Sie soll sich aber nicht vom Christentum trennen, sondern auf dem Boden des Christentums zur vollen Entfaltung kommen. Der Christ in Weltlichkeit ist ein religionsloser Christ, der in den profanen Aufgabenstellungen sein Christsein bewährt und gerade so für die Zeitgenossen seinen Glauben bezeugt. [. . .]

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In der Herausarbeitung einer christlich fundierten Weltlichkeit verbindet Bonhoeffer die Kritik an Karl Barth mit einer Wiederannäherung an Adolf von Harnack. Speziell die Rede von der Religion als einem „Gewand des Christentums“ verweist auf seinen alten Berliner Lehrer. Bei Harnack lässt sich eine „Kern-Schale-Dialektik“79 beobachten. Die Unterscheidungsbegriffe Kern-Schale bzw. Form-Inhalt bei Harnack scheinen verwandt zu sein mit der Gewand-Begrifflichkeit bei Bonhoeffer (statt von „Gewand“ kann Bonhoeffer auch von „Einkleidung“ sprechen80). „Das Wissen um den Kern schließt zugleich die von ihm unterschiedenen Schalen mit ein und birgt die Konsequenz in sich: Nicht alles in dem Ganzen ist von gleicher Bedeutung. Die Rinden schützen den Kern, weil unter den Rinden allein Lebendiges zu wachsen vermag.“81 Die Schale steht für das Wandelbare und Vergängliche (Historische), der Kern für das Wertvolle und Bleibende (Prinzipielle). In seiner ersten Vorlesung über „Das Wesen des Christentums“ führt Harnack, der sich als Kirchenhistoriker verstand, aus: „Für den Historiker, der das Wertvolle und Bleibende festzustellen hat – und das ist seine höchste Aufgabe – ergiebt [sic!] sich aus diesen Verhältnissen die notwendige Forderung, sich nicht an Worte zu klammern, s o n d e r n d a s We s e n t l i c h e z u e r m i t t e l n . [. . .] Es sind hier nur zwei Möglichkeiten: entweder das Evangelium ist in allen Stücken identisch mit seiner ersten Form: dann ist es mit der Zeit gekommen und mit ihr gegangen; oder aber es enthält immer gültiges in geschichtlich wechselnden Formen. Das letztere ist das Richtige. Die Kirchengeschichte zeigt bereits in ihren Anfängen, daß das ‚Urchristentum‘ untergehen mußte, damit das ‚Christentum‘ bliebe; so ist auch später noch eine Metamorphose auf die andere gefolgt. Von Anfang an galt es Formeln abzustreifen, Hoffnungen zu korrigieren und Empfindungsweisen zu ändern, und dieser Prozeß kommt niemals zur Ruhe. Eben dadurch aber, daß wir, wie den Anfang, so den ganzen Verlauf überschauen, verstärken wir unseren Maßstab für das Wesentliche und wahrhaft Wertvolle.“82 [. . .]

2. Neue Akzente in der Theologie Dietrich Bonhoeffers Immer wieder lassen sich die Spuren Harnackscher Theologie in den Bonhoefferschen Texten beobachten. Die intellektuelle Redlichkeit, die immensen historischen Kenntnisse, aber auch der maßvolle Blick für Menschen und gegenwärtige Situationen scheinen Bonhoeffer bei seinem Lehrer angesprochen zu haben. Er übernimmt von Harnack die verschiedensten Impulse – lässt sie aber nicht unverändert, sondern stellt sie in einen neuen Kontext, nämlich in den Kontext seiner neuen, von der Dialektischen Theo-

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logie (mit)geprägten Ansätze. Das liberale Erbe ändert nichts daran, dass die Grundkoordinaten des Bonhoefferschen Denkens die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bzw. die das ganze Wirklichkeitsverständnis durchdringende Christologie bleiben. In diese Grundkoordinaten hinein werden die Impulse und Anregungen eingezeichnet, die Bonhoeffer von Adolf von Harnack übernimmt. Wie diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Adolf von Harnack und Dietrich Bonhoeffer konkret gemeint ist, soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden. Dem ersten Beispiel sind wir bereits begegnet, nämlich beim Thema „Weltlichkeit“. Harnack hatte in „Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ auf Seite 3 von der Renaissance gesagt: „An die Stelle der ‚Lehre‘ setzte sie die ‚Forschung‘, an die Stelle des Himmels die veredelte ‚Weltlichkeit‘.“83 Nach Harnack haben Renaissance, Reformation und mathematische Naturwissenschaft jene Weltlichkeit entstehen lassen, um deren Bejahung und Entfaltung es uns heute gehen muss. Bonhoeffer knüpft hier nicht nur an Harnack an, sondern setzt sich auch von ihm ab. Wie Harnack geht es ihm um Weltlichkeit, aber um eine „christliche“ Weltlichkeit: „Ich habe mich in letzter Zeit mit der nicht durch die Renaissance bedingten, sondern aus dem Mittelalter, vermutlich aus der Kaiseridee im Kampf gegen das Papsttum, erwachsenen ‚Weltlichkeit‘ des 13. Jahrhundert (Walther [von der Vogelweide], Nibelungen, Parsival, erstaunlich die Toleranz gegen die Mohammedaner in der Gestalt des Halbbruders Parsival’s Feirefiz!, Naumburger und Magdeburger Dom) beschäftigt. [Diese Beschäftigung vollzieht sich in engem Zusammenhang mit Bonhoeffers Dilthey-Lektüre, die sich an seine Harnack-Lektüre unmittelbar anschließt.] Es ist nicht eine ‚emanzipierte‘, sondern eine ‚christliche‘, aber antiklerikale Weltlichkeit.“84 Die Weltlichkeit der Renaissance, die Harnack vor Augen hat, ist eine „emanzipierte“ neben dem Christentum bzw. ohne das Christentum. Sie hat sich vom Christentum „emanzipiert“. Dagegen möchte Bonhoeffer eine „christliche“ (aber antiklerikale!) Weltlichkeit aufspüren. Die Weltlichkeit soll bei ihm auf den Boden der Christologie in den Raum der einen Gesamtwirklichkeit zurückgeholt werden. Denn letzten Endes gibt es für Bonhoeffer Weltlichkeit nur dort, wo die Prämissen der Christologie in Geltung sind und der gesamten Wirklichkeit das Gepräge geben. So ist in Bonhoeffers Ethik zu lesen: „Nur durch die Verkündigung des gekreuzigten Christus gibt es ein Leben in echter Weltlichkeit, also nicht im Widerspruch zur Verkündigung und auch nicht neben ihr her in irgendeiner Eigengesetzlichkeit des Weltlichen, sondern gerade ‚in, mit und unter‘ der Christusverkündigung ist echtes weltliches Leben möglich und wirklich.“85 „Harnacks Jesuanismus“ ist ein zweites Beispiel dafür, wie Bonhoeffer an Harnack anknüpft, zugleich aber in dieser Anknüpfung eine Transfor-

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mation seiner Ideen in ein neu strukturiertes Denken vornimmt. Mit dem „Jesuanismus“ ist gemeint, dass die Theologie sich immer wieder an dem konkreten, geschichtlichen, historischen Jesus von Nazareth orientiert – und zwar zu Lasten einer traditionellen Christologie, die später entstandene Glaubensinhalte der Jesusinterpretation hinzufügt oder gar dominant werden läßt. „Seine Vorlesungen über ‚Das Wesen des Christentums‘ beginnt Harnack in Gegenüberstellung zu einem Ausspruch John Stuart Mills, Sokrates betreffend mit dem Hinweis: wichtiger als die Erinnerung an den griechischen Philosophen wäre es, ‚die Menschheit immer wieder daran zu erinnern, daß einst ein Mann namens Jesus Christus in ihrer Mitte gestanden‘ hat. Dieser ‚Mann namens Jesus Christus‘ markiert als Messias designatus die sachliche Mitte aller Geschichte. So könnte man, von hier aus betrachtet, die Theologie Harnacks auch eine jesuzentrische nennen. Harnack zeigt sich gewillt, mit der Menschheit Jesu unbedingt Ernst zu machen. Es geht ihm um die ‚konkrete Persönlichkeit Jesu Christi‘.“86 [. . .] „Für Harnack ist ‚jede Aussage über Jesus Christus, die sich nicht in dem Rahmen hält, daß er ein Mensch war . . . unannehmbar‘.“87 Der Gegensatz von Harnack zu Bonhoeffer, aber auch die Gemeinsamkeiten von Bonhoeffer mit Harnack lassen sich nunmehr benennen. Um mit dem Gegensatz zu beginnen: Bonhoeffer hat sich nicht von der Zwei-NaturenLehre der Christologie distanziert. Ganz im Gegenteil hat er bewusst und entschieden an den dogmatischen Grundentscheidungen der frühen ökumenischen Konzilien festgehalten. Die Formulierungen des Chalcedonense von 451 waren ihm „das Ideal einer theologischen Konzilsaussage. Klar und paradox erhält es lebendig, was von nun an orthodoxe Lehre ist: Christus ist eine Person in zwei Naturen [unvermischt und unverwandelt, ununterschieden und ungetrennt].“88 Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist für Bonhoeffer ein Grundfaktum, das er keinen Moment aus den Augen verliert. Nachdem der Unterschied zu Harnack herausgearbeitet ist, können die „jesuanischen“ Anregungen, die Bonhoeffer trotzdem von Harnack aufgenommen hat, umso unbefangener betrachtet werden. Harnacks Vorlesung über „Das Wesen des Christentums“ beginnt mit der Aufforderung, immer wieder an den „Mann Namens Jesus Christus“ zu erinnern: „Der große Philosoph des Positivismus, J o h n S t u a r t M i l l , hat einmal gesagt, die Menschheit könne nicht oft genug daran erinnert werden, daß es einst einen Mann Namens Sokrates gegeben hat. Er hat recht; aber wichtiger ist es, die Menschheit immer wieder daran zu erinnern, daß einst ein Mann Namens Jesus Christus in ihrer Mitte gestanden hat.“89 Bonhoeffer ist dieser Aufforderung seines Lehrers nachgekommen. Auch er hält die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit dem Menschen Jesus von Nazaret für unverzichtbar – wobei es diesen Menschen Jesus für Bonhoeffer nicht ohne Transzendenz geben

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kann; es ist geradezu das Besondere dieses Menschen, dass in, mit und unter ihm Transzendenzbegegnung stattfindet. Die Begegnung mit dem Menschen Jesus ist also nötig, damit wir wieder zu echter Transzendenzerfahrung zurückfinden. Bereits in dem Buch „Nachfolge“ macht Bonhoeffer deutlich, dass es auch innerhalb der Christologie wichtig bleibt, die Stimme des historischen Jesus wahrzunehmen. Das scheint geradezu die Absicht des Buches „Nachfolge“ zu sein, sich dem zuzuwenden was Jesus tatsächlich gesagt hat und gewollt hat und so die Christologie90 mit neuem Inhalt zu füllen. Christologie soll aufhören, billige Gnade zu verteilen, sie soll dazu anleiten, vor den Ernst des Willens Gottes zu stellen und zum sinnvollen Leben und zum verantwortlichen Tun anzuleiten – und dies soll geschehen in der Begegnung mit dem tatsächlichen Jesus von Nazaret und seiner Auslegung des Willens Gottes in der Bergpredigt. Nicht umsonst beginnt das Buch „Nachfolge“ aus dem Jahr 1937 in seinem „Vorwort“ mit einem “jesuanischen“ Akzent: „Hinter den notwendigen Tages- und Kampfparolen der kirchlichen Auseinandersetzung regt sich ein stärkeres Suchen und Fragen nach dem, um den es allein geht, nach Jesus selbst. Was hat Jesus uns sagen wollen? Was will er heute von uns? Wie hilft er uns dazu, heute treue Christen zu sein? Nicht was dieser oder jener Mann der Kirche will, ist uns zuletzt wichtig, sondern was Jesus will, wollen wir wissen. Sein eigenes Wort wollen wir hören, wenn wir zur Predigt gehen. Daran liegt uns nicht nur um unsertwillen, sondern auch um all der vielen willen, denen die Kirche und ihre Botschaft fremd geworden ist.“91 [. . .] Ein drittes Beispiel für die Art und Weise, wie Bonhoeffer Impulse von Harnack aufnimmt und gleichzeitig transformiert, muss angefügt werden. Es geht dabei um das Handeln, um die Einsicht, dass der Glaube Konsequenzen haben und sich im Handeln und Tun bewähren muss. Harnack zielt auf solches Handeln ab, wenn er am Ende seines Marcion-Buches fragt: „Ist es nicht falsche Innerlichkeit, ja Lieblosigkeit, wenn man gebietet, die ganze Welt als unheilbar preiszugeben, sich nur auf die Predigt des Evangeliums zu beschränken und sonst nicht in Wirken und Tat zu versuchen?“92 Für Harnack waren Wirken und Tat ein unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens, und genauso ist es für Bonhoeffer gewesen. Es fällt schwer, aus der Überfülle an einschlägigen Äußerungen in Bonhoeffers Schriften die wichtigsten Belege und Zitate auszuwählen. In dem Buch „Nachfolge“ plädiert Bonhoeffer dafür, die billige Gnade abzutun und sich auf den Weg der teuren Gnade, die ins Handeln und Tun ruft, zu begeben.93 Berühmt ist Bonhoeffers Äußerung in seinen „Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge“: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und er-

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lösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte [der Predigt, der öffentlichen Belehrung!] kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.“94 Noch kürzer formuliert es Bonhoeffer im Rahmen der Finkenwalder Rundbriefe: „Tun ist das dem Willen Gottes gegenüber allein gemässe Verhalten.“95 Obwohl Harnack und Bonhoeffer das Tun in gleicher Weise betonen, unterscheiden sie sich in der konkreten Ausprägung ihrer diesbezüglichen Vorstellungen. Harnack denkt beim Tun mehr an den Einzelnen, an die „zentrale Rolle der Persönlichkeit“, wie er auch die Religion im „Innenleben“ des einzelnen Menschen ansiedelt. „Er fragt sich, wie der einzelne zu wirkungsvollem Handeln gelangen kann.“96 Bonhoeffer hingegen steht die „handelnde Gemeinde“ bzw. handelnde Kirche vor Augen; auch wo die Kirche verkündigt, soll sie die Dimension des Handelns mit einbeziehen, wie umgekehrt das Handeln eine Form der nonverbalen bzw. nicht-religiösen Verkündigung sein kann. Das Handeln wird für die Kirche in aller Regel die Form der öffentlichen Rede annehmen – nämlich der synodalen Stellungnahme zu aktuellen Fragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens sowie des Mundauftuns in Stellvertretung für bedrohte, verfolgte und zum Verstummen gebrachte Menschen, im Eintreten für deren Lebensinteressen und im Einfordern von deren Beachtung bei der Schaffung von Recht und Gerechtigkeit. Bonhoeffers theologische Arbeit und seine Mitarbeit in der Bekennenden Kirche waren der Versuch, bei der Ingangsetzung eines solchen „Handelns“ mitzuhelfen. Aufs Ganze gesehen hat Bonhoeffer jedoch immer wieder Enttäuschungen erleben müssen. [. . .] Es folgen zwei „Enttäuschungserfahrungen“ Bonhoeffers: Die internationale Jugend-Friedenskonferenz 1932 in der CSSR und die „Steglitzer Synode“ der BK im Jahr 1935 . . . Für das Konzept Bonhoeffers, dass Gemeinde und Kirche eine Handlungsverantwortung haben, war dies Ergebnis eine abermalige Enttäuschung. Allmählich fingen solche Erfahrungen an, Bonhoeffers Optimismus in Sachen Verantwortungsbereitschaft der Kirche für die Stummen und Verfolgten zu untergraben. Interessant ist nun, wie Bonhoeffer darauf reagiert. Er nähert sich den Positionen Harnacks wieder an, kehrt aber trotzdem nicht einfach zu ihnen zurück, sondern modifiziert sie wesentlich. Nicht der Einzelne ist die Lösung des Problems. Bonhoeffer bleibt dabei, dass sich Menschen zusammentun sollen, um gemeinsam sinnvolles notwendiges Handeln zu realisieren. Aber er zieht allmählich den Kreis der Menschen, die in solche Handlungszusammenhänge eingebunden wer-

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den, immer weiter. Nach seinen Erfahrungen mit Kirche kann er nicht mehr glauben, dass nur dort, wo Kirchenmenschen unter sich sind, optimales Handeln entsteht. Die Zusammenarbeit mit Nicht-Kirchlichen und Nicht-Christen wird für ihn immer deutlicher ein Thema. In der Zusammenarbeit aller Menschen, die guten Willens sind und der Gerechtigkeit nachstreben, erblickt er zunehmend eine Herausforderung für das eigene Selbstverständnis. Die nicht-religiöse Interpretation des christlichen Glaubens gewinnt praktische Bedeutung. Erste Spuren einer Öffnung hin zu Kooperationspartnern außerhalb der Kirche finden sich in dem Buch „Nachfolge“ (1937). In der Auslegung von Matth. 5,10 „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr“ schreibt Bonhoeffer: „Es ist hier nicht die Rede von der Gerechtigkeit Gottes, sondern vom Leiden um einer gerechten Sache [. . .] willen.“97 Ein paar Sätze später unterstreicht er: „Es ist wichtig, daß Jesus seine Jünger auch dort selig preist, wo sie nicht unmittelbar um des Bekenntnisses zu seinem Namen willen, sondern um einer gerechten Sache willen leiden.“98 [. . .] In der Ethik, die Bonhoeffer in den Jahren 1940 bis 1943 niederschreibt, reflektiert er die Handlungsverantwortung, die sich immer wieder innerhalb und außerhalb von Gemeinde und Kirche neue Bundesgenossen sucht, ausdrücklicher und vertiefter. Es geht um Kooperationspartnerschaft – deren theoretische Begründung bei Harnack zwar sehr anders aussieht, deren faktischer Vollzug aber als ein liberales Erbe Bonhoeffers bezeichnet werden kann. In dem Text „Erbe und Verfall“, der sich in der Ethik findet,99 wird diese „Bundesgenossenschaft“ das erste Mal angesprochen. Die These des Textes: Das Abendland verweigert sein Erbe, wird christusfeindlich und droht so dem Verfall anheimzufallen. In dem Verfallsprozess „stehen die christlichen Kirchen als die Hüter des Erbes“.100 Daneben gibt es „das Aufhaltende“, das heißt jenen „Rest an Ordnungsmacht, der sich noch wirksam dem Verfall widersetzt.“101 Über „das Aufhaltende“ wagt Bonhoeffer folgende Aussage: „‘Das Aufhaltende‘, die Ordnungsmacht aber sieht in der Kirche den Bundesgenossen, und alles was an Elementen der Ordnung noch vorhanden ist sucht die Nähe der Kirche. Recht, Wahrheit, Wissenschaft, Kunst Bildung, Menschlichkeit, Freiheit, Vaterlandsliebe, finden nach langen Irrwegen zu ihrem Ursprung zurück.“102 In einem zweiten Text der Ethik, nämlich in dem Abschnitt „Kirche und Welt I.“,103 kommt Bonhoeffer noch einmal auf diese „Bundesgenossenschaft“ zu sprechen. Er wird noch ausführlicher, und es wird deutlicher, was er meint. „Wir beginnen diesen Abschnitt [‚Kirche und Welt I.‘], indem wir auf eine der erstaunlichsten Erfahrungen aufmerksam machen, die wir in den Jahren der Bedrängnis alles Christlichen gemacht haben: es

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genügte gegenüber der Vergötterung des Irrationalen des Blutes, des Instinktes, des Raubtiers im Menschen der Appell an die Vernunft, es genügte gegenüber der Willkür der Appell an das geschriebene Recht, gegenüber der Barbarei der Appell an Bildung und Humanität, gegenüber der Vergewaltigung der Appell an Freiheit, Toleranz und Menschenrechte, gegenüber der Politisierung von Wissenschaft, Kunst und so weiter der Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Lebensbereiche, um sofort das Bewußtsein einer Art Bundesgenossenschaft zwischen den Verteidigern dieser unter Anklage geratenen Werte und den Christen wachzurufen. Vernunft, Bildung, Humanität, Toleranz, Eigengesetzlichkeit – alle diese Begriffe, die noch bis vor kurzem als Kampfparolen gegen die Kirche, gegen das Christentum, gegen Jesus Christus selbst gedient haben, fanden sich auf einmal überraschend dem Bereich des Christlichen ganz nahe gerückt. Dies geschah in einem Zeitpunkt, in dem alles Christliche wie nie zuvor in die Enge getrieben war, in dem die zentralen christlichen Glaubenssätze in härtester, kompromißlosester und aller Vernunft, Bildung, Humanität und Toleranz anstößigster Form herausgestellt wurden. Ja, in genau umgekehrtem Verhältnis zu der gewaltsamen Bedrängnis und Einengung alles Christlichen fiel diesem die Bundesgenossenschaft der genannten Begriffe zu, empfing es durch sie eine nicht geahnte Weite. Dabei war es deutlich, daß es nicht die Kirche war, die den Schutz und die Bundesgenossenschaft der genannten Begriffe suchte, sondern es waren umgekehrt diese Begriffe, die irgendwie heimatlos geworden waren und nun Zuflucht suchten im Bereich des Christlichen, im Schatten der christlichen Kirche. Es entspräche keineswegs der Wirklichkeit, diese Erfahrung so zu deuten als hätte es sich dabei um eine reine Kampfgenossenschaft gehandelt, also um eine Zweckgemeinschaft, die mit der Beendigung des Kampfes wieder aufgelöst würde. Das Entscheidende ist vielmehr, daß eine Rückkehr zum Ursprung stattfand, – die selbständig gewordenen, entlaufenen Kinder der Kirche kehrten in der Stunde der Gefahr zu ihrer Mutter zurück. Wenn sich auch in der Zeit der Entfremdung ihr Aussehen und ihre Sprache sehr verändert hatte, so erkannten sich im entscheidenden Augenblick Mutter und Kinder wieder. Vernunft, Recht, Bildung, Humanität, und wie die Begriffe alle heißen, suchten und fanden in ihrem Ursprung neuen Sinn und neue Kraft.“104 Es ist kein Zufall, dass in der Zeit der Krise und der Gefahr das liberale Erbe einer Bundesgenossenschaft zwischen allen Menschen, die den Werten Vernunft, Recht, Bildung und Humanität verpflichtet sind, wieder ins Bewusstsein tritt und neu zum Tragen kommt. Ähnlich sieht es Carl-Jürgen Kaltenborn. Auch er sieht die Hinwendung zu den liberalen Grundwerten veranlasst und befördert durch die Zuspitzung der gesellschaftlichpolitischen Situation Ende der dreißiger/Anfang der vierziger Jahre des

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letzten Jahrhunderts. Er schreibt: „Aufs Ganze gesehen, läßt sich feststellen, daß die einschneidende Veränderung seiner Situation (Hinwendung zum aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus) Bonhoeffer automatisch auf diejenigen Elemente in seinem Arsenal zurückgreifen läßt, die am geeignetsten erscheinen, auf dem vollen Einsatz und ständige Verantwortungsbereitschaft fordernden Wege gehen zu können. Bonhoeffer läßt sich auf ein lebensgefährliches Unternehmen gegen die an der Macht befindliche finsterste Reaktion ein. In dieser Lage schieben sich die stärksten Momente seiner Bürgerlichkeit in den Vordergrund. In diesem Kontext muß man nun auch die Aufarbeitung derjenigen theologischen Fragenkomplexe einschätzen, die ihm durch Vermittlung hauptsächlich Harnacks aufgegeben worden sind: der erneute Durchbruch seines liberalen Erbes.“105 [. . .]

3. Bonhoeffer als „moderner“ Theologe mit liberalem Erbe Am 3. 8. 1944 übersendet Bonhoeffer den „Entwurf für eine Arbeit“ an Eberhard Bethge. In dem Begleitbrief nimmt er eine theologische Selbstbeschreibung vor: „Beiliegend findest Du einen Entwurf für eine Arbeit. Ich weiß nicht, ob Du etwas daraus entnehmen kannst; aber ich denke schon, daß Du etwa verstehst, was ich meine. Ich hoffe, daß ich Ruhe und Kraft behalte, diese Schrift zu schreiben. Die Kirche muß aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgeführt werden. Ich fühle mich als ein ‚moderner‘ Theologe, der doch noch das Erbe der liberalen Theologie in sich trägt, verpflichtet, diese Fragen anzuschneiden. Es wird unter den Jüngeren nicht viele geben, die das beides in sich verbinden.“106 Bonhoeffer hat in der liberalen Schule gelernt, er ist durch die Begegnung mit der Dialektischen Theologie eines Karl Barth zum „modernen“ Theologen geworden. Beide Traditionsstränge hat er in sich aufgenommen, miteinander verbunden. Eine Zeit lang war Bonhoeffer stärker nur von einem der beiden Traditionsstränge, nämlich von der Theologie Karl Barths geprägt. Aber in späteren Jahren kamen die liberalen Elemente eines Adolf von Harnack wieder deutlicher zum Vorschein. In der letzten Lebensphase Bonhoeffers kann von einer gleich starken, gleichberechtigten Prägung durch diese beiden Traditionsströme gesprochen werden. Der „Entwurf für eine Arbeit“ ist dafür ein gutes Beispiel. Bonhoeffer will den „Entwurf“ zur Ausführung bringen, weil er hofft, damit „für die Zukunft

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der Kirche einen Dienst tun zu können“.107 Das ist der Zielpunkt, nämlich der Kirche wieder zu vollmächtiger Verkündigung und zu glaubhaftem Handeln zu verhelfen. Theologie, Leben und Gestalt der Kirche müssen sich tiefgreifend verändern, wenn der Neuanfang gelingen soll. Es wird nicht reichen, sich dabei auf die Theologie eines Karl Barth bzw. einer Bekennenden Kirche zu beziehen. Auch die Impulse aus der Harnackschen Theologie warten darauf, aufgenommen und umgesetzt zu werden. [. . .] Nachdem das erste Kapitel des „Entwurfs“ das Thema „Mündigkeit“ behandelt hat, beschäftigt sich das zweite Kapitel mit dem Thema „Was glauben wir wirklich?“. Die beiden Themen „Mündigkeit“ und „Was glauben wir wirklich?“ bilden sowohl bei Harnack als auch bei Bonhoeffer einen engen Zusammenhang. Wer sich als mündiger Mensch versteht und auch in Glaubensfragen von seiner Kirche als ein solcher behandelt wird, stößt irgendwann auf die Frage: Was glaube ich wirklich? Was sind meine mich tragenden und leitenden religiösen Grundüberzeugungen? Das Nachsprechen von alten Glaubensbekenntnissen kann die Frage nach meinen eigenen Glaubensüberzeugungen nicht erübrigen. Der Weg vom gedankenlosen Nachsprechen und von den Zwängen der Anpassung hin zur Mündigkeit und zu eigenen Glaubensvorstellungen mag mühsam sein, „aber wenn wir nun zur Mündigkeit erwachen – wem wird die Frage erspart: Weißt du auch, an wen du glaubst?“108 „Harnack will eine Kirche der Mündigen, in der man weiß, was man glaubt.“109 [. . .] Ähnlich wie Harnack [in seiner Stellungnahme zum sog. „Apostolikumstreit“ aus dem Jahr 1892] hat sich auch Dietrich Bonhoeffer geäußert. Auch er wendet sich dagegen, die Aussagen des Apostolikums zu einem Denk- und Sprechkorsett verkommen zu lassen.110 In seiner Vorlesung „Das Wesen der Kirche“ 1932 nimmt Bonhoeffer ausführlich Stellung: „Das Bekenntnis muß ganz wahr sein. [Es ist] Antwort auf das wahre Wort Gottes. Bekenntnis ist Sache unmittelbarer Gegenwart! [. . .] ‚Ich erkenne Deine Wahrheit und bekenne sie!‘ Was die Wahrheit sagt, muß das Bekenntnis geben. Bonhoeffer [wendet] gegen das Apostolische Glaubensbekenntnis [ein]: Fragen des Liberalismus (und Harnacks) [sind] noch offen, [das] ist nicht erledigt. Bekenntnis ist Sache unseres wahren Stehens vor Gott! Bekenntnis ist nicht unsicher, [es] ist das Sich-bekennen zur Wahrheit. [. . .] Das Wort selbst muß wahr sein! Nicht das Gemeinte allein! ‚Niedergefahren zur Hölle‘, ‚Jungfrauengeburt‘.111 [. . .] [Das] Apostolikum ist der evangelischen Confessio nicht angemessen! Ordination der Pfarrer auf das Apostolikum hin ist unhaltbar!“112 Es ist deutlich, wie Bonhoeffer in dieser Frage in der Tradition eines Adolf von Harnack steht. Es gibt übrigens für das Apostolikum einen Umformulierungsvorschlag Bon-

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hoeffers. In dem Katechismusentwurf „Glaubst du, so hast du“ aus dem Jahr 1931/32 spricht Bonhoeffer von der „Mutter Maria“,113 nicht von der „Jungfrau Maria“. Wir würden heute vielleicht formulieren: von der “Jüdin Maria“ – um deutlich zu machen, dass Jesus ein Jude war, und damit den Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum zu unterstreichen. [. . .] Bonhoeffers „Entwurf für eine Arbeit“ ist voll von Harnackscher Theologie. Dies gilt auch für den Fortgang des dritten Kapitels des „Entwurfs“. Bonhoeffer erläutert im Fortgang, was es mit dem „Dasein für andere“ auf sich hat. Er verweist auf das menschliche Vorbild, das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat, und knüpft damit an den Jesuanismus des Adolf von Harnack, der die Menschheit Jesu und sein menschliches Vorbild betonte, an. Wörtlich notiert Bonhoeffer: Die Kirche „muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, ‚für andere dazusein‘. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Bescheidenheit, Genügsamkeit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen ‚Vorbildes‘ (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.“114

4. Versuch einer Zwischenbilanz Harnack hat von seiner Kirche viel Zurückweisung und Enttäuschung erlebt. Deswegen schwingt bei ihm gelegentlich „Resignation an der offiziellen Kirche“115 mit. Seine „Theologie ist zutiefst kontroverstheologisch, und zwar mit der Stoßrichtung nach innen.“116 Ähnlich ist es Bonhoeffer ergangen. Er war kein Synodaler der Bekennenden Kirche. An der Beschlussfassung in Barmen und Dahlem 1934 war er nicht beteiligt. In dem institutionellen Aufbau der Bekennenden Kirche war er nur von sehr begrenztem Durchsetzungseinfluss. Wie Harnack war er im Bereich der wissenschaftlichen Theologie und der Theologenausbildung tätig – und gehörte somit in jenen „Randbereich“ der Amtskirche, dessen Stimmen und Wünsche die offiziellen Kirchenleitungen jederzeit überhören oder übergehen können. Was Harnack betrifft, so sind seine eigenen Äußerungen vielsagend und aufschlussreich. „In einem Brief vom 21. Oktober 1899 an Martin Rade [1857–1940; evangelischer Theologe und linksliberaler Politiker]

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heißt es: ‚Ich will der Kirche, unsern vielfach kümmerlichen Reformationskirchen, dienen . . . weil ich die Pflicht fühle, die ich nicht abwerfen darf, solange ich in einem halb kirchlichen Amt stehe . . . Es wäre mir viel bequemer, die Kirche laufen zu lassen . . . Die Kirchen würden sich freuen; denn gedankt haben sie mir noch nie etwas; aber mein historisches Gewissen und die Rücksicht auf die Studenten, die mir auf die Seele gelegt sind, verbieten mir das.‘“117 [. . .] Im weiteren Verlauf seines Lebens scheint bei Harnack Resignation in Ironie umzukippen. Jedenfalls hat Dietrich Bonhoeffer diesen Harnack, in dem sich nicht nur theologische Kompetenz und Ausbildungsverantwortung für seine Studenten, sondern auch Resignation und Ironie finden, intensiv kennengelernt. Als sein Nachbar ist er ihm begegnet, als Student ist er in seine Schule gegangen und von ihm mitgeprägt worden. Harnack wollte seine Kirche verändern, um dann irgendwann einzusehen: „Es geht nicht.“ Den Impuls, dass die Kirche eine andere werden muss, hat Bonhoeffer von Harnack übernommen. Mit seinem kirchlich-theologischen Wirken hat Bonhoeffer einen erneuten Versuch gestartet, diese Veränderungsaufgabe anzupacken. Auch Bonhoeffer war gegenüber seiner Kirche sehr skeptisch – und mit dieser Skepsis meinte er nicht die deutsch-christlich unterwanderte Amtskirche, die in seinen Augen längst aufgehört hatte, Kirche zu sein, sondern seine Bekennende Kirche. In den Mitte Mai 1944 in der Tegeler Gefängniszelle verfassten Gedanken zum Tauftag seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, das er mit diesem Text persönlich anspricht, ist zu lesen: „Unsere [Bekennende] Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis Du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.“118 Bonhoeffer sah den Kirchenkampf im „Dritten Reich“ als eine Zeit der „Umschmelzung“ der kirchlichen Verhältnisse. Die „Gestalt der Kirche“ wird sich „sehr“ verändern, sie wird sich „grundlegend“ verändern – davon war Bonhoeffer überzeugt. Für die Zeit des Übergangs sieht er zwei Möglichkeiten: Entweder führt die Krise die Kirche in „Umkehr und Läu-

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terung“, oder der bereits in Gang befindliche Veränderungsprozess wird „vorzeitig“ abgebrochen, Umkehr und Läuterung werden verweigert und „neue organisatorische Machtentfaltung“ wird wieder angestrebt. Aber der bereits in Gang befindliche Veränderungsprozess kann dadurch, dass er vorzeitig abgebrochen wird, nicht gänzlich verhindert werden. Das Neuwerden der Gestalt der Kirche ist so unabweisbar und unabdingbar, dass es sich irgendwann durchsetzen wird. Die Kräfte der Restauration können den Gestaltwandel der Kirche nur verzögern, nicht für immer verhindern. Dieser Analyse Bonhoeffers kann nur zugestimmt werden. Sie beruht auf dem Vertrauen, dass Gott seine Kirche nicht im Stich lassen, sondern durch alle Krisen hindurch auf dem Weg des Evangeliums führen wird. Das Wort Gottes soll sich in der Kirche und durch die Kirche hindurch immer wieder Gehör verschaffen. Gott hat zugesagt, dass sein Wort nicht leer zurückkehren wird, sondern tun, wozu es gesandt ist (Jesaja 55, 11). [. . .] Bonhoeffers Ekklesiologie war die Vision einer Gemeindekirche. Die Formel „Kirche ist Christus als Gemeinde existierend“119 belegt dies ausdrücklich. Sabine Bobert führt aus, mit der Vision einer „Kirche für andere“ sei eine „Kirche auf dem Weg nach unten“120 gemeint. Es ist eine Kirche, die sich aus den Bindungen an den Staat löst und von sich aus auf lähmende Privilegien verzichtet. Im Schlussteil ihrer Ausführungen stellt sie fest: „Die innerkirchliche Restauration in der Nachkriegszeit setzte den Anfängen einer Läuterung und einer Gleichgestaltung der Kirche mit dem Wesen des mitleidenden Christus ein Ende.“121 Wolfgang Hubers Tatsachenfeststellung ist zuzustimmen – ohne damit auch seinen ekklesiologischen Begründungen und Bewertungen recht zu geben: „Trotz aller Bemühungen – mehr als anderswo [gab es solche Bemühungen] in den evangelischen Kirchen in der ehemaligen DDR – komme ich zu dem Resultat: In der institutionellen Gestalt der Kirche hat sich Bonhoeffers Vision nirgendwo durchgesetzt. Keinen Ort könnte ich nennen, an dem seine Überlegungen direkt in die dauerhafte Gestaltung eines institutionellen Kirchenkörpers umgesetzt worden wären.“122 Bonhoeffer hat Harnacks Reformimpulse aufgenommen, verstärkt, konkretisiert und dabei natürlich auch verändert – in jenem Transformationsprozess, der sich ergibt, wenn liberale und dialektische Theologie aufeinander stoßen und sich ineinander verschränken. Beide Theologen sind (bisher?) an den Realitäten der faktisch existierenden „Kirche“ gescheitert. [. . .]

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Anmerkungen Hg: Der Vortrag wurde zuerst abgedruckt als Sonderdruck in „Kirche in der Zeit – Evangelischer Informations- und Nachrichtendienst“. Wiederabdruck in: MW II, 92–103. 2 Hg: Erst nach Bethges Vortrag ab 1956 setzte die „erste Welle sporadischer ernsthafter Arbeiten“ (DB 999 samt Anm. 268) über Bonhoeffer ein. Noch einmal etwas später ab 1963 kommt es zur „zweiten umfassenderen“ Welle der Bonhoeffer-Literatur (DB 999 samt Anm. 269 und 270). 3 Hg: Der Begriff „mönchisch“ ist missverständlich. Bonhoeffer hat seine Form des „gemeinsamen Lebens“ immer wieder von den Vorstellungen traditionellen Mönchtums abgesetzt. Vgl. die Betonung, dass er „nicht klösterliche Abgeschiedenheit“ meine (FRB:M 96). 4 Hg: DBW 8, 555. 5 Hg: Wiedergabe des Textes aus: Mündige Welt II, S. 94–102 (nur das II. Kapitel des Vortrags). Eberhard Bethge hat seine Anmerkungen in den Text eingearbeitet. 6 Hg: DBW 8, 187. 7 Hg: DBW 8, 352. 8 Hg: DBW 8, 288f. 9 Hg: DBW 15, 371–406. 10 Hg: FRB:M 94ff. 11 Hg: DBW 14, 107f. 12 Hg: DBW 8, 301. 13 Hg: DBW 4. 14 Hg: DBW 5. 15 Hg: DBW 8, 501. 16 Hg: DBW 8, 441. 17 Hg: FRB:M 584f. 18 Hg: DBW 15, 56. 19 Hg: DBW 8, 435. 20 Hg: DBW 8, 560. 21 Hg: Mit „Schwärmer“ ist hier jemand gemeint, der die begrenzten Veränderungsmöglichkeiten der real existierenden Kirche aus den Augen verliert zugunsten seines Wunschbildes von Kirche. 22 Hg: DBW 10, 347. 23 Hg: DBW 8, 555. 24 Hg: Hypochonder = Schwermütiger, eingebildeter Kranker. 25 Hg: Eberhard Bethge hält seinen Vortrag auf der Feier zum 10jährigen Todestag Dietrich Bonhoeffers, veranstaltet von der Evangelischen Kirche der Union in Bonn am 11. 4. 1955. 26 Hg: Auswahl des Briefwechsels gemäß: MW I, 106–122. Wiedergabe der einzelnen Briefe aus dem jeweiligen Band von DBW, jedoch ohne die Fußnoten. 27 Hg: DB 102. 1

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Hg: DB 226. Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 37f. 30 Hg: Die „zählebigen Fragen“ sind Fragen „nach der Vollmacht und Glaubwürdigkeit“ in der konkreten Verkündigung bzw. in der konkreten ethischen Weisung (so Eberhard Bethge in: DB 227). 31 Hg: „Mit Gottes Hilfe und unseren Gebeten“. 32 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 48f. 33 Hg: „Durch Günther Dehn fand er [Bonhoeffer] den Weg zu Gertrud Staewen, bei der Barth in Berlin zu logieren pflegte und wo sich der kleine Kreis Berliner Mitstreiter [von Karl Barth] traf“ (DB 217). 34 Hg: Gemeint ist Bonhoeffers Aufsatz „Zu Karl Heims Glauben und Denken“. 35 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 56f. 36 Hg: Vgl. den Brief von Barth an Bonhoeffer vom 18. April 1933. 37 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 60f. 38 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 62. 39 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 124f. 40 Hg: Vgl. K. Barth, Theologische Existenz heute, 24f. 41 Hg: Durch den Beschluss der altpreußischen Generalsynode vom 6. 9. 1933 mit der Übernahme des staatlichen „Arierparagraphen“. 42 Hg: „Wort oppositioneller Pfarrer“ vom 7. 9. 1933, mit dem die unverzügliche Aufhebung des „Arierparagraphen“ in dem neuen kirchlichen Beamtengesetz gefordert wird (DBW 12, 123). 43 Hg: Gemeint ist die „August-Fassung“ des Betheler Bekenntnisses (DBW 12, 362ff). Die „August-Fassung“ ist die von Bonhoeffer mitverfasste „Erstfassung“, die späteren Fassungen bzw. die Druckfassung, weil in der „Judenfrage“ bis zur Unkenntlichkeit verwässert, hat Bonhoeffer nicht mehr mitgetragen. 44 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 12, 125ff. 45 Hg: Bonhoeffer hatte die „August-Fassung“ des Betheler Bekenntnisses offenbar separat an Barth geschickt. Dieser erhielt den Text erst am 12. 9. 1933. Barths Stellungnahme zur „August-Fassung“ in: MW V, 106f. 46 Hg: Das von Niemöller, Bonhoeffer und anderen aufgesetzte „Wort oppositioneller Pfarrer“ vom 7. 9. 1933, mit dem die unverzügliche Aufhebung des „Arierparagraphen“ in dem neuen kirchlichen Beamtengesetz gefordert wird. 47 Hg: Barth erhielt den Text des „Betheler Bekenntnisses“ in einem separaten Brief Bonhoeffers am 12. 9. 1933. 48 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 13, 11ff. 49 Hg: Nach der „Braunen Synode“ der altpreußischen Kirche Gründung des Pfarrernotbundes und Weltbundtagung in Sofia (vgl. DB 357ff). 50 Hg: Laut E. Bethge GS II, 131: F. Hildebrandt. Vielleicht ist aber Elisabeth Zinn gemeint. 51 Hg: Bonhoeffer und Hildebrandt hatten in Berlin im Juni das Interdikt (Beerdigungsstreik) im Protest gegen den Staatskommissar, im September angesichts des kirchlichen Arierparagraphen den Schritt zum Schisma (Trennung von der 29

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häretischen Kirche) gefordert und beide Male innerhalb der kirchlichen Opposition kein Verständnis dafür gefunden (vgl. DB 343f und 361f). 52 Hg: II Chr 20,12: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber unsere Augen sehen nach dir.“ 53 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 13, 31ff. 54 Hg: I Reg 19,4: „Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise, und kam hinein und setzte sich unter einen Wacholder, und bat, daß seine Seele stürbe . . .“ 55 Hg: Jon 4,5–11. In älteren Übersetzungen wird die Jona Schatten spendende Pflanze als „Kürbis“ bezeichnet (z. B. auch in Luthers Deutscher Bibel von 1545), in neueren als „Rizinus“ (so in der Lutherbibel wie auch in der Zürcher Bibel von 1911). 56 Hg: Botschaft und Schüler nicht identifizierbar. 57 Hg: Auseinandersetzung mit M. Niemöller am 14. 11. 1933 in Berlin über das weitere Vorgehen der kirchlichen Opposition nach dem Sportpalast-Skandal (vgl. K. Scholder, Kirchen I, 706f). 58 Hg: Hebr 12,12f: „Darum richtet wieder auf die lässigen Hände und die müden Kniee und tut gewisse Tritte mit euren Füßen . . .“ 59 Hg: Zitat aus Fr. Schiller, Wilhelm Tell I,1. 60 Hg: F. Hildebrandt, EST. Das lutherische Prinzip, 1931. 61 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 14, 234ff. 62 Hg: „Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag“ 1936, hg. von Ernst Wolf. 63 Hg: Siehe Barths Buch „Fides quaerens intellectum“ 1931. 64 Hg: Bonhoeffers Aufsatz „Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft“ (DBW 14, 655ff.). 65 Hg: Wiedergabe des Briefes aus: DBW 14, 249ff. 66 Hg: Das von Bonhoeffer verfasste Buch „Nachfolge“ erschien 1937 (DBW 4). 67 Hg: KD I/2; der Band erschien 1938. 68 Hg: Deo bene volente („so Gott will“); vgl. Jak 4,15. 69 Der Beitrag von Karl Martin über „Bonhoeffers liberales Erbe“ wurde zuerst veröffentlicht in: Winfried Döbertin, Adolf von Harnack: Liberaler Theologe – Wegbereiter der Moderne – Lehrer Dietrich Bonhoeffers, Fenestra-Verlag Wiesbaden-Berlin 2013, S. 209–252. Hier um etwa die Hälfte gekürzt (vor allem Anmerkungen). 70 DB, S. 97. Bonhoeffers Worte an Harnack werden auch zitiert von Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 107. 71 Bonhoeffers „Rede zum Gedächtnis Adolf von Harnacks“ findet sich in den Dietrich Bonhoeffer Werken (DBW) Band 10, S. 346–349. 72 DB, S. 95f. 73 Die Vorlesung über „Die Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts“ findet sich in DBW 11, 139–213. Das Kapitel über „Das Wesen des Christentums“ findet sich ebendort Seite 164–172. 74 Carl-Jürgen Kaltenborn, Adolph von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers, Evangl. Verlagsanstalt (Ost)Berlin 1973, S. 114.

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Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 115f. DB, S. 53. 77 DBW 8, 304. Eine weitere Erwähnung der „Geschichte der Akademie“ in DBW 8, 335. 78 DBW 8, 349. Interessant ist, dass Bonhoeffers Beschäftigung mit Dilthey durch die Harnack-Lektüre angeregt worden zu sein scheint. 79 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 54f. 80 Bonhoeffer in seinem Brief vom 25. Juni 1942 an Eberhard Bethge: „an Gott, an Christus muß ich immerfort denken, an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel. Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich“ (DBW 16, 325). 81 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 55. 82 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 3. Auflage 1900, S. 8f. 83 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 120. 84 DBW 8, 352f. 85 DBW 6, 404f. 86 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 33. 87 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 34. Kaltenborn zitiert hier aus Adolf von Harnack, Reden und Aufsätze, Neue Folge, S. 223. 88 Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Eberhard Bethge. Dritter Band „Theologie – Gemeinde: Vorlesungen · Briefe · Gespräche 1927 bis 1944“. Chr. Kaiser Verlag München 1966, S. 219. 89 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 3. Auflage 1900, S. 1. 90 Seine Christologie hat Bonhoeffer entfaltet in der Christologie-Vorlesung Sommersemester 1933 (DBW 12, 279–348), also bereits vor dem Buch „Nachfolge“. 91 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4, 21. 92 Adolf von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, S. 234. Vgl. Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 128 Anm. 18. 93 Vgl. den Abschnitt „Die teure Gnade“ in Bonhoeffer Buch „Nachfolge“ DBW 4, 29–43. 94 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 435f. 95 „Bonhoeffer in Finkenwalde: Briefe, Predigten, Texte aus dem Kirchenkampf gegen das NS-Regime 1935–1942“. Studienausgabe mit Hintergrunddokumenten und Erläuterungen. Herausgegeben von Karl Martin unter Mitarbeit von L.-Maximilian Rathke, Fenestra-Verlag Wiesbaden-Berlin 1. Aufl. Dez. 2012, S. 415. 96 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 132. 97 DBW 4, 108. 98 DBW 4, 108. 99 DBW 6, 93–124. 100 DBW 6, 123. 76

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DBW 6, 123. DBW 6, 124. 103 DBW 6, 342–353. 104 DBW 6, 342–344. 105 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 129. 106 DBW 8, 555. 107 DBW 8, 561. 108 Adolf von Harnack, Reden und Aufsätze I, S. 290. Vgl. Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 34 Anm. 14. 109 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 33. 110 Zu Bonhoeffers Auffassung vom Apostolikum vgl. DBW 1 (SC), 134, 272 und 295. Kritische Äußerungen zum zweiten Artikel des Apostolikums finden sich außerdem schon in Bonhoeffers Katechetischem Entwurf aus dem Jahr 1926 (DBW 9, 546ff.). 111 „Diese Aussagen des Apostolikums [Niedergefahren zur Hölle und Jungfrauengeburt] waren bereits von Harnack kritisch angesprochen worden“ (DBW 11, 284 Anm. 312). 112 DBW 11, 283ff. 113 DBW 11, 233. 114 DBW 8, 560f. 115 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 69. 116 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 69. 117 Carl-Jürgen Kaltenborn, a. a. O., S. 68. 118 DBW 8, 435f. 119 DBW 1, 142. Vgl. auch DBW 1, 126f. 120 Vgl. Sabine Bobert, Kirche für andere – das Kirchenverständnis Dietrich Bonhoeffers, in: Karl Martin (Hrsg.), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln, Berliner Wissenschafts-Verlag 2008, S. 225–236. 121 Sabine Bobert, Kirche für andere, a. a. O., S. 235. 122 Wolfgang Huber, Ein Dienst für die Zukunft der Kirche – Überlegungen im Anschluß an Dietrich Bonhoeffers ‚Entwurf für eine Arbeit‘, in: BonhoefferRundbrief der ibg Nr. 42/43 – November 1993, S. 23–45, bes. S. 42. 102

4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden Vorbemerkungen Zu 4.1 Das Aufbrechen der „Judenfrage“ Im März/April 1933 entsteht der Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“, mit dem Bonhoeffer gegen das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mit dem sogenannten Arierparagraphen vom 7. 4.1933 protestiert. Bonhoeffer sieht es als gegenwärtige Aufgabe für die Kirche, dem Staat die „Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns“ vorzulegen, ihn also mit dem nicht nur bedenklichen, sondern bereits unzulässigen Charakter seines Handelns zu konfrontieren. Eine letzte Möglichkeit kirchlichen Handelns „besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Solches Handeln wäre unmittelbar politisches Handeln der Kirche“. Die Kirche sollte sich darauf einstellen, dass die Situation für ein solches unmittelbar politisches Handeln jederzeit eintreten kann. Während sich die Arier-Gesetzgebung ursprünglich nur auf den staatlichen Bereich beschränkte, setzten sich in den kommenden Monaten immer mehr die Kräfte durch, die eine Einführung des Arierparagraphen auch in der Kirche forderten. Die Thesenreihe „Der Arier-Paragraph in der Kirche“ ist im August 1933 entstanden, im Vorfeld der altpreußischen Generalsynode am 5./6. 9.1933. Bonhoeffer möchte die oppositionellen Kräfte stärken, die sich gegen die Einführung des Arier-Paragraphen in der altpreußischen Kirche zur Wehr setzen.

Zu 4.2 Spätere Äußerungen Bonhoeffers zum Judentum In einer Äußerung aus dem Jahr 1940/41, die sich in seiner „Ethik“ findet, stellt Bonhoeffer fest, dass das Schicksal des Judentums und das Schicksal des Christentums untrennbar miteinander verbunden sind. Die Verfolgung des Judentums muss die Verstoßung des Christentums nach sich ziehen; „denn Jesus Christus war Jude“ und „Der Jude hält die Christusfrage offen“. Bei der zweiten Äußerung aus dem Jahr 1940/41 handelt sich um einen Abschnitt aus dem „Schuldbekenntnis der Kirche“, das Bonhoeffer in seine „Ethik“ eingearbeitet hat. Die Kirche ist an den Juden schuldig geworden, weil sie den „Schwächsten und Wehrlosesten Brüdern Jesu Christi“ nicht zu Hilfe geeilt ist.

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Zu 4.3 Auf dem Weg zu einer „Theologie nach dem Holocaust“ Eberhard Bethge unternimmt in seinem Vortrag „Dietrich Bonhoeffer und die Juden“ (1979) den Versuch, Bonhoeffers Umdenken in der Judenfrage in seinen einzelnen Etappen zu beschreiben. Aus dem „verstoßenen Volk“ unter dem „Fluch“ werden die „Brüder“ – anfänglich sind mit der Anrede „Brüder“ nur die zum Christentum konvertierten Juden gemeint1, später werden alle Juden als „Brüder“ wahrgenommen2 – die Christen sind ihnen gegenüber zum „Mitleiden“ aufgerufen.3

Zu 4.4 Theologie nach Auschwitz und die Christologie Axel Denecke führt Bethges Interpretation durch die Analyse von Bonhoeffers Aussage „Der Jude hält die Christusfrage offen“ weiter und fragt nach den bis heute noch uneingelösten theologischen Implikationen dieser provokanten These Bonhoeffers mit der Zuspitzung „Christus hält die Judenfrage offen“. Das wäre die konsequente Umsetzung einer „Theologie nach Auschwitz“ im Sinne Bonhoeffers.

4.1 Das Aufbrechen der „Judenfrage“ Die Kirche vor der Judenfrage Dietrich Bonhoeffer4 Zweifellos ist die reformatorische Kirche nicht dazu angehalten, dem Staat in sein spezifisch politisches Handeln direkt hineinzureden. Sie hat staatliche Gesetze weder zu loben noch zu tadeln, sie hat vielmehr den Staat als Erhaltungsordnung Gottes in der gottlosen Welt zu bejahen, sie hat sein – vom humanitären Gesichtspunkt aus gesehen: gutes oder schlechtes – Ordnungschaffen anzuerkennen und zu verstehen als begründet in dem erhaltenden Willen Gottes mitten in der chaotischen Gottlosigkeit der Welt. Diese Beurteilung des staatlichen Handelns durch die Kirche steht jenseits jedes Moralismus und unterscheidet sich vom Humanitarismus jederlei Schattierung durch die Radikalität der Trennung des Ortes der frohen Botschaft und des Ortes des Gesetzes. Das staatliche Handeln bleibt frei vom kirchlichen Eingriff. Es gibt hier keine schulmeisterliche oder gekränkte Einrede der Kirche. Die Geschichte wird nicht von der Kirche gemacht, sondern vom Staat; aber freilich nur die Kirche, die vom Kommen Gottes in die Geschichte zeugt, weiß, was Geschichte und daher auch, was der Staat ist. Und eben aus diesem Wissen heraus gibt sie allein Zeugnis

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von der Durchbrechung der Geschichte durch Gott in Christus und läßt den Staat weiter Geschichte machen. Ohne Zweifel ist eines der geschichtlichen Probleme, mit denen unser Staat fertig werden muß, die Judenfrage, und ohne Zweifel ist der Staat berechtigt, hier neue Wege zu gehen. Es bleibt die Sache der humanitären Verbände und einzelner sich dazu aufgerufen wissender christlicher Männer, dem Staat die moralische Seite seiner jeweiligen Maßnahmen zu Gesicht zu bringen, d. h. gegebenenfalls den Staat des Verstoßes gegen die Moral zu verklagen. Und jeder starke Staat braucht solche Verbände und solche einzelnen Persönlichkeiten und wird ihnen eine gewisse reservierte Pflege angedeihen lassen. Es ist eine Einsicht in die feinere Staatskunst, die sich diese Einrede in ihrer relativen Bedeutung zunutze zu machen weiß. Ebenso aber wird eine Kirche, die wesentlich als eine Kulturfunktion des Staates betrachtet wird, jeweils dem Staat mit derartigen Einreden ins Handwerk fahren und das um so mehr, je fester der Staat sich die Kirche eingliedert, d. h. ihr wesentlich moralisch-pädagogische Aufgaben zuschreibt. Die wahre Kirche Christi aber, die allein vom Evangelium lebt und um das Wesen des staatlichen Handelns weiß, wird dem Staat nie in der Weise ins Handwerk greifen, daß sie dessen geschichtsschaffendes Handeln vom Standpunkt eines irgendwie gearteten, sagen wir: humanitären Ideals her kritisiert. Sie weiß um die wesenhafte Notwendigkeit der Gewaltanwendung in dieser Welt und um das mit der Gewalt notwendig verbundene „moralische“ Unrecht bestimmter konkreter Akte des Staates. Die Kirche kann primär nicht unmittelbar politisch handeln; denn die Kirche maßt sich keine Kenntnis des notwendigen Geschichtsverlaufes an. Sie kann also auch in der Judenfrage heute nicht dem Staat unmittelbar ins Wort fallen, und von ihm ein bestimmtes andersartiges Handeln fordern. Aber das bedeutet nicht, daß sie teilnahmslos das politische Handeln an sich vorüberziehen läßt; sondern sie kann und soll, gerade weil sie nicht im einzelnen Fall moralisiert, den Staat immer wieder danach fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden könne, d. h. als Handeln, in dem Recht und Ordnung, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung, geschaffen werden. Sie wird diese Frage mit allem Nachdruck dort zu stellen aufgerufen sein, wo der Staat gerade in seiner Staatlichkeit, d. h. in seiner mit Gewalt Recht und Ordnung schaffenden Funktion bedroht erscheint. Sie wird diese Frage heute in bezug auf die Judenfrage in aller Deutlichkeit stellen müssen. Sie greift damit gerade nicht in die Verantwortlichkeit des staatlichen Handelns ein, sondern schiebt im Gegenteil dem Staat selbst die ganze Schwere der Verantwortung für das ihm eigentümliche Handeln zu. Sie befreit den Staat so von jedem moralisierenden Vorwurf und weist ihn eben hierdurch in seine ihm vom Erhalter der Welt angeordnete Funktion. Solange der Staat Recht und Ordnung schaffend

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handelt – und sei es auch neues Recht und neue Ordnung – kann sich die Kirche des Schöpfers, Versöhners und Erlösers nicht unmittelbar politisch handelnd gegen ihn wenden. Sie vermag freilich den einzelnen sich dazu aufgerufen wissenden Christen nicht daran zu verhindern, den Staat gegebenenfalls als „unhuman“ anzuklagen, aber sie wird als Kirche nur danach fragen, ob der Staat Ordnung und Recht schafft oder nicht. Hierbei sieht sie den Staat nun freilich in doppelter Begrenzung. Sowohl ein Zuwenig an Ordnung und Recht als auch ein Zuviel an Ordnung und Recht zwingt die Kirche zum Reden. Ein Zuwenig ist jedesmal dort vorhanden, wo eine Gruppe von Menschen rechtlos wird, wobei es in concreto jeweils außerordentlich schwierig sein wird, wirkliche Rechtlosigkeit von einem wenigstens formaliter zugebilligten Minimum von Recht zu unterscheiden. Auch in der Leibeigenschaft war ein Minimum von Recht und Ordnung gewahrt und doch würde eine Wiedereinführung der Leibeigenschaft Rechtlosigkeit bedeuten. Es ist immerhin beachtlich, daß christliche Kirchen achtzehnhundert Jahre lang die Leibeigenschaft ertragen haben und erst in einer Zeit, bei der die christliche Substanz der Kirche mindestens in Frage gezogen werden könnte, mit Hilfe der Kirchen (aber doch nicht wesentlich oder gar allein durch sie) neues Recht geschaffen wurde. Dennoch wäre ein Rückschritt in dieser Richtung heute für die Kirche der Ausdruck eines rechtlosen Staates. Daraus folgt, daß der Begriff des Rechtes geschichtlichen Wandlungen unterworfen ist, was aber seinerseits gerade den Staat wieder in seinem eigentümlichen geschichteschaffenden Recht bestätigt. Nicht die Kirche, sondern der Staat schafft und wandelt das Recht. Dem Zuwenig an Ordnung und Recht steht das Zuviel an Ordnung und Recht gegenüber. Es besagt, daß der Staat seine Gewalt so ausbaut, daß er der christlichen Verkündigung und dem christlichen Glauben (nicht dem freien Gewissen – das wäre die humanitäre Version, die darum illusorisch ist, weil jedes staatliche Leben das sogenannte „freie Gewissen“ zwingt) sein eigenes Recht raubt eine groteske Situation, da ja der Staat erst von dieser Verkündigung und von diesem Glauben her sein eigentümliches Recht erhält und sich somit selbst entthront. Diesen Übergriff der staatlichen Ordnung muß die Kirche zurückweisen, eben aus ihrem besseren Wissen um den Staat und die Grenzen seines Handelns. Der Staat, der die christliche Verkündigung gefährdet, verneint sich selbst. Das bedeutet eine dreifache Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber: erstens (wie gesagt) die an den Staat gerichtete Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns, d. h. die Verantwortlichmachung des Staates. Zweitens der Dienst an den Opfern des Staatshandelns. Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören. „Tut Gutes an jedermann.“ [Gal. 6,10] In beiden Verhaltungsweisen [sic!] dient die Kirche dem freien

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Staat in ihrer freien Weise, und in Zeiten der Rechtswandlung darf die Kirche sich diesen beiden Aufgaben keinesfalls entziehen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Solches Handeln wäre unmittelbar politisches Handeln der Kirche und ist nur dann möglich und gefordert, wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht, d. h. wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht. In beiden muß sie dann die Existenz des Staates und damit auch ihre eigene Existenz bedroht sehen. Ein Zuwenig läge vor bei der Rechtlosmachung irgendeiner Gruppe von Staatsuntertanen, ein Zuviel läge dort vor, wo vom Staate her in das Wesen der Kirche und ihre Verkündigung eingegriffen werden sollte, d. h. etwa in etwa in dem zwangsmäßigen Ausschluß der getauften Juden aus unseren christlichen Gemeinden, in dem Verbot der Judenmission. Hier befände sich die christliche Kirche in statu confessionis [Bekenntnisnotstand] und hier befände sich der Staat im Akt der Selbstverneinung. Ein Staat, der sich eine vergewaltigte Kirche eingliedert, hat seinen treuesten Diener verloren. Aber auch dieses dritte Handeln der Kirche, das gegebenenfalls in den Konflikt mit dem bestehenden Staat führt, ist nur der paradoxe Ausdruck ihrer letzten Anerkennung des Staates, ja die Kirche selbst weiß sich hier aufgerufen, den Staat als Staat vor sich selbst zu schützen und zu erhalten. In der Judenfrage werden für die Kirche heute die beiden ersten Möglichkeiten verpflichtende Forderungen der Stunde. Die Notwendigkeit des unmittelbar politischen Handelns der Kirche hingegen ist jeweils von einem „evangelischen Konzil“ zu entscheiden und kann mithin nie vorher kasuistisch konstruiert werden. Die staatlichen Maßnahmen gegen das Judentum stehen für die Kirche aber noch in einem ganz besonderen Zusammenhang. Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verlorengegangen, daß das „auserwählte Volk“, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen muß. „Juden sind die ärmsten Leute unter allen Völkern auf Erden, werden hie und da geplaget, sind hin und her in Landen zerstreut, haben keinen gewissen Ort, da sie gewiß könnten bleiben[„] und [„]müssen immer besorgen, man treibe sie aus . . .“ (Luther, Tischreden). Aber die Leidensgeschichte dieses von Gott geliebten und gestraften Volkes steht unter dem Zeichen der letzten Heimkehr des Volkes Israel zu seinem Gott. Und diese Heimkehr geschieht in der Bekehrung Israels zu Christus. „Wenn die Stunde kommt, daß sich dieses Volk demüthigt und bußfertig abläßt von der Sünde seiner Väter, an der es bis diesen Tag mit furchtbarer Halsstarrigkeit festhängt und das Blut des Gekreuzigten zur Versöhnung über sich herabflehet, dann wird die Welt staunen ob der Wunder, die Gott thut! die er an diesem Volke thut! Und die hohn-

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sprechenden Philister werden dann sein wie Koth auf der Gasse und wie das verdorrte Heu auf den Dächern. Dann wird er dieses Volk sammeln aus allen Nationen und es zurückbringen nach Kanaan. O Israel, wer ist dir gleich? Wohl dem Volke, dem der Herr sein Gott ist!“ (S. [sic!] Menken, 17955). Die Bekehrung Israels, das soll das Ende der Leidenszeit des Volkes sein. Von hier aus sieht die christliche Kirche die Geschichte des Volkes Israel mit Schaudern als Gottes eignen, freien, furchtbaren Weg mit seinem Volk. Sie weiß, daß kein Staat der Welt mit diesem rätselhaften Volk fertig werden kann, weil Gott noch nicht mit ihm fertig ist. Jeder neue Versuch, die „Judenfrage“ zu „lösen“, scheitert an der heilsgeschichtlichen Bedeutung dieses Volkes; dennoch müssen immer wieder solche Versuche unternommen werden. Dieses Wissen der Kirche um den Fluch, der auf diesem Volk lastet, hebt sie weit hinaus über jedes billige Moralisieren, vielmehr weiß sie sich selbst als immer wieder ihrem Herrn untreue Kirche mit gedemütigt beim Anblick jenes verstoßenen Volkes, und sie sieht voll Hoffnung auf die Heimgekehrten vom Volke Israel, auf die zum Glauben an den einen wahrhaftigen Gott in Christus Gekommenen, und weiß sich diesen als Brüdern verbunden. [. . .]

Der Arier-Paragraph in der Kirche Dietrich Bonhoeffer6 1. Radikale Form des Arier-Paragraphen. Nichtarier gehören nicht zur deutschen Reichskirche und sind durch Bildung eigener judenchristlicher Gemeinden auszuschließen. 2. Form des Arier-Paragraphen. Das staatliche Beamtengesetz soll auf die Kirchenbeamten Anwendung finden, Weiterbeschäftigung und Neueinstellung judenchristlicher Pfarrer soll abgelehnt werden. 3. Form des Arier-Paragraphen. Die Reichskirchenverfassung hat den Arier-Paragraphen zwar nicht aufgenommen aber durch Stillschweigen bekundet, daß sie das Studentenrecht, das den judenchristlichen theologischen Nachwuchs verhütet, als für die Kirche bindend anerkennt, d. h. sie anerkennt den Ausschluß der Judenchristen vom kirchlichen Amt für die Zukunft. ad 1. [. . .] Die Kontinuität der Kirche liegt bei der Kirche, in der die Judenchristen bleiben . . . Kirche ist die Gemeinde der Berufenen, in der das Evangelium recht gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden, die kein Gesetz für die Zugehörigkeit zu ihr aufrichtet. Darum ist der ArierParagraph eine Irrlehre von der Kirche und zerstört ihre Substanz. Darum gibt es einer Kirche gegenüber, die den Arier-Paragraphen in dieser radika-

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len Form durchführt, nur noch einen Dienst der Wahrheit, nämlich den Austritt. Dies ist der letzte Akt der Solidarität mit meiner Kirche, der ich nie anders als allein mit der ganzen Wahrheit und allen ihren Konsequenzen dienen kann.7 ad. 2. [. . .] Die Forderung der D. C. zerstört da Wesen des Pfarramts indem sie Glieder der Gemeinde zu Brüdern minderen Rechts, Christen zweiter Klasse macht. Die anderen, die von dieser Forderung unbetroffen, also privilegiert bleiben, werden sich selbst lieber den Brüdern minderen Rechts zur Seite stellen wollen als in der Kirche von Privilegien Gebrauch machen. Sie werden daher ihren einzigen Dienst, den sie ihrer Kirche in Wahrheit noch tun können, darin sehen müssen, daß sie das Pfarramt, das zu einem Privileg geworden ist, niederlegen. ad 3. Wenn es durch ein Studentenrecht dem Judenchristen unmöglich gemacht [wird] Pfarrer zu werden, so wird die Kirche ihrerseis dem Judenchristen neue Türen zum Pfarramt auftun müssen und hierdurch, wie durch ihre Verkündigung gegen solche Maßnahme, die in das Wesen des Pfarramts eingreift, protestieren müssen. Tut sie das nicht, dann macht sie sich der Verantwortung für den ganzen Arier-Paragraphen schuldig. [. . .] Darum ist der Arier-Paragraph eine Irrlehre von der Kirche und zerstört ihre Substanz . . . Wer sich von den Judenchristen trennen will, soll seine eigene Kirche aufmachen.

4.2 Spätere Äußerungen Bonhoeffers zum Judentum Zwei Auszüge aus Bonhoeffers „Ethik“8 Der geschichtliche Jesus Christus ist die Kontinuität unserer Geschichte. Weil aber Jesus Christus der verheißene Messias des israelitisch-jüdischen Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unlöslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen. Er ist das Zeichen der freien Gnadenwahl und des verwerfenden Zornes Gottes, „schau an die Güte und den Ernst Gottes“ (R 11,22). Eine Verstoßung d. Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude. (Aus dem „Ethik“-Abschnitt „Erbe und Verfall“ DBW 6, 93–124)9 Die Kirche war stumm, als sie hätten schreien müssen . . . Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und

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seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi10. (Aus dem „Ethik“-Abschnitt „Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung“ DBW 6, 125–136)11

4.3 Auf dem Weg zu einer „Theologie nach dem Holocaust“ Dietrich Bonhoeffer und die Juden Eberhard Bethge12,13 I. Probleme des Themas Mit Zögern mache ich mich an einen ersten Versuch über „Bonhoeffer und die Juden“. Dazu gehört ein Stück weit auch das eventuell noch schwierigere Thema „Die Juden und Bonhoeffer“. Das Zögern ist von den beiden Beziehungsgrößen veranlaßt: den Juden und Bonhoeffer. Was Bonhoeffer anbetrifft, müßte ja wiederum die Ganzheit eines Menschen bedacht werden, das Geflecht seiner Herkunft, historisch, kirchlich, theologisch, seines Milieus, seiner Theologie und Ethik, seiner geschichtlichen Stunde, die Verzweigungen seiner kirchlichen und politischen Einsätze, das letzte Opfer an Leben und Reputation, das er als einer unter vier Männern seiner Familie gebracht hat. Was die Juden anbetrifft, müßte bedacht werden, was unsere bisherigen Dimensionen von „Bedenken“ weit übergreift. Wer sind in diesem Beziehungsfeld eigentlich „die Juden“? Hier wird vieles unbefriedigend bleiben, und zwar nicht nur aus Gründen einer schwierigen Definition, sondern darum, weil wir erst damit beginnen, die Erschütterung durch den Holocaust an uns herankommen zu lassen und seine Folgen zu bedenken für die Krise von Zivilisation, Kultur (Sprache, Universität), Politik und Religion. Der Nichtjude bedarf ständig erneuerter Begegnung mit Juden und ihrer kritischen Hilfe. Jedes Teilergebnis muß sich gefallen lassen, noch einmal in Frage gezogen zu werden. Wer sich hier beteiligt, läßt sich auf ein Wagnis ein; er wird genötigt, wieder einmal den Ausgangspunkt bei der Gegenwart zu nehmen, Vergangenes aus der Rückschau zu begreifen und Ereignisse mit ihrem verbalen Niederschlag auch mit der Elle ihrer Wirkungsgeschichte zu messen.

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Das Wagnis einzugehen, erzwang die Anfrage eines Juden zur Bedeutung Bonhoeffers in bezug auf eine künftige jüdische wie christliche „Theologie nach dem Holocaust“. Sie wird meine Frageweise und Darstellung weithin bestimmen. Dr. Emil Fackenheim, Professor der Philosophie in Toronto, einst KZ-Insasse in Sachsenhausen, dort 1938 Haftgenosse von Ernst Tillich und Werner Koch, den Veröffentlichern der BK-Denkschrift an Hitler von 1936, fragte im Frühjahr 1979 bei der English Language Section der Bonhoeffer Society an (Übersetzung E. B.): „1. Ich erinnere mich einer Stelle bei Bonhoeffer, in der er die Kirche anklagt, die wehrlosesten Brüder Jesu, die Juden, verraten zu haben. Ich finde die Stelle nicht wieder . . . Das würde nämlich einiges aussagen über Bonhoeffer den Menschen angesichts der Juden als solchen. 2. Folgenreicher für die Zukunft ist Bonhoeffer der Theologe. Ich hörte Christen sagen, Bonhoeffer der Mensch sei besser gewesen als Bonhoeffer der Theologe; daß er nämlich theologisch allein für die nicht-arischen Christen gestritten habe. Wenn man zeigen könnte, daß er darüber hinausgegangen ist, würde ich das gern hervorheben. Das wäre außerdem von nicht zu überschätzender Bedeutung für die christliche Theologie. Bis jetzt formuliere ich meinerseits: Bonhoeffer sagte, daß nach Hitler Deutsche nicht mehr evangelisierend mit Juden sprechen können. 3. Wenn Bonhoeffer so etwas gesagt hat, erhebt sich die weitere Frage, was genau er gemeint hat. Meinte er, daß unter entsprechenden existentiellen Bedingungen eine evangelisierende Anrede an Juden unmöglich ist? Oder daß der Holocaust ein epochales Ereignis darstellt, welches für immer die jüdisch-christlichen Beziehungen verändert hat? Oder daß dieses Ereignis nur aufgedeckt hat, was von Anfang an eine christliche Abirrung gewesen ist? Wie sich das auch verhalten mag – ich denke, Sie wissen, daß ich selbstverständlich Bonhoeffer mit großem Respekt behandeln und ausführen werde, daß, wenn er nicht zu den radikalen Schlüssen gefunden haben sollte, die aus meinem Blickwinkel notwendig sind, dies kaum überraschend ist im Blick darauf, wie wenig er von den Fakten des Holocaust hat wissen können. Andererseits wäre es natürlich höchst ermutigend, wenn er sie gefunden hätte – und zwar so weit voraus. Schlüsse, die ihn selbst jetzt noch nicht nur zu einem persönlichen Märtyrer machten, sondern auch zu einem theologischen Pionier.“

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Wie Fackenheim hier eine Antwort erhofft, werde ich sie wahrscheinlich kaum schon geben können. Um meine These vorwegzunehmen: Bonhoeffer hat sich den fast nahtlosen Anschluß an 1932 von Theologie und Kirche nach 1945 überhaupt nicht vorzustellen vermocht. Gleichwohl hat er selbst noch keine „Theologie nach dem Holocaust“ explizit ins Auge gefaßt; man kann ihn nur beschränkt unter die Entwerfer einer solchen Theologie zählen. Er gehört aber zu ihren stärksten Auslösern auf christlicher Seite. Seine Gruppen-, Orts- und Zeitzugehörigkeit stellte ihn in die Solidarität derer, die Opfer des Holocaust wurden, wenn auch die Leiden von Juden und deutschen Widerstandskämpfern unterschieden blieben. Die Aufgabe einer Theologie nach dem Holocaust ist erst uns gestellt – sie ist unsere Sache auch wegen, durch und mit Bonhoeffer. [. . .]

II. Voraussetzungen 1. Milieu Ehe die Ereignisse von 1933 Dietrich Bonhoeffer zwangen, Stellung zum Problem der Juden zu nehmen beziehungsweise schnell zu finden – theologisch, kirchlich, moralisch, existentiell –, existierten Juden kaum für ihn als solche, die in ihrem Judentum etwa stigmatisiert seien. Das zeigt ein Blick in die Welt seines familiären, aber auch seines kulturellen und kirchlichen Milieus. In seiner Familie ging man auf den Ebenen von Freundschaft, Beruf und Bildung völlig selbstverständlich mit Juden um. Unmöglich, eine Auswahl unter dem Gesichtspunkt der Herkunft aus dem Judentum zu treffen! Gerhard Leibholz erinnert sich freilich, daß seine Verlobung mit Dietrichs Zwillingsschwester Sabine nicht ohne familiäre Kritik blieb, an der sich allerdings nicht alle beteiligten, auch Dietrich nicht. Der Vater hatte immer eine Reihe von Assistenzärzten jüdischer Herkunft in der neurologischen Klinik der Charité; seine Distanz zu Freuds damals noch neuen Lehren hatte nichts mit Freuds Judesein zu tun. Die sieben Geschwister hatten von Kindheit an engste Freunde aus jüdischen Häusern im Grunewald, so auch Dietrich. Ihre Beziehungen überstanden alle Bedrohungen und haben bis in die Gegenwart gehalten, soweit die Freunde noch am Leben sind zumeist in Amerika und England. Natürlich hatte man wahrgenommen, daß es seit einigen Generationen einen lauten Antisemitismus gab. Aber bis 1933 glaubte man kaum daran, daß hier eine dauerhafte und gar noch gesetzliche Wieder-Diskriminierung von Juden wirklich durchsetzbar werden könnte. Als das Unglaubliche

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dennoch Realität zu werden begann, suchte die Familie sich sofort nach Kräften zu widersetzen. Nachdem man sich solange nicht dazu herabgelassen hatte, den romantisch-brutalen und pseudowissenschaftlichen Rassentheorien Aufmerksamkeit zu leihen, erkannte man diese nun erst recht nicht an. So erklärt sich schon von dieser Seite her, daß Dietrich Bonhoeffer in seinen ersten Äußerungen zur sogenannten „Judenfrage“ 1933 – wohl noch üblichen lutherischen Staat-Kirche-Konzepten verhaftet, wiewohl er selbst diese bereits zu erweitern im Begriffe stand –, niemals rassische Gesichtspunkte übernahm, wenn er zunächst gewisse Rechte des Staates für die Behandlung von Juden zu begründen suchte; dies sehr im Unterschied zu anderen, die 1933, zwar im kirchlichen Bereich oft ähnlich argumentierend (etwa Walter Künneth u. a.), für das staatliche Handeln aber durchaus rassische Prinzipien übernahmen und gelten ließen. Dies erlaubte Dietrich einfach die ständige jüdische Präsenz in der Familie nicht. Hier war niemals Mommsen gegen Treitschke eingetauscht worden. Freilich, die nahen Beziehungen der Familie bestanden zu assimilierten, liberalen Juden; andere traten nicht in das Gesichtsfeld; solche also, die etwa Wert auf erkennbare religiöse Bräuche gelegt hätten. Wenn denn überhaupt einmal Unterschiede zu beobachten waren, dann wurden sie mehr als interessant denn als problematisch, mehr als amüsant denn als aufregend erfahren. Man mußte sich also 1933 ziemlich plötzlich einem fremden, ungeliebten und aufgezwungenen Thema stellen, als die Freunde unversehens auf ein sogenanntes „Nicht-Ariersein“, auf ihr Judesein festgelegt und dafür gebrandmarkt wurden. Hans Jürgen Schultz‘ ausgezeichnete Sammlung autobiographischer Studien „Mein Judentum“ (Stuttgart 1978) illustriert diesen Vorgang aus jüdischer Sicht höchst lebendig.

2. Jüdische Renaissance? Dem Faktor dieses familiären Einflußfeldes muß ein zweiter aus der Studien- und Lernzeit hinzugefügt werden. Es handelt sich um eine Fehlmeldung. Kaum erkennbar ist, daß Bonhoeffer in den Zwanzigern Beziehungen aufgenommen hätte zu jener für uns heute religiös und philosophisch so spektakulösen jüdischen Erneuerung, welche damals, sozusagen um die Hausecke herum, vor sich ging und die um Namen wie Franz Rosenzweig, Martin Buber, Eugen Rosenstock, Leo Baeck kreiste. So bekannt zum Beispiel Harnacks „Wesen des Christentums“ war, so unbeachtet blieb damals, daß und wie Leo Baeck mit einem „Wesen des Judentums“ in die Debatte eingriff.

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In Dietrich Bonhoeffers Lehrjahren verfestigte sich dieser Tatbestand noch dadurch, daß die Entdeckung seiner Jugend seine Interessen aus der Richtung des Berliner theologischen Liberalismus in diejenige der jungen dialektischen Theologie wendete. Dort aber wurde man nicht auf Buber und Rosenzweig verwiesen. Wo er dennoch Bubersche Elemente aufnahm, kamen sie bei ihm von Gogarten und Grisebach. Von den lebhaften Beziehungen der zwei Vettern Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig – kontrovers natürlich – nahm die Gruppe der Dialektiker noch keine weiterreichende Notiz. Wer wußte damals schon von solchen Dingen? Es waren nicht Barth und nicht die Lutheraner, es war aber etwa Karl Heim in Tübingen, der sich in den Zwanzigern mit Martin Buber tief einließ. Der freilich meinte 1934 im Vorwort zur 3. Auflage von „Glauben und Denken“: „Millionen von Menschen (sind) aus diesem lähmenden Geisteszustand (des ‚Kulturbolschewismus‘) emporgerissen und mit einem neuen Lebensinhalt beschenkt worden“, und pries 1935 in USA das Führerprinzip. Dann aber begannen die Barthianer damit, ihr Verhältnis zu den Juden neu anzugehen.

3. Das Alte Testament Neben die genannten Faktoren – einerseits der selbstverständliche Umgang mit assimilierten Juden und dessen Folge 1933 für die Abwehr einer Rassenideologie, andererseits die Nichtwahrnehmung der jüdischen Renaissance bei Dialektikern und Luthererneuerern und die entsprechende Unvorbereitetheit beziehungsweise Unangefochtenheit in Fragen einer jüdischen Theologie – tritt ein dritter Faktor in Bonhoeffers früher Entwicklung. Er zeigt sich . . . vor allem [an] seine[r] Kritik an dem Marcionismus . . . und damit zusammenhängend die Kritik an beider [gemeint: Marcion und auch Harnack] Abwertung des Alten Testaments. Dagegen setzt Bonhoeffer mehr und mehr seine Erkenntnis von dem unteilbaren ganzen Bibelbuch. Die, gewiß ambivalente, Rückgewinnung des Offenbarungsbegriffes bei den Dialektikern hatte nun eben auch diese Wirkung, die abwertende Stufentheorie „religiöser Entwicklung“ vom Alten Testament über das Neue Testament über die Kirchengeschichte bis in die Neuzeit unhaltbar werden zu lassen und die Gültigkeit der Offenbarung im Bundesschluß, bezeugt in der Thora, mitzudenken. Das half zweifellos trotz aller krausen Wege dahin, ein neues Verhältnis zu den Empfängern und zeitgenössischen Pflegern dieses Bundesschlusses vorzubereiten. Harnack, dessen Schüler gewesen zu sein Bonhoeffer sich immer mit Dankbarkeit erinnert (GS III, 19, Dezember 1929), hatte unter anderem gesagt:

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„Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber im 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“14 [. . .]

Schon zur Zeit der Promotion im Dezember 1927 kämpfte er, wie sein Freund Franz Hildebrandt berichtet, entschlossen gegen jeglichen Marcionismus. So steht denn auch in der Vorlesung von 1932/33 „Schöpfung und Fall“ zu lesen: „Daß Gott der eine Gott ist in der ganzen Heiligen Schrift, mit diesem Glauben steht und fällt die Kirche und die theologische Wissenschaft“ (SF, 8).

In einer der erhaltenen Nachschriften zur Vorlesung von 1932/33 „Jüngste Theologie“ (GS V, 306) von E. Hunsche heißt es: „Der Judengott ist auch der Gott des Neuen Testamentes.“ So konnte Bonhoeffer auch nicht die verbreitete Meinung vertreten, die Liebe Gottes sei dem Neuen, sein Zorn und das Gesetz dem Alten Testament vorbehalten. [. . .] An dieser Stelle muß nur noch hervorgehoben werden, daß auch noch in Bonhoeffers am meisten kontroversen, weithin abgelehnten Formen alttestamentlicher Auslegungen (König David, Esra und Nehemias Mauerbau, Rachepsalmen und anderes mehr) zu beachten bleibt, daß jenes neu entdeckte Interesse am Alten Testament und jenes pointierte Festhalten an der ganzen Schrift historisch ein Bekenntnisakt gewesen ist, der damals allenthalben als lebendiges Eintreten für Juden verstanden worden ist15. Dahinter stand mehr und anderes zur Diskussion als eine exegetische Methodenfrage. Noch nicht etwa schon eine „Theologie nach dem Holocaust“; aber deutlich eine mögliche Revision der Vorstufen- und Ersetzungstheologie der Kirchen. Es stand an das Bekenntnis des Zusammengehörens mit bedrohten Juden. Der rüde und versierte SS-Journalist Friedrich Imholz hat das ganz richtig gespürt, als er der schließlich in einem ziemlich remoten Blatt gedruckten Bibelarbeit Bonhoeffers auf die Spur kam und im „Durchbruch“ (Stuttgart, 26. März 1936) schrieb:

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4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden „Das Lob Judas im Dritten Reich . . . Unser Papier ist uns zu lieb, das widerwärtige Geseire um den König David (dessen Handlungsweise übrigens zweifellos gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstößt) hier abzudrucken. Der Schlußabsatz aber ist mehr als bezeichnend: ‚V. 23ff.: Das Volk Israel wird das Volk Gottes bleiben, in Ewigkeit, das einzige Volk, das nicht vergehen wird, denn Gott ist sein Herr geworden, Gott hat in ihm Wohnung gemacht und sein Haus gebaut . . .‘ Aus diesem Artikel ist wohl klar zu erkennen, was dieser Bekenntnispfarrer Bonhoeffer vom Grundgedanken des nationalsozialistischen Aufbruchs hält: nämlich vom Rassegedanken. Ob es nicht angebracht ist, daß man sich mit der ‚Bibelarbeit‘ einer solchen ‚Bruderschaft‘ von Vikaren befaßt? Es gibt vieles, was harmlos zu nennen ist gegenüber solchen Vertretern einer orientalischen Glaubenslehre, welche den Weltfeind Juda noch im Jahre 1936 als das ‚ewige Volk‘, das wahre ‚Adelsvolk‘, das ‚Gottesvolk‘ hinzustellen sich erdreistet“ (GS II, 292f.).

III. Stellungnahmen Von den vier Schlagworten, mit denen die Deutschen Christen im Frühling 1933 in der evangelischen Kirche Unruhe, Reaktionen und Impulse auslösten, nämlich „Gleichschaltung“, „Reichskirche“, „Führerprinzip“ und „rassische Reinheit“ („Arierparagraph“), verursachte das letzte bei kirchlichen Behörden und oppositionellen Bewegungen zunächst die geringste Beunruhigung und fand die wenigste Beachtung. Der „Gleichschaltung“ maß man die größte Bedeutung zu und leistete hier mehr oder weniger erfolgreichen Widerstand. Der Sucht nach der „Reichskirche“ und nach dem „Führerprinzip“ begegnete man mit neuen konstitutionellen Versuchen und verzögerte damit eine Weile den Zusammenbruch des kirchlichen Gefüges. Erst als dieser im Sommer eintrat, wurde für die Mehrheit plötzlich auch der vierte Komplex, „rassische Reinheit“, bedeutsam. Aber auch dann noch hielten viele diese Forderung für marginale, vorübergehende Auswüchse. Vorstellungen, die Worte wie „Endlösung“, „Auschwitz“, „Holocaust“ heute vermitteln, gab es damals weder bei Juden noch bei den wenigen wachen Christen. Überschätzung wie Unterschätzung des Gegners konnten außerdem ihren Platz durchaus in der gleichen Brust behaupten. Sie waren sogar Kampfmittel. Im Kreis halb- oder ganzherziger Kooperatoren von Kirchenräten und Bischöfen verwies man ganz vernünftig darauf, der Kanzler erweise sich nun doch als Staatsmann, der den lärmenden Parteiführer transzendiere und der die radikalen antisemitischen Sprüche tatsächlich der zweiten und dritten Reihe in der Partei überließe.

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Allerdings in Bonhoeffers Familie ließ man sich über Hitlers wahren Charakter von Anfang an nicht täuschen. So läßt sich die Zahl derer, die gleich im März und April 1933 den vierten Komplex, die sogenannte Nicht-Arier-Frage, als fatal zentral, ja kirchenentscheidend ansprachen, an den Fingern einer Hand abzählen. Selbst als im September mit der Einführung des Arierparagraphen für Amtsträger in der altpreußischen Kirche und in einigen anderen Provinzen der Tatbestand unübersehbar wurde, lehnte sogar Karl Barth noch ab, diesen Punkt zum Anlaß des Schrittes in ein Schisma werden zu lassen. Wenn man genau hinsieht, spielen ja auch in Barths so wirksamer Fanfare „Theologische Existenz heute“ von Ende Juni 1933 „Gleichschaltung“, „Reichskirche“ und „Führerprinzip“ die entscheidende Rolle; der Nicht-Arier-Frage ist nahezu keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Blick auf Barmen haben zwar Arthur Cochrane und jetzt Ernst Busch mit Recht herausgearbeitet, wie die „Judenfrage“ implizit natürlich einen entscheidenden Hintergrund bildet; aber expressis verbis spielt sie keine Rolle. Karl Barth hat 1969 dann ja auch mit bewundernswerter Nüchternheit bekannt, daß es falsch war, damals die Barmer Synode nicht mit einem Bekenntnis zu den Juden beschwert zu haben. Das heißt nicht, daß Barth etwa den NS-Arierparagraphen nicht von Anfang an verworfen und daß er nichts für Juden getan habe – im Gegenteil. Aber in der kirchlichen Diskussion des Sommers 1933 sah er in ihm noch nicht die Kernfrage. Barth gestand 1969 offen zu, daß ihm noch nicht klar gewesen sei, wie früh und wie scharf eben Bonhoeffer diesen Punkt als entscheidend erkannt und angesprochen habe.

1. Aufsatz vom April 1933 Zur gleichen Zeit, als Kaplers Behörde in Berlin vom damaligen Leiter der apologetischen Zentrale in Spandau Walter Künneth ein Gutachten zur Forderung eines Arierparagraphen in der Kirche erbat, saß Bonhoeffer – nicht in offiziellem Auftrag – an einem Vortrag über die „Judenfrage“ (diesen Terminus gebrauchte er damals, obwohl der Inhalt dann schon zeigt, daß es tatsächlich in diesem Problemkreis um eine „Christenfrage“ ging). Hier ging es zunächst auch um die Frage, die später fast allein die kirchliche Diskussion beherrschte: das Problem der Mitgliedschaft getaufter Nichtarier beziehungsweise eventuell betroffener Amtsträger in den Gemeinden und ihres Spezialstatus, wie von den DC gefordert. Als Bonhoeffer nun gerade seine sechs Diskussionssätze zur letzteren Frage entworfen hatte, erfolgten der Judenboykott und die Gesetzgebung vom 7. April („Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“). So schaltete Bonhoeffer in diesen Tagen vor die sechs Thesen zur Kirchenmitglied-

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schaft von Nichtariern einen ganzen Abschnitt, der sich allein mit der allgemeinen Frage der Behandlung der Juden durch den neuen Staat befaßte, ohne Bezug auf Getauftsein oder nicht. Tatsächlich waren es die Sätze dieses vorgeschalteten, nun ersten Teiles, die im amtsbrüderlichen Kreis Aufregung verursachten, so daß einige die Versammlung verließen. Sie wollten mit so revolutionären Sätzen nichts zu tun haben, nach denen (1) die Kirche den Staat daran zu erinnern habe, ob er zuviel oder zu wenig an Staatlichkeit übe, das heißt jüdische Bürger terrorisiere oder ihnen Schutz vorenthalte, (2) die Kirche jedwedem Opfer einer Gesetzgebung diakonisch Hilfe schulde ungeachtet seiner Konfession – und dieser Fall sei jetzt akut, sie habe also uneingeschränkte Solidarität mit Unterdrückten und Leidenden zu üben; nach denen (3) der Fall eintreten könne, in dem die Kirche „nicht nur zu verbinden, sondern dem Rad in die Speichen zu fallen“ habe. Das wurde in jenem Pfarrerkreis als der Kernpunkt gehört, und das hörten wir fast ausschließlich, als wir den Aufsatz nach 1945 wiederentdeckten. Denn dies war damals und auch nach 1945 in der Tat noch ein ganz vereinzeltes Wort. Die Aufmerksamkeit, die es nach der Hitlerzeit erhielt, ward ihm jedoch auch im Juni 1933 noch nicht zuteil, als es gedruckt erschien im bald eingehenden Monatsblatt „Der Vormarsch“. Goebbelssche Zensur war noch nicht allgegenwärtig durchorganisiert. Als aber in den Sechzigern nach Erscheinen von GS II und der Übersetzung des Aufsatzes in „No Rusty Sword“ der Text vom April 1933 weltweit zugänglich geworden war, schienen viele Augen für ganz andere Partien in ihm sensibilisiert. Aufregend war an dieser ersten Stellungnahme Bonhoeffers zum Judenproblem im Dritten Reich offenbar nur, (1) daß Bonhoeffer hier als hartnäckiger Lutheraner dem Staat soviel Ordnungsrecht zugestehe – selbst in der Judenbehandlung, (2) daß er sich hier als gänzlich unbelehrter Beerbungstheologe am Judentum und als Verkünder einer Straftheologie entpuppte, der er dann bis zum Schluß auch geblieben sei. So betrachtet, unterscheidet sich Bonhoeffer allerdings in diesen beiden Punkten wenig von lutherischen aber auch calvinistischen und erst recht dialektischen Kollegen, die sich einer reformatorisch angeleiteten Schriftexegese verpflichtet wußten. Auf den ersten Blick scheint die überkommene Zwei-Reiche-Lehre kaum hinterfragt und das Theologumenon von der jüdischen Leidensgeschichte als Fluch für die Kreuzigung des Erlösers überhaupt noch nicht kritisch thematisiert. Dennoch zeigt eine genaue Analyse des Textes, daß die Aussage in Wahrheit gar nicht auf diese beiden Theologumena hinausläuft, daß vielmehr in nuce schon ihre Überwindung angegangen wird. Keinesfalls werden diese Theologumena herangezogen, um die Deklassierung der Juden zu rechtfertigen, sondern sie

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werden dazu eingesetzt, dieser Deklassierung entgegenzutreten. Aus der auf die differenten Mandate von Staat und Kirche hinweisenden Zwei-Reiche-Lehre wird im Ziel dieses Textes durchaus nicht auf die Erlaubnis geschlossen, zur neuen Gesetzgebung von der Kirche her zu schweigen, sondern das Gegenteil wird gesagt: „In der Judenfrage werden für die Kirche heute die beiden ersten Möglichkeiten verpflichtende Forderungen der Stunde“ (GS II, 49). Die üblicherweise diastatisch benutzte Zwei-Reiche-Lehre erweitert sich hier bei Bonhoeffer zum Grund souveräner Kritik, indem sie die Kirche in die Pflicht nimmt, den Staat an die Beschränkung seiner Kompetenz zu erinnern, und zwar an dem konkreten Punkt der Behandlung der Juden. Dies wirkte damals erregend genug. Und die Erwähnung des Gerichtes über das „auserwählte Volk“ wird im Ziel ja auch nicht zu einem selbständigen Wort an oder über dieses Volk, sondern sie dient als warnendes Wort an die eigene Kirche. Sie weiß „sich selbst als immer wieder. ihrem Herrn untreue Kirche mitgedemütigt“, sie soll jetzt in der Furcht Gottes darauf trauen, „daß kein Staat der Welt mit diesem rätselhaften Volk fertig werden kann, weil Gott noch nicht mit ihm fertig ist“ (GS II, 50). So bringt schon dieser erste Aufsatz an den Tag, daß für Bonhoeffer die „Judenfrage“ viel weniger eine Juden- als eine Christenfrage ist. Das zeigen die sechs Thesen zum Mitgliedschaftsproblem von Judenchristen mit wünschenswerter Deutlichkeit. Und dieser Teil erfährt mit den Flugblattaktionen von Bonhoeffer und Hildebrandt vor und bei der tatsächlichen Einführung des Arierparagraphen in die Kirche immer neu verschärfte Wendungen. Selbst die Lutherzitate vor und hinter dem Aufsatz enthalten ja nicht Verfluchungen, sondern die Vermahnung, für Brüder zu halten, die gerade aus jeder Bruderschaft entfernt werden sollten, und sich ihnen gegenüber christlich-brüderlich zu benehmen. Ohne Frage hat Bonhoeffer festgehalten an dem, was bereits mit diesem Aufsatz vom April 1933 entschieden ist: an der Priorität eines Eintretens für die gehetzten Juden – diese Einstellung fand er in seiner Familie vor –, auch wenn die beruflichen Kämpfe für getaufte Nichtarier in der Kirche literarisch reichlicher belegt sind. Bei der Beurteilung späterer Bekenntnissynoden war es sein Kriterium, ob diese eben nicht nur für die getauften Nichtarier eingetreten waren; die Urteile – ich erinnere mich an unsere Enttäuschung, wenn er soviel bedenklicher als seine Kandidaten urteilte – mußten meistens negativ ausfallen. Hier liegt letzten Endes auch eine Motivation dazu, daß Bonhoeffer eines Tages seiner Familie in den Widerstand einer politischen Konspiration folgte. Walter Künneth scheint in vielen Punkten seines parallel erstellten Gutachtens ähnlich wie Bonhoeffer zu sprechen – Anerkennung des von der Kirche nicht anzutastenden Man-

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dats des Staates zum Schutze der Nation; Unmöglichkeit, die christlichen Nichtarier von der Gemeinde zu trennen. [. . .] Abschließend: Von einer „Theologie nach dem Holocaust“ zeigt der Aufsatz vom April 1933 nach Lage der Dinge noch keine Spur; andere Spuren darin erschrecken Juden nach dem Holocaust. Und dennoch ist er angesichts des damaligen Kontextes ein allererstes Zeichen. Bonhoeffer hatte sich bisher und auch nach 1933 kaum berufen gefühlt, das jahrtausendealte Problem des jüdisch-christlichen Verhältnisses neu aufzuarbeiten. Das war einfach noch nicht in sein Blickfeld getreten. Plötzlich stand er vor der praktischen Frage, was zu geschehen habe und wie zu urteilen sei, nachdem eine rassenideologische Bewegung das Staatsschiff zu steuern begann. Für dieses akut aufgenötigte Thema griff er mehr spontan als sorgfältig vorbereitet nach Denk- und Reaktionshilfen, die auch ihm ungewohnt waren. Dabei war wohl tatsächlich die Klärung der diakonischen Seiten des Problems den theoretischen Kategorien um Längen voraus. Daß und wie mit dem Geschehen vom April 1933 eine neue Epoche für christliche Theologie im Bereich der tausend Jahre festgefahrenen Beziehungen zu den Juden eröffnet war, das sah noch niemand – ja wohl auch nicht die Opfer dieses Monats selbst, die Juden. [. . .]

2. Betheler Bekenntnis Wir werden hier nicht mehr Bonhoeffers Mitarbeit bei den einzelnen Stationen des Ringens der Kirche um Schutz nichtarischer Christen im Amt und in der Versammlung der Gemeinde analysieren – auf dem Gebiet also, das die ersten Jahre des Kirchenkampfes der Bekennenden Kirche charakterisiert. Wiewohl wir heute deutlich sehen, wie wenig dieser Kampfausschnitt das gestellte Problem der Juden im Dritten Reich erfaßte und ihm gerecht wurde, bleibt doch festzustellen, daß im herrschenden Klima des NS-Staates schon dieser höchst partielle Widerspruch gegen die totale Diskriminierung auf rassischer Basis ein mit erheblichem persönlichen Einsatz verbundenes Signal gewesen ist, das auch weit über seine objektive Bedeutung hinaus sowohl Furcht wie Dankbarkeit erzeugte. Die Nationalsozialisten identifizierten von sich aus auch diesen kleinen, durch die Auswahl so fragwürdigen Widerspruch sofort mit einer schändlichen Solidarisierung mit „ Deutschlands Unglück“, den Juden. Noch kurz verweilen wollen wir bei dem Betheler Bekenntnis, das ein knappes halbes Jahr nach dem Essay vom April entstand. Wilhelm Vischer entwarf hierzu im August 1933 in völliger Übereinstimmung mit Bonhoef-

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fer das Kapitel „Die Kirche und die Juden“ (GS II, 115–117). Um der Verwässerung dieses Kapitels willen verweigerte schließlich Bonhoeffer seine Unterschrift unter das Bekenntnis, als Niemöller es endlich im November veröffentlichte. Vischers und Bonhoeffers Entwurf zeigt dem heutigen Beobachter das Nebeneinander von scharfen anti-deutschchristlichen und damit anti-nationalsozialistischen Formulierungen einerseits und andererseits von Theologumena, die wir heute kaum ohne Bedenken lesen Nimmt man derartige theologische Formeln isoliert aus dem Text heraus, dann können sie schwerlich so stehenbleiben. Da ist das Pauschalurteil: „das Volk der Juden . . ., das den verheißenen Jesus Christus verworfen hat“. Da ist die Enterbungslehre: „An die Stelle des alttestamentlichen Bundesvolkes tritt . . . die christliche Kirche.“ Da ist die nun besonders betonte und scheinbar nicht hinterfragte „Judenmission“. Das Auge, das ohne Bemühung um den Kontext diese Stichwörter findet, kann sich nur immer von neuem an diesen Antijudaismen der christlichen Bekenner stoßen. Anlaß, Adressat und Zusammenhang des Bekenntnisses zeigen jedoch, daß ein Weg betreten ist, der eines Tages von dem kleinen Stück auch hierin schon enthaltener Solidarisierung mit Juden zu noch anderen Einsichten führen konnte. Adressaten dieses Kapitels sind die Deutschen Christen, welche im August und September Leitungssessel und Synoden eroberten und die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche ankündigten, die den Glauben an die auserwählte deutsche Herrenrasse mit besonderer Weltmission predigten und „Nationalkirche“ und „artgemäßes Christentum“ durchsetzen wollten. Auf diesem Hintergrund klingt jener „Enterbungssatz“, im vollen Wortlaut zur Kenntnis genommen, doch ein wenig anders: „An die Stelle des alttestamentlichen Bundesvolkes tritt nicht eine andere Nation, sondern die christliche Kirche aus und in allen Völkern“ (GS II, 115).

[. . .] Wie das ganze Kapitel (GS II, 115–117) mit dem Fanfarenstoß beginnt: „Die Kirche lehrt, daß Gott unter allen Völkern der Erde Israel erwählt hat zu seinem Volke“, so kommt es zur Wiederentdeckung von Römer 9–11: Gott „will die Erlösung der Welt, die er mit dem Herausruf Israels angefangen hat, mit den Juden auch vollenden“, „ihr heiliger Rest . . . kann weder durch Emanzipation und Assimilation in einer anderen Nation aufgehen . . . noch durch pharaonische Maßnahmen ausgerottet werden . . . Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord von Golgatha zu rächen . . . Wir verwerfen jeden Versuch, das Wunder der besonderen

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4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden Treue Gottes gegenüber Israel nach dem Fleisch als einen Beweis für die religiöse Bedeutung des jüdischen oder eines anderen Volkstums zu mißbrauchen.“

Es waren denn auch solche Sätze, die nach der Redaktion im gedruckten Text des Betheler Bekenntnisses nicht mehr stehen sollten; ihre Streichung veranlaßte Bonhoeffer, seinen Namen nicht mehr herzugeben – auch wenn der revidierte Text in der damaligen Lage immer noch eines der deutlichsten Oppositionsworte vor der Barmer Erklärung darstellte. Abschließend: Die dogmatischen Sätze des Betheler Bekenntnisses weisen Interpretationselemente, die lediglich von einem Trennungs- und Beerbungsverhältnis zwischen Christen und Juden ausgehen, noch nicht explizit ab. Ein Problembewußtsein an dieser Stelle ist weder in der Ekklesiologie noch in der Christologie ausgebildet; kein Zweifel etwa in dem Sinne wird laut, daß Sätze der Trennung doch wohl in Spannung zu halten wären mit Sätzen der gegebenen und bleibend verbindenden Abhängigkeit der Christen von den Juden durch Christus, den Messias Israels, den Herrn der Kirche. Trotzdem haben die polemischen und jeden Bekenner dieser Sätze gefährdenden Betonungen einer nie gebrochenen Erwählungstreue Gottes zu Israel, ja seiner Unvernichtbarkeit, eine veränderte Klangfarbe in die Formeln gebracht. Sie hatten bisher fast nur Abgrenzung bedeutet; jetzt verraten sie eine neue Ehrfurcht vor den Trägern des Namens Israel. Damit ist aber auch schon eine theologische Qualität der Beziehung zu Juden am Horizont, die von rein humanitär motivierten Handlungen für Juden unterschieden ist.

3. Entscheidungen Nach dem Jahr 1933 finden wir Bonhoeffer kaum noch beteiligt an Versuchen, das Verhältnis zwischen Juden und Christen in systematisch-lehrmäßigen Erklärungen weiter zu erarbeiten. Erst als er Anfangs des Krieges am Manuskript der Ethik sitzt, erscheinen wieder prononcierte Aussagen, nicht eigens thematisiert, aber, wie wir noch sehen werden, nun nicht mehr auf Abgrenzung hin formuliert, sondern in Richtung auf eine Verpflichtung der Christen den Juden gegenüber. Zunächst aber schien das Theoretische unwichtig geworden angesichts der praktischen Nöte. Während das Haus brennt, ist nicht Zeit, über allgemeine Brandverhütung zu diskutieren. [. . .]

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Was nun Bonhoeffers Anteil an jenem Reifungsprozeß angeht, so sah er sich im Tageskampf der Bekennenden Kirche immer wieder genötigt, daran zu erinnern, daß der Einsatz wider die Gleichschaltung in Synodalbeschlüssen nur legitim bleibe, wenn damit nicht nur das Aufrechterhalten der vollen, auch sozialen, Beziehungen zu getauften Nichtariern gemeint sei, sondern wenn die Kirche ihre Stimme auch für die Juden als Juden erhebe. In der „Nachfolge“ (N, 103) sagte er 1935, „daß der Bruder . . . nicht nur der Bruder in der Gemeinde ist“. Explizite Korrekturen oder Widerrufe von Formeln, in denen Beerbungstheorie, Strafkonzeption und Missionserklärungen vorkamen, finden sich als solche tatsächlich nicht. Allerdings werden solche Formeln in späteren Manuskripten, Artikeln, Predigten und Briefen auch kaum noch wiederholt. Stattdessen zeigen gewisse Schlüsselworte einen neuen Grad der Solidarisierung mit Juden an, mit dem ein Denken in Kategorien einer simplen Enterbungs- und Straftheorie und eine Behandlung der Juden als Missionsobjekte nur schwer vereinbar wäre. In diesem Sinne vollzieht sich mit dem Fortschreiten der Entrechtung und Verfolgung der Juden eben doch auch eine hermeneutische Wandlung. Die sich verändernde Lage läßt bestimmte Konzeptionen einfach nicht mehr über die Lippen kommen, nicht mehr in Erklärungen für den eigenen Hausgebrauch und noch viel weniger in solchen für jüdische Adressaten. Schlüsselworte in dieser Entwicklung stellen zwar noch keine Weiterentwicklung von so etwas wie einer „Theologie nach dem Holocaust“ dar, aber nachträglich offenbaren sie sich als Anzeichen ihrer Inkubationszeit. Im Abhorchen einiger der auf 1933 folgenden Aktionen, Exklamationen und auch literarischen Fragmente Bonhoeffers werden wir jene Annäherung an alttestamentliche, ja jüdische Denkformen des Glaubens, finden. [. . .]

Sprüche 31, 8 Der Vers „Tue deinen Mund auf für die Stummen“ taucht bald nach Bonhoeffers Wechsel von Berlin nach London (Herbst 1933) auf, und wir finden ihn von nun an wiederkehren in allen möglichen Zusammenhängen. Er klagt sich selbst damit an; er benutzt ihn als Stachel zum Antreiben von Verantwortlichen. Im Januar 1934 steht das Wort in einem Brief an George Bell, den Bischof von Chichester, damals Präsident des Ökumenischen Rates von Life and Work; in diesem Brief bedankt sich Bonhoeffer für Bells Schreiben an den Reichsbischof Ludwig Müller, nachdem letzterer den sogenannten Maulkorberlaß verhängt hatte (GS II, 144). Im September 1934 benutzt Bonhoeffer das Wort in einem Brief von London in die Schweiz an Erwin Sutz, als er diesem seinen Zorn über die Zurückhal-

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tung seiner Kirche in der Heimat schildert gegenüber den Taten des Staates (30. Juni; Dollfuß-Mord, Hindenburgs Tod und „Führer“-Gesetz): „Wer weiß denn das heute noch in der Kirche, daß dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?“ (GS I, 42)

Am deutlichsten wird Bonhoeffer schließlich, als er – wieder in Deutschland – im August 1935 vor Kandidaten der Provinz Sachsen über die „Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte“ vorträgt und das Glaubwürdigkeitsproblem anspricht; da heißt es nach dem Zitat von Sprüche 31,8: „Hier wird wahrscheinlich die Entscheidung fallen, ob wir noch Kirche des gegenwärtigen Christus sind. Judenfrage!“ (GS III, 324)

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Gregorianik? Hierher gehört das oft zitierte Wort Bonhoeffers: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Man fand heraus, daß ich die mündlich tradierte Formel einmal auf 1935, ein anderes Mal auf 1938, das heißt in die Nähe der sogenannten „Kristallnacht“-Ereignisse datierte. Ich denke jetzt, daß sie doch an das Ende von 1935 gehört. Das war einerseits die Zeit der Nürnberger Gesetze, die Bonhoeffer – schon im Gedanken an die Geschwister Leibholz – außerordentlich erregten. Noch dachten letztere nicht wirklich daran, eine Auswanderung vorzubereiten. Das war die Zeit, als Leute wie Franz Hildebrandt, Martin Albertz, Hans Böhm und andere darauf hofften, die Steglitzer Bekenntnissynode würde ein Wort zu den Nürnberger Gesetzen finden – vergeblich –, und als manche immer noch hofften und wohl auch glaubten, man könne Korrekturen am System erreichen oder doch wenigstens Einfluß auf individuelle Notlagen bekommen. Der bayrische Bischof Meiser warnte noch vor der Steglitzer Synode vor jeder Behandlung der „Judenfrage“ im September 1935: „Ich möchte meine Stimme erheben gegen ein selbstverschuldetes Martyrium. Ich sehe mit einiger Sorge auf die kommende preußische Synode, wenn sie solche Dinge anschneiden will wie zum Beispiel die Judenfrage.“16

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Denkschrift Um die Zeit der Nürnberger Gesetze war um und durch Martin Albertz in Spandau Vorarbeit geleistet für eine genauere Erhebung dessen, was teils geplant, teils wild an Juden verbrochen worden war. Zur Enttäuschung Bonhoeffers faßte die Steglitzer Synode noch keinen Beschluß in dieser Sache, sondern bekannte lediglich von neuem die fortdauernde Praxis der Judentaufe – auf das Risiko selbst solch einer Erklärung verwiesen wir schon. Sie regte aber einen Ausschuß an, aus dem schließlich die berühmt gewordene Denkschrift der zweiten VL („Vorläufige Leitung der DEK“) an Hitler vom Frühsommer 1936 hervorging. Diese Denkschrift enthielt zum ersten Mal einen allerdings immer noch recht vorsichtig abgefaßten Abschnitt über die Behandlung der Juden als solche, die man jetzt ja „hassen“ solle. Bonhoeffer gehörte weder zu den Verfassern beziehungsweise Ausschußmitgliedern noch zu den Unterzeichnern. Aber Franz Hildebrandt war intensiv beteiligt, und so hatte Dietrich ständig Kontakt mit den Phasen des Entstehens und der Beratungen. Beide waren froh, daß die Sache endlich zur Sprache gebracht werden sollte, wenn auch in jener geplanten Mitteilungsform allein vertraulich an den „Führer“. Aber auch bei der vorzeitigen Veröffentlichung durch die Aktion von Friedrich Weißler, Ernst Tillich und Werner Koch gab es für Bonhoeffer eine gewisse Nähe zur Krise um diese Denkschrift (siehe DB, 604–611). Die beiden „Missetäter“ Tillich und Koch gehörten zu seinen engsten Schülerkreisen; Tillich war zum Beispiel Glied seiner Studentengruppe bei der Konferenz in Fanö 1934, Koch Finkenwalder des Winters 1935/36. Eine Verurteilung seiner Schüler durch Bonhoeffer wegen ihrer Aktion (der Auslieferung der Denkschrift an die Auslandspresse) hat es nie gegeben. „Sie gehören in diesen Tagen noch mehr zu uns als zuvor“ (Weihnachtsbrief an Koch 1936 ins Gefängnis, GS II, 513). Finkenwalde nahm sie in das tägliche Fürbittengebet auf. Werner Kochs Befreiung aus dem KZ veranlaßte eine spontane Korrespondenz zwischen Koch und Bonhoeffer (Dezember 1938, GS II, 545).

„Kristallnacht“ Während der „Kristallnacht“ befand sich Bonhoeffer in dem hinterpommerschen Dorf seines Seminars, Groß-Schlönwitz zwischen Stolp und Schlawe, dem Parallel-Aufenthaltsort des sogenannten Sammelvikariates zu dem anderen Ort in Köslin. Durch seine Familie wußte er ziemlich gut Bescheid über neue Eskalationen der Judenbehandlung im Zusammenhang mit der drohenden Kriegsgefahr während der Sudetenkrise. Davor hatte er noch mitgeholfen, im September die Geschwister Leibholz auf den Weg in die Emigration zu bringen. Jetzt im November im hintersten

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Pommern konnte er sich jedoch nur langsam ein volles Bild machen von dem, was denn nun wirklich im ganzen Reichsgebiet passierte. Er war zunächst angewiesen auf die lokale Presse, das Radio und vorsichtige Telefongespräche mit den Eltern in Berlin. Zu diesen ist er dann aber so bald als möglich auf einen kurzen Besuch gefahren. Es gibt Erinnerungsberichte von je einem Kandidaten Bonhoeffers in Groß-Schlönwitz und in Köslin. Hans Werner Jensen erzählt aus GroßSchlönwitz von dem Beten des Psalms 74 Vers 8, „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande“, am 10. November 1938, von Bonhoeffers Reise nach Berlin und der schnellen Rückkehr in der Morgendämmerung. Gottfried Maltusch berichtet aus Köslin, wie man in Abwesenheit Bonhoeffers den Synagogenbrand in dieser Kreisstadt miterlebte und wie man wenige Tage später mit Bonhoeffer das Ereignis diskutierte. Bonhoeffer habe sich schärfstens dagegen gewandt, vor diesem Hintergrund noch von dem Fluch auf den Juden wegen der Kreuzigung Christi zu reden. Ja: „Wenn heute die Synagogen brennen, dann werden morgen die Kirchen angezündet werden.“17 Der Bericht von Maltusch deutet also darauf hin, daß hier so etwas wie eine Absage an eine früher formulierte Straftheorie ausgesprochen wurde. Ich selber besitze ein Zeichen einer neuen Solidarisierung anläßlich des „Kristallnacht“-Ereignisses. Das ist in Bonhoeffers Gebets- und Meditationsbibel ein schlichter Bleistiftstrich bei jenem Psalm 74. In Vers 8 ist jene zweite Hälfte unterstrichen: „Sie sprechen in ihrem Herzen: ‚Laßt uns sie plündern!‘ Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande.“ Am Rand steht von Bonhoeffers Hand klein geschrieben mit Ausrufungszeichen: „9.11.38!“ Die beiden folgenden Verse sind von ihm mit einem Randstrich und Ausrufungszeichen versehen. Sie lauten: „Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß, wie lange. Ach Gott, wie lange soll der Widersacher schmähen und der Feind deinen Namen so gar verlästern?“

Im nächsten Rundbrief Bonhoeffers an seine ehemaligen Finkenwalder vom 20. November 1938 steht: „In den letzten Tagen habe ich viel über Psalm 74, Sacharja 2, 8 (‚wer euch antastet, tastet seinen Augapfel an‘), Römer 9,3f. (Israel, dem gehört die Kindschaft, die Herrlichkeit, der Bund, das Gesetz, der Gottesdienst, die Verheißungen), Römer 11,11–15 nachgedacht. Das führt sehr ins Gebet“ (GS II, 544).

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Konspiration Es besteht wohl kein Zweifel, daß die Hauptmotivation für Bonhoeffers Schritt in die aktive politische Verschwörung die Judenbehandlung durch das Dritte Reich gewesen ist so wie das auch für seine Familie der Fall war, welche mit Dietrich noch einen weiteren Sohn, Klaus, und die Männer zweier Töchter, Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi, durch Hitler verlor. Natürlich gab es auch politische manche betonen konservative, andere demokratische Elemente der Motivation. Für Dietrich fing es 1933 ja so an, daß er bei den politischen März-Gesetzen zur Zerstörung der bürgerlichen Freiheiten (Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, Heimtücke- und Ermächtigungsgesetz) noch nicht öffentlich seine Stimme erhob; beim vierten aber, beim Nichtarier-Gesetz (Wiederherstellung des Berufsbeamtentums), da schrieb er seinen oben behandelten Aufsatz. Natürlich wartete er auf den Protest, auf den Widerstand im streng politischen Sinn, auf das Eingreifen der dazu berufenen Beamten, Politiker und Militärs. Erst als nichts geschah, stattdessen jedermann, eine Berufsgruppe nach der anderen, die jeweilige Verantwortung delegierte, stellte er sich der besonderen Situation, die ihm, dem Pfarrer, in der Konstellation in und mit seiner Familie zufiel. Er wußte schon lange, von mehr, als die normale Öffentlichkeit, als der normale Berufskollege in der Kirche erfuhr, zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel von den ersten Einsatzgruppen in Polen.

Ethik Die Art und Weise seiner Mitarbeit bei der Konspiration, nämlich die UKStellung für die Abwehr von Canaris, erlaubte ihm paradoxerweise auch mehr Zeit für den Schreibtisch in den manchmal längeren Intervallen zwischen Reisen und Berichterstattung. Es entstanden wieder ausführliche Manuskriptseiten, und zwar für eine Ethik, eine christologische Ethik, die freilich nie fertig werden sollte. Nun finden sich wieder prononcierte Äußerungen auch in bezug auf die Juden. Die christologische Mitte ist nirgends verleugnet; er horcht sie im Gegenteil immer aufs neue ab auf Befreiungen zur notwendigen politischen Tat. So aber stehen da auch Sätze, wie es sie vorher nicht gab: „Weil . . . Jesus Christus der verheißene Messias des israelitisch-jüdischen Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen. [Hervh. HG18] Er ist das Zeichen der freien Gnadenwahl und des verwerfen-

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4. Bonhoeffers Stellung zu den Juden den Zornes Gottes. ‚Schau an die Güte und den Ernst Gottes‘ (Römer 11, 22). Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude“ (E, 95). [. . .]

Wichtig für unsere Perspektive ist aber, daß hier Bonhoeffers theologische Reflexion auf gegenwärtig lebende Juden abzielt. Sie gelten in dieser Reflexion nicht nur als Opfer, denen diakonische Hilfe gebührt, sondern in notwendigem Bezug auf gegenwärtige christliche Identität („unlöslich verbunden“, in „unaufhörlicher Begegnung“) konstituieren sie die Kirche als Kirche. Was kann eine Kirche noch sein, wenn mit der Verstoßung der Juden auch Christus das Abendland verlassen hat? Wichtig ist auch, daß die Hermeneutik des letzten Aktes des Holocaust nun auch auf die Christologie durchschlägt. Die Christusfrage verkommt ohne die Juden; ohne die Juden erlaubt man sich die Pervertierung des Messias Israels, Christus, in einen griechischen Gott und schließlich gar in einen teutonischen Polizeigott zur Überwachung rassischer Reinheit. In der Tat: Juden halten die Christusfrage „offen“. Zwar steht hier noch mißverständlich, daß Christus Messias des „isrealitisch-jüdischen Volkes war“, daß Jesus Christus Jude „war“ und nicht „ist“; es steht auch noch da, daß „der Jude“ auch „Zeichen . . . des verwerfenden Zornes Gottes“ (Röm. 11,22) ist. Aber nichts mehr davon, daß Christus die Kirche etwa von den Juden trenne, steht da, sondern daß er sie mit den Juden auf Leben und Tod verbindet. Nicht nur der nun agierende Mensch Bonhoeffer, sondern auch der Theologe Bonhoeffer ist in Gang gesetzt.

Schuldbekenntnis – Brüder? Grundsätzlichere Bedeutung kommt so dem im gleichen Kapitel der „Ethik“ zu findenden Schuldbekenntnis der Kirche zu. Es ist geschrieben genau an der Schwelle zu Bonhoeffers aktiver Einordnung in die Widerstandsgruppe bei der Abwehr von Admiral Canaris im Herbst 1940. Angesichts dessen, was nun seinem kaum auszudenkenden Höhepunkt entgegenstolperte, reflektiert das Bekenntnis, was Bonhoeffers Kirche und er mit ihr verschuldet hatte. Bonhoeffer hält sich an den Gang der Zehn Gebote. Beim fünften Gebot – nicht töten – formuliert er zunächst generell: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen.“

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Dann aber fährt er mit neuem Satz fort, um nur ja nicht das Spezifikum christlicher Schuld der dreißiger Jahre zu verfehlen: „Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi“ (E, 121f.).

Bonhoeffer sagt nicht einfach: „am Leben der Juden“. Möglicher Grund für die verdeckte Wortwahl wäre, daß ein Konspirateur die notwendige Camouflage nicht mit geschriebenen Abschnitten über das Leiden der Juden verletzen sollte, weil Schriftliches gefunden werden konnte. Aber er hat doch vorher nicht unterlassen, das gefährliche Wort hinzuschreiben. Der wirkliche Grund ist wohl von theologischer Qualität. Mit diesem Wort „Brüder Jesu Christi“ vollzieht Bonhoeffer im Bekennen der eigenen und der kirchlichen Schuld einen Akt der inneren Solidarisierung mit den Opfern des Holocaust und respektiert zugleich die verschuldete Distanz. Das wird jetzt möglich, weil Bonhoeffer nun im Begriff steht, mit dem Eintritt in die Verschwörung eben für diese „Brüder“ Reputation und Leben aufs Spiel zu setzen. Juden „Brüder“ zu nennen, das gab es damals in der Bekennenden Kirche überhaupt noch nicht. Von „jüdischen Brüdern“ hatte man in der Bekennenden Kirche seit 1933 immer nur in bezug auf die getauften Nichtarier gesprochen, auch Bonhoeffer selber19. Nie hatte man es im Zusammengehören mit den Juden als Juden gekonnt. So scheint mir (bis auf weitere Belehrung), daß an dieser Stelle tatsächlich zum ersten Mal in Kreisen der Bekennenden Kirche im vollen Sinne von den zur Vernichtung geführten Juden insgesamt als von „Brüdern“ geredet wird. Um genau zu sein, Bonhoeffer sagt noch nicht: „unsere Brüder“. Dazu ist die Schuld zu unübersteigbar, sie ist noch nicht in irgendeinem Sinne erfahrbar als gesühnt. Bonhoeffer bleibt distanziert und sagt: „Brüder Jesu Christi“. Erst wenn Sühne akzeptiert worden ist, könnte die Erlaubnis kommen, auch „unsere Brüder“ zu sagen. Kain könnte so nur sprechen, wenn Abel damit begänne. Hier befinden wir uns an einem Angelpunkt der Bedeutung Bonhoeffers für das Problem Juden und Christen. Die Sprache dieses Bekenntnisses läßt die Sprache der Beerbungstheologie, der Straftheologie, der Missionstheologie und die Haltung hinter diesen Theologien fast versunken erscheinen. Vielleicht kann man an dieser Stelle von einem aktualen Durchbruch zu einer kommenden Theologie nach dem Holocaust sprechen insofern, als mit diesem Akt einer bußfertigen Annahme der Verbundenheit als Brüder dieser bekennende Christ sich anschickt, selbst Teil des Holocaust zu werden. [. . .]

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Tegeler Briefe Mit geschärften Augen für den Entschränkungsprozeß unter der Hermeneutik des Holocaust müßte man „Widerstand und Ergebung“ neu lesen, um zu entdecken, wie Ansätze der „Ethik“ eine Weiterentwicklung erfahren, die Gottes Leiden in und an der Welt mit dem Alten Testament, mehr aber mit der Gegenwart von Juden und Christen zusammenschließt, so daß ein als exklusiv behauptetes Kreuz inklusiv verstanden werden muß. Wir greifen zwei Hinweise heraus. (a) In dem Rechenschaftsbericht von 1942/43 „Nach zehn Jahren“ (WEN, 11ff.) findet sich der Abschnitt vom „Mitleiden“. Er setzt ein mit der Analyse von der Unfähigkeit zu präventivem Handeln und von der Stumpfheit gegenüber fremdem Leiden. Dann laufen die Linien vom Leiden Christi ohne exklusives Interesse zum Leiden der „Brüder“. Es ist undenkbar, daß hier etwa nicht die Juden gemeint seien. Schließlich wird dann das eigene Einbezogensein reflektiert: „Christus – so sagt die Schrift – erfuhr alles Leiden aller Menschen an seinem Leibe als eigenes Leiden – ein unbegreiflich hoher Gedanke . . . Wir sind nicht Christus, aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, daß wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus Angst, sondern aus der befreienden und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt . . . Den Christen rufen nicht erst Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder (!), um deren willen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden“ (WEN, 23f.).

An seine (emigrierte) Nichte Marianne Leibholz hatte er zur Konfirmation im Mai 1942 auf einer Reise in die Schweiz nach Oxford geschrieben: „Es gibt soviele Erfahrungen und Enttäuschungen, die sensitive Leute auf den Weg des Nihilismus und der Resignation treiben. Deshalb ist es gut, früh genug zu lernen, daß Leiden und Gott kein Gegensatz sind, sondern eher eine notwendige Einheit; für mich ist die Idee, daß Gott selber leidet, immer das weit überzeugendste Stück christlicher Lehre gewesen.“20 (b) Unmittelbar vor dem mißlungenen Putsch schrieb Bonhoeffer im Brief vom 18. Juli 1944 (WEN, 394f.) Sätze, welche das messianische Leidensereignis Christi und das Israels wie auch die Ereignisse der Gegenwart zu voller Inklusivität bringen. Metanoia ist an dieser Stelle ein „sich in den Weg Jesu Christi mithineinreißen lassen in das messianische Ereignis, daß Jesaja 53

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nun erfüllt wird“ (WEN, 395). „Jesaja 53“ als stellvertretendes Leiden Israels für die Völker wird erfüllt nicht in einem „Damals“, sondern „nun“ in der Gegenwart als „Leben der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt“ (WEN, 396). So halten wirklich die Juden die Christusfrage offen.

Zwei Tage zuvor hatte Bonhoeffer die berühmt gewordene Formel geprägt: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ (WEN, 394). Ich formuliere interpretierend um: „Vor und mit dem biblischen Gott leben wir ohne den griechischen Gott“; „vor und mit dem gekreuzigten Gott leben wir ohne den thronenden Gott“; „vor und mit dem leidenden Gott leben wir ohne den mächtigen Gott“. Dazu gehört auch das Gedicht aus den gleichen Tagen „Christen und Heiden“, vor allem die zweite Strophe (WEN, 382): „Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehn bei Gott in seinem Leiden.“

Hier weisen Wegzeichen in die Richtung einer Theologie nach dem Holocaust. Es wäre reizvoll, zu eruieren, wo Männer wie Barth, Iwand oder Eichholz auf ihren Wegen später zu ähnlich inklusiven Sätzen gekommen sind. [. . .]

IV. Summe Von Bonhoeffer eine ausgeführte oder im Entwurf angerissene „Theologie nach dem Holocaust“ zu erwarten, ist ungeschichtlich. Was er leistete, war eine Solidarisierung mit Juden in einer Tat, hier und da auch Ansätze zu einer künftigen Theologie solcher Art. Die Ansätze lassen vermuten, daß er sich nie wieder zur theologischen Totaltrennung der Christen von den Juden hätte verstehen können. Heute fallen bei Bonhoeffer Bewußtseinslücken ins Auge. Er hat nie Talmud studiert. Wir finden auch verfälschende Stereotype des Juden bei ihm, zum Beispiel: „Für den Nachfolger Jesu kann der Gottesdienst nie mehr, wie für den Rabbinen, vom Dienst am Bruder gelöst werden“ (N, 104). Bonhoeffer hatte sich noch nicht damit befaßt, wieweit Theologie und Kirchengeschichte mit ihren theologischen Antijudaismen – durchaus zivil, ökonomisch, sozial und moralisch exekutiert – den Antisemitismus zubereitet hatten. [. . .]

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Was den Zeitpunkt von Entwürfen einer „Theologie nach dem Holocaust“ betrifft, so durften diese vielleicht nicht einmal vor der Tat liegen, gerade um ihre Ernsthaftigkeit nicht zu verspielen. Vorher mußten sparsamste Sätze genügen, Andeutungen einer Entgrenzung der Bruderschaft in praktischer Solidarisierung, um sich mit dem Glasperlenspiel unverwirklichten Denkens nicht von der Buße der notwendigen Tat abdrängen zu lassen; um nicht zu meinen, die Tat der Hände mit Taten des Kopfes ersetzen zu können. Daß seine zur Metanoia wie nie zuvor gerufene Kirche kaum wieder sein könne, was sie gewesen war – existentiell, strukturell, theologisch –, das hatte er ausgesprochen. Sie wurde jedoch wieder, was sie gewesen war, und das Leben der Buße steht noch aus. Zu seinen Lebzeiten gab es für Bonhoeffer keinen lebenden jüdischen Partner zum konkreten Dialog über so etwas wie eine Theologie nach dem Holocaust. Was er von seiner Seite im „Dialog“ sagte, war die Antwort von Flossenbürg. Die Frage war gestellt worden in Gestalt der Tötung der Juden. Wiewohl Bonhoeffer manches erhoffte und unternahm, um zu leben, bedeutete seine Antwort für ihn den Tod. In diesem stummen, unwiederbringlich abgeschlossenen Dialog bedeutet Bonhoeffer für uns einen Durchbruch zu einer neuen, einer „Theologie nach dem Holocaust“. Diese selbst hat nicht er, diese haben wir zu denken und zu entwerfen, auch weil sein Todes-Dialog so vernehmlich spricht. Bonhoeffer ist nicht der Entwerfer solcher Theologie. Er gehört zu den Ermöglichern, zu ihren Auslösern für die christliche Seite eines neuen Dialoges. Er hatte als einer von wenigen sich dem Komplicentum mit den „Endlösern“ entwunden. Das macht aus ihm eines der unersetzlichen Bindeglieder zu den Opfern, zu den Entkommenen und zu den Nachkommen des Holocaust. Und das offensichtlich in einer Weise, die das Thema unserer Seite „Bonhoeffer und die Juden“ schon auf eine erste dialogische Entsprechung von der anderen Seite her hat treffen lassen: „Die Juden und Bonhoeffer“.

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4.4 Theologie nach Auschwitz und die Christologie „Der Jude hält die Christusfrage offen – Christus hält die Judenfrage offen“ 21 Axel Denecke [. . .]

5. „Der Jude hält die Christusfrage offen“ – Bonhoeffers theologisches Vermächtnis Bonhoeffer war, wie wir jetzt – jetzt! – wissen, seiner Zeit weit voraus, auch was das christlich-jüdische Gespräch anbetrifft. Es ging ihm am Ende seines Lebens nicht mehr allein um das ethisch-diakonische Eintreten für die verfolgten Juden (das war ihm selbstverständlich), sondern vor allem auch um eine theologische Neubesinnung, was das Verhältnis AT – NT, Judentum – Kirche anbetrifft. Die auch von der BK verwendeten Satzfiguren aus dem Arsenal der Verstockungs- und Verwerfungstheorien (die Kirche hat Israel enterbt, Kirche ist das wahre Israel, Judentum ist als Religion eine alte Reliquie) werden von ihm – als Einziger damals – radikal infrage gestellt. Ich erinnere als eine Aussage von vielen an das, was Hans Asmussen, sonst honorig der BK angehörig, sagte: „Die Zeit des Judentums ist vergangen. Israel hat die große Stunde Gottes nicht erkannt . . . Das neue Wesen (der Kirche) kennt keinen Frieden mit Juden und Heiden. Beiden steht die christliche Kirche in unüberbrückbarem Gegensatz gegenüber, solang sie überhaupt noch Kirche ist“22. Das war Common Sense damals, wurde von allen so akzeptiert. Auch hier stand Bonhoeffer allein als „einsamer Rufer in der Wüste“, der das theologisch ganz anders sah. In seiner Ethik, an der er ab 1940 bis zu seiner Inhaftierung 1943 geschrieben hat (und die unvollendet blieb, uns auch nur in Bruchstücken erhalten ist), hat er dann die für ihn und bis heute für uns entscheidenden theologischen Sätze zum christlich-jüdischen Verhältnis gesagt. „Der geschichtliche Jesus Christus ist die Kontinuität unserer Geschichte. Weil aber Jesus Christus der verheißene Messias des israelitischjüdischen Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unlöslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen. (Hervorhebung A. D.) Er ist das Zeichen der freien Gnadenwahl . . . Gottes. Eine Verstoßung der Juden aus

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dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen, denn Jesus Christus war Jude“23. In diesem Zusammenhang klagt er wie in dem nicht ausgesprochenen Schuldbekenntnis noch einmal seine Kirche an: „Sie war stumm, als sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter Zeit nicht gefunden. Sie hat dem Abfall des Glaubens nicht aufs Blut widerstanden und hat die Gottlosigkeit der Massen verschuldet.“24 Zentral ist die Aussage: „Der Jude hält die Christusfrage offen“ und weiter die Bezeichnung der Juden als „Brüder Jesu Christi“. Beides in Zusammenhang gelesen, ist nicht anders zu verstehen als so: „Nicht müssen die Juden (etwa durch die Taufe bzw. Konversion) zu unseren Brüdern werden, sondern wir Christen müssten erst noch (ohne es schon zu sein) zu Brüdern Jesu Christi werden, indem wir tun, was er tat und was er sagte.“25 Denn „der Jude hält die Christusfrage offen!“ Das ist Bonhoeffers Vermächtnis bis heute. Warum offen? Wir Christen sagen gewöhnlich „Ja, ja“ zu Christus, also zu dem Menschen Jesus von Nazareth; dass er der Messias sei, dass sich in ihm der Friede Gottes unüberbietbar zeigt. Christus ist unser Heiland und wir bekennen es abschließend! Die Juden damals und heute sagen „Nein“ zu Christus, sagen nicht Nein zu Jesus von Nazareth, dem frommen Rabbi, aber „Nein“ zu Christus, dem Messias und Sohn Gottes. Sagten sie damals, sagen sie heute noch, zu unserem Dienst. Denn in ihrem lauten „Nein“ ist nur unser leises „Nein“ – bei allem lauten Ja – gemeint, unser Nein, indem wir Christus gerade nicht nachfolgen, nicht das tun, was er getan hat, hinter ihm meilenweit zurückbleiben. Die Juden erinnern uns mit ihrem lauten „Nein“ – Jesus ist nicht der Christus und nicht der Messias, denn noch ist kein Friede in der Welt, „Frieden auf Erde“ ist noch nicht da – sie erinnern uns an unser heimliches „Nein“ zu Christus, indem wir ihm bei allem unserem lauten „Ja“ in Wort und Tat nicht folgen. Das hat Bonhoeffer damit gemeint, wenn er sagt: „Der Jude hält die Christus-Frage offen.“ Oder anders gesagt: Wir Christen müssen die sogenannte „Judenfrage“ zur „Christus-Frage“ umwandeln, deren von uns auszuhaltende Offenheit in unser christliches Selbstverständnis zu integrieren ist. Noch anders gesagt: „Den Juden, der NEIN zu Jesu sagt, haben wir zu akzeptieren als jemanden, der uns einen unvergleichlichen Dienst leistet. Indem er hartnäckig und unüberhörbar nach unserem heidnischen, götzenhaften Umgang mit unserem geschichtlich gewordenen Christus-Glauben fragt – einen Dienst zu besserem Christ-Sein wider einen alle Egoisten befriedigenden religiösen Heilsbringer.“26 Denn: Ob Jesus wirklich der Christus ist, wird sich zeigen – wie unsere jüdischen Brüder und Schwestern sagen – wenn der Messias kommt bzw. wiederkommt. Ein jüdischer Theologe sagt dazu: „Wenn morgen Jesus wiederkäme, würde ihn von Angesicht kein Christ erkennen können.

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Aber es könnte wohl sein, dass der, der am Ende der Tage kommt, der die Erwartung der Synagoge und der Kirche ist, dasselbe Antlitz trägt.“27 Das sind Grenzgedanken, die Fr.-W. Marquardt, der Berliner systematische Theologe, in seinem epochalen 6-bändigen Werk „Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden“ als eine Theologie nach dem Holocaust“28 aufgenommen und weiter ausgeführt hat. Die Juden sind die ersten „Brüder Jesu Christi“, natürlich, denn alle Jünger waren Juden, die Urgemeinde war jüdisch, Paulus war ein Jude, das NT ist ein jüdisches Buch. So sind wir mit dem Juden, natürlich über das AT, aber eben auch über das NT, untrennbar verbunden. Paulus drückt es so aus: „Nicht du (Christ) trägst die Wurzel, sondern die Wurzel (die Juden) tragen dich.“29 Das steht seit 2000 Jahren in der Bibel, aber es ist uns – grob gerechnet – erst seit 25 Jahren (Rheinische Synode 1980) bewusst geworden. Bonhoeffer hat es als „einsamer Rufer in der Wüste“ vorausgreifend immerhin schon 40 Jahre eher gesagt. Er wurde nicht erhört, gehört – unerhört. Verdrängtes Erbe Bonhoeffers? Bis heute? Es bleibt also neben all seinem Schreien für die Juden, seinem Widerstand und Martyrium im Beten und Tun des Gerechten für uns heute vor allem auch sein prophetisches Wort. „Der Jude hält die Christusfrage offen“. Sie ist bis heute offen, obwohl sie doch angeblich (und im Geist Christi tatsächlich) bereits seit 2000 Jahren beantwortet ist. Es ist an uns, im Gespräch mit den Juden – Bonhoeffer im Gedächtnis und im Sinn, ihn aber nicht als heiligen Stichwortgeber, sondern als noch uneingelöstes Vermächtnis – nach einer Beantwortung dieser offenen Frage zu suchen.

6. Der Christus hält die Judenfrage offen – Bonhoeffer weiterdenken in unsere heutige Zeit Ich erlaube mir daher am Ende, mich selbst auf die Suche nach einer Beantwortung dieser Frage zu begeben, indem ich den Ansatz Bonhoeffers versuchsweise weiterdenke und in unsere heutige theologische Diskussion übertrage. Denn es hat sich ja – das wissen die Kenner und ich habe es mit Hinweis auf den Beschluss der Rheinischen Synode und auf das Werk Fr.-W. Marquardts bereits angedeutet – viel getan in der „christlichen Theologie nach Auschwitz“. Wenn also Bonhoeffer in seiner Zeit wie dargelegt das prophetische Wort ausspricht: „Der Jude hält die Christusfrage offen“, so können wir es versuchsweise ergänzen und präzisieren durch den Satz. „Der Christus (genauer: der irdische Jesus) hält (aber auch) die Judenfrage offen“. Was ist damit gemeint? Das, was Jesus in seinem irdischen Leben getan hat, wie er glaubte und handelte, wie er Gott seinen Vater nennen konnte

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und dies an uns weitergab, wie er Menschen in seinen Bann zog, Kranke seelisch und körperlich heilte, äußerlich Gesunde neu mit Gott versöhnte, ihre Trennung von Gott zu überwinden half, wie er sein Gott wohlgefälliges Leben durchhielt bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz, wie er so ein Zeichen für ein gelungenes und gottgefälliges Leben für uns alle setzte – all das und noch viel mehr steht noch aus, das ist uns noch voraus: Das ist in ihm einmal und einmalig vorweggenommen, damit wir alle wissen, wie wahres Leben aussieht und sein kann. Darum erlauben wir Christen uns, diesen Jesus den Christus zu nennen, Sohn Gottes uns zugute. Wir erlauben es uns, inspiriert von seinem vollmächtigen Leben. Und ich füge hinzu: Nenne mir einen anderen Menschen, der so intensiv, so voll und ganz und untadelig Gott auf Erden präsentiert, der im Geiste und in seinem konkreten Leben so ganz „eins mit Gott“ war. Das ist das Geheimnis, das wir Christen im theologischen Begriff der „Inkarnation Gottes in Jesus“ abgekürzt zusammenfassen. Und das gilt für alle Menschen, für alle, für uns Christen natürlich in erster Linie, aber auch für Nicht-Christen und damit auch für Juden. Diesen elementaren und vielleicht auch ärgerlichen Hinweis auf Jesus, dem Gottvertrauten, können und dürfen wir ihnen nicht ersparen. Die Juden halten mit ihrem „Nein“ im Sinne Bonhoeffers die Christusfrage offen, ja das tun sie, uns Christen zur Mahnung. Doch Jesus hält mit dem, was er tat und wie er lebte, auch die Judenfrage offen, hält die Frage weiter offen, ob er nicht doch – anders als viele jüdische Vorstellungen nahe legen – der Messias war, das in seiner Person vorwegnehmend, und zwar real und für jeden anschaulich vorwegnehmend, was wir alle als gelungenes und Gott wohlgefälliges Leben ersehnen, erträumen, erwarten, wir alle, Juden und Christen. In Jesus, den wir daher Christus nennen, ist es vorweggenommen, damit wir alle sehen, wie es aussehen kann, gelungenes Leben und Gott wohlgefälliges Leben. Was spricht dagegen, das es so ist? Jesus hält die Judenfrage offen, weil er durch sein Leben und Sterben das „Nein“ der Juden zu ihm als Messias immer wieder – gerade auch für Juden – infrage stellt, weil er sich einem endgültigen „Nein“, das apodiktisch ausgesprochen erden kann, entzieht. Es steht zwar noch dahin – für Christen und Juden – ob der Messias am Ende, wenn er (wieder)kommt, die gleichen Züge tragen wird wie der, der für uns Christen vor 2000 Jahren gekommen ist; steht in der Tat noch dahin. Doch das ist eben eine ganz und gar offene Frage, für Christen und Juden, für Juden und Christen. Insofern gilt eben und das können und dürfen wir keinem Juden ersparen: Der Christus (der irdische Jesus, den wir Christen Christus nennen) hält die Judenfrage offen, hält die Frage an die Juden offen, ob nicht dieser Jude Jesus doch der verheißene Messias gewesen ist und immer noch ist. Man muss diesen Jesus dann jüdischerseits

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nicht „Christus“ nennen, wie wir Christen es tun, das ist nicht nötig, man kann in ihm dann aber doch den „Messias“ wiederfinden, den Messias Israels und der Welt.

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Hg: DBW 12, 355. Hg: DBW 6,130. Hg: DBW 8, 34. Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 12, 350–355 (der erste Teil des Aufsatzes „Die Kirche vor der Judenfrage“), jedoch ohne die Fußnoten. Hg: Das Zitat stammt aus Gottfried Menkens Schrift „Über Glück und Unglück der Gottlosen“ (ders., Schriften, Bd. 7, 97). Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 12, 408–414 (Auszug aus der Thesenreihe „Der Arierparagraph in der Kirche“), jedoch ohne die Fußnoten. Hg: Am 6. 9.1933 wird von der altpreußischen Generalsynode das „Kirchengesetz betr. die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten“ beschlossen. Damit übernimmt die Generalsynode die „2. Form des Arierparagraphen“. Bonhoeffer möchte in der ApU kein Pfarramt mehr bekleiden. Er verlässt die ApU und tritt seinen Dienst als Pfarrer in der deutschen Auslandsgemeinde in London an. Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 6, 95 und 130. Hg: Zu dem Auszug aus Bonhoeffers „Ethik“ DBW 6, 95 vgl. Andreas Pangritz, Marginalie zu Bonhoeffers Ethik, in: Dietrich Bonhoeffer Jahrbuch 2, 2005/2006, Gütersloh 2005, Seite 210–217. 1940 im Kloster Ettal geschrieben. Dabei ist zu beachten, dass Bonhoeffer die Worte „Brüder Jesu Christi“ bewusst später hinzugefügt hat, wohl um den Hinweis auf die Juden unüberhörbar zu machen. Hg: Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Briefe von D. Bonhoeffer vom 9.9.33 und K. Barth vom 11.9.33 oben in 3.2. Dem Artikel liegt der Vortrag anläßlich der Verleihung des Dr. Leopold-LucasPreises durch die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen am 24. Oktober 1979 zugrunde. Hg: Wiedergabe des Textes aus: Konsequenzen: Dietrich Bonhoeffers Kirchenverständnis heute, IBF Nr. 3, Chr. Kaiser Verlag München 1980, S. 171–214. Hier um ca. 1/3 gekürzt. A. von Hamack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, 1921, 248f. Siehe jetzt E. Busch, Juden und Christen im Schatten des Dritten Reiches, München 1979, 47ff. W. Niemöller, Die deutsche Evangelische Kirche im Dritten Reich, 1956, 383. W.-D. Zimmermann (Hg.), Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, München 1969, 142.

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Hg: Vgl. dazu den Artikel von Axel Denecke, „Der Jude hält die Christusfrage offen“ – Christus hält die Judenfrage offen, unten unter 4.4. Siehe GS II, 50, April 1933: Die Bekennende Kirche „weiß sich diesen als Brüder verbunden“; aber auch Herbst 1933, GS VI, 276f., im Entwurf zur Notbund-Verpflichtung; oder in N, 229, beim Abschnitt über die soziale Dimension der Taufe – trotz der erwähnten Stelle N, 103: „daß der Bruder . . . nicht nur der Bruder in der Gemeinde ist“. E. Bethge, Ohnmacht und Mündigkeit, München 1969, 111. Hg: Teilabdruck des Aufsatzes „‚Der Jude hält die Christusfrage offen‘ – Christus hält die Judenfrage offen. Dietrich Bonhoeffer und die Judenfrage im 3. Reich“ aus „Verantwortung – Zeitschrift des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins“ Nr. 49, Juni 2012. – Die Abschnitte 1. „Der unerhörte Schrei“ – eine Einführung 2. „Heiligkeit des Vateramtes – familiäre Bedenklichkeiten“ 3. „Dem Rad in die Speichen fallen“ 4. „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“ sind fortgefallen. In der Sache wird in dem Beitrag Bethges (4.3) darüber informiert. E. Bethge, Bonhoeffer und die Juden, in: H. Kremsers (HG), Die Juden und Martin Luther, Neukirchen 1985, 235f. Ethik, DBW 6,95. DBW 6,129. A. v. Oppen, Der unerhörte Schrei Dietrich Bonhoeffer und ei Judenfrage im Dritten reich, Hannover 1996, 91. E. Bethge, Barmen und die Juden – eine nicht geschriebene These, Neukirchen 1985, 131. So H.-J. Schoeps 1993 – nach v. Oppen a. a. O. 91. Fr.-W. Marquardt, „Von Elend und Heimsuchung der Theologie – Prolegomena zur Dogmatik – Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden – Eine Christologie“ (6 Bände), München 1988ff. Röm 11,18.

5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie Vorbemerkungen Zu 5.1 Bergpredigt Verschiedene Briefauszüge Bonhoeffers zum Thema „Bergpredigt“ zeigen, dass die Begegnung mit der Bergpredigt in Bonhoeffers theologischer Entwicklung zu einer Wende geführt hat. Die Bergpredigt wird Bonhoeffer Anleitung zu einem widerständigen Leben. Der Kampf der Christen gegen den Nationalsozialismus muss sich für alle Ausgegrenzten und rassisch Verfolgten einsetzen. Bonhoeffer teilt Gandhis Auffassung, dass der politische Widerstand im Sinne der Bergpredigt gewaltfrei und mit Leidensbereitschaft zu erfolgen hat. Er möchte nach Indien reisen, um vor Ort Gandhis Widerstandspraxis zu studieren. Bonhoeffer betont, dass seine Auslegung der Bergpredigt sich „nicht erschöpft in unserem [traditionellen] Begriff des Glaubens“. Er möchte die Bergpredigt neu zur Sprache bringen, „und zwar in einem andern als dem [traditionellen] reformatorischen Verständnis“. Das Tun der Bergpredigt ist nicht nur ein Anhängsel des Glaubens, sondern eine eigenständige Grunddimension christlicher Weltverantwortung.

Zu 5.2 Nachfolge, billige und teure Gnade 1937 erscheint das Buch „Nachfolge“, in dem Bonhoeffer sein neues Verständnis von Bergpredigt und Nachfolge entfaltet. In der Einführung in das Buch „Nachfolge“ erläutert Bonhoeffer seine Grundthese: Billige Gnade bleibt ohne Nachfolge, wirkliche Gnade gibt es nur mit Nachfolge im einfältigen Gehorsam gegen das Gebotene. „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf geht heute um die teure Gnade“, die sich zum gehorsamen Tun durchringt.

Zu 5.3 Verantwortungsethik: Ethik der Wegbereitung zum Tun In seiner Ethik (ab 1940) stellt Bonhoeffer die Frage, wie es in den Jahren des NS-Regimes zu soviel ethischem Versagen, gerade auch unter Christen und Kirchenleuten, kommen konnte. Die traditionelle Gewissensethik ist an ihre Grenzen gestoßen.

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5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie

In dem Vortrag „Das in Jesus Christus befreite Gewissen“ von Karl Martin wird Bonhoeffers neuer Versuch, eine Ethik der Wegbereitung zum Tun zu entwerfen, beschrieben. Gegen jedes helfende, risikobelastete Tun gibt es Bedenklichkeiten, die das Tun verhindern möchten. Die Ethik hat die Aufgabe, solche Bedenklichkeiten auszuräumen, damit das helfende Tun tatsächlich stattfinden kann.

Zu 5.4 Die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe In seinen letzten Lebensmonaten beschäftigt sich Bonhoeffer immer stärker mit den theologisch-anthropologisch-kulturellen Hintergründen christlicher Weltverantwortung. Er fragt nach den Konsequenzen, die sich aus den ethischen Einsichten für den Bereich der Dogmatik ergeben. In dem Beitrag „Bonhoeffers ‚nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‘“ von Axel Denecke wird dargestellt, dass es sich bei der „nicht-religiösen Interpretation“ nicht nur um ein „Sprachproblem“ (Ebeling) handelt. Vielmehr müssen die Zentralbegriffe des Glaubens durch den Lebensvollzug so umgesetzt werden, dass ihre Relevanz für die Lebensgestaltung deutlicher sichtbar wird. „Nicht-religiöse Interpretation“ heißt demnach in existentieller Redlichkeit „nicht-religiös leben“.

5.1 Bergpredigt Brief Dietrich Bonhoeffers an Elisabeth Zinn vom 27. 1.19361 . . . Ich stürzte mich in die Arbeit in sehr unchristlicher und undemütiger Weise. Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. Das war sehr schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. Ich weiß, ich habe damals aus der Sache Jesu Christi einen Vorteil für mich selbst, für eine wahnsinnige Eitelkeit gemacht. Ich bitte Gott, daß das nie wieder so kommt. Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles

5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie anders geworden. Das habe ich deutlich gespürt und sogar andere Menschen um mich herum. Das war eine große Befreiung. Da wurde es mir klar, daß das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muß und Schritt für Schritt wurde es deutlicher, wie weit das so sein muß. Dann kam die Not von 1933. Das hat mich darin bestärkt. Ich fand nun auch Menschen, die dieses Ziel mit mir ins Auge faßten. Es lag mir nun alles an der Erneuerung der Kirche und des Pfarrerstandes . . . Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher – bei der Disputation, auf der auch Gerhard war! – leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf. Und so ging es weiter, Schritt für Schritt. Ich sah und dachte gar nichts anderes mehr. Vor mir steht der Beruf. Was Gott daraus machen will, weiß ich nicht. Es ist bei mir immer noch viel Ungehorsam und Unlauterkeit im Beruf. Ich ertappe mich täglich dabei. Aber der Weg muß durchgegangen werden. Vielleicht dauert er gar nicht mehr so lang. Manchmal wünschen wir es uns wohl so. (Phil. 1,23) Aber es ist doch schön, diesen Beruf zu haben . . . Ich glaube, die Herrlichkeit dieses Berufes wird uns erst in den kommenden Zeiten und Ereignissen aufgehen. Wenn wir doch durchhalten könnten!

Brief Dietrich Bonhoeffers an Erwin Sutz vom 28. April 19342 London, 28. April 1934 Lieber Herr Sutz! [. . .] Was in Deutschland in der Kirche los ist, wissen Sie ja wohl ebensogut wie ich. Der Nat.Soz. hat das Ende der Kirche in Deutschland mit sich gebracht und konsequent durchgeführt. Man kann ihm dafür dankbar sein, so wie die Juden Sanherib dankbar sein mußten.3 Daß wir vor dieser klaren Tatsache stehen, scheint mir kein Zweifel mehr zu sein. Phantasten und Naive wie Niemöller glauben immer noch die wahren Naz.socialisten zu sein4 – und es ist vielleicht eine gütige Vorsehung, die sie in dieser Täuschung bewahrt und es liegt vielleicht auch im Interesse des Kirchenkampfes – wenn einen dieser Kirchenkampf überhaupt noch interessiert. Es geht ja schon längst nicht mehr um das, um das es dort zu gehen scheint; die Fronten liegen ja ganz wo anders. Und obwohl ich mit vollen Kräften in der kirchlichen Opposition mitarbeite, ist es mir doch ganz klar, daß diese Opposition nur ein ganz vorläufiges Durchgangsstadium zu einer ganz anderen Opposition ist, und daß die Männer dieses ersten Vorgeplänkels zum geringsten Teil die Männer jenes zweiten Kampfes sind. Und ich glaube, die ganze Christenheit muß mit uns darum beten, daß das „Widerstehen bis aufs Blut“5 kommt und daß Menschen gefunden werden, die es erleiden. Einfach erleiden – darum

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5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie wird es dann gehen, nicht Fechten, Hauen, Stechen, – das mag für das Vorgefecht noch erlaubt und möglich sein, der eigentliche Kampf, zu dem es vielleicht erst später kommt, muß einfach ein glaubendes Erleiden sein und dann, dann vielleicht wird sich Gott wieder zu seiner Kirche mit seinem Wort bekennen, aber bis dahin muß viel geglaubt, viel gebetet und viel gelitten werden. Wissen Sie, ich glaube – vielleicht wundern Sie sich darüber – daß die ganze Sache an der Bergpredigt zur Entscheidung kommt. Ich glaube, daß die Theologie [Karl] Barths – aber gewiß auch die Ethik [Emil] Brunners – nur noch einmal verzögert haben – und gewiß auch ermöglich haben, daß das erkannt wird. [. . .] Noch sehe ich ganz unklar und in Umrissen, was geschieht und was geschehen soll – aber es ist nicht zuletzt Ihr dauerndes unentwegtes Fragen gewesen, das mich hier weitergetrieben hat. Ich habe ein paar Leute gefunden, die an dieser Stelle mit mir weiterfragen. Schreiben Sie doch einfach mal, wie Sie über die Bergpredigt predigen. Ich versuche es gerade – unendlich schlicht und einfach – aber es geht immer um das Halten des Gebotes und gegen das Ausweichen. Nachfolge Christi – was das ist, möchte ich wissen – es ist nicht erschöpft in unserem [traditionellen] Begriff des Glaubens. Ich sitze an einer Arbeit, die ich Exerzitium nennen möchte – nur als Vorstufe.6 Bitte helfen Sie hier mit. Wie lange ich Pfarrer und in dieser Kirche bleibe, weiß ich nicht. Vielleicht nicht mehr lange. Ich möchte im Winter nach Indien.7 [. . .] Mit vielem Dank und herzlichem Gruß bin ich Ihr getreuer Dietrich Bonhoeffer.

Brief Dietrich Bonhoeffers an Reinhold Niebuhr vom 13. Juli 19348 London, 13. Juli 1934. Sehr verehrter, lieber Herr Professor! [. . .] Die letzten Ereignisse in Deutschland haben ja nun unzweideutig gezeigt, wohin die Fahrt geht. Es hat mich nur gewundert, daß unter den Erschossenen vom 30. Juni kein evangelischer Pfarrer war.9 Man beginnt in unseren Kreisen mehr und mehr zu verstehen, – besonders nach dem letzten Maulkorberlaß von Frick,10 daß die Kulturkampfsituation da ist.11 Es ist sehr seltsam zu sehen, wie lange es dauert, ehe ein evangelischer Pfarrer das überhaupt für möglich hält. Auch heute will man noch in Westfalen sehr viel weniger davon wissen als etwa bei uns in Berlin. Die Gefahr eines orthodoxen, sog. „Intakten“ Kirchenkörpers12 ist im Westen sehr groß, und ich halte es sehr wohl für möglich, daß eines Tages der Staat in dieser Art Kirche wirklich noch seinen besten Bundesgenossen finden wird. Eine „orthodoxe“ Kirche

5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie ist für den nationalsozialistischen Staat ganz gewiß noch eine viel sicherere Garantie als die Müllerkirche. Und gerade vor dieser Gefahr müssen wir uns hüten, bei allem Nachdruck, der auf eine Orthodoxie zu legen ist. Hier ist man bei uns sehr kurzsichtig. Ein Mann wie Müller wird sich nicht genieren unsere gesamte Orthodoxie zu unterschreiben und vielleicht sogar subjektiv mehr oder weniger ehrlich. Die Trennungslinie liegt wo anders nämlich bei der Bergpredigt. Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen wo aufgrund einer bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellten reformatorischen Theologie13 die Bergpredigt – und zwar in einem andern als dem [traditionellen] reformatorischen Verständnis – wieder in Erinnerung zu bringen ist. Und genau an dieser Stelle wird sich die gegenwärtige Opposition noch einmal aufspalten. Und ehe wir nicht dahin gekommen sind, ist alles nur Vorbereitung. Die neue Kirche, die in Deutschland werden muß, wird sehr anders aussehen, als die jetzige Oppositionskirche. Ich habe übrigens vor sehr bald einmal nach Indien zu gehen um zu sehen, was Gandhi von diesen Dingen weiß und was dort zu lernen ist. Ich erwarte gerade einen Brief und eine Einladung von ihm.14 Kennen Sie da drüben vielleicht wichtige Leute, an die Sie mich empfehlen könnten? Ich sitze gerade an einer Schrift, die sich mit der Frage der Bergpredigt etc. befaßt.15 [. . .] Mit den herzlichsten Grüßen in dankbarer Erinnerung an viele schöne Stunden mit Ihnen in New York und mit der Bitte, mich Ihrer Gattin herzlich zu empfehlen bin ich Ihr ergebener Dietrich Bonhoeffer.

Brief Dietrich Bonhoeffers an Erwin Sutz vom 11. September 193416 London, den 11. September 34. Lieber Herr Sutz! [. . .] Ich bin wieder zurück in unserer [Londoner] Gemeinde und quäle mich damit ab, einen Entschluß zu fassen, ob ich als Leiter eines neu zu errichtenden Predigerseminars nach Deutschland zurückgehen soll,17 ob ich hierbleiben soll oder ob ich nach Indien gehe.18 An die Universität glaube ich nicht mehr, habe ja eigentlich nie daran geglaubt – zu Ihrem Ärger. Die gesamte Ausbildung des Theologennachwuchses gehört heute in kirchlich-klösterliche Schulen, in denen die reine Lehre, die Bergpredigt und der Kultus ernstgenommen wird – was gerade alles drei auf der Universität nicht der Fall ist und unter gegenwärtigen Umständen unmöglich ist. Es muß auch endlich mit

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5. Biblische Einzelthemen aus Bonhoeffers Theologie der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden – es ist ja doch alles nur Angst. „Tu den Mund auf für die Stummen“19 – wer weiß denn das heute noch in der Kirche, daß dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist? Und dann die Wehr- und Kriegsfrage etc. etc. Ein Gespräch Hitler – Barth halte ich nunmehr für völlig aussichtslos und sogar garnicht mehr erlaubt. Hitler hat sich als der ganz klar gezeigt, der er ist, und die Kirche muß wissen, mit wem sie zu rechnen hat. Jesaja ist auch nicht zu Sanherib gegangen.20 Wir haben oft genug versucht – zu oft – vor Hitler vernehmlich zu machen, worum es geht. Mag sein, wir haben es noch nie richtig gemacht, dann wird es Barth auch nicht richtig machen. Hitler soll und darf nicht hören, er ist verstockt und soll uns gerade als solcher zum Hören zwingen – so herum liegt die Sache. Die Oxfordbewegung21 war naiv genug, den Versuch zu machen, Hitler zu bekehren – eine lächerliche Verkennung dessen, was vorgeht – wir sollen bekehrt werden, nicht Hitler. Ich möchte gern mal ein Vierteljahr Ruhe haben zum Schreiben22 – aber es soll wohl noch nicht sein. – Was treiben Sie? [. . .] Ich würde Sie gern mal sprechen, ob Sie die Dinge sehr anders sehen. Und auch sonst, über Theologie und Gemeinde und Bergpredigt. [. . .] Lassen Sie wieder hören. Verzeihen Sie den wilden Brief. Stets und getreulichst Ihr D[ietrich] B[onhoeffer]

Brief Dietrich Bonhoeffers an Karl-Friedrich Bonhoeffer vom 14. Januar 193523 14.1.35 Lieber Karl-Friedrich, [. . .] Es mag ja sein, daß ich in manchen Dingen Dir etwas fanatisch und verrückt erscheine. Und ich habe selbst manchmal etwas Angst davor. Aber ich weiß, wenn ich „vernünftiger“ würde, so müßte ich am nächsten Tag ehrlicherweise meine ganze Theologie an den Nagel hängen. Als ich anfing mit der Theologie, habe ich mir etwas anderes darunter vorgestellt – doch vielleicht eine mehr akademische Angelegenheit. Es ist nun etwas ganz anderes draus geworden. Aber ich glaube nun endlich zu wissen, wenigstens einmal auf die richtige Spur gekommen zu sein – zum ersten Mal in meinem Leben. Und das macht mich oft sehr glücklich. Ich habe nur immer Angst davor, daß ich aus lauter Angst vor der Meinung anderer Menschen nicht weiter gehe, sondern stecken bleibe. Ich glaube zu wissen, daß ich eigentlich erst innerlich

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klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich. anfinge, Ernst zu machen. Hier sitzt die einzige Kraftquelle, die den ganzen Zauber und Spuk einmal in die Luft sprengen kann, bis von dem Feuerwerk nur ein paar ausgebrannte Reste übrig bleiben. Die Restauration der Kirche kommt gewiß aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromißlosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln. Entschuldige diese etwas persönlichen Auslassungen, aber sie sind mir in die Feder geflossen, als ich an unser neuliches Zusammensein dachte. Und man interessiert sich ja schließlich auch so für einander. Ich kann mir immer noch gar nicht recht denken, daß Du wirklich diese Gedanken alle für so gänzlich irrsinnig hältst. Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromißlos einzustehen. Und mir scheint, der Friede und soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas. [. . .] Es grüßt Euch alle herzlich Euer Dietrich

Bericht der pommerschen Mitglieder des Predigerseminars Finkenwalde vom 5. August 193524 [. . .] Das Kolleg, das uns wohl alle am stärksten beeindruckt, heißt: Nachfolge im Neuen Testament. Lic. Bonhoeffer exegesiert die Berufungsgeschichten, Worte Jesu über die Nachfolge und zur Zeit die Bergpredigt. Wohl niemand kann sich dem Ernst entziehen, mit dem wir durch den NT-Befund auf das Faktum Nachfolge hingewiesen werden. Die Nachfolge ist die inhaltlich in keiner Weise zu umreißende unbedingte und alleinige Bindung an Jesus Christus und damit an das Kreuz. Der Ort, an den die Kirche gerufen ist, ist das Kreuz, die Form, in der die Kirche allein existieren kann, ist die Nachfolge. Eine Kirche in der Existenzform der Welt, der iustitia civilis,25 ist nicht mehr Kirche Jesu Christi.26 Der Haufe, der sich um Wort und Sakrament schart, ist sichtbar, die Stadt auf dem Berge Golgatha27 kann nicht verborgen sein. [. . .]

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5.2 Nachfolge, billige und teure Gnade Die teure Gnade – Einführung in das Buch „Nachfolge“ (1937) Dietrich Bonhoeffer28 Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, daß die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben. Unendlich groß sind die aufgebrachten Kosten, unendlich groß daher auch die Möglichkeiten des Gebrauchs und der Verschwendung. Was wäre auch Gnade, die nicht billige Gnade ist? Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. Die Kirche dieser Gnadenlehre ist durch sie schon der Gnade teilhaftig. In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes. Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders. Weil Gnade doch alles allein tut, darum kann alles beim alten bleiben. „Es ist doch unser Tun umsonst“. Welt bleibt Welt, und wir bleiben Sünder „auch in dem besten Leben“. Es lebe also auch der Christ wie die Welt, er stelle sich der Welt in allen Dingen gleich und unterfange sich ja nicht bei der Ketzerei des Schwärmertums! – unter der Gnade ein anderes Leben zu führen als unter der Sünde! Er hüte sich gegen die Gnade zu wüten, die große, billige Gnade zu schänden und neuen Buchstabendienst aufzurichten durch den Versuch eines gehorsamen Lebens unter den Geboten Jesu Christi! Die Welt ist durch Gnade gerechtfertigt, darum – um des Ernstes dieser Gnade willen!, um dieser unersetzlichen Gnade nicht zu widerstreben! – lebe der Christ wie die übrige Welt! Gewiß, er würde gern ein Außerordentliches tun, es ist für ihn unzweifelhaft der schwerste Verzicht, dies nicht zu tun, sondern weltlich leben zu müssen. Aber er muß den Verzicht leisten, die Selbstverleugnung üben, sich von der Welt mit seinem Leben nicht zu unterscheiden. Soweit muß er die Gnade wirklich Gnade sein lassen, daß er der Welt den Glauben an diese billige Gnade nicht zer-

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stört. Der Christ aber sei in seiner Weltlichkeit, in diesem notwendigen Verzicht, den er um der Welt – nein, um der Gnade willen! – leisten muß, getrost und sicher (securus) im Besitz dieser Gnade, die alles allein tut. Also, der Christ folge nicht nach, aber er tröste sich der Gnade! Das ist billige Gnade als Rechtfertigung der Sünde, aber nicht als Rechtfertigung des bußfertigen Sünders, der von seiner Sünde läßt und umkehrt; nicht Vergebung der Sünde, die von der Sünde trennt. Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben. Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus. Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch hingeht und mit Freuden alles verkauft, was er hatte; die köstliche Perle, für deren Preis der Kaufmann alle seine Güter hingibt; die Königsherrschaft Christi, um derentwillen sich der Mensch das Auge ausreißt, das ihn ärgert, der Ruf Jesu Christi, auf den hin der Jünger seine Netze verläßt und nachfolgt. Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muß. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt; teuer ist sie, weil sie die Sünde verdammt, Gnade, weil sie den Sünder rechtfertigt. Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat – „ihr seid teuer erkauft“ –, und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist. Gnade ist sie vor allem darum, weil Gott sein Sohn nicht zu teuer war für unser Leben, sondern ihn für uns hingab. Teure Gnade ist Menschwerdung Gottes. Teure Gnade ist Gnade als das Heiligtum Gottes, das vor der Welt behütet werden muß, das nicht vor die Hunde geworfen werden darf, sie ist darum Gnade als lebendiges Wort, Wort Gottes, das er selbst spricht, wie es ihm gefällt. Es trifft uns als gnädiger Ruf in die Nachfolge Jesu, es kommt als vergebendes Wort zu dem geängsteten Geist und dem zerschlagenen Herzen. Teuer ist die Gnade, weil sie den Menschen unter das Joch der Nachfolge Jesu Christi zwingt, Gnade ist es, daß Jesus sagt: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Zweimal ist an Petrus der Ruf ergangen: Folge mir nach! Es war das erste und das letzte Wort Jesu an seinen Jünger (Markus 1,17; Joh. 21,22). Sein ganzes Leben liegt zwischen diesen beiden Rufen. Das erstemal hatte Petrus am See Genezareth auf Jesu Ruf hin seine Netze, seinen Beruf ver-

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lassen und war ihm aufs Wort nachgefolgt. Das letztemal trifft ihn der Auferstandene in seinem alten Beruf, wiederum am See Genezareth, und noch einmal heißt es: Folge mir nach! Dazwischen lag ein ganzes Jüngerleben in der Nachfolge Christi. In seiner Mitte [in Cäsarea Philippi] stand das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus Gottes. Es ist dem Petrus dreimal ein und dasselbe verkündigt, am Anfang, am Ende und in Cäsarea Philippi, nämlich daß Christus sein Herr und Gott sei. Es ist dieselbe Gnade Christi, die ihn ruft: Folge mir nach! und die sich ihm offenbart im Bekenntnis zum Sohne Gottes. Es war ein dreifaches Anhalten der Gnade auf dem Wege des Petrus, die Eine Gnade dreimal verschieden verkündigt; so war sie Christi eigene Gnade, und gewiß nicht Gnade, die der Jünger sich selbst zusprach. Es war dieselbe Gnade Christi, die den Jünger überwand, alles zu verlassen um der Nachfolge willen, die in ihm das Bekenntnis wirkte, das aller Welt eine Lästerung scheinen mußte, die den untreuen Petrus in die letzte Gemeinschaft des Martyriums rief und ihm damit alle Sünden vergab. Gnade und Nachfolge gehören für das Leben des Petrus unauflöslich zusammen. Er hatte die teure Gnade empfangen. Mit der Ausbreitung des Christentums und der zunehmenden Verweltlichung der Kirche ging die Erkenntnis der teuren Gnade allmählich verloren. Die Welt war christianisiert, die Gnade war Allgemeingut einer christlichen Welt geworden. Sie war billig zu haben. Doch bewahrte die römische Kirche einen Rest der ersten Erkenntnis. Es war von entscheidender Bedeutung, daß das Mönchtum sich nicht von der Kirche trennte und daß die Klugheit der Kirche das Mönchtum ertrug. Hier war am Rande der Kirche der Ort, an dem die Erkenntnis wachgehalten wurde, daß Gnade teuer ist, daß Gnade die Nachfolge einschließt. Menschen verließen um Christi willen alles, was sie hatten, und versuchten, den strengen Geboten Jesu zu folgen in täglicher Übung. So wurde das mönchische Leben ein lebendiger Protest gegen die Verweltlichung des Christentums, gegen die Verbilligung der Gnade. Indem aber die Kirche diesen Protest ertrug und nicht zum letzten Ausbruch kommen ließ, relativierte sie ihn, ja sie gewann nun aus ihm sogar die Rechtfertigung ihres eigenen verweltlichten Lebens; denn jetzt wurde das mönchische Leben zu der Sonderleistung Einzelner, zu der die Masse des Kirchenvolkes nicht verpflichtet werden konnte. Die verhängnisvolle Begrenzung der Gebote Jesu in ihrer Geltung auf eine bestimmte Gruppe besonders qualifizierter Menschen führte zu der Unterscheidung einer Höchstleistung und einer Mindestleistung des christlichen Gehorsams. Damit war es gelungen, bei jedem weiteren Angriff auf die Verweltlichung der Kirche hinzuweisen auf die Möglichkeit des mönchischen Weges innerhalb der Kirche, neben dem dann die andere Möglichkeit des leichteren Weges durchaus gerechtfertigt war. So mußte

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der Hinweis auf das urchristliche Verständnis der teuren Gnade, wie er in der Kirche Roms durch das Mönchtum erhalten bleiben sollte, in paradoxer Weise selbst wieder der Verweltlichung der Kirche die letzte Rechtfertigung geben. Bei dem allen lag der entscheidende Fehler des Mönchtums nicht darin, daß es – bei allen inhaltlichen Mißverständnissen des Willens Jesu – den Gnadenweg der strengen Nachfolge ging. Vielmehr entfernte sich das Mönchtum wesentlich darin vom Christlichen, daß es seinen Weg zu einer freien Sonderleistung einiger Weniger werden ließ und damit für ihn eine besondere Verdienstlichkeit in Anspruch nahm. Als Gott durch seinen Knecht Martin Luther in der Reformation das Evangelium von der reinen, teuren Gnade wieder erweckte, führte er Luther durch das Kloster. Luther war Mönch. Er hatte alles verlassen und wollte Christus in vollkommenem Gehorsam nachfolgen. Er entsagte der Welt und ging an das christliche Werk. Er lernte den Gehorsam gegen Christus und seine Kirche, weil er wußte, daß nur der Gehorsame glauben kann. Der Ruf ins Kloster kostete Luther den vollen Einsatz seines Lebens. Luther scheiterte mit seinem Weg an Gott selbst. Gott zeigte ihm, durch die Schrift, daß die Nachfolge Jesu nicht verdienstliche Sonderleistung Einzelner, sondern göttliches Gebot an alle Christen ist. Das demütige Werk der Nachfolge war im Mönchtum zum verdienstlichen Tun der Heiligen geworden. Die Selbstverleugnung des Nachfolgenden enthüllte sich hier als die letzte geistliche Selbstbehauptung der Frommen. Damit war die Welt mitten in das Mönchsleben hineingebrochen und in gefährlichster Weise wieder am Werk. Die Weltflucht des Mönches war als feinste Weltliebe durchschaut. In diesem Scheitern der letzten Möglichkeit eines frommen Lebens ergriff Luther die Gnade. Er sah im Zusammenbruch der mönchischen Welt die rettende Hand Gottes in Christus ausgestreckt. Er ergriff sie im Glauben daran, daß „doch unser Tun umsonst ist, auch in dem besten Leben“. Es war eine teure Gnade, die sich ihm schenkte, sie zerbrach ihm seine ganze Existenz. Er mußte seine Netze abermals zurücklassen und folgen. Das erstemal, als er ins Kloster ging, hatte er alles zurückgelassen, nur sich selbst, sein frommes Ich, nicht. Diesmal war ihm auch dieses genommen. Er folgte nicht auf eigenes Verdienst, sondern auf Gottes Gnade hin. Es wurde ihm nicht gesagt: du hast zwar gesündigt, aber das ist nun alles vergeben, bleibe nur weiter, wo du warst, und tröste dich der Vergebung! Luther mußte das Kloster verlassen und zurück in die Welt, nicht weil die Welt an sich gut und heilig wäre, sondern weil auch das Kloster nichts anderes war als Welt. Luthers Weg aus dem Kloster zurück in die Welt bedeutete den schärfsten Angriff, der seit dem Urchristentum auf die Welt geführt worden war. Die Absage, die der Mönch der Welt gegeben hatte, war ein Kinderspiel gegenüber der Absage, die die Welt durch den in sie Zurückgekehrten er-

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fuhr. Nun kam der Angriff frontal. Nachfolge Jesu mußte nun mitten in der Welt gelebt werden. Was unter den besonderen Umständen und Erleichterungen des klösterlichen Lebens als Sonderleistung geübt wurde, war nun das Notwendige und Gebotene für jeden Christen in der Welt geworden. Der vollkommene Gehorsam gegen das Gebot Jesu mußte im täglichen Berufsleben geleistet werden. Damit vertiefte sich der Konflikt zwischen dem Leben des Christen und dem Leben der Welt in unabsehbarer Weise. Der Christ war der Welt auf den Leib gerückt. Es war Nahkampf. Man kann die Tat Luthers nicht verhängnisvoller mißverstehen als mit der Meinung, Luther habe mit der Entdeckung des Evangeliums der reinen Gnade einen Dispens für den Gehorsam gegen das Gebot Jesu in der Welt proklamiert; die reformatorische Entdeckung sei die Heiligsprechung, die Rechtfertigung der Welt durch die vergebende Gnade gewesen. Der weltliche Beruf des Christen erfährt vielmehr seine Rechtfertigung für Luther allein dadurch, daß in ihm der Protest gegen die Welt in letzter Schärfe angemeldet wird. Nur sofern der weltliche Beruf des Christen in der Nachfolge Jesu ausgeübt wird, hat er vom Evangelium her neues Recht empfangen. Nicht Rechtfertigung der Sünde, sondern Rechtfertigung des Sünders war der Grund für Luthers Rückkehr aus dem Kloster. Teure Gnade war Luther geschenkt worden. Gnade war es, weil sie Wasser auf das durstige Land, Trost für die Angst, Befreiung von der Knechtschaft des selbstgewählten Weges, Vergebung aller Sünden war. Teuer war die Gnade, weil sie nicht dispensierte vom Werk, sondern den Ruf in die Nachfolge unendlich verschärfte. Aber gerade worin sie teuer war, darin war sie Gnade, und worin sie Gnade war, darin war sie teuer. Das war das Geheimnis des reformatorischen Evangeliums, das Geheimnis der Rechtfertigung des Sünders. Und dennoch bleibt der Sieger der Reformationsgeschichte nicht Luthers Erkenntnis von der reinen, teuren Gnade, sondern der wachsame religiöse Instinkt des Menschen für den Ort, an dem die Gnade am billigsten zu haben ist. Es bedurfte nur einer ganz leichten, kaum merklichen Verschiebung des Akzentes, und das gefährlichste und verderblichste Werk war getan. Luther hatte gelehrt, daß der Mensch auch in seinen frömmsten Wegen und Werken vor Gott nicht bestehen kann, weil er im Grund immer sich selbst sucht. Er hatte in dieser Not die Gnade der freien und bedingungslosen Vergebung aller Sünden im Glauben ergriffen. Luther wußte dabei, daß ihm diese Gnade ein Leben gekostet hatte und noch täglich kostete; denn er war ja durch die Gnade nicht dispensiert von der Nachfolge, sondern erst recht in sie hineingestoßen. Wenn Luther von der Gnade sprach, so meinte er sein eigenes Leben immer mit, das durch die Gnade erst in den vollen Gehorsam Christi gestellt worden war. Er konnte gar nicht anders von der Gnade reden, als eben so. Daß die Gnade allein es tut, hatte Luther gesagt, und wörtlich so wiederholten es seine Schüler, mit

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dem einzigen Unterschied, daß sie sehr bald das ausließen und nicht mitdachten und sagten, was Luther immer selbstverständlich mitgedacht hatte, nämlich die Nachfolge, ja, was er nicht mehr zu sagen brauchte, weil er ja immer selbst als einer redete, den die Gnade in die schwerste Nachfolge Jesu geführt hatte. Die Lehre der Schüler war also unanfechtbar von der Lehre Luthers her, und doch wurde diese Lehre das Ende und die Vernichtung der Reformation als der Offenbarung der teuren Gnade Gottes auf Erden. Aus der Rechtfertigung des Sünders in der Welt wurde die Rechtfertigung der Sünde und der Welt. Aus der teuren Gnade wurde die billige Gnade ohne Nachfolge. Sagte Luther, daß unser Tun umsonst ist, auch in dem besten Leben, und daß darum bei Gott nichts gilt „denn Gnad und Gunst, die Sünden zu vergeben“, so sagte er es als einer, der sich bis zu diesem Augenblick und schon im selben Augenblick wieder neu in die Nachfolge Jesu, zum Verlassen von allem, was er hatte, berufen wußte. Die Erkenntnis der Gnade war für ihn der letzte radikale Bruch mit der Sünde seines Lebens, niemals aber ihre Rechtfertigung. Sie war im Ergreifen der Vergebung die letzte radikale Absage an das eigenwillige Leben, sie war darin selbst erst eigentlich ernster Ruf zur Nachfolge. Sie war ihm jeweils „Resultat“,29 freilich göttliches, nicht menschliches Resultat. Dieses Resultat aber wurde von den Nachfahren zur prinzipiellen Voraussetzung einer Kalkulation gemacht. Darin lag das ganze Unheil. Ist Gnade das von Christus selbst geschenkte „Resultat“ christlichen Lebens, so ist dieses Leben keinen Augenblick dispensiert von der Nachfolge. Ist aber Gnade prinzipielle Voraussetzung meines christlichen Lebens, so habe ich damit im voraus die Rechtfertigung meiner Sünden, die ich im Leben in der Welt tue. Ich kann nun auf diese Gnade hin sündigen, die Welt ist ja im Prinzip durch Gnade gerechtfertigt. Ich bleibe daher in meiner bürgerlich-weltlichen Existenz wie bisher, es bleibt alles beim alten, und ich darf sicher sein, daß mich die Gnade Gottes bedeckt. Die ganze Welt ist unter dieser Gnade „christlich“ geworden, das Christentum aber ist unter dieser Gnade in nie dagewesener Weise zur Welt geworden. Der Konflikt zwischen christlichem und bürgerlich-weltlichem Berufsleben ist aufgehoben. Das christliche Leben besteht eben darin, daß ich in der Welt und wie die Welt lebe, mich in nichts von ihr unterscheide, ja mich auch gar nicht – um der Gnade willen! – von ihr unterscheiden darf, daß ich mich aber zu gegebener Zeit aus dem Raum der Welt in den Raum der Kirche begebe, um mich dort der Vergebung meiner Sünden vergewissern zu lassen. Ich bin von der Nachfolge Jesu befreit – durch die billige Gnade, die der bitterste Feind der Nachfolge sein muß, die die wahre Nachfolge hassen und schmähen muß. Gnade als Voraussetzung ist billigste Gnade; Gnade als Resultat teure Gnade. Es ist erschreckend, zu erkennen, was daran liegt, in welcher Weise

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eine evangelische Wahrheit ausgesprochen und gebraucht wird. Es ist dasselbe Wort von der Rechtfertigung aus Gnaden allein; und doch führt der falsche Gebrauch desselben Satzes zur vollkommenen Zerstörung seines Wesens. Wenn Faust am Ende seines Lebens in der Arbeit an der Erkenntnis sagt: „Ich sehe, daß wir nichts wissen können“, so ist das Resultat, und etwas durchaus anderes, als wenn dieser Satz von einem Studenten im ersten Semester übernommen wird, um damit seine Faulheit zu rechtfertigen (Kierkegaard). Als Resultat ist der Satz wahr, als Voraussetzung ist er Selbstbetrug. Das bedeutet, daß eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist. Nur wer in der Nachfolge Jesu im Verzicht auf alles, was er hatte, steht, darf sagen, daß er allein aus Gnaden gerecht werde. Er erkennt den Ruf in die Nachfolge selbst als Gnade und die Gnade als diesen Ruf. Wer sich aber mit dieser Gnade von der Nachfolge dispensieren will, betrügt sich selbst. Aber geriet nicht Luther selbst in die gefährlichste Nähe dieser völligen Verkehrung im Verständnis der Gnade? Was bedeutet es, wenn Luther sagen kann: „Pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo“ – „Sündige tapfer, aber glaube und freue dich in Christo um so tapferer!“.30 Also, du bist nun einmal ein Sünder, und kommst doch nie aus der Sünde heraus; ob du ein Mönch bist oder ein Weltlicher, ob du fromm sein willst oder böse, du entfliehst dem Stricke der Welt nicht, du sündigst. So sündige denn tapfer – und zwar gerade auf die geschehene Gnade hin! Ist das die unverhüllte Proklamation der billigen Gnade, der Freibrief für die Sünde, die Aufhebung der Nachfolge? Ist das die lästerliche Aufforderung zum mutwilligen Sündigen auf Gnade hin? Gibt es eine teuflischere Schmähung der Gnade, als auf die geschenkte Gnade Gottes hin zu sündigen? Hat der katholische Katechismus nicht recht, wenn er hierin die Sünde wider den heiligen Geist erkennt? Es kommt hier zum Verständnis alles darauf an, die Unterscheidung von Resultat und Voraussetzung in Anwendung zu bringen. Wird Luthers Satz zur Voraussetzung einer Gnadentheologie, so ist die billige Gnade ausgerufen. Aber eben nicht als Anfang, sondern ganz ausschließlich als Ende, als Resultat, als Schlußstein, als allerletztes Wort ist Luthers Satz recht zu verstehen. Als Voraussetzung verstanden, wird das pecca fortiter zum ethischen Prinzip; einem Prinzip der Gnade muß ja das Prinzip des pecca fortiter entsprechen. Das ist Rechtfertigung der Sünde. So wird Luthers Satz in sein Gegenteil verkehrt. „Sündige tapfer“ – das konnte für Luther nur die allerletzte Auskunft, der Zuspruch für den sein, der auf seinem Wege der Nachfolge erkennt, daß er nicht sündlos werden kann, der in der Furcht vor der Sünde verzweifelt an Gottes Gnade. Für ihn ist das „Sündige tapfer“ nicht etwa eine grundsätzliche Bestätigung seines unge-

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horsamen Lebens, sondern es ist das Evangelium von der Gnade Gottes, vor dem wir immer und in jedem Stande Sünder sind und das uns gerade als Sünder sucht und rechtfertigt. Bekenne dich tapfer zu deiner Sünde, versuche ihr nicht zu entfliehen, aber „glaube noch viel tapferer“. Du bist ein Sünder, so sei nun auch ein Sünder, wolle nicht etwas anderes sein, als was du bist, ja werde täglich wieder ein Sünder und sei tapfer darin. Zu wem aber darf das gesagt sein als zu dem, der täglich von Herzen der Sünde absagt, der täglich allem absagt, was ihn an der Nachfolge Jesu hindert, und der doch ungetröstet ist über seine tägliche Untreue und Sünde? Wer anders kann das ohne Gefahr für seinen Glauben hören, als der, der sich durch solchen Trost erneut in die Nachfolge Christi gerufen weiß? So wird Luthers Satz, als Resultat verstanden, zur teuren Gnade, die allein Gnade ist. Gnade als Prinzip, pecca fortiter als Prinzip, billige Gnade ist zuletzt nur ein neues Gesetz, das nicht hilft und nicht befreit. Gnade als lebendiges Wort, pecca fortiter als Trost in der Anfechtung und Ruf in die Nachfolge, teure Gnade ist allein reine Gnade, die wirklich Sünden vergibt und den Sünder befreit. Wie die Raben haben wir uns um den Leichnam der billigen Gnade gesammelt, von ihr empfingen wir das Gift, an dem die Nachfolge Jesu, unter uns starb. Die Lehre von der reinen Gnade erfuhr zwar eine Apotheose [Vergottung] ohnegleichen, die reine Lehre von der Gnade wurde Gott selbst, die Gnade selbst. Überall Luthers Worte und doch aus der Wahrheit in Selbstbetrug verkehrt. Hat unsere Kirche nur die Lehre von der Rechtfertigung, dann ist sie gewiß auch eine gerechtfertigte Kirche! so hieß es. Darin sollte also das rechte Erbe Luthers erkennbar werden, daß man die Gnade so billig wie möglich machte. Das sollte lutherisch heißen, daß man die Nachfolge Jesu den Gesetzlichen, den Reformierten oder den Schwärmern überließ, alles um der Gnade willen; daß man die Welt rechtfertigte und die Christen in der Nachfolge zu Ketzern machte. Ein Volk war christlich, war lutherisch geworden, aber auf Kosten der Nachfolge, zu einem allzu billigen Preis. Die billige Gnade hatte gesiegt. Aber wissen wir auch, daß diese billige Gnade in höchstem Maße unbarmherzig gegen uns gewesen ist? Ist der Preis, den wir heute mit dem Zusammenbruch der organisierten Kirchen zu zahlen haben, etwas anderes als eine notwendige Folge der zu billig erworbenen Gnade? Man gab die Verkündigung und die Sakramente billig, man taufte, man konfirmierte, man absolvierte ein ganzes Volk, ungefragt und bedingungslos, man gab das Heiligtum aus menschlicher Liebe den Spöttern und Ungläubigen, man spendete Gnadenströme ohne Ende, aber der Ruf in die strenge Nachfolge Christi wurde seltener gehört. Wo blieben die Erkenntnisse der alten Kirche, die im Taufkatechumenat so sorgsam über der Grenze zwischen

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Kirche und Welt, über der teuren Gnade wachte?“ Wo blieben die Warnungen Luthers vor einer Verkündung des Evangeliums, die die Menschen sicher machte in ihrem gottlosen Leben? Wann wurde die Welt grauenvoller und heilloser christianisiert als hier? Was sind die 3000 von Karl dem Großen am Leibe getöteten Sachsen gegenüber den Millionen getöteter Seelen heute? Es ist an uns wahr geworden, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht wird bis ins dritte und vierte Glied. Die billige Gnade war unserer evangelischen Kirche sehr unbarmherzig. Unbarmherzig ist die billige Gnade gewiß auch den meisten von uns ganz persönlich gewesen. Sie hat uns den Weg zu Christus nicht geöffnet, sondern verschlossen. Sie hat uns nicht in die Nachfolge gerufen, sondern in Ungehorsam hart gemacht. Oder war es nicht unbarmherzig und hart, wenn wir dort, wo wir den Ruf in die Nachfolge Jesu wohl einmal gehört hatten als den Gnadenruf Christi, wo wir vielleicht einmal die ersten Schritte der Nachfolge in der Zucht des Gehorsams gegen das Gebot gewagt hatten, überfallen wurden mit dem Wort von der billigen Gnade? Konnten wir dieses Wort anders hören, als daß es unseren Weg aufhalten wollte mit dem Ruf zu einer höchst weltlichen Nüchternheit, daß es die Freudigkeit zur Nachfolge in uns erstickte mit dem Hinweis, das alles sei ja nur unser selbstgewählter Weg, ein Aufwand an Kraft, Anstrengung und Zucht, der unnötig, ja höchst gefährlich sei? denn es sei ja eben in der Gnade schon alles bereit und vollbracht! Der glimmende Docht wurde unbarmherzig ausgelöscht. Es war unbarmherzig, zu einem Menschen so zu reden, weil er, durch solches billiges Angebot verwirrt, seinen Weg verlassen mußte, auf den ihn Christus rief, weil er nun nach der billigen Gnade griff, die ihm die Erkenntnis der teuren Gnade für immer versperrte. Es konnte ja auch nicht anders kommen, als daß der betrogene schwache Mensch sich im Besitz der billigen Gnade auf einmal stark fühlte und in Wirklichkeit die Kraft zum Gehorsam, zur Nachfolge verloren hatte. Das Wort von der billigen Gnade hat mehr Christen zugrunde gerichtet als irgendein Gebot der Werke. Wir wollen nun in allem folgenden das Wort für diejenigen ergreifen, die eben darin angefochten sind, denen das Wort der Gnade erschreckend leer geworden ist. Es muß um der Wahrhaftigkeit willen für die unter uns gesprochen werden, die bekennen, daß sie mit der billigen Gnade die Nachfolge Christi verloren haben und mit der Nachfolge Christi wiederum das Verständnis der teuren Gnade. Einfach, weil wir es nicht leugnen wollen, daß wir nicht mehr in der rechten Nachfolge Christi stehen, daß wir wohl Glieder einer rechtgläubigen Kirche der reinen Lehre von der Gnade, aber nicht mehr ebenso Glieder einer nachfolgenden Kirche sind, muß der Versuch gemacht werden, Gnade und Nachfolge wieder in ihrem rechten Verhältnis zueinander zu verstehen. Hier dürfen wir heute nicht mehr aus-

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weichen. Immer deutlicher erweist sich die Not unserer Kirche als die eine Frage, wie wir heute als Christen leben können. Wohl denen, die schon am Ende des Weges, den wir gehen wollen, stehen und staunend begreifen, was wahrhaftig nicht begreiflich erscheint, daß Gnade teuer ist, gerade weil sie reine Gnade, weil sie Gnade Gottes in Jesus Christus ist. Wohl denen, die in einfältiger Nachfolge Jesu Christi von dieser Gnade überwunden sind, daß sie mit demütigem Geist die alleinwirksame Gnade Christi loben dürfen. Wohl denen, die in der Erkenntnis solcher Gnade in der Welt leben können, ohne sich an sie zu verlieren, denen in der Nachfolge Jesu Christi das himmlische Vaterland so gewiß geworden ist, daß sie wahrhaft frei sind für das Leben in dieser Welt. Wohl ihnen, für die Nachfolge Jesu Christi nichts heißt, als Leben aus der Gnade, und für die Gnade nichts heißt, als Nachfolge. Wohl ihnen, die in diesem Sinne Christen geworden sind, denen das Wort der Gnade barmherzig war.

5.3 Verantwortungsethik: Ethik der Wegbereitung zum Tun Das in Jesus Christus befreite Gewissen Bonhoeffers Versuch, eine Ethik der Wegbereitung zum Tun zu entwerfen Karl Martin31 1. Die traditionelle Ethik: [. . .]

2.1 Bonhoeffers Fragestellung: Wie konnte es zu so viel ethischem Versagen kommen? Das Verwirrende an der Situation, in der sich Bonhoeffer und seine Zeitgenossen befinden, ist, dass die überkommenen Lebensordnungen aus den Fugen geraten sind, dass die ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt sind. Bonhoeffer spricht von der „großen Maskerade des Bösen“32 – das Böse gibt sich nicht als solches zu erkennen, es versteckt sich hinter positiven Gemeinschaftswerten. „Daß das Böse in der Gestalt des Lichtes, der

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Wohltat, der Treue, der Erneuerung, daß es in der Gestalt des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint,“ (6,33) macht den Menschen, dessen Denken sich in den Bahnen traditioneller Ethik bewegt, blind. „Mit seinen vorgefaßten Begriffen vermag er das Wirkliche nicht aufzunehmen, geschweige daß er dem ernstlich begegnen könnte, dessen Wesen und Kraft er garnicht erkennt.“ (6,63) Der Mensch traditioneller Ethik kann dem NS-Regime und seinen offensichtlichen Verbrechen nicht „ernstlich“ begegnen – nicht so begegnen, dass daraus eine ernstliche Gefahr für das NS-Regime wird. Er ist bemüht, seine ethische Wertehaltung sichtbar zu machen und dort, wo er mit dem Regime in Konflikte kommt, zu bewähren. Aber all dies kann das Wesen des NS-Regimes nicht wirklich entlarven noch seine Kraft erschüttern. Der traditionell gebundene ethische Mensch „muß seine Energien sinnlos verpuffen und selbst sein Martyrium wird für seine Sache kein Quell der Kraft noch für den Bösen eine Bedrohung sein.“ (6,63) Um es mit den Begriffen Verteidigung und Angriff auszudrücken: Die traditionelle Ethik befindet sich in der Verteidigungshaltung für sich und die ihr überkommenen Lebensordnungen. Sie ist aber nicht in der Lage, zum Angriff überzugehen. Sie kommt nicht zum „Wagnis der auf eigenste Verantwortung hin geschehenden Tat, die allein das Böse im Zentrum zu treffen und zu überwinden vermag“ (8.22). Nach diesen mehr grundsätzlichen Bemerkungen kommt Bonhoeffer zu den Einzelheiten bedeutender ethischer und humanistischer Positionen. Es sind sechs kurze Skizzen, gleichsam „konkrete Beobachtungen zu der Frage: Wie ist das Versagen und Scheitern so vieler Deutscher gegenüber den offensichtlichen Verbrechen des NS-Regimes zu begreifen, wenn die Menschen selbst sich doch als Vertreter hoher Güter verstehen?“ (6,64) Die erste Skizze gilt den „Vernünftigen“, beginnend mit dem Satz: „Erschütternd ist das Versagen der Vernünftigen“. Die zweite Skizze wendet sich dem ethischen Fanatismus zu: „Erschütternder ist noch das Scheitern alles ethischen Fanatismus“ (6,64). Es folgen die weiteren Skizzen zu den Stichworten Gewissen, Pflicht, eigenste Freiheit und private Tugendhaftigkeit. (6,65f.) Alle diese Wertehaltungen können nach Bonhoeffer nicht „der letzte Maßstab“ sein – sie haben sich in der Krise nicht als ausreichend bewährt; ihre Befolgung befähigte und befreite nicht zum Wagnis der Tat, „die allein das Böse im Zentrum zu treffen und zu überwinden vermag.“ (6,65) [. . .] Die Situation des Gewissens-Menschen kennzeichnet Bonhoeffer als Zwangslagen – noch genauer: als Entscheidung fordernde Zwangslagen – das NS-Regime möchte zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen, und der Gewissens-Mensch muss sich entscheiden, ob er sich diesem Druck fügen

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oder ob er widerstehen und damit sein Leben gefährden soll. Vielleicht darf man hier als ein Beispiel aus der Zeit des Nationalsozialismus an die schwierigen Gewissenskämpfe beim Thema Wehrdienst – Kriegsdienstverweigerung erinnern. Der Wehrpflichtige war in dieser Frage einsam – die Zwangslagen waren wie eine Übermacht – die Verkleidungen und Masken des Bösen machten sein Gewissen ängstlich und unsicher (auch die Kirche beteiligte sich an den Verkleidungen des Bösen). Bis er es schließlich – von den mutigen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr aushielt, dem Druck nachgab und die Gewissenanklagen kleinredete bzw. sein Gewissen belog. Bonhoeffer bedauert, dass der Gewissens-Mensch nicht die Kraft hat, sich der Erfahrung des bösen Gewissens zu stellen – und mit dieser Erfahrung die Grenzen der traditionellen Gewissensethik zu sprengen. [. . .] Solche . . . Verhaltenalternativen sind jedoch nicht einfach mit einem guten und reinen Gewissen zu haben. Sie sind in einem sehr hohen Grade ethisch belastet. Zu ihnen gehören Lüge, Verstellung, Enttäuschung von Menschen, Sich-Entziehen berechtigten Erwartungen, Übertretung staatlicher Gesetze, das In-Gefahr-Bringen von Freunden und Angehörigen, das Sich-Einlassen auf riskante Unternehmungen, das Ausnutzen menschlicher Beziehungen für beziehungsfremde Zwecke ohne Wissen des Gegenübers, das Fälschen von Dokumenten. Der Gewissens-Mensch wird sich auf solche Gewissensabenteuer nicht einlassen können. Die Gewissensethik – genauer gesagt: die Nur-Gewissensethik stößt hier an ihre Grenzen. Bonhoeffer weist auf diese Grenzen traditioneller Ethik hin, weil er deutlich machen möchte: Wir brauchen einen neuen ethischen Denkansatz. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere eigenen ethischen Wertehaltungen uns ohnmächtig vor dem Bösen machen. In den ethischen Auseinandersetzungen seiner Zeit sieht Bonhoeffer den Kampf „einer alten gegen eine neue Welt, einer vergangenen gegen eine gegenwärtige Wirklichkeit“ (6,66). Er hat hohen Respekt vor den Vertretern traditioneller Ethik, trotzdem – oder gerade deswegen – sieht er in ihrem Scheitern eine vermeidbare Tragik. „Es sind die Besten, die so mit allem, was sie können und sind, untergehen“ (6,66). Bonhoeffer vergleicht sie mit der Gestalt des Don Quijote, des „Ritters von der traurigen Gestalt“, „der ein Rasierbecken für einen Helm und einen elenden Klepper für ein Streitroß nimmt“ (6,66). Wie Don Quijote verfügen die Vertreter traditioneller Ethik nicht mehr über gegenwartstaugliche Waffen. Die traditionellen ethischen Waffen, „die wir von unseren Vätern erbten, mit denen sie große Dinge vollbrachten“ (6,67), können dem gegenwärtigen Kampf nicht mehr genügen. Es gilt, die rostigen Waffen des Don Quijote mit den blanken Waffen einer neuer Ethik zu vertauschen. An der Entwicklung einer solchen neuen Ethik möchte sich Bonhoeffer beteiligen.

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2.2 Bonhoeffers Antwortversuch: Die Verantwortungsethik – eine Ethik der Wegbereitung zum Tun Bonhoeffers Einstieg in die Verantwortungsethik ist neu. Der Einstieg ist nicht bei dem einzelnen Menschen gewählt, der als verantwortliches Subjekt definiert wird, um sodann für dieses Subjekt ein verwertbares Wissen über Gut und Böse zu eruieren. Für Bonhoeffer gibt es diesen isolierten einzelnen Menschen nicht. Ebensowenig ist ein isoliertes abstraktes Wissen über Gut und Böse herstellbar. „Das üblicherweise erstrebte Wissen um Gut und Böse, welches das Ich und durch dieses die Welt gut werden lassen möchte, verkennt, ‚dass diese Wirklichkeiten des Ich und der Welt selbst noch eingebettet liegen in eine ganz andere letzte Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers, Versöhners und Erlösers‘.“ (6,435) Bonhoeffers Ethik ist in gewisser Weise eine Fortsetzung seines Buches „Nachfolge“, das aus Arbeiten vor und während der Zeit im Predigerseminar Finkenwalde 1935–1937 erwuchs und sich vor allem mit der Auslegung der Bergpredigt beschäftigt. Das Buch „Nachfolge“ expliziert ethische Grundgedanken für ein christliches Leben in der Auslegung von Jesus-Worten. Das Buch „Ethik“ geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur einzelne Jesus-Worte, sondern die gesamte Gestalt des Jesus von Nazareth wird zum zentralen ethischen Orientierungspunkt. In dem Ethik-Kapitel „Ethik als Gestaltung“ (6,62–90) wird diese Orientierung an der Jesus-Gestalt besonders unterstrichen. Ethik ist „Gestaltung einer mit Gott versöhnten Welt“ (6,8o), die von der Christusgestalt auszugehen hat. „Christus bleibt der einzige Gestalter. Nicht christliche Menschen gestalten mit ihren Ideen die Welt, sondern Christus gestaltet die Menschen zur Gleichgestalt mit ihm.“ (6,81) Bei der Beschreibung seines ethischen Ansatzes bedient sich Bonhoeffer des Begriffs der Verantwortung. Er führt aus: „Wir leben, indem wir auf das in Jesus Christus an uns gerichtete Wort Gottes Antwort geben. Weil es ein auf unser ganzes Leben gerichtetes Wort ist, darum kann auch die Antwort nur eine ganze, mit dem ganzen Leben, wie es sich jeweils handelnd realisiert, gegebene sein.“ (6,253) „Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi . . . nennen wir ‚Verantwortung‘.“ (6,254) „Wir geben dabei dem Begriff der Verantwortung eine Fülle, die ihm im alltäglichen Sprachgebrauch nicht zukommt, selbst dort nicht, wo er eine ethisch höchst qualifizierte Größe geworden ist, wie etwa bei Bismarck und bei Max Weber.“33 Man muss verschiedene Aspekte dieses Begriffs unterscheiden. Es gibt eine aktive und eine reflexive Verantwortung. Am geläufigsten ist die reflexive Verantwortung, das nachträgliche Sich-Verantworten, mit dem ich

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mich und mein Tun nachträglich rechtfertige. Es gibt aber auch die aktive Verantwortung, das zeitgleiche, im Vollzug sich ereignende Einstehen für eine Sache, für einen Sachverhalt oder für eine Beziehung. Der aktiven Verantwortung entspricht der biblische Sprachgebrauch. Am bekanntesten ist das Beispiel aus 1. Petrus 3,15: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“ Bonhoeffer hat diesen biblischen Sprachgebrauch aufgegriffen und erweitert. Die aktive Verantwortung für die Sache Jesu Christi ist für ihn mehr als ein Bekenntnis nur mit Worten. Es ist ein Einstehen mit dem ganzen Leben – so wie es sich bei vielen Märtyrern beobachten läßt. „Verantwortung bedeutet daher, daß die Ganzheit des Lebens eingesetzt wird, daß auf Leben und Tod gehandelt wird.“ (6,254) Bonhoeffer ist es sehr wichtig, die in dem Begriff Verantwortung „zusammengefaßte Ganzheit und Einheit der Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebene Wirklichkeit“ (6,254) zu betonen. In der Ganzheitlichkeit der Lebensantwort liegt der entscheidende „Unterschied zu den Teilantworten, die wir zum Beispiel aus der Erwägung der Nützlichkeit oder aus bestimmten Prinzipien heraus geben könnten. Angesichts des Lebens, das uns in Jesus Christus begegnet, kommen wir mit solchen Teilantworten nicht aus“ (6,254). Teilantworten sind Antworten aus bestimmten Prinzipien heraus. Eines dieser Prinzipien ist das Gewissen. Die traditionelle Gewissensethik ist eine der Teilantworten, die der geforderten Ganzheitlichkeit der Lebensantwort nicht gerecht werden können. Zu kritisieren sind dabei nicht die Prinzipien als solche – Bonhoeffer wird den Begriff des Gewissens später wieder aufgreifen und mit einem modifizierten Begriffsinhalt in sein ethisches System einarbeiten –, zu kritisieren ist lediglich, wenn diese Prinzipien verabsolutiert und als einzige verbindliche Orientierungsmaßstäbe zugelassen werden.34 Was unter dem Gesichtspunkt des einen Prinzips als gut gelten mag, kann unter dem Gesichtspunkt eines anderen Prinzips als problematisch entlarvt werden, und umgekehrt. Die Welt der ethischen Urteilsbildung ist viel zu komplex, als dass sie mit Hilfe von wenigen Prinzipien bewältigt werden könnte. Für Bonhoeffer ist die Struktur des verantwortlichen Lebens „durch ein doppeltes bestimmt: durch die Bindung des Lebens an Mensch und Gott und durch die Freiheit des eigenen Lebens . . . Ohne diese Bindung und ohne diese Freiheit gibt es keine Verantwortung. Nur das in der Bindung selbstlos gewordene Leben steht in der Freiheit eigensten Lebens und Handelns.“ (6,256) Die zur Verantwortung gehörende Bindung zeigt sich in der Übernahme von „Stellvertretung“ und in dem Bemühen um „Wirklichkeitsgemäßheit“. Die zur Verantwortung gehörende Freiheit zeigt sich in der „Bereitschaft zur Schuldübernahme“ (6,275) und in dem „Wagnis“ (2,256) der konkreten freien Entscheidung. Stellvertretung, Wirklichkeits-

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gemäßheit, Schuldübernahme und freies Wagnis: das sind die vier Stichworte, unter denen Bonhoeffer die Struktur des verantwortlichen Lebens entfaltet. Zu allen vier Stichworten soll in aller Kürze das Wichtigste gesagt werden, um dann anschließend näher auf Bonhoeffers Gewissensbegriff einzugehen. Stellvertretung: „Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen.“ (6,258) „Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben.“ (6,257) „Als Mensch vor Gott zu leben angesichts der Menschwerdung Gottes kann also nur heißen, nicht für sich selbst sondern für Gott und die anderen Menschen dazusein.“ (8,560) [. . .] Wirklichkeitsgemäßheit: „Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, ‚Gebotene‘ zu erfassen und zu tun.“ (6,260) [. . .] Zur Wirklichkeitsgemäßheit gehört außerdem die Einsicht in die „Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit“ (6,267). „Unsere Verantwortung ist nicht eine unendliche, sondern eine begrenzte. Innerhalb dieser Grenzen freilich umfasst sie das Ganze der Wirklichkeit“ (6,267). „Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun,“ (6,267) ist die konkrete Aufgabe, vor die sich der Verantwortliche gestellt sieht. [. . .] Schuldübernahme: Das Nachdenken über das wirklichkeitsgemäße Handeln in Situationen nackter Lebensnotwendigkeiten hat gezeigt, wie Verantwortlichkeit mit Schuldigwerden verbunden sein kann – es kommt zu an sich verbotenen Handlungen, die den, der sie begeht, schuldig werden lassen.35 Der Verantwortliche wird diesen Sachverhalt nicht verniedlichen oder bestreiten. Er „rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie“ (6,283). Er möchte nicht „seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen“ (6,276) stellen, um damit „die Unversehrtheit des eigenen Gewissens“ (6,276) zu retten. Diese innere Haltung des Verantwortlichen – seine Bereitschaft zur Schuldübernahme – hat ihr Vorbild in der Gestalt des Jesus von Nazareth. [. . .] „Weil es Jesus nicht um die Proklamation und Verwirklichung neuer ethischer Ideale, also auch nicht um sein eigenes Gutsein (Mt. 19 [,17]!), sondern allein um die Liebe zum wirklichen Menschen

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geht, darum kann er in die Gemeinschaft ihrer Schuld eintreten“ (6,275). Der Weg Jesu führt in die Schuldübernahme. Wer den Weg Jesu mitgehen möchte, wird es nicht vermeiden können, in Situationen des Schuldigwerdens zu geraten. „Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig.“36 Freies Wagnis: Für das verantwortliche Handeln gibt es kein vorweg vorhandenes oder erworbenes Wissen über Gut und Böse, auf das es sich abstützen und mit dem er sich rechtfertigen könnte. Der Verantwortliche „muß beobachten, urteilen, abwägen, sich entschließen, handeln.“ (6,284) Er bleibt damit – egal wie sehr er sich um Klarheit bemüht – „im Bereich der Relativitäten, ganz in dem Zwielicht, das die geschichtliche Situation über Gut und Böse breitet,“ (6,284) sein Handeln „geschieht mitten in den unzähligen Perspektiven, in denen jedes Gegebene erscheint. Er hat nicht einfach zwischen Recht und Unrecht, Gutem und Bösem zu entscheiden, sondern zwischen Recht und Recht, Unrecht und Unrecht.“ (6,284) Das verantwortliche Handeln geschieht im Verzicht „auf ein letztes gültiges Wissen um Gut und Böse. Das Gute als das Verantwortliche geschieht in der Unwissenheit um das Gute, in der Auslieferung der notwendig gewordenen und doch (oder darin!) freien Tat an Gott, der das Herz ansieht, der die Taten wiegt und die Geschichte lenkt“ (6,284). [. . .]

2.3. Bonhoeffers Gewissensbegriff: Vom natürlichen zum in Jesus Christus befreiten Gewissen Bonhoeffers Verantwortungsethik hat ihren Kulminationspunkt in der Aussage, dass zur Verantwortlichkeit die Unausweichlichkeit des Schuldigwerdens und die Bereitschaft zur Schuldübernahme gehört. Die notwendig gewordene Tat kann nur getan werden, wenn der Verantwortliche bereit ist, bewusst und sehenden Auges etwas Unzulässiges zu tun. Natürlich stehen hier im Hintergrund die ethischen Diskussionen, die im Kreis des Widerstandes geführt wurden. Immer wieder gab es Zweifel, ob ein Attentat wirklich als eine notwendig gewordene Tat gelten dürfe – ob die Beseitigung des NS-Regimes wirklich die Ausführung einer so verabscheuungswürdigen Tat, nämlich eines Mordes rechtfertige. Andererseits konnten die Informationen über das Sterben an den Fronten und das Morden in den besetzten Gebieten und in den Konzentrationslagern nicht mehr tatenlos hingenommen werden. Sie ließen den Verantwortlichen beim Nichtstun nicht zur Ruhe kommen. Die Menschen waren in ihren Bedenken und traditionellen Anschauungen hin und her gerissen – das Nichtstun verbot sich ihnen, zum Tun konnten viele von ihnen nicht die notwendige

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Freiheit finden bzw. sie wurden darin von ihren Gewissenzweifeln immer wieder irritiert. Bonhoeffer selbst hatte sich in einem mehrjährigen Prüfungs- und Entscheidungsprozess für die Beteiligung am Widerstand durchgerungen. Er kannte die quälenden Gewissenszweifel aus eigenem Durchleben, hatte dabei aber auch wahrgenommen, dass der christliche Glaube in dieser schweren Konfliktsituation eine große Hilfe sein kann. Er wollte seine Erfahrungen als Ermutigung weitergeben. [. . .] Die Definition des Gewissens, die Bonhoeffer vorträgt, nimmt Begriffselemente auf, die sich bei Martin Heidegger in seinem Werk „Sein und Zeit“ in § 56 „Der Rufcharakter des Gewissens“ finden (6,277). Auch für Bonhoeffer hat das Gewissen Rufcharakter. Er formuliert: „Das Gewissen ist der aus der Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst. Es erscheint als Anklage gegen die verlorene Einheit und als Warnung vor dem sich selbst Verlieren. Es ist primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes Sein gerichtet. Es protestiert gegen ein Tun, das dieses Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet“ (6,276f.).Es ist die Funktion des Gewissens, „eine Zerstörung . . . des eigenen Seins, ein Zerfallen der menschlichen Existenz“ (6,277) abzuwehren. Die falsche Tat eines Menschen bedeutet nicht nur einen Schaden für davon betroffene andere Menschen, sondern auch eine Gefahr für den Täter selbst, insofern sie auf den Täter zurück wirkt und dessen geistig-leiblichseelische Einheit mit sich selbst infrage stellt. Es droht für den Täter eine Art Selbstzerstörung.37 Insofern kann es wirklich niemals geraten sein, wider das eigene Gewissen zu handeln. In diesem formalen Sinn stimmt Bonhoeffer der Gewissensanalyse zu, um jedoch sogleich heftig zu widersprechen. Hinter den formalen Richtigkeiten verbergen sich höchst problematische Inhalte. Das Ich, dem das Gewissen dient, bezieht sich im Gewissen nur auf sich selbst – und befindet sich damit in einer tiefen Gottlosigkeit. Diese zeigt sich „in seinem Anspruch, ‚wie Gott‘ – sicut deus – sein zu wollen in der Erkenntnis des Guten und des Bösen.“38 „So hat der Gewissenruf seinen Ursprung und sein Ziel in der Autonomie des eigenen Ich. Es gilt in der Befolgung des Rufes, diese Autonomie, die ihren Ursprung jenseits des eigenen Wollens und Wissens ‚in Adam‘ hat, jeweils selbst neu zu verwirklichen“ (6,278). Der große Selbstwiderspruch des Gewissens besteht darin, dass es den Menschen an eine bestimmte Erkenntnis des Guten und Bösen bindet – und dass diese angebliche Erkenntnis nur ein Wunschdenken ist, ein Spiegelbild eigener Vorstellungen und Erfahrungen. Das Gewissen ist sozusagen die in den Individuen gelagerte Abspeicherung kollektiven Erfahrungswissens – eines Erfahrungswissens, dessen Ursprünge tief in der Geschichte

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verwurzelt sind und im Prinzip bis auf Adam zurückreichen. Damit ist das Gewissen immer nur an der Vergangenheit orientiert und erweist sich als unzureichender Ratgeber für neue, noch nie da gewesene Situationen. [. . .] Nachdem uns die Inkonsistenz des natürlichen Gewissens bewusst geworden ist, werden wir mit umso größerem Interesse verfolgen, wie Bonhoeffer den Übergang vom „natürlichen“ zum „in Jesus Christus befreiten Gewissen“ beschreibt (6,279). Der entscheidende Satz in Bonhoeffers Ethik, mit dem diese Beschreibung einsetzt, lautet: „Die große Veränderung tritt, wie wir nun begreifen, in dem Augenblick ein, in dem die Einheit der menschlichen Existenz nicht mehr in ihrer Autonomie besteht, sondern – durch das Wunder des Glaubens – jenseits des eigenen Ich und seines Gesetzes, in Jesus Christus gefunden wird“ (6,278). Bonhoeffer nennt diese „große Veränderung“ etwas später eine „Veränderung des Einheitspunktes“ (6,278). Es ist sehr wichtig, dass wir das Wesen dieser Veränderung richtig erfassen. Gemeint ist nicht, dass der Einheitspunkt nunmehr außerhalb des Ichs – nämlich in Jesus Christus platziert wird. Vielmehr soll gesagt werden, dass das Ich und Jesus Christus sich aufeinander zu bewegen – das Ich bewegt sich auf Jesus Christus zu und verortet sich in ihm bzw. Jesus Christus bewegt sich auf das Ich zu und nimmt in ihm Wohnung. Jesus Christus hat ein anders geprägtes Gewissen, als wir es vom natürlichen Menschen her kennen. Wenn der natürliche Mensch mit der pneumatischen Wirklichkeit Jesu Christi verschmilzt, wird er in die Gestalt Jesu Christi hinein verwandelt. Es verändert sich sein Denken, Fühlen und Handeln – und es verändert sich sein Gewissen. Das Gewissen des natürlichen Menschen wird umgestaltet – die Inhalte des Gewissens werden umgeprägt. Es wird angenähert, ähnlich gemacht, im Idealfall „gleichgestaltet“ dem Gewissen Jesu Christi. [. . .] Wenn der Christ sagt „Jesus Christus ist mein Gewissen geworden“ (6,279), so tritt Jesus Christus nicht neben das Gewissen als eine zweite Autoritätsgröße – das wäre Zerfall der Einheit. Vielmehr tritt Jesus Christus in das Gewissen ein, verschmilzt mit ihm, verändert es. Der Lebensinhalt, wie ihn Jesus verkörpert hat, wird auch zum Gewissensinhalt des Menschen, in dessen Gewissen er eintritt.39 Damit rückt die Stellvertretung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn der Lebensinhalt Jesu Christi ist eben genau diese Stellvertretung40, das Handeln an der Stelle anderer, das Handeln für andere, die selbst nicht zu solchem Handeln für sich fähig sind. Diese Lebensmitte Jesu Christi soll auch die Gewissensmitte der Christusnachfolger werden. „Jesus Christus ist mein Gewissen geworden. Das bedeutet, daß ich die Einheit mit mir selbst nur noch in der Hingabe meines Ich an Gott und die Menschen finden kann. Nicht ein Gesetz, son-

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dern der lebendige Gott und der lebendige Mensch, wie er mir in Jesus Christus begegnet, ist Ursprung und Ziel meines Gewissens“ (6,279). Der Verantwortliche „ist nicht ein isolierter Einzelner, sondern er vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen.“ 41 An dieser Stelle lässt sich der Unterschied zu der traditionellen Gewissensethik besonders deutlich herausarbeiten. In der traditionellen Gewissensethik haben wir es mit dem isolierten Einzelnen zu tun. Der Einzelne möchte die Einheit mit sich selbst bewahren, um sein Überleben zu sichern. Die neue Verantwortungsethik, wie sie Bonhoeffer vorschwebt, geht davon aus, dass die Figur des isolierten Einzelnen eine völlig unrealistische Fiktion ist. Der Mensch ist nie ein isolierter Einzelner, sondern immer schon eingebunden in Beziehungen und Verantwortlichkeiten. Die im äußeren Leben vorhandene Verflechtung des Menschen mit seinen Mitmenschen findet auch im Gewissensleben ihren Niederschlag – oder sollte zumindest ihren Niederschlag finden. Das in Jesus Christus befreite Gewissen hört auf, nur eine Interessenvertretung für den isolierten Einzelnen zu sein. Mit Christus finden in mein Gewissen auch diejenigen Menschen Eingang, denen ich durch Beziehung und Verantwortung zugeordnet bin. Die Verantwortungsethik schafft im Gewissen Raum für die Ichs mehrerer Menschen. Die „Anderen“, ihr Leben und Überleben, die bisher weniger wichtig waren, werden nun zu einem gleichgewichtigen Anliegen und Handlungsziel. Der Einzelne kann und möchte nicht mehr leben ohne diese Anderen. Nur ein gemeinsames Leben ist sinnvoll. Stellvertretendes Handeln setzt sich für das bedrohte Leben anderer ein, damit das gemeinsame Leben fortgesetzt werden kann. Gemeinsames Leben ist Leben in der Einheit. Der für das Leben anderer erforderliche Einsatz, in dem sich die Einheit des sich Einsetzenden mit sich selbst realisiert, bekommt oberste Priorität. Auch im Leben Jesu gab es Situationen, in denen seinem Impuls zu handeln das Gesetz entgegentrat und versuchte, das Handeln zu verhindern. Das Gesetz steht für das verfasste, kodifizierte Wissen um Gut und Böse. Im Leben Jesu handelte es sich dabei um das Gesetz des Mose. In der bürgerlichen Gesellschaft der europäischen Neuzeit mit ihrer traditionellen Gewissensethik sind die Orte und Weisen des Wissens um Gut und Böse profanisierter, individualisierter. Die Grundproblematik bleibt die gleiche Frage, nämlich ob die Befolgung des Gesetzes – die nur durch Nichts-Tun durchgehalten werden kann – oder ob die Hilfe für den Nächsten – die beim Tun das Schuldigwerden am Gesetz in Kauf nimmt – oberste Priorität genießt. Für die traditionelle Gewissensethik steht die Befolgung des Gesetzes an erster Stelle. Die Gewissensethik ist eine Ethik des Nichts-Tuns. Nur wer sich in Konfliktsituationen aufs Nichts-Tun zurückzieht, kann immer der Befolgung des Gesetzes nachkommen. Bonhoeffers Verantwortungsethik dagegen ist eine Ethik des Tuns. Wem die

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Hilfe für den Nächsten unabweisbar geworden ist, der kann sich auch in ethischen Konfliktsituationen nicht von der Absicht des Tuns abbringen lassen – wird also den inneren Konflikt nicht zu ungunsten des Nächsten, sondern zugunsten des Nächsten entscheiden. Der Verantwortliche kann sich darin Jesus zum Vorbild nehmen. „Um Gottes und der Menschen willen wurde Jesus zum Durchbrecher des Gesetzes: er brach das Sabbathgesetz um es in der Liebe zu Gott und Mensch zu heiligen; er verließ seine Eltern um im Hause seines Vaters zu sein und so den Gehorsam gegen die Eltern zu reinigen; er aß mit Sündern und Verworfenen, er geriet aus Liebe zu den Menschen in die Gottverlassenheit seiner letzten Stunde“ (6,279). Wichtig ist es, sich das Wesen der Gesetzesdurchbrechung zu vergegenwärtigen. In der Gesetzesdurchbrechung werden die Normen von Gut und Böse nicht verändert, sondern „nur“ – „nur“ in Anführungszeichen – für eine kurze Ausnahmesituation suspendiert. [. . .] Bisher hatten wir bei dem gesetzesdurchbrechenden Tun als Begründungszweck im Blick, dass solches Tun „die Opfer unter dem Rad verbindet“42, d. h. dem Nächsten dient, ihm zu Hilfe kommt, seine Not wendet. Nunmehr im Zusammenhang mit der eingehenderen Reflexion der Gesetzesdurchbrechung verdeutlicht Bonhoeffer, was er mit diesem Verbinden der Opfer unter dem Rad konkreter meint. Er hat die Situation vor Augen, in der Normen, Gesetze und ethisch-moralische Grenzen weitgehend aufgelöst sind und stattdessen Willkür, Unrecht und Machtmissbrauch das öffentliche Leben beherrschen. In einer solchen Situation – in der helfendes Handeln für einzelne Menschen sich nicht mehr auf geltende Gesetze abstützen kann, ja sogar von den geltenden Gesetzen verboten wird – ist Gesetzesdurchbrechung im Dienst der Nächstenhilfe legitim. Aber es gibt nach Bonhoeffer einen zweiten Handlungszweck, der eine Gesetzesdurchbrechung legitimer Weise rechtfertigt: die Beseitigung von gesellschaftlich-strukturellen Willkür- und Unrechtszuständen, die das Leid für die zahllosen Individuen immer wieder neu hervorbringen. Ein Eingriff in die politische Verfasstheit einer Gesellschaft darf sich dann – und nur dann! – des Mittels der Gesetzesdurchbrechung bedienen, wenn nur so – und nicht anders! – die „Wiederherstellung und Achtung des Gesetzes“ (8.30) erreicht werden kann. Auch dieser politische Kampf um die Wiederherstellung der Geltung des Rechts ist eine Form von Nächstenhilfe („dem Rad in die Speichen fallen“). „Um Gottes und des Nächsten willen und das heißt um Christi willen gibt es eine Freiheit . . . vom ganzen göttlichen Gesetz, eine Freiheit, die dieses Gesetz durchbricht, aber nur um es so neu in Kraft zu setzen. Die Suspension des Gesetzes kann nur seiner wahren Erfüllung dienen. Im Kriege zum Beispiel wird getötet, gelogen, enteignet, allein damit das Leben, die Wahrheit, das Eigentum wieder in Kraft gesetzt werde.“43 [. . .]

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3. Die Schlussfrage im Hintergrund: Wie kann der Verantwortliche sündlos schuldig werden? Bonhoeffer betont immer wieder, dass verantwortliches, im christlichen Glauben wurzelndes Handeln – mit Gesetzesdurchbrechung und Schuldübernahme – nicht bedeutet, dass eine Fortsetzung von „heillosen Konflikten“ und quälenden Gewissenskrupeln stattfindet. Das Gegenteil ist der Fall. Der verantwortlich Handelnde handelt in Gewissheit und in Einheit mit sich selbst (6,311). Er hat ein reines Gewissen. „Das vom Gesetz befreite Gewissen wird das Eintreten in fremde Schuld um des anderen Menschen willen nicht scheuen, es wird sich vielmehr gerade so in seiner Reinheit erweisen“ (6,279). Weil verantwortliches Handeln nicht „übermütig, sondern geschöpflich, demütig ist, kann es von einer letzten Freude und Zuversicht getragen sein, kann es sich in seinem Ursprung, Wesen und Ziel, in Christus geborgen wissen“ (6,269). „Jesus Christus, der den Menschen angenommen und mit ihm die Welt geliebt, gerichtet und versöhnt hat, ist der Ursprung wirklichkeitsgemäßen Handelns.“44 Es ist ein merkwürdiges Phänomen, das Bonhoeffer hier beschreibt. Einerseits tut der Handelnde etwas Verbotenes – und lädt damit Schuld auf sich –, andererseits handelt er in Gewissheit und Reinheit, in Freude und Zuversicht. Er weiß sich in Christus geborgen. Jesus Christus ist der Ursprung seines Handelns – wenn man bedenkt, dass Bonhoeffer hier die Beteiligung am Widerstand und die Vorbereitung eines Attentats reflektiert, werden seine Aussagen umso erstaunlicher. Schuld scheint für Bonhoeffer in diesem Zusammenhang etwas anderes zu sein als das, was wir normalerweise darunter verstehen. Schuld scheint hier nicht so sehr einen inneren Konflikt im Menschen zu beschreiben (Verstoß gegen eigenes Meinen und Urteilen). Vielmehr wird mit Schuld wohl eher ein äußerer Normen- und Wertekonflikt angesprochen (Verstoß gegen vorgegebene Normen, tradierte religiöse Werte oder gegen „die bleibenden Gesetze menschlichen Zusammenlebens“ (8,30)). Schuld scheint also eine Art von Bewertungskonflikt zu sein, der es nicht ausschließt, dass man ganz innen mit sich eins ist und zu seinem Verhalten stehen kann. Bonhoeffer kann sogar formulieren „der Verantwortliche wird sündlos schuldig“ (6,283). Der Verantwortliche hat sowohl an der Sündlosigkeit Jesu Anteil als auch an seinem Schuldig-Werden und Schuld-Tragen. Die Struktur seines Lebens ist in dem Leben Jesu vorgebildet und vorgeprägt – wenn auch die Sündlosigkeit des Verantwortlichen durch die Erbsünde vergiftet und deswegen nur eingeschränkt vorhanden ist. „Obwohl menschliches Handeln – im Unterschied zu der wesenhaften Sündlosigkeit Jesu Christi – niemals sündlos sondern von der wesenhaften Erbsünde vergiftet ist, nimmt es als verantwortliches Handeln – im Gegensatz zu jedem selbst-

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gerecht-prinzipiellen Handeln – doch indirekt an dem Handeln Jesu Christi teil. Es gibt also für das verantwortliche Handeln so etwas wie eine relative Sündlosigkeit, die sich gerade im verantwortlichen Aufnehmen fremder Schuld erweist“ (6,279f.). Beide Aussagen Bonhoeffers – das Teilhaben des Verantwortlichen an der Sündlosigkeit Jesu und gleichzeitig die Einschränkung dieser Sündlosigkeit wegen der Erbsünde – sind bemerkenswert. Sie bedürfen einer Erläuterung und Explikation – weil nur von dorther das „Selbstverständliche, Freudige, Gewisse, Klare“ (vgl. 6,311) der christlichen Existenz nachvollziehbar wird. Zuerst müssen wir die Gleichzeitigkeit von Sündlosigkeit und Schuldtragen zu verstehen versuchen. Anschließend wird es leichter sein zu erläutern, was mit der Einschränkung der Sündlosigkeit beim Menschen unter der Erbsünde gemeint sein könnte. [. . .] Die Wende von der Sünde zur Sündlosigkeit tritt durch das Geschenk des Glaubens ein. „Das ist das Geschenk des Glaubens, daß der Mensch nicht mehr auf sich selbst sieht, sondern allein auf das Heil, das von außen über ihn gekommen ist“ (2,149). Mit der Übereignung des Glaubens wendet Gott „den Blick des Menschen von sich selbst ab und gibt ihm seine Richtung (die reine Intentionalität des actus directus) auf Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, der die Überwindung der Anfechtung zum Tode ist“ (2,148). Sünde geschieht im actus reflexus, Sündlosigkeit ereignet sich im actus directus.45 Es gibt keine Gleichzeitigkeit von Sünde und Sündlosigkeit, genauso wenig wie es eine Gleichzeitigkeit von actus reflexus und actus directus gibt. Actus reflexus ist immer schon eine Unterbrechung der zum Glauben gehörenden Unmittelbarkeit: „Reflexion findet sich immer schon in Reflexion vor, und eben diese Reflexion muß zum Hinweis darauf werden, dass der unmittelbare Aktbezug unterbrochen ist“ (2,126). Die zur Sünde im Zustand des actus reflexus gehörenden Gemütsverfassungen sind sind Unruhe und Reue, Alleinsein und Verzweiflung. Es ist ein „dauerndes Sterben“ (2,147), das begleitet ist von „Angst und Bangigkeit. Schuld, Tod, und Welt bedrängen den Menschen“ (2,147). In dieser „Anfechtung stirbt der Mensch“ (2,148). Dagegen wird dem Menschen durch die Wende zur Sündlosigkeit im Zustand des actus directus neues Leben geschenkt. Er lässt die Gemütszustände, die die Sünde begleiteten, hinter sich und findet sich in jenen Gemütszuständen vor, die wir bereits erwähnt haben. Das Leben, Handeln und Verhalten des Menschen bekommt etwas „selbstverständliches, freudiges, gewisses, klares“ (6,311). Der Grund für dieses Phänomen tritt langsam vor unsere Augen. Die Sündlosigkeit ist – ähnlich wie die Sünde – eine die Ganzheit des Menschen bestimmende Wirklichkeit, die alles ihr Entgegenstehende überwindet und verwandelt. Es gibt keine Gleichzeitigkeit von Sünde und Sündlosigkeit – die Sündlosigkeit vernichtet die Sünde. Es gibt aber eine Gleichzeitigkeit

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von Sündlosigkeit und Schuld – die Sündlosigkeit verwandelt die Schuld. Aus der negativen wird sozusagen eine positive Schuld. Schuld ist nicht mehr das Lebensbedrohende, sondern das Lebensrettende. [. . .] Der Begriff der Schuld bedarf einer genaueren Erläuterung. Er gehört in den Bereich der Sünde. Weil Menschen im Bereich der Sünde leben und nicht von sich über eine irrtumsfreie Orientierung zum Guten verfügen, bedürfen sie der Vorgabe von Normen und Geboten. Die Übertretung von Normen und Geboten macht schuldig. Dass der Verantwortliche die objektive Schuld der Gesetzesdurchbrechung erkennt und anerkannt, heißt nicht, dass er sein Handeln als Fehlverhalten einstuft. Es sind hier zwei Begriffe von Schuld im Spiel: Schuld als objektive Gesetzesdurchbrechung und Schuld als negative Bewertung dieser objektiven Gesetzesdurchbrechung. Der Verantwortliche stimmt mit denen, die seinem Verhalten strafend entgegentreten, darin überein, dass es sich um eine objektive Gesetzesdurchbrechung gehandelt hat.46 Er stimmt ihnen jedoch nicht in der negativen Bewertung seiner Handlung zu. Der moralische Skandal sind nicht die Taten des Verantwortlichen, sondern die Verbrechen, deren Ende der Verantwortliche herbeiführen will. Dass auf den Verantwortlichen Sanktionen zukommen, offenbart die tatsächlichen Machtverhältnisse. Es zeigt nur, dass die Machthaber in Justiz und Staat die Kritik des Verantwortlichen nicht teilen und von ihm her ihre Macht bedroht sehen. Genau an dem gleichen Punkt jedoch, nämlich bei den Sanktionen, hat auch der Verantwortliche Gelegenheit, seine Motive und Ziele deutlich werden zu lassen. Er versteht die ihn treffenden Sanktionen als einen Widerstand gegen mehr Menschlichkeit. Er ist bereit, bei seinem Einsatz Risiken einzugehen und sie, sobald sie eintreffen, zu tragen. Ihm ging es bei seinem Tun nicht um Willkür, Zynismus, Eigennutz oder das Ausleben kriminelle Energie, sondern um die Beseitigung von verheerenden Gewaltursachen. Der Verantwortliche wird sich tötende Gewalt als eine ultima ratio47 nur dann vorstellen können, wenn sie eine Nothilfe für tödlich bedrohte Mitmenschen darstellt – und wenn er selbst die lebensbedrohenden Folgen für sich zu tragen bereit ist. „Ob aus Verantwortung oder aus Zynismus gehandelt wird, kann sich nur darin erweisen, ob die objektive Schuld der Gesetzesdurchbrechung erkannt und getragen wird und gerade in der Durchbrechung die wahre Heiligung des Gesetzes erfolgt“ (6,298). Bei Jesus kann niemand „die Unsicherheit, Ängstlichkeit dessen wahrnehmen, der aus Willkür handelt, sondern seine Freiheit gibt ihm und den Seinen in ihrem Tun etwas eigentümlich Gewisses, Fragloses, Strahlendes, Überwundenes und Überwindendes“ (6,315). Das Tun, das aus der Seinsart der Sündlosigkeit entspringt, hat dieses Gewisse, Fraglose, Strahlende, Überwundene und Überwindende an sich. Auch das Tun des Sündlosen, das der Liebe zu an-

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deren Menschen geschuldet in die Schuld führt, ist von dieser überwundenen und überwindenden Seinart geprägt. Dass es sich für Bonhoeffer bei dieser Seinart wirklich um die Sündlosigkeit handelt, wird daran erkennbar, dass Bonhoeffer sie mit der Abwesenheit der Reflexion (Abwesenheit von actus reflexus = actus directus) kennzeichnet. „Er (Jesus; K.M.) verbietet dem, der Gutes tut, das Wissen um dieses Gute. Das neue Wissen um die in Jesus vollzogene Versöhnung, um die Aufhebung der Entzweiung, hebt das alte Wissen um das eigene Gute völlig auf. Das Wissen um Jesus geht ohne jede Reflexion auf sich selbst gänzlich im Tun auf. Das eigene Gute bleibt dem Menschen nun verborgen“ (6,320). [. . .] Der Sündlose nimmt in seinem Verhalten Zukunft vorweg. Bonhoeffer ist dafür das beste Beispiel. Nach anfänglicher Ablehnung, nach jahrzehntelanger Distanz wächst die Zustimmung zu seinem Tun. Entscheidend ist dem Sündlosen aber noch einmal etwas anderes. Ihn erfüllt die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. In dieser Hoffnung kommt er zur Ruhe – auch wenn er zu dem Ort der Ruhe noch unterwegs ist. [. . .]

5.4 Die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe „Das Leben nicht-religiös interpretieren“ Bonhoeffers „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ – im 21. Jahrhundert? Axel Denecke48 I. Die Engführung auf das Sprachproblem in der herrschenden Bonhoeffer-Interpretation Was meint D. Bonhoeffer mit seiner programmatischen Forderung nach einer nicht-religiösen Interpretation (in Folge abgekürzt: nrI) biblischer/ theologischer49 Begriffe, wie er sie in seinen Gefängnisbriefen, die E. Bethge unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“50 herausgegeben hat, in immer größer werdender Klarheit und Schärfe im Jahre 1944 formuliert hat? Es muss verwundern, dass darüber auch nach 50 Jahren Interpretationsgeschichte mit einer Übermenge neuer Deutungsversuche51 immer noch und immer wieder neu weithin Unklarheit besteht, obwohl es doch Bonhoeffer – wie alle Interpreten versichern – eindeutig und unmissverständlich in knappen – vielleicht aber für manche Interpreten gar zu knappen – und holzschnittartigen Worten formuliert hat. Zum xten Male also

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einen neuen Versuch deutender Interpretation zu wagen, kann nicht nur als mutig, sondern auch als hochmütig und dreist empfunden werden. Was gibt es dazu noch Neues zu sagen? Und vor allem: Was trägt es aus für das Verständnis unserer sog. postmodernen säkularen Erlebnisgesellschaft im beginnenden 21. Jahrhundert? Kann uns da ein ‚neues‘ Verständnis dessen, was Bonhoeffer in einer außergewöhnlichen biographisch-existentiellen Situation mit der Chiffre nrI umschreibt, weiterhelfen?

1. Gerhard Ebelings Bonhoeffer-Interpretation Alle bisherigen Versuche, Bonhoeffers programmatische Äußerungen zu verstehen, sind weithin geprägt durch Gerhard Ebelings kenntnisreiche und auch tiefgründige 70 Seiten lange Analyse aus dem Jahre 195552, also 10 Jahre nach den Ereignissen um D. Bonhoeffer. Ebelings Analyse kann zurecht theologiegeschichtlich als Ursprung und entscheidende Interpretationssetzung all der vielen nun noch folgenden Deutungen angesehen werden. Er gibt die Richtung vor, an ihm kommt keiner vorbei, zumal Ebeling als ehemaliger Vikar des Predigerseminars Finkenwalde sich auch biographisch als ein unvergleichlicher Interpretations-Vorrang eignet53. Er hat mit Bonhoeffer einige Zeit 1936/37 zusammen gelebt und gearbeitet, kirchlich ist er an ihm als seinem Lehrer54 im theologischen Begreifen von Wirklichkeit und Urteilsvermögen geschult worden und möglicherweise auch existentiell an ihm gereift. Ihm gebührt daher zu Recht ein theologiegeschichtlicher und biographischer Vorrang, dem man sich nicht entziehen kann. Zu fragen bleibt: Ist dieser ‚Vorrang‘ zu einem Interpretationsmonopol der weiteren Rezeption Bonhoeffers geworden? Für G. Ebeling ist die Forderung nach einer nrI biblischer Begriffe eindeutig ein Sprachproblem, die Frage nach einer der (säkularen, religionslosen) Wirklichkeit angemessenen Verkündigung. Gleich zu Beginn seiner Analyse setzt er die Zeichen, mit denen er für die weiteren Deutungen die Richtung vorgibt. „Nicht Jesus Christus, sondern die Vokabel Gott, ja die religiösen Begriffe schlechthin sind ihm (scil: Bonhoeffer) problematisch“ (Ebeling, S. 100), ins Positive gewendet zielt es darauf, das Wort Gott neu „aussagbar, mitteilbar zu machen, es befreiend und erlösend aussprechen zu können“ (Ebeling. S. 102). Es geht nach Ebeling bei der nrI „also um die Frage der rechten Verkündigung“ (Ebeling, S. 116) und weiter: „Das ist das Problem der Verkündigung und damit ein Problem der Interpretation und damit wiederum ein Problem der Sprache“ (Ebeling, S. 118). Damit ist klar der Weg der weiteren Beschäftigung mit dem Programm der nrI vorgezeichnet. Zwar erkennt Ebeling an – die Texte Bonhoeffers lassen es nicht

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übersehen –, dass unter dem Stichwort „Teilnehmen an diesem Sein Jesu“ (Ebeling, S. 100) und der Forderung des „Gestalt-Werdens Christi in unserem Leben“ Bonhoeffer auch eine ganzheitliche neue Existenzform des christlichen Glaubens hätte in den Blick nehmen können55, aber er schränkt sofort wieder ein und focussiert es auf das Wort-, Sprach- und Verkündigungsproblem: „Man darf dies alles m. E. nicht im Sinne eines Gefälles deuten, in welchem das Problem der nrI seinen eigentlichen Ort nicht so sehr im Wort als im Existenzvollzug findet, die Frage nach dem rechten Reden also relativiert“ (Ebeling, S. 117), denn es gehe auch im existentiellen Vorbild der Kirche/des Glaubens immer darum, dass das „Wort Nachdruck und Kraft“ (DBW 8, S. 560; Ebeling S. 117) erhält. Fazit: „In dem Problem der nrI geht es darum entscheidend um die Aufgabe der Verkündigung“ (Ebeling, S. 117). In den weiteren Überlegungen werden diese grundsätzlichen Weichenstellungen noch verstärkt und theologisch im Sinne der reformatorischen Lehre von Gesetz und Evangelium (Ebeling, S. 140ff.) gedeutet, zugespitzt mit den Worten: „Religiöse Interpretation ist gesetzliche Interpretation. NrI meint Gesetz und Evangelium unterscheidende Interpretation“ (S. 139). Dabei gilt: „Sie (scil: die nrI) muß eine christologische Interpretation, konkrete Interpretation und Interpretation des Glaubens“ (Ebeling, S. 122) sein, in allem aber eine WortInterpretation, die zum Sprach-Ereignis führt, zu einem „neuen Zur-Sprache-Kommen des Wortes Gottes“ (Ebeling, S. 123), der neuen sprachlichen Interpretation des Glaubens56, denn „die traditionelle ‚religiöse‘ Auslegung des Gesetzes, unter dem auch der religionslose Mensch de facto steht, (vermag) offenbar für diesen das Gesetz nicht mehr verständlich und verbindlich zur Sprache zu bringen“ (Ebeling, S. 144). Also ist tatsächlich für Ebeling ein Problem unseres Redens von Gott, ‚bloß‘ ein Sprach-Problem? Aus Ebelings Bonhoeffer-Sicht mit der Fixierung auf Wort in der Tat: „Die entscheidende Frage lautet darum: Wie predigen wir dem religionslosen Menschen das Evangelium als Freiheit vom Gesetz . . ., wie bringen wir das Gesetz, unter dem er de facto steht, zur Sprache?“ (Ebeling, S. 145). Dabei lässt Ebeling jedoch unerörtert, ob seine Behauptung, gegenwärtige religiöse Interpretation vermag das Gesetz dem nicht-religiösen Menschen nicht mehr verständlich und verbindlich zur Sprache zu bringen, durch die Texte Bonhoeffers wirklich abgedeckt ist. Wie noch zu zeigen sein wird, berichtet Bonhoeffer durchaus von einem unmittelbaren Verständnis der sog. religionslosen Menschen, wie er ihnen im Gefängnis begegnete, ein Verständnis aber nicht durch Wort-Interpretation und ein Sprach-Geschehen, sondern durch ‚Vorbild‘, existentielles Lebens-Zeugnis in der Nachfolge dessen, den wir im „Beten und Tun des Gerechten“ in unserem Leben glaubwürdig „Gestalt werden lassen“, also nrI durch das Sein und die Existenz des Interpretierenden.

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Ebeling deutet am Ende seiner 70 Seiten langen Ausführungen zum mindestens diese Erweiterung bzw. Vertiefung des Programms der nrI an, wenn er Bonhoeffer selbst zitierend ausführt: „‚Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben‘ (Ebeling, S. 155, DBW 8, S. 537)“ und wenn er weiter die theologia crucis als (existentielle?) Mitte von Bonhoeffers neuem Programm beschreibt, wobei er jedoch wieder nur unkommentiert Bonhoeffer selbst sprechen lässt. „‚Das Leben, zu dem Jesus ruft, ist die Teilnahme (!) an der Ohnmacht Gottes in der Welt‘“ (Ebeling. S. 158, DBW 8, S. 537), damit „‚eine Umkehrung alles menschlichen Seins (!)‘“ (Ebeling, S. 158, DBW 8, S. 558). Doch er führt es nicht näher aus, versteht es lediglich als „das (passive?) Aushalten der Wirklichkeit vor Gott“ (Ebeling, S. 159)57 und neigt dazu, die „Teilnahme“ (also nicht nur das ‚Aushalten‘) an der „Ohnmacht Gottes in der Welt“ als „Paradoxie“ eher wieder relativierend auf ein bloßes Sprachproblem, unabhängig von der subjektiven Betroffenheit des Redenden bzw. Handelnden, zurückzuführen. So ist es im Duktus seiner Argumentationskette ganz konsequent, wenn er seine Überlegungen wie folgt abschließt: „Aber dass es uns aufgetragen ist, im ‚Aushalten der Wirklichkeit vor Gott‘ uns auf die Anfänge unseres Verstehens zurückwerfen zu lassen, an der konkreten Interpretation von Gesetz und Evangelium herumzubuchstabieren (!) und uns in Dienst nehmen zu lassen für ein neues Zur-Sprache-Kommen des Wortes Gottes, dafür ist uns Dietrich Bonhoeffer verpflichtende Mahnung“ (Ebeling, S. 160).

2. Bonhoeffer-Interpretation im Sog von G. Ebeling All das hat dazu geführt, dass Ebelings eindeutige und – wie ich vorausgreifend auch meine sagen zu dürfen – einseitige Bonhoeffer-Interpretation die weitere Bonhoeffer-Rezeption fast frag- und kritiklos bestimmte und andere Interpretationen auszuschließen schien. Um pars pro toto nur zwei herausragende Bonhoeffer-Interpreten herauszugreifen: Dies gilt (a.) zunächst für den ‚authentischsten‘ Interpreten E. Bethge in seiner Bonhoeffer-Biographie, wenn er die nrI ganz im Sinne Ebelings als eine „hermeneutische Frage“ an die „Predigt der Kirche“ und die „Lebensgestalt der Gemeinde“58 versteht und Ebeling selbst zum Zeugen dafür anführt: „Ebeling hat davor gewarnt, Bonhoeffer zu einem Befürworter neuer ‚Gestalt‘ entgegen neuer Sprache zu machen.“59 Und auch (b.) Chr. Gremmels kommt in seiner Studie „Theologie und Biographie – Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer“60 trotz seiner – m. E. überzeugenden – interesseleitenden Fragestellung, die gesamte Theologie Bonhoeffers in seiner Biographie, also auch der inneren Entwicklung seiner theologischen Existenz in sei-

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nem Leben in „Widerstand und Ergebung“ begründet zu sehen61, wie nebenbei zu dem – seinem Interesse eigentlich widersprechenden Teil-Ergebnis – das religionslose/unreligiöse Christentum müsse mit einer „neuen Sprache . . . befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu“62 einhergehen. Einzig die Dissertation von Ralf K. Wüstenberg aus dem Jahre 1995 mit dem bezeichnenden Ober-Titel: „Glauben als Leben“63 und mit der Schlussthese: „Die nrI ist eine lebenschristologische Interpretation, die den christlichen Glauben und das mündige Leben aufeinander bezieht“64, versucht vorsichtig eine lebensbiographische, das bloße Sprachproblem relativierende Einordnung des Programms Bonhoeffers, ohne allerdings für das Leben der Kirche heute notwendige Konsequenzen daraus zu ziehen. Das ist aber m.W. der bisher einzige Versuch, in eine neue – nicht durch Ebeling festgelegte – Richtung zu denken. Daher gilt weiter: Die fast schon zwanghafte Fixierung auf ein bloßes Sprachproblem ist eine verhängnisvolle Engführung des Ansatzes Bonhoeffers und hat – zum mindesten mit – dazu geführt, dass die Forderung nach einer nrI biblischer/ theologischer Begriffe auch und gerade in einer religiös/halb-religiös/unreligiösen säkularen Erlebnisgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch ihrer befreienden Realisierung harrt.

II. Eine neue (ganzheitliche) Interpretation der Texte Bonhoeffers in ihrer chronologischen Abfolge Von Ebelings einseitiger, weil verkürzender, doch darin sehr folgenreicher Interpretation belehrt, wenden wir uns nun den Texten Bonhoeffers direkt zu und versuchen sie neu und umfassender als bisher zu verstehen. Ich versuche im Folgenden einfach, in schlichtem chronologischem Nachvollzug der Denkbewegung Bonhoeffers aufzuweisen, wie in den Gefängnisbriefen im Laufe nicht einmal eines Jahres sich sein Verständnis dessen, was er am Ende die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ nannte, langsam entwickelt, geformt und am Ende zu einer immer klarer werdenden Gestalt entwickelt hat. [. . .]

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2. Christliches Leben – durch Sein und Existenz bestimmt (April 1944) – Der Religionsbegriff In dem langen Abschnitt vom 30.4.44 kommt er zum 1. Mal direkt auf das Thema zu sprechen, das ihn nun bis zum Ende seiner dokumentierten Gefängnisbriefe beschäftigen wird. Beklagte er bereits am 11.4., dass alle Ziele und Aufgaben der Menschen heute „ungeheuer versachlicht, verdinglicht“ (S. 390) werden, „aber wer leistet sich heute noch ein starkes persönliches Gefühl . . .?“ (S. 391), so wendet er diese Negativaussage am 30.4. ins Positive, wenn er unbefangen von sich selbst – der Wirkung seiner Person auf seine Mitgefangenen – spricht: „Die Leute hier sagen mir immer wieder . . ., daß von mir ‚eine solche Ruhe ausstrahle‘ und daß ich ‚immer so heiter‘ sei“ (S. 402). Was soll das hier? Bloß schmückendes Beiwerk, weil es ihm – wie er selbst sagt – „schmeichelt“, also etwas Selbstbestätigung im Vorletzten? Von den Interpreten wurden bisher solche wohl gar zu persönlichen Äußerungen nicht weiter beachtet, weil sie der „Sache“ nicht dienen. Doch was ist die „Sache“, wenn er selbst sagt, alles sei jetzt zu sehr „versachlicht“, „starke persönliche Gefühle“ würden fehlen? Dass das Ganze durchaus mit der „Sache“, die ihn von jetzt ab bewegt, elementar zu tun hat, wird deutlich, wenn er direkt im Anschluss an diese Äußerungen die berühmten und immer wieder zitierten Worte sagt: „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man alles den Menschen durch Worte (Hervorhebung von mir) – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber . . . Wir gehen heute einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“ (S. 402f.). Es sei an dieser Stelle dahingestellt, wie der Begriff ‚Religion‘ von Bonhoeffer benutzt wird, ob der Versuch einer klaren begrifflichen Bestimmung dessen, was Bonhoeffer in den Gefängnisbriefen alles unter „Religion“ subsumiert, überhaupt möglich und sinnvoll ist oder ob Bonhoeffer – wie Wüstenberg65 m. E. zu Recht meint – eher mit einem in sich schillernden „losen Religionsbegriff“ argumentiert, ob er also den Begriff „Religion“ in gleicher Weise benutzt, wie wir ihn heute gern (positiv) benutzen im Sinne des „religiösen Apriori“66, das in jedem Menschen – ob offen oder verdeckt ‚religiös‘, ob Agnostiker, ob Atheist – vorhanden ist. Christiane Tietz glaubt immerhin eine präzise Bestimmung von „Religion“ bei Bonhoeffer geben zu können, wenn sie schreibt: „Religion ist für Bonhoeffer primär Metaphysik, Innerlichkeit und Individualismus sowie Partialität“67. Richtig daran ist zweifellos, dass „Religion“ für Bonhoeffer eine metaphysische (jenseitig-transzendente) Gottesvorstellung beinhaltet, eben den

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„Gott als Lückenbüßer“ für das noch nicht erkannte/erforschte weltlich-diesseitige Leben. In diesem Sinne spricht er ja auch von der „religiösen Provinz“ im Menschen, in der Gott noch in Grenzsituationen auftaucht und generös als „deus ex machina“, als „Arbeitshypothese“ akzeptiert wird. Der „religiöse“ Gott also eine metaphysisch-jenseitige Größe für das noch nicht Erforschte und rational Erfassbare. – Doch wie auch immer es sich mit dem in sich schillernden „losen Religionsbegriff“ bei Bonhoeffer verhält, ihm geht es bei allem um die viel weiter gehende Frage, „wer Christus heute für uns eigentlich ist“ und weiter: „Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden?“ (S. 404). Durch Worte – welcher Art auch immer – lässt sich das Problem nicht lösen, da muss man schon tiefer ansetzen. Und Bonhoeffer setzt tiefer an, wenn er sich immer stärker auf Christus selbst bezieht, dem er später den Ehrentitel „Für-andere-da-sein“ (S. 558) verleiht und daraus auch unser (christliches – also nicht-religöses?) neues Leben im „Dasein-für-andere“ (S. 558) bestimmt. Christliches Leben ist also – bereits am 30.4. wird das deutlich – nicht durch Worte, sondern durch das Sein und die Existenz bestimmt. Daher ist es m. E. kein Zufall oder eine selbstbestätigende Marotte, wenn Bonhoeffer vor diesen so entscheidenden, die ganze Diskussion um die die nrI einleitenden Worten davon spricht, wie er als Mensch ganz persönlich auf „die Leute“ wirkt, „Ruhe ausstrahlend“ und immer „so heiter“. Ist das also bereits die nrI biblischer Begriffe, einfach durch das Da-Sein Bonhoeffers in der Nachfolge dessen, „der für andere da war“? Ich habe hier in der Deutung schon vorweggegriffen, Bonhoeffer selbst – folgen wir chronologisch seiner Suche nach dem, was er nrI nennt – ist im April 1944 noch nicht so weit. Im selben Abschnitt heißt es jedoch bereits ein paar Sätze weiter: „Was . . . bedeutet ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen (Hervorh. von mir) wir von Gott – ohne Religion . . .? Wie sprechen (aber vielleicht kann man nicht einmal mehr davon ‚sprechen‘ wie bisher) wir ‚weltlich‘ von ‚Gott‘, wie sind (Hervorh. von mir) wir ‚religionslos-weltlich‘ Christen?“ (S. 405). Das ist schon mehr als nur eine Ahnung dessen, dass die nrI viel mehr als bloß ein Sprachproblem ist. Religionslos zu sein, Religionslosigkeit zu leben, vor-zuleben, das wäre – durch die Glaubwürdigkeit der eigenen Person abgedeckt – eine nrI biblischer Begriffe. Und „wenn die anderen in religiöser Terminologie zu reden anfangen, dann verstumme ich fast völlig und es wird mir irgendwie schwül und unbehaglich“ (S. 407). Wenn Bonhoeffer in diesem entscheidenden Abschnitt seine Gedanken wie folgt abschließt: „Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben im Guten des Menschen sprechen . . . Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig“ (S. 407f.), so weist er damit auf den Ort hin, an dem die nrI Gestalt gewinnen soll: „mitten im Dorf“

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(S. 408), in unserem Alltag, im alltäglichen Umgang der Menschen untereinander (gerade auch in unserer sog. säkularen Erlebnisgesellschaft) durch unser Tun, durch unser „Beten und Tun des Gerechten“ – um an dieser Stelle die berühmte spätere Formulierung vorwegzunehmen.

3. Religiöse Begriffe schlechthin problematisch (Mai 1944) [. . .]

4. Die nicht-religiöse Interpretation durch Gott selbst in seinem Handeln in Jesus Christus (Juli 1944) Eine paar Tage später, am 16.7. versucht er es dann doch zu sagen, und zwar ganz unspektakulär biblisch, indem er einfach einen traditionell biblischen Begriff aufnimmt und ihn ‚nicht-religiös‘ Gestalt gewinnen lässt. „Man muß eine Zeitlang in einer Gemeinde leben (Hervorh. von mir), um zu verstehen, wie ‚Christus in ihr Gestalt gewinnt‘ (Gal 4,19)“ (S. 529). Das ist das VorWort. In der Gemeinde leben, in ihr natürlich auch reden und biblische Texte erklären, aber vor allem in ihr und mit ihr leben. Und dann fallen die entscheidenden Sätze: „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade so und nur so ist er bei uns und hilft uns . . . nicht kraft seiner Allmacht, sondern Kraft seiner (erg: Christi) Schwachheit, seines Leidens.“ (S. 534). Kreuz, Ohnmacht, Schwachheit, Leiden – formal geprägte religiöse Begriffe – sind für Bonhoeffer jetzt keine religiösen Begriffe mehr, sondern Zeichen des nicht-religiösen DaSeins Gottes für uns Menschen in der realen Gestalt Jesu Christi. Das Leiden Gottes selbst wird zur nrI biblischer/theologischer Begriffe. „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und an das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen . . ., der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt. Hier wird wohl die ‚weltliche Interpretation‘ einzusetzen haben.“ (S. 242) Das sind in der Tat mehr als nur unverbindliche Hinweise, es entwickelt sich zu einem klaren Programm. Gott selbst schafft nicht durch Worte, sondern durch sein Handeln in der Gestalt Jesu Christi, und zwar durch sein Handeln mitten durch Kreuz, Schwachheit, Leiden hindurch das, was die lebensschaffende Kraft und Macht nicht-religiöser Interpretation der Bibel in einer mündig gewordenen (äußerlich säkularen) Welt ausmacht. Gott selbst interpretiert im Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi, seinem „Da-Seinfür-andere“ sein biblisches Heils-Wort nicht-religiös. Konsequent daher, wenn er zwei Tage später schreibt – Teile seines Gedichtes „Christen und Heiden“ bereits aufnehmend –: „‚Christen stehen

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bei Gott in seinem Leiden‘, das unterscheidet Christen von Heiden . . . Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden“ (S. 534). Bei Gott stehen in seinem Leiden, ihm zur Seite, sein Leiden an dieser Welt mit-leiden, nicht aus einem Gefühl der Mitleidigkeit, sondern aus Solidarität zu dem leidenden Gott und der an der Gottlosigkeit leidenden Welt, das ist – ich greife hier bewusst einen Begriff Bonhoeffers auf – „christliche Anstandssache“ und Zeichen eines nicht-religiösen christlichen Leben, das die biblischen Begriffe durch mein Sein, mein Da-Sein-für-andere, meine glaubwürdige Existenz interpretiert. Gott selbst hat es in Jesus Christus so vorgelebt. „Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not – sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot – stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod – und vergibt ihnen beiden“ (S. 516). Also: Aus der nrI biblischer Begriffe durch Gott selbst in seinem Handeln in Jesus Christus, dem Da-Sein-für-andere, folgt die nrI biblischer Begriffe durch uns Menschen in unserem Da-Sein-für-andere in der gelebten Solidarität zu anderen Menschen und im Mit-Leiden am Leid dieser Welt.68

5. Das Programm der Umsetzung der nicht-religiösen Interpretation im Leben Was noch folgt, kann nur als eine Entfaltung, Vertiefung, Bestätigung der neuen Einsicht – besser: der neuen Lebens-Sicht – begriffen werden. Ohne weiteren Kommentar – ich könnte mich nur wiederholen – seien entscheidende Aussagen zitiert: „Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet?“ (S. 542) Im Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ wird in den mittleren Versen „Tat“ und „Leiden“ das Programm des „Mit-Leidens“ in Form von „Widerstand und Ergebung“ auf die eigene Person bezogen beschrieben (S. 570f.). „Die Befreiung liegt im Leiden darin, daß man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf. In diesem Sinn ist der Tod die Krönung der menschlichen Freiheit.“ (S. 549) Und zum Schluss die entscheidenden, alles bisher Gedachte und Erfahrene (!) zusammenfassenden Sätze im „Entwurf einer Arbeit“: „Wer ist Gott?. . . Begegnung (!) mit Jesus Christus. Erfahrung (!), dass hier die Umkehrung alles menschlichen Seins gegeben ist, darin, dass Jesus nur ‚für andere da ist‘. Das ‚Für-andere-da-sein‘ Jesu ist die Transzendenzerfahrung . . . Glaube ist das Teilnehmen (!) an diesem Sein (!) Jesu . . . Unser Verhältnis zu Gott ist kein ‚religiöses‘ . . . sondern

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unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben (!) im ‚Dasein für andere‘“ (S. 558) „Der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente . . ., nicht die Gott-Menschgestalt des ‚Menschen an sich‘, sondern ‚der Mensch für andere‘, darum der Gekreuzigte“ (S. 559). All das – wenn von Bonhoeffer auch nur stenogrammartig angedeutet – kann nach allem nicht mehr anders als eine Umsetzung seiner nrI in seinem Leben (und auch in unserem Leben) verstanden werden. Zu erwähnen ist nur noch, dass sich das Ganze nicht nur auf das Leben des Einzelnen, sondern auch auf das Leben der Kirche bezieht, wenn sie denn Kirche in der Nachfolge Jesu Christi zu werden sich zutraut. „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist . . . nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, ‚für andere dazusein‘. . . nicht durch Begriffe (!), sondern durch ‚Vorbild‘ bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft“ (S. 560f.). Dass dieses Programm für unsere Kirche (vom zusätzlichen Gedanken, die Kirche müsste all ihr Eigentum den Notleidenden schenken, noch einmal ganz zu schweigen) auch heute noch der Umsetzung harrt, versteht sich fast von selbst. Das Programm mag zu groß, zu schwer, zu entschieden, gar zu christlich sein. Auf jeden Fall gilt: Es steht noch aus. Und insofern steht auch die nrI biblischer Begriffe noch aus, liegt noch vor uns, natürlich nicht als Problem unserer Sprache, aber als Gesamtentwurf unseres Lebens, in dem Christus mit seinem Hoheitstitel „Der für andere da war“ Gestalt gewinnen will, in uns und für unsere Welt. Steht noch dahin.

6. Die Umsetzung des Programms in Bonhoeffers eigenem Leben Bonhoeffer selbst, das sei abschließend – nicht in Form einer persönlichsubjektiven Zuspitzung, sondern aus sachlich gebotenen Gründen – angemerkt, hat dies Programm in seinem eigenen Leben und Sterben konsequent umgesetzt, oder etwas weniger anspruchsvoll formuliert: umzusetzen versucht. So als habe es mit seinen theologischen Überlegungen zur nrI gar nichts zu tun, heißt es auf einmal: „Es gibt aber kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, daß man für andere Menschen etwas sein kann . . . Schließlich sind die menschlichen Beziehungen einfach das Wichtigste im Leben“ (567). Und er schließt sogleich an, um das theologisch zu orten: „Gott selbst läßt sich von uns im Menschlichen dienen“ (S. 567). Dass er selbst zu diesem Dienst in „Widerstand und Ergebung“ bereit war, steht außer Frage und ist vielfältig belegt worden. Dass dieser Dienst – gerade auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen von mündigen Welt-Bürgern – die durch den Einsatz des eigenen Lebens be-

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glaubigte nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe – vielleicht wäre es besser zu sagen: biblischer Existenzweise – ist, ist m. E. bisher noch übersehen worden. Das „beglückende Gefühl . . . für andere da zu sein“, von dem Bonhoeffer in den Augen mancher recht unvermittelt spricht, ist in sich selbst eine nichtreligiöse Umsetzung der biblischen Wahrheit, in der Jesus Christus in unserem eigenen Leben Gestalt gewinnt. Das „beglückende Gefühl“ ist daher selbst eine nicht-religiöse theologische Kategorie, gerade weil es theologisch nicht zu systematisieren ist, sondern den Rahmen gemein-sprachlicher theologischer Urteilsbildung sprengt. Das Ende von Bonhoeffers Leben im Jahre 1945 in der Prinz-AlbrechtStraße bis hin nach Flossenbürg in diesem Sinne zu interpretieren, steht mir objektiv nicht zu. Doch subjektiv steht es für mich außer Frage, dass sein Lebensende nur auf diesem Hintergrund verstanden und – wenn es denn erlaubt ist – auch gedeutet werden kann. Ich wage daher für mich (und vielleicht nicht nur für mich) zu sagen: Der Weg Dietrich Bonhoeffers im Jahre 1945 im Mit-Leiden am Leid Gottes in Tod und Sterben hinein ist das „beglückende (Lebens)Gefühl“ nicht-religiöser Interpretation biblischer Begriffe, besser: ist eine nicht-religiöse Existenz-Form, „Christus Gestalt werden zu lassen“ durch den glaubwürdigen Einsatz des eigenen Lebens.

III. Erweiterung der Wort-Interpretation zur Seins-Interpretation Ist mein neues Verständnis der nrI einseitig und überspitzt, weil in kritischer Abgrenzung gegen Ebelings Interpretationsmonopol entstanden? Immerhin spricht Bonhoeffer doch von „Interpretation“ der biblischen/ theologischen Begriffe, und Interpretation ist zum mindesten auch, wenn nicht gar vorrangig ein sprachliches Anliegen. Doch wenn Bonhoeffer mit dem Begriff der „Interpretation“, der ab April 1944 auftaucht, sicherlich auch auf das sprachliche Problem verwiesen hat69, so wird das jedoch nirgends dezidiert gesagt und näher ausgeführt. Gerade Ebelings Deutung – besonders mit der Zuspitzung auf die so von Bonhoeffer nicht intendierte Frage nach ‚Gesetz und Evangelium‘ – macht das deutlich. Wir haben uns damit zufrieden zu geben, dass auch der Begriff „Interpretation“ von Bonhoeffer recht vage gebraucht wird, dass eine präzise Begriffsbestimmung fehlt – ich meine aus der Entstehung der Überlegungen auch fehlen muss –, dass hier also, ebenso wie wir (leider nur?) von einem „losen Religionsbegriff“ sprechen können, auch ein „loses Interpretations-Verständnis“ vorherrscht. Man mag das wissenschaftstheoretisch bedauern, es liegt aber in der Natur der situativen Entstehung der Äußerungen Bonhoeffers.

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Deutlich geworden ist ja schon, dass Bonhoeffer natürlich nicht ein in sich geschlossenes ‚System‘ nrI entwerfen konnte und wollte, dass es sich in den Gefängnisbriefen um nicht systematisierbare Gelegenheitsäußerungen handelt, die – das ist der Interpretationsschlüssel aller Äußerungen in ‚Widerstand und Ergebung‘ – nur in Zusammenhang mit der biographischen Situation in ihrer Bedeutung für die theologische Existenz verstanden werden können. Das hat in der Auslegungsgeschichte auch mit dazu geführt, diese eher aphoristischen Gelegenheitsäußerungen, in denen vieles nur stenogrammartig angedeutet ist oder werden durfte, einer klassisch theologischen Wertung zu entziehen und aus dem Geschäft der wissenschaftlicher Forschung auszuklammern.70 Noch einmal: Das mag man auf der einen Seite bedauern, auf der anderen Seite macht das die beeindruckende Stärke aller Äußerungen Bonhoeffers in ihrer existentiellen Tiefe aus. So viel darf dennoch zur Verwendung des Begriffs „Interpretation“ gesagt werden: Sicherlich hat Bonhoeffer den Begriff – wenn auch nicht bis im einzelnen durchreflektiert – zu Beginn durchaus auch im Sinne einer sprachlichen Neuinterpretation verwandt. Das wird im Besonderen in der knapp angedeuteten Verknüpfung mit dem Entmythologisierungsprogramm Bultmanns (S. 414) deutlich. Hier geht es vornehmlich um ein Sprachproblem. Doch bereits an dieser Stelle vermerkt Bonhoeffer, dass ihm in Zusammenhang mit der Entmythologisierungsdebatte die „religiösen Begriffe schlechthin“ (S. 414) fraglich geworden sind. Mag sein, dass das für ihn sogar zur entscheidenden Weichenstellung wurde. Denn von nun ab benutzt er zwar den Begriff „Interpretation“ immer noch, aber er erhält zunehmend die umfassende Bedeutung einer „Seinsweise“ im Menschen. [. . .] Selbst also wenn Bonhoeffer den Begriff „Interpretation“ in einer sprachlichen Engführung am Anfang verwandt haben sollte, so ist er ihm in der existentiellen Situation im Gefängnis unter der Hand – bewusst oder nicht – zu einer Chiffre umfassender Lebensdeutung geworden. Dass ich mich mit dieser Deutung auch gegen das „Interpretationsmonopol“ Ebelings wende, ist zwar der Ausgangspunkt, aber nicht das interesseleitende Ziel meiner Überlegungen. Dies sei nun im letzten Teil ausgeführt.

IV. Folgerungen für die Gegenwart Was trägt das Ganze – wenn meine Neuinterpretation den richtigen Weg zeigt – für ein Verständnis unserer Wirklichkeit und für die Gestaltung des christlichen Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Handelt es sich hier um mehr als nur um einen Bonhoeffer-immanenten akademischen

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Streit um die richtige Deutung einer weithin geläufigen und immer wieder zitierten Formel Bonhoeffers? Die Frage so zu stellen, heißt sie verneinen zu wollen, denn wozu sonst wäre diese Analyse gut? Ich ziehe daraus in der heutigen gesellschaftlichen Situation folgende Konsequenzen, die uns D. Bonhoeffer – wenn wir ihn ernst nehmen wollen –, aufnötigt und die weithin noch der Realisierung harren.

1. Denken und Glaubwürdigkeit der Existenz Zunächst gilt ganz grundsätzlich: Wissenschaftliche Theologie, theologisches Denken und Streiten ist prinzipiell nicht zu trennen von der existentiell-biographischen Situation, in der sie entstanden ist. Das gilt für Augustin, Luther, Karl Barth – um einige überragende Namen zu nennen –, dies gilt natürlich auch für das gesamte Schaffen D. Bonhoeffers, wie er es bereits 1937 in der ‚Nachfolge‘ für sich formulierte: „Eine Erkenntnis (kann) nicht getrennt werden . . . von der Existenz, in der sie gewonnen ist“71. Und das gilt in besonderem Maße für den Entwurf des nrI, wie sie Bonhoeffer in der Situation im Gefängnis langsam entwickelt hat. Die menschlichen Begegnungen im Gefängnis – religiös und religionslos – können, ja müssen als untrennbar verbunden mit dem bloß Gesagten als Lebens-Verstehensrahmen begriffen werden. Zugespitzt: Das Leben allgemein und die konkreten Lebensumstände im Besondern interpretieren die theologischen Formeln und das kirchlich-theologische Programm, das sich langsam entwickelt. Man kann einfach nicht mehr darüber hinwegsehen, dass in den Gefängnisbriefen nicht zufällig, sondern konsequenterweise hoch-reflektierende ‚steile‘ theologische Passagen72 und sehr persönlich biographische Erfahrungen wie selbstverständlich nebeneinander stehen. Man darf das eine nicht ohne das andere lesen, denn sie bedingen und interpretieren sich gegenseitig73. Die zwischenmenschlichen Begegnungen und Erfahrungen im Gefängnis sind ein Konstitutivum für die Herausbildung dessen, was dann nrI und „religionsloses Christentum“ genannt wird. Doch was für D. Bonhoeffer in dieser exzeptionellen biographischen Situation gilt, was dort exemplarisch überdeutlich zu erkennen ist, das hat für alles theologische Denken, Forschen und Argumentieren zu gelten. Wenn J. Habermas das einst unter anderen Gesichtpunkten als „Erkenntnis und Interesse“74 bezeichnet hat, so ist dies unter dem spezifischen Gesichtspunkt theologischen Denkens als „Erkenntnis – Existenz – Leben“ zu bezeichnen. Wir haben bei jedem theologischen Satz, den wir begründet formulieren, auch Auskunft zu geben über die existentielle Situation, in der er entstanden ist, und mehr noch: über die Beglaubigung dieses Satzes im eigenen Leben. Das ist nicht nur eine Frage der sog „intellektuellen

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Redlichkeit“, von der Bonhoeffer gelegentlich sprechen konnte75 sondern darüber hinaus ein Zeichen der „existentiellen Redlichkeit“ und der „inneren Glaubwürdigkeit“ unserer Theologie im Kontext des christlichen Glaubens und des Lebens der Kirche Jesu Christi. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, die vielfältig von Normendiffusion, Orientierungsmangel und Glaubwürdigkeitsverlust gesellschaftstragender Institutionen – also im Besonderen auch der Kirche und davon faktisch abhängig der universitären Theologie – geprägt ist, ist die innere Glaubwürdigkeit und existentielle Redlichkeit des für Kirche und Theologie redenden und handelnden Menschen in besonderer Weise erforderlich. Es ist zwingend erforderlich, mehr noch als in vergangenen Zeiten, weil nur so in einer Welt der Inflation von oft als beliebig empfundenen Teil-Sinnangeboten Orientierung, Verlässlichkeit, Erkennbarkeit durch Glaubwürdigkeit und Vertrauen geschaffen werden kann. Das Gesagte/Gemeinte/Proklamierte/Propagierte ist durch das eigene Leben in seiner existentiellen Glaubwürdigkeit zu bewahrheiten. Darin liegt für mich das noch uneingelöste Erbe Bonhoeffers aus seinem (Gefängnis)Leben für unsere theologische und kirchliche Existenz heute. Jede Theologie, die sich – aus welchen Gründen auch immer – weigert, die Glaubwürdigkeit der eigenen theologischen Existenz als Maßstab der Stimmigkeit des theologischen Denkens/kirchlichen Handeln mit einzubringen, ist von vorn herein falsch und unwahr.

2. Wo zu schweigen und wo zu reden ist Es geht ums Leben, um die theologische Existenz, um das „Gestalt werden Christi“ in unserm Leben, um das „Beten und Tun des Gerechten“ in der glaubwürdigen Umsetzung der Forderung nach einer nrI bibl./theol. Begriffe. Es geht nicht so sehr – oder eben nur erst sekundär oder vordergründig – um eine neue Sprache in der Verkündigung des Wortes Gottes auf der Kanzel, das ist das Ergebnis unserer Analyse der Texte Bonhoeffers. Dies Ergebnis ist richtig. Doch so absolut formuliert, kann es schon wieder – als neue theologische Doktrin verstanden – falsch sein, weil eine vom Leben und der theologischen Existenz wieder abgelöste Formel. Es geht natürlich auch ums Wort und auch um die Sprache. Darin hat Ebeling nach wie vor recht. Kirche ist als handelnde Kirche immer auch eine redende Kirche und jeder theologische Text – also auch dieser – ist zunächst Rede und Sprache und kann, wenn er denn recht ist, als perlokutionärer Akt der Rede zum Handeln werden.

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Bonhoeffer selbst weist uns auch hier den Weg, wenn er in seinen Gefängnisbriefen oft unvermittelt von dem „Arkanum“ bzw. der „Arkandisziplin“ spricht, „durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanisierung geschützt werden“ (S. 415f.)76. Ich kann nicht zu jeder Zeit, in jeder Situation und vor jedem Menschen die tiefsten Geheimnisse des christlichen Glaubens unvermittelt und ungeschützt platt ausbreiten, religiös oder auch nicht-religiös77 andere damit sprachlich behelligen. Ein „qualifiziertes Schweigen“ vom „Eigentlichen“ und „Letzten“ kann im Bereich des „Vorletzten“ die angemessene Form der Rede sein. „Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet? Bekommt hier die Arkandisziplin bzw. die Unterscheidung . . . von Vorletztem und Letztem neue Wichtigkeit?“ (S. 405f.). Pangritz spricht in diesem Zusammenhang von einer Dialektik von Arkandisziplin und nichtreligiöser Interpretation78. E. Bethge formuliert m. E. zurecht: „Es kann kein Zweifel sein, daß Bonhoeffer den Kontrapunkt einer Arkandisziplin zum Thema des nichtreligiösen Interpretierens für unaufgebbar gehalten hat“79, und fügt hinzu, dass die Kirche in ihrer Verkündigung „so lange schweigen soll, bis wieder (erg: nach ihren großen Namen und Begriffen) gefragt und der kostbare Inhalt ihrer Worte zwingend wird“80. Dieser „arkane Takt“ sei um der nrI willen dringend erforderlich. Was ist diese „Dialektik“ bzw. der „Kontrapunkt“ des Arkanum? Wie kann der „arkane Takt“ des beredten Schweigens von den „großen Worten“ der Kirche unsere verkündigende Sprache heute real bestimmen? Auch hier weist Bonhoeffer selbst wieder den Weg. Im Zusammenhang mit dem ersten Hinweis auf das Arkanum (S. 405) schreibt er ein paar Sätze weiter wieder sehr persönlich: „Oft frage ich mich, warum mich ein ‚christlicher Instinkt‘ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht . . . Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen – weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme . . ., kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich von Gott reden“ (S. 407). Die Arkandisziplin bzw. „arkane Scheu“ zeigt sich hier gerade andersherum, als man erwarten könnte. Vor den Religiösen/Frommen, die mit dem christlichen Begriffsarsenal virtuos jonglieren, „verstummt“ er, und ihm wird „schwül und unbehaglich“ (S. 407). Wohl deswegen, weil die „großen Worte“ hier wie Alltagsware gebraucht und verbraucht werden, Chiffren einer innerreligiösen Selbstbestätigungsmaschinerie im exklusiven und ausgegrenzten Raum der religiösen Experten. Der religionslose Mensch bleibt ausgegrenzt und steht uneingeweiht davor, hilflos oder verständigungslos, in beidem sprachlos. Innerkirchlicher/innertheologischer Individualismus und bloße Innerlichkeit – für Bonhoeffer die

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zwei markantesten Zeichen eines metaphysischen religiösen Denkens und Lebens81 ohne soziale Verantwortlichkeit für den mir zum Nächsten werdenden Mitmenschen – zeigen sich hier. Das „Arkanum“ heißt Verzicht auf religiöse Rede und Schweigen im ausgegrenzten Raum der religiösen Provinz im Menschen. [. . .] Also: Mit Bonhoeffer ist die nrI durchaus auch ein Problem unserer Sprache und unserer Verkündigung. Nur anders als wir bisher dachten. Nicht neue Vokabeln und Sprachchiffren für die alten und in Augen vieler ‚vergifteten‘ Begriffe. Sondern frei von jeden sog. „Missionierungsinteressen“82: Arkane Scheu, Redeverbot und Schweigegebot innerhalb des religiösen Betriebes unserer Kirche. Weniger fromme Rede, mehr frommes oder auch unfrommes Handeln im „Beten und Tun des Gerechten“, um Christus tatsächlich Gestalt werden zu lassen in unserem Leben und unserer Welt. Und zugleich: Schweigeverbot und Redegebot des Christianum vor dem religionslosen Menschen, in gerade der Situation, wo ich ihn antreffe, sicher weniger unter der Kanzel, umso mehr auf den vielfältigen Kommunikationsplätzen unserer Mediengesellschaft. Nochmals: Nicht etwa mit dem geheimen Hintersinn einer etwaigen „Missionierung“, sondern um selbst in meinem Glauben und der Lebenspraxis erkennbar zu sein und haftbar gemacht werden zu können. „Du bist der Mann/die Frau“! Hier wäre fromme Enthaltsamkeit Zeichen von Kleinglauben und Sprachbehinderung, ja Sprachlosigkeit. NrI im Leben und Gesamtzeugnis des Glaubenden weiß in diesem Sinne wohl zu unterscheiden, wo die Rede ins Arkanum zurückzunehmen ist, wo „qualifiziertes Schweigen“ die angemessene situative Form des Redens ist – und wo unbefangen, unbekümmert und ungekünstelt der „kostbare Inhalt“ der „großen Namen und Begriffe“ nicht-religiös zu benennen ist.

3. Nicht-religiöse Interpretation des Lebens „außer Landes“ Vielleicht aber – das sei ein Schluss- und wohl auch Grenzgedanke – sind wir Christen die falschen Adressaten für das Programm der nrI, weil wir in religiöser Befangenheit immer noch heillos verstrickt sind in unseren eigenen Glaubwürdigkeitsproblemen, unfrei darin und also die denkbar schlechtesten Anwälte einer nrI. Vielleicht gelingt die nrI nicht uns Christen, sondern kommt von den religionslosen/nicht-mehr-religiösen Menschen selbst? Vielleicht haben sie schon längst das Programm in ihrem Leben umgesetzt, ohne dass wir Christen es in unserer Dauerreflektion über uns selbst gemerkt haben, so dass festzustellen wäre: Die nrI geschieht schon längst neben und unabhängig von uns und wir haben es nur noch

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nicht mitbekommen. Das wäre eine entlarvende und ärgerliche, vielleicht aber gerade auch befreiende Erkenntnis. Fr. W. Marquardt spricht in seiner „Christologie“ (angesichts des Juden Jesus)83 davon, dass „Jesus außer Landes“ in die Fremde gezogen sein mag, weg vom vertrauten christlichen Umfeld hinein in die nicht-christliche Diaspora anderer Religionen und Weltanschauungen und dass er dort – jenseits der uns vertrauten christlichen Terminologie und der eingefleischten kirchlichen Lebensformen – neu und überraschend – möglicherweise gar unreligiös – Gestalt gewinnen will. „Jesus außer Landes“, ein ärgerlicher und befreiender Grenzgedanke. Bonhoeffer selbst war von diesem Gedanken nicht weit entfernt, wenn er der ihm vertrauten europäischen Theologie immer überdrüssiger wurde und „außer Landes“, in der weltweiten Ökumene und besonders in Indien neue Formen christlicher Lebensgestaltung zu entdecken hoffte84. Bereits 1931 fragt Bonhoeffer: „Ob unsere Zeit vorüber ist und das Evangelium einem anderen Volke gegeben ist, vielleicht gepredigt mit ganz anderen Worten und Taten“85. Und etwas später im Jahre 1934: „Da ich täglich mehr der Überzeugung werde, daß es im Westen mit dem Christentum sein Ende nimmt – jedenfalls in seiner bisherigen Gestalt (!) und seiner bisherigen Interpretation (!) – möchte ich, bevor ich nach Deutschland zurückgehe, gern noch mal in den Osten“86. Ist hier das, was später nrI genannt wurde, latent bereits vorhanden in Form einer nrI „außer Landes“ der christlichen Tradition im nicht-religiösen oder ganz-anders-religiösen Umfeld? Ein ärgerlicher Grenzgedanke nur, schnell wieder beiseite zu schieben? Oder doch ein auch für unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation befreiender Gedanke?

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Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 14, 112–114, jedoch ohne die Fußnoten. Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 13, 128–129 (Auszug), jedoch ohne die Fußnoten. Hg: Vgl. II Reg 18,13–19,37 und Jes 36–38. Hg: Niemöller hatte bei einer Sitzung der Vertrauensleute des Pfarrernotbundes im März 1934 den Vorschlag zur Diskussion gestellt, ob nicht die Mitglieder des Notbundes geschlossen der NSDAP beitreten sollten, um den politischen Diffamierungen entgegenzutreten. Hg: Hebr 12,4: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde.“ Hg: Vorstufe zu dem späteren Buch „Nachfolge“, das Bonhoeffer 1937 veröffentlichen wird. Hg: Zu Mahatma Gandhi.

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Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 13, 170–171 (Auszug). Hg: Den Morden des Hitler-Regimes aus Anlass des sogenannten „Röhm-Putsches“ waren neben SA-Führern auch prominente deutsche Katholiken zum Opfer gefallen. Hg: Der Reichsinnenminister hatte am 9. 7. 1934 „bis auf weiteres ausnahmslos alle den evangelischen Kirchenstreit betreffenden Auseinandersetzungen in öffentlichen Veranstaltungen, in Flugschriften oder in Flugblättern“ verboten, die amtlichen Kundgebungen des Reichsbischofs aber davon ausgenommen. Hg: Bonhoeffer vergleicht den gegenwärtigen „Kirchenkampf“ mit dem „Kulturkampf“ zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche in den Jahren 1871–1887. Hg: Die nicht-deutschchristlichen Landeskirchen Bayern, Baden und Hannover, im Gegensatz zu den „zerstörten“ preußischen Kirchengebieten mit der Gewaltherrschaft der DC. Hg: Eine Wiederherstellung der reformatorischen Theologie geschah durch die Barmer Theologische Erklärung Mai 1934. Hg: Gandhis Einladung an Bonhoeffer kam am 1. November 1934 (DBW 13, 213f.). Hg: Erste Entwürfe zu dem Buch „Nachfolge“, das 1937 erscheinen wird (DBW 4). Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 13, 204–206 (Auszug), jedoch ohne Fußnoten. Hg: Am 4. Juni 1934 wurde Bonhoeffer das erste Mal daraufhin angesprochen, ob er sich die Leitung eines neu zu errichtenden Predigerseminars der Bekennenden Kirche vorstellen könne (FRB:M 740). Hg: Zu Mahatma Gandhi. Hg: Prov 31,8: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ Hg: Vgl. II Reg 19 und Jes 37. Hg: Volksmissionarische Bekehrungsbewegung des Amerikaners Frank Buchman. Hg: An den Vorarbeiten zu dem Buch „Nachfolge“ (DBW 4). Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 13, 272–273 (Auszug), jedoch ohne Fußnoten. Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 14, 70–71 (Auszug), jedoch ohne Fußnoten. Vgl. FRB:M 92. Hg: iustitia civilis = „bürgerliche Gerechtigkeit“. Hg: Eine Kirche in der Existenzform der iustitia civilis passt sich der Welt, ihren Gesetzen und Erwartungen an; sie predigt Gnade ohne Nachfolge, Gnade als Rechtfertigung der Sünde. Bonhoeffer hat „Gnade ohne Nachfolge“ und „Gnade in Nachfolge“ gegenübergestellt. Es kommt alles darauf an, an der „Existenz in Nachfolge“ festzuhalten. „Wir sind nicht frei, alles mitzutun wie [die] Welt“, sagt Bonhoeffer und unterstreicht damit die Unangepasstheit und Andersartigkeit christlicher Existenz. Vgl. DBW 14, 621f.

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Hg: „Stadt auf dem Berge“ stammt aus Mt 5,14. Bonhoeffer fügt hinzu: „Golgatha“. Hg: Wiedergabe des Textes aus: DBW 4, 29–43, jedoch ohne Fußnoten. Hg: Bonhoeffer schließt sich hier mit den Begriffen „Resultat“ bzw. „Voraussetzung“ dem Sprachgebrauch Kierkegaards an. Vgl. Kierkegaard, Søren, Der Einzelne und die Kirche. Über Luther und den Protestantismus, Übersetzung und Vorwort von W. Kütemeyer, Berlin 1934. Hg: Dr. Martin Luthers Briefwechsel. Bearbeitet von Dr. E. L. Enders und fortgesetzt von G. Kawerau, Frankfurt am Main 1884–1932 (zitiert: Enders); hier: Enders III, S. 208, 118ff. Hg: Wiedergabe des Textes in Auszügen aus: Martin, Karl (Hrsg.), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen, Berliner Wissenschaftsverlag 2008, S. 114–140. DBW 8, 20. In Folge ohne weitere Angabe fortlaufend im Text in () wiedergegeben. DBW 6, 254 einschl. Anm. 28. Vgl. DBW 6,438: „Max Webers Fassung dieses Begriffs hatte bis dahin kaum Eingang in die evangelische Ethik gefunden.“ DBW 6, 254 Anm. 26 – dort Hinweis auf die von Bonhoeffer benutzte Literatur von H. Nohl, der die Verabsolutierung von Teilantworten bzw. von Prinzipien in ähnlicher Weise kritisiert. Bonhoeffers Ausführungen zur Schuldübernahme finden sich in DBW 6, 232ff. und 275f. DBW 6, 276. Bonhoeffer kann sogar formulieren: „der Verantwortliche wird sündlos schuldig“ (DBW 6, 283). Beim Begehen einer falschen Tat wird der Mensch auf zweierlei Art und Weise gewarnt. Die von der Tat betroffenen anderen Menschen, die durch die Tat einen Schaden für sich befürchten, bringen zum Ausdruck, dass sie mit der Tat nicht einverstanden sind. Der Täter selbst, dem durch die Tat eine Selbstzerstörung droht, wird durch sein Gewissen gewarnt. DBW 6, 277. Die Formulierung „wie Gott“ – sein zu wollen in der Erkenntnis des Guten und des Bösen, stammt aus 1. Mose 3,5. Bonhoeffer kann die Formulierung wählen, Jesus Christus sei der „Herr des Gewissens“ (DBW 6, 283). Von Jesus sagt Bonhoeffer: „Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden war Stellvertretung“ (DBW 6, 258). Die Begegnung mit Jesus vermittelt die „Erfahrung, daß hier eine Umkehrung alles menschlichen Seins gegeben ist, darin, daß Jesus nur ‚für andere da ist‘“ (DBW 8, 558). DBW 6, 257. Vgl. DBW 6, 257f.: „Jesus war nicht der Einzelne, der zu einer eigenen Vollkommenheit gelangen wollte, sondern er lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt.“ Bonhoeffer weist in seinem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ darauf hin, dass es für die Kirche darum gehen müsse, „die Opfer unter dem Rad zu verbinden“ (DBW 12, 353).

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DBW 6, 298. Bonhoeffer will seine Theorie der Gesetzesdurchbrechung immer wieder gegen Missbrauch schützen. Er schärft ein, nur derjenige dürfe sich bei seiner Gesetzesdurchbrechung auf ihn berufen, der (a) sich der Schuld der Gesetzesdurchbrechung bewusst ist, (b) das wieder in Kraft Setzen des Gesetzes anstrebt. Das Anliegen der Gesetzesdurchbrechung muss die Heiligung des Gesetzes sein. „Ob aus Verantwortung oder aus Zynismus gehandelt wird, kann sich nur darin erweisen, ob die objektive Schuld der Gesetzesdurchbrechung erkannt und getragen wird und gerade in der Durchbrechung die wahre Heiligung des Gesetzes erfolgt“ (DBW 6, 298f.). DBW 6, 262. Vgl. DBW 6, 330: „Es gibt wirklich kein Tun ohne Jesus Christus.“ Bonhoeffer kann in seiner Formulierung sogar noch einen Schritt weiter gehen. Jesus ist nicht nur Auslöser, Mitbeteiligter, Mitprägender unseres Handelns. Er ist in gewisser Weise der eigentlich Handelnde, das verborgene Subjekt im Handeln der Individuen. Vgl. die Aussage, das Jesus Christus „in uns ist und handelt“ (DBW 6, 328). Ähnlich DBW 6, 225: „Erst wo die Freiheit sich ursprünglich, wesentlich und zielhaft in Gottes Tat begründet versteht, also dort wo Gott selbst handelnd (durch freie verantwortliche Tat eines Menschen) auf den Plan tritt, kann vom Guten in der Geschichte gesprochen werden.“ Vgl. DBW 2, 183 Anm. 55: „Die durchgängige Bedeutung der actus directus/ reflexus-Differenz hat zuerst E. Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, passim, nachgewiesen.“ Von der Gesetzesdurchbrechung des Verantwortlichen gilt, dass sie verbunden ist „mit der gerade in dieser Durchbrechung anerkannten Gültigkeit des Gesetzes“ (DBW 6, 274). Zu Bonhoeffers ultima-ratio-Begriff vgl. DBW 6, 273f. Hg.: Gekürzte Fassung des Textes aus: Pastoraltheologie 1/2004, S. 32–55. Die Terminologie Bonhoeffers ist unscharf und wechselt häufig. So kann er sowohl von „weltlicher“ wie von „nicht-religiöser“ Interpretation „biblischer“ wie auch „theologischer“ Begriffe sprechen. Ich beziehe mich in meiner Analyse auf die kommentierte Ausgabe von „Widerstand und Ergebung“ in Bd. 8 „Dietrich Bonhoeffer Werke“ (DBW), Gütersloh 1998; ich zitiere ohne weitere Angabe die Seitenzahlen in Klammern im fortlaufenden Text. Vgl. dazu vor allem die 1995 entstandene Dissertation von Ralf K. Wüstenberg, Glauben als Leben. Dietrich Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe, Frankfurt 1996, 399 S., darin vor allem die vollständige Bonhoeffer-Literatur S. 353–387 sowie die Analyse der wichtigsten Literatur im „Literaturüberblick“ S. 233–286. Ferner weise ich hin auf den etwas früher erschienenen Sammelband von Peter H. A. Neumann (Hg), „Religionsloses Christentum“ und „nicht-religiöse Interpretation“ bei D. Bonhoeffer, Darmstadt 1990, darin vor allem die Analyse der Herkunft der Formel von der nrI von G. Sauter, a. a. O., S. 247–266. G. Ebeling, Die ‚nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe, zuerst veröffentlicht in ZThK 52, 1955, S. 296–360; hier zitiert nach G. Ebeling, Wort und

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Glaube, Tübingen 1962, S. 90–160 (Seitenangaben der Zitate im fortlaufenden Text). Vgl. dazu Wüstenberg a. a. O., S. 258f. und vor allem S. 342, wo im Gefolge Ebelings und in Abhängigkeit von seiner streng „christologischen Deutung“ mehr als 20 Autoren zitiert werden, die seiner Interpretation folgen. Er bezeichnet sich selbst als „Schüler Bonhoeffers“, vgl. dazu E. Bethge, a. a. O., S. 640ff., S. 997 „. . . daß ich ein Schüler Bonhoeffers bin . . . (Bonhoeffers Schriften), die mich auf einen Weg gewiesen haben, von dem ich nun weiß, daß er auch sein (scil: Bonhoeffers) Weg gewesen ist“ (Brief vom 30. 9. 1951). Vgl. Bonhoeffers Äußerungen in WE 180 und 182; dazu Ebeling a. a. O., S. 117. Vgl. a. a. O., S. 135 bei und mit Anm. S. 136 und dem Versuch, Bonhoeffer und Bultmann über das Stichwort „interpretieren“ miteinander zu verbinden. Hier ist zu fragen: Ist das „Aushalten der Wirklichkeit“ das gleiche wie Widerstand und Ergebung im „Beten und Tun des Gerechten“? Ist im „Aushalten“ der ganze existentielle Einsatz des Lebens bereits eingeschlossen? E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967, S. 986. E. Bethge, a. a. O., S. 987. Chr. Gremmels/H. Pfeifer, Theologie und Biographie. Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983. Vgl. dazu die Zusammenfassung a. a. O., S. 127ff. Theologie und Biographie bedingen und interpretieren sich gegenseitig. AaO, S. 126. Vgl. dazu in Anm. 3 genannte Dissertation von Ralf K. Wüstenberg aus dem Jahre 1995. Wüstenberg, a. a. O., S. 251. Nach Wüstenberg ist auf eine Analyse der unscharfen Formulierungen zu „Religion“, „Religionslosigkeit“ und „Nicht-Religiosität“ in Form einer Theorie der „Religionskritik“ zu verzichten. Er belässt es in seiner m. E. schlüssigen und nachvollziehbaren Analyse zurecht bei den in sich schillernden und oft wechselnden Aussagen Bonhoeffers; vgl. dazu Ralf K. Wüstenberg, a. a. O., S. 253, S. 274, S. 325ff, S. 343, S. 345f. Daher ist am besten, bei der ‚losen Religionsauffassung‘ zu verbleiben und die Texte – unabhängig davon, dass wir heute über die sog. „Religionslosigkeit“ anders denken – so zu nehmen, wie sie im konkreten Zusammenhang einen Sinn ergeben. Das „religiöse Apriori“ im Menschen hat Bonhoeffer in seinen damaligen Überlegungen im Sinne einer bloß „religiösen Provinz“ im Menschen zwar dezidiert abgelehnt, es ist jedoch legitimerweise zu fragen, ob in einem „ganzheitlichen“ Verständnis – wie heute der Begriff meist benutzt wird – Bonhoeffers Intention durchaus positiv aufgegriffen wird. Chr. Tietz, Unzeitgemäße Aktualität. Religionskritik im Zeichen der „Wiederkehr von Religion“, in I. U. Dalferth/H.-P. Grosshans, Kritik der Religion, Tübingen 2006, 243–259, hier 245. Vgl. dazu auch G. Plasger, Bonhoeffers Reli-

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gionskritik und sein „Konzept“ des religionslosen Christentums, in: Verantwortung Nr. 47, Juni 2011, 13–19. Ich finde meine lebensgeschichtliche Interpretation der nrI nachträglich in einer frühen Äußerung (1954) des Bonhoeffer-Freundes E. Bethge bestätigt, die mir erst jetzt zugänglich gemacht wurde. Er schreibt: „Es sind keine Sorgen der Exegese und der Interpretation zunächst, die einer am Schreibtisch hat, sondern Bonhoeffer ist von der brennenden Glaubens- und Lebensfrage getrieben, „wer Christus für uns heute eigentlich ist“ (WE 178). Das bedeutet aber, daß man nicht darauf hoffen kann, die Forderung der „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“ (WE 233) am Schreibtisch zu erfüllen. Es wird kein Nachschlagewerk geben, in dem man alles Nötige auf „weltlich“, auf „nicht-religiös“ nachsucht, wenn man eine wirksamere Evangeliums-Crusade unter Modernen zu starten gedenkt.“ E.Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Person und Werk, Evangelische Theologie, Heft 4/5, Jahrgang XV, 1955. Am deutlichsten ist das im knappen Hinweis zur Auseinandersetzung mit dem Entmythologisierungsprogramm Bultmanns (WE S. 183). Dies betrifft natürlich vor allem die gefährlichen, die reale Existenz unser Volkskirchen bis ins Mark erschütternden Äußerungen Bonhoeffers zur nichtreligiösen Seinsweise der Kirchen (Vgl. S. 560 „. . . da sein für andere . . . all ihre Habe den Armen verschenkend . . .“). Auch von recht wohlwollenden Bonhoeffer-Interpreten sind diese Äußerungen nicht recht ernst genommen worden und werden bestenfalls der besonderen Grenz-Situation im Gefängnis zugeschrieben. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, München 1937, 1982, S. 22. Ich verweise hier auf die vielfältigen Aussagen Bonhoeffers in WE, wo er von der Transzendenz-Erfahrung Gottes in der Immanenz (im Diesseitigen) spricht, z. B. „Die erkenntnistheoretische Transzendenz hat mit der Transzendenz Gottes nichts zu tun. Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig“ (S. 408). Als Konkretion sei hier auf Bonhoeffers neuen ‚Hoheitstitel‘ Jesu verwiesen: „Der, der für andere da ist“ (S. 558) und die konsequente und direkte Umsetzung in den zwischenmenschlichen Begegnungen im Gefängnis. „Es gibt aber kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, daß man für andere Menschen etwas sein kann.“ (S. 567). J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1975, S. 59ff., S. 204ff., S. 373ff. Das Stichwort der „intellektuellen Redlichkeit“ fällt bei Bonhoeffer in WE zum ersten Mal S. 403 (in negativer Sicht „unredlich“), später positiv WE S. 414, 533. Vgl. dazu die Studie von A. Pangritz, Dietrich Bonhoeffers Forderung einer Arkandisziplin – eine unerledigte Anfrage an Kirche und Theologie, Köln 1988, dazu R. Wüstenberg, a. a. O., S. 335f.; zum Ganzen auch E. Bethge, a. a. O., S. 988ff. Zu erinnern ist an dieser Stelle nochmals an das Votum über die „lose Religionsauffassung“ Bonhoeffers bei R. Wüstenberg, a. a. O., S. 253f.

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A. Pangritz, a. a. O., S. 399ff. E. Bethge, a. a. O., S. 989. Ebd, S. 990. Vgl. WE S. 183. Auch dagegen hat sich Bonhoeffer DBW 8, S. 407 schon hellsichtig geäußert. Fr.W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden – Eine Christologie Bd. 1, München 1990, S. 11–97. Vgl. dazu E. Feil, Religionsloses Christentum und nicht-religiöse Interpretation bei Dietrich Bonhoeffer, in: Peter H.A. Neumann (Hg) a. a. O., S. 360–369. E. Feil, a. a. O., S. 364. Ebd, S. 365; vgl. auch DBW 8, S. 500, wo von den „heißen Ländern vom Mittelmeer bis nach Indien“ als den „eigentlich geistig schöpferischen Ländern“ gesprochen wird.

6. Friedensethik und Widerstandsbeteiligung Vorbemerkung Das große Dokument zur Friedensethik (6.1) hat Dietrich Bonhoeffer im Sommer 1934 verfasst und am 28. August auf der dänischen Insel Fanö in einer Andacht („Kirche und Völkerwelt“) vorgetragen. Es ist als „Friedenspredigt“ berühmt geworden. Als Jugendsekretär war er für die ökumenische Jugendkonferenz des „Internationalen Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ zuständig. Aus London, wo Bonhoeffer Pfarrer der evangelischen Gemeinde war, hatten die Aufrüstungen des NS-Regimes und der uniformgeprägte Alltag in Deutschland ihre bedrohlichen Konturen gezeigt. Dies mag ein Anstoß gewesen sein, die ihn seit Jahren bewegende Problematik, welchen Auftrag die Kirche für den Frieden in der Welt hat, zusammenzufassen. Bereits ein Jahr zuvor hatte Bonhoeffer seine Erkenntnisse über Grundlagen einer Friedensordnung auf internationaler kirchlicher Ebene vorgestellt. Eine solche Ökumene sei der Boden, auf dem das Evangelium auszulegen sei. So erklärte er mit theologischen Argumenten 1932: „Die Ordnung des internationalen Friedens ist heute Gottes Gebot für uns.“1 Kriege seien von der Kirche zu ächten, um das göttliche Gebot, die Schöpfungsordnung zu erhalten, zu verwirklichen und eine Gemeinschaft des Friedens, die auf Wahrheit und Recht gründe, anzustreben. Deutlicher noch wurde er schon in dem 1931 formulierten Katechismus, als er auf die Frage, ob im Krieg nicht das Leben zerstört werde, die Antwort gab: „Eben darum weiß die Kirche nichts von der Heiligkeit des Krieges. Hier wird mit entmenschlichten Mitteln der Kampf ums Dasein geführt. Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden an.“2 Die Distanz zur NS-Ideologie begründete er mit dem christlichen Friedensgebot. War es an dieser Stelle der „Kampf ums Dasein“ so andernorts der „Streit um Lebensraum“, den Bonhoeffer verwarf; er hatte seine Haltung gefunden, die geradezu apodiktisch klang: „Dem Christen ist jeglicher Kriegsdienst, es sei denn Samariterdienst, und jede Vorbereitung zum Krieg verboten.“3 Diese pazifistische Haltung hatte noch eine Wurzel, die namentlich zwar in der Fanö-Rede nicht zitiert wird, aber fundamental wichtig für Bonhoeffers Friedensbegriff ist. Intensiv hatte er sich mit der Philosophie und dem Lebenswerk von Mahatma Gandhi befasst und für den Winter

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1934 einen Aufenthalt in Indien geplant. Danach wollte er an der Universität von Rabindranath Tagore studieren, „viel lieber würde ich allerdings gleich zu Gandhi gehen“, vielleicht ein halbes Jahr oder länger.4 Dieses Denken hatte sich in Gesprächen mit gleichgesinnten Theologen entwickelt – wohl seit Ende 1930, als er, in New York studierend, pazifistische Ideen kennen lernte. Mit Gandhi fühlte Bonhoeffer sich ganz stark verbunden, da in dessen Denken die Botschaft der Bergpredigt zu erkennen wäre und „vielleicht mehr Christliches“ stecke als in manchen kirchlichen Verlautbarungen. Dabei war er fasziniert, die Alternative zum Wehrdienst nicht nur auf die Kriegsdienstverweigerung zu beschränken, sondern die wahre Alternative zu Krieg allein im gewaltfreien Widerstand zu sehen. Gewaltfreiheit und das Recht auf Widerstand waren geeignet, Unrecht und Unfreiheit einer staatlichen Gewaltordnung zu überwinden.

Zu 6.1 Rede auf der Fanö-Konferenz Im Geist dieses Denkansatzes ließ sich Dietrich Bonhoeffer in Fanö von der Frage leiten: „Wie wird Friede?“ Nur international dachte er, theologisch hieß das also, ein großes ökumenisches Konzil solle einberufen werden, um einen „radikalen Ruf zum Frieden“ an die Christenheit auszusenden. Die Kirchen müssten den Soldaten „im Namen Christi die Waffen aus der Hand“ nehmen und ihnen den Krieg verbieten. Gewaltfreiheit war die Botschaft. Diese „Friedenspredigt“ war ein grundlegender Anstoß, aber zugleich für viele in den Kirchen ein anstößiges Ärgernis.

Zu 6.2 Bonhoeffers Weg von der Friedensethik zur Widerstandsbeteiligung Der befreundete Mitstreiter Bonhoeffers, Winfried Maechler, nimmt diesen Ansatz von Fanö auf; die Bergpredigt habe Bonhoeffer geleitet, „den Verzicht auf Gewalt“ ins Zentrum seines Friedensbegriffs zu stellen, wie seine Nähe zu Ghandi, bei dem er „mehr Christliches als bei vielen Christen“ erkannte, untermauere. Ausgehend von dieser Haltung zum Ideal des gewaltlosen Widerstands erklärt Maechler, wegen welcher Beweggründe Bonhoeffer fähig wurde, Gewaltfreiheit zu predigen, dann aber bereit war, aktiven Widerstand gegen das NS-Regime auszuüben. Entscheidend für diesen Weg des politischen Widerstandes war, dass, wenn ein Staat die Grenze zum Unrechtsstaat überschreite und somit sein aufgegebenes Mandat verletze, die Kirche nicht unbeteiligt daneben stehen könne. Dann, wenn sie sich durch Schweigen schuldig mache, könne ein Einzelner durch „stellvertretend verantwortliches Handeln“ Widerstand in freier Verantwortung im „Bemühen um weltliche Verantwortung“ leisten – im Wis-

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sen, gleichwohl leidend Schuld auf sich zu nehmen. Daher gelangt Maechler zu dem Urteil über Bonhoeffer, er sei „kein absoluter und prinzipieller, wohl aber ein kräftiger relativer Pazifist“ gewesen.

6.1 Rede auf der Fanö-Konferenz Kirche und Völkerwelt Dietrich Bonhoeffer5 „Ach daß ich hören sollte, was der Herr redet, daß er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen“ (Ps. 85,9). Zwischen den Klippen des Nationalismus und des Internationalismus ruft die ökumenische Christenheit nach ihrem Herrn und nach seiner Weisung. Nationalismus und Internationalismus sind Fragen der politischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Aber die Ökumene fragt nicht nach diesen, sondern nach den Geboten Gottes und ruft diese Gebote Gottes ohne Rücksicht mitten hinein in die Welt. Als Glied der Ökumene hat der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen Gottes Ruf zum Frieden vernommen und richtet diesen Befehl an die Völkerwelt aus. Unsere theologische Aufgabe besteht darum hier allein darin, dieses Gebot als bindendes Gebot zu vernehmen und nicht als offene Frage zu diskutieren. „Friede auf Erden“, das ist kein Problem, sondern ein mit der Erscheinung Christi selbst gegebenes Gebot. Zum Gebot gibt es ein doppeltes Verhalten: den unbedingten, blinden Gehorsam der Tat oder die scheinheilige Frage der Schlange: sollte Gott gesagt haben? Diese Frage ist der Todfeind des Gehorsams, ist darum der Todfeind jeden echten Friedens. Sollte Gott nicht die menschliche Natur besser gekannt haben und wissen, daß Kriege in dieser Welt kommen müssen wie Naturgesetze? Sollte Gott nicht gemeint haben, wir sollten wohl von Frieden reden, aber so wörtlich sei das nicht in die Tat umzusetzen? Sollte Gott nicht doch gesagt haben, wir sollten wohl für den Frieden arbeiten, aber zur Sicherung sollten wir doch Tanks und Giftgase bereitstellen? Und dann das scheinbar Ernsteste: Sollte Gott gesagt haben, Du sollst dein Volk nicht schützen? Sollte Gott gesagt haben, Du sollst deinen Nächsten dem Feind preisgeben? Nein, das alles hat Gott nicht gesagt, sondern gesagt hat er, daß Friede sein soll unter den Menschen, daß wir ihm vor allen weiteren Fragen gehorchen sollen, das hat er gemeint. Wer Gottes Gebot in Frage zieht, bevor er gehorcht, der hat ihn schon verleugnet. Friede soll sein, weil Christus in der Welt ist, d. h. Friede soll sein, weil es eine Kirche Christi gibt, um deretwillen allein die ganze Welt noch lebt. Und diese Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art, und die Brü-

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der dieser Kirche sind durch das Gebot des einen Herrn Christus, auf das sie hören, unzertrennlicher verbunden als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen Menschen binden können. Alle diese Bindungen innerweltlicher Art sind wohl gültige, nicht gleichgültige, aber vor Christus auch nicht endgültige Bindungen. Darum ist den Gliedern der Ökumene, sofern sie an Christus bleiben, sein Wort und Gebot des Friedens heiliger, unverbrüchlicher als die heiligsten Worte und Werke der natürlichen Welt es zu sein vermögen; denn sie wissen: Wer nicht Vater und Mutter hassen kann um seinetwillen, der ist sein nicht wert, der lügt, wenn er sich Christ nennt. Diese Brüder durch Christus gehorchen seinem Wort und zweifeln und fragen nicht, sondern halten sein Gebot des Friedens und schämen sich nicht, der Welt zum Trotz sogar vom ewigen Frieden zu reden. Sie können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, daß sie damit die Waffen auf Christus selbst richteten. Es gibt für sie in aller Angst und Bedrängnis des Gewissens keine Ausflucht vor dem Gebot Christi, daß Friede sein soll. Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg. Sicherheiten suchen heißt sich selber schützen wollen. Friede heißt sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung wollen, sondern in Glaube und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen. Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt. Wer von uns darf denn sagen, daß er wüßte, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen den Angreifer empfinge? (Gideon: . . . des Volkes ist zuviel, das mit dir ist . . . Gott vollzieht hier selbst die Abrüstung!) Noch einmal darum: Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, daß die Welt es hört, zu hören gezwungen ist? daß alle Völker darüber froh werden müssen? Der einzelne Christ kann das nicht – er kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben und Zeugnis ablegen, aber die Mächte der Welt können wortlos über ihn hinwegschreiten. Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden – ach, wenn sie es nur täte – aber auch sie wird erdrückt von

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der Gewalt des Hasses. Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt. Warum fürchten wir das Wutgeheul der Weltmächte? Warum rauben wir ihnen nicht die Macht und geben sie Christus zurück? Wir können es heute noch tun. Das ökumenische Konzil ist versammelt, es kann diesen radikalen Ruf zum Frieden an die Christusgläubigen ausgehen lassen. Die Völker warten darauf im Osten und Westen. Müssen wir uns von den Heiden im Osten beschämen lassen? Sollten wir die einzelnen, die ihr Leben an diese Botschaft wagen, allein lassen? Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Mißtrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor? M. Claudius: „Was nützt mir Kron und Land und Volk und Ehr, die können mich nicht freun – ’s ist leider Krieg im Land und ich begehr, nicht schuld daran zu sein.“ Wir wollen reden zu dieser Welt, kein halbes, sondern ein ganzes Wort, ein mutiges Wort, ein christliches Wort. Wir wollen beten, daß uns dieses Wort gegeben werde, – heute noch – wer weiß, ob wir uns im nächsten Jahr noch wiederfinden?

6.2 Bonhoeffers Weg von der Friedensethik zum Widerstand Vom Pazifisten zum Widerstandskämpfer6 Winfried Maechler Bonhoeffer wird langsam modern. Das gilt auch für den umstrittensten Teil seines Werkes, die Teilnahme an der Deutschen Widerstandsbewegung. Gerade hier besteht die Gefahr, daß diejenigen, die, kritiklos oder ängstlich dem Nationalsozialismus folgend, die Teilnahme am Widerstand ablehnten, heute, sozusagen umgekehrt proportional, allzu schnell Bonhoeffers Namen für einen kompakten und billigen Antikommunismus beschlagnahmen wollen. Die Zusammenstellung einiger Zitate aus Bonhoeffers Schriften, vor allem der „Ethik“, soll der Erhellung der Hintergründe seines Tuns dienen und unsere eigene Besinnung klären helfen. Es wird dabei bequeme Passivität wie fanatischer Aktivismus auszuschließen und der Weg von der „Friedensmitte“ in Jesus Christus bis hin zum äußersten Grenzgebiet der Revolution zu zeigen sein.

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Die äußeren Fakten von Bonhoeffers Entwicklung in dieser Frage sind bekannt: nie war dem evangelischen Pfarrer die fromme Erhaltung und Sicherung der Kirche Selbstzweck. Immer trat er für die Entrechteten, die Schwachen ein. Der Student und Vikar lud die Jungen vom roten Wedding zum Wochenende in seine Laube, der Pfarrer der Bekennenden Kirche trat leidenschaftlich für getaufte und ungetaufte Juden ein, der Leiter des Finkenwalder Seminars warnte in der Zeit der Kirchenausschüsse die Pommern vor einem kampflosen Nachgeben zur eigenen Selbsterhaltung unter Preisgabe der Bedrängten, und der Delegierte in Fanö hielt vor Vertretern der ökumenischen Christenheit in Anwesenheit der Deutschen Christen aus dem eigenen Lande die unvergessliche beschwörende Friedensrede: „Ach, dass ich hören sollte, was Gott, der Herr, redet, daß er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht auf eine Torheit geraten“ (Ps. 85). Der Schwager Hans von Dohnanyi und der Neffe Generals von Hase nahm seit der schmählichen Absetzung des Generalobersten von Fritsch Teil an der Widerstandsbewegung und schrieb über deren Fortschritte und Verzögerungen bisweilen seinen Freunden ins Feld, als seien es Vorbereitungen zur Aufführung der Kunst der Fuge, die er in Berlin erlebt hatte. Die folgenden Aussagengruppen kreisen zuerst um den Zusammenhang von Kirche und Welt und ihre gemeinsame Mitte in dem menschgewordenen Jesus Christus. Sie behandeln sodann das Gegenüber von Gewaltlosigkeit und Widerstand.

I. Alles Leben in der Welt, alle Geschichte und alles einzelne Handeln ist im Grunde nichts anderes als ein Hineingezogenwerden in die Gestalt Jesu Christi, des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen (Ethik, S. 24). Ich habe an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus teil, „so dass ich die Wirklichkeit Gottes nie ohne die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit der Welt nie ohne die Wirklichkeit Gottes erfahre“ (S. 61). „Christusgemäßes Handeln ist demnach wirklichkeitsgemäßes Handeln“ (S. 178). Der Christ lebt nicht im idealen Raum bestimmter formaler Prinzipien, auch teilt er das Leben nicht materialiter in bestimmte Fälle und Möglichkeiten ein, sondern er versucht, gläubig und kritisch im Diesseits der konkreten Situation, im „knorrigen Wuchs“, „im Fluss des Lebens“ (S. 219) das Gebot seines Herrn zu vernehmen, damit Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne (S. 28). In dem berühmten Gedicht „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ lautet es im Vers über die Tat: „Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergrei-

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fen . . . tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und Deinem Glauben getragen“ (S. 3). Die Freiheit des Menschen unter der Herrschaft Christi besteht gerade nicht in der Befreiung aus den Fesseln der Gegebenheiten in eine ideale himmlische Welt, sondern in dem Mittragen der Bürde im Diesseits unserer Erde. Der geschichtliche Raum dieser Erde ist nun gerade nicht begrenzt auf den Raum der Kirche, denn die Welt kann nicht in zwei Räume geteilt werden: „Durch diese Aufteilung des Wirklichkeitsganzen in einen sakralen und profanen, einen christlichen und einen weltlichen Bezirk, wird nun die Möglichkeit der Existenz in nur einem dieser Bezirke geschaffen, einer geistlichen Existenz also, die nicht an der weltlichen Existenz teilhat, und einer weltlichen Existenz, die für sich eine Eigengesetzlichkeit in Anspruch nehmen kann und diese gegen den sakralen Bezirk zur Geltung bringt. Der Mönch und der Kulturprotestant des 19. Jahrhunderts repräsentieren diese beiden Möglichkeiten“ (S. 62). „Wie in Christus die Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit einging, so gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen, das Übernatürliche nur im Natürlichen, das Heilige nur im Profanen, das Offenbarungsmäßige nur im Vernünftigen“ (S. 63). Es gibt nicht den Gegensatz zwischen Christusreich und Teufelsreich, sondern „der Teufel muß wider Willen Christus dienen und als der das Böse Wollende immer wieder das Gute tun, so dass der Raum des Teufels immer nur unter den Füßen Jesu Christi ist . . . Die Welt ist nicht zwischen Christus und dem Teufel aufgeteilt, sondern ganz und gar die Welt Christi, ob sie es erkennt oder nicht“ (S. 67). In diesem einen Raum herrscht und gebietet Christus durch die vier Mandate Arbeit, Ehe, Obrigkeit, Kirche. „Gott will dieses alles durch Christus, auf Christus hin und in Christus, jedes in seiner Weise. Gott hat die Menschen unter all diese Mandate gestellt, nicht nur jeden einzelnen unter je eines derselben, sondern alle Menschen unter alle vier. Es gibt keinen Rückzug aus einem weltlichen in einen geistlichen Raum, sondern es gibt nur ein Einüben des christlichen Lebens unter jenen vier Mandaten Gottes. Es geht auch nicht an, die ersten drei Mandate als weltlich dem letzten Mandat gegenüber abzuwerten. Es handelt sich eben mitten in der Welt um göttliche Mandate“ (S. 70). „Der Träger der Mandate handelt in Stellvertretung als Platzhalter des Auftraggebers“ (S. 223). Bonhoeffer wählt den terminus „Mandat“ statt der belasteten und mißverstandenen Begriffe „Ordnung“, „Stand“ oder „Amt“ um seines funktionalen Charakters willen. Die Nähe zur Barthschen Zweikreise-Lehre ist deutlich, ebenso wie die Ablehnung der lutherischen Zweireiche-Lehre. Gewahrt wird die Einheit der Welt, ebenso wie die Verschiedenheit ihrer Funktionen. Der Christ wird in allen vier Mandaten von der Gestalt und dem Gebot des einen Herrn ergriffen und zur Stellvertretung gerufen. „Weil Jesus, das

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Leben, unser Leben, als der menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben. Jesus war nicht der einzelne, der zu einer eigenen Vollkommenheit gelangen wollte, sondern er lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt. Sein gesamtes Leben, Handeln und Sterben war Stellvertretung. Was die Menschen leben, handeln und leiden sollten, erfüllt sich an Ihm. In dieser realen Stellvertretung, die seine menschliche Existenz ausmacht, ist er der Verantwortliche schlechthin. Weil er das Leben ist, ist durch Ihn alles Leben zur Stellvertretung bestimmt. Ob es sich auch dagegen wehrt, so bleibt es doch stellvertretend, zum Leben oder zum Tode, wie der Vater bleibt, zum Guten oder zum Bösen. Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich, und das heißt, nur der Selbstlose lebt. Wo das göttliche Ja und Nein im Menschen eins werden, dort wird verantwortlich gelebt“ (S. 175). Der erste Problemkreis zeigte uns das menschliche Handeln als Gestaltwerdung Christi in dem einen konkreten Raum der geistlich-profanen Welt mit ihren verschiedenen Bereichen als Stellvertretung, d. h. verantwortliche Preisgabe an den anderen Menschen. Wie sieht nun diese Stellvertretung, diese Preisgabe, diese Verantwortung inhaltlich aus? Davon handelt der zweite Problemkreis: Gewaltlosigkeit und Widerstand.

II. Der Widerstand und die Gewaltanwendung waren für Bonhoeffer nicht das Erste und nicht das Normale, sondern das Letzte und Außergewöhnliche. Er hat niemals die Zentralstellung der Bergpredigt für die christliche Ethik aufgegeben oder gar ausgehöhlt, wie das die protestantische Theologie so häufig tut. Die Gestalt Jesu Christi und seine Gestaltwerdung unter den Menschen ist ihm zentral abgebildet in der Bergpredigt. Deshalb war Bonhoeffer zwar kein absoluter und prinzipieller, wohl aber ein kräftiger relativer Pazifist. Denn er sah das Mühen um den Frieden und den Verzicht auf Gewalt als eines der Hauptkennzeichen des Christen an. Auf der oben erwähnten ökumenischen Konferenz von Fanö im September 1934 wurde er am Strande von einem Schweden gefragt: „Was würden Sie in einem Kriegsfalle tun, Herr Pastor?“ Er ließ den Sand durch die Finger rinnen, sah vor sich hin und blickte dann den Frager ruhig an: „Ich bitte darum, daß Gott mir dann die Kraft geben wird, nicht zu den Waffen zu greifen.“ Was das damals bedeutete, verstand jeder. Immer wieder sah Bonhoeffer in dem Hindu Ghandi mehr Christliches als bei vielen

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Christen, immer wieder sagte er: „Das Böse läuft sich tot, wenn ihm nicht widerstanden wird, es verliert seine Nahrung und erlischt.“ Das schien keine Schwärmerei zu sein, sondern ein Ernstnehmen des Sieges Jesu Christi. In der „Nachfolge“ legt er die 6. Seligpreisung folgendermaßen aus: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Jesu Nachfolger sind zum Frieden berufen. Als Jesus sie rief, fanden sie ihren Frieden. Jesus ist ihr Friede. Nun sollen sie den Frieden nicht nur haben, sondern auch schaffen. Damit tun sie Verzicht auf Gewalt und Aufruhr. In der Sache Christi ist damit niemals etwas geholfen. Das Reich Christi ist ein Reich des Friedens und die Gemeinde Christi grüßt sich mit dem Friedensgruß. Die Jünger Jesu halten Frieden, indem sie lieber selbst leiden, als dass sie einem anderen Leid tun, sie bewahren Gemeinschaft, wo der andere sie bricht, sie verzichten auf Selbstbehauptung und halten in Hass und Unrecht stille. So überwinden sie Böses mit Gutem. So sind sie Stifter göttlichen Friedens mitten in einer Welt des Hasses und Krieges. Nirgends aber wird der Frieden größer sein als dort, wo sie den Bösen im Frieden begegnen und von ihnen zu leiden bereit sind. Die Friedfertigen werden mit ihrem Herrn das Kreuz tragen, denn am Kreuz wurde der Friede gemacht. Weil sie so in das Friedenswerk Christi hereingezogen sind, berufen zum Werk des Sohnes Gottes, darum werden sie selbst Söhne Gottes genannt werden“ (Nachfolge, S. 62). Das hier Umrissene umschreibt keine pharisäerhafte Heiligkeit, die der Vergebung nicht bedarf. Bonhoeffer zitierte oft den Spruch des Paulus: „Ich bin mir nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt, der Herr ist’s aber, der mich richtet“ (1. Kor. 4,4). Auch geht es hier nicht um Frieden um jeden Preis, sondern es wird die normale Haltung des Jüngers Jesu Christi verdeutlicht. Doch der Jünger Jesu untersteht ja auch dem Mandat des Staates, denn der Staat, der Aufhaltende (2. Thess. 2,7), die Ordnungsmacht, sieht in der Kirche den Bundesgenossen, und alles, was an Elementen der Ordnung noch vorhanden ist, sucht die Nähe der Kirche. Recht, Wahrheit, Wissenschaft, Kunst, Bildung, Menschlichkeit, Freiheit, Vaterlandsliebe finden nach langen Irrwegen zu ihrem Ursprung zurück. Dabei erweist sich die Kirche je wirksamer, je zentraler ihre Botschaft ist, und ihr Leiden ist dem Geist der Zerstörung unendlich viel gefährlicher als die etwa noch verbliebene politische Macht (Ethik, S. 46). Mitten unter der Herrschaft des Nationalsozialismus wird deshalb keine billige Staatsfeindlichkeit empfohlen, sondern auch dem durch Unrecht zur Macht gekommenen Staat (und welcher Staat wäre davon frei?) wird die Möglichkeit zur Besserung, zur Vernarbung der geschlagenen Wunden offengelassen. „Die bestehende Obrigkeit usw. hat immer einen relativen Vorrang vor der noch nicht bestehenden. Einzelne Verfehlungen geben nicht das Recht, das Bestehende zu beseitigen, zu vernichten. Vielmehr kann es hier nur um die

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Rückkehr zu der echten Unterordnung unter das göttliche Mandat gehen, um die Wiederherstellung echter Verantwortung gegenüber dem göttlichen Auftrag“ (S. 71). „Der Träger der Krone, der sie sich mit Unrecht erwarb, aber im Laufe der Zeit Recht, Ordnung und Frieden schuf, kann nicht einfach zum Verzicht auf die Krone, der Eroberer, der die unterworfenen Länder zum Frieden, Wohlstand und Glück geführt hat, nicht einfach zur Preisgabe seiner Eroberung genötigt werden. Durch den Verzicht auf die Krone, durch die Preisgabe der Eroberung könnten ja jetzt gerade um so größere Unordnung, um so größere Schuld entstehen . . . Das Rad der Geschichte kann nicht mehr zurückgedreht werden. Nicht alle geschlagenen Wunden können geheilt werden, aber entscheidend ist, dass nicht weitere Wunden gerissen werden . . . Voraussetzung für diese innergeschichtliche Vergebung bleibt, daß die Schuld vernarbt ist, indem aus Gewalt Recht, aus Willkür Ordnung, aus Krieg Frieden geworden ist. Wo das nicht der Fall ist, wo das Unglück ungebrochen herrscht und immer neue Wunden schlägt, dort kann freilich von solcher Vergebung keine Rede sein, vielmehr muß dort die erste Sorge sein, dem Unrecht zu wehren und die Schuldigen ihrer Schuld zu überführen“ (S. 53/54). Man sieht, wie vorsichtig und verantwortlich hier die Frage des Widerstandes geprüft wird. Man erinnert sich vielleicht einer Bruderratssitzung der Bekennenden Kirche nach dem geglückten Frankreichfeldzug Hitlers, in welcher Bonhoeffer von der Möglichkeit eines Paktierens mit Hitler geredet hat. Wenn aber der Staat die Grenze überschritten und sein göttliches Mandat verwirkt hat, indem er zum Unrechtsstaat geworden ist, kann die Kirche nicht hämisch beiseite stehen und den Finger empört ausstrecken. Sondern sie nimmt teil an seiner Schuld, wie es ein schon 1941 formuliertes Schuldbekenntnis zeigt: „Die Kirche bekennt sich schuldig aller zehn Gebote, sie bekennt dadurch ihren Abfall von Christus. Sie hat die Wahrheit Gottes nicht so bezeugt, dass alles Wahrheitsforschen, alle Wissenschaft ihren Ursprung in dieser Wahrheit erkennen. Sie hat die Gerechtigkeit Gottes nicht so verkündet, daß alles wirkliche Recht in ihr die Quelle des eigenen Wesens sehen mußte. Sie hat die Fürsorge Gottes nicht so glaubhaft zu machen vermocht, daß alles menschliche Wirtschaften von ihr aus seine Aufgabe in Empfang genommen hätte. Durch ihr eigenes Verstummen ist die Kirche schuldig geworden an dem Verlust an verantwortlichem Handeln, an Tapferkeit des Einstehens und Bereitschaft, für das als Recht Erkannte zu leiden. Sie ist schuldig geworden an dem Abfall der Obrigkeit von Christus“ (S. 51). Verstehen die ehemaligen Mitläufer des Nationalsozialismus wie die heutigen Kreuzzugsprediger vielleicht an dieser Stelle, dass hier nicht fromme Überheblichkeit, sondern leidende Solidarität und stellvertretender Gehorsam am Werke waren? Hier, wo es um die Übernahme fremder

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Schuld geht, wird in der Tat der Pazifist zum Widerstandskämpfer. „In dem sündlos schuldigen Jesus Christus hat jedes stellvertretend verantwortliche Handeln seinen Ursprung. Gerade weil und wenn es verantwortlich ist, weil und wenn es in ihm ganz um den anderen Menschen geht, weil und wenn es aus selbstloser Liebe zum wirklichen menschlichen Bruder hervorgeht, kann es sich der Gemeinschaft der menschlichen Schuld nicht entziehen wollen. Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig. Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins, löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen und er ist blind für die heillosere Schuld, die er gerade damit auf sich lädt, blind auch dafür, daß sich die wirkliche Unschuld gerade darin erweist, daß sie um der anderen Menschen willen in die Gemeinschaft seiner Schuld eingeht. Daß der Sündlose als selbstlos Liebender schuldig wird, gehört durch Jesus Christus zum Wesen verantwortlichen Handelns“ (S. 187). So gibt es, erst als ultima ratio, nicht etwa als prima ratio, den von Machiavelli bezeichneten Ausnahmefall der necessità, in dem um der Lebensnotwendigkeit der Brüder willen den Gesetzen des Staates oder der Familie widersprochen werden muss, und die Tat der freien Verantwortung nötig wird. „Die ultima ratio liegt jenseits der Gesetze der ratio, sie ist irrationales Handeln. Alles wird im tiefsten Grunde verkehrt, wenn die ultima ratio selbst wieder zu einem rationalen Gesetz gemacht wird, wenn aus dem Grenzfall das Normale, wenn aus der necessità eine Technik gemacht wird“ (S. 185). „Es gibt angesichts dieser Situation nur den völligen Verzicht auf jedes Gesetz, verbunden mit dem Wissen darum, hier im freien Wagnis entscheiden zu müssen, verbunden auch mit dem offenen Eingeständnis, dass hier das Gesetz verletzt, durchbrochen wird, dass hier Not das Gebot bricht, verbunden also mit der gerade in dieser Durchbrechung anerkannten Gültigkeit des Gesetzes, und es gibt dann schließlich in diesem Verzicht auf jedes Gesetz, und so ganz allein, das Ausliefern der eigenen getroffenen Entscheidung und Tat an die göttliche Lenkung der Geschichte . . . Die letzte Frage bleibt offen und muss offengehalten werden; denn so oder so wird der Mensch schuldig und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und von der Vergebung leben. Der ans Gesetz Gebundene muß wie der in freier Verantwortung Handelnde die Anklage des anderen vernehmen und gelten lassen. Keiner kann der Richter des anderen werden. Das Gericht bleibt bei Gott“ (S. 186).

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Der an der Widerstandsbewegung Beteiligte schreibt als Verhafteter in „Widerstand und Ergebung“ (S. 92): „Anfangs beschäftigte mich die Frage, ob es wirklich die Sache Christi sei, um deretwillen ich euch allen solchen Kummer zufüge; aber bald schlug ich mir diese Frage als Anfechtung aus dem Kopf und wurde gewiss, dass gerade das Durchstehen eines solchen Grenzfalles mit aller seiner Problematik mein Auftrag sei, und wurde darüber ganz froh und bin es bis heute geblieben. 1. Petr. 2, 20; 3, 14“. Was ergibt sich aus dem Gesagten für den widerspruchsvollen Weg Bonhoeffers? 1. Es gibt nur die eine konkrete Wirklichkeit, in der Christus Gestalt gewinnt in verschiedenen Bereichen, im Glauben an den Sieg des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen, und darum im Wagnis der selbstlosen Liebe zu den Brüdern, und darum in der verantwortlichen Teilnahme an den Bemühungen um weltliche Gerechtigkeit, und darum im äußersten Notfall in der Tat der freien Verantwortung auch gegen die bestehende Ordnung. 2. Dabei ist Gewaltlosigkeit normaler als Gewalt, Gehorsam normaler als Widerstand, Friede normaler als Krieg, Verständigung normaler als Pochen auf eigene Kraft. 3. Jedes Tun, auch das des besten Gewissens, ist behaftet mit Schuld, bedarf der Vergebung und ist allein gerechtfertigt in seiner Beziehung auf die Gestalt Jesu Christi. Welche Gesichtspunkte sollten in Anwendung der Bonhoefferschen Gedanken heute bedacht werden? 1. Man sollte, solange wie noch möglich, versuchen, für Frieden, Ausgleich und Verständigung einzutreten. 2. Man sollte nicht übersehen, dass es in der heutigen Welt neben der Angst vor dem Kommunismus auch die Angst vor der Atombombe und in Asien die Angst vor dem weißen Mann, in Europa die Angst vor dem deutschen Militarismus gibt. 3. Man sollte den Mut haben, den Kommunismus auch als Folge der politisch sozialen Fehler der Vergangenheit anzusehen, deshalb die Schuld der Väter mittragen und sich durch die Gottlosen zuerst zur Buße rufen lassen, ehe man sie bekämpft.

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Anmerkungen 1

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Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit (Juli 1932), in: DBW 11, S. 327ff. Lutherischer Katechismus, verfasst mit Franz Hildebrandt, in: DBW 11, S. 228ff. Vortrag vor der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung vom Dezember 1932, in: DBW 12, S. 232ff. Brief an Julie Bonhoeffer, 22. Mai 1934, in: DBW 13, S. 144f. DBW 13, S. 289ff. Winfried Maechler, Vom Pazifisten zum Widerstandskämpfer – Bonhoeffers Kampf für die Entrechteten, in: Die mündige Welt, Bd. 1, München, 3. Aufl. 1955, S. 89ff.; vgl. dazu: Eberhard Bethge: Die Tat der freien Verantwortung, in: Unterwegs 6/1947.

7. Kirchenkritik und Kirchenreform Vorbemerkung Seit Beginn seiner akademischen Arbeit (Dissertation 1927: „Sanctorum Communio, Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche“) (DBW 1) hat sich Bonhoeffer kritisch der Frage nach dem theologischen „Wesen der Kirche“ im Verhältnis zur „real existierenden Institution Volkskirche“ auseinandergesetzt. Der logische Höhe- und Schlusspunkt all seiner Überlegungen findet sich im „Entwurf für eine Arbeit“ und in „Widerstand und Ergebung“ wieder.

Zu 7.1 Dietrich Bonhoeffer: „Der Entwurf für eine Arbeit“. Im August 1944 hat Bonhoeffer als eine seiner letzten theologischen Äußerungen den „Entwurf für eine Arbeit“ präsentiert, an der er wohl (nach mündlichen Berichten Beteiligter) auch als aus der Haft keine Korrespondenz nach „außen“ mehr möglich war, im Gefängnis weiter gearbeitet hat. Man kann ohne Übertreibung diesen „Entwurf“ als das Vermächtnis Bonhoeffers für die künftige Gestalt von Kirche verstehen. Es sind z. T. sehr radikale Worte, so radikal, dass sie in der Nachkriegszeit wohl gehört und auch zitiert worden, wegen ihre Radikalität aber ebenso oft als der außergewöhnlichen Situation im Gefängnis geschuldet relativiert oder gar als unrealistische Schwärmerei diffamiert wurden. Andererseits haben sie auch eine große Sprengkraft für eine „Kritik an der Institution Volkskirche“ freigesetzt und zu weitreichenden praktischen Folgerungen für die gegenwärtige Gestalt von Kirche (z. B. die Kirchenfinanzierung) Anlass gegeben. – Wir dokumentieren im Folgenden das 3. Kaptitel des „Entwurfes für eine Arbeit“.

Zu 7.2 Kirchenverständnis und Kirchenkritik. In ihrem Beitrag aus dem Jahre 1985 „Kirche für andere – das Kirchenverständnis Dietrich Bonhoeffers“ knüpft Sabine Bobert an den „Entwurf für eine Arbeit“ an und bringt diesen konsequent mit der gesamten Ekklesiologie Bonhoeffers seit Beginn seiner theologischen Arbeit (1927) in Verbindung. Es zeigt sich, dass die „Kirchenreform“ ein Kontinuum in Bonhoeffers Denken und Glauben ist. „Christus als Gemeinde existierend“ ist das Stichwort, das von Anfang an bis zum Ende kritisch und oft auch konträr zur real existierenden und organisatorisch verfassten Kirche steht.

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Zu 7.3 Von Gott herausgerufen – Kirche als Solidarmodell für die Gesellschaft. Ganz praktische gegenwartsbezogene Konsequenzen aus der theologischen Grundlegung einer „Kirche für andere“ zieht Martin Stöhr in seinem Vortrag (1987) „Von Gott herausgerufen – Kirche als Solidarmodell für die Gesellschaft“. Seine 10 provokanten Thesen würden – wenn wir sie einfach umsetzen – im Sinne Bonhoeffers zu einer Neugestaltung von hierarisch orientierter Volkskirche zur basis-gemeindlich orientierten Freiwilligkeitskirche führen.

Zu 7.4 Die Neuordnung der Kirchenfinanzierung. Ausgehend von Bonhoeffers bereits sehr früher (1927) Kritik an der Kirchensteuerpraxis seiner Zeit setzt sich der Dietrich-Bonhoeffer-Verein seit Jahren für die „Neuordnung der Kirchenfinanzierung“ mit der streitbaren These „Abschied von der staatlich eingezogenen anonymen Kirchensteuer – Einführung einer persönlich verantworteten persönlichen Gemeindebeitrags“ ein. Im sogenannten „3-Säulen-Modell“ wird diese These konkret ausgeführt. Das Ganze würde nicht nur zu einer „Neuordnung der Kirchenfinanzierung“ führen, sondern vor allem auch zu einem neuen Verständnis von Kirche insgesamt im Sinne Bonhoeffers: „Christus als Gemeinde existierend“.

7.1 „Entwurf für eine Arbeit“ Dietrich Bonhoeffer1 Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muß sie alles Eigentum Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von dem freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, „für andere dazusein“. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Bescheidenheit, Genügsamkeit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen Vor-

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bildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen: nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.2 (über das „Vorbild“ im N.T. schriebe ich noch besonders! Der Gedanke ist uns fast ganz abhanden gekommen!) Ferner. Revision der „Bekenntnis“frage (Apostolikum), Revision der Kontroverstheologie; Revision der Vorbereitung auf das Amt und der Amtsführung. Das ist alles sehr roh und summarisch gesagt. Aber es liegt mir daran, einmal den Versuch zu machen, einfach und klar gewisse Dinge auszusprechen, um die wir uns sonst gern herumdrücken. Ob es gelingt, sei eine andere Frage, zumal ohne die Hilfe des Gespräches. Ich hoffe damit, für die Zukunft der Kirche einen Dienst tun zu können.

7.2 Kirchenverständnis und Kirchenkritik Kirche für andere – das Kirchenverständnis Dietrich Bonhoeffers Sabine Bobert3 Bonhoeffer hat seine Vision einer „Kirche für andere“ inmitten gesellschaftlicher und kirchlicher Umbrüche entwickelt. Wer seine Texte über die Kirche verstehen will, muss sich zu ihm in seine Zeit begeben. Bonhoeffer hat Theologie als Zeitgenosse betrieben. Dieses lebendige, bezogene Denken war ihm wichtiger und wahrer als ein abgeschlossenes akademisches System über die Kirche zu entwerfen. Ich werde Sie daher im Folgenden in ein Stück Lebensgeschichte von Bonhoeffer mit hineinnehmen. Die Lebensgeschichte und Vorgeschichte der Vision „Kirche für andere“ heißt: „Kirche auf dem Weg nach unten“. Ich hoffe, dass diese Lebensgeschichte auch eine Zukunft hat. Das Entstehen des Leitbildes einer „Kirche für andere“ lässt sich über drei Etappen verfolgen: 1) Bonhoeffers akademische Zeit (1925–1932), 2) seine kirchlich engagierte Zeit (seit 1933), und 3) die Zeit des direkten politischen Widerstandes („Ethik“, „Widerstand und Ergebung“).

1. Nachdenken über die Kirche im akademischen Rahmen: Erste Annäherungen an die empirische Kirche (1925–1932) Meine Leitthese ist, dass Bonhoeffer seine Formel einer „Kirche für andere“ im Zusammenleben mit der Vision einer Kirche auf dem Weg nach unten entwickelt hat. Um diesen Weg genauer beschreiben zu können, sah

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er sich theologisch zunehmend genötigt, theologische Konzepte in sozialen Kategorien zu entfalten. Als akademische Phase bezeichne ich Bonhoeffers Lebensjahre bis 1932. In jener Zeitspanne verfasste er seine Doktorarbeit und seine Habilitationsschrift, arbeitete er als Vikar in Spanien, studierte er in den USA und hielt dann an der Berliner Universität seine ersten Vorlesungen und Seminare. Bonhoeffer war damals von der kulturkritischen Theologie Karl Barths beeindruckt. Andererseits schien ihm dessen kritischer Ansatz gerade in der Radikalität wirkungslos zu werden. Der frühe Barth trennte radikal den christlichen Glauben von platter Kulturgläubigkeit. In Reaktion auf eine Kultur-Theologie entfaltete Barth Glauben dermaßen geschichtslos, dass theologische Aussagen nichtssagend zu geschichtlich-sozialen Fragen zu werden drohen. Gott wurde tendenziell a-sozial verstanden, Glaube wurde zum individualistischen Akt, und eine einseitig transzendental verstandene Theologie hatte kaum noch etwas zur gesellschaftlichen und persönlichen Ethik zu sagen.4 Bonhoeffer nahm Barths Kulturkritik und dessen Unterscheidung zwischen kulturellen Werten und christlichem Lebensstil auf. Doch er ging – mit Barth – einen eigenen Weg. Als Verbindungsglied zwischen Gottes eigenständiger Welt und der eigenständigen Welt der Menschen entdeckte Bonhoeffer die Kirche. Zugleich versucht er, den Begriff der Kirche mit der sichtbaren Kirche und ihren konkreten Sozialformen zu verbinden. Aus diesem Bemühen, Barths a-soziale Theologie auf die Erde herunterzuholen, entsteht Bonhoeffers erstes theologisches Hauptwerk: „Sanctorum Communio“ über die Kirche (SC).5 Programmatisch will er hierin die „soziale Intention sämtlicher christlicher Grundbegriffe“ entfalten: „‚Person‘, . . . ‚Sünde‘, ‚Offenbarung‘ lassen sich nur im Bezug auf die Sozialität voll begreifen“ (SC 13). Auf diesem Fundament baut Bonhoeffer seine gesamte Theologie auf. So wiederholt er in seiner Vorlesung über „Das Wesen der Kirche“ (WdK) an der Berliner Universität: „Theologisches Denken gibt es nur in bezug auf Gemeinschaft.“6 Die Kirche ist mehr als eine rein menschliche Gemeinschaft, doch sie existiert nirgendwo anders als in Formen menschlicher Gemeinschaft. Der theologische Ansatz beim Ernstnehmen des konkreten menschlichen Zusammenlebens nötigte Bonhoeffer dazu, die Theologie wissenschaftlich zu öffnen. Er bezog die damalige Sozialphilosophie und Soziologie mit ein, um Gott konkreter für diese Welt denken zu können. Mit ihrer Hilfe formulierte er seine Auffassungen über die Kirche und andere zentrale Glaubensbegriffe neu als soziale Kategorien. Damit führte er zugleich den Protestantismus aus der Sackgasse einer weltfremden Abstraktion auf das glaubende Individuum („Gott und die Seele“) heraus. Gleichzeitig verfällt er nicht der Einseitigkeit liberaler Theologie, im Dialog mit nichttheologi-

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schen Wissenschaften die Transzendenz aller irdischen Phänomene aus dem Blick zu verlieren. Er ersetzt die Theologie nicht durch Soziologie, sondern er strebt einen Dialog als Theologe an. Theologisch leitet ihn dabei besonders Luthers Beschreibung von christlicher Gemeinschaft als ‚Bruderschaft‘, ich ergänze: Schwesternschaft. Aufgrund des Festhaltens an theologischen Inhalten beim Beschreiben sozialer Wirklichkeit behält Bonhoeffers Ansatz etwas Visionäres, einen lebensleitenden Mehrwert, der Menschen zu seiner Realisation auffordert. Er beschreibt Kirche als den Ort, an dem Menschen damit angefangen haben, miteinander und füreinander zu leben. Kirche sei eine Gemeinschaft, in der Menschen einander an ihren guten und zerstörerischen Lebenserfahrungen teilhaben lassen. ‚Glauben‘ heißt an diesem Ort, sich von Christus im Medium der Mitmenschlichkeit ‚getragen‘ zu wissen. Bonhoeffer versteht sich bei diesem Drängen auf das soziale Umsetzen abstrakter theologischer Konzepte nicht als einen protestantischen Sektierer, sondern jemand, der Luthers Grundgedanken über die Kirche wieder ernst nimmt. Gerade Luthers Frühschriften sind es, die er in seinen theologisch entscheidenden Abschnitten über das wahre Wesen der Kirche am häufigsten zitiert. Eine herausragende Stellung nimmt hierbei Luthers „Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften“ aus dem Jahre 1519 ein (WA 2, 738ff.). Mit Luthers Worten, und darin vor allem dem Symbol des „Tragens“ und „Getragenwerdens“ lassen sich Bonhoeffers gesamte sozial ausformulierte Christologie und Ekklesiologie zusammenfassen. Es lohnt sich, beim Lesen z. B. der „Nachfolge“ auf dieses Wort zu achten. Zum ersten Mal taucht dieses Motiv im Lutherzitat in „Sanctorum Communio“ auf: „Sihe, ßo tregsttu sie alle, ßo tragen sie dich widder alle und seynd alle ding gemeyn gutt und böße.“ (SC 118) (M. Luther, 1519, WA 2, 745,33f.) Nach Bonhoeffer wird dieses von Christus Getragen-Werden und Einander-Tragen in der Kirche in Strukturen des Miteinander-Lebens und Füreinander-Lebens verwirklicht. Christus starb für die Gemeinde, „damit sie ein Leben führe, miteinander und füreinander“ (SC 121, Herv. SB). Die Kirche ist eine im Glauben erlebbare Offenbarungsgestalt des auferstandenen Christus. Sie ist „Christus als Gemeinde existierend“ (SC 127). Bonhoeffer bezieht aus Luthers „Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften“ Kerngedanken für seine später, 1935–1937 gelebte Vision einer Kirche als „Gemeinsames Leben“. Diese sowohl geistige als auch sozial konkrete Gemeinschaft mit Christus und untereinander gibt die Grundlage für eine kritische Distanz zum Nationalsozialismus und einem rassistisch überfremdeten Christentum. Zugleich hilft sie den einzelnen dabei, ein

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christusförmiges Leben (conformitas Christi, mit Christus „gleichgestaltet werden“) einzuüben. [. . .] Bereits während seiner Studentenzeit 1924 hatte Bonhoeffer erwogen, ob die landeskirchliche und die volkskirchliche Organisationsstruktur der evangelischen Kirche eine grundlegende Fehlentscheidung gewesen sei, aus der weitere soziale Fehlorientierungen gefolgt seien. Dieser Fehlentwicklung stellte der Student eine Organisationsstruktur als staatlich unabhängige Gruppe (im soziologischen Fachbegriff „Sekte“) gegenüber, die zugunsten eines klareren Profils auf große Mitgliederzahlen verzichtet. Bonhoeffer ist damals davon überzeugt: Nicht der Inhalt des Evangeliums stoße Zeitgenossen ab, sondern die staatlichen Verquickungen der evangelischen Kirche. Als vom Staat getrennte, eigenständige Gruppe „. . . wäre [es] die Kirche geworden im Sinne der Reformatoren, die sie jetzt nicht mehr ist. Vielleicht liegt hier ein Weg zur Abhilfe der schrecklichen Not der Kirche, sie muß sich beginnen zu beschränken und Auswahlen zu treffen in jeder Beziehung, besonders im Material der geistlichen Erzieher und des Stoffes. Und sich jedenfalls, sobald wie möglich, ganz vom Staat trennen, vielleicht sogar mit Aufgabe des Rechts des Religionsunterrichts.“7 In seiner Dissertation „Sanctorum Communio“ wird Bonhoeffer auf dem Wege dieser Überlegungen konkreter. Er stellt hier das Kirchensteuersystem infrage. In seinen Augen widerspricht die Kirchensteuer dem Wesen der Kirche, und zwar im Kern ihrem Freiwilligkeitsprinzip (SC 179). „Daß staatlich zwanghafte Eintreibung der Steuern ein Mißstand ist, ist wohl unzweifelhaft.“ (SC 287) Das wirtschaftliche System der Kirche müsse in seiner rechtlichen Regelung den Grundprinzipien des christlichen Personverständnisses und christlicher Gemeinschaftsformen entsprechen. Durch den gelebten Selbstwiderspruch verliere Kirche etwas von ihrer Einzigartigkeit als „Persongemeinschaft“. Wie weit Bonhoeffer mit diesen Konkretionen von Theologie seiner Zeit voraus war, wird am Schicksal der Drucklegung seiner Dissertation ersichtlich: Er strich seine Kritik am Kirchensteuersystem für die Buchveröffentlichung, da ihm sein Doktorvater dies dringend nahelegte. [. . .] [Aus den USA] nach Deutschland zurückgekehrt, beginnt er 1932 in einer Vorlesung über „Das Wesen der Kirche“ (WdK) von einer gesellschaftlichen Parteilichkeit zu sprechen. Die Kirche habe im gesellschaftlichen Leben Stellung zu beziehen. „Sekten werden ernster genommen als die Kirche, weil sie an einem bestimmten Ort stehen“ (WdK 21). Allgemein verweist er auf die „Nöte der Wirtschaftsführer, der Intellektuellen, der Kirchenfeinde, der Revolutionäre“ (WdK 22). Eine Kirche für alle Menschen zu sein, heiße nicht, überall zugleich stehen zu wollen. Der Ort der Kirche „ist nicht von vornherein konkret anzugeben“. Doch „Gottes

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Wille erwählt diesen oder jenen Ort dazu“ (WdK 22). „Unsere kirchlichen Botschaften sind dadurch so kraftlos, daß sie auf der Mitte bleiben zwischen allgemeinen Prinzipien und konkreter Lage“.8 Nur indem die Kirche das gesellschaftliche Leben mitgestaltet, kann sie ein Gespür für nötige Solidarisierungen entwickeln. „Um des wirklichen Menschen willen muß die Kirche ganz weltlich sein. Es ist eine Weltlichkeit uns zugut“ (WdK 70). Kritisch wendet sich Bonhoeffer gegen zwei kirchliche Fehlhaltungen: zum einen gegen ein Hinterweltlertum, das das Ewige auf Kosten der Erde liebt, zum anderen gegen eine weltförmige Kirche, die ihre überalltägliche Hoffnung aufgegeben hat. [. . .]

2. Gedanken aus der gelebten kirchlichen Opposition über die Kirche (1933–1937) Bonhoeffer versteht die Kirche von Grund auf als weltumspannende Größe, als ökumenisch. Es gibt auf Erden nur einen Leib Christi. Aufgrund dieser menschheitsumgreifenden Sicht erörtert Bonhoeffer „innerkirchliche“ Fragen nicht nur im Problemhorizont der einzelnen Ortsgemeinde oder Nationalkirche, sondern er versteht sie im Ansatz als ökumenische Fragen. Das ökumenische Gespräch führt ihn zugleich in eine kritische Distanz zu national getönten Debatten im eigenen Land und in der eigenen Kirche, vor allem in bezug auf die drohende Kriegsgefahr, die von Deutschland ausging. In seiner Fanö-Rede warnt Bonhoeffer eine Kirche, die über der Selbstbetrachtung die politische Lage vergißt, „mitschuldig zu werden wie nie zuvor“: „Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Mißtrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor?“9 Die in dieser Lebensphase geknüpften ökumenischen Kontakte woben das Netz für die konspirative Tätigkeit gegen Deutschland in der folgenden Lebensphase. Theologie-Treiben bleibt bei Bonhoeffer weiterhin mit dem Anliegen verbunden, aus christlicher Klarsicht auf Menschheitsfragen gesellschaftlich konkret handlungsfähig zu sein. Die Theologie soll die Kirche dabei befähigen, jeweils ihren wahren Standort in globalen und nationalen Problemen erkennen und beziehen zu können. Theologie ist insofern nie Selbstzweck, sondern bleibt Mittel – im Kontext des „Dritten Reiches“ sogar Kampfmittel, also eine Waffe – eine Waffe des Geistes, die geistiges Vernebeltsein wieder aufklärt.10 Eine theo-

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logische Wahrheit hat „scheidende Kraft oder sie ist aufgelöst“, also abwegig.11 Entsprechend formuliert Bonhoeffer im Kirchenkampf – zur Verteidigung des solidarischen Standortes der Kirche in der Gesellschaft – polemisch und bewusst polarisierend, die Geister zwischen Wahrheit und Irrtum scheidend. Da für ihn die Bibel nicht nur eine historische Dokumentensammlung ist, sondern theologische und meditative Arbeit in ihr das gegenwärtige Wort Gottes hörbar machen sollen, werden gerade seine Bibelarbeiten zu kirchenpolitischen Kampfansagen, so zum Beispiel seine Bibelarbeit über Esra und Nehemia. Der Unwahrheit verfallen ist eine akademische Theologie, die sich gesellschaftspolitisch neutral gibt und Rassismus, Terror und Mord gegen ganze Bevölkerungsgruppen im eigenen Land ignoriert oder gar in theologischen Gutachten legitimiert. Erst recht weht dort nicht mehr der Geist Christi, wo an Fakultäten oder in Kirchenleitungen rassistische Gedanken mit Christi Gedanken in eins gesetzt werden. Bonhoeffers Anliegen, eine zugleich in Transzendenz wurzelnde und gesellschaftlich zupackende Theologie zu entwickeln, führte ihn zu einer völligen Konzentration auf Jesus Christus. Hierbei blickte er nicht auf den toten historischen Jesus als Lehrer von Weisheit und Ethik, wie ihn die liberale Theologie kultivierte, sondern er beim gegenwärtigen Logos Christus, in dem das ganze Christusgeheimnis und zugleich das Persongeheimnis des Menschen aufgehoben ist. Entgegen einer theologia gloriae, die sich beim Blick auf den Auferstandenen von irdischen Problemen verabschiedet, konzentrierte sich Bonhoeffer auf das im Auferstandenen gegenwärtige Geheimnis von einmaliger Erniedrigung, Kreuzweg und neuen Erniedrigungsgestalten, in denen er für Menschen heute konkret wird. Hierbei ließ er sich unter anderem von der Spiritualität des jungen Luther inspirieren, für den sich gleichfalls viele damals drängenden theologischen und gesellschaftlichen Fragen in der Konzentration auf die Leidensgestalt des Christus (theologia crucis) klärten. Bonhoeffer erkennt zunehmend klarer das Geheimnis des gemeinsamen Leidensweges von Christus und gegenwärtigen Menschen. Für ihn leitet sich mit dem sichVersenken in dieses Geheimnis eine spirituelle Wende ein. Er spricht geradezu von einer „Bekehrung“. Erste Sprachversuche, Menschen in diese persönliche Entdeckung mit hineinzunehmen, finden sich in Bonhoeffers Londoner Predigten. Hier spricht er von „Gott in der Niedrigkeit“. In seinem Überwältigtsein von diesem Erlebnis und dieser neuen Christus-Vision greift er nach großen Worten: Es gehe um eine „revolutionäre“ Entdeckung, den „Beginn einer völligen Bekehrung, Neuordnung aller Dinge dieser Erde“. Die Kirche sei als Leib Christi in diese Bewegung Gottes „mithineingerissen“.12 Sie bleibt nur dann wahrhaft ein Begegnungsort

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mit dem lebendigen Christus, wenn sie „ihren eigenen Weg der Erniedrigung“ geht.13 Dieser gemeinsame Weg der Kirche mit Christus in die Niedrigkeit führt sie mitten in menschliches Elend und Ungerechtigkeit hinein. Dorthin gehört die Kirche, wenn sie bei Christus und Christus in ihr bleiben soll! Es gibt für Bonhoeffer keinen Rückzug auf eine ‚reine‘, z. B. rein kultische Kirchlichkeit. In diesen Zusammenhang gehört Bonhoeffers Wort, das sich unter anderem gegen politisch ignorante liturgische Erneuerungsbewegungen wie die „Berneuchener Bewegung“ richtete: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“14 Im Verzicht auf konkretes Handeln für eine „besseren Gerechtigkeit“ liegt für Bonhoeffer das „Unrecht des ausschließlichen christlichen Konservativismus“.15 Bereits 1932 sprach Bonhoeffer über die gesellschaftspolitische Dimension der Christusnachfolge. Jede politische Ordnung galt dem Lutheraner nun als „ihrem Wesen nach veränder- und zerstörbar“, wenn sie die „Erlösung durch Christus nicht mehr verträgt und ihr im Wege steht“.16 Den Protest gegen den „kapitalistischen Christus“ in der russischen Revolution beurteilt er als gerecht, ebenso den „Boykott des weißen Christus“ durch die jungen Schwarzen in den USA. [. . .] In seinem Buch „Nachfolge“ schreibt Bonhoeffer über die Einheit von öffentlich riskantem Protest und barmherzigen Handeln als Aufgabe des Christen: „Verweigert die Welt Gerechtigkeit, so wird er Barmherzigkeit üben, hüllt sich die Welt in Lüge, so wird er seinen Mund für die Stummen auftun und für die Wahrheit Zeugnis geben. Um des Bruders willen, sei er Jude oder Grieche“.17 Für Bonhoeffer waren damit Grundzüge des spirituellen Lebens beschrieben. Die Kontemplation des Bildes Christi in Wortgestalt und Sakramentsgestalt sowie das Wiederfinden des Bildes Christi im gequälten Zeitgenossen gehören für ihn untrennbar zusammen. Von der Theologenkommunität von 1935–1937, deren Lebensadern Bonhoeffer im Buch „Gemeinsames Leben“ beschreibt, kann man geradezu sagen: Das in Finkenwalde fast klosterhafte wiederholte Betrachten des Bildes Christi sollte den werdenden Pfarrern den Blick schärfen für das Entdecken des Bildes Christi in der verfolgten Jüdin, in der kirchenpolitisch verfemten Dahlemer Richtung der „Bekennenden Kirche“, in den eigenen Niederlagen. Es sollte durch Feindesliebe (und Fürbitte, auch für Adolf Hitler) die Angst vor dem Feind überwinden helfen. Und es sollte durch das verinnerlichte Bild Christi dazu ermutigen, den Weg seiner Menschengestalt, Leidensgestalt, Todesgestalt und Auferstehungsgestalt im gesellschaftlichen Rahmen zu gehen. „Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.“18 „Nur von hier

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aus haben auch alle Klostergedanken ihr Recht und ihren Sinn. Also gerade nicht katholisch.“19 [. . .]

3. Politischer Widerstand und die Frage nach der Zukunftsgestalt der Kirche 1943 wird Bonhoeffer verhaftet. Inzwischen hat er Erfahrungen damit gesammelt, dass sich seine Vision einer Christus nachfolgenden Kirche inmitten gesellschaftlicher Konflikte leben lässt. Ebenso hat er Erfahrungen mit den Widerständen in den eigenen Reihen der Bekennenden Kirche gegenüber seinem Theologie- und Kirchenverständnis gesammelt, mit der Forderung nach einem politisch neutralen Christentum, mit Zerfall in den eigenen Reihen. Er ringt mit der Anfechtung, dass das Christentum „im Westen“ allgemein im Sterben liegt. Spirituelle Impulse empfängt und erwartet er aus Fernost. Gandhis spirituelle Politik der Gewaltfreiheit beeindruckt ihn tief und ermutigt ihn, die Ethik der Bergpredigt tatsächlich als ethischen Impuls für das Hier und Jetzt ernst zu nehmen.20 Für ihn selbst beginnt die Handlungsphase, „dem Rad selbst in die Speichen [zu] fallen“ (s. o.). Er taucht in den direkten politischen Widerstand unter und stellt seinen Mitverschwörern seine eigenen ökumenischen Kontakte als Netzwerk zur Verfügung. Als er verhaftet wird, zieht er im Gefängnis Bilanz. Zugleich lässt ihn die Frage nach einer zukünftigen Gestalt der Kirche nicht los. Nicht nur die Deutsche Evangelische Kirche, sondern auch die Bekennende Kirche hat aus Bonhoeffers Sicht den Kreuzweg mit Christus, den Weg an die Seite der Erniedrigten, weitgehend gescheut. Damit habe sie zugleich ihre eigene Zukunft, vor allem hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit, verspielt. „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein.“ (WEN 328)21 Der Weg zu Christus, der Weg nach unten, ist immer mit einem „Wagnis für andere“ verbunden. Die Bekennende Kirche hingegen hatte fast durchgehend zur fortschreitenden politischen Entrechtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger geschwiegen und sich in eigenen Flügelkämpfen genügt. Für die künftige Kirche schreibt Bonhoeffer noch einmal programmatisch nieder, was er mit dem Weg nach unten meint: den „Blick von unten“ einzunehmen (WEN 27), „die Perspektive der Verstoßenen, der Mißhandelten, der Machtlosen, der Unterdrückten, kurz die Perspektive derer, die leiden“. „Wagnis für andere“ (WEN 415), riskieren, „anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden“ (411).

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Zugleich benennt er die Hindernisse, die die Kirche von diesen Schritten zurückhalten. Am stärksten sieht er die Kirche durch ihre Privilegien gelähmt. Ohne zu Zögern schlägt Bonhoeffer zugunsten einer Christusnachfolge vor, die Kirche möge sich aktiv ihrer Privilegien entledigen. Sie solle ihr hinderliches Eigentum an die Armen fortgeben. Basis sollten künftig freiwillige Spenden werden. „Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muß an den weltlichen Aufaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ (WEN 415) Diese einer etablierten Kirche radikal erscheinende Lösung läßt sich nicht auf die Extremsituation des Kirchenkampfes reduzieren. Er hatte sie bereits 1927 im Rahmen seiner Überlegungen über das Wesen der Kirche in „Sanctorum Communio“ entwickelt und greift sie jetzt lediglich erneut auf. Als zweiten Weg, der die Kirche ‚nach unten‘ führt, rechnet Bonhoeffer mit künftigen gesellschaftlichen Umbrüchen. Verliert die Kirche in diesem Rahmen ihre angestammten gesellschaftlichen Vorrechte, so solle sie in diesen Verlusten Gottes Handeln annehmen. Sie solle dann auf den Gewinn blicken, der in diesen Verlusten liege: eine neue Form von Glaubwürdigkeit und die Gemeinschaft mit Christus. In diesem Sinne schrieb Bonhoeffer zum Tauftag von Dietrich Bethge, seinen Groß-Neffen, im Mai 1944: „Auf unsere Privilegien werden wir gelassen und in der Erkenntnis einer geschichtlichen Gerechtigkeit verzichten können. Es mögen Ereignisse und Verhältnisse eintreten, die über unsere Wünsche und Rechte hinweggehen. Dann werden wir uns nicht in verbittertem und unfruchtbarem Stolz, sondern in bewußter Beugung unter ein göttliches Gericht und in weitherziger und selbstloser Teilnahme am Ganzen und an den Leiden unserer Mitmenschen als lebensstark erweisen . . . ‚Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn‘ (Jeremia 29,7).“ (WEN 327) Einen Anfang zu diesem zweiten Weg der Erniedrigung der Kirche hin zur Niedrigkeit Christi sah Bonhoeffer im Kirchenkampf beschritten. Allerdings bleibt sein Optimismus diesbezüglich gedämpft. Er rechnet mit starken Gegenkräften innerhalb der Kirche, wie er sie bereits während des Kirchenkampfes gespürt hatte. „Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.“ (WEN 328, Zum Tauftag) Leider behielt Bonhoeffer mit seiner realistischen Einschätzung der kirchenpolitischen Situation recht. Die innerkirchliche Restauration in der Nachkriegszeit setzte den Anfängen einer Läuterung und einer Gleichgestaltung der Kirche mit dem Wesen des mitleidenden Christus ein Ende. Die Alliierten begrüßten die Kirchen undifferenziert als Partnerinnen beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands. Es kam zu einer vorzei-

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tigen Re-Privilegierung, zu einer ecclesia triumphans, die den Kreuzweg weiterhin scheute. Wovor Bonhoeffer gewarnt hatte, trat Schritt für Schritt ein: „Bei einer Neuordnung der Kirche muß unter allen Umständen vermieden werden, daß die reaktionären Kreise der einstigen Generalsuperintendenten und der kirchenbehördlichen Bürokratie wieder die Leitung in die Hand bekommen. Das wäre staatlich und kirchlich eine rückschrittliche Lösung der Kirchenfrage. Eine Lösung, die das Verhältnis von Kirche und Staat wirklich auf einen neuen Boden stellen soll, muß auf die junge, im Kirchenkampf erprobte Generation von Pfarrern und Laien zurückgreifen.“ (GS 2, 435) Die „junge“, „im Kirchenkampf erprobte Generation von Pfarrern“ hatte im Krieg ihr Leben verloren oder saß während dieser Phase des kirchlichen Neuaufbaus noch in Kriegsgefangenschaft. Derweil griffen die Alliierten auf die „reaktionären Kreise der einstigen Generalsuperintendenten und kirchenbehördlichen Bürokratie“ zurück, wie z. B. in Berlin auf Otto Dibelius, den Schöpfer einer triumphalen Kirchenvision in seinem Buch über „Das Jahrhundert der Kirche“ von 1928. Genau diese Vision versuchte er jetzt kirchenpolitisch umzusetzen. Man könnte Dibelius’ Vision und Bonhoeffers Vision von gesellschaftlicher Machtentfaltung der Kirche einander diametral gegenüberstellen. Während es in dem einen Leitbild des Handelns um den Rückgewinn, Erhalt und Ausbau äußerer Machtpositionen geht, geht es Bonhoeffer um eine innere, spirituelle Machtentfaltung der Kirche: eine Macht, die in Freiheit und Liebe die Herzen der Menschen gewinnt. [. . .] Bonhoeffer fasst diese Form von hingebender, gesellschaftlich engagierter Liebe in der Vision einer „Kirche für andere“ zusammen. Diese zukunftsfähige Kirche weiß, dass sie mitten im gesellschaftlichen Mitgestalten einer gerechteren Zukunft am Leben Christi teilhat. Sie entfernt sich nicht von Christus, sondern sie erkennt ihn im erfüllten und im beschädigten Leben. Sie ehrt Gott „in der Fülle der irdischen Gaben“ (1939/40, GS 4, 511). Ohne ihren eigenen Kultus zu vernachlässigen, den sie für sich wie ein Arkanum im Schweigen während ihrer Läuterung hütet, sucht sie Gottes Gestalten in der Welt zu erkennen. „. . . nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden“ (WEN, 29. 5.1944; 341). Gott wird nicht a-sozial, an den Grenzen der Geschichte, sondern im gesellschaftlichen Diesseits getroffen: „in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten“ (411, vgl. WEN 415; vgl. GS 3, 276). „Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben . . . nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Ängste denken, sondern sich in den Weg Jesu

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Christi mit hineinreißen lassen . . . das Teilhaben am Leiden Gottes in Christus. Das ist [ihr] ‚Glaube‘. . . Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben“ (WEN 395f.).

7.3 Von Gott herausgerufen – Kirche als Solidarmodell für die Gesellschaft Martin Stöhr22 I Einführung Heute Bonhoeffer antworten Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen nehme ich in zehn Thesen . . ., einige Anregungen Dietrich Bonhoeffers zu zukünftigen Aufgaben und Gestaltungen der Kirche auf. Bonhoeffer hat in seiner theologischkirchlichen wie in seiner politischen Arbeit wie kaum jemand die Notwendigkeit erkannt, neu zu beginnen. Bei aller ihm eigenen Hochschätzung der Tradition haben die protestantischen Kirchen (und die Gesellschaft) neue Gestalten ihrer selbst zu suchen. Inhalte, nicht Anpassungsnotwendigkeiten oder finanzielle Zwänge sollten eine „Kirche des Wortes“ prägen. Es ist ein Beitrag weder zur Bonhoefferforschung noch zu seiner folgenlosen Verehrung. Im „Zivilisationsbruch“ der Schoa, in einem Vernichtungskrieg gegen die Nachbarvölker sowie in der „eigenen Schuld“ der Kirche zeigt sich für Bonhoeffer ihre „Unfähigkeit, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und die Welt zu sein.“ Denn sie hat „in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft . . . als wäre sie ein Selbstzweck“. Bonhoeffer zieht daraus den Schluss: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen können: Im Beten und im Tun des Gerechten . . . Bis Du groß bist wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben . . . Der Tag wird kommen, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt verändert und erneuert.“23 Eine Kommunikation mit Gott und mit und für den Menschen durch die Tat sind ihm jetzt (1943) wichtig. Erbschaften Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert wird deutlich, dass nach der Reformation auch die durch Aufklärung und Pietismus initiierten Reformen im Protestantismus längst ihre erneuernden Potentiale verloren haben. Die in den 1960er Jahren durch den Evangelischen Kirchentag und die Evangeli-

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schen Studentengemeinden angestoßenen Reformdebatten blieben fast folgenlos. Die westdeutschen Landeskirchen riefen die Erfahrungen der Kirchen im atheistischen System der DDR nach der Vereinigung beider deutschen Staaten ebenso wenig ab wie die östlichen Landeskirchen sie als Reformimpulse in eine neue Evangelische Kirche in Deutschland einbrachten. Hier wie da ist es der Weg einer Minderheitskirche in einer sich rasch säkularisierenden Gesellschaft. Ähnliche Erfahrungen, die zB die Kirchen in der kommunistischen Tschechoslowakei oder in den kapitalistischen Niederlanden machten, zeigen unterschiedlich grundierte Entstehungsprozesse einer systemübergreifenden, religionsfernen Gesellschaft. Ihr Kennzeichen ist kein aggressiver oder theoretischer, sondern ein praktischer Atheismus. Er kann oder will nicht mehr sagen, wozu Religion gut sei. Die derzeitige Volkskirche im Übergang ist weder eine Kirche des Volkes noch paternalistisch eine Kirche für das Volk. Die Gestalt einer irgendwann entstehenden als minoritärer Frei(willigkeits)kirche zeichnet sich nur schemenhaft ab. Das Ringen um das, was und wie Kirche ist und sein soll, wird zurückgedrängt durch einen beklagten, wachsenden Schwund an Mitgliedern und Finanzmitteln. Allem aber unterliegt eine vielfach empfundene Bedeutungslosigkeit des Glaubens, der, wie alle Religionen, fast nur durch exotische oder fundamentalistische Personen und Ereignisse öffentlich wird. Dieser Funktionsverlust ist weithin sprachlos und begründungsarm. Er verweist darauf, dass die Kirche für viele – besonders für jene, deren Leben gefährdet war – tatsächlich bedeutungslos war: Als Minderheiten, vor allem die Juden, verfolgt wurden, als die biblische Friedensbotschaft gegen Rüstung und Krieg stumm blieb, als die Kirche wenig tat, den Arbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen. Das alles hätte als Vorweiser auf ein Ende des „konstantinischen Zeitalters“ mit ihren Privilegierungen wahrgenommen werden können, wäre eine biblische und ökumenische Sehschärfe für die Wirklichkeit eingeübt gewesen. [. . .]

Auf dem Weg zur Frei(willigkeits)kirche? In der Schrift des 21jährigen Bonhoeffer Sanctorum Communio heißt es zu dem Augenblick, in dem die Kirche nicht mehr Volkskirche sein darf: „Dieser Zeitpunkt ist dann gekommen, wenn die Kirche in ihrer volkskirchlichen Art nicht mehr das Mittel sehen kann, zur Freiwilligkeitskirche durchzudringen.“24 Ist nicht heute (1997) der Zeitpunkt gekommen, erste Schritte zu gehen? Wer entscheidet über sie, ihre Richtung, Geschwindig-

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keit und Reichweite? Kirchenleitungen oder Kirchen von unten? Was ist Verlust, was Gewinn? Oder entfällt jede derartige Buchhaltung? Entsprechen sich Gemeinden und Leitungen, von ihnen gewählt, nicht in einer gewissen Wagenburgmentalität? Behindert der aktive oder der auswanderungswillige Teil der Gemeinde Veränderungen? Die auf Barmen 1934 folgende Dahlemer Synode plagte sich mit der Frage, ob die sich formierende Bekennende Kirche den Weg zur Freikirche gehen sollte. Sie wurde verneint. Notwendige eigene Leitungs-, Finanzund Ausbildungsstrukturen wurden allerdings beschlossen und mehr oder wenig illegal verwirklicht. Ein Blick auf die damalige Freikirche und ihre Haltung gegenüber dem NS-Staat, trotz staatsfernerer Strukturen, zeigt kein von den sog. Großkirchen abweichendes Bild Gilt es nicht heute, nach 1517, 1648, 1918, 1933, 1945, 1989, eigene Konzepte und Strukturen zu entwickeln, damit der gesellschaftliche und wirtschaftliche Kontext zum Lebens- und Bewährungsraum der auf Christus verpflichteten Kirchen wird? Der Kirchenkampf hat zwar eine totale Anpassung an Staat und Mehrheitsgesellschaft minimiert, aber die volkskirchlichen Strukturen und ihre Prioritäten kaum aufgebrochen.

II Z e h n T h e s e n 1. Wer auf der Suche nach neuen Wegen der Kirchengestaltung über den inhaltlichen Auftrag der Kirche spricht, ohne über ihre Ökonomie und Strukturen zu reden, redet idealistisch von der Kirche, wer über ihre Ökonomie und Strukturen spricht, ohne über ihren inhaltlichen Auftrag zu reden, redet materialistisch. Die These plädiert nicht für eine Gleichgewichtigkeit beider Problemzugänge, sondern für die Unterordnung der finanziellen und strukturellen Entscheidungen unter die inhaltliche Prioritätensetzung. Wie ereignet sich heute, was in den biblischen Geschichten, Dichtungen, Gebeten, Gleichnissen, Kritiken oder Visionen überliefert ist? Sie sind in einer kleinen Bibliothek aus vielen Jahrhunderten, in unterschiedlichen Sprachen, Weltbildern und Realitätswahrnehmungen zusammengefasst. Nur unvollkommen werden sie im apostolischen Glaubensbekenntnis aufbewahrt und aufgesagt. Es müsste zu jedem seiner Sätze mindestens eine biblische Geschichte erzählt werden, damit aus alten Geschichten aktuelle werden können. [. . .] Es gibt keine Gestalt der Kirchen, die ihre Glaubwürdigkeit durch Verweis auf Historie oder Selbstdefinitionen sichern kann. Sie antwortet wie jede/r Gläubige auf Anrufe und Einladungen zur Nachfolge. Deren Ausge-

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staltungen sind nicht beliebig, weil an den biblischen Gott und seinen Messias protestantisch vierfach gebunden: „solus Deus et Messias suus“. Er schreibt frei und reichlich den Menschen zu, was ihn selbst auszeichnet: Gerechtigkeit und Liebe (sola gratia). Von ihm berichtet die Bibel grundlegend und auslegungsbedürftig in menschlichen Sprachen: „sola scriptura“. Diesem Gott, seinem Messias und ihrem Geist zu vertrauen („sola fide“) heißt, Lebenswege einzuschlagen, die sich als Teile der „neuen Schöpfung“ verstehen. Sie sind in der Christenheit eröffnet in der Kreuzigung Jesu, der toratreu und vorbildhaft bis in den Tod lebte (Phil 2,5–11). Ihm wurde als der Messias=Christus ein neues Leben geschenkt. Eine Art „Dreinaturenlehre“ könnte die Lebendigkeit und universale Bedeutung des Juden Jesus von Nazaret, des Christus, bezeichnen: Er existiert als „Erstgeborener einer neuen Schöpfung“ (1 Kor 15,20) „bei Gott“, ist als vielgestaltiger „Leib“ in seiner Gemeinde präsent, und nicht zuletzt in den „Mühseligen und Beladenen“ (Mt 11,28), von denen das kritische Gleichnis Jesu einige genauer nennt (Mt 25,31–40). Die Wege der Gemeinden orientieren sich an den Wegweisern, die im Alten Testament durch „Mose und die Propheten“ und in den Zeugen des Neuen Testaments wahrnehmbar aufgerichtet sind. Diese Wege lassen im göttlichen Urvertrauen auf seine Ebenbilder hinter sich, was z. B. die biblische Urgeschichte vierfach als Ursünden (nicht Erbsünden!) schildert: Menschliche Willkür, die sich selbst die zugeteilte Freiheit durch Verantwortungslosigkeit verspielt (Adam und Eva); Konkurrenz, Hass und Todschlag (Kain und Abel); Gefährdung der guten Schöpfung (Sintflut); Menschliche Machtzusammenballung und Selbstvergottung (Turmbau zu Babel). Die Barmer Theologische Erklärung von 1934, ein Gründungsdokument der Bekennenden Kirche, hält als Weisung fest, hinter der sie selbst oft genug zurück blieb: Die Kirche hat „mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam; mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Gestalt . . . zu bezeugen, dass sie allein Sein Eigen ist.“25 Die Ökonomie Gottes (Eph 3,9), die sich in Christus verkörpert (Eph 1,10) erlaubt viele Gestalten der Kirchen, wie ein Blick auf die ökumenisch-bunte Weltkarte seit biblischen Zeiten zeigt. Sie gebietet zugleich, ihre gewordenen Formen zu überprüfen, ob sie nicht etwa anderes sagen als die ihr anvertraute Botschaft. Entsprechendes gilt für ihre kirchlichen und theologischen Sprachen und Aktivitäten. [. . .] Viele soziologische Studien dokumentieren in Westeuropa einen Minderheitenstatus der „Volkskirchen“. Wichtig ist aber nicht eine Mitgliedschaft, sondern aktive Teilhabe. Belegt ist auch, dass aus dem reichen Fundus der biblischen Botschaft selektiv persönliche. private

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Heilsverständnisse größere Zustimmung finden, als ihre auch politisch und gesellschaftlich notwendigen Umsetzungen. Eine jahrhundertelange Vernachlässigung des Alten Testamentes, das die Gemeinde Gottes auch als Kollektiv (vgl These 2) anspricht, mag zu diesem bürgerlichen Individualismus beigetragen haben. Einhellig wird heute ökumenisch eine Zielbündelung bejaht, für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ mit einer „vorrangigen Option für die Armen und für Gewaltfreiheit“ einzutreten. Zur unabdingbaren Freiheit des Individuums gehört eine politische und wirtschaftliche Verantwortung des Glaubens. „Die Wahrheit“, die der Kirche anvertraut ist, schrieb Bonhoeffer in seiner Finkenwalder Predigtlehre, „darf nicht verstanden werden als Resultat, das ich darzubieten hätte, sondern als Geschehen. Die Wahrheit, die die Kirche verkündigt, ist die Wahrheit, die sich eine eigene Existenzform in der Kirche schafft.“26 Es ist möglich, dass die Kirche die reine Lehre predigt oder ihre Gestalt verbindlich setzt und dennoch unwahr ist. Weder „Volksnähe“ noch „Volksverbundenheit“ bestimmen ihre Existenzformen in allen Sozialgestalten der Kirchen: Nachfolgegruppen, Kommunitäten, Ortsgemeinden, Regionalkirchen, Leitungsgremien oder Universalkirche. 2. Bei der Frage: „Wer realisiert und verkörpert in praxi Gottes Gebot? Wer folgt Christus nach?“ hat – wie die/der Einzelne – auch die Kirche als eigenständig hörendes und handelndes Subjekt zu antworten. Wer die Nachfolge nur den Einzelnen aufbürdet oder überlässt, überlastet sie oder ihn. Eine Kirche, die verschweigt, dass die Nachfolge Christi auch die Aufgabe der unterschiedlichen „Kollektive“ (Gemeinschaftsformen) in der Christenheit ist, verschweigt ein entscheidendes Element der biblischen Botschaft. Wird nicht Sonntag für Sonntag im Credo indirekt bekannt: Das Lebensrecht aller Kreaturen, die Gott schuf, der Dienst Jesu Christi an allen Menschen, eine geistvolle Kirche? Aber wären diese Erinnerungen nicht durch Grundbekenntnisse aus der biblischen Ethik zu ergänzen? Bonhoeffer war sich in einem Londoner Brief sehr früh klar, dass Nachfolgen in einer Bekennenden Kirche, wie sie „Barmen“ auf den Weg schickte, blutiges Märtyrertum bedeuten könne.27 Er plädiert weder für Martyrium noch tüncht er Heiligen- und Märtyrergräber (Mt 23,29). Er fragt nach den Kosten der Nachfolge. Heute steht „Barmen“ in vielen Kirchenordnungen. Was ordnet es wie? Der Leib Christi . . . wächst noch. „Die christliche Kirche“, heißt es in Barmen 3, ist die Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr ge-

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genwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung (Tora, Ethos) in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“ Das positive Erbe eines abendländischen Individualismus zeigt sich herausfordernd deutlich an der Schwelle zu einer sich reformierenden Kirche in Luthers Freiheitsschrift von 1520 Von der Freiheit eines Christenmenschen und in seiner Berufung auf sein nur an Gottes Wort gebundenes Gewissen in Worms 1521. Dort stand er öffentlich vor den Vertretern einer globalen, weltlichen wie geistlichen Macht. Das freiheitliche Erbe muss ergänzt werden um eine auch in Strukturen, im Umgang mit Geld und Macht gelebte Nachfolge. Einige allzu individualistische Traditionen pietistischer, aufklärerischer und existenzialistischer Theologie und Frömmigkeit entlasten Kirche und Gemeinde. Ist nicht ihre Funktions- und Bedeutungslosigkeit die Folge einer kirchlichen Selbstentlastung und einer individuellen Überlastung? Sie reicht bis zur Selbstausbeutung einiger, die sich in der Kirche oder in einer ihrer Aufgaben engagieren. Die Kirche ist ein eigenständiges Nachfolgesubjekt. Sie gibt sich selbst auf, wenn nur Einzelnen ein Gewissen zugeschrieben wird und nicht auch den Institutionen. Säkulare oder religiöse Institutionen zeigen nicht selten eine Vorliebe für organisatorische Geschlossenheit, für ein fragloses Befolgen von Traditionen oder Befehlen. Dass Kirchen (und weltliche Institutionen!) sich häufig weigerten, ein gewissenhaftes, öffentliches Subjekt zugunsten der in ihnen tätigen Menschen zu sein, kostete Menschenleben. Angst sagte: Exponiere man sich, gefährde man die Institution. [. . .] Das neuzeitliche Problem bleibt: Wie wird persönliche und institutionelle Zurückhaltung, verantwortliches Subjekt zu sein, befreiend aufgebrochen? Wie sind eine kriminelle Bank, Firma, ein verbrecherischer Staat oder eine versagende Kirche zur Verantwortung zu ziehen? Wie kommt es zu einer „Erweckung“ und Benutzung von Gewissen? Welches Ethos prägt es? Albert Einstein gibt ex negativo ein entscheidendes Argument für ein „Kollektivgewissen“. Als Max Born aus dem Exil zurück nach Deutschland ins „Land der Massenmörder“, zieht, schreibt Einstein: Dort war „das Kollektivgewissen ein ganz lausiges Pflänzchen, das immer dann einzugehen pflegt wenn es gebraucht wird.“28 [. . .]

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3. Die Kirche ist ein Gewissen in jeder Gesellschaft und die Gesellschaft ist ein Gewissen jeder Kirche. Sie ist es neben anderen, säkularen oder religiösen Quellen des Gewissens. Das Gewissen ist eine Kapazität, deren Inhalte unterschiedlich bestimmt sind. Es kann (falsch oder richtig) analysieren, Dinge beim Namen nennen und handeln. Es steht immer in einem Diskurs, in dem keine der unterschiedlichen Quellen ein Monopol hat oder mit Macht durchgesetzt werden darf. Es geht um gegenseitige kritische Beunruhigungen in der Gesellschaft und in der Kirche, die Schweigen, Wegsehen und Nichtstun in Frage stellen. [. . .] Ein Beispiel, die dritte These zu erläutern, liefert 1933 Bonhoeffer. Angesichts des Berufsverbots im öffentlichen Dienst für Juden und Kommunisten (vom 7. 4. 1933), angesichts des am 1. 4. 1933 staatlich angeordneten und weitgehend befolgten Boykotts jüdischer Geschäfte sowie angesichts der Aufhebung der Weimarer Verfassung (bis 1945) durch das Ermächtigungsgesetz äußert Bonhoeffer seine Erwartung an das Handeln der Kirche in seinem Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“29. Für ihn ist die Judenfrage eine Christenfrage, wie nach ihm Martin Luther King aus der „Negro Question“ eine „Weissenfrage“ machte. Nicht die Minderheit ist oder schafft das Problem, sondern die Mehrheitsgesellschaft mit ihren eingeschlafenen, gekauften oder indoktrinierten Gewissen. Bonhoeffer verlangt von der Kirche dreierlei: (a) Die Kirche hat den Staat nach der Legitimation seines Handelns zu fragen. Dahinter steht die Beobachtung, dass es Gesetze gibt, die nicht Recht sind. Die Ausgrenzung und Ermordung der Juden, der Homosexuellen, der Roma und Sinti, der Ernsten Bibelforscher, die Ausschaltung der Opposition und die Gleichschaltung der Mehrheit geschah bis 1945 durch ca 2000 Gesetze und Erlasse. Angesichts dieser Erfahrung ist zu fragen, ohne die Diktatur damals mit der jetzigen Demokratie gleichzusetzen, ob die Änderung des Artikels „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ (GG16,1) dieses Grundrecht nicht faktisch abgeschafft hat, gegen den Protest von Gewerkschaften und Kirchen. (b) Die Kirche hat allen Menschen zu helfen, nicht nur ihren Gemeindegliedern. (c) In einer Wiederaufnahme der alten, nicht nur christlichen Tradition eines Rechtes auf Tyrannenmord ist dem Rad in die Speichen zu fallen, damit nicht immer neue Opfer produziert werden. Der Herborner Jurist und Theologe Johann Althusius hatte an der damaligen reformierten Hochschule 1612 dergleichen gelehrt. Dem Schiffssteuerrad ist in die Speichen

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zu greifen, wenn der Kapitän betrunken, krank oder wahnsinnig ist.30 Das Recht ist für Bonhoeffer das einzige Kriterium für alle drei Handlungsnotwendigkeiten: Strangulieren seine Paragraphen das Leben? Oder leiden Menschen unter einem Mangel an Recht, sodass sie vogelfrei leben müssen? 4. Die Kirche hat eine aufklärerische Funktion. Sie hat nicht nur für die Mündigkeit des Menschen einzutreten und zu fragen, wer sie bedroht und wie solchen Bedrohungen zu widerstehen sei. Sie hat auch zersetzend – ein positiver Begriff hier! – gegen jede Dogmatisierung, Mythenbildung, Hörigkeit oder Ideologie die ethische Mündigkeit und verantwortliche Freiheit der Tat innerhalb und außerhalb der Kirche zu fördern. Aufklärung ist, das war Bonhoeffer im Zusammenhang mit seinen Kantstudien und mit seiner Analyse einer mündig gewordenen Welt klar, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die sogenannte Postmoderne kennt Formen von Beliebigkeit, von Bindungslosigkeit oder von Selbstverwirklichung als Freiheit. Gewiss protestieren so auch Menschen gegen Bevormundung und Kontrolle von Menschen durch Menschen sowie gegen Ohnmachtserfahrungen angesichts komplexer Lebenszusammenhänge. Eine Mündigkeit der Freiheit ist damit noch nicht gewonnen, zu ihr gehört die Verantwortung, die über sich selbst und die eigenen Interessen hinaus geht. Damit sind die Kirchen gefragt, wie sie zu einer Mündigkeit helfen können, die Ohnmacht, Selbstbezüglichkeit und Indifferenz zu überwinden hilft? Haltungen, die alles dulden, in Unzuständigkeit, in eine vermeintliche Sicherheit der reinen Lehre oder in Fundamentalismen flüchten? [. . .] Sind politische und ökonomische Konzepte nicht wie Religionen ähnlich zu befragen, wenn sie universale Deutungs- und Gestaltungshoheit beanspruchen und über Menschen meinen verfügen zu können? Aufklärung, die Gleichgültigkeit oder Verfügungsansprüche zersetzt, bleibt eine Aufgabe. Eine aufklärende Kirche hat ehrlich eine in ihrer eigenen Geschichte praktizierte Selbstbehauptung als Machtbehauptung und ihre schuldhafte Blindheit gegenüber sozialen und politischen Herausforderungen zu überwinden. Dazu gehört, die Einsicht durchzuhalten, dass die Bevormundung der Menschen durch unaufgeklärte Verhältnisse, Autoritäten oder Mythen dem Ersten Gebot widerspricht. Es kennt keine Autoritäten neben dem, der realiter befreit – exemplarisch aus Sklaverei und Zwang in Ägypten, wie aus Schuld und Angst, aus Elend und Isolation. Ein machtloser Jesus Christus problematisiert und entmächtigt durch seine Macht alle „stoicheia tou kosmou“, alle Mächte und Gewalten (Rö 8,38; 1Kor 15,24; Eph 1,21). „Barmen 2“ spricht von der „frohen Befreiung aus den gottlosen Bindun-

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gen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen.“ Seit Israel und die Urgemeinde als Minderheiten in den multireligiösen und multikulturellen Welten der Antike existierten, erfuhren sie andere Wahrheitsansprüche. Sie zu respektieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen verlernten sie allzu oft als National- oder Volksreligionen (vgl. These 9). Ich nenne ein . . . Beispiel von „Dogmen“ oder „Mythen“, die aufklärend entmythologisiert werden müssen: 50 Jahre nach dem „Darmstädter Wort“ zu den Irrwegen unserer Gesellschaft und Kirche ist zu fragen, ob und warum Menschen und Gruppen sich auch heute noch an Landkarten orientieren, deren Wege 1947 vom Bruderrat der Bekennenden Kirche als „Irrwege“ benannt und bekannt worden waren: Nationalismus, Autoritätshörigkeit, Gewaltvertrauen, Feindbildproduktion, Konservatismus. Nicht zu vergessen: Es wurde „unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten, gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“ Hatte doch „der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und das Zusammenleben der Menschen im Diesseits“ gemahnt. Nachdem der bevormundende, kommunistische Staatskapitalismus gescheitert ist, rufen eine nahezu entgrenzte Marktwirtschaft und eine PanÖkonomisierung aller Lebensbereiche nach neuen Wegen. [. . .] Zum biblischen Erbe gehören konstitutiv Selbstkritik und Kritik an Erstarrungen von Botschaft und Struktur. Die Propheten, Paulus und Jesus konnten sehr scharf werden. Das Neue Testament gibt eine Hilfe zur kritischen Entmythologisierung in seinem Bezug auf einen wahrhaftigen Menschen, den Juden Jesus aus Nazaret. In ihm stellt sich Gott sehr menschlich dar. Er macht sich erkennbar. Religionskritik war für Dietrich Bonhoeffer wichtig, wie Karl Barth nimmt das Christentum nicht aus. Als Kirchenkritik ist sie zur Zeit billig zu haben, weil es schwerer ist es (nicht nur für Journalisten) medial, religiös, politisch oder wirtschaftlich Mächtige treffend zu kritisieren. Wenn Aufklärung eine kritische Funktion der Kirche ist, dann sind jene Spuren weiterzuverfolgen, die etwa Karl Barth in seinem Römerbrief-Kommentar von 1922 legt. Als er für dessen 1. Auflage von 1919 (nicht immer unberechtigte) Kritik aus philologischen und historischen Forschungsbereichen erfährt, verlangt er: „Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!“ Sehen sie, „daß es eine Sache, eine Kardinalfrage, ein Wort in den Wörtern gibt?“ Dieses zum „reden zu bringen, koste es, was es wolle, ist eine letzte und tiefste Kulturangelegenheit.“31 [. . .]

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5. Wo die biblische Wahrheit als „geschehende Wahrheit“ verstanden und gelebt wird, infiziert sie zu eigenständigen Realisierungen der Wahrheit. Eine entscheidende Sprache in einer „religionslosen Welt“ ist die Tat. Im Taufbrief hatte Bonhoeffer den biblischen Glauben christlicher Ausprägung zusammengefasst: „Beten und Tun des Gerechten.“ Es ist eine Praxis der Bibel ihr Credo und ihre Weisung, in vielen, jeweils zeitnahen Formeln selber knapp zu bündeln. Es ist auch eine Stellungnahme gegen jene, die auf die Orthodoxie der reinen Lehre stärker achten als auf die Orthopraxie der notwendigen Tat. Irren oder Fehlverhalten sind in beiden Ortho-Pädien (richtigen Erziehungen) nicht ausgeschlossen, das gehört zum Risiko des Glaubens, wenn er nicht zu einem Fürwahrhalten schrumpft. Am 30. 4. 1944 fragt Dietrich Bonhoeffer seinen Freund Eberhard Bethge: „Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d. h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen einer Metaphysik, der Innerlichkeit etc. etc.?“ Er problematisiert dann das Wort „sprechen“, um fortzufahren: „Wie sind wir ‚religionslos-weltlich‘ Christen, wie sind wir ek-klesia, Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, nämlich Herr der Welt.“32 Er verweist auf „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14) und warnt zugleich vor einem „Offenbarungspositivismus“, der gegen die Welt apodiktisch Wort und Bekenntnis hochhält, statt selber Wort und Bekenntnis zu sein und „Fleisch werdend“ zu leben. Wenige Tage später wird er zur Taufe seines Patensohns Dietrich Bethge die oft zitierte, zu oft reduktionistisch missverstandene „Kurzfassung“ eines Credo formulieren „Beten und Tun des Gerechten.“ Das „Christsein“ ist entscheidend wie die universale „Christuswirklichkeit“. Einerseits betont Bonhoeffer: „In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können.“ Aber Bonhoeffer ist sich sicher, die Zeit wird kommen, in der das „Wort“ so ausgesprochen wird, dass „sich darunter die Welt verändert und erneuert.“ Dass dem jetzt nicht so ist, liegt an der „Schuld“ der Kirche, die „in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck.“33 Bonhoeffer hofft auf eine Erneuerung durch Menschen, die „beten“, zu verstehen als geistige Kommunikation mit Gott und Christus, die nicht auf überlieferte Worte und Handlungen verzichtet, (was er selbst auch nicht tut). Wohl aber „bekommt hier die Arkandisziplin“34 ihr Recht als höchste Stufe der christlichen Einweisung in Wort, Bekenntnis und Sakrament – jenseits aller bildervollen oder geschwätzigen PR-Bemühung und

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jenseits einer angeblich religionsbedürftigen Marktorientierung. Andererseits orientiert sich Bonhoeffers Gerechtigkeitsverständnis an der reformatorischen Schlüsselstelle Rö 3,24ff. und am Alten Testament, keineswegs an einer „individualistischen Heilslehre.“35 In der Auseinandersetzung mit zahlreichen religiösen Erlösungsmythen unterstreicht er die Diesseitigkeit des Christentums und lässt ahnen, wie er in seinem isolierten und doch kommunikativen „Arcanum“ von Verschwörung und Haft eine zentrale Überlieferung neu zum „sprechen“ bringt: Die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten zeigt ihm, „daß es sich um geschichtliche Erlösungen handelt, d. h. diesseits der Todesgrenze. Israel wird aus Ägypten erlöst, damit es als Volk Gottes auf Erden vor Gott leben kann . . . Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von den mythologischen darin, daß sie den Menschen in ganz neuer und gegenüber dem A.T. noch verschärfter Weise an ein Leben auf der Erde verweist.“36 Seine Polemik gegen ein individualistisches Heilsverständnis kann die Erde nicht gleichgültig den herrschenden Verhältnissen überlassen. Sie trifft ebenso säkulare Einstellungen einer Selbstbezogenheit, in der man sich selbst der Nächste ist. In seinem Ethik-Fragment spitzt er zu: „Es ist eine Verleugnung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, ‚christlich‘ sein zu wollen, ohne ‚weltlich‘ zu sein, ohne die Welt in Christus zu sehen und zu erkennen. Es gibt daher nicht zwei Räume, sondern nur den einen Raum der Christuswirklichkeit, in der Gottes- und Weltwirklichkeit miteinander vereinigt sind.“37 Bonhoeffers Neuinterpretation der Bergpredigt trennt sich von einer breiten Auslegungstradition, die sie nur als forderndes Gesetz versteht, das den sündigen Menschen „überführt“ und an Christus und sein Erlösungswerk weist. Nein, wir „können nach seinem Vorbild leben“. . ., weil wir ihm gleichgemacht sind.“ Durch ihn sind wir „Gottes Nachahmer.“ (Eph 1,15)38 Bonhoeffer erfährt und zeigt, dass die Auslegung der Bibel ein unabgeschlossener Prozess ist. Jean Laserre, sein Studienfreund aus dem Land einer deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ hilft ihm zu diesem Verständnis. Sein schwarzer baptistischer Kollege Frank Fisher in New York-Harlem sensibilisiert ihn für die „Rassenfrage“. Ökumenische Begegnung und Praxis stiften praktische Erkenntnisse und Lernorte. [. . .] Wie mit den Geboten umzugehen sei, problematisiert Bonhoeffer in seinem Aufsatz „Was heißt die Wahrheit sagen?“ Der unvollendete Aufsatz geht der Frage nach, ob eine Lüge erlaubt ist. Am Beispiel der Lüge reflektiert er gleichnishaft seine Entscheidung, sich als Pazifist an der Verschwörung gegen Hitler zu beteiligen, die die Gewalt eines Tyrannenmords nicht ausschließt. In der ebenfalls Fragment geblieben Ethik wird er direkter: Angesichts von I. Kants kategorischem Imperativ oder ähnlicher Prinzipien, die überall und jederzeit gelten, gibt er zu bedenken:

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„Wenn Kant aus dem Prinzip der Wahrhaftigkeit heraus zu der grotesken Folgerung kommt, ich müsse auch dem in mein Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob mein Freund, den er verfolgt, sich in mein Haus geflüchtet habe, ehrlicherweise bejahen, so tritt hier die zum frevelhaften Übermut gesteigerte Selbstgerechtigkeit des Gewissens dem verantwortlichen Handeln in den Weg,“ Dagegen erweist sich ein verantwortliches Handelns, weil es am „Handeln Jesu Christi teilnimmt“, im „verantwortlichen Aufnehmen fremder Schuld.“39 Schuld übernehmend und auf Vergebung hoffend schreibt er nach dem Scheitern des 20. Juli 1944: „Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen . . . Allein in der Tat ist Freiheit!“40 Weil Bonhoeffer als einziger europäischer, ratgebender Theologe zitiert wird, nenne ich als ein Beispiel „nichtreligiöser Interpretation“ das KAIROS-DOKUMENT (KD) aus den südafrikanischen Kirchen von 1985. Die aus verschiedenen Kirchen und Volksgruppen stammenden Autoren analysieren scharf die brutale Gewalt des Apartheidstaates. Sie lehnen eine „Staatstheologie“ ab, die mit Römer 13 auf Anpassung und Servilität baut. Eine „Kirchentheologie“ erscheint gleichfalls untragbar, weil sie zwar verbal protestiert gegen das Unrecht der Apartheid, aber das Wort „Versöhnung“ mit Harmonie verwechselt, als ginge es um einen Ausgleich zwischen zwei gleich starken Partnern. Gefordert und praktiziert wird eine „prophetische Theologie“, die wahrhaftig analysiert, was an Gewalt und Unterdrückung, von wem gegen wen, geschieht. Sie arbeitet hoffnungsvoll an einer menschenwürdigen Gesellschaft. Eine Schlüsselfrage ist: Kann man im Befreiungskampf Gewalt ausschließen, ohne ihrer Anwendung einen prinzipiellen Freibrief zu geben? [. . .] 6. Wer die Heilsgeschichte von der Weltgeschichte trennt, wer die christliche Geschichte vom Kontext z. B. der laufenden Kommunal-, Regional-, National- oder Weltgeschichte abkoppelt, treibt Keile der „Apartheid“ oder der „Ghettoisierung“ in Gottes eine Schöpfung und in seine Völker, wo die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint. Die Welt soll zu einer menschlichen Heimat für alle werden. Ein duales Geschichtsverständnis verhindert, was für diese Welt bestimmt ist, nämlich Gottes Konzept dieser Schöpfung zu verwirklichen helfen. Es geschieht mitten in menschlicher Korruption in der Perspektive einer „Neuschöpfung des Himmels und der Erde“ (Jes 65, 17; Off 21,1), um Elend und Leid zu überwinden. Gustavo Guiterrez hat in seiner 1975 erschienenen „Theologie der Befreiung“ sich nicht auf Bonhoeffers Gefängnisbriefe berufen, um diese Aufgabe zu untermauern. Er bezieht sich auf „Schöpfung und Fall“ von D. Bonhoeffer aus dem Jahr 1933. Er unter-

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streicht die Einheit der Schöpfung und der menschlichen Verantwortung für die ganze Schöpfung und die in ihr angelegte Menschheitsgeschichte. Mitten in dieser Weltlichkeit und Wirklichkeit ist das Evangelium verändernd präsent!. Geistesgegenwart, nicht theokratisches Denken sind die Voraussetzung. Welt und Geschichte verlaufen nicht fatalistisch, sie verlangen keine Schicksalsergebenheit. Dergleichen ließe für Gott nur einen mirakulös verstandenen Platz als Deus ex Machina41, oder an den Rändern der Wirklichkeit, wo ich – „intellektuell unredlich“ oder „pfäffisch“ menschliche Schwächen ausnutzend – „religiös landen“ könnte.42 Bonhoeffer sind zB jene Naturwissenschaftler äußerst suspekt, die in den unerforschten Lücken der Natur meinen Gott ansiedeln zu können. 7. Es kommt darauf an, dass das Ethos und die Nachfolge, das biblische Gesetz und die Lex Christi (Rö 7,12; Gal 6,2) auch neue Rechtsgestalt gewinnen. Das Recht ist das einzige Mittel, Konflikte unter der spannungsvollen Zielsetzung von Gerechtigkeit und Freiheit zu lösen. Militärische Gewalt hat sich angesichts ihrer zeitgenössischen Instrumente, von Folter und Terror bis zu Atom-, Bio- und Chemiewaffen, desavouiert. Die Notwendigkeit, menschliche, nationale oder soziale Konflikte zu regulieren oder gar zu lösen, wird es weiter geben – wie die Armen, an die Jesus seine Leute in Wiederholung der Tora (aus den Erlassjahrregeln 5.Mose 15, 4 und 11; Mt 26,11)) verweist. Sie gilt auch in messianischen Zeiten mit der realistischen und gebietenden Feststellung: „Arme soll (wird!) es bei dir nicht geben.“ Und: „Es wird immer Arme im Land geben.“ Anfänge einer Rechtsstellung für Arme, Waisen, Witwen und Fremde finden sich an vielen Stellen der Bibel (zB im sog. Heiligkeitsgesetz 2. Mose 20–23 oder Mt 5–7; Apg 6,1–6). Recht ist ein biblisches Thema, das in der protestantischen Tradition als Verwandte des „Gesetzes“ allzu oft in ein negatives Licht gerückt wurde. Helmut Simon sprach einst von der „rechtsfremd gewordenen Theologie.“43 Nötig ist das Recht als Völkerrecht, als Menschenrecht und als Sozialrecht. Das biblische Verständnis von Recht kennt, im Unterschied zum unveränderlichen „Gesetz der Meder und Perser“ eine immer wieder neu zu hörende, neu zu schreibende und neu zu lebende Tora, Weisungen und ein Recht, das lebt. Luther spricht vom „Schreiben neuer Dekaloge“. Bonhoeffer greift diesen Gedanken in seiner Ethik auf.44 Er benutzt die Formel einerseits gegen den nationalsozialistischen Missbrauch von Friedrich Nietzsches christentumskritischen Sätzen, wie z. B. „zerbrecht die alten Tafeln, der Übermensch erscheine“. Andererseits wendet er sich kritisch gegen ein christliches, „gesetzlich-philisterhaftes Mißverständnis des Gebotes der Nächstenliebe“, das dessen Dimension der Fernstenliebe, illustriert an einem rassistischen (sic!) Gerichtsurteil in den USA!, nicht wahr-

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nimmt. Bonhoeffer liegt alles daran, dass das Recht wie die Ethik dynamisch und lebendig bleibt. Es ist kein Zufall, dass er keine Dogmatik, sondern eine Ethik schreibt. Er gewinnt seine neuen, auch dogmatisch weiterführenden Einsichten, indem er sich mit der Heiligen Schrift und mit den sowie Herausforderungen der Gegenwart auseinandersetzt. Voraussetzung wie Folge sind ihm die „Freiheit eines Christenmenschen.“ In einem frühen Vortrag als Jugendsekretär des Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen spricht Bonhoeffer von diesem Weiterdenken und Weiterführen der biblischen Botschaft. Er geht von seinem in der Dissertation Sanctorum Communio vertretenen Kirchenverständnis aus: „Die Kirche ist die Gegenwart Christi auf Erden . . . ist der Christus praesens.“ „Die Kirche darf also keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn, was ‚immer‘ wahr ist, Ist gerade ‚heute‘ nicht wahr. Gott ist uns ‚immer‘ gerade ‚heute‘ Gott.“ Sehr traditionell sieht Bonhoeffer jüdische Gesetzlichkeit und Schwärmertum als Gegenpole, aber er bewahrt sich vor jeder Beliebigkeit durch die Bezugspunkte „tiefste Sachkenntnis der Welt“ und „Kenntnis der Sache in konkretester Weise des Wortes Gottes“. Evangelium und Gebot, z. B. im „Realisieren“ der Bergpredigt als „absoluter Norm unseres Handelns“. Er lehnt die damalige Rede von „Schöpfungsordungen“ ab (heute „Naturgesetzlichkeiten“?). Mit ihnen lässt sich alles rechtfertigen, zB auch Volk und Rasse als normative Größen. „Man braucht nur ein Daseiendes als Gottgeschaffenes auszugeben, und jedes Daseiende ist für die Ewigkeit gerechtfertigt, die Zerrissenheit der Menschheit in Völker, nationaler Kampf, der Krieg, die Klassengegensätze, die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken, die wirtschaftliche Konkurrenz auf Leben und Tod.“ Nein, es geht um „Erhaltungsordnungen“, die ihren Wert von der „neuen Schöpfung her“, also von Anfang und Vollendung der messianischen Zeit, vom Christus her gewinnen. Die Kirche hat zu prüfen, welche Erhaltungsordnungen „dem Evangelium den Weg offen zu halten vermögen“. Diese Prüfung an der Wirklichkeit der Neuen Schöpfung „kann die radikalste Zerstörung gerade um des einen Aufzubauenden willen“ sein. [. . .] Bekanntlich wird das winzige Gebot, den Sabbattag zu heiligen, weiter geführt in ein Sabbatjahr mit dem Recht der Natur auf eine Brache. Betriebswirtschaftliches Denken wird auch wie in der Weisung gebrochen, die Erstlingsfrucht gehöre Gott und den Armen. Sklavenbefreiung und Schuldenerlass werden aus dem Sabbatgeschenk an die Welt „entwickelt“, wenn der Kairos Neuauslegungen dessen verlangt, was einst zu den Alten gesagt war. (Was bedeutet das zB für den Tatbestand, dass westlichen Industrienationen und ihre Banken am Schuldendienst der „Entwicklungs“-

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länder verdienen?). Kann heute ein Sabbatical für beamtete Hochschullehrer die einzige „Anwendung“ eines schon biblisch sich entfaltenden Rechts-Ethos bleiben? Millionenfache Flüchtlingsströme des 20. Jahrhunderts „erwecken“ ein biblisches Recht auf „Kirchen“asyl, wie es in 4.Mose 35 oder in Ps 23 angesprochen ist. [. . .] 8. Die Arbeit der Kirche ist tendenziös, sie hat vorrangig die „Mühseligen und Beladenen“ (Mt 11,28) im Blick. Zwar ist sie für alle da, aber nicht für alles. Woher dieser Satz stammt, weiß ich nicht. Benutzt habe ich ihn öfter, auch einmal, um gegen einen geschlossenen Militärgottesdienst zu protestieren. Dann machte ich die Erfahrung, dass der Satz gebraucht wurde, um z. B. offene Jugendarbeit in der BRD oder in der DDR eine Friedens- und Umweltgruppe nicht „unter das Dach der Kirche“ zu lassen. Ein Satz gegen die Beliebigkeit und (Miss)Brauchbarkeit christlicher Normen und Symbole muss interpretiert werden. Er muss abgegrenzt werden gegen Zensur, Ketzereiverdacht oder gegen eine Normativität, die eine Gruppe in der Kirche gegenüber anderen beansprucht. In kirchlichen Gremien muss mehr gestritten werden, wofür die Kirche da ist und wofür sie nicht da ist. Die Suche nach Kriterien für menschengerechte und nicht nur sachgerechte oder trendige Prioritäten geschieht unter der Voraussetzung, dass sie „nur Kirche ist, wenn sie für andere da ist.“ Hilft Bonhoeffers Kriterium, das er gewissermaßen als Erläuterung zu einem Kernsatz der „Bilanz nach zehn Jahren“ schrieb: „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun, als auf das, was sie erleiden, anzusehen. Das einzig fruchtbare Verhältnis zu den Menschen – gerade zu den Schwachen – ist Liebe . . . Gott selbst hat die Menschen nicht verachtet, sondern ist Mensch geworden um der Menschen willen.“45 Bonhoeffer ging diesen Weg, zweifelnd und Gott vertrauend, als ein „freies Glaubenswagnis verantwortlicher Tat,“46 ein Weg gegen Tradition und Beruf, gegen moralische Dummheit und Angst. Er erläuterte diese Perspektive mit einer Skizze, die er schließlich doch aus der „Bilanz nach zehn Jahren“ herausnahm: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben.“47 9. Das Ende des konstantinischen Zeitalters kommt nicht als Entwicklung; Das Ende muss begründet und gewollt herbeigeführt werden. Die Kirche hat einen eigenen Part zu spielen und nicht nur Geschehendes nach zu vollziehen.

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Bonhoeffer hatte 1943 („Nach zehn Jahren“) resümiert: „Nun gibt es gewiß kein geschichtlich bedeutsames Handeln, das nicht immer wieder einmal die Grenzen dieser Gesetze überschreitet.“ Er betont ihre „ganz kurze, einmalige, im Einzelfall notwendige Überschreitung“, die sich die „Gesetze gefallen lassen.“48 Bonhoeffer lehnt damit jede Setzung „eigenen Rechts“ sowie die Aufrichtung neuer Prinzipien ab. Traditionelle Abgrenzungen zwischen Staat und Kirchen sind zu überprüfen. Der dänische Pastor (einer Staatskirche!) Kai Munk riskiert solche Schritte und predigt im selben Jahr zum Verhältnis Staat und Kirche: „Wenn man hier im Lande mit der Verfolgung einer gewissen Gruppe unserer Landsleute anfängt, nur um ihrer Abstammung willen, dann ist es christliche Pflicht der Kirche zu rufen; Das ist gegen das Grundgesetz im Reiche Christi . . . dann wollen wir mit Gottes Hilfe versuchen das Volk zum Aufruhr zu bringen.“49 1944 wurde er von deutschen Besatzungssoldaten ermordet. Er hatte eingeschliffene Grenzen bewusst überschritten. Er hatte das Grundmuster nachkonstantinischer Wirkungsgeschichte, die Zwei-Reiche-Lehre, erläutert: „Es ist uns Christen zur Pflicht gemacht worden, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und wir haben dem Befehl gehorcht; wir waren die gesetzestreuesten Bürger des Staates . . . bis wir siegten . . . Wenn er von uns verlangte, dass wir schwarz als weiß, Tyrannei als Freiheit, Lüge als Wahrheit, Übergriff und Gewalt als Gerechtigkeit bezeichnen sollten, so antworteten wir ihm: es steht geschrieben: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!. . . Die Wahrheit ist nicht ruhig und würdevoll und erhaben; sie beißt, reibt und schlägt drein. Die Wahrheit ist nichts für vorsichtige Menschen, die brauchen nicht die Wahrheit, sondern ein Sofa.“50 [. . .]

Warum ist das „Sich-in-der-Welt einrichten“ und „In-den-Himmel kommen-wollen“ ein falsches, weil Begegnung und Verantwortung scheuender Weg? Gehört der bildkräftige Wunsch, „in den Himmel zu kommen“ nicht zur biblischen Botschaft, verdichtet in vielen Liedern und Gebeten? Ist der Glauben nicht ein seliges, Gott wohlgefälliges und ganzheitlich hingegebenes Leben (Rö 12,1f.) wozu ein seliges Sterben in der Hoffnung auf einen „neuen Himmel und eine neue Erde“ gehören? Warum bleibt von Luther bei so vielen ZeitgenossInnen als seine zentrale reformatorische Frage im Gedächtnis: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Schrumpfte sie nicht häufig zu einem heilsegoistischen Verständnis? Hat sie nicht auch ihre säkularen Varianten inspiriert, das Ego in den Mittelpunkt zu stellen? Die Frage, was denn ein gnädiger Gott mit und durch seine Ebenbilder in gnadenlosen Verhältnissen tut, gerät schnell an den Rand des Interesses. [. . .]

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Für Bonhoeffers Kontext im nationalsozialistischen Deutschland war die weltweite Ökumene wichtig, weil er dort Themen und Praxis lebendig erfährt, die helfen, die deutsche Kirchenprovinz zu klären und zu bereichern. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Pazifismus und verbindliche Nachfolge, Verantwortung für Freiheit und Wahrheit. Wirft das nicht die Frage auf, warum evangelikale, spiritualistische, charismatische oder pfingstlerische Gemeinden einen starken Zulauf haben? Wird man, in einem Teil von ihnen, mit Weltproblemen möglichst wenig belästigt? Gedeihen angesichts immer komplexerer Interdependenzen und der globalen Dominanz des Ökonomischen private Religiositäten besser als nicht weltflüchtige? Diese muss sich z. B. mit den Konflikten in Jugoslawien, im Nahen Osten oder in Ruanda befassen, die alle mit unterschiedlichen religiösen Komponenten aufgeladen sind. Die Wahrheitsfrage wird konkret und praktisch. Verschärfen Religionen Spannungen oder helfen sie, sie zu überwinden? Die drei gennannten Regionen legen eine positive Antwort nicht nahe, wie das Beispiel Ruanda und Burundi, fast völlig christianisierte Länder, zeigt. Die sehr ökumenisch unterstützte Überwindung des Apartheidstaates Südafrika, die nicht überwundene ungerechte Macht- und Brotverteilung auf dem einen Globus machen deutlich, dass Christen und Kirchen auf beiden Seiten der Auseinandersetzungen stehen. [. . .] 10. Zur Beendigung des „Konstantinischen“ Zeitalters der Kirchen gehört auch, die im „Entwurf einer Arbeit“ vorgeschlagenen Schritte in den Gemeinden zu diskutieren und sie dem Härtetest der Realisierung zu unterziehen. Gilt von der Kirche, was oft von der Universität gesagt wird, sie sei unfähig zur Selbstreform? Wenn die Kirche der in Christus präsente Wille Gottes ist, müssen dann die Versammlungen und Beratungen in Synoden, Kirchenvorständen und Gemeinden nicht debattierend zu den Quellen und zu den Konsequenzen des christlichen Glaubens führen? Ohne Angst vor Veränderungen? Gehört zu dem vergessenen biblischen Erbe nicht auch der Befund, dass aus den vielen Büchern der Bibel auch zu lernen ist, was die Gemeinde hinter sich zu lassen und was sie neu zu wagen hat? Gehört dazu nicht auch eine rabbinische Praxis, die streitbar die eigene Tradition ständig neu auslegt? Gab es nicht dergleichen in dem ebenfalls streitbaren, konziliaren Debatten der Kirchenväter und verschiedenen christlichen Strömungen, bis ab Konstantin die Einheit des Imperium Romanum auch eine einheitliche Religion verlangte? Dann fiel jener kirchlichen Partei „der Sieg zu“, die sich „der kaiserlichen Gunst zu versichern wußte.“ Christliche Ketzer und Juden hatten keinen Platz in der vertikal strukturier-

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ten Einheitskirche. Ihre Sprache und Bekenntnisse wurden je machtgestützter desto ärmer und exklusiver. Die damit verbundene „doppelte Moral“ lehnt Bonhoeffer ab, denn sie fordere im Gegensatz zur gemeindlichen Binnenethik der Liebe „in der Welt die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, des Eigentums, der Ehre, vom Christen aber den Verzicht auf dies alles, in der Welt müsse Vergeltung und Gewalt, bei den Christen aber Vergebung und Unrechtleiden geübt werden.“ Nein, „das ganze Gesetz und das ganze Evangelium Gottes gehört in gleicher Weise allen Menschen.“51 Gott will geehrt werden im Tun des Gesetzes und im Leben des Evangeliums. Bonhoeffer bezieht sich auch auf seine eigene amerikanische Erfahrung eines demokratischen Staates und der „Civil Rights – Movement“. Erneut vermittelt hatte sie sein Freund Paul Lehmann, der ihn 1933 in Berlin besuchte. Bonhoeffer meinte damals, so etwas brauchen wir in Deutschland. [. . .] Vor diesem breiten Hintergrund kommt es zu seinem „Entwurf einer Arbeit“52. In den letzten Monaten seiner Haft macht Bonhoeffer konkrete Vorschläge. Sie setzen Stacheln in Denken und Glauben, Strukturen und Praxis der Gemeinden und Kirchen: (a) Alles Eigentum der Kirche sei den Notleidenden zu schenken. In der Vorbereitung des Referats schrieb ich Kirchenleitungen zu diesem Vorschlag an. Die einzige Antwort, die ich bekam, verweist auf die Transparenz kirchlicher Haushalte und ihre öffentliche Behandlung in den Synoden. Zugleich mahnt man zur Vorsicht, über den Immobilienbesitz Auskunft zu geben. Machen viele Immobilien eine reiche Kirche immobil? (b) Pfarrer müssten ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinde oder im weltlichen Beruf leben. Ich frage: Könnte dann nicht eine Situation entstehen wie in manchen us-amerikanischen Gemeinden, wo das Wort des stärksten Sponsors unter Umständen ein stärkeres Gewicht bekommt als das der „Witwe mit ihrem Scherflein“ (Mk 12,42)? [. . .] Innerkirchliche Gerechtigkeit für alle kirchlichen Mitarbeiter und Gemeinden ist nur durch eine zentrale Ausgleichskasse zu sichern. Wie werden sonst reiche Pfründen und arme Gemeinden verhindert? Wie abhängig machen staatliche Zuwendungen die Kirchen? Dankenswerterweise hat der Dietrich-Bonhoeffer-Verein die Diskussion um die Idee einer Sozial- und Kultursteuer (ähnlich wie in Italien) anstelle der Kirchensteuer erneut angestoßen (c) Ein Hauptvorschlag fordert, teilzunehmen an den „weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ Er selbst kehrt aus den USA 1939 zurück nach Deutschland, um an dessen Schicksal aktiv und solidarisch „teilzunehmen.“ Viele Entscheidungen Bonhoeffers zeigen seine Teilhabe am öffentlichen Leben in Kirche und Gesellschaft – bis hin zum Widerstand.

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Kontrastiere ich seinen Vorschlag mit der Tagesordnung vieler Kirchenvorstände und Pfarrkonvente, dann verlangen dort Geld- und Bauprojekte, Mitarbeiterbeziehungen und schwierige Jugendarbeit sehr viel Zeit. Karl Barth schlug nach der Teilnahme an seiner ersten Landessynode vor, den Gottesdienst ausfallen zu lassen, er sei doch nur eine Präambel, alle warteten auf die Haushaltsberatung.53 [. . .] (d) Menschen aller Berufe wäre zu sagen, was ein Leben mit Christus, was ein „Für-andere-dasein“ bedeutet. Das ist eine Gegenposition zu vielen gängigen Berufsethiken. Sie fragen oft nur, wie Menschenführung oder reibungslose Kooperation gelingen, wie Betriebsklima oder Umsatz verbessert werden können. Das alles ist wichtig. Aber reicht es aus? Wenn eine Kirche nur Kirche ist, wenn sie „für andere da ist“, wie Bonhoeffer schreibt, dann gehört zu ihrem Verantwortungs- und Bewährungsraum auch die Mitwelt, in der sie lebt. (e) Bonhoeffer beobachtet im „Dritten Reich“ weithin normensetzende Verhaltensweisen, die er kritisiert: „Die Laster der Hybris, der Anbetung der Kraft, des Neides, des Illusionismus“. Er trifft mit diesen altmodischen Vokabeln genau die herrschenden Einstellungen einer rassistisch-völkischen Überlegenheit, der Bejahung militärischer Gewalt und Expansion, einen von Neid und Konkurrenz gesteuerten Karrierismus sowie eine ethische (nicht intellektuelle) „Dummheit.“ Diese macht sich über die wahre Lage etwas vor. „Die Macht der einen braucht die Dummheit der andern“, hatte er ein Jahr vorher geschrieben.54 Er verlangt von einer aus dem mainstream „herausgerufenen Kirche“, Alternativen zu denken und zu leben. Dann gewinnt niemand sein Selbstwertgefühl in Überlegenheitsgefühlen gegenüber anderen Kulturen, an der medialen Prominenz anderer oder in einer Realitätswahrnehmung, die sich Illusionen macht statt Gedanken. Bonhoeffer spricht dem christlichen Glauben, wird er gelebt, ein Aufklärungs- und Wirkungspotential in weltlicher Sprache zu. So wie Albert Schweitzer es mit seinen Kernsätzen von der Heiligkeit des Lebens tat: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will“ oder „Ehrfurcht vor dem Leben“ [. . .] (f) Für die Wirklichkeit, in der wir handelnd glauben und glaubend handeln sollen, lädt Bonhoeffer ein, den Gedanken des Vorbilds neu zu entdecken. Es ist „hat in der Menschheit Jesu seinen Ursprung.“ Exemplarisch nennt er „Tugenden“, die an Jesus auszurichten und zu leben sind: „Maß. Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Bescheidenheit, Genügsamkeit.“ Sie in evangelischer Freiheit und heutigen Sprach- und Lebensformen auszuprobieren, könnte Bonhoeffer zukunftsfähig antworten. Er hatte gehofft, „für die Zukunft der Kirche einen Dienst zu tun.“

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7.4 Reform der Kirchenfinanzierung Das „3 Säulen-Modell“: Von der anonym eingezogenen staatlichen Kirchensteuer hin zur persönlich verantworteten direkten Gemeindesteuer DIETRICH-BONHOFFER-VEREIN55

1. Dietrich Bonhoeffer: Kirchenreform und Kirchensteuer Dietrich Bonhoeffer hat sich während seines ganzen theologischen Schaffens von 1927 bis 1944 stets kritisch mit der Organisation der in seiner Zeit real existierenden Volkskirche beschäftigt. Im Laufe seines Lebens wurde seine kritische Distanz zu dem Gebaren der Institution Kirche immer stärker. Sabine Bobert (siehe hier unter 7.2) und andere haben das in den letzten Jahren zur Genüge belegt. Bonhoeffers Grundaussage zum „Wesen der Kirche“56 aus seiner frühen Dissertation (1927) „Christus als Gemeinde existierend“ waren bestimmend dafür, Kirche stets streng christologisch zu denken57 und am Leben und der Verkündigung Christi selbst zu messen. Das führte dazu, dass er an der verfassten Kirche (nicht nur wegen ihres Verhaltens im Nationalsozialisten, sondern auch wegen ihrer ekklesiologischen Selbstbegründung, das gilt am Ende auch für die Bekennende Kirche) immer mehr irre wurde und ein neues streng an Christus orientiertes Kirchenmodell propagierte. Im berühmten „Entwurf einer Arbeit“ (vgl. oben unter 7.1) ist es stichpunktartig und „sehr roh“, wie Bonhoeffer selbst sagt, ausgeführt. Dieses Modell [Stichworte: „alles Eigentum den Notleidenden schenken . . . Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben . . . Lastern [wie] . . . der Anbetung der Kraft . . . entgegentreten . . . Demut, Bescheidenheit, Genügsamkeit . . . menschliches Vorbild (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat)]“58 hat natürlich auch, wenn man es ernst nimmt, Konsequenzen für das konkrete Leben und die Organisation der Kirche bis hinein in die ganz praktischen Fragen der Kirchenfinanzierung, also das gegenwärtige Finanzgebaren der Kirche in der staatlich eingezogenen anonymen Kirchensteuer. Bereits in seiner Dissertation 1927 hat sich Bonhoeffer beiläufig zu diesem Thema geäußert, wenn er in einem Nebengedanken (das Thema ‚Kirchensteuer‘ ist natürlich nicht Thema und Anliegen seiner Dissertation) sagt: „Die kirchliche Gemeinde muß sich selbst erhalten und zahlt darum ihre Steuern, wie in einer Familie jeder zur Erhaltung der Gemeinschaft beisteuert. Alles rechtlich Geregelte ist aus dem Willen der Gemeinschaft

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selbst entsprungen und dient dazu, das Leben derselben zu ermöglichen. Daß staatlich zwangsmäßige Eintreibung von Steuern ein Missstand ist, ist wohl unzweifelhaft“59. Zwar wird hier nicht direkt von „Kirchen“Steuern geredet, aber das ergibt sich aus dem Zusammenhang von selbst. Denn Bonhoeffer insistiert darauf, dass die Kirche als „Gemeinschaft“ (anders als eine „Gesellschaft“, diese beiden Begriffe unterscheidet er scharf) für ihre Belange – eben wie eine Familie – alleine und vor allem selbst zuständig ist. Sie kann es auch nicht administrativ auf andere (z. B. den Staat) delegieren. Das ergibt sich aus dem „communio“-Gedanken der Kirche und dem alles umfassenden Grundsatz: „Christus als Gemeinde existierend“60. Wenn wir diesen Grundsatz Bonhoeffers heute noch ernst nehmen wollen, können wir nicht anders, als uns auf eine innerkirchliche theologische Begründung und eben auch innerkirchliche Praxis des „Finanzwesens der Kirchen“ neu zu besinnen, so wie es Bonhoeffer in seinem Taufbrief für Dietrich Bethge am Ende seines Lebens immerhin indirekt angedeutet hat. „Alles [!] Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.“61 Ein rein pragmatisches vom Staat geduldetes oder gar gefördertes Verfahren des Kirchensteuereinzuges, so wie es bis jetzt geschieht, ohne innerkirchliche theologische Begründung und Ausübung bleibt hinter den Forderungen Bonhoeffers zurück.

2. Thesen zur theologischen Begründung einer neuen Kirchenfinanzierung Daher hat es sich der Dietrich-Bonhoeffer-Verein zum Ziel gesetzt, ein neues theologisch wohl begründetes Verfahren der Kirchenfinanzierung im Sinne Dietrich Bonhoeffers vorzuschlagen. Seit über 15 Jahren arbeitet der Verein in vielen Arbeitsgruppen, Expertengesprächen und auf unterschiedlichsten Diskussions-Foren und Tagungen daran. Er hat ein sogenanntes „3-SäulenModell“ der Kirchenfinanzierung entwickelt, das sich von dem staatlich organisierten anonymen Kirchensteuereinzug mittelfristig abkoppelt und zu einem persönlich verantworteten, nicht mehr anonymisierten ortsgebundenen verpflichtenden Gemeindebeitrag („Kirchengemeindesteuer“) übergeht, der in der Höhe der bisherigen Kirchensteuer entspricht. Er hat sich dabei von folgenden theologischen und pragmatischen Gesichtspunkten leiten lassen. Sie können an dieser Stelle nur thesenartig genannt werden, sind aber in den vielfältigen Veröffentlichungen des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins ausführlich theologisch und pragmatisch (das bisherige Kirchensteuereinzugsverfahren betreffend) erläutert worden.62

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2.1 Die Kirche ist ohne Geld entstanden. Die Frage nach der Kirchenfinanzierung ist ein sekundärer Akt. Die finanzielle Unterstützung der Kirche ist vom Ansatz her freiwillig. Es gilt zunächst, sich daran zu erinnern und grundsätzlich zu konstatieren: „Die Kirche ist ohne Geld entstanden“. Jesu Verkündigung war frei von jedem auch nur fernen wirtschaftlichen (finanziellen) Interesse. Das ist unstrittig. Dass in der „Jesusgemeinschaft“ Judas (in der erinnernden Wahrnehmung der frühesten Zeugen) als „Verwalter des Geldes“ eingesetzt war bzw. sich selbst dazu erklärte und vor Verschleuderung des Geldes im sozialdiakonischen Dienst warnte (Joh 12,5), kann nur als Hinweis darauf verstanden werden, dass finanzielle Optionen natürlich in jeder Gemeinschaft eine Rolle spielen und sich darin –wie die Praxis von Anfang an bis heute zeigt – auch schnell die Geister scheiden. Dennoch – oder auch gerade deswegen – ist das Geld in der Verkündigung Jesu nicht nur ein „sekundärer Aspekt“, sondern spielt überhaupt keine Rolle. Erst mit der Entstehung der „Jüngergemeinschaft“ nach Jesu Tod und Auferstehung werden finanzielle Überlegungen zum mindesten zu einem „sekundären Aspekt“ der Verkündigungspraxis. Bekannt ist die sogenannte „urkommunistische“ Option der „Gütergemeinschaft“ aller Gläubigen. (vgl. Apg. 2,44f.) Diese war jedoch – das zeigt die realistische Schilderung anstehender Probleme, wenn es um das „Finanzielle“ geht – nicht konsequent also „lupenrein“ durchzuhalten, wie die nüchterne Konstatierung des Abweichens vom urkommunistischen Ideal durch Ananias und Saphira zeigen, die einen Teil ihrer finanziellen Güter nicht in die „Gemeinschaftskasse“ einbringen, sondern für sich zurück halten. (Apg. 5,1–11). Auch die Überlegungen des Apostels Paulus stehen ganz in dieser Tradition. Einerseits ist deutlich, dass Paulus natürlich – in der konsequenten Nachfolge Jesu – seinen Verkündigungsdienst „umsonst“ tut (1.Kor. 9,15– 16), als freien und freiwilligen Dienst am Evangelium, das ist unbestritten, andererseits jedoch spielt der im Grundsatz „sekundäre Aspekt“ der Finanzen natürlich auch bei Paulus eine Rolle. Das zeigt sich bei der angemahnten „Kollekte für Jerusalem“ (2.Kor 8) und dem Eingeständnis, man solle „dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden“ (1.Kor. 9,9), konkret also: „So hat der Herr befohlen, dass die, die das Evangelium verkündigen, sich vom Evangelium nähren sollen“ (1.Kor 9,14). Finanzielle Optionen halten also – so jedenfalls sieht es Paulus, auch wenn alles ‚nur‘ ein „sekundärer Aspekt“ der Verkündigung ist – in der Kirche Einzug. Für sich selbst aber hält Paulus fest: „Ich aber habe von alledem keinen Gebrauch gemacht . . . Was ist denn mein Lohn? Dass ich das Evangelium predige ohne Entgelt“ (1.Kor. 9,15.18).

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Das alles heißt konkret: Ursprünglich und vom Grundsatz her ist „die finanzielle Unterstützung der Kirche freiwillig“. Damit ist das Problem des „Geldes“ (der „Finanzen“) in der Kirche gestellt, vom Grundsatz her allenfalls ein „sekundärer Aspekt“, de facto jedoch von allerhöchster Brisanz und Dringlichkeit. Wir halten zunächst also fest: Natürlich ist „die Kirche ohne Geld entstanden“. Natürlich ist „die Frage der Kirchenfinanzierung ein sekundärer Aspekt“. Und natürlich „ist die Unterstützung der Kirche vom Ansatz her freiwillig“. Natürlich ist es so. Daran ist grundsätzlich nicht nur zu erinnern, sondern das ist vom Grundsatz her auch heute noch, immer noch und immer wieder, festzuhalten. Ohne diesen Grundsatz existiert Kirche in der Nachfolge Jesu nicht, kann nicht existieren, hat keine Zukunft. Und doch: Der vom Grundsatz her allenfalls „sekundäre Aspekt“, in der Praxis jedoch ganz dominierende Aspekt der Finanzierung des realen Kirchenwesens ist als „sekundäres Problem“ von entscheidender Wichtigkeit für den Fortbestand unserer real existierenden Kirche. Dass es so ist, hat wesentlich auch mit der gegenwärtigen Praxis der Kirchenfinanzierung zu tun, die zu ändern bzw. reformieren unser Anliegen ist. In diesem ganz und gar „sekundären Aspekt“ des Wesens unserer Kirche, in der Praxis aber höchst „brisanten Aspekt“ der realen Kirchengestalt, wissen wir uns verbunden mit Dietrich Bonhoeffer, der auf das Problem der Kirchenfinanzierung von Anfang an seiner kirchlichen Tätigkeit aufmerksam gemacht hat.

2.2 Die Ordnung der Kirche (dazu gehört ihr Finanzwesen) darf nicht den Verkündigungsinhalten ihres Predigens widersprechen. Denn „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern [und Schwestern], in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Hl. Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit der Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadeten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte“. (These 3 der Barmer Theologischen Erklärung) Was in Barmen theologisch von „Botschaft“ und organisatorisch von „Ordnung“ der Kirche gesagt wird, in der Terminologie Bonhoeffers63 vom „Evangelium“ und vom „Gesetz“ der Kirche, deckt sich ganz mit Bonhoeffers eigenen Einsichten vom Auftrag der Kirche. Das „Gesetz“ (die Ordnun-

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gen) der Kirche muss sich am zu verkündigenden „Evangelium“ (der Botschaft) der Kirche messen lassen. Dieses Evangelium (die Botschaft) ist der Kirche nicht zuhanden, sondern vorgegeben und aufgegeben. Das „Gesetz“ (die Ordnungen) der Kirche dagegen steht in ihrer eigenen weltlichen Verwirklichungsmacht. Diese „Macht“ evangeliumsgemäß zu gestalten, bedeutet unter Umständen auch: auf Macht und Einfluss und „Selbsterhaltung als Selbstzweck“64 im „Gehorsam“ (Barmen 3) auf den Willen Christi zu verzichten65 und ihre Selbsterhaltung/Selbstversorgung nicht abhängig zu machen von innerweltlichen Gesetzlichkeiten des Marktes. Das betrifft dann insbesondere konkret eine Kirchenfinanzierung (gegenwärtiges Kirchensteuersystem), das sich abhängig macht von staatlichen Organen, indem nicht nur der Einzug der Kirchensteuer an den Staat delegiert wird, sondern darüber hinaus auch die Frage der Mitgliedschaft bzw. des Austritts aus der verfassten Kirche als Kirche des öffentlichen Rechts (KöR) staatlich organisiert wird, wie die Praxis in vielen Fällen zeigt.66 Dadurch gibt die Kirche – willentlich oder auch unwillentlich und gedankenlos – auch ihre „Botschaft“ (Evangelium) in die Hände des Staates. Denn der Austritt aus der Kirche – nach dem Selbstverständnis kirchlicher Organe nicht nur ein Rechtsakt, sondern auch ein Glaubensakt67 – wird vor staatlichen Organen vollzogen und ist kirchlicher Begleitung (seelsorgerlicher Beratung) entzogen. Im Sinne Bonhoeffers: Das „Evangelium“ wird hier vom „Gesetz“ dominiert. Der Grund für diese widersinnige Gemengelage im gegenwärtigen staatlich organisierten Kirchensteuereinzugsverfahren und Kirchenaustrittsverfahren liegt nicht zuletzt in einem theologisch unklaren „Mitgliedschaftsrecht“ der Kirche als KöR, bei dem „Kirchenbeitritt“ zu Unrecht unmittelbar mit dem sakramentalen Akt der Taufe verbunden ist. Daher unsere nächste These:

2.3 Taufe bedeutet Eingliederung in den Leib Jesu Christi als Gemeinschaft der Gläubigen in Gemeinde und Kirche. Daher ist für uns die Unterscheidung von Taufe und Zugehörigkeit zu einer Kirche und Gemeinde als Körperschaft öffentlichen Rechtes (KöR) von besonderer Bedeutung. Der Eintritt in diese Körperschaft des öffentlichen Rechts mit den entsprechenden Rechtsfolgen im staatlichen Bereich soll künftig nur durch eine Willenserklärung nach erreichter Religionsmündigkeit möglich sein. Dass die Taufe als „Eingliederung in den Leib Christi als Gemeinschaft aller Gläubigen“ von der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Gemeinde streng zu unterscheiden ist, ist inzwischen unstrittig und wird

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sowohl in der katholischen wie der evangelischen Kirche offiziell und öffentlich unterstrichen.68 Es ist dabei zu unterscheiden zwischen der durch die Taufe erworbenen „Gliedschaft“ (nicht Mitgliedschaft) in der einen und unteilbaren Kirche (Gemeinde) Jesu Christi, die einen „character indivibilis“ (ein „unauslöschliches Siegel“) hat, also auch durch etwaigen Kirchenaustritt nicht verloren gehen kann, und der organisierten „Mitgliedschaft“ in einer verfassten Kirche, die zeitlich und räumlich begrenzt ist.69 Dass diese „Mit-Gliedschaft“ faktisch in allen Kirchen mit dem Taufsakrament verbunden ist, dass also „Gliedschaft“ am Leibe Jesu Christi (ein Sakrament!) und „Mit-Gliedschaft“ in einer verfassten Kirche als KöR faktisch zusammen fällt, ist theologisch nicht zu begründen und ekklesiologisch nicht verantwortbar. Dagegen schlagen wir theologisch wohl begründet vor: a. Taufe als (sakramentales) „geistliches Geschehen“ und „Eintritt/Austritt in/aus eine/r ortsgebundenen verfasste/n Kirche als KöR“ sind zwei klar voneinander zu trennende Akte. Das Erste ist zwar Voraussetzug des Zweiten, aber das Zweite ist nicht zwingende Folge des Ersten. b. Ich taufe im Namen „Gottes, des Vaters, des Sohnes, des Hl. Geistes“, aber nicht im Namen irgendeiner (Teil-)Kirche, weder der evangelischen noch der katholischen Kirche. c. Es gibt keine „evangelische“ oder „katholische“ Taufe, sondern nur die eine Taufe im Namen des dreieinigen Gottes, die von allen (Teil-)Kirchen auch gegenseitig anerkannt wird. Das bedeutet: die Taufe als Sakrament bindet den Getauften bewusst an den universalen Leib Jesu Christ, an diesen allein, sowohl „ortlos“ wie „allörtlich (Bonhoeffer) und eben nicht an „bevorzugte Orte“ (Bonhoeffer) einer (Teil-)Kirche als sichtbarer Institution. d. Mein Taufbegehren ist in diesem Sinne nicht automatisch ein Kirchenbegehren. e. Das „Kirchenbegehren“ (Eintritt in eine rechtlich verfasste Kirche als KöR) ist ein bewusst vollzogener eigenständiger und von der Taufe getrennter Willensakt des Getauften und kann im Regelfall ab der rechtlichen Religionsmündigkeit (14. Lebensjahr) vollzogen werden. Dieser Willensakt begründet nicht die „Christlichkeit“ des Lebens, sondern lediglich die Mit-Gliedschaft in der verfassten Kirche als KöR.

2.4 Ziel unserer Neuordnung der Kirchenfinanzierung: Von einem anonym vor staatlichen Organen wahrgenommenen pauschalen Kirchensteuereinzug hin zu einer persönlich verantworteten Orts-Gemeindesteuer (Gemeinde-

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beitrag), der in der Höhe der bisherigen Kirchensteuer entspricht, so dass die Kirche ihre sozialen, diakonischen, seelsorgerlichen und kerygmatischen Aufgaben weiter wie bisher erfüllen kann. Der staatlich organisierte Kirchensteuereinzug ist weitgehend anonym. Kirchenverwaltungsbeamte sprechen hier von einem „leisen System“, weil im Normalfall der Kirchensteuerzahler gar nicht merkt, bzw. nur auf dem Gehaltszettel anonym verfolgen kann, wie viel Kirchensteuer ihm von seinem Gehalt abgezogen werden. „Das ist auch gut so, denn wenn er sich dessen erst mal bewusst ist, fängt er an, darüber nachzudenken“ heißt es fast zynisch. Die Anonymität zeigt sich auch darin, dass die Kirchensteuer natürlich nicht der jeweils eigenen Ortsgemeinde zugute kommt, sondern zunächst in den „großen Topf“ einer Landeskirche wandert und von dort nach administrativen Gesichtspunkten „gerecht“, wie es heißt, verteilt wird. Ich habe als Kirchensteuerzahler keinen Einfluss darauf, wie meine Steuer wem in welcher Weise zugute kommt. Es bleibt alles in einer anonymen Grauzone, auch wenn Kirchenleitungen statistisches Material zur Verteilung der Kirchensteuer verteilen. Eine persönlich verantwortete Orts-Gemeindesteuer (Gemeindebeitrag) dagegen geht davon aus, dass jedes Kirchenmitglied in Anlehnung an den bisherigen Kirchensteuerhebesatz (8 bzw. 9% der Einkommenssteuer) direkt an die jeweilige Ortsgemeinde bzw. die Gemeinde, der er sich zugehörig fühlt, zahlt. In der Praxis entstehen dabei keine höheren Verwaltungskosten. Der jeweiligen Ortsgemeinde ist es aufgegeben, nach einem noch zu vereinbarenden Schlüssel mit der Gesamtkirche einen Teil (30% oder 50% oder mehr oder weniger) an die Gesamtkirche abzutreten, damit sie ihren Verpflichtungen nachkommen kann. Die Gemeindebindung und die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen für seine gezahlte Ortsgemeindesteuer würde dadurch nicht nur gesteigert, sondern aus ihrer Anonymität herausgeholt und für alle Beteiligte durchsichtiger gemacht.70

2.5 Die vom Dietrich Bonhoeffer Verein im Folgenden (unter 3.) vorgestellte neue Form der Kirchenfinanzierung soll ein gesundes, solides und stabiles Fundament bilden, so dass die Basis für die soziale Arbeit und personelle Ausstattung der Kirchen auch in Zukunft gegeben ist. – Wir sind uns dabei bewusst, dass die Neugestaltung der Kirchenfinanzierung nicht kurzfristig zu verwirklichen ist, sondern einen langen Prozess der Umgestaltung und des Mentalitätswechsels beanspruchen wird.

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Dass das „3-Säulen-Modell“ nicht kurzfristig zu verwirklichen ist, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, obwohl es in der Praxis gar nicht so selbstverständlich ist. Viele Initiativen für eine „Kirchenreform“ sind zu ungeduldig und wollen aus ihren grundsätzlichen Einsichten heraus einen allzu schnellen Wechsel gewohnter, pragmatisch durchaus bewährter kirchlicher Verhaltensweisen erzwingen. Das ruft – pragmatisch durchaus nachvollziehbar – einen kaum bewussten Reflex Abwehrmechanismen hervor, denn das Beharrungsvermögen des bisher Bewährten und ‚Erfolgreichen‘ (was die pragmatische Realisierbarkeit anbetrifft) scheint unerschütterlich zu sein. Die Akzeptanz einer staatlich wie selbstverständlich eingezogenen Kirchensteuer als „leises System“ ist bei vielen Bevölkerungsschichten zwar durchaus noch vorhanden und wird – wenn auch oft widerwillig und mit unausgesprochenem Protest – noch geduldig ertragen. Hier einen Mentalitätswechsel zu erzeugen, braucht Zeit und vor allem Überzeugungsarbeit. „Das alles mit der Kirchensteuer ist zwar irgendwie diffus, aber es funktioniert ja. Und wir haben es immer schon so gehalten. Die Kirche braucht doch mein Geld, um weiter ihre Arbeit tun zu können“, ist von gutwilligen und auch weniger gutwilligen Menschen zu hören. Und diejenigen, die dagegen aufbegehren, sogar gute theologische Gründe dafür anführen, werden schnell zu „Eiferern“ und „notorischen Kirchenkritiker“ erklärt. Einen Mentalitätswandel zu erzeugen, gerade auch in einer so schwerfälligen, traditionsbeladenen Institution wie der Kirche, braucht Zeit und vor allem viel Geduld. Unser „3-Säulen-Modell“ ist daher ein Kompromisspapier, das die Sichtweise und den finanziellen Erhaltungswillen der real existierenden Kirchen durchaus ernst nimmt. Das zeigt sich z. B. darin, dass wir bei der 2. Säule „verpflichtende Gemeindebeträge“ ein 2-Stufen-Modell vorschlagen (1. zunächst Wahlalternativen zwischen traditioneller Kirchensteuer und Gemeindebeitrag und 2. verbindlicher Gemeindebeitrag für alle Kirchenmitglieder). Wir verstehen also unser „3-Säulen-Modell“ als ein zwar theologisch gut und konsequent begründetes, darin vor allem auch das Anliegen Bonhoeffers aufgreifend, die „eine Gemeinde Jesu Christi“ sichtbare Gestalt werden zu lassen, aber auch als ein durchaus pragmatisches Modell, das dem gegenwärtigen Ist-Zustand unserer verfassten Kirchen in der Koppelung mit staatlich sanktionierten Regelungen entgegenkommt und weiter entwickelt. Wir wünschen uns, dass wir mir kirchenleitenden Gremien gemeinsam geduldig an einer neuen Finanzstruktur der Kirche(n) zusammen arbeiten, die den Bestand der Kirchen nicht gefährden, sondern diese auf eine solide, vor allem aber auch glaubwürdige und theologisch

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wohl begründete, darin für alle Menschen nachvollziehbare Grundlage stellen. Für eine Kirchensteuer als einen „verpflichtenden Gemeindebeitrag“ (in welcher Form auch immer) ist allein die Kirche selbst zuständig, eine verordnete „Eintreibung durch den Staat“ ist – um Bonhoeffers Anfangsvotum noch einmal zu zitieren – „unzweifelhaft ein Misstand“71.

3. Das „3-Säulen-Modell“ im schnellen Überblick 1. Säule: Kollekten, Spenden und unentgeltliche bzw. ehrenamtliche Leistungen (freiwillige Gaben)

2. Säule: 3. Säule: Gemeindebeiträge Bürgergutscheine (verpflichtende Beiträge) (aus Bürgerhaushalt)

Freiwillige Gaben sind die ursprüngliche Form der Kirchenfinanzierung. Die Kirchen sind als Empfänger dieser uneigennützigen Zuwendungen zu transparenter Einwerbung, Verwaltung und Verwendung verpflichtet. Dadurch erhöht sich die Gebebereitschaft. Es gibt viele Möglichkeiten für freiwillige Gaben, z. B.:

Es gibt Kritik an dem Kirchensteuersystem. Eine Überarbeitung der Kirchenfinanzierung (bisher Kirchensteuer) ist angesagt.

Eine dritte Säule gibt es bisher nicht. Sie ist ein neuer Vorschlag. Der Vorschlag „Bürgergutscheine“ besagt:

Die Bundesregierung reserviert einen Anteil (etwa (1) In einem ersten 1,5%) des Bundeshaushalts Reformschritt sollte als als Bürgerhaushalt, über Wahlalternative zur Kirdessen Verausgabung alle chensteuer ein verpflichwahlberechtigten BürgerIntender Gemeindebeitrag in nen bestimmen können. Die mindestens gleicher Höhe, Beteiligung der BürgerIneingezogen durch genen an dieser Verausgabung – Gottesdienstkollekten meindlich beauftragte Ver- geschieht mittels sogenann– Spenden in Form von waltungsstellen, angeboter Bürgergutscheine in folGeld und Sachzuwenten werden. Der Umstieg gender Weise: dungen zum Gemeindebeitrag erDie zuständigen staat– Freiwilliges Kirchgeld folgt durch eine Willenserlichen Stellen verteilen – Zuwendungen an Förklärung des Kirchensteuerjährlich im Auftrag des dervereine und Stiftun- pflichtigen. Bundes fälschungssichere gen sowie Mittelbeschafund nur an gemeinnützige (2) In einem zweiten Refung durch Fundraising Institutionen gemäß § 52 formschritt wird der Ge– Unentgeltliche bzw. ehmeindebeitrag für alle Kir- Abs. 2 AO (ausgenommen renamtliche Leistungen chenmitglieder eingeführt. die Punkte 21–23) überMit dem Gemeindebeitrag tragbare Bürgergutscheine in Höhe von je 4 mal 25 € ist auch in Zukunft eine

7. Kirchenkritik und Kirchenreform 1. Säule: Kollekten, Spenden und unentgeltliche bzw. ehrenamtliche Leistungen (freiwillige Gaben)

2. Säule: 3. Säule: Gemeindebeiträge Bürgergutscheine (verpflichtende Beiträge) (aus Bürgerhaushalt)

formalisierte Beitragsverpflichtung verbunden. – Freiwilligkeit, mehr perGrundlage dieser Beitragssönlicher Kontakt verpflichtung ist dann aller– Nutzung der Spendenbedings nicht mehr die Taufe, reitschaft der BürgerInsondern eine nach erlangter nen, unabhängig von religiöser Mündigkeit einer Kirchenmitglieddurch freiwillige Willenserschaft klärung begonnene öffent– Abzugsfähigkeit der lich-rechtliche MitgliedGeld- und Sachspenden schaft in einer gemeindlichvom steuerpflichtigen kirchlichen Institution. Einkommen auf Grund von Zuwendungsbestäti- (3) Etwa ein Drittel des gungen Gemeindebeitrags muss für übergemeindliche und gesamtkirchliche Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Vorteile:

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(Anteilscheine am Bürgerhaushalt) an die wahlberechtigten BürgerInnen, die sie an die von ihnen favorisierten gemeinnützigen Institutionen weiterreichen. Diese sammeln die Gutscheine während des Jahres und lösen sie beim Finanzamt zu Lasten des Bürgerhaushalts ein. Vorteile:

– Stärkung des Demokratiebewusstseins, der Solidarität, der Mitbeteiligungsrechte und des Verantwortungsbewusstseins für das Gemeinwohl (4) Die Landeskirchen – Persönlicher Kontakt und Bistümer regeln die zwischen Zuwendern Einzelheiten der Reformund Empfängern schritte. – Die Kirchen sind als Vorteile: gemeinnützige Institutionen empfangsberechtigt – Die Kritiker des Kirchenfür die Bürgergutsteuersystems müssen die scheine; insofern werden Kirche nicht verlassen; die Bürgergutscheine sie könne eine Alternative vermutlich zu Mehreinwählen nahmen für die Kirchen – Die Ablösung der Kirführen. chensteuer durch einen Gemeindebeitrag entbindet von der bisher geübten grundgesetzwidrigen Pflicht, die Religionszugehörigkeit staatlichen

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1. Säule: Kollekten, Spenden und unentgeltliche bzw. ehrenamtliche Leistungen (freiwillige Gaben)

2. Säule: 3. Säule: Gemeindebeiträge Bürgergutscheine (verpflichtende Beiträge) (aus Bürgerhaushalt)

Stellen und Arbeitgebern offen zu legen – Die Taufe wird beim zweiten Reformschritt unabhängig von Geldforderungen Sonstige Einnahmen: 1. Einnahmen aus kirchlichem Vermögen: Miete und Pacht aus Grundvermögen, Kapitalerträge aus Wertpapierbesitz, Gewinne aus kircheneigenen Betrieben, Banken und Verlagen. 2. Subventionen: Hilfsleistungen aus Steuermitteln von Bund, Ländern und Kommunen an Empfänger außerhalb des staatlichen Bereichs einschließlich der Kirchen ohne Gegenleistung. Dazu zählen auch die Mindereinnahmen des Staates aus dem Steueraufkommen durch die unbegrenzte Abzugsfähigkeit der gezahlten Kirchensteuern vom steuerpflichtigen Einkommen als Sonderausgaben. 3. Leistungsentgelte für Dienstleistungen. 4. Negative Staatsleistungen: Finanzielle Vorteile der Kirchen durch zahlreiche Steuer- und Gebührenbefreiungen. Abzulösende Staatsleistungen: Die staatliche Entschädigungszahlungen für die Enteignungen durch die Säkularisation 1803 sollen nach Art. 140 GG (Art. 138 Abs. 1 WRV von 1919) durch die Länder abgelöst werden. De facto sind sie durch Staatskirchenverträge der meisten Bundesländer mit den ev. Landeskirchen und durch das geltende Reichskonkordat und die Länderkonkordate mit den katholischen Diözesen zu Dauerleistungen geworden. Bund (früher Reich) und Länder stehen seit 1919 in der Pflicht, die Beendigung der Staatsleistungen einzuleiten und die entsprechenden Ablösungsgesetze zu erlassen.

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Hg: Wiedergabe des 3. Kapitels des „Entwurfes für eine Arbeit“ (DBW 8,556–562). Die ersten zwei Kapitel handeln von „1. Bestandsaufnahme des Christentums“ (DBW 8, 556–558) und „2. Was ist eigentlich christlicher Glaube?“ (DBW 8,558–560). Das hier dokumentierte 3. Kapitel (DBW 8,560–561) ist einfach mit der Überschrift „Folgerungen“ versehen. – Auf die ausführlichen editorischen Anmerkungen der Herausgeber der DBW wird hier verzichtet. Nach Angabe von Eberhard Bethge ist der „Entwurf für eine Arbeit“ am 3. 8.1944 entstanden. Es ist eine der letzten, wenn nicht gar die letzte theologische Äußerung Bonhoeffers aus dem Gefängnis. Insofern kann hier durchaus von seinem „Vermächtnis“ gesprochen werden. Hg: vgl. dazu auch DBW 14,430 „. . . nicht die religiöse Formel, das Dogma, konstituiert die Kirche, sondern das praktische Tun des Gebotenen.“ Hg: Wiedergabe des Textes aus: Martin, Karl (Hrsg.), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen, Berliner Wissenschaftsverlag 2008, S. 225–236. Dietrich Bonhoeffer, Neunte Promotionsthese: „Die Dialektik der sogenannten dialektischen Theologie trägt logisch formalen, nicht realen Charakter und läuft somit Gefahr, die Geschichtlichkeit Jesu zu missachten“ (1927, DBW 9). Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio, hg. v. J. v. Soosten, München 1986 (DBW 1). Ders., Das Wesen der Kirche (1932), in: ders., Ökumene, Universität, Pfarramt, hg. v. E. Amelung/Chr. Strohm, 1994, 239–303 (DBW 11). Hier zitiert nach: Bonhoeffer, Predigten, Auslegungen, Meditationen, Bd. 1, hg. v. O. S. 30. Dietrich Bonhoeffer, Jugend und Studium 1918–1927 (DBW 9), 109f., hier: 110. D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1972, S. 227. 1934, GS 1, 219. „Theologie ist ein Hilfsmittel, ein Kampfmittel, nicht Selbstzweck.“ (1940, GS 3, 423). Bonhoeffer, Vortrag „Die BK und die Ökumene“ 1935, in: GS 1, 252 (ebenso in: DBW 14). Ders., London, Predigt vom 17. 12.1933, in: GS 5, 498ff. GS 3, 241. D. Bonhoeffer, in: E. Bethge, MW 97. GS 5, 328f. 1932, GS 5, 31. Folgendes Zitat: ebd. DBW 4, N 253. 1935, DBW 14, 77. 1934, in: Andreas Pangritz, Dietrich Bonhoeffers Forderung einer Arkandisziplin – eine unerledigte Anfrage an Kirche und Theologie, 1988, 496.

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Zu Gandhi vgl. 1931, GS 6, 194. – „. . . im Westen“ nimmt es „mit dem Christentum sein Ende“ (GS 2, 158). D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, hg. E. Bethge, Berlin 1982, 5. Aufl. (Abk.: WEN) Überarbeitete Fassung eines Vortrages auf der Akademietagung (16.–18. Mai 1997) des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins (dbv) im Ev. Augustinerkloster Erfurt. Hier um ca. 1/3 gekürzt. Die Vortragsform ist weitgehend beibehalten, Literaturhinweise z. T. ergänzt. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. (Aus dem Brief zur Taufe seines Patenkindes Dietrich Bethge) DBW, 8. Bd), München 1998, S. 435f. DBW 1, S. 150. Barmer Theologische Erklärung 3. DBW 14, S. 482. DB GS Band 1, München 1958, S. 40 an Erwin Sutz. Albert Einstein/Max Born, Briefwechsel 1916–1955, München 1969. S. 206. DB GS Band 2, München 1959, 44–53. Vgl Fritz Bauer (Hg), Widerstand gegen die Staatsgewalt. Dokumente der Jahrtausende. Frankfurt am Main und Hamburg 1965, S. 108f. Karl Barth, Der Römerbrief. München 19222, S. XII. WE, DBW 8, S. 405. A. a. O. S. 435. A. a. O. S. 405. A. a. O. S. 415. A. a. O. S. 500 (Brief vom 27.VI,1944). Ethik, DBW 6. Bd. S. 43f. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, München 19524, S. 224. DBW 6. Bd. S. 280. DBW 8. Bd. S. 571. DBW 8. Bd. S. 407, 503 und 534. DBW 8. Bd S. 403f. Helmut Simon, Die kritische Frage Karl Barths an die moderne Rechtstheologie. In: E. Wolf, Ch. von Kirschbaum, R. Frey (Hg), Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956. Zolloikon-Zürich 1956, S. 346. Natürlich können „Gesetz“, wie „Evangelium“ gegen ihre Intentionen benutzt werden. DBW 6. Bd. Ethik. S. 288. DBW 8. Bd. S. 28f. DBW 8. Bd. S. 24. DBW 8. Bd. S. 38. DBW 8. Bd. S. 30. Zitiert nach Paul Gerhard Schoenborn, Alphabete der Nachfolge. Märtyrer des politischen Christus. Wuppertal 1006, S. 71. A. a. O. S. 61. DBW 6. Bd. S. 359.

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DBW 8. Bd. S. 556–561. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf, München 1975, S. 99. DBW 8. Bd. S. 37. Dieser Beitrag ist für dieses Buch von Axel Denecke im Auftrag des dbv (Karl Martin) verfasst worden. Vgl. dazu DBW 11, 239ff. Vgl. dazu die Dissertation von Joachim von Soosten, Die Sozialität von Kirche. Theologie und Theorie der Kirche in Dietrich Bonhoeffers „Sanctorum Communio“, Heidelberg 1989, vor allem S. 50ff. 233ff. DBW 8, 560. DBW 1, 179 Urfassung. Der letzte Satz ist pikanterweise in der offiziellen Veröffentlichung der Dissertation 1930 in der Reihe „Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche“, die Bonhoeffers Doktorvater Reinhold Seeberg betreute, gestrichen worden. Es gibt verschiedene Vermutungen, warum dies geschah. Bonhoeffer selbst (das war die Vorbedingung für die Veröffentlichung) musste seine ursprüngliche Dissertation erheblich kürzen. Das kann aber nicht der Grund gewesen sein, handelt es sich doch hier lediglich um einen Halbsatz. Näher liegend ist schon, dass R. Seeberg selbst interveniert hat (seine Beurteilung der Gesamtarbeit Bonhoeffers: „Ebenso sind die kritischen Bemerkungen über die kirchliche Praxis . . . überflüssig, da sie . . . nur subjektive Werturteile bringen“ (vgl. dazu DBW 1,3) legt das nahe). DBW 1, 76, 126ff. DBW 8, 355f. Wir verweisen an dieser Stelle auf folgende Literatur: K. Martin (Hg.), Abschied von der Kirchensteuer – Plädoyer für ein demokratisches Zukunftsmodell, Oberursel 2002, A. Denecke, Die ‚ecclesia extra muros ecclesiae‘ wahrnehmen! – Überlegungen zu Taufe, Volkskirche, Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer, sowie: Kirchenaustritt – Gemeindebeitritt, in: K. Martin (Hg.), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderungen . . ., Berlin 2008, S. 262–284: A. Denecke/K. Martin (Hg.), Taufe, Kirchensteuer, Mitgliedschaft und Gemeindeleben – Texte zur Kirchenreform, Fenestra-Verlag 2010. Vgl. DBW 11, 239ff. „Wesen der Kirche“. Vgl. DBW 8, 435 „Taufbrief für Dietrich Bethge“. Vgl. DBW 8, 560. Vgl. Praxisbeispiele bei A. Denecke, Getauft und nicht in die Kirche eintreten! Der theologische ‚Skandal‘ der Missachtung konfessionsloser Christen, in: Pastoraltheologie 3/2009, S. 87–107. Vgl. dazu den Rechtsstreit des katholischen Kirchenrechtlichers Hartmut Zapp über seinen Austritt aus der Kirche als KöR (nicht als Glaubensgemeinschaft) mit seiner Kirche. Wir verweisen auf den Text der „Kammer der Theologie“ der EKD aus dem Jahre 2000 zum Verhältnis von „Taufe und Kirchenaustritt“ (EKD-Texte 66, Hannover 2000) sowie katholischerseits auf das vom jetzigen Präfekten der Glaubenskongregation Gerhard Ludwig Müller mit initiierte Buch E. Güthoff

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u. a. (Hg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, Freiburg 2011. Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang von der „universalen einen Gemeinde Jesu Christi“, die „ortlos“, (also unsichtbar) und gleichzeitig auch „allörtlich“ (also real sichtbar) existiert, doch noch vor allen vorfindlichen TeilKirchen (Konfessionen) und örtlichen Teil-Gemeinden, die zwar alle „bevorzugte Orte“ haben, darin aber eben nicht das „Evangelium“, sondern notwendiger Weise das „Gesetz“ repräsentieren. Vgl. DBW 11, 242ff. Genauere Interpretation bei A. Denecke, Christus als Gemeinde/Kirche existierend, in: Verantwortung, Nr. 50, 2102, S. 28ff. Zur konkreten Umsetzung mit praktischen Beispielen vgl. A. Denecke, Getauft und nicht . . . a. a. O., S. 101ff. sowie die Erläuterungen zum „3 Säulen-Modell“ unten unter 4. DBW 1, 287.

8. Bonhoeffer-Rezeption nach dem Krieg bis in die Gegenwart Vorbemerkung Die Wahrnehmung und Anerkennung von Dietrich Bonhoeffer in der Gesellschaft und in der akademischen Welt ist eine spannende und kontroverse Angelegenheit. Sie ist davon gekennzeichnet, dass fast alle Probleme der Sicht auf ihn und sein Werk darunter gelitten haben, Teil der deutschen Geschichte seit dem Kaiserreich und insbesondere der des NS-Regimes zu sein. Es verwundert also nicht, auch in der Bonhoeffer-Rezeption entsprechende Perspektiven und mehrere Phasen der „Verarbeitung“ seiner Geschichte vorzufinden. Daher lässt sich erkennen, wie und auf welche Weise – und ähnlich der breiteren historischen Analyse – im Falle Bonhoeffers insbesondere die Disziplinen der Theologie und Kirchengeschichte ihr Verhältnis zu der Zeit vor 1945 verteidigt und schließlich neu geklärt hatten. Der Grund findet sich zum einen darin, dass Bonhoeffer am Widerstand gegen das NS-Regime aktiv beteiligt war und dass die Kirche „Widerstand“ gegen die Obrigkeit über lange Jahrzehnte ablehnte und verdächtigte, mit den geltenden christlichen Wertmaßstäben nicht vereinbar zu sein. Zum anderen hatte sich Bonhoeffer als Theologe und Kirchenpolitiker seit Beginn der dreißiger Jahre in Opposition zu den Mehrheitsprotestanten der dann im NS-Regime etablierten „Deutschen Christen“ exponiert und in der „Bekennenden Kirche“ ein auch theologisch begründetes Reform-Protestantentum zu entwickeln und zu erhalten versucht. Ob Theologie, ob Kirchenpolitik, ob Widerstand oder anderes kirchlich Relevante nun in der Nachkriegszeit ein Thema wurden, die historische „Ladung“ der Rezeption ist spürbar, da zunächst kirchliche Institutionen und Personen von damals in Deutschland weithin die Diskussion trugen oder bestimmten.

Zu 8. 1 Die Bonhoeffer-Rezeption im Überblick. Einen guten und prägnanten ersten Einblick in Phasen und Tendenzen der Bonhoeffer-Rezeption gibt das Schwerpunktheft der Zeitschrift Evangelische Theologie, eingeleitet von Christoph Strohm. Er bietet souverän eine Handreichung zur Wahrnehmung Bonhoeffers, wie dieser in Deutschland wie auch in den wichtigsten protestantischen Ländern begeistert oder

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kritisch angenommen oder mit inhaltlichen Schwerpunkten eingeordnet wurde. Dabei werden die Interessen an Theologie und Geschichte, beispielsweise auch Bonhoeffer als Märtyrer und Widerstandskämpfer, deutlich. Wesentlich erscheinen die Impulse, die seine theologischen Werke im Laufe der Zeit in die jeweilig aktuelle Erörterung zur kirchlichen Ordnung wie zur Auslegung der Bibel gegeben haben. Einen besonderen Ausschnitt aus diesen Wechselwirkungen bietet ein persönlicher Brief von Ulrich Duchrow, ein Theologe und Sozialethiker, an den Publizisten Hans Jürgen Schultz, der in knappen Worten Eindrücke, Enttäuschungen und Erleben in der Auseinandersetzung mit dem Erbe Bonhoeffers schildert, wie sie Duchrow in Kirche und Universität erfahren hat.

Zu 8.2 War Bonhoeffer „nur“ ein politischer Märtyrer? Das lange mit allen Zweifeln umgangene Thema, ob Dietrich Bonhoeffer überhaupt als Märtyrer zu bezeichnen sei oder „nur“ ein politischer Märtyrer wäre, dem eigentlich die christliche Legitimation gefehlt habe, greift Eberhard Bethge in theologisch-christlicher, d. h. evangelisch-katholischer Ableitung auf. In Abwägung der historischen Erfahrungen seit der antiken Kirchengeschichte und dem Ereignis Auschwitz gelangt er zu dem Ergebnis, dass sich eine neue Form, die des „modernen Märtyrers“, herausgebildet habe: „ein neuer Typ des christlichen Märtyrers in unserer Zeit“. Auch Bonhoeffer zeichne sich durch das Zeugnis der „Wahrheit des Evangeliums“ aus. In einem weiteren Dokument korrigiert Armin R. Kitzmann einige historische Fakten auf der Basis von Archivquellen; es handelt sich eigentlich um kleine Fakten – ob Bischof Meiser eine Bonhoeffer-Gedenkfeier 1953 boykottiert hätte oder nicht und warum Bonhoeffer 1943 nicht auf die Fürbittliste der „Bekennenden Kirche“ gekommen sei –, aber sie haben emotional manche Erörterungen geprägt. Der spannungsreiche Umgang mit dem, was mit dem Namen Bonhoeffer verbunden ist, wird in einem anderen Beispiel von Eberhard Bethge deutlich, wie die EKD sogar in Fragen einer rechten Entwicklungspolitik auf Bonhoeffer reagierte; auch wenn dieses Beispiel lange zurückliegt, weist es typisch auf Empfindlichkeiten hin, die mit Tradition und Wirkung Bonhoeffers bis in die Gegenwart verbunden sind.

Zu 8.3 Bonhoeffer in der deutschen Politik. In der näheren Zeitgeschichte fällt auf, dass ein grundlegender Wandel in der Bonhoeffer-Rezeption eingetreten ist. Die allgemeine Akzeptanz und der hohe Respekt vor Dietrich Bonhoeffer haben sich auffällig gezeigt,

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weil und wenn im Raum der Politik Bonhoeffer zitiert wird, um mit seinem Namen Zustimmung zu einer anderen Sache herbeizuführen. So hat im Jahr 2002 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag US-Präsident George Bush zur Legitimierung des globalen Antiterror-Kampfes und der Kriegführung gegen die „Achse des Bösen“ ein Zitat von Bonhoeffer benutzt. Gegen diese Instrumentalisierung und Verfälschung hat sich in einer Resolution der Dietrich-Bonhoeffer-Verein gewandt, der seine lange Tradition, im Sinne Bonhoeffers an dessen Friedensbegriff zu erinnern, immer wieder geltend macht. Die Haltung ist, Gewalt sei keine Lösung politischer Konflikte: „Sie führt zu Gegengewalt, unter anderem zu terroristischen Aktivitäten. ‚Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein‘ (Kirchenkonferenz Amsterdam 1948). Wir fordern auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und an der Neuentwicklung einer Kultur des Friedens zu arbeiten. Die Grundlage dazu bildet die Ethik der Bergpredigt.“1 Die Dokumentation zu diesem Kapitel endet mit einem Beitrag von Bundespräsident Horst Köhler, in dem er Dietrich Bonhoeffer anlässlich seines 100. Geburtstags am 4. Februar 2006 würdigte.

8.1 Die Bonhoeffer-Rezeption im Überblick Zu diesem Heft Christoph Strohm2 In den Jahren 2005 und 2006 wurde des 60. Todes- und des 100. Geburtstags Dietrich Bonhoeffers gedacht. Über die umfangreichen, von verschiedener Seite und in sehr unterschiedlicher Weise in Angriff genommenen Aktivitäten gaben die mehrmals jährlich erscheinenden Rundbriefe der Bonhoeffer-Gesellschaft einen breiten Überblick.3 Einen Eindruck von der Mannigfaltigkeit des Bonhoeffer-Gedenkens außerhalb Deutschlands vermittelt ein Heft der „Mitteilungen aus Ökumene und Auslandsarbeit“4, in dem fünfzehn Beiträge das Schwerpunktthema „Dietrich Bonhoeffer und seine Rezeption in der Ökumene“ behandeln. Darin kommt zum Ausdruck, dass sich die Wahrnehmung und Bewertung von Leben und Werk Bonhoeffers in den letzten Jahrzehnten signifikant verändert hat. War er in der Nachkriegszeit höchst umstritten, so findet sein Leben und Werk nun auf allen Erdteilen Beachtung, ja vielfach Verehrung. Wahrscheinlich ist er der weltweit meistgelesene deutsche Theologe des 20. Jahrhunderts. Denkbar unterschiedlich sind die Menschen, die sich mit seinem Leben und Werk beschäftigen und sich auf ihn berufen. Den einen gilt er als Vorbild eines Christseins, das eine unpolitische Beschränkung auf das Geistliche, das Innerliche oder Jenseitige überwindet und vielmehr aktiv gestal-

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tend soziale und politische Veränderungen in Angriff zu nehmen hat. Andere rufen ihn als Kronzeugen gegen eine verweltlichte Kirche an, die mit ihrer Verkündigung der „billigen Gnade“ nicht den Sünder, sondern die Sünde rechtfertigt und das Christsein zur folgenlosen Sache verkümmern lässt. Manche sehen in ihm den Propheten einer religionslosen Zeit, in der das Christentum eine ganz neue, nicht mehr religiös-innerliche Gestalt annehmen wird. Wieder andere haben angesichts der Erfahrung von Unterdrückung und Verfolgung in seinen in der Haft geschriebenen Briefen Trost und Ermutigung in ihrem eigenen Kampf gefunden. Oder er wird als Vertreter des anderen Deutschland gesehen, dessen Ethos und Lebenszeugnis nach dem Ende der Diktatur auch heute noch vermächtnishafte Bedeutung für das politische Gemeinwesen hat. Auch als Verfechter einer optimistischen Lebenseinstellung, die sich selbst in dunkelsten Tagen nicht entmutigen ließ und damit in heutigen Krisen vorbildlich sein kann, ist Bonhoeffer in Anspruch genommen worden. Und schließlich schätzen ihn unzählige Menschen als Theologen und Christen, der christliche Frömmigkeit und Lebensdeutung in ebenso prägnanter wie gegenwartsnaher Weise in Worte fassen konnte. Das vorliegende Heft versucht im Nachgang zu den großen Jubiläumsjahren Grundlinien der Bonhoeffer-Rezeption in den letzten Jahrzehnten zu rekonstruieren. Jörg Dinger legt in seinem Durchgang durch die Phasen der Bonhoeffer-Rezeption besonderes Augenmerk auf die Bonhoeffer-Begeisterung, die in den fünfziger Jahren das Erscheinen von Widerstand und Ergebung auslöste.5 Ein zweiter Schwerpunkt sind die kontroversen Diskussionen um Bonhoeffers Theologie, Ethik und Religionsverständnis, die sich in den achtziger und frühen neunziger Jahren verdichteten. Michel Klein analysiert die hauptsächlichen Tendenzen des BonhoefferGedenkens im ersten Vierteljahrhundert.6 In den Westzonen und der Bundesrepublik wurde vor allem Bonhoeffers Beteiligung am politischen Widerstand im Zusammenhang der kontroversen Diskussion über den 20. Juli 1944 kritisch erörtert. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde dies zunächst positiv bewertet. Später entdeckte man hier Bonhoeffer als Theologen der „Diesseitigkeit“ bzw. der „mündigen Welt“ und suchte ihn vielfach zu Legitimationszwecken des sozialistischen Gesellschaftsmodells heranzuziehen. Ein weiterer Beitrag untersucht Bonhoeffers Einfluss auf dogmatische Entwürfe der neueren Zeit. Christiane Tietz arbeitet hier die über die schlagwortartige Rezeption hinaus zu beobachtende Weiterführung grundlegender Einsichten Bonhoeffers heraus.7 Dazu gehört insbesondere seine Auffassung, der Mensch müsse in dieser Welt mündig und verantwortlich leben; dass Gott deshalb nicht als „Lückenbüßer“-Gott zu denken ist, sondern als leidend und ohnmächtig, und dass Gnade nicht billig ist, diese Überzeugungen Bonhoeffers begegnen vielfach. Kritisiert wird u. a. dass

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Bonhoeffer seiner eigenen Unterscheidung vom Letzten und Vorletzten nicht gerecht geworden sei. Insbesondere seine Forderung, der Christ solle wie Christus als der „Mensch für andere“ leben, wird als eine Verwechselung der soteriologischen und der ethischen Beziehungsebene kritisiert, durch die es zu einer Auflösung des Letzten im Vorletzten komme. Ernst Feil stellt die umfangreiche Rezeption des Lebens und Werkes Bonhoeffers im Bereich der katholischen Theologie und Kirche dar.8 Die Anerkennung Bonhoeffers als eines Märtyrers ist hier ebenso verbreitet wie vorbehaltlos. Darüber hinaus wurde seine Theologie – und zwar insgesamt wie einzelne Aspekte (etwa das Amts- und Kirchenverständnis) – in den letzten Jahrzehnten Gegenstand eingehender Untersuchungen. Charakteristisch ist, dass die Beschäftigung katholischer Autoren mit dem Werk Bonhoeffers eindeutig in ökumenischer und nicht in kontroverstheologischer Absicht erfolgt. So lassen sich daraus auch Anregungen für das zukünftige ökumenische Gespräch, das von den Fragen nach dem Amt, der Ordination und der Vollmacht der Kirche, Gottes Wort weiterzugeben, bestimmt sein wird, ziehen. Ralf K. Wüstenberg untersucht die Bonhoeffer-Rezeption in Südafrika, Großbritannien und den USA.9 Wesentliche Themen sind hier der biographische Zusammenhang von Glauben und Leben, die Bedeutung des öffentlichen Zeugnisses der Theologie Bonhoeffers, die Bekräftigung des ökumenischen Wesens dieses öffentlichen Zeugnisses sowie die Konkretion als Grundlage seines ethischen Denkens.

Ulrich Duchrow10: Ein Brief Bonhoeffer war und ist meine theologische Muttermilch. Als Schüler war ich mit einem jungen Pfarrer befreundet, mit dem zusammen ich alles von Bonhoeffer las, was damals erschien. Widerstand und Ergebung kann ich fast auswendig. Ich fand es faszinierend, wie Sie mit Ihrer Zusammenstellung der Briefe an den Freund und die Braut ermöglichen, die Briefe sich gegenseitig interpretieren zu lassen. Das hatte ich so noch nicht wahrgenommen. Natürlich teile ich Ihre Kritik an dem Verdrängen dieser Schicksale und der aus ihnen entstehenden kreativen Neuinterpretation des christlichen Glaubens durch Kirchen und Theologie. 1978 hielt ich bei einer Bonhoeffer-Konsultation der FEST11 einen Vortrag zum Thema „Kann Bonhoeffers gelebte Lehre von der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland rezipiert werden?“12 Die Antwort: „Nach menschlichem Ermessen, nein.“ Durch meine internationale ökumenische Arbeit stellte ich fest, daß die eigentlichen Wirkungen Bonhoeffers im Süden zu suchen sind, vor allem in Südafrika, Korea und Lateinamerika. Das kam auch in dem berühmten

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Treffen in Genf 1976 heraus, an dem ich teilnahm und übrigens bei der Gelegenheit auch Maria von Wedemeyer – wenn auch nur flüchtig – kennenlernen konnte. Seither bin ich auch Mitglied der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft, war dort auch mehrfach zu Vorträgen eingeladen. Inzwischen beteilige ich mich nicht mehr, weil die Leute dort zum größten Teil sehr konservativ sind. Früher war es immer ein Fest, bei der Gelegenheit Eberhard Bethge zu treffen. An den Fakultäten gibt es allenfalls Bonhoeffer-Scholastik. Welche Folgerungen aus seinem Leben und Werk für die radikalen Probleme heute zu ziehen wären, spielt keine Rolle. Was die EKD betrifft, so vergleichen Sie nur den „Entwurf einer Arbeit“ mit „Kirche der Freiheit“ – und es bleibt nur, sich das Haupt zu verhüllen.

8.2 War Bonhoeffer „nur“ ein politischer Märtyrer? Modernes Märtyrertum als gemeinsames evangelisch-katholisches Problem Eberhard Bethge13 Das neue, gemeinsam aufgegebene Problem besteht wohl in der Akzentverschiebung dessen, was den Märtyrer ausmacht. Wo es früher um die einfache Bezeugung des Namens Christi vor einer feindlichen Umwelt ging oder um das Festhalten am rechten gegen die falschen Namen, da differenziert sich heute das Opfer: Die Bezeugung Christi bedeutet nun häufig letztes Eintreten für ein bedrohtes Humanum; die Hingabe dafür, daß Menschen die geraubte Würde und menschliches Leben zurückgegeben werde. Was für ein Typus ist aber dieser Märtyrer? Was macht ihn dazu? Wie eng oder weit ist der Kreis zu ziehen? Die Frage stellen heißt aber, in zwei gegensätzliche Denkrichtungen geraten. Einmal ist die Vorgegebenheit des geschehenen Martyriums anzuerkennen, und zwar in beschämter Dankbarkeit. Es könnte sein, daß hier schulmeisterliche Maßstäbe sehr unangemessen und zu zerbrechen sind, um die neuen Spuren Gottes nicht zu verfehlen. Man müßte sich also möglichst offen und vorurteilslos der Stimme der modernen Märtyrer stellen. Andererseits kann es keine Dechiffrierung des neuen Alphabets und keine reflektierende Rezeption der neuen Fakten geben ohne Interpretation. Interpretation schließt aber den Vorgang des Wählens, des Vorziehens und des Ablehnens ein. Welches sind die Toten, die die neue Sprache des Lebens sprechen? Anzuerkennende Vorgegebenheit und wählende Bezeichnung, wer der Märtyrer ist und warum er es ist, müssen sich korrigierend zusam-

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menfinden. Vielleicht beweist gerade ein genaues Hinsehen und Entfalten der Merkmale auch die rechte Dankbarkeit für die gegebenen Fakten. So wäre also zu fragen: Erschöpft sich das Phänomen des Märtyrertums noch immer im Gottesgehorsam des Makkabäers vor König Antiochus? Noch immer in der reinen Standhaftigkeit der Bekenner aus dem zweiten Jahrhundert im römischen Zirkus? Deckt sich modernes Märtyrertum noch mit der Weigerung von Johann Huß oder Thomas Morus zu widerrufen? Wie verhält sich modernes Engagement zu solch klassischem Märtyrertum? Auch das klassische hat es ja in unseren Tagen gegeben, wie etwa das von Paul Schneider auf evangelischer und das von Josef Metzger auf katholischer Seite. Wie steht es aber mit den Märtyrern purer Solidarisierung mit Ausgestoßenen und Schuldverstrickten wie etwa Simone Weil und Henri Perrin? Wie bei denen der vorbehaltlosen Konspiration wie Pater Delp, Moltke und Bonhoeffer? Hier wird das Urteil unsicher, oder man retuschiert und stilisiert die Lebensbilder. Der protestantischen Seite mangeln noch die Kategorien, das Phänomen zu fassen. Jörg Erbs Kalender gibt Ludwig Richter, dem idyllischen Maler, einen Gedenktag, aber nicht Pater Delp. Der lutherische Bischof Meiser weigerte sich, die Gedenkfeier für Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg zu besuchen, weil es sich – wie er schrieb – nicht um einen christlichen, sondern nur um einen politischen Märtyrer handle. Aber selbst Heinrich Forck, Vertreter der bis zuletzt kompromißlos gebliebenen vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, betonte in jenem Gedenkbuch von 1949, das er im offiziellen Auftrag des Bruderrates der EKD herausgab: „Der Unterschied zur Widerstandsbewegung liegt aber darin, daß der Ansatzpunkt des Kampfes nicht in der Politik, sondern ausschließlich im Bekenntnis der Kirche lag. Alle, von denen in diesem Buch die Rede ist, und mit ihnen alle Männer und Frauen, die in gleicher Bedrängnis und Anfechtung standen, haben ihre Leiden nicht darum auf sich genommen, weil sie mit der Politik des Dritten Reiches nicht einverstanden waren und in ihr ein Verhängnis für unser Volk erkannten, sondern nur und ganz ausschließlich aus dem Grunde, weil sie das Bekenntnis der Kirche angegriffen sahen und es, gelte es auch den Einsatz ihres Lebens, um der Treue zu Christus willen zu wahren hatten.“14

Wie quälend deutlich fällt uns heute diese Abgrenzung eines unentfaltet bleibenden „Bekenntnisses der Kirche“ von dem politischen „Verhängnis für das Volk“ ins Auge. Wie fatal klingt jetzt das kleine Wörtchen „nur“ in diesem Text. Was ist denn das für ein „ganz ausschließliches Bekenntnis der Kirche“, das da so teuer verteidigt worden ist? Hat dieses selbst denn ein so impertinentes Interesse an der Abgrenzung des Evan-

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geliums, daß es sich auch noch 1949 vom Leiden an der „Politik des Dritten Reiches“ in dieser Weise distanzieren mußte und die Erkenntnis ihres „Verhängnisses“ im Blick auf ein christliches Gedenkbuch für irrelevant erklären konnte? Hier haben die „Taten und Leiden der Heiligen“ noch nicht das „neue Alphabet“ geschaffen (Baumgarten), das buchstabiert werden will. Wenn dieser Text stimmt, sind Männer wie Bonhoeffer, Koch und Perels eben doch nur aufgrund eines Mißverständnisses in dieses Gedenkbuch geraten. Man spürt ja Forck und Erb auch ab, daß sie Schwierigkeiten haben, die Realität und ihr eigenes Koordinatensystem zur Deckung zu bringen. Aber was wären denn angemessene Koordinaten, die das Besondere dieser Märtyrer sichtbar machen? Ich schlage vor, die Sache unter fünf Gesichtspunkten zu betrachten, nach denen diesen Männern und Frauen so etwas wie der Rang christlichen Märtyrertums tatsächlich zukommt. Diese Gesichtspunkte entspringen z. T. Maßstäben, die schon in der alten Kirche galten. In ihrer Vermischung mit Umständen unserer Zeit gewinnen sie jedoch ein neues Profil und weiterführende Aussagekraft. Es handelt sich um die Gesichtspunkte 1. des freigewählten Leidens, 2. des nicht selbstgesuchten Martyriums, 3. der Schuldsolidarisierung, 4. des authentisch christlichen Charakters und 5. der Autorität dieses Todes. Zunächst: Gegen die Hervorhebung christlicher Toter als Märtyrer stellt sich heute ein Einspruch, der das „Gedenken und Ehren“ fast zum Verstummen bringt. Das ist der Einspruch von Auschwitz. Diese alle Vorstellung transzendierende Passion übertönt in ihrer Stummheit jedes christliche Wort. Deshalb wird hier wohl vor allen anderen Maßen gelten müssen: Wenn diejenigen, deren Blutzeugnis wir uns dienen lassen wollen, nicht in einem Zusammenhang mit dieser jüdischen Passion gesehen werden können und ihr Opfer nicht in dieser Hinsicht erbracht ist, werden die Christen mit ihnen besser im privaten Winkel bleiben und keine universale Bedeutung für sie beanspruchen. Dennoch läßt sich gerade an jenem monströsen Ausgesetzt-sein von Menschen, an dem jüdischen Erleiden, etwas Besonderes im Blick auf die wenigen modernen christlichen Märtyrer ablesen. Die Vielen von Auschwitz sind nichts als Opfer gewesen. Sie waren bereits durch Geburt und Namen dem Verderben überantwortet, gleichgültig, was sie dann noch taten oder unterließen; total Entmündigte, ohne Wahl des Entrinnens, nur noch Kollektiv zum Zweck, ausgelöscht zu werden. Den wenigen Anderen aber war ein Moment der freien Wahl geblieben. Ihre Passion ruhte auf einem Rest von freiem Entschluß. Sie hätten ja auch kollaborieren können, sich entziehen, unterlassen und damit überleben. Nicht jede Flucht ist in christlicher Überlieferung schon Verleugnung. So gehörte zu diesem Martyrium die peinvoll verlockende Frage, ob dieses Eintreten denn wirk-

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lich notwendig sei, ob denn wirklich vorgetreten werden müsse „aus dem Rahmen des damals Üblichen“ – wie Bonner Professoren im Fall Moser 1966 formulierten. Und wenn es denn für den einen oder anderen notwendig erschienen sein mag, ob es dann auch gerade für mich geboten wäre. Daß man eben auch anders hätte können – und das konnten Auschwitzopfer nicht –, das verlieh ihrem Martyrium dieses Moment der freien Einwilligung. Und das gehört wesentlich zum „martyria“-Zeugnis-Charakter. Es gibt offenbar Tode, die bezeugen Tod, und Tode, die bezeugen Leben. Das Auschwitzsterben bleibt voll vernichtender Anklage. Es verkündet überwältigend den Tod des Humanums. Die freie Einwilligung in den Opfertod aber verkündet, auch noch in aller vieldeutigen Schwäche, gerade die Zukunft des Humanums. Wo jeder Glaube vernichtet und erwürgt wird, da erweckt sie die verletzliche Pflanze des Glaubens zum Leben. Deshalb klagen Auschwitz und Warschau ungedeckt an. Und deshalb gehen vom Tode der Scholls, Delp und Moltke Tröstungen aus. Bei ihnen ist in Freiheit Verantwortlichkeit übernommen und das Blutopfer zu einer glaubensschöpferischen Aussage erhoben. Dieses Element ist es, welches diesen Tod von sinnlosem Mord, von lähmendem Unglücksfall, vom vietnamesischen oder nigerianischen Vernichtungstod – und eben auch vom anklagenden Ausmerzungstod der Juden unterscheidet. Zum zweiten: Die frühen Christen wußten nun aber etwas davon, wie es darauf ankommt, dieses freigewählte Opfer vom selbstgesuchten Martyrium abzuheben. Sie warnten vor der überhandnehmenden Martyriumssehnsucht und entschieden, daß ihr jede Verheißung mangelte. Diese alte Unterscheidung trennt auch das christliche von allem respektablen heroischen Martyrium. Wir brauchen nicht zu bestreiten, daß zu allen Zeiten heroische und freudige Opfer für erhabene Ideen oder für politische Idole gebracht worden sind. Wir brauchen nicht einmal zu verkleinern, daß auch für Hitler relativ reine Seelen in feindliche Maschinengewehrgarben gelaufen sind und sich mit fanatischem Gruß für den vermeintlichen Erfüller ihrer Träume opferten. Aber sie besaßen die Zustimmung der Nation, und ihre Todesstunde begleiteten Befehl und Beifall des Idols. Echte christliche Märtyrer gehen jedoch durch die Agonie allgemeiner Verwerfung. Öffentliche Schmach bereitet ihnen eine physische und psychische Isolation. Stumm und verkannt müssen sie sich verschlingen lassen und sich ohne fremde Rechtfertigung allein Gott befehlen. Keine allgemeine Meinung, kein Befehl noch Beifall erleichtern das Mehrdeutige ihres Endes. Sie tragen auch Verurteilung durch die Gesellschaft. Aber das alles wäre noch religiöser Titanismus, wenn dabei irgendein Selbstangebot vorläge.

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Was „im Apostolikum mit dem einen Wort ‚gelitten‘ bezeichnet wird, das kann kein Mensch aus eigener Wahl wollen. Es kann sich keiner selbst rufen, sagt Jesus“15. Diese Märtyrer sind lange Wege gegangen. Auf ihnen haben sie sich öfter der Entscheidung zu entziehen versucht, als sie am Ende selbst verantworten mochten. Manche, wie etwa Bonhoeffer, hegten in den ersten Jahren des Dritten Reiches Vorstellungen über ihren Einsatz – sei es für die Kirche, sei es für einen Pazifismus –, die ihnen später als unerlaubte Flucht vor dem wirklich nötigen Aufgebot aufgingen. Und auch dann suchten sie noch nach Orten und Gelegenheiten, wo sie ihren persönlichen Begabungen und Wünschen besser leben konnten. Bis sie endlich wußten und entschieden, wo und wie sie sich zu stellen hatten. Erst dann setzte das eigentliche Martyrium ein, nicht für Idee und Idol, sondern für verantwortetes Humanum. Und dann vollzog es sich im Zwielicht politischer Verschwörung und unter dem erdrückenden Gefühl, wie spät dieser Einsatz käme. Und dann kam es eben nicht zum öffentlichen Bekenntnis auf dem Markt oder im Kolosseum, nicht zu eindeutigen heroischen Akten, sondern alles vollzog sich im schweigenden Inkognito der Lager und Keller. Damit sind wir beim dritten Merkmal. Und dies hebt die neuen Märtyrer am spürbarsten vom klassisch überlieferten Bild ab. Es ist das Merkmal der Solidarisierung mit der Schuld. Im Hintergrund steht die Geschichte von Kirchen (einschließlich der Ökumene), die ohne Entscheidungen oder ohne Treue gegenüber ihren Entscheidungen sich auf ihren Sektor beschränken ließen; von Politikern, die Ressort-beflissen sich die Eigenverantwortung entwinden ließen; dahinter die parallele Geschichte der Deklassierung eines Volksteils, bis er zur Vernichtung reif schien, und die Bedrohung fremder Länder, bis ihre Grenzen überschritten werden konnten. So akzeptierten einige Christen und Amtsträger der Kirchen eines Tages, enttäuscht von Schwäche, erschrocken über Unfähigkeit, die Situation, mit Christen und Nichtchristen der Maskerade einer Verschwörung eingeordnet zu werden – nicht nur, um Akteuren das Gewissen zu befreien, sondern um deren Tun und Schicksal ganz zu teilen. Ein Mann wie Bonhoeffer hatte dreimal versucht, seiner Bestimmung zu entfliehen: 1933 in ein klerikales Exil nach London, 1939 in ein akademisches nach New York, 1944 aus der Zelle in ein ziviles Untertauchen. Dreimal kehrte er zurück: 1935 in seine verfolgte Kirche, danach schrieb er: „Wir sollen dem Teufel vorhalten, daß Jesus nicht die Heiligen, sondern die Sünder zu sich gerufen hat, und daß wir – dem Teufel zum Trotz Sünder bleiben wollen, um bei Jesus zu sein, lieber denn als Heilige beim Teufel.“16

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1939 in die Mitarbeit konspirierender Freunde, dann schrieb er: „Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins; löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt.“17

1944 in die Gemeinschaft der Verurteilten. Danach schrieb er über den fliehenden und eingeholten Jona: „Tut mich von Euch! Mein ist die Schuld. Gott zürnt mir sehr. Der Fromme soll nicht mit dem Sünder enden! Sie zitterten. Doch dann mit starken Händen verstießen sie den Schuldigen. Da stand das Meer.“18

Auf anderer Ebene vollzogen Zeugen wie Simone Weil und Henry Perrin ähnliche Solidarisierungen. Damit ist aber ein neuer Typus des christlichen Märtyrers in unsere Zeit eingetreten. Es handelt sich nicht mehr um einen heilig heroischen, sondern um den schuldbedeckten Zeugen für das Humanum; einen Typus, der sich nicht fernhält von der Welt in exemplarischer Reinheit, sondern bei denen aushält, die verantwortlich oder verloren in Hoffnungen und Bosheiten dieser Welt verwickelt sind. An eben dieser Stelle fällt es den Kirchen aber schwer, der Wandlung des Märtyrerbildes zu folgen. Die Möglichkeit eines Untergehens im schuldverstrickten Inkognito ist groß und damit das Mißverständnis naheliegend, hier hätten Christen ihre christliche Identität weggeworfen. Aber handelt es sich wirklich um bloße, schwächliche Anpassung, um Kumpanei? Geht es nicht vielmehr um das Stärkste, die Solidarisierung Christi? Damit nennen wir das vierte Merkmal – das aber sachlich doch das erste ist. Es ist sogar so stark und so das erste, daß es auch zurücktreten kann: das, von den Märtyrern aus gesehen, unverwechselbare „Um Christi willen“. „Wir sind schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi“, schrieb Bonhoeffer 1940. Mit dieser Motivation erfüllten sie nicht ein dogmatisches Soll, wie eine ängstliche Sorge um die christliche Identität es haben will und dann auch in diese Märtyrer hineininterpretiert. Es handelte sich vielmehr um eine Art beschämter Entdeckung und Befreiung, daß das Humanum Ziel und Wahrheit der Botschaft von Christus ist: Verborgen gehaltene oder zuweilen auch offen bekannte Identität des

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„um Christi willen“ führte zum Schritt in die Identifikation mit den um ihr Menschsein Gebrachten. Fast nie trugen sie aber ihr Christ-Sein, ihre Identität als etwas zu Demonstrierendes vor sich her. Das konnte auch nicht so sein. Nicht nur, daß diese behauptete Identität kompromittiert worden war – die lange Geschichte ihrer Kompromittierung hatte eben noch eine zu peinliche Steigerung erfahren –; sondern die Kraft und der Schritt zur Solidarisierung büßen ihren Wert in dem Maße ein, in welchem sie sich vorzeitig und laut selbst interpretieren. Demonstrative christliche Selbstbestätigung wird zum Exhibitionismus und – wie deutlich ist das den Juden gegenüber – schwächt die Aussage dieser Märtyrer. Gerade wo das Geheimnis dieser Märtyrer am stärksten ist, muß man auch am Zurückhaltendsten davon reden. Viele von ihnen haben jedenfalls mitten im Solidarisieren mit den „schwächsten Brüdern Christi“ die Gabe ihrer christlichen Identität wohl gehütet, sich dieser Begabung nicht gerühmt und sogar die Verkennung des Gebers ihrer Identität willig geteilt. Wir haben diese Märtyrer wahrlich nicht zu messen, sie messen uns. Wir dürfen sie nicht umprägen, sie sind gegeben, uns zu prägen. Und wir sind es zuerst, die geprägt werden sollen, nicht andere jenseits unserer Konfessionsgrenzen. Das bedeutet nun letztens, daß diese Überlegungen über das Wesen moderner Märtyrer die Fakten nicht auf den Kopf stellen dürfen. Gültigkeit und Autorität wird ihrem Tod nicht durch unsere Kategorien und Kritiken – auch nicht durch diese „Gesichtspunkte“ – verliehen. Sondern umgekehrt, sie haben ihren Tod zu Exemplum und Vorbild gemacht; oder: sie haben mit dem Tod ihrem Zeugnis für das Humanum Autorität verliehen. Und das ist eine einzigartige Autorität, die sich von der Autorität von Synodalentscheidungen und von Amtsvollmachten unterscheidet. Ihre Autorität ist zu „bedenken und zu ehren“, weil sie mit dem Opfer etwas endgültig und eindeutig besiegelt haben, was sonst im Leben mit allen Aussagen zweideutig und rückfallfähig bleibt. Sie sind endgültig „mit Christus“. Diese Autorität hat sich aller Stützen, Hilfsmittel, sogar der Möglichkeit der Rückfragen und der Überwachung begeben. Sie beschränkt sich allein auf die Macht der Beschämung. Die aber kann schöpferisch werden. In allen Jahrhunderten hat es heiße Kämpfe gegeben, ob es in der Kirche mehr auf die Verkündigung oder mehr auf die Verkündiger ankäme. Überwiegend entschied man sich dafür, daß alles am Vorrang der Verkündigung läge; sie dürfe nicht abhängig werden von ihren gebrechlichen Boten. Bei den Märtyrern sah man es anders. Sie erhob die Kirche in den Rang von Aposteln und Propheten. Denn bei ihnen haben sich Verkündigung und Verkündiger untrennbar verknüpft und eins das andere mit einem endgültigen Siegel versehen. Jetzt wird der Bote seine Botschaft

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vom Humanum um Christi willen nie mehr widerrufen oder korrumpieren. Die Autorität der Aussage ist vom Sagenden selbst gedeckt. Ein neues Alphabet für die Wahrheit des Evangeliums ist vorgelegt, damit es buchstabiert werde. Zeuge und Zeugnis vom Humanum Christi haben sich so intensiv verbunden, daß sie Eigensinn vernichten und Einsicht schaffen mögen. Kierkegaard hat einmal von der Macht des Märtyrertums gesagt: „Es wird aber, um die Ewigkeit wiederzugewinnen, Blut gefordert werden, aber Blut von einer anderen Art; nicht jenes der tausendweis totgeschlagenen Schlachtopfer, nein, das kostbare Blut der Einzelnen – der Märtyrer; dieser mächtigen Verstorbenen, die vermögen, was kein Lebender, der Menschen tausendweis niederhauen läßt, vermag; – was diese mächtigen Verstorbenen selbst nicht vermochten als Lebende, sondern nur vermögen als Verstorbene: eine rasende Menge in Gehorsam zu zwingen.“

Armin Rudi Kitzmann: Nur ein Gerücht19 Am 6. April 1953 hat die Pfarrbruderschaft unter ihrem Senior Hermann Dietzfelbinger in der Kirche von Flossenbürg eine Gedenktafel für den am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichteten Theologen und Widerständler Dietrich Bonhoeffer enthüllt. Zu diesem Ereignis hat Eberhard Bethge, der Biograph und Nachlassverwalter Bonhoeffers, in seinem Buch „Ohnmacht und Mündigkeit“ folgende gravierende Behauptung aufgestellt: „. . . Der lutherische Bischof Meiser weigerte sich, die Gedenkfeier für Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg zu besuchen, weil es sich – wie er schrieb – nicht um einen christlichen, sondern um einen poltischen Märtyrer handle . . .“. Diese Behauptung hat bis heute schwerwiegende Folgen gehabt. Sie hat dazu beigetragen, dass Landesbischof Hans Meiser als Gegner Bonhoeffers und als Verächter jedes politischen Widerstandes gekennzeichnet wurde.20 Sie ist aber in einem doppelten Sinne falsch. Zum einen gibt es kein Schreiben, in dem Meiser sich so geäußert hat, wie Bethge meint, und zum andern hat Meiser sich nicht geweigert, die Gedenkfeier in Flossenbürg zu besuchen. Im Jahr 2005 musste Prof. Ernst Feil noch feststellen: „. . . Nach wie vor ist ungeklärt, ob sich der bayerische Bischof Hans Meiser ausdrücklich geweigert hat, an der Anbringung einer Gedenktafel für Bonhoeffer in Flossenbürg teilzunehmen, . . .“.21 Heute ist die Angelegenheit durch entsprechende Textfunde geklärt: (. . .) Das Schreiben Dietzfelbingers an den Landeskirchenrat vom 24. März 1953 enthält tatsächlich nur die Information, dass die bayerische Pfarrbruderschaft plane, im Einvernehmen mit

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dem Kirchenvorstand, in der Kirche von Flossenbürg eine Gedenktafel für Bonhoeffer anzubringen und dass der zuständige Kreisdekan, Herr Oberkirchenrat Koller verständigt und eingeladen worden sei.22 Im Einladungsschreiben an den Kreisdekan vom 24. März 1953 wird Oberkirchenrat Koller gebeten, auf jeden Fall ein Grußwort zu sprechen.23 Die Anmerkung Dietzfelbingers, „eine richtige Einweihung wollen wir nicht halten“,24 weist schon darauf hin, dass die Enthüllung der Gedenktafel kein Ereignis von kirchengeschichtlicher Bedeutung war, an dem der Landesbischof hätte teilnehmen müssen. Nun kommt hinzu, dass Landesbischof Meiser an der Gedenkfeier gar nicht hätte teilnehmen können; selbst wenn er es gewollt hätte. Wie das Büro des Landesbischofs25 und seine ihn damals begleitende Tochter Elisabeth26 berichten, war er in dieser Zeit auf Dienstreise in Italien. Er besuchte dort die evangelischen Gemeinden. Am 5. April weilte er auf Capri, am 6. April predigte er im Gottesdienst in Neapel. Die Rückreise gestaltete sich schwierig, weil er sich auf Capri eine fiebrige Lungenentzündung zugezogen hatte, die ihn noch lange behinderte. (. . .) Damit ist erwiesen, dass Meiser sich der Gedenkfeier für Bonhoeffer am 6. April 1953 nicht versagt hat. Weder war er eingeladen, noch war sein Dienstplan darauf abgestimmt. Somit ist auch die von Bethge behauptete Begründung Meisers hinfällig. Was bisher als belastende Wahrheit für Meiser galt, stellt sich als historische Legende heraus. Im Zusammenhang mit dieser Episode von Flossenbürg eine tiefgreifende Gegnerschaft zwischen Bonhoeffer und Meiser zu behaupten, verbietet sich allein durch die Nachricht Dietzfelbingers, Bonhoeffer habe sich während seines Aufenthalts in Kloster Ettal zum Jahreswechsel 1940/41mehrmals mit Landesbischof Meiser zu Gesprächen in München getroffen.27 Auch die kolportierte Nachricht, Meiser habe sich geweigert, Bonhoeffer auf die Fürbittliste der Bekennenden Kirche zu setzen, trifft nicht zu. Bethge spricht in seiner Bonheffer-Biographie davon, dass seine Bekennende Kirche Bonhoeffer den Platz auf der Fürbittliste verweigerte: „. . . Er wusste, daß die Kirche noch nicht in der Lage war, ihn für das zu decken, wofür er ihre Mitverantwortung nicht erbitten konnte. Und er wußte, warum ihm seine Bekennende Kirche den Platz auf der Fürbittliste verweigerte: nicht nur, weil sie in einer gefährlichen Lage vorsichtig sein mußte; auch nicht nur deshalb, weil sie noch nicht alle Details der konspirativen Tätigkeit kannte; sondern doch wohl auch, weil sie noch nicht in den Kategorien zu denken vermochte, mit denen Bonhoeffer es unternahm, den außerordentlichen Anspruch der Lage zu beantworten.“28 Aber auch Bethges Behauptung ist unzutreffend. Der Präses der Bekennenden Lirche von Brandenburg, Kurt Scharf, liefert die eigentliche Erklärung für die Tatsache, dass Bonhoeffer nicht in die Fürbittliste aufgenommen worden ist: Bonhoeffers eigene Entscheidung. „Im Sommer 1943 war

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ich Schütze beim Wachbataillon der Kommandantur Berlin . . . Dort besuchte ich mehrfach Harald Poelchau, der auch Zutritt zu dem neben dem Gericht liegenden Militärgefängnis in der Lehrter Straße hatte. Dorthin wurde Bonhoeffer aus Anlaß von Vernehmungen tagsüber öfter gebracht. Poelchau berichtete mir auch über Bonhoeffer. Dabei habe ich ihn gebeten, Bonhoeffer im Auftrag des Altpreußischen Bruderrats die Frage vorzulegen, ob er auf die namentliche Fürbittliste gesetzt werden wolle. Wir sind immer so verfahren, das Einverständnis der Betroffenen oder ihrer Angehörigen einzuholen, da eine solche, den Staat provozierende Maßnahme auch eine Verschärfung des Verfahrens hätte zur Folge haben können. Bonhoeffer hat mich damals wissen lassen, daß er dies nicht für richtig halte. Auf die Liste derer, für welche die Gemeinde im öffentlichen Gottesdienst unter Nennung von Namen zur Fürbitte aufgerufen wird, gehören nur solche, die um ihrer Verkündigung oder ihres Verhaltens im unmittelbaren kirchlichen Dienst willen gemaßregelt oder verhaftet sind, nicht jedoch die, bei denen der Grund eine – im engeren Sinne – politische Betätigung ist. Somit dürfte auch sein Name nicht allein aus der Gruppe der Mitverhafteten herausgegriffen werden, es müßten alle Namen der Mitangeklagten bekanntgegeben werden. Und das war naturgemäß nicht möglich.“29

Eberhard Bethge: EKD distanziert sich von Bonhoeffer30 Was war das Besondere an Bonhoeffer? Das Besondere war, daß Bonhoeffer hat erkennen können: statt der Herausforderung der Jahre 1932/33/ 34/35 – die er damals für die Herausforderung durch den nationalsozialistischen Militarismus gehalten hat, worauf dann eine bestimmte Antwort im Namen Christi zu geben sei – hat jetzt eine andere Herausforderung vordringliche Realität erhalten, die mit der Kriegsdienstverweigerung überhaupt nicht getroffen und abgedeckt werden konnte. Und das war die Behandlung der Juden. (. . .) Die Herausforderung der Zeit hatte sich tatsächlich verschoben, und diese war mit der pazifistischen Antwort nicht mehr aufgenommen. Wenn denn auch dafür eine Verantwortung auf ihm lag und er sich nicht nur als isolierten Christen, als privaten Nachfolger Christi betrachtete, so war hier von Bonhoeffer eine neue Antwort zu finden und zu ver-antworten. Ich wollte hiermit zeigen, wieso ein Mann wie D. Bonhoeffer diese beiden Wege, Kriegsdienstverweigerung und Putschbeteiligung, hat gehen können. Der zweite Weg war dazu da, ein Terror-Regime zu beenden, und zwar um des Friedens willen. Es gibt natürlich noch eine Reihe weiterer Probleme. Was mich jetzt beschäftigt, ist das Problem, daß weder der erste Antwortversuch Bonhoeffers, nämlich die pazifistische Antwort, von seiner Kirche gedeckt worden ist, noch seine zweite Antwort, die Mitbeteili-

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gung bei dem Versuch, den Terroristen Hitler bei der Judenvernichtung zu stoppen, akzeptiert wurde. Und nun hat sich kürzlich die EKD wieder einmal von Bonhoeffer so distanziert, daß die Frage der Aktion des einzelnen Christen und der Verantwortung der Gesamtkirche, also die Frage der Wahrnehmung politischer Verantwortung durch den einzelnen Christen oder durch die Kirche, für mich im Augenblick die akuteste Frage ist. Sie erinnern sich an das Sjoellema-Papier: der Holländer Sjoellema, der Vertreter des Ökumenischen Rat, der die Südafrika-Frage in Genf bearbeitet, hat 1979 ein Studienpapier über die südafrikanische Lage an die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates geschickt; er hat von den neuesten Entwicklungen, der Ermordung Steve Bikos in Südafrika, neuen Gesetzen über die Finanzverwaltung, über die angestellten Mitarbeiter der verschiedenen Kirchenorganisationen in Südafrika berichtet, die nach Meinung von Sjoelleman dazu geführt haben, daß eine friedliche Lösung in Südafrika nicht mehr erwartet werden kann, und daß man nun leider auch wohl mit aufständischen Gewaltmaßnahmen derer, die sich das nicht mehr gefallen lassen wollen oder können, rechnen müßte.31 Dabei erwähnt das Papier: Es gibt große Christen, die da ein Beispiel gesetzt haben – und wird Bonhoeffer genannt. Sofort kam jedoch die Reaktion der EKD aus Hannover, und zwar in einem Artikel von E. Wilkens im Evangelischen Sonntagsblatt, wo es hieß: Das ist natürlich eine völlig unberechtigte Inanspruchnahme von Dietrich Bonhoeffer durch die Ökumene. In diesem Fall gibt es gar nichts zu vergleichen, sondern die Entscheidung Bonhoeffers ist die „individuelle, kontingente Gewissensentscheidung eines einzelnen Christen“. Das hat nichts mit der Kirche zu tun. So hat man sich nach 30 Jahren wieder total von Bonhoeffer distanziert. Ich frage: Was für eine Ekklesiologie steckt eigentlich dahinter, wenn man so reagiert, daß, wenn ein einzelner Christ verantwortlich entscheidet und handelt, die Kirche damit nichts zu tun haben will? Das beschäftigt mich im Augenblick am meisten.

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8.3 Dietrich Bonhoeffer in der deutschen Politik Rede vor dem Deutschen Bundestag George W. Bush32 Angesicht dieser Bedrohung (durch den Terrorismus, Hg.) ist die bestimmende Zielsetzung der NATO – unsere kollektive Verteidigung – so vordringlich wie eh und je. Die Vereinigten Staaten und Europa benötigen sich gegenseitig, um den Krieg gegen den globalen Terror zu führen und zu gewinnen. (. . .) Das Böse, das sich gegen uns aufgebaut hat, wird die „neue totalitäre Bedrohung“ genannt. Die Autoren des Terrors streben den Besitz atomarer, chemischer und biologischer Waffen an. Regime, die den Terror unterstützen, entwickeln diese Waffen und ihre Trägersysteme. Wenn diese Regime und ihre terroristischen Verbündeten diese Fähigkeiten perfektionieren würden, könnte keine innere Stimme der Vernunft, kein Hauch von Gewissen ihren Einsatz verhindern. Wunschdenken mag tröstlich sein, es fördert allerdings nicht die Sicherheit. Sie können dies eine strategische Herausforderung nennen; Sie können es wie ich, eine Achse des Bösen nennen; Sie können es nennen, wie Sie möchten, aber lassen Sie uns die Wahrheit sagen. Wenn wir diese Bedrohung ignorieren, fordern wir zu einer Art Erpressung auf und bringen Millionen von Bürgern in ernste Gefahr. (. . .) Die Vereinigten Staaten und die Nationen Europas sind mehr als militärische Verbündete; wir sind mehr als Handelspartner; wir sind die Erben der gleichen Zivilisation. Die Versprechen der Magna Charta, die Lehren Athens, die Kreativität von Paris, das unerschütterliche Gewissen Luthers, der sanfte Glaube des Heiligen Franziskus – alles ist Teil der amerikanischen Seele. Die Neue Welt war erfolgreich, indem sie die Werte der Alten Welt achtete. Unsere Geschichte driftete manchmal auseinander, dennoch versuchen wir, nach den gleichen Idealen zu leben. Wir glauben an freie Märkte, gemildert durch Mitgefühl. Wir glauben an offene Gesellschaften, die unveränderliche Wahrheiten widerspiegeln. Wir glauben an den Wert und die Würde jeden Lebens. Diese Wertüberzeugungen verbinden unsere Kulturen und bringen unsere Feinde gegen uns auf. Diese Wertüberzeugungen sind allgemein gültig und richtig. Sie prägen unsere Nationen und unsere Partnerschaft auf einzigartige Weise. Diese Überzeugungen veranlassen uns, Tyrannei und das Böse zu bekämpfen, wie es andere vor uns getan haben. Einer der größten Deutschen des 20. Jahrhunderts war Pastor Dietrich Bonhoeffer. Er verließ die Sicherheit Amerikas, um sich gegen das nationalsozialistische Regime zu stellen. In einer dunklen Stunde gab er Zeug-

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nis ab vom Evangelium des Lebens und zahlte den Preis für seinen Glauben – er wurde nur Tage vor der Befreiung seines Lagers getötet. „Ich glaube“, sagte Bonhoeffer, „dass Gott aus allem, auch aus dem Bösen, Gutes entstehen lassen kann und will.“ Diese Überzeugung wird durch die Geschichte Europas seit diesem Tag bewiesen – in der Versöhnung und Erneuerung, die diesen Kontinent verwandelt haben. In den Vereinigten Staaten haben wir vor kurzem den Schrecken des Bösen und die Macht des Guten gesehen.

Bonhoeffer-Verein gegen leichtfertige Instrumentalisierung Bonhoeffers Der Dietrich-Bonhoeffer-Verein gab eine Stellungnahme ab „Gegen eine Instrumentalisierung Bonhoeffers für die Rechtfertigung von Kriegseinsätzen“.33 Bonhoeffer-Zitat von US-Präsident Bush: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ Der amerikanische Präsident will damit seinen Krieg gegen den Terrorismus und gegen die von ihm so benannte „Achse des Bösen“ rechtfertigen. Wir verwahren uns gegen diese Instrumentalisierung Bonhoeffers, die seinen Intentionen widerspricht. Bonhoeffer wollte mit dem zitierten Wort zum Ausdruck bringen, dass das Vertrauen auf die Gütekraft Gottes uns in die Lage versetzt, selbst dem Bösen mit verantwortlichem, am Frieden orientierten Handeln zu widerstehen.

8.4 Würdigung Dietrich Bonhoeffers zum 100. Geburtstag Horst Köhler34 Fällt der Name Dietrich Bonhoeffer, denken wir sofort an den Text „Von guten Mächten wunderbar geborgen . . .“. Es ist das Glaubenszeugnis eines Mannes, der in einer Gefängniszelle der Gestapo-Zentrale in Berlin sitzt und weiß, dass ihm für seine Aufrichtigkeit und seinen Einsatz gegen das nationalsozialistische Regime die Hinrichtung droht. Und es ist der Zuspruch „erwarten wir getrost, was kommen mag“, mit dem Dietrich Bonhoeffer seinen Angehörigen Trost spendet. Bis heute entfalten die Zeilen ihre Wirkung. Die Gedichte, Briefe und Berichte, die Dietrich Bonhoeffer aus der Haft an seine Verwandten und Freunde schickt, berühren und stärken. Sie sind häufig von einer tiefen Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz, dem Fundament des Lebens und den Maximen des Handelns geprägt.

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Das Buch „Widerstand und Ergebung“ ist eines der großen Zeugnisse von Glauben und Menschlichkeit. Ich empfinde eine große Hochachtung für Dietrich Bonhoeffer. Er hinterfragt die Veränderungen, die mit der Machtergreifung Hitlers für jeden spürbar wurden. Er sah von Anfang an die Kriegsgefahr. Er wehrte sich dagegen, dass die Nationalsozialisten die Kirche vereinnahmten. Er trat gegen die Verfolgung der Juden ein. Von ihm ist der Satz überliefert: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ So einleuchtend das heute klingt, damals war es eine Einsicht, die leider nur wenige vertraten. In seiner Abscheu gegenüber den Nationalsozialisten und dem von Hitler heraufbeschworenen Krieg ging Dietrich Bonhoeffer bis zum Äußersten. Aus Liebe zum Frieden und aus Achtung der menschlichen Würde gab er den Pazifismus auf. Er entschied sich für den aktiven Widerstand, für die Mitwirkung am gewaltsamen Sturz der Nationalsozialisten. Das war der Grund für seine Verhaftung im April 1943. Zwei Jahre später, kurz vor Kriegsende, wurde er hingerichtet. Dietrich Bonhoeffer handelte aus dem Glauben heraus und auf den Glauben hin, mit allen Zweifeln, die dazugehören. Er war ein Mensch, der durch sein gottesfürchtiges und bescheidenes, aber zugleich konsequentes Auftreten beeindruckt. Er verkörpert für mich die Einheit aus Überzeugung und Tat. Vom „Dasein für andere“ schreibt er nicht nur in seiner Ethik, er lebt sein Dasein für andere. Am Grab seiner Großmutter sagte Dietrich Bonhoeffer 1936: „Sie stammte aus einer anderen Zeit, aus einer anderen geistigen Welt. Und diese Welt sinkt nicht mit ihr ins Grab. Dieses Erbe, für das wir ihr danken, verpflichtet.“ Heute sind wir es, die in der anderen Zeit leben: Deutschland ist eine demokratisches Land. Die Kirchen handeln aus dem christlichen Bekenntnis heraus. Sie sind unabhängig, auch wenn sie mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten. Und es gibt wieder lebendige jüdische Gemeinden. Dennoch bleibt die Vergangenheit präsent. Und unweigerlich stellt sich wohl jeder einmal die Frage: Wie hätte ich damals gehandelt? Ich glaube, die Antwort besteht darin, aufrichtig miteinander umzugehen, Entscheidungen verantwortungsbewusst zu fällen und einzugreifen, wenn menschlicher Würde Missachtung droht. Ich wünsche allen, die den 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer begehen, dass das gemeinsame Erinnern an den Theologen und Widerstandskämpfer sie ermutigt, couragiert um aufrichtig zu handeln. Auch heute, in einer anderen Zeit gilt: Das Erbe, für das wir ihm danken, verpflichtet.

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Resolution Nr. 46 des dbv, 17. Okt. 2008, getitelt: Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Sinne von Dietrich Bonhoeffers Friedensethik weiterdenken. Vorwort zu: Evangelische Theologie, 67. Jg., 2007, S. 403f. Vgl. Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft: Bonhoeffer Rundbrief, hg. v. C. Gremmels u. a., Nr. 78–81 (2005/06). Hg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Hauptabteilung III, Ausgabe 2006, Hannover 2006. (Hg.) Jörg Dinger: Tendenzen der Bonhoeffer-Rezeption in den letzten Jahrzehnten, in: Evangelische Theologie, 67. Jg., 2007, S. 405ff. (Hg.) Michael Klein: „Märtyrer im vollen Sinne dieses Wortes“. Das Bild Dietrich Bonhoeffers im frühen Gedenken der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit, in: Ebenda, S. 419ff. (Hg.) Christian Tietz: Mensch, Welt und Gott. Die Bonhoeffer-Rezeption in neueren dogmatischen Entwürfen, in: Ebenda, S. 433ff. (Hg.) Ernst Feil: Zur Rezeption Bonhoeffers in katholischer Kirche und Theologie, in: Ebenda, S. 444ff. (Hg.) Ralf K. Wüstenberg: Die Bonhoeffer-Rezeption in Südafrika, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, in: Ebenda, S. 459ff. Ulrich Duchrow an Hans Jürgen Schultz, 6. Jan. 2010. (Hg.) Forschungsstelle der evangelischen Studiengemeinschaft, Heidelberg. (Hg.) Ulrich Duchrow: Weltwirtschaft heute – Ein Feld für bekennende Kirche, München 1986. Eberhard Bethge: Modernes Märtyrertum als gemeinsames evangelisch-katholisches Problem, in: Ders.: Ohnmacht und Mündigkeit. Beiträge zur Zeitgeschichte und Theologie Dietrich Bonhoeffers, München 1969, S. 144ff. B. H. Forck, a. a. O. 7. N, 31. V, 59. E, 187. WE, 277. Armin Rudi Kitzmann: Nur ein Gerücht, in: Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern (Hg.): Korrespondenzblatt Nr. 6, Juni 2009, S. 100, 102. Eberhard Bethge: Ohnmacht und Mündigkeit. Beiträge zur Zeitgeschichte und Theologie nach Dietrich Bonhoeffer, München 1969, S. 143. Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, Münster 2005. LAELKB, Vereine III, 4, Nr. 12, Akt „Bayerische Pfarrbruderschaft“. Ebenda. Ebenda, 17. April 1953. Mündlicher Bericht vom 21. März 2009. Gespräch mit Pfr. i.R. Koller am 15. März 2009.

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LAELKB, ebenda, Dietzfelbinger an Bethge, 31. Mai 1983. Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967, S. 893. W.-D. Zimmermann: Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer, Berlin 1995, S. 122f. Auszug aus: Eberhard Bethge: Der Weg vom ‚Pazifismus‘ in den Widerstand. Gewaltlosigkeit und Gewalt im Tun und Denken Dietrich Bonhoeffers, in: Ders.: Bekennen und Widerstehen. Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984, S. 106ff. (Hg.) Vgl. das Memorandum zum Verhältnis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) – unter besonderer Berücksichtigung des Programm zur Bekämpfung des Rassismus, in: Ökumenische Rundschau 1/1979, S. 43ff. US-Präsident George W. Bush, Berlin 23. Mai 2002. Resolution Nr. 40 des dbv, angenommen von der Mitgliederversammlung des dbv in Iserlohn, 26. Mai 2002. Horst Köhler: Grußwort zum 100. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers am 4. Febr. 2006, Berlin im Jan. 2006.

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4.2. Dietrich Bonhoeffer in Breslau geboren Berufung des Vaters an die Berliner Universität SS 1923 Beginn des Theologiestudiums in Tübingen Ab Sommersemester 1924 Studium in Berlin; Bonhoeffer wird Hörer bei dem liberalen Theologen Adolf von Harnack; gleichzeitig öffnet er sich für die neue theologische Richtung der „Dialektischen Theologie“ (Karl Barth in Bonn) 17.12. Promotion bei R. Seeberg mit „Sanctorum Communio“ 17.1. Erstes Theol. Examen; 15.2. Vikariatsantritt in Barcelona Ab dem SS 1929 bis September 1930 Assistent bei W. Lütgert in Berlin 5.–8.7. Zweites Theol. Examen; 18.7. Habilitation mit „Akt und Sein“; 5.9. Abreise nach New York zum Studienaufenthalt am Union Theological Seminary (bis Juni 1931) Im Juli zwei Wochen bei Karl Barth in Bonn; ab 1.8. Privatdozent in der Berliner Theol. Fakultät; 1.–5.9. bei der Weltbundkonferenz in Cambridge und dort zum Jugendsekretär gewählt; 15.11. Ordination; im Winter 1931/32 Vorlesung „Die Geschichte der Systematischen Theologie im 20. Jahrhundert“ und Seminar „Die Idee der Philosophie und die protestantische Theologie“; vom November an (bis März 1932) eine Konfirmandenklasse in Berlin-Wedding betreut2 Im Sommersemester Vorlesung „Das Wesen der Kirche“ und Seminar „Gibt es eine christliche Ethik?“; Erwerbung einer Baracke in Biesenthal; im Juli und August auf ökumenischen Tagungen auf der Westerburg, in Ciernohorské Kúpele, Genf und Gland; im Wintersemester Vorlesung „Schöpfung und Sünde“ (als „Schöpfung und Fall“ 1933 veröffentlicht) und „Jüngste Theologie“ sowie Seminar „Probleme einer theologischen Anthropologie“ 1.2. Rundfunkvortrag „Wandlungen des Führerbegriffes“; im April Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“; im Sommersemester Vorlesung „Christologie“ und Seminar zu Hegels Religionsphilosophie; 30.7. Vorstellungspredigten Bonhoeffers in den Gemeinden Sydenham und St. Paul in London; 24.8. Tagung der – mehrheitlich deutschchristlichen – altpreußischen Provinzialsynoden, um die Vertreter für die Generalsynode zu wählen – die Berlin-Brandenburgische Provinzialsynode beschließt die Übernahme der staatlichen „Ariergesetzgebung“ für Kirchenbeamte; Ende August Flugblatt „Der Arier-Paragraph in der Kirche“; 5./6.9. Generalsynode teilt die altpreußische Kirche in Bistümer auf, verfügt, daß 16 der 19 Abgeordneten zur Nationalsynode Deutsche Christen sein müssen, und übernimmt den staatlichen „Arierparagraphen“; im September Vorarbeit mit Niemöller zur Pfarrernotbundverpflichtung; 15.–20.9. Teilnahme an der Weltbund-Sitzung in Sofia; 17.10. Antritt des Pfarramtes in London 22.–30.8. Ökumenische Konferenz in Fanö; 28.8. Kooptierung zum Mitglied des Ökumenischen Rates; 4.–8.9. bei Jean Lasserre in Bruay; 5.11. Lossagung deutscher evangelischer Gemeinden in England von der Reichskirchenregierung

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Im März Besuch anglikanischer Klöster; 15.4. Abschiedsbesuch bei Bischof Bell in Chichester; 26.4. Beginn des Predigerseminars auf dem Zingsthof (Ostsee); 24.6. Einzug in Finkenwalde; im Juli Aufsatz „Die Bekennende Kirche und die Ökumene“; 6.9. Antrag an die Kirchenleitung zur Errichtung eines Bruderhauses Im Februar letztes Kolleg in der Berliner Fakultät über „Nachfolge“; 29.2.–10.3. Studienfahrt des Predigerseminars nach Dänemark und Schweden; 22.4. Vortrag in Finkenwalde „Zur Frage der Kirchengemeinschaft“; 5.8. Lehrbefugnis an der Universität Berlin entzogen; 20.8. zum Ökumenischen Rat in Chamby Im Februar letzte Teilnahme an einer ökumenischen Konferenz in London; am 1.7. Niemöllers Verhaftung; Ende September polizeiliche Schließung des Predigerseminars Finkenwalde; im November 27 ehemalige Finkenwalder Seminaristen in Haft; „Nachfolge“ erschienen; 5.12. Beginn der Sammelvikariate in Köslin und GroßSchlönwitz (später: Sigurdshof) 11.1. Ausweisung aus Berlin: im Februar erste Kontakte mit Sack, Oster und indirekt mit Canaris und Beck; 20.6. Treffen ehemaliger Finkenwalder Seminaristen in Zingst; Bibelarbeit „Versuchung“; im September in Göttingen „Gemeinsames Leben“ geschrieben: 26.10. Vortrag „Unser Weg nach dem Zeugnis der Schrift“ 10.3. Reise nach London zu Besprechungen mit Bischof Bell, Visser’t Hooft, Reinhold Niebuhr und Gerhard Leibholz; 2.6. Abreise in die USA; 20.6 Absage an Smith-Leiper, in den USA zu bleiben; 27.7. wieder in Berlin 13.3. Semesterende in Köslin und Sigurdshof; zwei Tage danach Schließungsbefehl der Gestapo; im Juni und Juli Visitationsreisen nach Ostpreußen; 14.7. Auflösung der Freizeit in Blöstau; im August Gespräche mit Oster und v. Dohnanyi über UKStellung für Abwehraufträge: 4.9. Redeverbot und polizeiliche Meldepflicht; im September und Oktober Arbeit an der „Ethik“ in Klein-Krössin; 20.10. nach München, um dort der Abwehrstelle beigeordnet zu werden; ab 17.11. Gast in der Benediktinerabteil Ettal; dort intensive Weiterarbeit an der „Ethik“ 24.2.–24.3. erste Reise in die Schweiz; 27.3. Druck und Veröffentlichungsverbot erhalten; 29.8.–26.9. zweite Reise in die Schweiz, mit Visser’t Hooft Schreiben an W. Patin an „The Church and the new order“; im Oktober Beginn der Judendeportationen in Berlin; Unternehmen 7 10.–18.4. Reise mit Helmuth v. Moltke nach Norwegen und Stockholm; im Mai dritte Reise in die Schweiz; 30.5.–2.6. Flug nach Stockholm, um Bischof Bell zutreffen; ab Juni Kontakte zu der Familie v. Wedemeyer in Pätzig in der Neumark; erste Begegnungen mit Maria v. Wedemeyer 17.1. Verlobung mit Maria v. Wedemeyer; 13.3. und 21.3. Attentatsversuche auf Hitler; 5.4. Hausdurchsuchung und Verhaftung; ins Gefängnis Tegel eingeliefert; zugleich H. v. Dohnanyi und Dr. Josef Müller mit Frauen inhaftiert; 29.4. Ausfertigung des Haftbefehls und der Anklage auf „Zersetzung der Wehrkraft“ Im Januar Untersuchungsführer Roeder abgelöst; im Februar Canaris abgelöst und Abwehr in das RSHA überführt; 6.3. erster Tagesangriff auf Tegel; 30.4. erster theologischer Brief3, im Mai Anklage auf unbestimmte Zeit aufgeschoben; ab Juni theologische Gedanken in Gedichtform (Poesie) formuliert; 20.7. v. Stauffenbergs Attentat; 22.9. Gestapokommisar Sondereggers Aktenfund im Zossener Abwehrbunker; dadurch Bonhoeffer kompromittiert; Anfang Oktober Fluchtplan; 5.10. Fluchtpläne aufgegeben; Klaus Bonhoeffer (Bruder), Rüdiger Schleicher (Schwager) und F.J. Perels verhaftet und Sippenhaft befürchtet; 8.10. in den Gestapokeller der Prinz Albrecht-Straße eingeliefert; 7.2. in das KZ Buchenwald verlegt; keine Kontakte mehr nach außen; 3.4. Transport von Buchenwald nach Regensburg; 5.4. bei Hitlers Mittagsbesprechung Vernich-

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Zeittafel zur Biographie Bonhoeffers tungsbefehl erteilt; 6.4. weiter nach Schönberg (Bayrische Wald), 9.4. nach Flössenburg; nächtliches Standgericht; am 9.4. zusammen mit Oster, Sack, Canaris, Strünck und Gehre hingerichtet: v. Dohnanyi in Sachsenhausen getötet; am 23.4. Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher und F. J. Perels in Berlin getötet

Anmerkungen 1 2

3

Basis der Zeittafel sind die Angaben Eberhard Bethges in seiner Bonhoeffer-Biographie (DB 1058f.). Die Angaben Bethges werden hier zum Teil gekürzt, zum Teil erweitert. Die Konfirmandengruppe wird von Eberhard Bethge (DB 1058) irrtümlich Berlin-Wedding zugeordnet; sie gehört aber an die Zionskirche, die in Berlin-Mitte liegt – so eine Information von Wilfried Schulz von der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft (ibg). Vgl. DBW 8, 401ff.

Abkürzungsverzeichnis AGK Anm. ApU B Bd. Bde. bes. BK Chr, I-II Chr DB

DBW DC, D. C. DEK dt. Dtn ebd. EG EKG Ev Th(eol) Ex FRB FRB:D

FRB:M

FRB:N

Gen GS H, H. Hebr hg. hsl. ibg

Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes Anmerkung Evangelische Kirche der Altpreußischen Union Bonhoeffer, Dietrich Band Bände besonders Bekennende Kirche (ab 1934) Chronikbuch, 1. und 2. Chronikbuch Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie (1967 Chr. Kaiser), 9. Auflage Gütersloher Verlagshaus 2005 Dietrich Bonhoeffer Werke (Bände) 1–17 1986ff. Deutsche Christen Deutsche Evangelische Kirche deutsch Deuteronomium, 5. Buch Mose ebenda Evangelisches Gesangbuch Evangelisches Kirchengesangbuch Evangelische Theologie (Zeitschrift) Exodus, 2. Buch Mose Finkenwalder Rundbrief(e) Finkenwalder Rundbriefe: Dokumentation (= Ilse Tödt und Otto Berendts (Hrsg.), Die Finkenwalder Rundbriefe – Briefe und Texte von Dietrich Bonhoeffer und seinen Predigerseminaristen 1935–1946) Finkenwalder Rundbriefe: Materialband (= Karl Martin (Hrsg.), Bonhoeffer in Finkenwalde: Briefe, Predigten, Texte aus dem Kirchenkampf gegen das NS-Regime 1935–1942 – Studienausgabe mit Hintergrunddokumenten und Erläuterungen) Finkenwalder Rundbriefe: Nachtragsband (= Karl Martin, Ein Ashram in Pommern: Nachtragsband mit Interpretationsansätzen zu den „Finkenwalder Rundbriefen“ – Briefe, Predigten, Texte aus dem Kirchenkampf gegen das NS-Regime 1935–1942) Genesis, 1. Buch Mose Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften (Bände) I–VI 1958ff. Heft Hebräerbrief herausgegeben handschriftlich Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft

254 i. e. Jes Jon KBA KD Kt. Lk masch. Mk Mt MW NL NSDAP NT PAM Pfr., Pf. Prof. Prov Ps R Reg, I-II Reg Röm s. sog. TEH vgl. VL WE []

Abkürzungsverzeichnis id est = das heißt, das bedeutet, mit anderen Worten Jesaja Jona Karl-Barth-Archiv, Basel Karl Barth, Kirchliche Dogmatik Kanton Lukasevangelium maschinenschriftlich Markusevangelium Matthäusevangelium Die Mündige Welt (Bände) I–V 1955ff. Nachlass Dietrich Bonhoeffer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neues Testament Dietrich Bonhoeffer, Predigten – Auslegungen – Meditationen Pfarrer Professor Proverbia, Sprüche Psalm Römerbrief Liber 1. und 2. Regum, Königsbücher Römerbrief siehe sogenannt Theologische Existenz heute (Schriftenreihe) vergleiche Vorläufige Leitung der DEK Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung Zufügung durch Herausgeber

Literatur Quellen Bismarck, Ruth Alice von, Ulrich Kabitz (Hg.), Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945, München 2010 Bonhoeffer, Dietrich, Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), hrsg. von Eberhard Bethge u. a., München 1986ff., Gütersloh 1994ff. DBW 1 (1986) Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, 1930 DBW 2 (1988) Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, 1931 DBW 3 (1989) Schöpfung und Fall, 1933 DBW 4 (1989) Nachfolge, 1937 DBW 5 (1987) Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, 1939 und 1940 DBW 6 (1992) Ethik, 1940–1943 DBW 8 (1998) Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, 1943– 1945 DBW 12 (1997) Berlin 1932–1933 DBW 14 (1996) Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937 DBW 15 (1998) Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937–1940 DBW 16 (1996) Konspiration und Haft 1940–1945 DBW 17 (1999) Register und Ergänzungen Bonhoeffer, Dietrich, Gesammelte Schriften (GS), hrsg. von Eberhard Bethge, München 1958ff. Bonhoeffer, Dietrich, Predigten – Auslegungen – Meditationen 1925–1945, 2 Bde., hrsg. von O. Dudzus, München 1984f. Bethge, Eberhard (Hg.), Die Mündige Welt (MW) I–IV, München 1955ff. Martin, Karl (Hg), Bonhoeffer in Finkenwald. Brief, Predigten, Texte aus dem Kirchenkampf gegen das NS-Regime 1935–1942, Wiesbaden 2012

Weiterführende Literatur Aus der Überfülle an Literatur zu Leben und Werk Bonhoeffers (vgl. Vorbemerkungen der Herausgeber) wird hier nur ein ganz kleiner Ausschnitt zum Erststudium Bonhoeffers angeboten. Es wird sich dabei weitgehend an den Themenbereichen orientiert, die in diesem Band auch angeboten werden. Ackermann, Josef, Dietrich Bonhoeffer – Freiheit hat offene Augen. Eine Biographie, Gütersloh 2005 Bethge, Eberhard, Am gegebenen Ort: Aufsätze und Reden 1970–1979, München 1979 Bethge, Eberhard, Bekennen und Widerstehen: Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984 Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, 9. Aufl. Gütersloh 2005

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Literatur

Bethge, Eberhard, Erstes Gebot und Zeitgeschichte: Aufsätze und Reden 1980–1990, München 1991 Bethge, Eberhard, Ohnmacht und Mündigkeit: Beiträge zur Zeitgeschichte und Theologie nach Dietrich Bonhoeffer, München 1969 Denecke, Axel, Gott ist bei uns . . . Theo-Poesie. Dietrich Bonhoeffers späte Wende zu einer poetischen Theologie, Sonderheft Zeitschrift „Verantwortung“, Wiesbaden-Berlin 2014 Dramm, Sabine, Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, Gütersloh 2001 Feil, Ernst, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers: Hermeneutik – Christologie – Weltverständnis, 5. Aufl. Berlin 2005 Feil, Ernst, Verspieltes Erbe? Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus, Gütersloh 1979 Gandhi, Mahatma, Gewalt überwinden – aus dem Geist handeln, ausgewählt und eingeleitet von Gertrude u. Thomas Sartory, Freiburg 2002 Gremmels, Christian (Hg.), Bonhoeffer und Luther. Zur Sozialgestalt des Luthertums in der Moderne, Gütersloh 1983 Gremmels, Christian/Pfeifer, Hans: Theologie als Biographie. Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983 Gremmels, Christian, Florian Schmitz (Hg.), Theologie und Lebenswelt: Beiträge zur Theologie der Gegenwart, Gütersloh 2012 Gruchy, John W. de, Eberhard Bethge – Freund Dietrich Bonhoeffers: Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2007 Jürgenbehring, Heinrich, Christus für usn heute. Dietrich Bonhoeffer lesen, interpretieren, weiterdenken, karin fischer verlag, Aachen 2009 [empfohlen zum ersten schnellen Einstieg in das gesamte theologische Schaffen Bonhoeffers] Henkys, Jürgen, Geheimnis der Freiheit. Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft: Biographie – Poesie- Theologie, Gütersloh 2005 Huber, Wolfgang, Ilse Tödt (Hg.), Ethik im Ernstfall. Dietrich Bonhoeffers Stellung zu den Juden und ihre Aktualität, Gütersloh 1982 Martin, Karl (Hg.), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen, Berlin 2008 Mayer, Rainer, Christuswirklichkeit – Grundlagen, Entwicklung und Konsequenzen der Theologie Dietrich Bonhoeffers, Stuttgart 1969 Metaxas, Eric, Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen 2011 Reina, Peter, Ökumeniker, Brückenbauer, Fürsprecher, Europäer: Bischof George Bell. Reden vor dem Oberhaus des Britischen Parlaments und Briefwechsel mit Rudolf Heß, Wiesbaden 2012 Scherffig, Wolfgang, Junge Theologen im ‚Dritten Reich‘. Dokumente, Briefe, Erfahrungen, 3 Bde., Neukirchen 1989ff. Schlingensiepen, Ferdinand, Dietrich Bonhoeffer 1906–1945. Eine Biographie, München 2006 Scholder, Klaus, Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Frankfurt/M. 1986/88 Sifton, Elisabeth, Fritz Stern, Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler, München 2013 Tietz, Christiane, Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2013 Wind, Renate, Dem Rad in die Speichen fallen – Die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer, 2. Aufl. Gütersloh 2005