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German Pages 252 Year 2007
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 187
Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa Herausgegeben von Detlef Merten
Duncker & Humblot · Berlin
DETLEF MERTEN (Hrsg.)
Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 187
Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa Herausgegeben von
Detlef Merten
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-12585-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In der Zeit vom 16. bis 18. März 2005 fand an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Kooperation mit dem Landtag Rheinland-Pfalz die 73. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung unter der wissenschaftlichen Leitung des Herausgebers zum Thema „Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa“ statt, zu der Teilnehmer aus dem Inland und Ausland begrüßt werden konnten. Die Vorträge sowie Diskussionsberichte werden im folgenden veröffentlicht. Im Hinblick auf die nach der Tagung verabschiedete Föderalismus-Reform wird des weiteren ein Beitrag von Wito Schwanengel zum Thema „Die Modernisierung des deutschen Bundesstaats zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ abgedruckt, der die Reform einer kritischen Analyse unterzieht und zugleich prüft, ob das Bekenntnis zu größerer Vielfalt, geringerer Politikverflechtung und klarerer Verantwortungszurechnung eingelöst wurde. Speyer, im Sommer 2007
Detlef Merten
Inhaltsverzeichnis Einführung in das Tagungsthema Detlef Merten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die bundesstaatliche Ordnung auf dem Prüfstand Klaus Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Klaus Stern Katrin Schoppa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Föderalismusreform in der Sackgasse? – Bericht über die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Horst Risse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion im Anschluß an das Referat von Horst Risse Doris Dietze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kultur und Bildung im Bundesstaat Georg-Berndt Oschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bundesstaatsreform in Österreich Ewald Wiederin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Ewald Wiederin Lippold Frhr. v. Bredow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Reformstau durch Föderalismus? Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans-Jürgen Papier Stefan Ittner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Entflechtung bundesstaatlicher Verantwortung im Bereich der Gesetzgebung Edzard Schmidt-Jortzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Edzard Schmidt-Jortzig Annette Schorr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Aufgabengerechte Finanzausstattung im Bundesstaat Ferdinand Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Ferdinand Kirchhof Christian Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Inhaltsverzeichnis
Landesparlamente im Mehrebenensystem Christoph Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Christoph Grimm Regina Heiny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Die Europatauglichkeit des Art. 23 GG Peter M. Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Peter M. Huber Ramona Trautmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
*** Die Modernisierung des deutschen Bundesstaats zwischen Anspruch und Wirklichkeit Wito Schwanengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Verzeichnis der Referenten und Diskussionsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Einführung in das Tagungsthema Von Detlef Merten Meine Damen und Herren, die Bundesstaatlichkeit ist hergebrachtes Strukturprinzip deutscher Staatlichkeit. Deutschland war fast immer föderalistisch verfaßt, und der „harte Kern der Staatlichkeit“, wie Hans Maier formulierte, liegt seit Jahrhunderten bei den Ländern. Die vom deutschen Volk im 19. Jahrhundert erkämpfte staatliche Einheit – Ende des 20. Jahrhunderts ist sie ihm dann eher als Geschenk der Geschichte in den Schoß gefallen – war von Beginn an als „Bund“ konzipiert, wobei nicht nur eine Fülle kleinerer Länder neben der Hegemonialmacht Preußen stand, sondern den Ländern auch erhebliche Konzessionen gemacht werden mußten, wovon heute noch als Relikt die Biersteuer zeugt, deren Aufkommen als einzige der Verbrauchssteuern den Ländern, und damit insbesondere Bayern zusteht (Art. 106 Abs. 2 Nr. 5 GG). Die Neugliederung der Länder war ebenso ein Problem für die Weimarer Reichsverfassung wie später für das Bonner Grundgesetz. Bekanntlich wollte schon Hugo Preuß ursprünglich Preußen zerschlagen, was dann erst ein viertel Jahrhundert später den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gelang. Die Zerstückelung und Umgliederung der Länder als Folgen der Besatzungsherrschaft – noch heute in Gestalt vieler Bindestrich-Länder erkennbar – wurde zu einer Erblast für die Schöpfer des Grundgesetzes, die diese nicht tilgen, sondern nur in Form eines bindenden Gesetzgebungsauftrags im Grundgesetz festschreiben konnten. Später zu einer Kann-Bestimmung abgeschwächt, war das Problem der Neugliederung auch bei der Wiedervereinigung nicht lösbar. Wer den wehenden Mantel der Geschichte ergreifen wollte und zwei unterschiedliche Staatsordnungen verschmelzen mußte, konnte nicht noch zuvor andere Herkulesarbeiten erledigen. Aber es war von Beginn an ein Defizit bei der Einsetzung der Föderalismus-Kommission, daß man die Neugliederung und andere wichtige Fragen, ohne die eine dauerhafte Reform der Bundesstaatlichkeit nicht möglich ist, ausgeklammert hat. Der vielbeschworene Wettbewerbsföderalismus setzt wirtschaftlich und finanziell einigermaßen vergleichbare Gliedstaaten voraus, weil andernfalls der Wettbewerb im Ergebnis durch einen Finanzausgleich wieder konterkariert wird. Das föderative Strukturprinzip bewirkt, daß Deutschland nicht nur parlamentarische Demokratie ist, sondern sich zu einem parlamentarisch-födera-
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tiven Regierungssystem bekennt. Deshalb geht das Demokratieprinzip der Bundesstaatlichkeit nicht vor, und es besteht auch keine Parlamentssuprematie gegenüber dem Bundesrat. Dieser verkörpert vielmehr – was im Montesquieu-Jahr hervorgehoben werden sollte – ein Element vertikaler Gewaltentrennung. Politische Thesen, wonach die demokratische Mehrheitsentscheidung des Bundestages von der Bundesratsmehrheit ausgehebelt werde, verkennen die grundgesetzliche Fundamentalstruktur Deutschlands. Dieser Bundesrat stellt im übrigen in langer historischer Tradition ein Element des Exekutiv-Föderalismus dar, der deshalb so fruchtbar ist, weil er Erfahrungs-Defizite des Bundes bei der Gesetzgebung, insbesondere in Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit der Länder ausgleicht. Sicherlich gehören die Gesetzgebungskompetenzen in erster Linie auf den Prüfstand einer bundesstaatlichen Ordnung, über die Herr Kollege Stern anschließend sprechen wird. Aber es sollte keine Kompetenzverteilung nach Kassenlage geben, so daß die Länder einmal dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die beamtenrechtliche Besoldung und Versorgung aufdrängen, damit dieser einen Besoldungswettbewerb unterbindet, einige Jahrzehnte später dann diese Kompetenz zurückfordern, um die Besoldung leichter absenken zu können. Gleichzeitig ist dieser Art. 74a GG (a. F.) übrigens ein Beispiel dafür, wie sehr die Klage des Bundes über zunehmende Zustimmungsgesetze zu relativieren ist. Denn in Gestalt dieser Verfassungsbestimmung hat er eine ihm ursprünglich fehlende konkurrierende Gesetzgebungskompetenz erhalten und dafür als Preis die Zustimmungsbedürftigkeit bezahlt. Er hatte also bei sauberer Bilanzierung im Ergebnis einen kompetenzrechtlichen Gewinn und keinen Verlust erwirtschaftet. Ob die Zeit für eine Reform der Gesetzgebungskompetenzen berufen ist, erscheint im übrigen fraglich, da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem neu gefaßten Art. 72 GG sich gerade zu konsolidieren beginnt. Bei der Kritik an der Interpretation der Erforderlichkeitsklausel durch das Bundesverfassungsgericht sollte gerade vor dem Hintergrund eines beklagten Reformstaus berücksichtigt werden, daß die Verfassungswidrigerklärung von Bundesgesetzen vielfach Verhinderungs-Reformen des Bundes betraf, z. B. die Verhinderung der Habilitation durch die Einführung von Juniorprofessuren, das Verbot der Erhebung von Studiengebühren. Bei Reformüberlegungen fällt weiterhin ins Gewicht, daß die bisherigen, seit 1994 im Grundgesetz angelegten Reformmöglichkeiten nicht genutzt worden sind. Denn Art. 125a Abs. 2 GG wie auch Art. 72 Abs. 3 GG (jetzt: Art. 72 Abs. 4 GG n. F.) sehen die Möglichkeit eines „Zurückgebens“ von Gesetzgebungsmaterien durch Bundesgesetz vor. Die Bemühungen um ein solches Bundesgesetz verliefen bisher äußerst unbefriedigend. Landesmini-
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sterkonferenzen und Bundesratsausschüsse haben sich von vornherein nur auf eine relativ kleine Liste derartiger Zuständigkeiten einigen können. Die entsprechenden Gesetzentwürfe fielen dann sowohl in der 13. als auch in der 14. Wahlperiode des Bundestages dem Diskontinuitätsprinzip zum Opfer, so daß bis heute kein derartiges Bundesgesetz zustande gekommen ist. Ist aber schon die Rückgabe von Gesetzgebungsmaterien bisher gescheitert, so fragt man sich, welchen Sinn neue Zugriffsrechte der Länder haben sollen. Die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in den gesetzgebenden Körperschaften oder Dringlichkeiten aktueller Gesetzesvorhaben taugen nicht als Grund für länger wirkende Reformen. Auch liebgewordene Klischees, die dann als Versatzstücke in der politischen Rhetorik dienen, müssen zunächst wissenschaftlich auf ihre Richtigkeit und Verläßlichkeit geprüft werden, bevor man ihretwegen in Reformhektik verfällt. Das gilt für den angeblich dramatisch gestiegenen Anteil der Zustimmungsgesetze seit der ersten Legislaturperiode, für den Bundesrat als „Blockadeinstrument“ der jeweiligen Opposition, für die angeblich eine effektive und fristgerechte Europapolitik des Bundes verhindernde Schwerfälligkeit des Bundesrates, für einen exzessiv legeferierenden Bundesgesetzgeber, der die grundgesetzlich vorgesehene Landesgesetzgebungskompetenz als Regel auf den Kopf stelle, für ein angebliches Verfassungsgebot zur Herstellung „einheitlicher“ oder „gleichwertiger“ Lebensverhältnisse. Diese Argumente stammen teilweise aus der grundgesetzlichen Steinzeit, nämlich aus der Zeit vor Änderung des Art. 72 GG im Jahre 1994, oder halten einer wissenschaftlichen Nachprüfung nicht stand. Ich darf in diesem Zusammenhang auch auf die Antrittsvorlesung meines Speyerer Kollegen Thomas König zu dem Thema „Delegation und politische Kontrolle – oder wer kontrolliert die Kontrolleure?“ verweisen. Meine Damen und Herren, die Europaoffenheit unseres Tagungsthemas erlaubt uns, nicht nur einen Blick auf die Europatauglichkeit des Art. 23 GG zu werfen, sondern auch den Föderalismus in Nachbarstaaten zu betrachten, wobei Österreich aufgrund gemeinsamer Rechtstraditionen besonders naheliegt, zumal hier vor einiger Zeit eine Föderalismusreform gescheitert ist und ein Verfassungskonvent gerade an einer Gesamtrevision des Bundesverfassungsgesetzes arbeitet. Damit schließt sich diese Tagung zugleich an frühere Veranstaltungen der Hochschule an, die die Rolle des Bundesrates sowie der Landesparlamente in Deutschland und Österreich behandelt haben oder sich Fragen der Verfassungsinterpretation in beiden Staaten widmeten. Daß wir die Tagung in Zusammenarbeit mit dem Landtag RheinlandPfalz veranstalten, findet seinen Ausdruck auch darin, daß Herr Landtagspräsident Grimm am Freitag über die Landesparlamente im Mehrebenensystem referieren wird.
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Indem ich der Hoffnung auf eine wissenschaftlich fruchtbare Tagung Ausdruck gebe, darf ich nun Herrn Prof. Klaus Stern, gleichsam den Doyen der deutschen Staatsrechtslehrer, zu seinem Grundsatzreferat über „Die bundesstaatliche Ordnung auf dem Prüfstand“ bitten.
Die bundesstaatliche Ordnung auf dem Prüfstand Von Klaus Stern Bekanntlich übt das Ende eines Jahres einen eigentümlichen Zwang auf den Menschen aus. Man will eine Aufgabe zu Ende bringen; das neue Jahr soll damit nicht belastet werden. So hatte es sich auch die seit November 2003 arbeitende „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ im Dezember 2004 vorgenommen. Aber sie blieb ohne Abschlußerfolg, auch wenn sie eine Reihe beachtlicher Ergebnisse vorzuweisen hatte, über die Konsens bestand. Gleichwohl gilt: Das Jahr 2005 ist mit den Problemen weiter beschäftigt; die bundesstaatliche Ordnung gehört nach wie vor auf den Prüfstand. Man kann tiefdringende Analysen darüber anstellen, warum die Kommission zu keinem einvernehmlichen Abschlußbericht gekommen ist. Die Bitburger Gespräche vom Januar dieses Jahres mit mehreren Referaten Beteiligter haben dazu einigen Aufschluß gegeben. Darauf muß verwiesen werden1. War es tatsächlich die Bildungspolitik oder waren es unterschwellig fundamentale Machtfragen, die eine Einigung verhinderten? Es genügt, im Schillerjahr aus „Wallensteins Tod“ zu zitieren: „Das war kein Heldenstück, Octavio“. Ohnehin wären wir mit der Aufdeckung von Hintergründigkeiten, deren sich die Tagespresse befleißigte,2 keinen Schritt weiter. Unser Blick sollte in die Zukunft gerichtet sein. Erfreulich ist insoweit, daß fast alle Verantwortlichen in Bund und Ländern die Notwendigkeit einer Lösung dringender föderativer Probleme betonen und den Fortgang der Reformdebatte erstreben. Auf die lange Bank darf die Reform in der Tat nicht geschoben werden. Das kann sich Deutschland in seiner gegenwärtigen Situation nicht leisten. Doch gründliches Nachdenken ist angezeigt – über die richtige Methode für eine Reform und über die Reforminhalte. 1
Noch unveröffentlichte Referate von H. H. Klein, H.-P. Schneider, P. Müller, H.-W. Arens, P. M. Huber, G. Mittler, K.-P. Sommermann, K. Hänsch. Bericht hierzu St. Brink, ZRP 2005, S. 60 ff. 2 Vgl. etwa G. P. Hefty, FAZ vom 20.12.2004, S. 10, der die Kommissionsarbeit als ein „Schaulaufen“ sieht, „um den Vorwurf der Untätigkeit und der Reformverweigerung zu entkräften“.
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Zwei Aspekte drängen sich für unsere Reformdebatte in den Vordergrund: zum einen der des weiteren Verfahrens, zum zweiten und gewichtiger die in der Sache zu lösenden Fragen. I. Hinsichtlich des Verfahrens bleibt wohl nichts anderes übrig, als mit einer gleichartig zusammengesetzten Kommission weiterzumachen. Der Vorschlag eines Konvents à la Herrenchiemsee oder neuerdings des Europäischen Grundrechte- und Verfassungskonvents ist diskussionswürdig, aber wohl letztlich nicht weiterführend, weil es nach allem gedruckten Papier nicht mehr um die Aufbereitung von Grundlagen und Lösungsvorschlägen geht, sondern um Entscheidungen. Da hierzu unzweifelhaft angesichts des Erfordernisses von Grundgesetzänderungen Bundestag und Bundesrat nach Art. 79 Abs. 2 GG berufen sind, sind Mitglieder dieser Gremien gleichsam geborene Entscheidungsträger. Dem Vernehmen nach wollen sie auch weiterarbeiten. Dennoch empfand ich es als eine ebenso glückliche wie staatspolitisch bedeutsame Fügung, daß sich der Bundespräsident in die Debatte um die Föderalismus-Reform eingeschaltet hat. Sein pouvoir neutre könnte helfen, die Stagnation zu überwinden. Er könnte z. B. durch einen „Rat der Weisen“, zusammengesetzt aus von ihm berufenen elder statesmen und unabhängigen Sachverständigen, zunächst einmal ausloten lassen, wie am besten weitergearbeitet werden könnte. Ein zweiter Fehlschlag jedenfalls wäre fatal für Deutschland und seine Reformfähigkeit. Möge der historische Speyerer Boden, auf dem diese Konferenz zur bundesstaatlichen Ordnung weise vorausschauend nach dem Mißerfolg des vergangenen Jahres stattfindet, prächtige Reformfrüchte durch die angebotenen Referate wachsen lassen. II. Wie soll unsere bundesstaatliche Ordnung verbessert werden oder entsprechend dem Tagungsmotto wie soll die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa gestaltet werden? – Diesen Fragen ist der Hauptteil meines Referats gewidmet. Daß unsere Tagung Europa einbezieht, ist aus zwei Gründen erforderlich: Zum einen, weil wir auf diesem Kontinent als klassische Bundesstaaten nicht nur Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie neuerdings Belgien kennen, wenn ich einmal die Sondersituation der Russischen Föderation beiseite lasse, sondern auch zu berücksichtigen haben, daß in zahlreichen anderen europäischen Staaten mittlerweile institutionell föderative,
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regionale oder autonome Ebenen eingerichtet worden sind.3 Das gilt vor allem für Italien, Spanien, Griechenland, Finnland, die Tschechische Republik, Polen, die Slowakei. Selbst klassische Einheitsstaaten wie das Vereinigte Königreich und Frankreich haben föderale Schritte gewagt. Diese Entwicklung zeugt von der grundsätzlichen Vitalität des föderalen Prinzips. Dies bedeutet aber auch, daß wir jede föderative Ordnung eines Mitgliedstaates der Europäischen Union unter dem Stichwort „Europatauglichkeit“ betrachten müssen. Darüber ist gerade in Speyer viel nachgedacht worden4. Dieses Themas nimmt sich das Referat des Kollegen Huber an, so daß Betrachtungen von meiner Seite überflüssig sind. Europatauglichkeit der Mitgliedstaaten impliziert aber gleichzeitig auch Föderalismusfreundlichkeit der Union selbst. Lange galt insoweit das Stichwort von der Länder- und Kommunalblindheit der Union. Darin hat sich in neuerer Zeit einiges gebessert, vor allem durch die Einrichtung eines Ausschusses der Regionen (Art. 263–265 EG), dessen Kompetenzen allerdings ausbaufähig sind, was im Entwurf des EU-Verfassungsvertrags bedauerlicherweise nicht geschehen ist (Art. III-386 ff. EUVV). Er wurde sogar von den „Organen“ zu den „Einrichtungen“ herabgestuft. Damit ist zugleich zum zweiten die Frage aufgeworfen: Wie steht es mit den föderalistischen Konzepten in der Europäischen Union selbst? Erinnern wir uns, daß den Gründervätern der Europäischen Integration Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Walter Hallstein, Jean Monnet, Robert Schuman und Paul-Henri Spaak die Vorstellung von „Vereinigten Staaten“ nach Art Amerikas nicht fremd gewesen ist. Hallstein publizierte 1969 bekanntlich sein Buch „Der unvollendete Bundesstaat“. Es war zugleich der Höhepunkt der bundesstaatlichen Visionen für Europa. Die Idee verblaßte danach – aus den verschiedensten politischen Gründen. Die Integration hat andere Wege genommen. Der Begriff „Staatenverbund“ dominierte5. Aber immer wieder, vor allem im Umfeld der europäischen Verfassungsdebatte, gab es einen Rückgriff auf Föderalismuskonzepte. So positionierte sich etwa Bundesaußenminister Fischer in einer Rede an der Humboldt-Universität am 12. Mai 2000 unter dem Titel „Vom Staatenbund zur Föderation – Ge3 Vor allem die regionale Komponente gewinnt zunehmend an Bedeutung; vgl. zuletzt J. Poeschel, Zum verfassungspolitischen Problem der Region, DÖV 2004, S. 421; M. Greiff, Von der lokalen zur regionalen Nachhaltigkeit, 2000; Jahrbuch des Föderalismus 2004, Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, hrsg. vom Europäischen Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen. 4 Vgl. Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, hrsg. von S. Magiera und D. Merten, 1988; Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, hrsg. von D. Merten, 1990. s. ferner auch die verschiedenen Mehrebenenprojekte des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Arbeitsplan 2005 und Forschungsprogramm 2005–2009. 5 Vgl. BVerfGE 89, 155 (186, 188).
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danken über die Finalität der europäischen Integration“6, um das Ganze allerdings im Europäischen Verfassungskonvent wieder zu vergessen, weil im europäischen Konzert die föderalistischen Noten als Mißtöne galten. Der Mainstream der Verfassungsdebatte lief anders. Präambel und Art. 1 des Verfassungsentwurfs lassen nichts Föderalistisches erkennen, sieht man einmal von der Formel eines Europas „in Vielfalt geeint“ ab. Und dennoch: Tabuisiert sollten föderalistische Konzepte nicht werden. St. Oeter hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, daß der Diskurs über ein föderales Europa noch nicht hinreichend in Gang gekommen ist, obwohl doch die im Zuge der Globalisierung auftretenden Herausforderungen Funktionsteilungen zwischen Nationalstaaten und Union unerläßlich machen, wollen die europäischen Staaten ihre Eigenständigkeit sichern7. An dieser Debatte sollten weder das Fehlen eines europäischen Volkes noch die fehlende Staatsqualität und die ausschließlichen Zuständigkeiten der Union hindern. Es geht um föderative Gestaltungselemente in der Union. Langfristig läßt sich ein standfestes „europäisches Haus“ nur mit föderalen und demokratischen Steinen bauen. In diesem Lichte kann dann auch dem ureigenen föderalistischen Ordnungsprinzip der Subsidiarität neues Leben eingehaucht werden. Bedauerlicherweise hat bekanntlich auch der Verfassungsentwurf (Art. I-11 Abs. 3) ebenso wie das geltende EG-Vertragsrecht (Art. 5 Abs. 2) auf griffige materielle Kriterien des Subsidiaritätsprinzips verzichtet und sich im wesentlichen auf einen verfahrensrechtlichen Schutz beschränkt. Er besteht nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in einer detaillierten Begründungspflicht bei Europäischen Gesetzgebungsakten (Art. 5) und einer Einschaltung der nationalen gesetzgebenden Körperschaften (Art. 6), in Deutschland also Bundestag und Bundesrat, die auch die mit Gesetzgebungsbefugnissen ausgestatteten „regionalen Parlamente“, in Deutschland also die Landesparlamente, zu konsultieren haben. Deren Stellungnahmen sind zu „berücksichtigen“; je nach Mehrheiten führen sie zu einer Überprüfung des Gesetzgebungsvorschlags (Art. 7). Wichtig ist, daß ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip auch dem nationalen Parlament oder einer Kammer desselben, u. U. auch dem Ausschuß der Regionen ein Klagerecht zum Europäischen Gerichtshof gewährt (Art. 8). An diesem wird es mithin liegen, das Subsidiaritätsprinzip zu konkretisieren und im föderalistischen Geist zu interpretieren. Im Kern geht es um einen „supranationalen Föderalismus“, für den wir noch passende Konstruktionselemente entwickeln müs6 Vgl. J. Fischer, integration 23 (2000), S. 149 ff.; siehe neuerdings auch den Vorschlag von R. A. Lorz, FAZ vom 24.11.2004, S. 7: Vereinigte Staaten von Europa in einer Europäischen Union. 7 Vgl. St. Oeter, Föderalismus, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 59 (60 f.), m. w. N. FN 29.
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sen8. Dem Föderalismus ist eine zusätzliche Ebene der Anwendung zu verschaffen9. Dazu fehlen bislang deutliche politische Konzepte10. Ich breche an dieser Stelle meine europabezogenen Ausführungen ab; sie sollten Denkanstöße im Sinne des Tagungsmottos geben und den europäischen Kontext meiner Gedanken zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland verdeutlichen, vor allem erkenntlich machen, daß nationale Reformen in föderativen Staaten den europäischen Einfluß nicht ignorieren dürfen. III. 1. Der Ruf nach Reformen der bundesstaatlichen Ordnung ist nicht nur auf Deutschland bezogen: Er ist auch in anderen Ländern virulent, namentlich in Österreich11, worüber uns Herr Kollege Wiederin unterrichten wird, und in der Schweiz12. Aber in Deutschland ist er besonders laut. Sind es nur Mängel, die sich im Lauf der Jahre einfach eingeschlichen haben und 8 A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999; vgl. auch M. Zuleeg, T. Stein, M. Schweitzer, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, VVDStRL Heft 53 (1994), S. 1 ff.; D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990; H.-J. Blanke, Föderalismus und Integrationsgewalt, 1991; Th. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß: Wechselseitige Rezeption, konstitutionelle Evolution und föderale Verflechtung, 2003, S. 149 ff.; A. Weber, EuR 2004, S. 841 ff. 9 J. Isensee, Der Bundesstaat – Bestand und Entwicklung, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 719 (770); D. Sidjanski, Europa auf dem Weg zu einem neuen Föderalismus, 2004; M. Piazolo/J. Weber (Hrsg.), Föderalismus-Leitbild für die Europäische Union, 2004. 10 Zu Recht kritische Töne bei P. M. Huber, Klare Verantwortlichkeit bei Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 26 ff. 11 Der sog. Österreich-Konvent hat im Januar den Entwurf für eine neue Bundesverfassung mit 298 Artikeln vorgelegt, der auch eine übersichtlichere Neuordnung der Kompetenz zwischen Bund und Ländern enthält (NZZ vom 13.1.2005, S. 2). Zur Situation der Bundesstaatlichkeit in Österreich s. H. Schäffer, Der österreichische Föderalismus – Zustand und Entwicklung, Festschrift K. Stern, 1987, S. 227 sowie grundlegend H. Schambeck, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in Österreich, ebd., S. 253. 12 Vgl. U. Zimmerli, Neue Bundesverfassung und föderalistische Strukturen, in: Die neue Bundesverfassung, hrsg. von P. Gauch und D. Thürer, S. 79 ff.; in dieser Verfassung findet man übrigens einige ebenso elegante wie schlanke Formulierungen im föderativen Bereich. Aus empirischer und vorwiegend wirtschaftseffizienter Sicht H. Blöchliger, Baustelle Föderalismus. Metropolitanregionen versus Kantone: Untersuchungen und Vorschläge für eine Revitalisierung der Schweiz, hrsg. von Avenir Suisse, 2005.
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ein Knistern im Gebälk anzeigen13, oder ist Bundesstaatlichkeit gar ein Auslaufmodell?14 Sicher ist, daß Deutschland und ein Großteil Europas zur Zeit ein schmerzliches Erwachen aus dem Traum immerwährender Prosperität und des Füllhorns steigender staatlich zu verteilender Finanzmittel erleben. Wir erkennen Großbaustellen wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitswesen, alternde Gesellschaft, Bevölkerungsrückgang, Rentensystem, Bildungswesen und eben auch die bundesstaatliche Ordnung in ihren vielen Verästelungen. Deswegen wäre es so wichtig gewesen, wenn die Föderalismuskommission erfolgreich abgeschlossen worden wäre. Ihre Aufgabe, „die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern“15, insbesondere die Probleme bei der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten, der Mitwirkungsrechte der Länder bei der Bundesgesetzgebung sowie der Finanzbeziehungen, namentlich der Gemeinschaftsaufgaben und der Mischfinanzierung, zu lösen, sind die neuralgischen Punkte, deren Bewältigung dringend geboten war, soll Deutschland wieder politisch und ökonomisch voll leistungsfä13 Vgl. U. Volkmann, Bundesstaat in der Krise?, DÖV 1998, S. 613; aufgenommen (ohne Fragezeichen) von M. Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, Festschrift P. Badura, 2004, S. 363, und P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag 2004, 2004, S. D 15; als Zwischenüberschrift wieder mit Fragezeichen versehen bei R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, S. 491 ff.; „Von der Malaise des deutschen Bundesstaates“ spricht W. Schwanengel, DÖV 2004, S. 553; auch Chr. Hillgruber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Gemeinden?, JZ 2004, S. 837 wirft die Frage nach einer „Sinnund Legitimationskrise“ des deutschen Bundesstaates auf, verneint sie aber letztlich. Vgl. auch das Zeitgespräch „Gescheiterte Reform des Föderalismus?“ von R. Peffekoven, U. Häde, B. Huber und W. Renzsch in: Wirtschaftsdienst Heft 1 (2005), S. 7 ff.; H.-J. Papier, Föderalismus auf dem Prüfstand, DVP 2005, S. 1 ff. 14 H. Kühne, Auslaufmodell Föderalismus?, 2004. Energische Verteidigung des Föderalismus als eine Staatsorganisation, die Vielfalt zusammenhalten und zusammenbringen kann, bei Th. Fleiner/L. R. Basta Fleiner, Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl. 2004, S. 513 ff.; auch bei H. Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 645 ff.; aus früherer Zeit K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 19 mit umfassenden weiteren Angaben. Aus der neueren Literatur vgl. H. Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933), 2002; A. B. Gunlicks, The Länder and German Federalism, 2003; A. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004; J. Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland, 2005; H.-J. Blanke/W. Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005. 15 Vgl. BT-Drucks. 15/1685, BR-Drucks. 750/03. Einen Zwischenbericht aus der Kommission liefert das sachverständige Mitglied F. Kirchhof unter dem Titel „Ein neuer Ansatz zur Reform des Grundgesetzes“, ZG 2004, S. 209.
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hig werden, um seine führende Position in Europa zurückzugewinnen und seinen Beitrag zur Bewältigung der immensen Aufgaben des vereinigten Europas von 25 und bald noch mehr Mitgliedstaaten erbringen zu können. 2. Deutschland befindet sich, so verrät uns ein Sachverständiger der Reformkommission, in der „Föderalismusfalle“16. Was ist damit gemeint? Aufgrund des parteipolitisch dominierten parlamentarischen Regierungssystems mit seiner zentralisierenden Tendenz und dem egalitären Zug der Demokratie sind die unitarisch-konzentrischen Kräfte im Laufe der Jahre stark angewachsen. Folge davon war der Trend zum „unitarischen Bundesstaat“ (K. Hesse) in der besonderen Ausprägung des „Verbund“- oder kooperativen Föderalismus – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Bundesstaaten. „Sachrationale Uniformität“17, bedingt durch die Überbetonung des Grundsatzes der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG), der 1994 wenigstens etwas abgeschwächt wurde zu bloßer „Gleichwertigkeit“ (Art. 72 Abs. 2 GG), bewirkt vor allem durch die Exekutiven von Bund und Ländern in diversen Ministerkonferenzen, hat einen Grundzug des Föderalismus, nämlich Wettbewerb und gliedstaatlich eigenständige Entscheidungsmacht, abgelöst. Landeszuständigkeiten erodierten. Die Länder haben daran fleißig mitgewirkt, weil sie bereit waren, durch mehrfache Verfassungsänderungen dem Bund Kompetenzen zu überlassen und die Gemeinschaftsaufgaben als neue verfassungsrechtliche Kategorie zu installieren, vor allem dann, wenn die Erfüllung der Aufgabe verstärkt Finanzmittel in Anspruch nahm, die der Bund zu geben bereit war, freilich gegen gewichtige Einflußrechte. Eingetauscht hat man dafür meist Zustimmungsrechte im Bundesrat, die aber den Ländern kein eigenständiges Handeln sicherten, sondern den Länderregierungen, vor allem ihren Chefs, lediglich eine Mitwirkung in der Bundespolitik, durchschlagskräftig vorwiegend nur im Kollektiv. Gubernative Beteiligungsrechte sollten legislative Verluste kompensieren. Wirksam aber wäre ein Gestaltungsföderalismus, nicht ein Beteiligungsföderalismus. Diese Kompetenzverflechtungen haben die Verantwortlichkeiten unklar und intransparent werden lassen und das Eigengewicht der Länder substantiell ausgehöhlt. Weiß der Bürger heute noch, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist? Mehr als 60% aller Gesetze sind zustimmungsbedürftig im Bundesrat mit der Folge, daß oft genug der nicht öffentlich tagende Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat der eigentliche Gesetzgeber ist18. Die Plena von Bundestag und Bundesrat ratifizieren nur noch, was im Vermittlungsausschuß hinter verschlossenen Türen beschlossen 16
P. M. Huber, Deutschland in der Föderalismusfalle, 2003. P. Lerche, Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, VVDStRL Heft 21 (1964), S. 72. 17
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wurde. Alle Entscheidungen wurden zunehmend komplizierter, langwieriger und durch die Notwendigkeit zum Kompromiß ungemein detailbelastet und damit überreglementiert. Nichts anderes gilt für die Länderparlamente nach den Beschlüssen diverser Landesministerfachkonferenzen, namentlich der Kultusministerkonferenz. Deutschland – so heißt es vielstimmig – stehe vor einer föderalistischen Malaise, die seine politische und ökonomische Kraft im weltweiten Wettbewerb behindere und in der Europäischen Union zunehmend als entscheidenden politischen Gestaltungsfaktor zurückdränge. Abhilfe sei dringend geboten: Klare Verantwortlichkeiten und Effizienzsteigerung im staatlichen Handeln seien unerläßlich. Doch mit welchen therapeutischen Rezepten ist die Gesundung unserer föderativen Ordnung zu erreichen?19 3. Mein Rezept für die Reform lautet: Revitalisierung der traditionellen Bundesstaatsidee des politischen Wettbewerbs mit dem Ziel dezentraler Entscheidungen von substantiellem politischen Gewicht und mit der Chance des Experiments in überschaubaren Bereichen bei klarer Zuordnung der Verantwortlichkeit und Stärkung der Entscheidungsfähigkeit, mit anderen Worten: Rückkehr zum kompetitiven Föderalismus mit transparenten politischen Strukturen, der den Vätern und Müttern des Grundgesetzes 1949 vorschwebte20. Es muß trotz aller Bundestreue ein Ende haben, den Bundesstaat als einen „Unterstützungsverein auf Gegenseitigkeit“ zu betrachten, 18
Zum Zusammenhang von parlamentarischem Regierungssystem und Bundesrat vgl. R. Dolzer und M. Sachs, VVDStRL Heft 58 (1999), S. 7 ff., 39 ff. 19 Vgl. R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, 2004, S. 491 mit weit. Angaben FN 1; P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004; G. Robbers, Entwicklungsperspektiven des Föderalismus, Festschrift P. Badura, 2004, S. 431 ff.; ferner und zugleich mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika, die Schweiz und die Russische Föderation M. Hartwig/ W. Heinze/F. Kirchhof/Chr. Waldhoff, Föderalismus in der Diskussion, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2001; Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit“, Entflechtung 2005, 2000; Bundesverband Deutscher Banken (Hrsg.), Reformblockaden aufbrechen – den Föderalismus neu gestalten, 2003; L. Gerken/G. Schick/M. Holtz, Stiftung Marktwirtschaft Nr. 85 April 2004, Europa vor der Wahl II; V. Haug, Die Föderalismusreform, DÖV 2004, S. 190; M. Kloepfer, Bemerkungen zur Föderalismusreform, DÖV 2004, S. 566; H. Spreen, Wachsende Zuständigkeiten von Bund und EU, ZRP 2004, S. 47; Chr. Starck, Aspekte deutscher Bundesstaatlichkeit in Rechtsprechung und Reformplänen, Festschrift Th. Öhlinger, 2004, S. 254 ff.; s. auch K. Klingen, Bericht über zwei Tagungen zur Lage und Zukunft des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, ZG 2004, S. 296 und das oben FN 13 erwähnte Zeitgespräch. 20 Diesem Wettbewerbsföderalismus reden in neuerer Zeit mehrere Autoren das Wort, vgl. nur E. Schmidt-Jortzig, Herausforderungen für den Föderalismus in Deutschland: Plädoyer für einen neuen Wettbewerbsföderalismus, DÖV 1998, S. 746; Stamm/Merkl, Kompetitiver Föderalismus, ZRP 1998, S. 467; P. M. Huber, Klarere
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in der der eine den anderen fördert und umgekehrt. In dieser Zielsetzung ist sich die Staatsrechtswissenschaft weitgehend einig21, manchmal auch die Politik22. Nicht zuletzt tendiert die ökonomische Theorie des Föderalismus in diese Richtung23. Dazu wurden vor allem von Länderseite eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet24, während die Bundesregierung eher zurückhaltend blieb25. Seit dem 13. Dezember 2004 liegt auch ein Vorschlag der Vorsitzenden der Föderalismuskommission vor, über den Herr Dr. Risse berichten wird. Bei ihm ist allerdings nicht leicht erkennbar, ob und welche konzeptionelle Gesamtidee dahinter steht. Näher liegt anzunehmen, daß es sich um Grundgesetzänderungsvorschläge handelt, über die aus unterschiedlichen Gründen Einigung besteht. Immerhin lassen sich einige Vorschläge in der allein richtigen Grundtendenz verstehen, daß nämlich die Zuständigkeiten so zugeordnet werden müssen, daß Funktionsfähigkeit, Autorität und Legitimität sowohl des Bundes wie auch der Länder gewahrt bleiben. Insgesamt drängt sich mir jedoch der Eindruck auf, daß ein durchgreifender politischer Wille für eine grundlegende Reform gefehlt hat. Man hat nur in wenigen Problembereichen Abhilfe geschaffen, Gravierendes aber, wie die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, nahezu vollständig ausgeklammert, ganz zu schweigen von der Neugliederung der Länder. Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 138 ff. 21 Vgl. H. P. Schneider, Nehmen ist seliger als Geben. Oder: Wieviel „Föderalismus“ verträgt der Bundesstaat?, NJW 1998, S. 3757; ders. Kooperation, Konkurrenz oder Konfrontation, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 23 ff.; D. Merten, Reform des Föderalismus in Gesetzgebung und Verwaltung, ebd. S. 65 ff.; R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, 2004, S. 491 (511). 22 Vgl. z. B. G. Stratthaus, Grundsatzreferat, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 5 ff.; s. auch Deutsches Stabilitätsprogramm Dez. 2003, hrsg. vom Bundesministerium der Finanzen, S. 37 und U. Männle (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, 1998. 23 Vgl. etwa R. Peffekoven, Mehr Wettbewerb im Föderalismus wagen, Vorträge der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 2002; ders. Föderalismuskommission will keinen Steuerwettbewerb, Börsen-Zeitung vom 23.6.2004, S. 6; ders., in: Zeitgespräch, „Gescheiterte Reform des Föderalismus?“ von R. Peffekoven/U. Häde/B. Huber/ W. Renzsch, in: Wirtschaftsdienst Heft 1 (2005), S. 7 ff.; U. Fuest, ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung, Heft 1, Chancen und Grenzen föderativen Wettbewerbs, 2000; Th. Lenk, Kooperativer Föderalismus – Wettbewerbsorientierter Föderalismus, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 31 ff. 24 Vgl. dazu die Nachweise bei K. Stern, Die Revitalisierung der bundesstaatlichen Ordnung, NdsVBl. 2004, S. 321 (324 f.). 25 „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Position des Bundes“ vom 9.4.2003 – dazu B. Zypries, Reform der bundesstaatlichen Ordnung im Bereich der Gesetzgebung, ZRP 2003, S. 265.
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IV. Im folgenden möchte ich mich auf einige Reform-Kernthemen konzentrieren, von denen ich glaube, daß sie bei gehörigem politischen Engagement verwirklichungsfähig sind, nämlich • erstens auf eine Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder; • zweitens auf eine Verminderung der Zahl zustimmungsbedürftiger Gesetze; • drittens auf die Entflechtung im Bereich von Normsetzung, Verwaltung und Finanzierung, namentlich der Gemeinschaftsaufgaben, und • viertens auf die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. 1. Art. 79 Abs. 3 GG mit seiner Unantastbarkeitsgarantie der Bundesstaatlichkeit hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Ländern bekanntlich ein „‚Hausgut‘ eigener Aufgaben“ „unverzichtbar“ zugesichert. Daß dazu Gesetzgebungskompetenzen gehören, steht außer Zweifel26. Aber seit 1954, der ersten Änderung im Gesetzgebungskatalog der Art. 73–75 GG, kam es durchweg nur zu Zuständigkeitsverlagerungen zum Bund. Diese Änderungen betrafen nicht ausnahmslos Konstellationen, bei denen bundeseinheitliche Notwendigkeiten erkennbar waren, nicht selten aber, wie z. B. bei Umweltschutzkompetenzen Gegenstände, deren Kostenträchtigkeit den Ländern den Verlust schmackhaft machte. Mittlerweile erkennen vor allem die Landesparlamente diese Aushöhlung ihrer Gesetzgebungskompetenzen und sinnen auf Abhilfe. Dieser Erosionsprozeß landesgesetzgeberischer Zuständigkeiten wurde in jüngster Zeit durch Einwirkung des Europäischen Gemeinschaftsrechts verstärkt. Längst sind die Zeiten vergangen, daß Brüssel nur bundesrechtliche Regelungen beeinflußt. So ehedem ureigene und zäh verteidigte Länderzuständigkeiten wie Rundfunk- und Bildungswesen oder in Bälde der Kulturbereich sind mittlerweile gemeinschaftsrechtlich influenziert. Im Bund-Länder-Bereich besteht mittlerweile im Grundsatz Einigkeit, daß Gesetzgebungszuständigkeiten wieder auf die Länder zurückverlagert werden sollten. Der Streit richtet sich nur noch auf die dafür in Frage kommenden Materien27. 26
BVerfGE 34, 9 (19 f.). Diskussionsbedürftige Materien sind aufgezählt z. B. bei M. Möstl, a. a. O., S. 311 ff.; R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, 2004, S. 489 ff.; Bertelsmann-Kommission, a. a. O., S. 27 f.; P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 62 ff.; aus der Föderalismus-Kommission H.-G. Hennecke, KoMGO 2004 – ein Werkstattbericht zur Föderalismusreform, 27
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Die von der Föderalismuskommission vorgeschlagenen Verlagerungen im Bereich des öffentlichen Dienstrechts – Laufbahnen, Besoldung und Versorgung, nicht aber Statusrechte – sowie eine Reihe weiterer Komplexe, wie etwa Versammlungsrecht, Notariat, Ladenschluß und andere Wirtschaftsbereiche, scheinen mir geeignet zu sein. Umgekehrt ist es richtig, einige Materien, wie das Waffen- oder Sprengstoffrecht oder das Kernenergierecht, in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes zu überführen. Bleibt das große Problem der Rahmengesetzgebung. Ob man ihrer wirklich noch bedarf, wird immer fragwürdiger28. Die Abgrenzung zwischen noch zulässiger Rahmen- und unzulässiger Detailregelung war ohnehin stets problematisch29. Manchmal sah man vor lauter Rahmen das Bild nicht mehr, wie es Johannes Rau als Ministerpräsident einmal formuliert hat. Außerdem bereitet auf diesem Sektor die Umsetzung von EU-Richtlinien große Schwierigkeiten, weil national zwei Gesetzgeber tätig werden müssen. Wer auf das Subsidiaritätsprinzip gegenüber Europa pocht, darf es im Verhältnis Bund-Länder und Kommunen nicht vernachlässigen30. Eine Abschaffung der Rahmengesetzgebung würde nicht nur den Ländern Gesetzgebungskompetenzen bescheren, sondern auch zur Rechtsklarheit beitragen; es handelt dann nämlich entweder der Bund oder die Länder, aber nicht beide in streitiger Abgrenzung. Die Kommission will die Nummern 3 und 4 des Art. 75 GG erhalten. Zankapfel wurde die Nr. 1a, die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, und damit zusammenhängend das Bildungsthema insgesamt. Ich kann mich nicht dafür erwärmen, die Rahmenkompetenz für allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens aufrechtzuerhalten. Der Kompetenztitel war stets schwer zu definieren31. Das Hochschulrahmengesetz hatte einstmals seinen guten Sinn. Mittlerweile sprechen viele Gründe gegen Vereinheitlichung. Zudem waren die Aktivitäten des Bundes auf diesem Feld, teils aus verfassungsrechtlichen Gründen – HabiNdsVBl. 2004, S. 250 ff.; ferner Vorschlag der Vorsitzenden der Föderalismus-Kommission. 28 Ebenfalls für Abschaffung M. Kloepfer Bemerkungen zur Föderalismusreform, DÖV 2004, S. 566 (570); P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 60; H. Kube, Zehn Thesen für Demokratie und Reformtätigkeit in Deutschland, ZRP 2004, S. 52 (54); zur Rahmengesetzgebung im allgemeinen M. Kaltenborn, Rahmengesetzgebung im Bundesstaat und im Staatenverbund, AöR 128 (2003), S. 412. 29 Vgl. BVerfGE 4, 115 (128 f.); 43, 291 (343); 66, 270 (285); 67, 382 (387); 93, 319 (341). 30 Über die vielfache neuere Literatur vgl. W. Kahl, Der Staat, Bd. 43 (2004), S. 643 ff.; H. Schambeck, in: Teoria der Diritto e dello Stato, Rivista Europea di Cultura e Scienza Giuridica 2004, S. 248 (252 ff.). 31 Vgl. Chr. Degenhart, in: Sachs, GG, 3. Auflage 2003, Art. 75 RN 17 ff. m. w. N.
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litationsverbot, Einführung der Juniorprofessur oder Verbot der Studiengebühren32 –, teils aus sachlichen Gründen, wie bei der Schaffung von EliteUniversitäten, nicht gerade von Erfolg gekrönt, schon gar nicht hilfreich für die wissenschaftlichen Hochschulen33. Sollte man gerade im Sinne meines Grundansatzes vom Wettbewerb nicht auch hier auf Deregulierung setzen und Ländern und Hochschulen Freiräume gewähren, eigene Ideen zu erproben und sich autonomer zu entfalten? Wird dadurch vielleicht nicht doch mehr Qualität und Leistung freigesetzt? Ausländische Vorbilder sprechen dafür, die hochschulgesetzlichen Vorschriften zu minimieren. Nicht die Universität ist die beste, für die ein Höchstmaß an Rechtsvorschriften gilt, sondern diejenige, die die besten Köpfe in Forschung und Lehre hat. Entschlackung im Hochschulbereich tut not, und das heißt, den Ländern den Wettbewerb zu ermöglichen ohne Rahmenregelungen des Bundes. Die Universitäten in der Weimarer Republik kamen auch ohne Reichsrecht sehr gut aus, wenngleich die Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Hochschulen und Staat niemals reibungslos waren34. Seit den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten, des § 152 RV 1849 und des Art. 142 WRV stand ihnen Autonomie, gleichsam als magna charta des deutschen Universitätswesens, zu, die ehedem sehr ernst genommen wurde – in allen Ländern. Heute sollte gleiches gelten. Unter föderalistischen Vorzeichen sollte man auch den Begriff Kulturhoheit der Länder wieder stärken. Er ist keine Chimäre; er muß vielmehr wieder zu einem vitalen Instrument unseres Föderalismus ausgebaut werden. Seine Grundlage ist die Vielfalt des schöpferischen Geistes quer durch die deutschen Lande. 2. Gemeinhin wird seit einiger Zeit beklagt, daß zu viele Gesetze der Zustimmung des Bundesrates unterlägen und dieser dadurch zu einem „Blockadeinstrument“ umfunktioniert würde, wenn die parteipolitischen Färbungen im Bundestag und im Bundesrat unterschiedlich sind. Wenn man bedenkt, daß 90% aller Gesetze einvernehmlich – meist freilich nach Durchführung eines Vermittlungsverfahrens – verabschiedet werden, so ist der Vorwurf zu pauschal, weil er sich nur auf einzelne, wenn auch bisweilen 32
Vgl. BVerfG, EuGRZ 2004, S. 503; BVerfG, EuGRZ 2005, S. 63. Wie anders sähe es aus, würde man den Worten des Bundeskanzlers bei der Eröffnung des Einsteinjahres am 19. Januar in Berlin folgen: „An Einstein wird deutlich, daß allein die Freiheit im Denken und Forschen, die Freiheit von staatlichen Reglementierungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten seine epochalen Leistungen ermöglicht hat. Deshalb gilt: Nur eine Grundlagenforschung in Freiheit und Unabhängigkeit, eine Forschung ohne Fesseln und doch nicht grenzenlos ist in der Lage, den wichtigsten Rohstoff für künftigen Wohlstand zu liefern: reines Wissen“ (zit. nach Forschung und Lehre, 2005, S. 61). 34 Vgl. E. Wende, Grundlagen des preußischen Hochschulrechts, 1930; A. Köttgen, Das Grundrecht der deutschen Universität, 1959; W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. 2005. 33
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sehr wichtige Gesetzesvorhaben bezieht. Dennoch steckt in der Konstruktion doppelter gesetzgebender Körperschaften (vgl. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), die alle Bundesstaaten aufweisen, ein föderales Strukturproblem. Nach der deutschen Variante des Bundesrates wirkt dieses mit Mitgliedern der Regierungen der Länder besetzte Bundesorgan – was nicht geändert werden sollte – bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mit (Art. 50 und 51 GG). Ausdrücklich sind ihm in etwa 40 Fällen Zustimmungsrechte zu Gesetzgebungsbeschlüssen des Bundestages zugewiesen worden. Bei Inkrafttreten des Grundgesetzes schätzte man die Zustimmungsbedürftigkeit auf maximal 30% der Gesetze. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem zu Art. 84 Abs. 1 und 85 Abs. 1 GG, aber auch in anderen Fällen, führte dazu, daß inzwischen mehr als 60% aller Gesetze zustimmungsbedürftig sind. Die Bedeutung des Bundesrates für die Bundesgesetzgebung ist mithin erheblich gewachsen. Er ist bei den wichtigsten Steuergesetzen (Art. 105 Abs. 3 GG) und bei allen Gesetzen, bei deren Durchführung es der Tätigkeit von Landesbehörden oder verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen (Art. 84 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 GG) bedarf, mit der Befugnis zur Zustimmung eingeschaltet. Wird diese nicht erteilt, so ist das Gesetz gescheitert (Art. 78 GG). Diese Zustimmungskompetenz sichert dem Bundesrat erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten auf das gesamte Gesetzeswerk, insbesondere auch seinen materiellen Teil. In der Reformkommission besteht einerseits Einigkeit, die zustimmungsbedürftigen Tatbestände im Verwaltungsbereich – freilich nur in diesem – zu reduzieren. Andererseits sind die Länder nicht bereit, ihr starkes Mitwirkungsrecht an der Bundesgesetzgebung, das den Bundesrat praktisch zu einer „Zweiten Kammer“ macht, auch wenn dieser Ausdruck vom Bundesverfassungsgericht verworfen worden ist35, ohne Kompensation aufzugeben. Sie fürchten nämlich – und dies zu Recht – finanzielle Belastungen, vor allem bei Leistungsgesetzen, für sich und ihre Kommunen, die der Bund auf sie abwälzen könnte, wenn sie lediglich ein vom Bundestag – in der Regel – überstimmbares Einspruchsrecht (Art. 77 Abs. 4 GG) in der Hand haben. Die von der Föderalismuskommission gefundene Lösung überzeugt nicht. Nach Art. 84 Abs. 1 neu sollen Bundesgesetze nach wie vor etwas anderes bestimmen können im Hinblick auf die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren bei der Durchführung der Bundesgesetze durch die Länder. Aber die Länder können davon wieder abweichende Regelungen treffen. Wollen sie das tun, so kann der Bund mit Zustimmung des Bundesrates „in Ausnahmefällen“ „wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungs35
Vgl. BVerfGE 37, 363 (380).
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möglichkeit für die Länder regeln“. Das Kompromißhafte dieser Vorschrift ist evident. Aber ein guter Kompromiß ist sie nicht; sie wird wegen der unbestimmten Verfassungsrechtsbegriffe eine Quelle von Streitigkeiten. Zudem fehlt jegliche Verfassungsästhetik; an der hat man sich indessen schon bei den Art. 13, 16a und 23 GG in ihren Neufassungen versündigt. Besser zu beurteilen ist der neue Art. 104a Abs. 3 GG. Er schafft einen zustimmungsbedürftigen Tatbestand bei Ausführung der Bundesgesetze dann, wenn diese „Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen oder geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten begründen“. Auf die finanziellen Folgekosten abzustellen, dürfte jedenfalls ein sachgerechterer Maßstab sein als die Anknüpfung an oftmals bagatellengleiche Aspekte des Verwaltungsverfahrens, z. B. der Ausgestaltung eines Antragsformulars. 3. Im Rahmen des kooperativen Föderalismus hatte das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Erfüllung etlicher für die Gesamtheit bedeutsamer Aufgaben einschließlich ihrer Planung und Finanzierung Hochkonjunktur36. Die Staatspraxis entfaltete eine Dynamik in der Erfindung von Rechts- und Handlungsformen der Zusammenarbeit, die zahlreiche Verfassungsjuristen veranlaßte, wegen der jedenfalls parakonstitutionellen Entwicklung warnend den Finger zu erheben. Bundestag und Bundesrat entschlossen sich deshalb 1969 zur Einfügung der Art. 91a und b in das Grundgesetz, der sog. Gemeinschaftsaufgaben, sowie einer besonderen Finanzierungsregelung in Art. 104a GG. Gemeinschaftsaufgaben, an sich Aufgaben der Länder, aber eben wegen ihrer gesamtstaatlichen Bedeutsamkeit in die Mitwirkungszuständigkeit auch des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse gestellt, wurden für Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich Kliniken, für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, der Agrarstruktur, des Küstenschutzes sowie der Bildungsplanung und der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung normiert. Bundesregierung und Bundesrat feierten diesen verfassungsrechtlichen Durchbruch überschwenglich; der Bundestag stimmte mit großer Mehrheit zu – im Zeichen der damals bestehenden „Großen Koalition“ freilich keine Überraschung37. 36 Der Begriff „kooperativer Föderalismus“ geht auf die sog. Troeger-Kommission zurück: „Es muß deshalb eine Form des Föderalismus entwickelt werden, die ein ausgewogenes und bewegliches System der Zusammenordnung und der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern und unter den Ländern ermöglicht. Der Föderalismus unserer Zeit kann deshalb nur ein kooperativer Föderalismus sein“ (Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1966, Tz. 76).
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Die historische Wahrheit gebietet es, die bald danach erhobenen kritischen Stimmen der Länderparlamente nicht zu unterdrücken, die vor allem die „Aushöhlung der parlamentarischen Funktion“ bemängelten, m. a. W. den dadurch geschaffenen Exekutiv-Föderalismus geißelten, der Regierung und Bürokratie das alleinige Sagen bescherte38. Auch die damals geschaffene Enquête-Kommission Verfassungsreform äußerte Bedenken39. Als sachverständiges Mitglied dieser Kommission sah ich die Mängel im Problem des verschleiernden Dreiklangs von „Mitverwaltung, Mitfinanzierung und Mitverantwortung“40. Andere schlossen sich dem an41. Aber es gab auch genügend Verteidiger des bestehenden Zustands42. Sie hatten vor allem in der Praxis die Überhand, so daß das Problem der Misch-Zuständigkeiten unverändert geblieben ist, obwohl der Wildwuchs auf kaum mehr übersehbare ca. 300 Bund-Länder-Kommissionen und ca. 900 sonstige Gremien angewachsen ist43. Heute wird Reformbedarf angemahnt. Er geht teilweise so weit, die Gemeinschaftsaufgabe längerfristig gänzlich aufzugeben44. So deutlich eine vollständige Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben nebst deren Mischfinanzierung der Kompetenz- und Verantwortlichkeitsklarheit entspräche, ebenso deutlich muß betont werden, daß die finanzschwachen Länder, besonders die neu hinzugetretenen im Osten der Bundesrepublik Deutschland, darunter leiden würden. Sie sind nicht in der Lage, ohne Mithilfe des 37
Näher I. von Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, VVDStRL 31 (1972), S. 52 f. 38 Ebd. S. 55. 39 Vgl. Zur Sache 2/77, S. 95 ff. 40 K. Stern, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 31 (1972), S. 108. 41 Vgl. H. Soell, ebd. S. 116; neuerdings D. Merten, Reform des Föderalismus in Gesetzgebung und Verwaltung, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 65 (79); P. M. Huber, Deutschland in der Föderalismusfalls 2003, S. 9, 40; ders. Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 86 ff.; R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, 2004, S. 491 (503). 42 Namentlich J. A. Frowein und I. von Münch, VVDStRL 31 (1972) S. 13 ff., 51 ff.; auch H. U. Scupin, ebd. S. 127; neuerdings H. J. Meyer, Die politische Meinung, 2004, S. 7 ff. 43 Vgl. J. Rau, „Bewährt oder erstarrt? Unser föderatives System auf dem Prüfstand“, in: Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – Zur Struktur des deutschen Föderalismus, 1999, S. 20; s. auch M. Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, Festschrift P. Badura, 2004, S. 363 (380 ff.). Zum Gestrüpp der Verflechtung von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Kulturförderung s. z. B. R. Stettner, Kollusives Zusammenwirken von Bund und Ländern beim Ganztagsschulprogramm, ZG 2003, S. 315 (324); auch K. Stein, Die neuen Kinderbetreuungskonzepte als Kompetenzproblem im Bundesstaat, ebd. S. 324 ff. 44 Vgl. H. Pfost/Th. Franz, Mischfinanzierungen zwischen Bund und Ländern – ein Element notwendiger Föderalismusreformen aus Sicht der Finanzkontrolle des Bundes, ZG 2003, S. 339 (346, 353).
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Bundes die mit den Gemeinschaftsaufgaben verbundenen Obliegenheiten gleichwertig zu erfüllen; das gilt in besonderem Maße – zumindest noch auf Zeit – für den Hochschulbau sowie für die Forschungsförderung und den Küstenschutz, wenn man an Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein denkt. Föderalismus ist auch eine Solidaritätsveranstaltung! Kein Föderalismus kommt ohne föderale Loyalität aus. Zu Recht hat die Föderalismuskommission nur eine partielle Abschaffung vorgeschlagen. In jedem Fall sollte aber eine verwaltungsmäßige Entflechtung und ein Abbau der in diesen Bereichen ergangenen sehr detaillierten Gesetze zu den Gemeinschaftsaufgaben vorgenommen werden. Man lese einmal die 1969 erlassenen, seither mehrfach geänderten Gesetze über die Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen“, „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ oder „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“45. Föderalismusreform bedeutet nicht nur Verfassungsreform. 4. Die Föderalismus-Kommission hat die Reform der Finanzverfassung nicht aufgegriffen. Das ist der bundesstaatlichen Ordnung überaus abträglich; denn gerade die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einschließlich der Kommunen werden als „Eckpfeiler“ der föderativen Ordnung betrachtet46. Sie muß zwischen Bund und Ländern aufgabengerecht ausgestaltet sein. Darin hat sich mittlerweile erheblicher Reformbedarf aufgestaut. Daß das Thema höchst kompliziert ist, wird niemand bestreiten wollen. Gleichwohl darf ihm nicht ausgewichen werden. Der Finanzverfassung kommt nämlich eine „unverzichtbare Ordnungsfunktion“47 nicht allein für die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, sondern schlechthin für die Bundesstaatlichkeit zu. Eine gute Finanzverfassung verbürgt eine hohe Qualität und Leistungsfähigkeit des bundesstaatlichen Systems. Darüber sind sich alle damit befaßten Wissenschaftsdisziplinen einig. a) Im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Rückbau der Gemeinschaftsaufgaben gilt es, die darin involvierten Mischfinanzierungen aufzulösen. Sie sollten ebenso wie die von Bundesseite nach Art. 104a Abs. 3 und 4 GG möglichen Geldleistungsregelungen und Finanzhilfen in den allgemeinen Finanzausgleich von Bund und Ländern überführt werden. In seinem Rahmen kann freilich auf Bundesergänzungszuweisungen für leistungsschwache Länder nicht verzichtet werden. Sie müssen jedoch ihrem Wortsinn nach ergänzend, d. h. subsidiär bleiben. Sie dürfen nicht, wie auch §§ 10 ff. Maßstäbegesetz vom 9. September 2001 (BGBl. I S. 2302) festle45 Nachweise bei U. Volkmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar Bd. III, Art. 91a RN 23. 46 Vgl. G. F. Schuppert, Der bundesstaatliche Finanzausgleich: Status-quo-Denken oder Reformprojekt?, StwStp 6 (1995), S. 691; J.-P. Schneider, Bundesstaatliche Finanzbeziehungen im Wandel, Der Staat Bd. 40 (2001), S. 272. 47 BVerfGE 101, 158 (237).
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gen, dazu dienen, den Finanzausgleich unter den Ländern mit Bundesmitteln fortzusetzen oder „sachwidrig als Druck- oder Tauschmittel“ eingesetzt zu werden48. Sie müssen grundsätzlich den Charakter „nachrangiger und ergänzender Korrektur besitzen“. Die derzeitige Höhe der Bundesergänzungszuweisungen von 15,5 Mrd. e im Jahre 2003 mit steigender Tendenz ab 2005 indiziert Ungereimtheiten im horizontalen Finanzausgleich49. b) Ins Zentrum der Reform rückt damit der horizontale Finanzausgleich, der der Verteilung der Ertragshoheit über das Steueraufkommen und der Ertragsaufteilung unter den Ländern folgt. Er gilt geradezu als Gipfel des Verbundföderalismus50. Nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG liegt sein Grundansatz darin, „die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen“, wobei Finanzkraft und Finanzbedarf der Gemeinden und Gemeindeverbände mit zu berücksichtigen sind. Was sich dahinter verbirgt, vor allem, was angemessen bedeutet, haben drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts51 und kaum übersehbare Stimmen im Schrifttum52 zu klären versucht. Indes: Weder ist Befriedung noch Zufriedenheit eingekehrt. Im Länderfinanzausgleich verwirklicht sich das „bündische Prinzip“, das nicht nur zwischen Bund und Ländern, sondern auch im Verhältnis der Länder untereinander gilt. Darum besteht eine Rechtspflicht zum Finanzausgleich, den der Bundesgesetzgeber mit Zustimmung des Bundesrates sicherzustellen hat. In seinem letzten Urteil von 1999 hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber ermahnt, die Finanzausgleichsregelungen zu vereinfachen und verständlicher zu gestalten sowie durch das bereits erwähnte Maßstäbegesetz zu verstetigen. Es wäre vermessen zu behaupten, daß dies gelungen wäre, weder im Maßstäbegesetz, noch in dem ab 2005 geltenden Finanzausgleichsgesetz. Sicher ist nur, daß das bestehende System mit seinen Abschöpfungen bei den finanzstarken Ländern und der Anhebung der Finanzkraft der finanzschwachen Länder auf mindestens 95% bzw. ab 48 H. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 107 RN 38. 49 Vgl. zum Zahlenwerk den Finanzbericht des Bundesministeriums der Finanzen 2004, S. 88. 50 Vgl. P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 25. 51 BVerfGE 72, 230; 86, 148; 101, 158; dazu J. Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 771. 52 Vgl. aus neuerer Zeit etwa K. D. Henke/G. F. Schuppert, Rechtliche und finanzwissenschaftliche Probleme der Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern im vereinten Deutschland, 1993; U. Häde, Finanzausgleich 1996; St. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997; J. W. Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland, 1999; K.-A. Schwarz, Finanzausgleich und föderale Aufgabenstruktur, ZG 2004, S. 268.
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2005 auf 93,4% (§ 10 Abs. 1 FAG 2005) der durchschnittlichen Finanzkraft stark zur Nivellierung beigetragen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar goldene Worte für den „annähernden, nicht gleichstellenden Finanzausgleich“ und „die Balance zwischen Eigenstaatlichkeit der Länder und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft“ gefunden53. Konkret stehen wir aber offenbar wirklich vor der Quadratur des Kreises, der zu entrinnen wohl nur durch die Neugliederung des Bundesgebietes gelingt. Darin läge der Schlüssel zur Lösung der Finanzausgleichsprobleme. Andere Reformen bleiben ein Kurieren an Symptomen, ohne daß der Krankheitsherd beseitigt wird. c) Was die Steuergesetzgebungszuständigkeit betrifft, so ist das ursprünglich vom Verfassungsgeber eingeführte Trennsystem in den Finanzverfassungsreformen von 1955 und 1969 weitgehend zu einem Verbundsystem umgestaltet worden54. Ca. 75% des Steueraufkommens fließt aus Gemeinschaftssteuern, namentlich der Einkommen- und Körperschaft- sowie der Umsatzsteuer. Fast alle Steuern werden durch Bundesgesetz geregelt; bei den meisten ist allerdings die Zustimmung des Bundesrates erforderlich (Art. 105 GG). Die Einnahmen aus wenigen Steuern stehen jeweils allein entweder dem Bund oder den Ländern zu. Einnahmeträchtig sind dabei auf Bundesseite die Mineralöl-, die Versicherungs- und die Tabaksteuer sowie der Solidaritätszuschlag, auf Länderseite die Kraftfahrzeug-, die Grunderwerb-, die Erbschaftsteuer sowie in einigen Ländern die allerdings rückläufige Spielbankenabgabe. Den Gemeinden fließen die Einnahmen aus Grund- und Gewerbesteuer zu. Insgesamt beruht dieses Steuersystem auf einer Kombination von Verbund- und Trennprinzip. Ein Steuerwettbewerb, wie ihn vor allem die neu der Europäischen Union beigetretenen Länder des östlichen Europas praktizieren, ist damit kaum verbunden. Steuergesetzgeber ist fast ausschließlich der Bund, den Ländern bleibt kein nennenswerter eigener Gestaltungsspielraum. Von finanzwissenschaftlicher Seite, der sich teilweise Politiker unterschiedlicher Couleur angeschlossen haben, wird zur Stärkung der Länderkompetenzen zur Änderung dieses Zustands aufgerufen und gefordert, daß den Ländern eine – wenn auch begrenzte – Steuerautonomie zuerkannt werden sollte55. Teilweise wird sogar die Rückkehr zum Trennsystem gefor53
BVerfGE 101, 158 (222). Zu diesen Finanzverfassungsgesetzen vgl. Vogel/Waldhoff, BK, 1997, Vorbem. Art. 104a–115 RN 203 ff. 55 Vgl. etwa R. Peffekoven, Mehr Wettbewerb im Föderalismus wagen, Vorträge der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 2002; ders. Föderalismuskommission will keinen Steuerwettbewerb, Börsen-Zeitung vom 23.6.2004, S. 6; U. Fuest, ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung, Heft 1, Chancen und Grenzen föderativen Wettbewerbs, 2000; Th. Lenk, Kooperativer Föderalismus – Wettbewerbsorientierter Föderalismus, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 31 ff.; zuletzt R. Peffekoven und 54
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dert56. Dadurch könnte die föderale Steuerkonkurrenz wachsen und ökonomische Anreize intensiviert werden. Indessen dürfte diese Rückkehr schwerlich realisiert werden können; sie wäre ein zu radikaler Umbau des bundesstaatlichen Gefüges. Aber die Zulassung von Zuschlagsrechten auf Einkommen- und Körperschaftsteuer und die Zuweisung von Steuergesetzgebungszuständigkeiten für landeseigene Steuern an die Länder könnte den Steuerwettbewerb fördern57. d) Nicht unerwähnt kann schließlich das Problem der steigenden Staatsverschuldung in Bund und Ländern bleiben. Weder die Änderungen der Art. 109 und 115 GG in den Jahren 1967 und 196958, noch die sog. Maastrichtkriterien des Art. 104 EG in Verbindung mit der Entschließung des Rates vom 16./17.6.1997 und den Verordnungen (EG) Nr. 1466/97 und (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 (ABl. C 236/1 sowie ABl. 1997 L 206/1 und L 209/6) – sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt –59 haben eine hinreichende Disziplinierung des Deficit spending herbeigeführt. Gleiches gilt für die Einfügung des § 51a in das Haushaltsgrundsätzegesetz 2001 (BGBl. I S. 3955), da dem Finanzplanungsrat keine über Empfehlungen hinausgehende Kompetenz zur Wahrung der Haushaltsdisziplin eingeräumt wurde. Die dort getroffenen Absprachen über die Quoten der staatlichen Gesamtverschuldung von 45% zu Gunsten des Bundes und 55% zu Gunsten der Länder – sog. nationaler Stabilitätspakt vom 21.3.2002 – sind nicht verbindlich. Über die Zurechnung etwaiger EU-Sanktionen bei Überschreitung der Maastrichtkriterien fehlt jede Aussage. Hier erscheint es mir unausweichlich, verfassungsrechtlich in Art. 109 GG sicherzustellen – wie auch die Kommission will –, daß sich Bund und Länder gemeinschaftsrechtskonform verhalten und implementierbare Maßnahmen zur Wahrung der Haushaltsdisziplin vorgesehen werden60. Dazu sollte ein Stabilitätsrat B. Huber, in: Zeitgespräch „Gescheiterte Reform des Föderalismus?“ von R. Peffekoven/U. Häde/B. Huber/W. Renzsch in: Wirtschaftsdienst Heft 1 (2005), S. 7 ff. 56 Vgl. etwa Friedrich-Naumann-Stiftung, FAZ vom 5.2.1998 und 22.8.1998; St. Homburg, Die Finanzverfassung auf dem Prüfstand, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1999/II, S. 83 (86 f.). 57 Ebenso R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, Festschrift P. Badura, 2004, S. 491 (506); St. Korioth, Referat auf dem 65. DJT, 2004, Klare Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen? These B 7 a und b. 58 15. Grundgesetzänderungsgesetz vom 8.6.1967 (BGBl. I S. 581) und 20. Grundgesetzänderungsgesetz vom 12.5.1969 (BGBl. I S. 357). 59 Die Bezeichnung Pakt ist irreführend; es handelt sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, sondern um die im Text genannte Entschließung des Rates sowie die beiden Verordnungen. Zu Unzulänglichkeiten der gefundenen Lösung s. EuGH, NJW 2004, S. 2359; ferner R. Streinz/C. Ohler/C. Herrmann, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Totgesagte leben länger – oder doch nicht? NJW 2004, S. 1553.
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eingerichtet werden61. Deutschland darf nicht permanent am europäischen Schuldenpranger stehen. Überschuldete Staatshaushalte sind in Bund und Ländern von Übel62. V. Versuchen wir ein Resümee: Die Bundesstaatlichkeit auf dem Prüfstand läßt einen differenzierten Befund sichtbar werden. Die bundesstaatliche Ordnung unseres Staatswesens ist gewiß gefestigt; sie kann auch im größeren Staatenverbund der Europäischen Union bestehen, wenn sie verantwortungsvoll gehandhabt wird63. Sie ist neben freiheitlicher Demokratie und sozialer Rechtsstaatlichkeit Legitimationsgrundlage des Staates der Deutschen in der Gegenwart. Diese Strukturprinzipien sind auch im Volk akzeptiert. Föderalismus schafft „Menschlichkeit und personenhafte Öffnungen“ zwischen Bundes- und Landespolitik. „Er bricht den zentralisierenden und mitunter gar den egalisierenden Zwang sozialstaatlicher Entfaltung“64. Aber die staatsrechtliche Ausprägung des Föderalismus im Bundesstaat braucht überall von Zeit zu Zeit ihre Überprüfung und Neujustierung. In Deutschland wurde sie im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 versäumt. Reformstau hat sich seither auch auf diesem Sektor eingestellt. Revitalisierung ist daher das dringende Gebot der Stunde, soll nicht die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat noch mehr leiden, als es aktuelle Politikverdrossenheit erkennen läßt. Der deutsche Bundesstaat krankt an 60
Vgl. hierzu K. Stern, Die Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht, Festschrift U. Everling, Bd. II, 1995, S. 1469 (1488) sowie das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister der Finanzen, Zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien für die Verschuldungsgrenze von Bund und Ländern, Heft 54, 1994. St. Korioth schließt sich der vorgeschlagenen Textänderung des Art. 109 an (a. a. O., These B 9). 61 Vgl. das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums vom Februar 2005 „Haushaltskrisen im Bundesstaat“. 62 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Haushaltsnotlagen vgl. BVerfGE 86, 148; BerlVerfGH, NVwZ 2004, S. 210; dazu Chr. Waldhoff, Verfassungsrechtlicher Sparzwang im Landeshaushalt unter den Bedingungen einer „extremen Haushaltsnotlage“, NVwZ 2004, S. 1062; M. Rossi, Verschuldung in extremer Haushaltsnotlage, DVBl. 2005, S. 269 ff. Zur ökonomischen Sichtweise K. Littmann, Haushaltnotlagen als Anspruchsgrundlagen für Bundesergänzungszuweisungen, Festschrift D. Pohmer, 1990, S. 307. 63 Ebenso Chr. Hillgruber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Gemeinden?, JZ 2004, S. 837 (846) unter Berufung auf H. Bauer, Entwicklungstendenzen und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 2002, S. 837 (845) und P. M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den Deutschen Juristentag, 2004, S. D 51. 64 K. Eichenberger, in: Landesbericht Schweiz, Föderalismus und Regionalismus in Europa, hrsg. von F. Ossenbühl, 1990, S. 49.
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Kompetenzverflechtung, Effizienzverlusten, bürokratischen Wucherungen und Überregulierungen, die allesamt Verantwortungsintransparenz ausgelöst haben. Das 1949 wohl austarierte föderale Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern hat sich zugunsten der Zentralgewalt verschoben. Das muß geändert werden. Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit gehören, wie jeder Staatsrechtslehrer im Ausland verspürt, zu unseren verfassungsrechtlichen „Exportschlagern“65. Einige Staaten blicken sogar noch immer neidisch auf unseren Bundesstaat, was man aus den drei internationalen Föderalismuskonferenzen in Kanada, der Schweiz und Belgien sehr gut erfahren kann. Damit sich daran auch in der Zukunft nichts ändert, müssen wir uns der Leistungsfähigkeit der föderalistischen Idee immer wieder neu vergewissern. Im Hosianna der Wirtschaft über alles darf die Reform der staatlichen Strukturen nicht auf der Strecke bleiben. Thesen zum Referat „Die bundesstaatliche Ordnung auf dem Prüfstand“ I. 1. Eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung ist unabweisbar. 2. Ein Verfassungskonvent nach Art des Herrenchiemseer Konvents ist kein geeignetes Instrument zur Weiterführung der Reformansätze; es sollte bei einer Kommission aus Bundestags- und Bundesratsmitgliedern bleiben, da diese nach Art. 79 Abs. 2 GG zur Entscheidung über die notwendigen Verfassungsänderungen berufen sind. 3. Der Bundespräsident könnte die derzeitige Stagnation durch die Einsetzung eines „Rats der Weisen“ überwinden helfen. II. 1. Europa muß in die nationale Föderalismusdebatte einbezogen werden. a) Neben Deutschland, Österreich und Belgien haben auch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union föderative, regionale oder autonome Ebenen eingerichtet. b) Die Bundesstaaten müssen europatauglich sein, aber auch die Union darf nicht föderalismusblind sein. 2. Für die Union selbst fehlt es bislang an Föderalismuskonzepten. Das ist – verglichen mit der Vergangenheit (W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat) – ein Mangel. 65
M. Kloepfer, Bemerkungen zur Föderalismusreform, DÖV 2004, S. 566 (571).
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III. 1. Der Föderalismuskommission wurde die richtige Aufgabe gestellt: Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern. 2. Kritikpunkte der Entwicklung der föderativen Ordnung waren in den letzten Jahren vor allem: a) Abkehr vom Wettbewerbsföderalismus und Hinwendung zum Verbundföderalismus; b) Erodierung der legislativen Länderzuständigkeiten, Übergang von Gestaltungsföderalismus zum Beteiligungsföderalismus, politische Bindung der Landesparlamente durch Landesministerkonferenzen; c) Unklare Verantwortlichkeiten durch Kompetenzverflechtungen – das Problem der Gemeinschaftsaufgaben; d) Zunahme zustimmungsbedürftiger Gesetze. 3. Grundsätzlicher Reformansatz: Revitalisierung der traditionellen Bundesstaatsidee des politischen Wettbewerbs mit dem Ziel dezentraler Entscheidungen von substantiellem politischen Gewicht und mit der Chance des Experiments in überschaubaren Bereichen bei klarer Zuordnung der Verantwortlichkeit und Stärkung der Entscheidungsfähigkeit, mit andern Worten: Rückkehr zum kompetitiven Föderalismus mit transparenten Strukturen, der den Vätern und Müttern des Grundgesetzes 1949 vorschwebte. 4. Eine neue Föderalismuskommission muß sich diesem Grundansatz stellen; sie darf nicht nur korrigieren, wo sich gerade Einigung einstellt. Sie darf namentlich die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern nicht ausklammern.
IV. 1. Darstellung einzelner Reformkernthemen: a) Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder; b) Veränderung der Zahl zustimmungsbedürftiger Gesetze; c) Entflechtung im Bereich von Normsetzung, Verwaltung und Finanzierung, namentlich der Gemeinschaftsaufgaben; d) Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern.
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2. Diese Themen sind auch von der Föderalismuskommission erkannt – von den Finanzbeziehungen abgesehen –, aber nicht durchweg zureichend gelöst worden, so daß Kritik und Verbesserungsvorschläge angebracht sind. Das gilt – wie im einzelnen darzulegen ist – vor allem in den Bereichen 1 b und c. Im Komplex 1 a wird die Abschaffung der Rahmengesetzgebung empfohlen. 3. Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sind dringend reformbedürftig. Sie sind ein Eckpfeiler jeder bundesstaatlichen Ordnung. Von einer guten Finanzverfassung sind Qualität und Leistungsfähigkeit des föderativen Systems abhängig. Reform ist in folgenden Bereichen erforderlich: a) Rückbau der Gemeinschaftsaufgaben und der Bundesergänzungszuweisungen; b) Neuordnung des Länderfinanzausgleichs; c) Stützung der Länderzuständigkeit im Steuerwesen zur Herbeiführung von Steuerwettbewerb; d) Änderung des Art. 19 GG zur Eindämmung der Staatsverschuldung von Bund und Ländern im Lichte der Maastrichtkriterien.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Klaus Stern Von Katrin Schoppa Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten dankte em. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern für die profunden Ausführungen und die saubere Diagnose, die der Tagung eine gute Eröffnungsbilanz vorangestellt habe. Dr. Joachim Lohmann führte aus, dass im Schulbereich, in dem fast alleinige Länderzuständigkeit herrsche, die Erfahrung hätte gemacht werden müssen, dass Deutschland im internationalen Vergleich annähernd gescheitert sei. Dem Bund die Schuld zuzuschieben sei dabei ausgeschlossen. Das Leistungsdefizit, der Anteil an Schülern, die nicht einmal die Minimalkenntnisse besäßen, und der Anteil der sozialen Auslese im Verhältnis zu anderen Staaten sei gravierend. Im Schulbereich habe es in den 60er-Jahren, Anfang der 70er-Jahre eher einen Blockade-Föderalismus gegeben, jetzt sei es hingegen zu einem Verbundföderalismus gekommen; es passiere fast nichts, ohne dass durch die Kultusministerkonferenz Einigkeit hergestellt worden sei, obwohl dies nicht zwingend sei. Lohmann fragte, wieso Stern optimistisch sei, dass hier wieder ein Wettbewerbsföderalismus entstehen könne, obwohl der Bund den Wettbewerb jedenfalls nicht wesentlich eingeschränkt habe, sondern die Länder selbst verantwortlich seien, dass es ihn nicht gebe. Stern entgegnete, dass die Länder nicht in Wettbewerb getreten seien, weil sie sich in der Kultusministerkonferenz auf den kleinsten und nicht immer besten Nenner geeinigt hätten. Um zum Wettbewerb zu gelangen, könne man versuchen, sich von der Kultusministerkonferenz frei zu machen und diese dazu auffordern, die Länder nicht so stark zu regulieren. Dann könne sich herausstellen, ob das Schulwesen z. B. in Bayern besser sei, als das in Nordrhein-Westfalen. Er sehe gerade den Wettbewerb darin, die Länderparlamente eigene Entscheidungen treffen zu lassen und ihnen nicht den Vorschlag der Kultusministerkonferenz durch die Regierungen „vorzusetzen“. Zugespitzt könne man sagen, dass die Kultusministerkonferenz abgeschafft werden könne, so könne manches mit eigenen Entscheidungen besser gemacht werden; dann käme Wettbewerb. Ralf-Peter Hässelbarth vertrat die Ansicht, dass – wenn es bei der Länderzuständigkeit für die Bildungspolitik bleiben solle, worin Einigkeit bestehe – es Abstimmungsprozesse zwischen den Ländern geben müsse, gerade was die Qualitätssicherung anbelange. Die letzten Beschlüsse der Kultusmi-
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nisterkonferenz hätten in diesem Bereich gezeigt, dass hier im Sinne eines Gestaltungsföderalismus reagiert wurde. Stern entgegnete, dass er die Abschaffung der Kultusministerkonferenz nur als überspitzten Vorschlag angebracht habe. Er höre immer wieder aus den Länderparlamenten, dass diese nicht abweichend von der Kultusministerkonferenz entscheiden könnten, selbst dann, wenn sie es gerne würden. Erst in jüngster Zeit habe sich das geändert, vorher habe es sehr viele Richtlinien gegeben, die die Länder gehindert hätten, selbstständig zu handeln. Es ginge ihm um einen Mittelweg. Dr. Klaus-Dieter Grunwald nannte die Kultusministerkonferenz die Mindestvoraussetzung für die Koordination der Länder; ansonsten käme es zu einem Partikularismus par excellence. Er sprach die Europatauglichkeit Deutschlands und die Globalisierung im Bildungsbereich an und betonte die Notwendigkeit einer Deregulierung in diesem Bereich. Als Beispiel nannte er das Sondergesetz für die Hochschule in Darmstadt, was es dieser ermögliche, alles eigenständig zu regeln – nur das Gehalt des Präsidenten werde vom Ministerium festgesetzt. Insgesamt befürworte er den Weggang von der staatlichen Reglementierung. Stern stimmte dem zu. Es ginge darum, den Ländern mehr Freiräume zu sichern und bemerkte, dass dies auch verfassungsrechtlich notwendig sei. Er sei auch der Meinung, dass die Freiräume den Hochschulen gesichert werden müssten, wo auch langsam ein Fortschritt zu verzeichnen sei. Dr. Frank Hennecke nahm Bezug auf den Vorschlag Sterns, die Rahmengesetzgebungskompetenz abzuschaffen. Dieses sei geradezu eine Prämisse der Föderalismusdiskussion gewesen. Dann allerdings sei die Frage aufgetaucht, wie die Materien aus dieser Kompetenz auf den Bund und die Länder zu verteilen seien. Im Umwelt-, Wasser- und Naturschutzrecht sei es in anhaltender Diskussion nicht gelungen, diese Materien entweder ganz dem Bund oder ganz dem Land zuzuordnen. Es sei immer wieder das Bedürfnis entstanden, einen Teil dem Bund zu belassen und einen Teil den Ländern zuzuordnen. Darauf sei versucht worden, mit einem „Zugriffsrecht“ der Länder oder mit kasuistischen Katalogen zu antworten. Am Ende habe sich die Überzeugung durchgesetzt, es bei der Rahmengesetzgebung zu belassen. Dr. Gerhard Schick nahm auf das Thema der Staatsverschuldung Bezug. Die Neugliederung der Länder würde nur ein Symptom dieses Problems bekämpfen, nämlich die Ausgleichsmasse im Finanzausgleich reduzieren, aber den Ausgleichsgrad, der das eigentliche Problem darstelle, genau gleich belassen. Wenn der Finanzausgleich eine „Versicherung gegen schlechte Finanzpolitik“ sei, müsse man sich überlegen, was die Länder dazu bewegen könne, diese Versicherung aufzulösen. Hier warnte er davor, die Zuschlagsrechte einseitig ohne die Bemessungsgrundlagen zu diskutieren, denn die unterschiedlichen Wirkungen von Entscheidungen über Bemessungsgrund-
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lagen seien der Grund für die Notwendigkeit einer solchen Versicherung. Er sprach auch das Problem an, dass teilweise Steuern nicht eingetrieben würden mit der Begründung, dass sie dem Land sowieso nicht blieben. Stern warf daraufhin die Frage auf, wie das System des Finanzausgleichs vernünftiger gestaltet werden könne. In diesem Rahmen könne man durchaus an das Thema Neugliederung denken, denn die schwachen Länder würden von den starken und dem Bund alimentiert und könnten sich darauf verlassen. Ökonomen würden von der „bail-out-Klausel“ sprechen. Lohmann meldete sich erneut zum Länderfinanzausgleich zu Wort. Eine Neuordnung der Länder würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Er fragte nach der Möglichkeit eines Anreizsystems; denn die Länder seien teilweise gar nicht daran interessiert, Einnahmen zu erzielen. Möglich sei auch eine Bindung des Systems an Auflagen, um auf diese Art Druck auszuüben und dadurch mehr Wettbewerb zwischen den Ländern zu schaffen. Stern erwähnte zustimmend das Beispiel Baden-Württembergs, wo darauf verwiesen werde, dass ein Durchgreifen – etwa mit Betriebsprüfungen – gar nicht dem eigenen Land zugute käme, sondern den Ländern, die finanzschwach seien und die Geld im Wege des Finanzausgleichs erhielten. Gernot Nobis zitierte den oft gehörten Satz „Föderalismusreform ja, aber finanziell darf sich am status quo nichts ändern“. Dies scheine ihm ein Verhaltensmuster der Politik zu sein. Der „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“ sei per se nichts Schlechtes. Den Länderfinanzaugleich rein auf die Betriebsprüfung zu fokussieren hielte er für fragwürdig; ihn für alles verantwortlich zu machen, hielte er für nicht gerechtfertigt. In Bezug auf die Neugliederung sprach sich Nobis eher für eine Gerechtigkeitsdiskussion über die Verteilung der finanziellen Mittel aus. Stern stellte in den Raum, ob es einen Art. „0“ des Grundgesetzes gäbe, der lautete: „Reform ja, aber es darf sich nichts ändern“; darin läge ein Fehler. Viele Faktoren, u. a. die Globalisierung hätten zu einem Wandel geführt, der sich auch in einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung niederschlagen müsse. Die Finanzverfassung sei dabei einer der Eckpfeiler, der notwendigerweise einer Änderung zugeführt werden müsse. Er sei trotzdem nicht der Meinung, dass im Länderfinanzausgleich die alleinige Ursache der Miseren läge. Hinter den Finanzen stecke immer das Gerechtigkeitsproblem. Dr. Ernst Bartholomé brachte zum Ausdruck, dass der Kernpunkt der Diskussion sei, wie viel Unterschiedlichkeit man ertragen könne. Als Beispiel nannte er das Saarland, das Kindergärtenplätze unentgeltlich zur Verfügung stelle und daher auch verpflichtet sein sollte, die Einkommensteuer zu erhöhen. Wettbewerb sei gerade im Bildungswesen dringend notwendig. Eine Neugliederung der Länder sei jedoch schwierig zu realisieren, und er sei nicht sicher, ob diese überhaupt sinnvoll sei. Zusammenfassend betonte
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er, dass die Aushöhlung der kommunalen Zuständigkeiten durch Europa, den Bund und die Länder ein zu extremes Maß angenommen hätten. Diesen Prozess umzukehren setze voraus, Unterschiedlichkeiten zu ertragen und als positiv zu empfinden. Stern brachte zum Ausdruck, dass die derzeitige Situation der Finanzverfassung mit den unterschiedlichen Strukturen im Hinblick auf Steuer- und Finanzkraft Änderungen fordere. Eine Schaffung annähernd gleichgewichtiger Länder wäre eine Lösung, was auch an Art. 29 GG zu sehen sei, der ursprünglich als ein Auftrag formuliert worden sei. Die dann folgende Abschwächung zu einer „Kann“-Bestimmung sei das Todesurteil für die Neugliederung gewesen. Dies neu zu durchdenken, sei zumindest zu überlegen. Zur Wettbewerbsfrage bemerkte Stern, dass z. B. der auf europäischer Ebene bestehende Steuerwettbewerb auch eine Lösung für die Länderebene darstellen könnte. PD Dr. Kyrill-Alexander Schwarz sprach den Vorschlag Sterns an, Art. 109 GG zu ändern. Er sei der Ansicht, dass in diesem Zusammenhang auch Art. 115 GG geändert werden müsse. Jedoch gab er zu bedenken, ob es nicht vielmehr Aufgabe der Gerichtsbarkeit sei, ihren Kontrollauftrag in diesem Bereich ernst zu nehmen, denn die Landesverfassungsgerichte stellten die Verschuldungsgrenzen und die Ausweitung einer Kreditfinanzierung mehr oder minder in das politische Belieben. Diese Tendenz sei auch auf Gemeinschaftsebene zu verzeichnen. Hier könnten sich die Gerichte als Motor der Föderalismusreform erweisen. Stern entgegnete, seiner Ansicht nach sei es gefährlich, die Verschuldenszuweisung durch das Bundesverfassungsgericht bemessen zu lassen; dieses sei immer sehr föderalismusschützend in diesem Bereich tätig. Auch sei Art. 115 GG sehr stark von Maastricht überlagert. Der Investitionsbegriff habe nicht gewirkt, leider würden auch die Maastrichtkriterien unterlaufen und es sei gefährlich, den Stabilitätspakt noch weiter aufzulockern. Peter Marx fragte, in welchem Umfang nach Art. 23 GG Gesetzgebungskompetenzen der Bundesrepublik Deutschland nach Brüssel „abwandern“ bzw. weggegeben werden könnten und inwieweit Stern die Legitimationskette dadurch als durchbrochen sehen würde. Stern verwies auf die diesbezüglich notwendige Zustimmung des Bundesrates. Sachlich gebe es nur die Grenze des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. Es müsse ein Restbestand an Souveränität bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera stimmte mit Stern darin überein, dass die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Maastricht-Vertrag nicht viel bewirkt habe. Dessen Grundaussage sei, dass die „obere Ebene“ nicht handeln solle, wenn die „untere Ebene“ zufriedenstellend handele. Es sei dabei im Rahmen der Union allerdings sehr einfach nachzuweisen, dass die „untere
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Ebene“ nicht zufriedenstellend handele, weil häufig Unterschiede blieben, was bei einer Regelung durch die „obere Ebene“ nicht der Fall sei. Die Begründungen in den Rechtsakten seien daher häufig sehr knapp. Deregulierung hieße nicht unbedingt, dass statt des Bundes die Länder regeln, sondern es wäre möglich, dass auf eine staatliche Regelung überhaupt verzichtet werde. Stern forderte zustimmend eine grundsätzliche Minimierung auf das, was gesetzgeberisch notwendig sei. Auch auf der europäischen Ebene sollte der Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips beachtet werden. Durch die Verlagerung der Kompetenzen nach Europa käme es zu einem Ausmaß an Regelungswut, das das der nationalen Regelungswut teilweise wesentlich überschreite. Univ.-Prof. Thomas König bemerkte, dass sich seit der siebten Wahlperiode weder der Anteil an zustimmungspflichtigen Gesetzen gesteigert habe, noch dass die Zustimmungspflicht einen signifikanten Beitrag zum Erfolg oder Scheitern von Gesetzesinitiativen geleistet habe. Man könne auch eine Empfehlung aussprechen, ein Mehrheitswahlsystem einzuführen, was die Handlungsfreiheit bzw. den Handlungsspielraum der Regierung erhöhen könnte. Des weiteren fragte er, wie Stern sich eine Lösung des Problems des Ausgleichs zwischen mehr Handlungsspielraum und der daraus folgenden erhöhten Regulierungswut vorstelle. Hierzu führte Stern aus, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe die Zustimmungsbedürftigkeit sehr stark zugenommen. Er sei im übrigen nicht ganz sicher, ob im Mehrheitswahlsystem die Lösung der Probleme zu finden sei. Nachzudenken sei jedoch über das Thema Volksgesetzgebung. Die Schweizer Erfahrungen zeigten, dass dies einige Wirkungen habe. Dr. Kurt-Friedrich von Scheliha bemerkte, dass es notwendig sei, auf allen staatlichen Ebenen (Bund, Länder und Gemeinden) eine einigermaßen funktionierende Symmetrie zwischen Aufgaben- und Finanzverantwortung zu erreichen, was schwierig vor allem wegen der unterschiedlichen Struktur der Länder sei. Des weiteren fragte er, ob die Tatsache, dass die Bundesregierung in der bislang tagenden Föderalismuskommission nur mit beratender Stimme vertreten war, Mitursache für das Misslingen der Kommission sei. Stern bemerkte, das Konnexitätsprinzip sei in der Tat ein Gesichtspunkt, über den man nachdenken sollte, und in einigen Ländern im Verhältnis zu den Gemeinden komme es bereits dazu; in manchen Ländern sei es sogar mittlerweile verankert. Von der Föderalismuskommission werde gesagt, die Bundesregierung habe zu spät ihre Papiere auf den Tisch gelegt. Er bezweifelte aber, ob es nach der gewählten Zusammensetzung der Kommission nun noch möglich sei, von dieser Struktur abzuweichen und die Bundesregierung als Mitglied und nicht nur als beratendes Organ einzubeziehen. Merten dankte Stern erneut für das Eröffnungsreferat und beendete die Diskussion.
Föderalismusreform in der Sackgasse? Bericht über die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Von Horst Risse* Die Anpassung der staatlichen Organisation der Bundesrepublik Deutschland an sich verändernde Rahmenbedingungen ist eine Daueraufgabe der Politik. Das gilt natürlich auch für den föderalen Staatsaufbau. Gerade der war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts Gegenstand zunehmender Kritik geworden. Vor allem das Scheitern der Steuerreform der Regierung Kohl 1997 hatte Mängel in der Entscheidungsfähigkeit des Systems auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. I. Vorgeschichte und Einsetzung der Kommission Eine erste Anregung zu einer groß angelegten Reformanstrengung gab der damaligen hessische Ministerpräsident Eichel in seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident 19981. Kurz darauf nahm sich die Ministerpräsidentenkonferenz des Themas an2, was nach zunächst länderinterner Befassung ab 2002 in Verhandlungen der Länder mit der Bundesexekutive mündete3. Diese sollten Ende 2003 abgeschlossen werden. Die Öffentlichkeit nahm von diesen Gesprächen kaum Notiz, Ergebnisse standen allerdings auch aus4. * Ministerialdirigent im Sekretariat des Bundesrates, Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Verfasser war Leiter des Sekretariats der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Die nachfolgenden Ausführungen geben ausschließlich seine persönlichen Auffassungen wieder und sind auf dem Stand vom März 2005. 1 731. Sitzung des Bundesrates, 6.11.1998, Plenarprotokoll, S. 476 C. 2 Jahreskonferenz der MPK, 2.–4.12.1998. 3 Besprechung der Regierungschefs von Bund und Ländern am 20.12.2001. 4 Vgl. aber die Berichte vom 13. und 17.12.2001, die allerdings lediglich Bestandsaufnahmen und Problembeschreibungen darstellen; wiedergegeben in: Deutscher Bundestag, Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Zur Sache 1/2005, Arbeitsunterlage (AU) 2 und 3.
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Die öffentliche Debatte dauerte aber an. Am 27. März 2003 verabschiedeten die Regierungschefs der Länder Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund. Die Landesparlamente folgten am 31. März 2003 mit ihrer „Lübecker Erklärung“. Schließlich positionierte sich die Bundesregierung in einem Papier vom 9. April 20035. Im Frühsommer 2003 erreichte das Thema endlich den Bundestag, der als Gesetzgeber natürlich von einer eventuellen Verständigung der Exekutiven über eine Reform des Föderalismus massiv betroffen gewesen wäre. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Müntefering regte in einer Bundestagsdebatte im Juni 2003 die Einrichtung einer gemeinsamen Verfassungskommission mit dem Bundesrat an6 und konnte am 8. Juli 2003 eine entsprechende Verständigung mit den anderen Fraktionen erzielen. Der Bundesrat griff den Gedanken auf, was zur Einsetzung der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung im Oktober 20037 führte. Damit war die Debatte bei den beiden Organen angekommen, die für sie eigentlich zuständig waren, nämlich beim verfassungsändernden Gesetzgeber. Nur am Rande sei bemerkt, dass alleine die Schilderung dieses Ablaufs nachdenklich machen muss: Obwohl in der Sache unstreitig war, dass in einem wichtigen Politikbereich Handlungsbedarf bestand, vergingen fünf Jahre, bis diejenigen, die die allfälligen Beschlüsse fassen müssten, sich der Frage annahmen! II. Zusammensetzung – Vorsitz – Arbeitsweise Die Kommission, die sich am 7. November 2003 konstituierte, bestand in ihrem Kern aus 32 Mitgliedern, je 16 der Bundestags- und der Bundesratsbank, so dass jedes Land ein Mitglied entsandte. Nur diese 32 Mitglieder waren stimmberechtigt. Pro Mitglied gab es ein stellvertretendes Mitglied, das immer Rede- und Anwesenheitsrecht hatte, aber nur im Vertretungsfall abstimmungsberechtigt war. Die Bundestagsfraktionen benannten vor allem Innen-, Rechts- und Finanzexperten, während seitens der Länder alle Ministerpräsidenten – und diese vertretend – vornehmlich Chefs der Staats- und Senatskanzleien und einige Justizminister auftraten8. Dabei war durchaus erkennbar, dass die Staatskanzleien Wert darauf legten, die Kommissionsarbeit nicht zur Sache der einzelnen Fachministerien zu machen. Die noto5 Alle zitierten Dokumente finden sich in der Dokumentation (FN 4) auf der beigefügten CD-Rom. 6 BT-Plenarprotokoll 15/51, S. 4202 B. 7 Beschlüsse vom 16. bzw. 17.10.2003, BT-Drs. 15/1685, BR-Drs. 750/03. 8 Die Benennung der Ministerpräsidenten war durchaus keine Formsache: Viele nahmen die Kommissionssitzungen regelmäßig persönlich wahr und waren vor allem in der Schlussphase kontinuierlich präsent.
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rischen Beharrungskräfte der Fachbürokratien sollten sich nicht zu früh entfalten können. Das umgekehrte Problem ergab sich für die Bundestagsmitglieder der Kommission: Spätestens ab Sommer 2004 wurde es zunehmend wichtiger, die Fraktionen in ihrer Gesamtheit in den Beratungsprozess einzubinden, um auch die anderen Abgeordneten „mitzunehmen“. Zu diesen 64 stimmberechtigten Mitgliedern und ihren Vertretern kamen vier beratende Mitglieder von der Bundesregierung9. Mit einiger Überraschung wurde dabei aufgenommen, dass der Bundesminister des Innern nicht dazu gehörte, obwohl dieses „Verfassungsressort“ traditionell für das Staatsorganisationsrecht federführend ist. Stattdessen lag die allgemeine Federführung beim Justizministerium, in Finanzfrage beim Finanzministerium. Mit von der Partie war auch das Verbraucherschutzministerium – zur Einbindung des kleinen Koalitionspartners10. In Untergremien der Kommission spielten die übrigen Fachressorts später aber doch eine bedeutende Rolle. Das vierte von der Bundesregierung gestellte Mitglied war der Chef des Kanzleramts. Die Regierungszentrale trat aber erst in der Schlussphase deutlicher in Erscheinung. Sechs weitere beratende Mitglieder kamen von den Landtagen. Anders als bei der Gemeinsamen Verfassungskommission der 1990er Jahre war es den Landtagen11 gelungen, wenigstens Sitze, wenn auch kein Stimmrecht in der Kommission zu erstreiten. Benannt wurden zwei Landtagspräsidenten (A- und B-Seite) und vier Fraktionsvorsitzende. Auch diese hatten jeweils einen Vertreter. Aktiv brachten sich auch die ebenfalls erstmals präsenten Vertreter der kommunalen Spitzenverbände ein. Jeder der drei Verbände stellte einen „ständigen Gast“ und dessen Vertreter. Schließlich gehörten der Kommission zwölf Sachverständige an, die die Arbeiten (teilweise) mit erheblichem Engagement unterstützen. Addiert man die Zahl der Mitglieder und ihrer Vertreter, kommt man auf eine Gesamtzahl von 102. Da die meisten von ihnen nicht alleine, sondern in Begleitung von Referenten zu den Sitzungen erschienen, wird schnell deutlich, dass die Kommission von Anfang an ein Größenproblem hatte. Lange Zeit galt es innerhalb der Kommission und auch in der Öffentlichkeit fast als eine Garantie für einen erfolgreichen Abschluss, dass mit Franz Müntefering und Edmund Stoiber zwei Spitzenpolitiker als Vorsitzende der Kommission agierten. Beide haben praktisch keine Sitzungszeit der Kom9 Benannt waren jeweils die Bundesminister, als Vertreter beamtete Staatssekretäre. Der Chef BK wurde von einem Staatsminister im Kanzleramt vertreten. 10 Wahrgenommen durch BM Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. 11 Zur (Nicht-)Beteiligung der Landtage dort: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Deutscher Bundestag, Zur Sache 5/93, S. 26.
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mission versäumt. Gerade aus der praktischen Erfahrung der Sekretariatsarbeit ist zu bestätigen, dass die Zusammenarbeit der Vorsitzenden bis zum Schluss reibungslos und sehr zielorientiert verlaufen ist12. Die Kommission hat insgesamt elf Vollsitzungen, davon sechs öffentlich, abgehalten. Die beiden kurz nach der Konstituierung eingesetzten Arbeitsgruppen13 – „Gesetzgebungskompetenzen und Mitwirkungsrechte“ einerseits und „Finanzbeziehungen“ andererseits – haben sieben- bzw. sechsmal getagt. Dabei ist festzuhalten, dass die Arbeitsgruppen im Grunde nichtöffentliche Kommissionssitzungen waren, da die Teilnahme allen Mitgliedern offen stand. Sie waren fast so gut besucht wie die Kommissionssitzungen selbst. Deshalb konnten sie auch keinen Beitrag zur Lösung des Größenproblems der Kommission leisten. Ein Schritt in diese Richtung gelang erst mit der Einsetzung von sechs (später sieben) „Projektgruppen“14 im Mai 2004. Diese bestanden im Kern aus je vier Mitgliedern der Bundestags- und der Bundesratsbank, unter Hinzuziehung von Vertretern der Vorsitzenden und der Bundesregierung. Sie tagten grundsätzlich ohne Landtags- und Kommunalvertreter und ohne Sachverständige, was seitens der Nichtbeteiligten zunächst auf wenig Gegenliebe stieß. Diese relativ kleinen Gruppen (tatsächlich anwesend waren aber auch dort meist 20 bis 25 Personen) stellten aber vor allem für die Länderseite ein Novum dar. Innerhalb und außerhalb der Kommission hatten die Länder sonst immer auf „Länderoffenheit“ gedrängt, also Wert darauf gelegt, dass stets alle Länder teilnehmen konnten. Die Wahrung dieses Arbeitsprinzips hätte aber zur Folge gehabt, dass wiederum keine arbeitsfähigen Gremien entstanden wären. Kleinere Arbeitseinheiten als die Projektgruppen hätten in der Kommission aber nicht mehr geschaffen werden können. Sie wären zwar vielleicht handlungsfähiger gewesen, aber die Akzeptanz ihrer Ergebnisse wäre nicht hinreichend gewährleistet gewesen. In den Projektgruppen gelang es weitgehend, die bis dahin teilweise etwas disparaten Debatten der Kommission in den wesentlichsten Punkten zu konzentrieren und Lösungsmöglichkeiten zu formulieren oder wenigstens 12 Dabei ist auch der hohe Anteil hervorzuheben, den die engsten Mitarbeiter der Vorsitzenden, Staatssekretär a. D. Dr. Rainer Holtschneider (als Berater der SPDBundestagsfraktion) und MinDir Dr. Walter Schön sowie MinDirig Anton Hofmann (beide bayerische Staatskanzlei), daran hatten. 13 Geleitet wurden die Arbeitsgruppen von jeweils vier „Koordinatoren“, eine Lösung, die ihrerseits einen gewissen Koordinierungsaufwand hervorrief. 14 PG 1: Art. 84 GG/materielle Zugriffsrechte der Länder/Europa; PG 2: Öffentlicher Dienst/Innere Sicherheit; PG 3: Bildung/Kultur; PG 4: Umwelt- und Verbraucherschutz; PG 5 Gesetzgebungskompetenzen mit möglicher regionaler Bedeutung; PG 6 Finanzbeziehungen; PG 7: Hauptstadt. Insgesamt haben 37 Projektgruppensitzungen stattgefunden.
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zu skizzieren. Es wurde allerdings auch deutlich, was nicht oder nur im Wege der Kompromissfindung durch Tauschgeschäfte im Rahmen einer Gesamtlösung möglich sein würde. Die Tätigkeit der Projektgruppen war im September/Oktober 2004 abgeschlossen. Es folgten noch je zwei Arbeitsgruppen- und Kommissionsklausuren, in denen die Ergebnisse im größeren Kreis erörtert wurden. Dann begann die Schlussphase der Kommission. In ihr bestätigte sich die herausragende Rolle der Vorsitzenden, denn ihnen fiel die Rolle zu, aus den zum großen Teil unverbunden nebeneinander stehenden Beratungsergebnissen einen Gesamtvorschlag zu entwickeln, in dem sich die Beteiligten hinreichend wieder finden konnten. Unterstützung fanden sie dabei in dem „Erweiterten Obleutegremium“, das aus den bis dahin vor allem mit Verfahrensfragen befassten Obleuten der verschiedenen Akteursgruppen der Kommission und den Koordinatoren der Arbeitsgruppen bestand. Hinzugezogen wurden auch Vertreter der Bundesregierung. In diesem Kreis, der im November und Dezember 2004 dreimal tagte, wurden so genannte Sprechzettel der Vorsitzenden erörtert, aus denen der Vorschlag der Vorsitzenden für die Beschlussempfehlung der Kommission hervorgehen sollte. Anwesend waren dabei sechs bis sieben Ministerpräsidenten, die Spitzen der Koalitionsfraktionen, ein stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion, mehrere Bundesminister und der Chef des Kanzleramts, also gewiss eine Runde, in der auch weit reichende politische Entscheidungen möglich waren. Aus diesen Beratungen ging am Ende der Vorentwurf eines Vorschlags der Vorsitzenden15 hervor, der der Kommission am 13. Dezember 2004 vorgelegt wurde. In einer überarbeiteten Form sollte er die Grundlage für die abschließende Beschlussfassung der Kommission am 17. Dezember 2004 bilden. Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Dabei kann man auch angesichts der Erklärungen der Vorsitzenden in der letzten Kommissionssitzung16 wohl davon ausgehen, dass eine Einigung in vier der fünf in der Vorbemerkung des Vorentwurfs als strittig bezeichneten Punkten17 greifbar war. An dem fünften, dem Bildungssektor, ist die Kommission dann – jedenfalls vorläufig – gescheitert. Sie gab ihren Auftrag am 17. Dezember 2004 unerledigt an Bundestag und Bundesrat zurück. Ob es – in welcher Form auch immer – zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen kommt, ist gerade jetzt Gegenstand der politischen Debatte. 15
AU 104 neu. 11. Sitzung, 17.12.2004, Sten. Bericht, S. 279–282. 17 Genannt sind: Hochschulrecht und Bildungsplanung, Umweltrahmenrecht, Innere Sicherheit, Ländermitwirkung in EU-Fragen und die EU-Haftung, AU 104 neu, S. 1. 16
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III. Ausgewählte Beratungsgegenstände Schon weil die Diskussion über die föderale Ordnung in Deutschland anhält, lohnt sich ein genauerer Blick auf die wesentlichen Beratungsinhalte. Es liegt auf der Hand, dass es im Rahmen eines Beitrags wie diesem nicht möglich ist, der Vielzahl von Themen gerecht zu werden, die die Kommission behandelt hat. Dennoch sollen im Folgenden einige Sachbereiche beleuchtet werden, die besonders bedeutsam erschienen. Dabei soll der Schwerpunkt auf die wichtigsten Strukturfragen gelegt werden, während einzelne Politikbereiche und finanzverfassungsrechtliche Probleme nur kurz angesprochen werden können. 1. Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen im Bundesrat Einer der zentralen Diskussionsgegenstände der Kommissionsarbeit war die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen im Bundesrat. Im Durchschnitt der 55 Jahre seit Bestehen der Bundesrepublik waren 53,2% der Bundesgesetze Zustimmungsgesetze18. Diese Zahl ist zwar geringer, als oft angenommen wird19, liegt aber weit höher als die seinerzeit im Parlamentarischen Rat geschätzten 10%20. Aus der Sicht des Bundes befindet sich das Verhältnis von Bundestag und Bundesrat damit in einer korrekturbedürftigen Schieflage. Ursache hierfür sind weniger die seit 1949 neu in das Grundgesetz aufgenommenen Zustimmungsbedürftigkeitstatbestände als die von Anfang an bestehenden Art. 84 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 3 GG. Beide zusammen sind für drei Viertel aller zustimmungsbedürftigen Gesetze ursächlich21. Die Angemessenheit von Art. 105 Abs. 3 GG, der Gesetze über Steuern für zustimmungsbedürftig erklärt, die den Ländern ganz oder teilweise zufließen, wurde in der Kommission nicht in Zweifel gezogen. Anders verhielt es sich jedoch hinsichtlich des Art. 84 Abs. 1 GG. Diese Bestimmung ist für die Hälfte der zustimmungsbedürftigen Gesetze verantwortlich (50,6%)22. Sie dient der Kompensation von Eingriffen des Bundes in die Verwaltungshoheit der Länder23 bei der Ausführung von Bundesrecht als eigene Ange18
Handbuch des Bundesrates 2004/2005, S. 305. Die in der Diskussion immer wieder genannte Zahl von zwei Dritteln aller Gesetze ist viel zu hoch gegriffen. Lediglich in der Zeit der 10. Wahlperiode (1983–1987) wurde ein Anteil von 60% erreicht, Handbuch des Bundesrates, 2004/2005, S. 305. 20 AU 2, S. 42. 21 Dästner, ZParl 2001, S. 295 f.; AU 2, S. 43. 22 AU 2, S. 43. 23 Dittmann, in: Sachs, GG, 3. Auflage 2003, Art. 84, RN 14. 19
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legenheit, da sie an Regelungen des Verwaltungsverfahrens und der Behördenorganisation anknüpft. Bekanntlich reicht schon die Existenz einer einzigen Verfahrens- oder Organisationsregelung in einem Gesetz aus, um dieses in seiner Gänze zustimmungsbedürftig zu machen (Einheitstheorie)24. In der Kommission zeichnete sich schon relativ früh ein beachtlicher Reformansatz zu Art. 84 Abs. 1 GG ab. Die Grundüberlegung ging dahin, dem Bund zwar die Möglichkeit zu belassen, Verfahrensregelungen in seine Gesetze aufzunehmen, es aber den Ländern zu ermöglichen, hiervon abweichendes Landesrecht zu setzen. Im Gegenzug sollte die Zustimmungsbedürftigkeit entfallen. Regelungen der Behördenorganisation sollten dem Bund entweder ganz verwehrt werden oder zumindest insoweit ausgeschlossen werden, als sie Aufgabenübertragungen an die Gemeinden oder Kreise betrafen (sog. Durchgriff des Bundes auf die Kommunen). Damit sollte dem Anliegen der kommunalen Seite entsprochen werden, zukünftig nicht mehr durch Bundesgesetze mit Aufgaben belastet zu werden, ohne dass ihnen die nötigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Fälle dieser Art hatte es in der Vergangenheit immer wieder gegeben25, und sie gelten als eine der Ursachen für die Finanzmisere der Kommunen. Für die Gemeinden ist es viel günstiger, wenn sie durch den Landesgesetzgeber mit Aufgaben betraut werden: Dann greifen die inzwischen in allen Verfassungen der Flächenländer verankerten Konnexitätsbestimmungen im Verhältnis Land – Kommune26. Bei dieser Lösung, die von den Abgeordneten Stünker und Dr. Röttgen entwickelt worden war27, war im Grunde nur streitig, ob es dem Bund in Ausnahmefällen erlaubt sein sollte, die Abweichungsmöglichkeit der Länder – dann allerdings wieder mit Zustimmung des Bundesrates – auszuschließen. Die Fachressorts der Bundesregierung legten eine Anzahl von Papieren vor, mit denen die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Sperrklausel begründet werden sollte28. Ohne hier in die Einzelheiten dieser Debatte29 einzutreten, kann festgehalten werden, dass die vorgebrachten Bedenken in ihrer Kleinteiligkeit eher den entgegengesetzten Effekt entfalteten. Zwar sprachen sich auch einige der Sachverständigen für eine Sperrklausel aus30, insgesamt überwog aber die Ansicht, dass die vorgebrachten Problemfälle 24
Ständige Rspr., z. B. BVerfGE 55, 319, 326 f. m. w. N. Z. B. Grundsicherungsgesetz, Bsp. bei Henneke, Kom-Drs. 79, S. 1. 26 Dazu Schoch, Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch das finanzverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip, in: Brink/Wolff (Hg.), Gemeinwohl und Verantwortung, FS v. Arnim, 2004, S. 411 (417 ff.). 27 PAU 1/2, S. 4. 28 PAU 1/4, 1/5, 1/6, 1/8 neu, 1/9, 1/10. 29 Vgl. auch die Erwiderung aus Ländersicht: Gerhards, PAU 1/7. 30 Grimm, AU 76, S. 3; Scholz, AU 24. 25
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auch durch klare materielle Regelungen zu bewältigen seien und das Risiko zu groß sei, dass die Staatspraxis bei Existenz einer Sperrklausel wieder in den Status quo zurückfallen würde. Denn auch auf der Basis des geltenden Art. 84 Abs. 1 GG ist der Bund nicht daran gehindert, auf Verfahrens- und Organisationsregeln zu verzichten und Gesetze so zustimmungsfrei zu machen. Der Stünker/Röttgen-Vorschlag zu Art. 84 GG war somit geeignet, die Zahl der Zustimmungsgesetze gegenüber der geltenden Verfassungslage um die Hälfte zu reduzieren. Dieser Reformvorschlag fand auch Eingang in den Vorentwurf der Vorsitzenden für eine Beschlussempfehlung. Dort allerdings mit der Sperrklausel und in der Variante, dass dem Bund Behördenorganisationsregeln nicht gänzlich, sondern lediglich hinsichtlich des Durchgriffs auf die Gemeinden untersagt sein sollten31. Da sich nicht vorhersagen lässt, in welchem Umfang von der Sperrklausel in der Praxis Gebrauch gemacht werden würde, lässt sich schwer einschätzen, wie sich der Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze entwickelt hätte. Bei kluger Selbstbeschränkung des Bundesgesetzgebers hätte der Effekt durchaus beachtlich ausfallen können32. Hier ist es jedoch erforderlich, etwas Wasser in den Wein zu gießen. Zwar gab es auch seitens der Länder eine deutliche Bereitschaft, in ganz erheblichem Umfang auf die mit dem hohen Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze verbundene Machtposition zu verzichten. Diese wurde aber früh mit der Forderung verbunden, eine Sicherung vor solchen Bundesgesetzen zu erhalten, die für die Länder mit erheblichen Kostenfolgen verbunden sind. Bislang, so argumentierten die Länder, sei es ihnen oft möglich, für sie besonders teuere Gesetze dadurch zu beeinflussen, dass diese wegen der enthaltenen Verfahrensregelungen zustimmungsbedürftig sind. Entfiele der Art. 84 Abs. 1 GG in seiner bisherigen Form, sei diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Hierfür müsse Ersatz geschaffen werden. 2. Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen mit Kostenfolgen für die Länder Drei konzeptionelle Ansätze waren zur Wahrung dieses Interesses der Länder denkbar: Einerseits kam es in Betracht, die Kosten für die Ausfüh31
AU 104 neu, S. 2. Es kann hier nicht näher ausgeführt werden, dass der Vorschlag zumindest in einem Detail noch überarbeitungsbedürftig war. Bei bestehenden Gesetzen, die den Durchgriff des Bundes auf die Kommunen bereits vorsehen, bedarf es für den Fall der Aufgabenausweitung einer Regelung zum Schutz der Kommunen. Sonst könnten die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen insoweit leer laufen; s. dazu besonders Henneke, Kom-Drs. 76, ders., AG 2, 6. Sitzung, 29.10.2004, Protokollvermerk S. 29. 32
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rung eines Bundesgesetzes statt der Vollzugsebene (wie derzeit, Art. 104a Abs. 1 GG) der gesetzgebenden Ebene zuzuweisen. Damit wäre die Gesetzeskonnexität an die Stelle der Vollzugskonnexität getreten, was auch gerne mit dem Satz umschrieben wird: „Wer bestellt, bezahlt!“. Andererseits konnte daran gedacht werden, für die Länder kostenträchtige Bundesgesetze an die Zustimmung des Bundesrates zu binden. Eine dritte Möglichkeit bestand darin, bei für die Länder kostenträchtigen Bundesgesetzen den Länderanteil an der Umsatzsteuer der Änderung der Deckungsquoten entsprechend jeweils anzupassen (Art. 106 Abs. 3, 4 GG). Die zuletzt genannte Variante galt allgemein als die systematisch vorzugswürdige, fand aber wegen der bekannten Schwierigkeiten bei der Berechnung der Deckungsquoten im Ergebnis keine Unterstützung33. Die beiden anderen Lösungen sind aber auch nicht ohne Tücken. Die Gesetzeskonnexität scheint auf den ersten Blick eine besonders einleuchtende und einfache Regelung zu sein, sie setzt aber im Grunde bei einem Über-/ Unterordnungsverhältnis an34. Deshalb passt sie in das Verhältnis Land – Kommune, nicht jedoch in das vom Bund zu einem Land35. Die Länder würden letztlich zu Abrechnungsstellen des Bundes, der als Kostenträger – wenigstens auf mittlere Sicht – über Einzelweisungen stärkeren Einfluss auf den Vollzug zu nehmen versuchen würde. Am Ende stünde statt der Ausführung von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheiten der Länder eine flächendeckende Auftragsverwaltung36. Die Rückwirkungen auf die Staatsqualität der Länder wären erheblich, ein Mehr an Autonomie wäre sicher nicht das Ergebnis37. Vor diesem Hintergrund verwarfen die Länder den Gedanken an eine Konnexitätslösung38 und erhoben die Forderung nach der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen mit „erheblichen“ Kostenfolgen39. Die hiermit einhergehenden Probleme liegen natürlich auf der Hand: Wann sind Kostenfolgen „erheblich“, und wie kann sichergestellt werden, dass die Einführung dieses neuen Zustimmungsbedürftigkeitstatbestands nicht die bei Art. 84 Abs. 1 GG erreichte Entflechtung konterkariert? Ein wesentlicher Teil der Arbeit der Kommission bestand ab dem Frühsommer 2004 darin, eine Antwort auf diese beiden Fragen zu finden. Dabei kam dem Umstand erhebliche Bedeutung zu, dass – nach anfänglicher Ab33 34 35 36 37 38 39
Kröning, AG 2, 6. Sitzung, 1.7.2004, Protokollvermerk, S. 22 f. Koch (HE), AG 2, 4. Sitzung, 1.4.2004, Protokollvermerk S. 20 f. Schneider, Kommission, 5. Sitzung, 11.3.2004, Sten. Bericht, S. 102. Schneider, Kommission, 5. Sitzung, 11.3.2004, Sten. Bericht, S. 102. Schön (BY), AG 2, 3. Sitzung, 12.3.2004, Protokollvermerk S. 12. Schön (BY), AG 2, 4. Sitzung, 1.4.2004, Protokollvermerk S. 17 f., 20. MPK, Kom-Drs. 45, S. 2 f.
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lehnung40 – auch auf Seiten der Koalition eine grundsätzliche Berechtigung des Interesses der Länder eingeräumt wurde41. Die schließlich gefundene Lösung42 knüpft in ihrer Struktur an einen Vorschlag des Sachverständigen Kirchhof an43. Die Idee war, die „Erheblichkeit“ der Kosten eines Gesetzes nicht quantitativ zu bestimmen, sondern durch eine typisierende Betrachtung des Gesetzesinhalts. Typischerweise besonders kostenträchtig sind Leistungsgesetze, die Ansprüche Dritter auf die Erbringung von Dienst-, Geld- oder Sachleistungen begründen, ebenso die Festlegung von Personal- und Sachstandards für den Vollzug. Dieser Ansatz hatte den beachtlichen Vorteil, dass es nicht erforderlich war, eine absolute (in einem Eurobetrag, also inflationsanfällig) oder relative (z. B. als Promillesatz der addierten Landeshaushalte, Berechnung im Detail streitträchtig) Erheblichkeitsschwelle festzulegen. Für die praktische Abwicklung von Gesetzgebungsverfahren bedeutsam ist auch, dass dem Gesetzesinhalt unmittelbar angesehen werden kann, ob das Gesetz zustimmungsbedürftig ist. Jede quantitative Schwelle wirft das Problem auf, dass ex ante kaum hinreichend zuverlässig gesagt werden kann, was ein Gesetz eigentlich kostet. Die aktuelle Diskussion über die mit der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ verbundenen Fehlprognosen bestätigt das eindrucksvoll. In ihrem Ansatz fand die Idee bald Unterstützung, allerdings war die Bundesregierung der Auffassung, der Vorschlag enthalte zu viele die Zustimmungsbedürftigkeit auslösende Merkmale. Als problematisch galt vor allem die Anknüpfung an Dienstleistungen und an die Festlegung von Personal- und Sachstandards. Hier fürchtete das Bundesfinanzministerium eine massive Erhöhung der Anzahl zustimmungsbedürftiger Gesetze: Ist moderne Verwaltung nicht selbst da „Dienstleistung“, wo sie über Führerscheine und Baugenehmigungen entscheidet, obwohl solches sich im Bereich der Eingriffs- nicht der Leistungsverwaltung abspielt? Diese „Dienstleistungen“ waren seitens der Länder allerdings auch gar nicht gemeint. Es gelang den Vorsitzenden daher, einen Kompromiss zu finden, in dem in einem neuen Art. 104a Abs. 3a GG auf „Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen oder geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten“ abgestellt war44. Dass z. B. Beratungs- oder Betreuungs40
Halsch (BMF), AG 2, 3. Sitzung, 12.2.2004, Protokollvermerk S. 13 f. PG 6, 2. Sitzung, 1.7.2004, Ergebnisvermerk S. 2; Runde, Kommission, 8. Sitzung, 8.7.2004, Sten. Bericht, S. 204 f. 42 AU 104 neu, S. 3. 43 Ursprüngliche Fassung in AU 57. 44 AU 104 neu, S. 3. Hier kann nicht im Einzelnen ausgeführt werden, dass der Vorschlag noch im Detail überarbeitungsbedürftig war. Das gilt vor allem für die Fragen – der Fortgeltung von Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG, die zur Folge gehabt hätte, dass Geldleistungsgesetze schon bei einem Finanzierungsanteil des Bundes von nur 41
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leistungen wie Schuldnerberatung oder Kinderbetreuung geldwerte Sachleistungen im Sinne der Vorschrift sein sollten, war in einem Begleittext klargestellt45. Nach einer internen Untersuchung des Kommissionssekretariats wären bei Geltung der Vorschläge zu Art. 84 Abs. 1 und Art. 104a Abs. 3a GG im Jahre 2004 statt 52% nur noch 27% aller Bundesgesetze zustimmungsbedürftig gewesen46. Die Entflechtungswirkung wäre quantitativ also durchaus beachtlich gewesen. Nimmt man diese beiden Regelungen zusammen, wäre zudem auch systematisch eine sehr viel sachgerechtere Regelung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen erreicht worden. Statt an Verfahrens- und Organisationsregelungen anzuknüpfen, die die Staatlichkeit der Länder oft nur marginal berühren, wäre auf die Haushaltsautonomie der Länder abgestellt worden. Der neue Art. 104a Abs. 3a GG wäre auf der Ausgabenseite die konsequente Fortführung des Gedankens des Art. 105 Abs. 3 GG auf der Einnahmeseite gewesen. 3. Neue Kompetenzart Zugriffsgesetzgebung und Öffnungsklauseln Einer der interessantesten Ansätze der Reformdiskussion war die von den Ländern eingebrachte Idee so genannter materieller Zugriffsrechte der Länder47. Danach sollte den Ländern die Möglichkeit eröffnet werden, in bestimmten Sachgebieten der konkurrierenden Gesetzgebung auch dann zu legeferieren, wenn der Bund ein Gesetz bereits erlassen hatte. Das Landes50% zustimmungsfrei geworden wären (jetzt 25%; dazu auch Meyer und Kirchhof, AG 2, 6. Sitzung, 29.10.2004, S. 27 bzw. 29 f.; Henneke, AU 110, S. 2 f.); – ob – und wenn ja, ab welchem Kostenanteil des Bundes –, ähnlich wie bei Art. 104a Abs. 3 Satz 2 GG in der geltenden Fassung, bei Sachleistungsgesetzen ein Umschlagen in die Auftragsverwaltung vorgesehen werden soll (was eigentlich wiederum der Grundregel des Art. 104a Abs. 2 GG wiederspricht, vgl. auch Henneke, AU 110, S. 3); – wie die Länder bei Sachleistungsgesetzen eine Mitfinanzierung des Bundes hätten herbeiführen können (Weder die Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 noch die Finanzzuweisungen nach Art. 106 Abs. 4 Satz 2 GG sind wirklich einschlägig; dazu Schneider, Kom-Drs. 67, S. 4). 45 AU 104 neu, Anhang, S. 1 f. 46 Diese Zahlen unterstellen, dass von der Sperrklausel in Art. 84 Abs. 1 GG kein Gebrauch gemacht würde. Natürlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Einstufung der Gesetze im Einzelfall Schwierigkeiten bereitet. Darüber hinaus fehlt die ausgefeilte Kasuistik, die den bestehenden Zustimmungsbedürftigkeitstatbeständen erst Kontur gegeben hat. Der Größenordnung nach ist das Ergebnis aber nicht zweifelhaft. 47 MPK-Beschluss vom 27.3.2003, Anlage, S. 1.
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gesetz sollte seine Gültigkeit auch für den Fall behalten, dass das Bundesgesetz novelliert wird. Diese neue Kompetenzart war für die Länder vor allem deshalb interessant, weil sie die zwischen den Ländern bestehenden Disparitäten in politisch-administrativer Leistungskraft und an Gestaltungswillen auszugleichen helfen konnte. Anders als bei der Überführung einer Materie in die ausschließliche Landesgesetzgebung behielt der Bund seine Regelungszuständigkeit, so dass Länder, die keine eigenständige Regelung treffen wollten, nichts weiter tun mussten, während die gestaltungswilligeren Länder eigene Gesetze an die Stelle des Bundesrechts setzen konnten. Die faktische Asymmetrie des deutschen Föderalismus wäre so auch rechtlich zur Kenntnis genommen worden48. Auch für den Bund wären mit dieser Konstruktion gewisse Vorteile verbunden gewesen. Da die Materien der Rahmengesetzgebung nach der Vorstellung der Länder in die Zugriffsgesetzgebung einbezogen worden wären, hätte er dort Vollregelungen ohne die lästigen Beschränkungen des Art. 75 Abs. 2 GG erlassen können. Dies wäre vor allem im Umweltrecht von Vorteil gewesen, hätte es doch die immer schwierige Umsetzung von EU-Umweltrecht in das deutsche Recht erleichtert und sogar die Möglichkeit eröffnet, ein umfassendes Umweltgesetzbuch zu schaffen. Der Vorschlag der Länder sah weiter vor, dass die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG nicht gelten sollte, wenn die Materie zur Zugriffsgesetzgebung gehört49. Dennoch konnte die Bundesregierung der Idee nichts abgewinnen. Befürchtet wurden eine irreparable Rechtszersplitterung50 und die Entwicklung hin zu einem Zwei-Klassen-Föderalismus, bei dem die kleinen Länder zu „Anhängseln“ des Bundes würden51. Ähnliche Bedenken bestanden auch auf Seitens des Bundestages52 und der Sachverständigen53. Als Alternative wurde immer wieder die Möglichkeit einfachgesetzlicher Öffnungsklauseln für den Landesgesetzgeber genannt54, die wiederum von Länderseite als unzureichend angesehen wurden55. 48
Scharpf, Kom-Drs. 80, S. 2. MPK-Beschluss vom 6.5.2004, Kom-Drs. 45, S. 3. Zu Art. 72 Abs. 2 GG s. auch unten. 50 Positionspapier vom 9.4.2003, S. 3; PAU-1/14. 51 Zypries, Kommission, 2. Sitzung, 27.11.2003, Sten. Bericht, S. 37. 52 Burgbacher („Flickenteppich“), Kommission, 3. Sitzung, 12.12.2003, Sten. Bericht, S. 73; Steenblock („Entwicklung zum Staatenbund“), AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk, S. 5 f. 53 Scholz („Immobilität, Kompetenzverwischung“), Kom-Drs. 5, S. 5; Grimm, Kom-Drs. 18; Meyer, Kom-Drs. 13, S. 18 ff. 54 Steenblock, PAU-1/18. 55 PG 1, 7. Sitzung, 28.9.2004, Ergebnisvermerk, S. 2. 49
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Obwohl die Länderseite die Schaffung einer Zugriffsgesetzgebung als zentrales Desiderat einer Föderalismusreform betrachtete56, fand eine ausführliche Diskussion erst zu einem späten Zeitpunkt statt. Der hierfür von Länderseite vorbereitete Vorschlag sah keine echte Durchbrechung des Bundesrechts für den Fall eines Zugriffs durch ein Land mehr vor, sondern nur einen Anwendungsvorrang des abweichenden Landesrechts. Dieser sollte aber auch dann gelten, wenn das Bundesrecht später novelliert werden sollte57. Insbesondere diese Frage, also welche Ebene das letzte, entscheidende Wort würde sprechen können, war in der Kommission weder im Sinne des Bundes noch in dem der Länder zu klären. Hierzu unterbreiteten wiederum die Abgeordneten Stünker und Dr. Röttgen einen Kompromissvorschlag, der genau dies offen lies58: Gelten sollte jeweils das spätere Gesetz. Die Anwendung der Lex-posterior-Regel, die eigentlich dazu dient, Kollisionsfälle unter Gesetzen ein und desselben Gesetzgebers zu klären59, wäre damit zur Ausnahmebestimmung für Art. 31 GG60 – „Bundesrecht bricht Landesrecht“ – geworden. Außerdem beinhaltete der Kompromissvorschlag eine vollständige Streichung der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG. Einen Katalog der für die Zugriffsgesetzgebung vorgesehenen Materien enthielt er, ebenso wie der Ländervorschlag, nicht. Wenn in der Kommission überhaupt eine Einigung zur Zugriffsgesetzgebung möglich gewesen wäre, dann auf der Basis des Vorschlags von Stünker und Röttgen61. Aber auch dieser warf eine Reihe schwerwiegender Fragen auf. Ein inhärentes Merkmal des Vorschlags war die Möglichkeit eines gesetzgeberischen „Ping-Pong-Spiels“: Vor allem in parteipolitisch umstrittenen Fragen konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Bundesgesetzgeber und einzelne Landesgesetzgeber wechselseitig mit immer neuen Regelungen paralysierten62. Zwar dürften Fälle dieser Art im wirk56
Stoiber, Kommission, 1. Sitzung, 7.11.2003, Sten. Bericht, S. 5; Steinbrück, ebenda, S. 11. 57 PAU-1/13. 58 PAU-1/17. 59 Darauf weist Grimm, AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk S. 6, zu Recht hin. 60 Art. 31 GG hat derzeit praktisch keinen nennenswerten Anwendungsbereich, da er voraussetzt, dass die kollidierenden Bundes- und Landesgesetze jeweils an sich rechtmäßig sind und damit insbesondere auch der Kompetenzordnung entsprechen, Risse, in: Seifert/Hömig, GG, 7. Auflage 2003, Art. 31, RN 1. Das ist bislang in den meisten Kollisionsfällen gerade nicht der Fall. Die Zugriffgesetzgebung hätte jedoch Doppelkompetenzen geschaffen, die dann kollisionsrechtlich hätten geregelt werden müssen. 61 Allerdings stieß auch dieser Vorschlag überwiegend auf Kritik, vgl. die Zusammenfassung der Positionen in der PG 1 in PG 1, 7. Sitzung, 28.9.2004, Ergebnisvermerk, S. 2 f.
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lichen Leben nur selten zu erwarten sein63, aber einige wenige hätten wohl schon gereicht, um die Reform der Lächerlichkeit preiszugeben. Darüber hinaus stellten sich Probleme der Praktikabilität und Rechtssicherheit: Sollte es dem Landesgesetzgeber möglich sein, punktuell vom Bundesgesetz abzuweichen, oder wäre ein umfassendes, einen ganzen Sachzusammenhang erfassendes Zugriffsgesetz erforderlich? Wäre das Schweigen des abweichenden Landesgesetzgebers zu einer Einzelfrage eine das Bundesrecht verdrängende „bewusste Lücke“ oder würde in der Lücke das Bundesrecht gelten? Besteht das Abweichungsrecht auch, wenn der Bundesgesetzgeber aufgrund mehrerer Kompetenztitel tätig geworden ist, die aber nur zum Teil Gegenstand der Zugriffsgesetzgebung sind? Schließlich wäre die Ermittlung des anzuwendenden Rechts wohl erheblich aufwändiger geworden als bisher. In den Sprechzetteln der Vorsitzenden ist der Gedanke der Zugriffsgesetzgebung nur noch im Bereich des Umweltrechts diskutiert worden64, in dem Vorentwurf des Vorsitzendenvorschlags65 taucht er nicht mehr auf. Von der herausgehobenen Bedeutung, die der Gedanke zu Beginn der Kommissionsarbeiten hatte, war nicht viel geblieben66. 4. Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG Zu den erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zur vollen Entfaltung gekommenen Ergebnissen der Gemeinsamen Verfassungskommission der 1990er Jahre zählt die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG. Er regelt die Bedingungen, unter denen der Bundesgesetzgeber in den Bereichen der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung tätig werden kann: nämlich dann, wenn und soweit ein Bundesgesetz für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit erforderlich ist. Dieser Neufassung war zunächst in Schrifttum und Praxis wenig Bedeutung zugemessen worden67, eine Einschätzung, die sich im Laufe der Kommissionsberatungen vor allem nach Verkündung der Juniorprofessur-Ent62
Grimm, AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk S. 6. Meyer, ebenda, S. 10 f.; Bachmaier, ebenda, S. 11. 64 Sprechzettel vom 3.12.2004, S. 9. 65 AU 104 neu. 66 Das lag auch an anderen absehbaren Erfolgen der Länderseite. Das Positionspapier der MPK vom 6.5.2004 sah die Zugriffsgesetzgebung für insgesamt zehn Kompetenztitel (teilweise hilfsweise) vor. Fünf davon wären den Ländern zur ausschließlichen Gesetzgebung zugewiesen worden. Praktische Bedeutung hätte die Zugriffsgesetzgebung damit eigentlich nur noch bei den umweltrechtlichen Rahmenkompetenzen und der Kinder- und Jugendhilfe entfaltet. 63
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scheidung des BVerfG68 nachhaltig änderte69. Befürchtet wurde eine unangemessene Beschränkung des Kompetenzraums des Bundesgesetzgebers dadurch, dass das Gericht dem Bundesgesetzgeber nur noch dann die Kompetenz zusprechen will, wenn dies zur Beseitigung einer „Gefahrenlage“ erforderlich ist, die gerade durch unterschiedliches Recht in den Ländern entsteht70. Außerdem gebe es Materien der konkurrierenden Gesetzgebung, die bei der engen Auslegung der Erforderlichkeitsklausel schlechthin überhaupt nicht mehr vom Bund geregelt werden könnten71. Und schließlich drohe eine „Versteinerung“ des bestehenden Rechts, weil die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG dem Bund die Novellierung verweigere, der Landesgesetzgeber aber mangels eines Bundesgesetzes, das ihm die Materie gemäß Art. 125a Abs. 2 GG zurückgibt72, (noch) nicht tätig werden könne73. Als Konsequenz wurde die völlige Aufgabe der Klausel und damit ein inhaltlich unkonditionierter Zugriff des Bundesgesetzgebers auf alle Materien der konkurrierenden Gesetzgebung gefordert74. Der Kritik an der Rechtsprechung wurde entgegengehalten, dass BVerfG tue nur, was ihm der verfassungsändernde Gesetzgeber 1994 aufgetragen habe75. Teilweise rieten die Sachverständigen sogar zu einer weiteren Verschärfung des Art. 72 Abs. 2 GG76. Politisch stellten die Länder eine Verknüpfung mit der Idee der Zugriffsgesetzgebung her. In Kompetenzfeldern, in denen dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit des Abweichens vom Bundesrecht erlaubt werde, sollte der Bundesgesetzgeber von den Fesseln des Art. 72 Abs. 2 GG befreit werden77. Wie schon dargestellt, verfehlte dieses Lockmittel seine Wirkung. Stünker 67
Vgl. z. B. Degenhart, in: Sachs, GG, 3. Aufl., 2003, Art. 72, RN 15 a. E. Das Altenpflege-Urteil des BVerfG war bereits ergangen (2 BvF 1/01, Urteil vom 24. Oktober 2002). 68 BVerfGE 111, 226. 69 Vgl. dazu Bachmaier/Kröning/Stünker, Kom-Drs. 77; Staatskanzlei NW, PAU-1/15. 70 Jedenfalls wenn er zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder Wahrung der Rechtseinheit legeferieren will, BVerfG, a. a. O. Absatz-Nr. 128. 71 So z. B. die Kriegsgräber (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10a GG): Weder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse noch die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit könnten je einschlägig sein, Bachmaier/Kröning/Stünker, Kom-Drs. 77, S. 4. 72 Vgl. die Problematik beim Ladenschlussrecht, BVerfGE 111, 10 (30). 73 Kom-Drs. 77, S. 5 f.; PAU-1/15. 74 Meyer, Kom-Drs. 71 – neu – f, S. 6 ff. Dies hätte der Regelung in Art. 9 WRV entsprochen. 75 Huber, Kom-Drs. 71 – neu – k, S. 3 f.; Schmidt-Jortzig, Kom-Drs. 71 – neu – j, S. 2. Vgl. zu den Motiven der GVK auch deren Bericht, Zur Sache 5/93, S. 66. 76 Scholz, AU 83, S. 3 f. 77 MPK-Beschluss vom 6.5.2004, Kom-Drs. 45, S. 3.
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und Röttgen griffen den Gedanken aber in ihrem Vorschlag zur Zugriffsgesetzgebung noch einmal auf, allerdings in erweiterter Form, da bei ihnen die Erforderlichkeitsklausel ganz gestrichen worden wäre78. Auch auf Länderseite gab es aber Hinweise darauf, dass die Auswirkungen der Verfassungsänderung von 1994 über das Maß des sinnvollerweise Gewollten hinausgegangen sein könnten79. Das erklärt vielleicht, warum der Entwurf des Vorschlags der Vorsitzenden insgesamt 15 Kompetenzfelder der konkurrierenden Gesetzgebung von der Erforderlichkeitsklausel ausnehmen wollte80. Auch an dieser Stelle hätte die Kommission also ein durchaus beachtliches Reformergebnis erzielen können. Die Wirkung hätte vielleicht gar nicht so sehr das Bund-Länder-Verhältnis betroffen, denn die dort notorischen Streitpunkte (z. B. öffentliche Fürsorge, Hochschulrecht) waren in dem Ausnahmekatalog nicht enthalten. Da eine Verletzung des Art. 72 Abs. 2 GG aber auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren gerügt werden kann und die neuere Rechtsprechung eine Vielzahl von Bundesgesetzen angreifbar machen kann81, wäre dies ein Beitrag zur allgemeinen Rechtssicherheit gewesen. 5. Rahmengesetzgebung Die Rahmengesetzgebung wurde als Kompetenzkategorie gleich zu Beginn der Kommissionsarbeiten grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei fällt auf, dass sich sowohl die Bundes- als auch die Landesexekutive vorbehaltlos für ihre Abschaffung aussprachen82, während sich einige Parlamentarier83 und Sachverständige84 differenzierter einließen. Sie warfen die Frage auf, ob nicht doch rechtlich sichergestellt werden könnte, dass sich der Bundesgesetzgeber tatsächlich auf die Formulierung von Grundsätzen und Zielen beschränkt, ohne – wie in der bisherigen Praxis – dauernd Detailregelungen zu produzieren. 78 PAU-1/17; kritisch dazu Schön (BY), Hoffmann (HB), PG 1, 7. Sitzung, 28.9.2004, Ergebnisvermerk S. 2; de Maizière (SN), AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk S. 5. 79 Gerhards (NW), AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk, S. 5. 80 AU 104 neu, S. 8 ff. Art. 72 Abs. 2 GG wäre nur noch in 14 Kompetenzfeldern der Art. 74–75 GG und in Art. 105 Abs. 2 GG anwendbar geblieben (de constitutione lata 37 Kompetenzfelder). 81 Bachmaier/Kröning/Stünker, Kom-Drs. 77, S. 6. 82 MPK-Beschluss v. 27.3.2003, S. 2, Positionspapier BReg v. 9.4.2003, S. 2. 83 Röttgen, Kommission, 2. Sitzung, 28.11.2003, Sten. Bericht, S. 33; Funke, ebenda, S. 36; Kretschmann, ebenda, S. 40; Gönner/Krings, Kom-Drs. 19, S. 5 f. 84 Benz, Kommission, 3. Sitzung, 12.12.2003, Sten. Bericht, S. 52; SchmidtJortzig, ebenda, S. 75 und Kom-Drs. 6, S. 3; Scholz, Kommission, 3. Sitzung, 12.12.2003, Sten. Bericht, S. 69, 74 und Kom-Drs. 5, S. 3 f.
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Schon konstruktionsbedingt ist die Rahmengesetzgebung ein Verflechtungstatbestand, da beide staatlichen Ebenen im gleichen Sachgebiet legeferieren. Hinzu kommt, dass ein Teil der Rahmengesetzgebung das Umweltrecht betrifft85, das durch umsetzungsbedürftige europarechtliche Vorgaben mitgestaltet wird. Die Umsetzung der einschlägigen EU-Richtlinien gerät damit zu einem dreistufigen Gesetzgebungsakt. Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Lösung sind begründet. Allerdings setzt eine Auflösung der Rahmengesetzgebung die sachgerechte Verteilung ihrer bisherigen Kompetenzfelder auf Bund oder Länder voraus. Bei vier der sieben Felder ist das gelungen86, nicht jedoch bei den umweltrelevanten Materien und beim Hochschulrahmenrecht. Erstere wollten die Länder dem Bund nur bei Einräumung von Zugriffsrechten in die konkurrierende Gesetzgebung geben und das Hochschulrahmenrecht bildete den Kern der am Ende nicht lösbaren Kontroverse über das Bildungswesen. Die Beseitigung der Rahmengesetzgebung wäre der Kommission also nicht gelungen87. 6. Bildung Unter den im Einzelnen diskutierten Politikbereichen ragte als großes und alles andere am Schluss überlagerndes Streitthema das Bildungswesen hervor88. Die Länder wollten in ihrer Mehrheit eine vom Bund unbeeinflussbare Vollkompetenz erreichen89. Das hätte vor allem die Aufgabe der Rahmenkompetenz des Bundes für das Hochschulwesen (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a GG) und der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung (Art. 91b GG) sowie die Beendigung der als Finanzhilfen organisierten Sonderprogramme des Bundes für Ganztagsschulen, Eliteuniversitäten u. ä. bedeutet, deren autonomieerstickende Wirkung („goldener Zügel“) notorisch ist90. 85 Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3, 4: Jagdrecht, Naturschutz, Landschaftspflege, Wasserhaushalt. 86 An den Bund sollten gehen: Melde- und Ausweiswesen; Kulturgüterschutz (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 5, 6 GG); an die Länder: Öff. Dienstrecht der Landesbeamten (mit Ausnahme der Statusregelungen, s. u.), Pressewesen (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 2 GG). 87 Vielleicht wäre das auch in der Tat nicht sinnvoll gewesen. Eine Beschränkung des Bundes auf an den Landesgesetzgeber gerichtete Leitlinien ohne unmittelbare Rechtswirkung auf den Einzelnen hat die Kommission ebenso wenig diskutiert wie die Frage, warum eigentlich noch ein Bundesrahmengesetz nötig sein soll, wenn es um die Umsetzung einer EU-Richtlinie geht, die doch ihrerseits schon eine Art Rahmengesetz ist. 88 s. zur Erörterung des Bildungswesens in der Kommission: Risse, Bildungs- und Hochschulwesen: Trennsystem oder Ingerenzen des Bundes?, in: Henneke (Hrsg.) Föderalismusreform in Deutschland, 2005, S. 111 ff. 89 Teufel, AG 1, 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk S. 14 f., PAU-3/16, für die Landtage: Kom-Drs. 83.
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Zu einem derartigen Rückzug war die Koalition auf Bundesebene nicht bereit. Es schien in der Schlussphase der Beratungen so, als sei eine Verständigung dahin möglich, den Ländern alle Bildungskompetenzen bis auf die Hochschulzulassung und die Abschlüsse zu überlassen. Auch für die Finanzhilfen im Bildungsbereich deutete sich eine für die Länder befriedigende Lösung an91. Diese Hoffnung erwies sich aber als trügerisch, als die Bundesregierung und die Koalitionsabgeordneten ihre Vorstellungen dahin konkretisierten, dass eine Bundesregelung des Hochschulzugangs auch so kontroverse Themen wie Studiengebühren umfassen sollte92. Der Dissens konnte nicht überwunden werden. 7. Dienstrecht Die zweite bedeutende Kompetenzforderung der Länder bezog sich auf die Übertragung des Besoldungs-, Versorgungs- und Laufbahnrechts für die Landesbeamten93. Damit wäre eine Verfassungsänderung des Jahres 1971 (Art. 74a GG) zurückgenommen worden94. Auch wenn dieses Petitum nicht von allen Ländern mit gleicher Intensität vorgebracht wurde95, wäre hier ein weiterer beachtlicher Reformschritt möglich gewesen. Die Lösung hätte darin bestanden, dem Bund die Regelung der Statusrechte- und Pflichten aller Beamten und Richter zuzuweisen. Was damit gemeint ist, sollte in einem Begleittext festgehalten werden96. Damit sollten das Berufsbeamtentum als einheitliches Institut und die Mobilität der Bediensteten sichergestellt werden. Alles andere, vor allem das „Bezahl“- und Laufbahnrecht, wäre in die Hände des Landesgesetzgebers übergegangen. 8. Weitere Kompetenzübertragungen auf die Länder Unter der Überschrift „Regionale Themen“ bemühte sich die Kommission um die (Rück-)Übertragung von Gesetzgebungsmaterien auf die Län90
Dazu Risse, Bildungs- und Hochschulwesen: Trennsystem oder Ingerenzen des Bundes (Fn. 88) S. 113. 91 s. u., sub II. Finanzhilfen, S. 58 f. 92 Sprechzettel der Vorsitzenden vom 3.12.2004, Anhang. 93 MPK-Beschluss v. 6.5.2004, Kom-Drs. 45, S. 5 f. 94 Dellmann, in: Seifert/Hömig, GG, 7. Auflage 2003, Art. 74a RN 1. 95 Bei den kleineren Ländern bestand teilweise die Sorge, im Wettbewerb um die besten Bewerber nicht mithalten zu können, s. z. B. Tidick (MV), AG 1, 2. Sitzung, 12.2.2004, Protokollvermerk, S. 4. Ein Kommissionsmitglied brachte die Problematik so auf den Punkt: „Dann werden die Armen von den Dummen regiert!“. 96 AU 104 neu, S. 3, Anhang, S. 3.
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der, die überwiegend regional radizierte Sachverhalte betreffen. Die Fülle der Materien reichte von der Kinder- und Jugendhilfe über das Wohnungswesen bis zum Schornsteinfegerrecht. Deshalb sind hier nur einige allgemeine Bemerkungen möglich. Die Beratungen verliefen zum Teil sehr zähflüssig. In dem für die Länder und Kommunen schon wegen der damit verbundenen enormen Kostenlast besonders wichtigen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe97 stieß die Kommission auf den organisierten Widerstand der einschlägigen Verbände, die bei einer Landeszuständigkeit Standardreduzierungen und Einsparungen fürchteten. Auf Seiten der Koalition wurde schnell deutlich, dass keine Bereitschaft zum Rückzug des Bundes aus diesem Bereich bestand98. Vorbehalte gab es aber auch auf Länderseite99. Insgesamt ergab die Erörterung von Einzelkompetenzen am Ende einen Katalog von 14 größeren und kleineren Sachgebieten, die auf die Länder hätten übertragen werden können100. In der Summe hätte sich eine durchaus fühlbare Stärkung der Landesparlamente ergeben. 9. Finanzverfassungsrechtliche Themen In der öffentlichen Debatte ist der Kommission oft vorgeworfen worden, dass sie Fragen der Finanzverfassung nicht hinreichend erörtert habe. Daran ist richtig, dass es zum Grundkonsens gehörte, weder über die Länderneugliederung noch über den Solidarpakt II zu diskutieren. Letzteren unangetastet zu lassen, bedeutete aber faktisch, die grundlegenden Fragen des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs auszuklammern. Das dessen Erörterung aber zum gegebenen Zeitpunkt sinnvoll gewesen wäre, muss nachdrücklich bezweifelt werden. Denn erst 2001/2002 war hierüber im Zusammenhang des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich101 und des Solidarpakts II ausführlich verhandelt und ein Abschluss erzielt worden. Der Solidarpakt II war beim Abschluss der Kommissionsberatungen nicht einmal in Kraft getreten. Dieses Thema in der Kommission wieder aufzurufen hätte bedeutet, die gerade erst erreichte Planungssicherheit der neuen Länder für die Zeit bis 2019 in Frage zu stellen. 97 Gerhards (NW), AG 1, 3. Sitzung, 11.3.2004, Protokollvermerk S. 18; Stoiber (BY), Kommission, 9. Sitzung, 14.10.2004, Sten. Bericht, S. 235. 98 Böhmler (BW), AG 1 7. Sitzung, 30.9.2004, Protokollvermerk S. 22. 99 Ringstorff (MV), Kommission, 9. Sitzung, 14.10.2004, Sten. Bericht, S. 236. 100 AU 104 neu, S. 4: Versammlungsrecht, Strafvollzug, Notariat, Heimrecht, Ladenschluss, Gastsstätten, Spielhallen, Schaustellungen, Messen, Ausstellungen, Märkte, landwirtschaftlicher Grundstücksverkehr und Pachtwesen, Flurbereinigung, Siedlungswesen, Freizeitlärm, Presserecht. 101 BVerfGE 101, 158.
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Außerdem spricht wenig dafür, dass das Ergebnis sehr viel anders ausgesehen hätte als der Status quo. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorgehensweise der Kommission als weise Selbstbeschränkung. Dennoch hat es zeitintensive Beratungen zu Finanzthemen gegeben. Sie drehten sich zum einen um das schon behandelte Thema der Kostenfolgen von Bundesgesetzen. Das zweite bedeutende Thema waren die Mischfinanzierungen, vor allem die Gemeinschaftsaufgaben und die Finanzhilfen. 10. Gemeinschaftsaufgaben Die Gemeinschaftsaufgaben standen zu Beginn der Arbeiten in heftiger Kritik. Von Länderseite wurde ihre weitestgehende Beseitigung gefordert102. Dieser Position widersprach die Bundesregierung im Prinzip nicht103. Dennoch sollte sich am Ende erweisen, dass fast alle Gemeinschaftsaufgaben den Beratungsprozess unverändert überlebt hätten104. Auf Länderseite waren dafür Unsicherheiten über die Kompensationsleistungen des Bundes verantwortlich, auf Bundesseite wollte man wohl den mit den Gemeinschaftsaufgaben verbundenen Einfluss in Länderzuständigkeiten hinein nicht aufgeben. Darüber hinaus ergaben die Erörterungen in der Kommission, dass jedenfalls bei den GA Regionale Wirtschaftsstruktur und Agrarstruktur wegen europarechtlicher Vorgaben auf eine umfassende Bund-Länder-Koordinierung nicht verzichtete werden kann, so dass die Beseitigung dieser Gemeinschaftsaufgaben auch keine Verwaltungsvereinfachung gebracht hätte. Lediglich die GA Hochschulbau wäre etwas modifiziert worden, allerdings nicht hinsichtlich der Beschaffung von Großgeräten für die universitäre Forschung. Lediglich Lehrgebäude wären vollständig in die Länderzuständigkeit zurückgefallen105. 11. Finanzhilfen Bei den Finanzhilfen wäre Art. 104a Abs. 4 GG durch einen neuen Art. 104b106 ersetzt worden, der einige beachtliche Änderungen gebracht hätte. Danach wären Finanzhilfen des Bundes in Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder schlechthin unzulässig gewesen. So etwas wie das Ganztagsschulprogramm107 könnte die Bundesregierung dann nicht 102
MPK-Beschluss v. 27.3.2003, S. 5 f. Positionspapier v. 9.4.2003, S. 5. 104 AU 104 neu, S. 10. 105 Vorschlag eines neuen Art. 91b, AU 104 neu, S. 11. 106 AU 104 neu, S. 11. 107 Verwaltungsvereinbarung v. 29.4.2004, http//www.ganztagsschulen.org/_down loads/Verwaltungsvereinbarung_IZBB.pdf. 103
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mehr auflegen. Damit wäre einem wesentlichen Anliegen der Länder in Richtung auf die „ungestörte“ Wahrnehmung ihrer Kompetenzen im Bildungswesen entsprochen worden108. Außerdem wären Finanzhilfen nur noch zeitlich befristet und degressiv zulässig gewesen. Mit der Wohnungsbauförderung und der Gemeindeverkehrsfinanzierung sollten zwei wichtige, auf Art. 104a Abs. 4 GG basierende Gesetze im Zuge der Reform aufgehoben werde109. 12. Steuern Zum Basiskonsens der Länder zu Beginn der Kommissionsberatungen gehörte auch die Absage an eigene Steuerkompetenzen110. Die kleinen Länder hatten hierauf großen Wert gelegt111, die größeren und leistungsstärkeren waren diesem Wunsch gefolgt, um eine gemeinsame Länderposition überhaupt erreichen zu können112. Trotz heftiger Kritik sowohl von Bundestagsseite113, der Bundesregierung114 und einiger Sachverständiger115 blieb es dabei. Angesichts dessen mutet es fast als eine Sensation an, dass der Entwurf des Vorsitzendenvorschlags die landesrechtliche Bestimmung des Grunderwerbsteuersatzes vorsah116. Vorgesehen war darüber hinaus ein Tausch des Steueraufkommens der Kraftfahrzeugsteuer (zum Bund) und der Versicherungssteuer (zu den Ländern). Hintergrund war der Wunsch einer Erleichterung der Neuregelung der Besteuerung des Individualverkehrs. 13. Europa Der Auftrag der Kommission beinhaltete eine Überprüfung der bundesstaatlichen Ordnung auch im Lichte der Fortentwicklung der Europäischen Union. Dieser Aufgabe hat sich die Kommission durchaus gestellt, auch 108
s. dazu Risse, Bildungs- und Hochschulwesen: Trennsystem oder Ingerenzen des Bundes? (Fn. 88), S. 113 f. 109 Zur Kompensation der damit wegfallenden Bundesmittel s. Vorschlag für einen Art. 125b Abs. 2 GG, AU 104 neu, S. 12. 110 MPK-Beschluss v. 6.5.2004, Kom-Drs. 45, S. 3 f. 111 Z. B. Hoffmann, (HB), AG 2, 2. Sitzung, 15.1.2004, Protokollvermerk S. 9; Platzeck (BB), AG 2, 5. Sitzung, 14.5.2004, Protokollvermerk S. 8. 112 Z. B. Grüttner (HE), AG 2, 6. Sitzung, 29.10.2004, Protokollvermerk S. 2; Böhmler (BW), ebenda S. 3. 113 Z. B. Burgbacher, AG 2, 6. Sitzung, 29.10.2004, Protokollvermerk S. 2. 114 Halsch (BMF), Kommission, 10. Sitzung, 4.11.2004, Sten. Bericht, S. 272 f. 115 Z. B. Meyer, Kommission, 5. Sitzung, 11.3.2004, Sten. Bericht S. 115; Homburg, ebenda, S. 119; Scharpf, Kom-Drs. 81, S. 2 f. 116 AU 104 neu, S. 13.
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wenn am Ende keine konsensfähigen Vorschläge vorlagen. Die Debatten zu dem Thema konnten auch nicht wirklich befriedigen. Einigkeit bestand nur darüber, dass die Wahrnehmung der deutschen Mitgliedschaftsrechte in Brüssel verbesserungsbedürftig sei. Vor allem ging es um die Beteiligungsrechte der Länder nach Art. 23 GG. Im Grunde hatte sich – vergröbernd dargestellt – eine feste Rollenverteilung eingespielt: Die Bundesregierung machte für die schlechte deutsche Performance pauschal die Ländermitwirkung verantwortlich117 (und übersah dabei die wesentlich gravierenderen Probleme ihrer eigenen Ressortkoordinierung). Viele Bundestagsabgeordnete folgten der Regierungsauffassung118, während die Länder die praktische Bewährung von Art. 23 behaupteten119. Die Sachverständigen verharrten in den bekannten, der Länderbeteiligung kritisch begegnenden Auffassungen120. Die z. T. interessengeleitet wirkende Wahrnehmung der Brüsseler Wirklichkeit und der dort bestehenden deutschen Defizite war insgesamt nicht geeignet, tragfähige Reformvorschläge zu erarbeiten. Hier wäre mehr möglich und nötig gewesen. IV. Schluss Eine Kommission, die nach 14-monatiger Tätigkeit über 6000 Seite Dokumente, aber keinen Abschlussvorschlag hinterlässt, entzieht sich der zusammenfassenden Bewertung. Der Überblick über einen wesentlichen Teil ihrer Beratungen zeigt aber, dass eine ganze Anzahl substantieller Lösungen erarbeitet wurde, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Das Thema der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung bleibt auf der politischen Agenda, die Kommission hat ihre Arbeiten beendet, in der Sache ist die Angelegenheit nur vertagt.
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Geiger (BMJ), Kom-Drs. 41. Steenblock, Kommission, 6. Sitzung, 14.5.2004, Sten. Bericht S. 143; SchwallDüren, ebenda, S. 130; Burgbacher, ebenda, S. 137; teilweise unter kritischer Würdigung der Wahrnehmung der entsprechenden Rechte des Bundestages, Röttgen, ebenda, S. 140; Friedrich, ebenda, S. 144. 119 Z. B. Teufel (BW), AG 1, 3. Sitzung, 11.3.2004, Protokollvermerk S. 1 f.; Hoffmann (HB), ebenda, S. 13; Robra (ST), ebenda, S. 14; Gerhards (NW) ebenda, S. 12; Beck (RP), Kom-Drs. 34. 120 Z. B. Schneider, Kom-Drs. 42; Scholz, Kom-Drs. 40; Wieland, Kom-Drs. 9; Scharpf, Kom-Drs. 7, S. 12; Huber, Kom-Drs. 8, S. 22 ff., AU 32, S. 122 ff. 118
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Horst Risse Von Doris Dietze Im Anschluß an den Bericht von Dr. Horst Risse, Ministerialdirigent, Leiter des Sekretariats der Föderalismuskommission, Berlin, über die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung dankte der Diskussionsleiter Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, dem Referenten und eröffnete die Diskussionsrunde. Schwerpunkt der Diskussion waren die Reformvorschläge der Kommission nach der Beschlußempfehlung vom 17.12.2004. Dabei wurde die Diskussion maßgeblich von zwei Fragestellungen bestimmt: 1. Sollten Materien der konkurrierenden Gesetzgebung in die ausschließliche überführt werden? 2. Welche Probleme bringt der Kommissionsentwurf zu Art. 84 Abs. 1 GG einschließlich der darin enthaltenen Sperrklausel mit sich? Dr. Wito Schwanengel, Universität Erfurt, begann die Diskussion mit dem Hinweis darauf, daß der Vortrag den Eindruck vermittele, aus dem vorläufigen Scheitern der Kommission könne etwas Besseres erwachsen oder zumindest sei Schlimmeres verhindert worden. Daran anschließend ging er auf die beiden oben genannten Fragestellungen ein. Zur ersten Fragestellung merkte er an, daß Ziel der Kommissionsvorschläge gewesen sei, die Verantwortungen zwischen Bund und Ländern klarer zu regeln und Kompetenzen auf die Länder zu übertragen. In diesem Zusammenhang fiele auf, daß bei der jetzigen Rechtslage z. B. über den Ladenschluß in der Öffentlichkeit so wichtig diskutiert wurde, der kleine stille Satz des Art. 72 Abs. 2 GG, der die Erforderlichkeit regelt, dem außenstehenden Betrachter nicht bekannt sei. Dieses Problem sei nur auf dem Papier erwähnt worden. Daraus ließe sich folgern, daß die Bundesregierung aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Juniorprofessur Angst vor der eigenen Courage bekommen habe. Angesichts dessen, daß der Bund den Becher der konkurrierenden Gesetzgebung nahezu geleert habe, hätte diese Materie im Zuge der Reform in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes überführt werden können.
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Zur zweiten Fragestellung merkte Schwanengel an, daß der im Kommissionsentwurf enthaltene Art. 104a Abs. 3 GG nach Risse dazu führe, die Zustimmungstatbestände auf 35–40% zu reduzieren. Das Kommissionssekretariat habe sogar auf 27% gerechnet. Die Richtigkeit dieser Berechnung bezweifele Schwanengel jedoch. Zur Begründung dieser Zweifel führte er aus, daß die Regelung des Art. 104a Abs. 3 GG mit der monströsen Regelung des von der Kommission vorgeschlagenen Art. 84 Abs. 1 GG zusammengedacht werden müsse. Letzterer sei glücklicherweise nicht in die Verfassung gekommen. Denn Art. 84 Abs. 1 GG sei ursprünglich als Ausnahmeregelung gedacht gewesen. Die vorgeschlagene Neufassung führe jedoch dazu, daß der Bund zwar weiterhin regeln, die Länder jedoch abweichen könnten. Da stelle sich Schwanengel die Frage, wozu der Bund Behördenorganisation und Verwaltungsverfahren überhaupt regeln müsse. Konsequenterweise sei dann ein Ausnahmetatbestand erforderlich, der die umfassende Kompetenz der Länder einschränke. Eine solche Ausnahmeregelung sei in Form der sog. Sperrklausel von der Kommission vorgeschlagen worden. Zu diesem Vorschlag habe jedoch schon der Abgeordnete de Maizier gesagt, wenn diese Sperrklausel komme, dann habe die Kommission mit Zitronen gehandelt. Im Ergebnis geht Schwanengel davon aus, daß die vorgeschlagene Regelung des Art. 84 Abs. 1 GG zu dem Ausgangsproblem zurückführe. Letztlich müßten die Länder dann eine solche Sperrklausel, darauf habe bereits Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern, Universität Köln, hingewiesen, verfassungsgerichtlich klären lassen. Aus diesem Grunde sei zumindest in diesem Fall durch das Scheitern der Kommission etwas Schlimmeres verhindert worden. Anschließend ging Risse auf die beiden Diskussionspunkte ein. Zu ersterem, der Überführung von Materien der konkurrierenden Gesetzgebung in die ausschließliche, führte er an, daß man die Meinung von Schwanengel teilen könne. Dies sei eine konsequente Lösung. Sie dürfte für die Länder allerdings noch schwerer zu ertragen sein, als daß was sie nach der derzeitigen Rechtslage haben. Deshalb sei dies keine realistische Option gewesen. Was Art. 104a Abs. 3 GG angehe, so hält Risse den Kommissionsvorschlag, anders als Schwanengel, aus systematischen Gründen für richtig. In Bezug auf die zweite Fragestellung stimme er Schwanengel jedoch zu. Die Sperrklausel sei ein ernsthaftes Problem gewesen. Er persönlich sei auch überrascht gewesen, daß sie in den Kommissionsvorschlag aufgenommen wurde. Dies sei wohl letztlich auf Wunsch der Bundesregierung geschehen, um sich auf diesem Wege eine Hintertür offen zu halten. Die sich daran anschließende Frage sei jedoch, wie von Schwanengel bereits angedeutet, wie oft durch diese „Hintertür“ gegangen wird. Das sei letztlich nicht einschätz-
Diskussion
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bar. Bei der von ihm in seinem Vortrag genannten Reduzierung der zustimmungsbedürftigen Gesetze auf 27% sei zu unterstellen, daß von der Sperrklausel kein Gebrauch gemacht wird. Nur so käme man zu dieser Ausgangsgröße. Er räume jedoch ein, daß es wohl nicht bei den 27% bliebe. Dennoch gehe er davon aus, daß erst einmal eine erhebliche Entflechtungswirkung von dem vorgeschlagenen Art. 84 Abs. 1 GG ausginge. Die Ausführungen seitens der Bundesressorts zu dieser Fragestellung hätten, nach Meinung von Risse, teilweise humoristischen Charakter gehabt. Überzeugend seien sie jedenfalls nicht. Im Ergebnis favorisiere er eine Regelung ohne Sperrklausel, die er durchaus für möglich hält. Bei all den Klagen über den umstrittenen Art. 84 Abs. 1 GG erinnerte Merten daran, daß ein Gesetz auch ohne Verfahrens- und Organisationsregelungen anfertigt werden könnte. Oftmals sei die Zustimmungsbedürftigkeit nur durch den Vollständigkeitswahn des zuständigen Gesetzgebungsreferenten bedingt, der alles umfassend in einem Gesetz regeln möchte. Die Zustimmung könne auch bewußt umgangen bzw. herbeiführt werden. Mindestens in einem Fall sei historisch bekannt, daß die Bundesregierung die Zustimmungsbedürftigkeit mutwillig eingefordert habe. Dabei handele es sich um die sog. Ostverträge. Die Opposition sollte in Zugzwang gebracht werden, indem eine sozialversicherungsrechtliche Zuständigkeit vereinbart wurde. Auf diese Weise wurde die Opposition gezwungen, den Ostverträgen zuzustimmen oder ihre Zustimmung zu verweigern. Dieses Beispiel zeige, daß die Klagen über Art. 84 Abs. 1 relativiert werden müßten. Die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze könne mit Leichtigkeit dadurch gesenkt werden, daß keine Verfahrens- oder Organisationsregelungen aufgenommen werden. Denkbar wäre auch, sich der Zustimmung des Bundesrates dadurch zu versichern, daß im Vorfeld der Entscheidung den politischen Vorstellungen des Gegners entgegengekommen wird. Die Regierung müsse nicht immer, wenn die Übereinstimmung der beiden großen politischen Kräfte im Lande erforderlich ist, mit dem Kopf durch die Wand gehen und sich dann an der Wand des Bundesrates blutige Beulen holen. So sei es, laut Merten, z. B. wenig sinnvoll, den demografischen Faktor im Rentenversicherungsrecht der letzten Regierung abzuschaffen und dann wenige Jahre später zähneknirschend einen neuen Faktor in das Rentenversicherungsrecht einzubauen, der der Sache nach jedoch ein demografischer Faktor sei. Nur werde er anders genannt. Im Ergebnis bestehe also ohne weiteres eine politische Möglichkeit, die Zahl der Zustimmungsgesetze entweder zu senken oder zu erhöhen. Aus diesen Gründen sei für Merten die Notwendigkeit der Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG schwer einsehbar. Darüber hinaus würden die von Risse als teilweise erheiternd beschriebenen
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Gegenvorstellungen der einzelnen Referenten aus den Bundesressorts zeigen, daß eine Änderung in dieser Form nicht erforderlich sei. Zu der von der Kommission erhofften Reduzierung der zustimmungsbedürftigen Gesetze bemerkte Merten abschließend, daß es vielfach keine Ministerialen mit Gesetzgebungserfahrungen seien, die diese Zahlen ermittelten. Statt dessen lege der Parlamentarische Rat eine Reduzierung auf 10–30% fest. Mit diesen Zahlen könne daher nicht ernsthaft argumentiert werden. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung könne allenfalls dann erfolgen, wenn man die Zahlen der ersten und letzten Legislaturperiode nehme und den Durchschnitt bilde. Dann zeige sich, daß die Zahlen nicht so weit auseinander liegen, als daß tiefgreifende Reformen erforderlich wären. Zur Ehrenrettung seiner Kollegen aus den Bundesressorts führte Risse aus, daß es durchaus ernsthafte Überlegungen im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Art. 84 Abs. 1 GG gegeben habe. Es sei daher nicht alles, was aus den Bundesressorts kam, unter humoristischen Gesichtspunkten zu sehen. In Bezug auf die Ausführungen von Merten zu der Reduzierung der zustimmungsbedürftigen Gesetze merkte abschließend Risse an, daß in der ersten Legislaturperiode des Bundestages die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze bei 42% lag. Dies sei zahlenmäßig von dem Durchschnitt, der bei 53,2% liegt, nicht weit entfernt. Es könne daher gesagt werden, daß eine Schätzung im Parlamentarischen Rat von 10–30%, gleichgültig auf welcher Grundlage, von Anfang an eine Fehleinschätzung gewesen sei.
Kultur und Bildung im Bundesstaat Von Georg-Berndt Oschatz Kultur und Bildung. Beides hängt eng zusammen. Ist es doch immer noch die Bildung, die durch planmäßiges und zielbewusstes Übertragen von Kulturgütern an heranwachsende Menschen den Fortbestand einer Kultur sichert. Und Kultur ist die eigentliche Lebensgrundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Kultur im umfassenden Sinne: Die Gesamtheit aller Lebensbekundungen, Leistungen und Werke eines Volkes oder einer Gruppe von Völkern. Die Gesetze des Staates, die geistlich-sittliche Verfassung einer menschlichen Gemeinschaft, ihr Verhalten nach außen gegenüber anderen Staaten, Völkern, alles hat kulturelle Wurzeln, hängt vom Zustand, der Erhaltung und Weiterentwicklung der jeweiligen Kultur ab. Wen wundert es daher, dass Bildungssysteme, unaufhörlich im Bildungsprozess Vergangenheit transformierend, Zukunft antizipierend, zu den komplexesten menschlichen Bezugssystemen gehören. Wen wundert es, dass ebenso unaufhörlich darum gerungen wird, was denn zu unserer Kultur gehört, erhalten, geprägt und weitergegeben werden soll. Bei der existentiellen Bedeutung jeder Kultur für das Gemeinwesen überhaupt, letztendlich für seine Fähigkeit zu überleben, wird seit jeher dieses Ringen um die richtige Bildung und die Erhaltung und Fortführung des kulturellen Lebens mit großer Leidenschaft betrieben. Keine Epoche unserer Geschichte ohne Kulturkämpfe, deren jeweiliger Verlauf das Schicksal der Deutschen entscheidend mitbestimmt hat. Wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen in unserer Geschichte. Die Studentenrevolte der 68er Jahre des 20. Jahrhunderts hat unser Bildungssystem und damit unsere Kultur entscheidend verändert. Ich werde darauf zurückkommen. Nun liegt es auf der Hand, dass es völlig unmöglich ist, die durch die Begriffe Kultur und Bildung erfassten Lebensbereiche eines Staates und der in diesem Staat verfassten Gemeinschaft von Menschen in einem Vortrag auch nur andeutungsweise im Hinblick auf ihre Inhalte zu erörtern. Das Thema bedarf also der Eingrenzung. Diese ergibt sich aus dem Zusatz „im Bundesstaat“. „Kultur und Bildung im Bundesstaat“. Gemeint ist ganz kon-
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kret unser deutscher Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland. Wie werden im Bundesstaat die eng verflochtenen Sektoren Kultur und Bildung von Staatswesen in Pflege genommen? Mit anderen Worten, und dies ist eine weitere Eingrenzung des Themas, wie stellen sich in unserem Bundesstaat und im Rahmen seiner Verfassungsordnung die Strukturen der Kultur- und Bildungspolitik dar? Nach welchen Mechanismen funktionieren sie? Erfolgreich oder nicht? Ich will auf diese Fragen Antworten in drei Kapiteln suchen, mich dem Thema in drei Schritten nähern: I. Problemaufriss: Wie stellen sich die föderalen Verflechtungen nach der Aufgaben- und Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes dar und welche Einflussfaktoren in der Verfassungswirklichkeit haben die politischen Akteure ins Kalkül zu nehmen? Was sind die Grundprobleme von Kultur- und Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland? II. Befund: Wie hat sich nach dem zweiten Weltkrieg unser kulturelles Leben und unser Bildungssystem – vor allem das Schul- und Hochschulwesen – entwickelt? Diesem Entwicklungsvorgang kann man nur nachgehen mit einer kurzen Darstellung der Rolle der Kultusministerkonferenz (KMK) im System unseres kooperativen Föderalismus. III. Reformdebatten und Ausblick: Wie ist die aktuelle Reformdebatte beim Mit- und Gegeneinander von Bund und Ländern zu bewerten? Man denke nur an die Stichworte PISA-Schock, Elite-Universitäten und die Rolle der Kulturpolitik in der Föderalismuskommission, gar die vorübergehende Kündigung des Staatsvertrages über das Sekretariat der KMK durch das Land Niedersachsen. Kann man einen Ausblick wagen?
I. Problemaufriss Ich will mich in diesem Kapitel den Verflechtungsstrukturen, den Einflussfaktoren und Grundproblemen unseres kooperativen Föderalismus im Bildungs- und Kulturbereich widmen. Deutschland war immer ein föderales Gebilde, ob nun als Reich, Staatenbund oder Bundesstaat. Zu diesem tief in der deutschen Geschichte verankerten deutschen Föderalismus gehört seit jeher – bis auf die kurze Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten – als Essentiale der föderalen Ord-
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nung die Kulturhoheit der Gliedstaaten, ihre weitgehende Zuständigkeit für Schulen, Hochschulen und Künste. Bis heute wird dies in der politisch-geographischen Gliederung Deutschlands sichtbar. In kaum einem europäischen Land stößt man abseits der Weltstädte auf eine derartige Vielfalt von Theatern, Konzertsälen, Archiven, Bibliotheken, Kunstsammlungen höchsten Ranges, häufig in kleinen und mittleren Orten. Man denke nur an Wolfenbüttel, Landshut, Meiningen, Weimar und Coburg. Nicht zu reden von den zahlreichen Orten mit Kirchen- und Klosterkunst, geistlichen Residenzen. Überall findet sich Kultur. Neben den großen Zentren können sich viele kleinste Orte sehen lassen.1 Zu Recht betrachtet man die Kulturhoheit der Länder als „Krongut“ des Föderalismus. Die unter dem Begriff der Kulturhoheit zusammengefassten Zuständigkeiten bilden nun einmal den Schwerpunkt der Länderstaatlichkeit ungeachtet der Tatsache, dass auch der Bund über kulturpolitische Zuständigkeiten verfügt, die jedoch organisatorisch heterogen über eine ganze Reihe von Ministerien und Behörden verteilt sind.2 Im Wesentlichen stellt sich die Kompetenzordnung des Grundgesetzes de lege lata im Hinblick auf Schule, Hochschule und Kunst wie folgt dar: Gestützt auf den Kompetenztitel „öffentliche Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG setzt der Bund Maßstäbe für die Kleinst- und Kleinkinderbetreuung in Krippen und Kindergärten, indem er den Umfang der sicherzustellenden Betreuung und Zielsetzung festlegt. Dabei geht es neben der Betreuung der Kinder ausdrücklich auch um deren Erziehung und Bildung.3 Nur die Regelung der Einzelheiten des Kinderbetreuungsrechts überlässt der Bund den Ländern. Zwar gehen von einer ganzen Reihe von Artikeln des Grundgesetzes, so vor allem den Artikeln 3, 5, 7 und 12 Abs. 1 GG, vielfache Wirkungen auf das Schul- und Hochschulwesen aus, so z. B. die Schulaufsicht, das Privatschulwesen4, das Hochschulwesen, die Wahrung gleicher Bildungschancen5; dennoch berühren diese Bindungen grundgesetzlicher Art nicht das BundLänder-Verhältnis, sondern sind für die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulund Hochschulwesens maßgeblich.6 1 Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 21 f. 2 Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 556 ff. 3 § 22 Abs. 3 SGB VIII und BT-Drs. 15/4045, S. 42. 4 Johann Peter Vogel, Das Recht der Schulen und Heime in freier Trägerschaft, 1984. 5 BVerfGE 112, 226 (245).
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Was das Schul- und Hochschulrecht angeht, so überließ das Grundgesetz die Schulgesetzgebung und bis zur Grundgesetzänderung von 1969 auch die Hochschulgesetzgebung den Ländern. Übrigens hatte auch das Kaiserreich bis 1918 keinerlei Kompetenzen auf dem Gebiet von Bildung und Kultur, während die Weimarer Reichsverfassung dem Reich eine Grundsatzkompetenz für das Schul- und Hochschulwesen zuerkannte, von der das Reich jedoch mit Ausnahme des 1920 beschlossenen Reichsgrundschulgesetzes keinen Gebrauch machte, da es über weitere Materien zu keiner Einigung im Reichstag kam. Schon damals standen sich die Verfechter einer Einheitsschule, wir würden heute sagen integrierten Gesamtschule, und eines gegliederten Schulwesens unversöhnlich gegenüber. Seit 1969 ist der Bund jedoch in vielfacher Weise im Hochschulbereich, bei der Forschungsförderung und auch bis zu einem gewissen Grade im Bereich des allgemeinbildenden Schulwesens mit von der Partie. Die Zuständigkeit für die außerschulische berufliche Bildung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG stand ihm allerdings von Anfang an nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zu. 1969 wurde die Gemeinschaftsaufgabe Aus- und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG), das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung und Forschungsförderung (Art. 91b GG), die Zuständigkeit des Bundes für Ausbildungshilfen individueller Art (Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG) und – vor allem wichtig – die Rahmengesetzgebung des Bundes im Hochschulbereich, seine Zuständigkeit für „allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens“ (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG) eingeführt. Die große Reform von 1969 war – vereinfachend zusammengefasst – die Reaktion auf jahrelange Versuche des Bundes, durch die Gewährung von Finanzhilfen, mit Dotationspflicht zumeist, an die Länder immer wieder in deren Kulturhoheit mit Programmen und Initiativen einzudringen. Es ging darüber hinaus um die gemeinsame Finanzierung der großen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen von nationaler Bedeutung: Max-Planck-Gesellschaft, Deutsche Forschungsgemeinschaft und all die nach dem Königsteiner Staatsabkommen vom 30./31. März 1949 zu finanzierenden wissenschaftlichen Einrichtungen und Institute, das Honnefer Modell von 1955, den Ausbau der Ingenieurschulen gemäß Bund-Länder-Abkommen von 1957 und 1958, das Abkommen über den Wissenschaftsrat von 1957 und dergleichen mehr.7 6
BVerwG, NJW 1976, S. 864. Peter Fränz/Joachim Schulz-Hardt, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 178. 7
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Alles was bis 1969 „wild“ gewachsen war, sollte jetzt in feste Ordnungsstrukturen gebracht werden. Dies ist auch durchaus gelungen, hat jedoch durch eine sehr komplexe Verflechtung der Ebenen von Bund und Ländern in einer Vielzahl von Gremien, dem Neben- und Miteinander von KMK, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz und vielen informellen Koordinierungsgremien im Hintergrund zu einer intransparenten und schwerfälligen Entscheidungsfindung im Bildungssektor unseres Staates geführt. Am schnellsten hatte sich die Bildungsplanung erledigt. Die BLK erstellte zwar 1973 einen Bildungsgesamtplan8, der aber vor dem Hintergrund tiefgreifender ideologischer Unterschiede in den Auffassungen insbesondere zur Schulstruktur im Ergebnis folgenlos blieb.9 Über die zum Bildungsgesamtplan gehörende Finanzplanung wurde zu keinem Zeitpunkt Einigkeit erzielt. Die Einflussmöglichkeiten des Bundes auf das Schulwesen blieben mithin gering, was ihn offensichtlich immer wieder dazu animierte, bis in die jüngste Zeit hinein mit nur schwer auf Art. 104a Abs. 4 GG stützbaren Finanzierungsprogrammen in die Länderhoheit im Schulbereich einzubrechen. Man denke nur an das Ganztagsschulprogramm vom Jahre 2003 mit Investitionszuschüssen von 4 Mrd. Euro (bis 2007). Mit einer Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts, unterschiedlicher Wirtschaftskraft oder der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums läßt sich ein solches Programm wohl schwerlich begründen. Es ist ein Kapitel für sich, dass die Länder jeweils unter lautstarken Protesten im Hinblick auf das Eindringen in ihre Kulturhoheit doch nicht auf die Annahme der Mittel verzichteten. Unter dem Druck der Öffentlichkeit und bei der allgemeinen Finanznot konnten sie dies auch immer wieder nicht. Für die föderale Zusammenarbeit im Bildungsbereich ist dieser sich regelmäßig wiederholende Vorgang kein Ruhmesblatt. Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“ sind die Bundesmittel in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Bei der Forschungsförderung im weitesten Sinne engagiert sich der Bund immer noch in einem beachtlichen und unverzichtbaren Ausmaß. Im Einzelplan 30 des Bundeshaushalts für 2005, dem Einzelplan des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, sind u. a. ausgewiesen z. B.: 8
BT-Drs. 7/1474. Peter Fränz/Joachim Schulz-Hardt, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 188. 9
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21 Mio. Euro für die Zusammenarbeit mit der EU im Forschungs- und Wissenschaftsbereich, 925 Mio. Euro für den Hochschulbau, 1
Mrd. Euro für Bafög,
400 Mio. Euro für die Max-Planck-Gesellschaft, 360 Mio. Euro für die Fraunhofer-Gesellschaft, 265 Mio. Euro für die Institute und Einrichtungen der Blauen Liste. Zumeist handelt es sich um Finanzierungen, die zu gleichen Teilen von Bund und Ländern oder beim Bafög zu 35% von den Ländern aufzubringen sind.10 Was die Künste, den unglaublich vielfältigen Bereich der Kulturpolitik in unserem Bundesstaat angeht, so liegt dieser Bereich – von der Auswärtigen Kulturpolitik des Bundes, die ihm aufgrund seiner Außenkompetenz zusteht, abgesehen, – oberhalb des breiten gemeindlichen Kompetenzrahmens in der Hand der Länder. Diese, neben den Städten – vor allem – starke Stellung der Länder in der Kulturpolitik begünstigt, wie eingangs dargelegt, die Wahrung einer dezentralen Kulturlandschaft in Deutschland, wobei verschiedene Strategien sie ergänzen, wie Erhaltung historischen Kulturreichtums (Staatstheater, Galerien, Museen), Ausbildungsorte (Kunstund Musikschulen), regionale Kulturpolitik und der ganze unüberschaubare Kulturförderungsbereich staatlicher und privater Art. Letzterer wachsend seit der Reform des Stiftungsrechts. Diese ganze Kulturpolitik stützt sich dabei auf einen „offenen“ bzw. „erweiterten“ Kulturbegriff und folgt zeittypischen Politikzielen, definiert sich eher als sozial- als geisteswissenschaftlich und beruft sich stärker auf Kulturpflege als auf bestimmte Kulturgüter. Die Kulturpolitik gewinnt damit Aussicht auf Einbindung in ein breites Politikfeld, auf eine stärkere Stellung gegenüber anderen Teilpolitiken, gerät aber auch in die Gefahr zu verflachen und ideologieanfällig zu werden. Zurzeit hat man in diesem Bereich vor allem mit Einsparungsmaßnahmen zu kämpfen. Auch in diesem Sektor Kulturpolitik hat der Bund immer wieder versucht, an Terrain zu gewinnen, in Länderdomänen einzudringen. So hat sich der Bund inzwischen seine eigene Kulturstiftung geschaffen. Eine Vereinigung mit der Kulturstiftung der Länder ist am Widerstand derselben bisher gescheitert. Sie wollen hier allein bleiben. Immerhin weist der Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für 2005 im Einzelplan 04 682 Mio. Euro für Zuweisungen und 203 Mio. Euro für Investitionen im Kultursektor aus. 10
Anlage zu BT-Drs. 15/3660 (EP 30 – Kapitel 3001–3007).
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Gefördert werden u. a. die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Stiftung Weimarer Klassik, kulturelle Einrichtungen in Bonn und Berlin und viele andere erhaltenswerte kulturelle Institutionen. Zumeist wird gemeinsam mit den Ländern finanziert.11 Soviel zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Bund-Länder-Beziehungen im Bereich Kultur und Bildung und den – wie deutlich geworden ist – immerhin nach 50 Jahren Geschichte der Bundesrepublik doch erheblichen Verflechtungen in diesem Sektor zwischen beiden Ebenen. Nun zu den Grundproblemen, mit denen jede Kultur – und Bildungspolitik in unserem Bundesstaat sich auseinandersetzen muss. Kein Bundesstaat ohne ständige Anpassung unterschiedlicher Entwicklungen und einen vernünftigen Ausgleich, kein Bundesstaat ohne Kooperation und Begrenzung der Konkurrenz, des Wettbewerbs, Beseitigung von Unterschieden. Es geht hier um die viel gerühmte „Einheit in Vielfalt“ durch Absprachen, Selbstkoordinierung der Länder, Koordinierung der Ländergesamtheit mit dem Bund oder Herstellung von mehr Einheitlichkeit durch direkte zentrale Regelungen, Teilkompetenzen des Bundes. Was den Sektor Kulturpolitik betrifft, so hat diese Selbstkoordinierung und Kooperation mit folgenden Einflussfaktoren zu kämpfen: Trotz der Reformen des Jahres 1969 ist der Bereich von Schulen, Hochschulen und der eigentlichen Kulturpolitik immer noch der Bereich, in dem die Länder das größte Übergewicht im Vergleich mit allen anderen Politikfeldern gegenüber dem Bund haben. Im Bereich der Kulturpolitik, im kulturellen Bereich, ist dies besonders ausgeprägt. Hier verfügt der Bund nur über wenige eigene Institutionen, die finanziellen Lasten werden hier zu über 90% von den Ländern und Gemeinden getragen. Die etwas mehr als 800 Mio. Euro an Zuweisungen und Investitionen im Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sind sicherlich ein ansehnlicher Betrag. Wenn man sich allerdings vor Augen führt, dass ein mittleres 3-SpartenTheater nicht unter einem Zuschussbedarf von 40 bis 50 Mio. Euro im Jahr zu betreiben ist, dann werden die Relationen deutlich. Auf jeden Fall ist die ausgeprägte Vorrangstellung der Länder im gesamten Kultur- und Bildungsbereich ursächlich dafür, dass in diesem komplexen Verflechtungssektor eines von Wissenschaft und Technik bestimmten industriellen Massenstaates der Bedarf an Selbstkoordinierung der Länder am höchsten ist. Der Bund, der von Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland an immer versucht hat, in diesen Bereich hineinzuwirken, kann auch nach 1969 weithin nicht ohne Einigung mit den Ländern etwas wesentliches bewirken. 11
Anlage zu BT-Drs. 15/3660 (EP 30 – Kapitel 0405).
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Beim Hochschulrahmengesetz sind dem Bund durch das Bundesverfassungsgericht inzwischen seine Grenzen aufgezeigt worden. Ich werde darauf noch zurückkommen. Auch im kulturellen Bereich hat der Bund – wie dargelegt – immer wieder versucht, mehr Einfluss zu gewinnen, die Länder achten jedoch eifersüchtig auf ihre Präponderanz. Selbstkoordinierung der Länder, Zusammenarbeit von Bund und Ländern haben bei alledem mit zwei deutschen Phänomenen besonderer Art zu kämpfen: Anders als bei vielen anderen föderalistisch organisierten Staaten werden Unterschiede – auch und besonders im Bildungssystem –, inkompatible Verschiedenheiten, nur sehr ungern toleriert. Der hohe Grad innerdeutscher Mobilität erzwingt zudem immer wieder das Ringen um einen Mindeststandard an Einheitlichkeit. Was den kulturellen Bereich angeht, so hat Deutschland sich bei der Bildung der Nationalstaaten in Europa über lange Perioden seiner Geschichte bei seiner fortdauernden staatlichen Zersplitterung vor allem als Kulturstaat verstanden, sich über seine überlieferte „deutsche Kultur“ definiert, auch nach 1945. Eigentlich sieht man daher nicht die einzelnen Länder, sondern Bund und Länder, eher den Gesamtstaat, als Träger deutscher Kultur. D. h. der kooperative Föderalismus, das Zusammenwirken der Länder untereinander und mit dem Bund in der Kultur- und Bildungspolitik, unser Kulturföderalismus soll nach den Erwartungen der Deutschen paradoxerweise nicht nur, wie anderswo (Schweiz, Kanada, USA) die Bewahrung föderaler Eigenheiten der Länder, sondern auch, und fasst im gleichen Atemzuge, die Stiftung kultureller Einheit und politischer Homogenität im Gesamtstaat zu Wege bringen.12 Bei der Diskussion über unsere Kulturpolitik ist daher auch immer wieder die Forderung aufgetaucht, endlich zu zentraler organisierten Strukturen zu kommen, auch in Deutschland einen international anerkannten Kulturminister zu schaffen, so eine Art André Malraux oder Jack Lang Deutschlands.13 Dass derartigen Bestrebungen die geschilderte weit in die deutsche Geschichte zurückgehende kulturelle Vielfalt entgegensteht, liegt auf der Hand. Derartige Bestrebungen sind daher immer irreal gewesen. Die in einer unglaublichen Breite in Tausenden von Kommunen, in 16 Ländern und in einem nicht überschaubaren Bereich von Stiftungen, bei privatem Mäzenatentum mit hohen Investitionen fallenden und zu treffenden Entscheidungen lassen sich unmöglich zentral steuern. 12
Anlage zu BT-Drs. 15/3660 (EP 30 – Kapitel 0405). Peter Glotz, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 86. 13
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Kehrseite der Medaille dieser geschilderten deutschen Situation im Kultursektor ist die Tatsache, dass die deutsche Auswärtige Kulturpolitik immer ein Schattendasein geführt hat, anders als bei so manchem unserer zentralistisch organisierten Nachbarn. II. Befund Wie hat sich auf dem Hintergrund der geschilderten Verflechtungssituation und der allgemeinen Problemlage die Entwicklung nach 1945 bei uns vollzogen? Selbstverständlich kann man jetzt hier dieser Frage nur in Stichworten und auch nur bezogen auf den Aspekt Bundesstaat und Kulturföderalismus nachgehen. Wie eine Spinne sitzt im Netz des kooperativen Kulturföderalismus die KMK und spinnt ihre Fäden. Mit der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) verkehrt sie sozusagen auf Augenhöhe. Das Beispiel Rechtschreibreform spricht für sich. Auf jeden Fall ist sie wegen der Reichweite der Kulturhoheit der Länder neben der MPK das wichtigste Selbstkoordinierungsorgan der Länder. Gemäß Staatsvertrag von 20. Juni 1959 verfügt sie über ein eigenes Sekretariat mit zur Zeit etwas über 200 Bediensteten.14 Mit dem Pädagogischen Austauschdienst, der Zentralstelle für das Ausländische Bildungswesen und dem Auslandsschulreferat erbringt das Sekretariat wichtige Dienstleistungen für die Länder und den Bund, hat es durchaus Merkmale eines Bundeskultusministeriums. Die KMK hatte sich bekanntlich schon vor dem Entstehen der Bundesrepublik am 19./20. Februar 1948 wieder konstituiert. Wenn ich sage „wieder“, dann deshalb, weil die KMK ganz bewusst an die Länderzusammenarbeit auf dem Gebiet des Schul- und Hochschulwesens und im kulturellen Sektor an die Zeit vor 1933 in der Weimarer Republik und im Kaiserreich anknüpfte. Nach der Gründung der Bundesrepublik traten die Kultusminister dann alsbald zu Beratungen am 18./19. Oktober in Bernkastel zusammen und verabschiedeten eine „Bernkasteler Erklärung zur Kulturhoheit der Länder“, in der alle Stichworte auftauchen, die bis heute das Spannungsverhältnis von Bund und Ländern im kulturföderalistischen System bestimmen. Zur Rolle der KMK heißt es in der Erklärung, dass sie „aus staatspolitischen und kulturgeschichtlichen Gründen das einzig zuständige und verantwortliche Organ für die Kulturpolitik der Länder ist, soweit es sich um An14 Sekretariat der KMK (Hg.), Handbuch für die Kultusministerkonferenz, 1955, S. 40.
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gelegenheiten handelt, die mehrere oder alle Länder betreffen und von überregionaler Bedeutung sind.“ Die KMK werde daher darauf hinwirken, „dass die Kulturhoheit der Länder bei allen Maßnahmen der Bundesorgane und der Bundesbehörden gewahrt bleibt, und darüber wachen, dass ihre kulturpolitische Arbeit keine Einschränkungen erfährt.“ Dass insoweit von Anbeginn der Bundesrepublik an entsprechende Befürchtungen von den Kultusministern gehegt wurden, brachte klar und deutlich der hessische Kultusminister Dr. Stein in Bernkastel zum Ausdruck, indem er erklärte, er habe Zweifel „ob der Bund und seine Organe (bei der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern) sich der gebotenen Zurückhaltung befleißigen würden“15. Nie hat die KMK seither sich einer „dritten Ebene“, einer verfassungsrechtlichen „Grauzone“ zugeordnet, sondern ihre Beschlüsse, bisher alle einstimmig, ihre Beschlusskompetenz, von der verfassungsrechtlich gegebenen Kulturhoheit der Länder hergeleitet. Diese Beschlüsse über Vereinbarungen, Abkommen, Empfehlungen, Richtlinien, Rahmenbestimmungen, Rahmenvorschläge und dergleichen mehr füllen inzwischen Aktenschränke. Alles was in Deutschland seit 1948 koordiniert, durch Selbstkoordinierung der Länder und im Verhältnis zum Bund an Einheitlichkeit im Bildungswesen und der Kulturpolitik darüber hinaus zuwege gebracht wurde, geht auf Beschlüsse der KMK zurück, selbstverständlich im Zusammenspiel mit der MPK und anderen Fachministerkonferenzen, vor allem der Finanzministerkonferenz (FMK). Es würde zu weit führen, hier weiter ins Einzelne zu gehen. Selbst die Behandlung der wichtigsten Beschlüsse erforderte einen eigenen Vortrag. Immerhin kann die KMK derzeit das 50-jährige Jubiläum des berühmten Düsseldorfer Abkommens zur „Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens“ vom 12. Februar 1955 begehen, das, in Fortschreibungen selbstverständlich, immer noch für unser Schulwesen maßgebend ist.16 Festzuhalten für das Thema Mechanismen des Kulturföderalismus in Deutschland bleibt, dass die wichtigste Klammer zwischen den Ländern, sozusagen Einigungszwangsinstrument, immer wieder die Notwendigkeit ist, zur Sicherung der Mobilität aller das Bildungssystem Nutzenden die wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse sicherzustellen. Die erste Vereinbarung deutscher Kultusminister über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse erfolgte immerhin im Jahre 1874.17 Nie15
Peter Fränz/Joachim Schulz-Hardt, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 183. 16 Peter Fränz/Joachim Schulz-Hardt, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 186.
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dersachsen ist daher auch sehr schnell in den Schoß der KMK zurückgekehrt, als man mit der Nichtanerkennung von Abschlüssen drohte. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass die KMK mit dem zunehmenden Hineinwirken der EU auch in die der Kulturhoheit der Länder zuzuordnenden Angelegenheiten (SOKRATES; ERASMUS, neuerdings Bemühungen um die Schaffung einer europäischen Forschungsunion) diesen Bereich gleichermaßen in Pflege genommen hat und sorgfältig darauf achtet, dass alle entsprechenden Stellungnahmen des Bundesrates gemäß Art. 23 GG in der KMK vorgeklärt werden (Beschluss vom 12.5.1995)18. Bis zu dieser Entwicklung hin sind die Berührungen zwischen KMK und Bundesrat allerdings eher von ephemärer Bedeutung gewesen. Auch der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass die KMK auch die Auswärtige Kulturpolitik des Bundes mitgeprägt hat. All die zahlreichen Kulturabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Ländern sind KMK-Beratungsgegenstand gewesen. Das jeweilige Verfahren nach dem Lindauer Abkommen ist nie ohne vorherige Zustimmung der KMK durchgeführt worden. Der Bund hat die Kulturhoheit der Länder darüber hinaus beim allmählich voranschreitenden Prozess der europäischen Integration dadurch respektiert, dass er die Vertretung des Gesamtstaates in der Konferenz der europäischen Kulturminister dem Präsidenten der KMK überließ. Die 4. Konferenz der Europäischen Kulturminister in Berlin 1984 wurde vom Präsidenten der KMK geleitet. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EG und dann später der EU im kulturellen Bereich und die dabei entwickelten Verfahren und die gewonnenen Erfahrungen sind die Grundlage auch für das dann später institutionalisierte Verfahren der Zusammenarbeit nach der Einheitlichen Europäischen Akte und dann letztendlich für die Gestaltung des Art. 23 GG gewesen. Zweimal hat es nationale Anstrengungen gegeben, zu einem von allen Ländern und dem Bund und allen am Bildungssystem beteiligten Institutionen gemeinsam getragenen Bildungssystem zu kommen. 1953 wurde ein Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen berufen und 1965 ein Deutscher Bildungsrat errichtet. Der Deutsche Ausschuss konnte erst gegen Ende der Fünfziger und in der ersten Hälfte der Sechziger Jahre mit seinen Empfehlungen auf die Bildungspolitik Einfluss nehmen; die 17
Peter Fränz/Joachim Schulz-Hardt, in: Hans Maier, Einheit in Vielfalt – 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, 1991, S. 178. 18 Sekretariat der KMK (Hg.), Handbuch für die Kultusministerkonferenz, 1955, S. 38.
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Empfehlungen des Bildungsrates bestimmen bis heute in vielerlei Hinsicht die bildungspolitische Debatte.19 So weit so gut zum komplexen Entscheidungsfindungssystem im deutschen Kulturföderalismus. Zum Befund gehört allerdings, dass dieses System immer wieder und seit einigen Jahren erneut in die Kritik geraten ist, nach TIMSS, IGLU, PISA, in der Sorge um die Abwanderung unserer „besten Köpfe“ ins Ausland, wegen fehlender Eliten. Sie alle kennen die Diskussion. Wegen ihrer beherrschenden Stellung gerieten zwangsläufig die KMK und ihr Entscheidungsverfahren besonders ins Visier der Kritiker. Hierzu ist festzustellen: Zweifellos ist der deutsche Kulturföderalismus schwer beweglich und bringt nur nach langwierigen Entscheidungsfindungsprozessen Kompromisse, mitunter wirklichkeitsferne Entscheidungen zustande. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Jedes Einstimmigkeitsprinzip, wie es für die Kultusministerkonferenz gilt, erzwingt kleinste gemeinsame Nenner. Sicherlich hat man sich unter dem Eindruck der wachsenden öffentlichen Kritik in der KMK in den letzten Jahren wechselseitig mehr Bewegungsspielraum eingeräumt. Wenn es hart auf hart kommt, kann jedoch nach wie vor ein Land alle anderen ausbremsen. Auch die Vielfalt der neben der KMK mitwirkenden Gremien, wie im Befund festzustellen war, ist nicht entscheidungsfördernd. BLK, Wissenschaftsrat, viele darunter angesiedelte Ausschüsse und koordinierende Gremien von Bund und Ländern müssen sich jeweils einigen. Entscheidend ist allerdings für die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, dass sich seit der sogenannten Studentenrevolte 1968 jeder Grundkonsens über das, was Bildung, Ausbildung und Kultur ist bzw. sein soll, in Deutschland verloren hat. Daher konnte auch die KMK nur etwa bis zu diesem Zeitpunkt wirklich funktionieren. Bis dahin gab es so etwas wie einen unhinterfragten, tradierten Grundkonsens für den Bereich von Kultur, vor allem für das Erziehen und Bilden, Ausbilden. Seit Anfang der 70er Jahre gibt es die bekannten Fronten, die A- und B-Länder und ein zähes Ringen darum, das Bildungssystem millimeterweise auf einen von der jeweils anderen Seite nicht akzeptierten Weg zu bringen. Selbstblockade ist häufig die Folge. Jede wirkliche Innovation bleibt auf der Strecke. Das gilt für das Schulwesen und das Hochschulwesen gleichermaßen. Man erinnere sich an den 19 Sekretariat der KMK (Hg.), Handbuch für die Kultusministerkonferenz, 1955, S. 184 und 198 f.
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Kampf um die Einführung der Studiengebühren, verfasste Studentenschaften, die Schaffung von Eliteuniversitäten oder den Streit nach PISA, ob nicht doch die integrierte Gesamtschule allein allen Übeln abhelfen könne. Die Versuche der Qualitätssicherung durch Bildungsstandards im Schulwesen und durch eine neue Qualitätssicherungsbürokratie im Hochschulwesen sind nichts als Ausweichmanöver. Ich bin nicht überzeugt, dass man durch Standards der Probleme Herr wird. Wie die Lehrer zu den Standards hingeführt werden sollen, an welchen Bildungsgegenständen sie sich orientieren sollen, ist offen und umstritten. Mangels eines Grundkonsenses über das, was Bildung sein soll, beginnt man, soweit es das Schulwesen angeht, nicht einmal, sich mit Bildungsinhalten zu befassen. Das Wort „Kanon“ ist für die pädagogischen Experten ein Unwort, reaktionäre Verirrung. Dennoch gibt es keine Bildung ohne Bildungsinhalte. Und über diese muss sich jede Generation in einer Kulturnation wie der unseren wieder neu verständigen. Zyniker trösten sich damit, dass der dem deutschen Kulturföderalismus bei der geschilderten Entwicklung immanente Immobilismus uns vor abrupten Umschlägen je nach Mehrheiten auf Bundesebene bewahrt habe. Dies trifft zwar zu, hilft uns allerdings auch nicht weiter. Wenn die nach Picht und Dahrendorf erfolgreich betriebene Bildungsexpansion, wie die Befunde internationaler Untersuchungen doch wohl nahe legen, im Kern durch Senkung der Niveaus erfolgte, dann muss die Frage nach Entscheidungsfindungsstrukturen gestellt werden, die Abhilfe ermöglichen. Außer Zweifel steht dabei, dass Weichenstellungen im Bildungswesen nur sehr langfristig Wirkungen zeitigen können. Mit Sofortmaßnahmen sind hier keine Erfolge zu erreichen. Man kann weder Eliteuniversitäten aus dem Boden stampfen, noch das, was nur durch viele Jahre übenden Lernens unter Mühen und mit Fleiß an Lernergebnissen erreicht wird, durch mehr Geld für das Schulwesen von heute auf morgen erreichen. Alle Fehler in der Bildungspolitik rächen sich in den Enkeln der Verantwortlichen. Wenn auch keine Sofortmaßnahmen möglich sind, so schließt dies nicht aus, dass überhaupt etwas unternommen wird. III. Reformdebatte und Ausblick Die Vortragsökonomie gestattet es mir nur, auf zwei Aspekte einzugehen, wobei auch ein Blick auf die Föderalismuskommission geworfen werden muss:
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Wie könnte der Kulturföderalismus beweglicher, entscheidungsfähiger werden? Und: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die KMK? Zuerst zur bildungspolitischen Debatte im Zusammenhang mit der Föderalismuskommission. An der Erörterung der Frage, ob die Bildungspolitik Ursache für das Scheitern der Kommission war, beteilige ich mich nicht. Politische Entscheidungen gehen immer auf diverse sich häufig überlagernde Motivationen zurück. Die Versuche des Bundes, in die Kulturhoheit der Länder einzudringen und die konsequenten Abwehrreaktionen der Länder gehören allerdings – wie deutlich wurde – zur Geschichte der Bundesrepublik von Anfang an. Also handelte es sich hier um mehr als taktisches Spielmaterial. Ich stelle auch keine Erwägungen darüber an, was es bedeutet hätte, wenn der Bund sich mit seinen Bestrebungen durchgesetzt hätte, mehr Einfluss im Bereich Schul- und Hochschulpolitik zu bekommen. Diese Bestrebungen waren von Anfang an irreal. Wenn sich die Länder durchgesetzt hätten, d. h. vor allem die Bildungsplanung entfallen wäre und die Länder die volle Zuständigkeit für die Hochschulen erhalten hätten, wäre im wesentlichen der Zustand von vor 1969 wieder hergestellt worden. D. h. die 1969 mit dem Ziele eines geordneten Zusammenwirkens von Bund und Ländern und zwischen den Ländern eingeführten Regelungen wären wieder entfallen: Gemeinsame Planung, gemeinsame Schwerpunktsetzung beim Hochschulausbau und zentrale Regelungen von Grundsätzen im Hochschulwesen. Damit wäre der Selbstkoordinierungsbedarf der Länder wieder größer geworden – Stichwort Staatsverträge – gleichermaßen der Verhandlungsbedarf mit dem Bund. Es ist reine Spekulation, wie bei den Divergenzen der beteiligten Akteure im gesamten Bildungsbereich über Bildungsziele und -inhalte unser kooperativer Kulturföderalismus mit der neuen Situation fertig geworden wäre. Welche Schwierigkeiten hier immer wieder auftauchen, zeigt der Umgang der Länder mit der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2005 neu gewonnenen Freiheit, Regelungen über die Erhebung von Studiengebühren auf landesgesetzlicher Ebene zu treffen. Nach diesem „Studiengebühren-Urteil“ fällt bekanntlich die Frage der Einführung von Studiengebühren unter die „allgemeinen Grundsätze des Hochschulrechts“ des Art. 75 Abs. 1a GG. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings einen Verstoß des 6. HRG-ÄndG gegen Artikel 72 Abs. 2 GG angenommen, indem es ein Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung verneint.20 20
BVerfGE 112, 126 (243 ff.).
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Auf jeden Fall wären bei einem Erfolg der Länder in der Kommission neue, große „Herausforderungen“ auf sie zugekommen. Die geschilderte Praxis der Entscheidungsfindung über Jahrzehnte macht skeptisch. Aber vielleicht hätte die neue Situation dazu gezwungen, sich über Grundkonsensfragen von Bildung und Ausbildung und Kulturpflege angesichts von Globalisierung, Einwanderung und demographischem Wandel zu unterhalten und zu einigen; zu einigen auch darüber, wieviel Ungleichheit in den Strukturen zur Eröffnung echten Wettbewerbs ertragen werden soll oder ertragen werden kann. Eine ganz einfache Überlegung müsste dabei in den Vordergrund treten: Das deutsche Bildungswesen ist traditionell, zurückgehend bis in die Zeiten der absolutistisch aufgeklärt regierten deutschen Territorialstaaten und der seinerzeitigen Zurückdrängung der Kirchen aus dem Bildungswesen, Staatsangelegenheit gewesen, staatliche Veranstaltung durch und durch. Dies gilt vor allem für die Schulen. Ein freies Schulwesen existiert in Deutschland nur am Rande. 6% der Schüler besuchen derartige Schulen.21 Seit jeher versucht aber auch die Aufsicht über die Hochschulen, die Bürokratie der Hochschulabteilungen in den zuständigen Ministerien der Länder, der Hochschulautonomie Fesseln anzulegen. Mal gewann die eine, mal die andere Seite in diesem Spannungsverhältnis mehr an Boden. Dies alles, was staatlich im Bildungswesen und im Kulturbereich veranstaltet und gestaltet wird, muss unausweichlich dem geschilderten Koordinierungssystem des kooperativen Kulturföderalismus zugeführt werden. Es wird daher auch weiterhin den Entscheidungsfindungsproblemen dieses Systems unterliegen. Unsere Probleme werden daher andauern, so lange wir uns nicht entschließen, zu einer gewissen Zurückdrängung des Staates zu kommen, zu mehr Schulen in freier Trägerschaft bei voller staatlicher Finanzverantwortung, zu mehr wirklicher Hochschulautonomie, kurz zu mehr Freiheitszonen in dem gesamten Kulturföderalismus, kurz zu mehr Freiheit. Wenn es dem Staat mit seinen föderalen Strukturen so schwer fällt, sich über Bildungsinhalte und -wege zur Erreichung der Ziele zu einigen, muss er denen Raum geben, die hier Verantwortung übernehmen wollen, dann allerdings ein den pluralen Gegebenheiten unserer Gesellschaft entsprechendes System akzeptieren. Rüdiger Altmann spricht in seinen „Notizen zu einer politischen Theorie des Scheiterns“ schon 1987 von einem „Erlahmen der Erziehungskraft des staatlichen Bildungswesens“, das seit Jahrzehnten „in der gesellschaftlichen Entwicklung“ treibe und seine „Orientierung im Politischen und Sozialen – statt in der diffus gewordenen Kultur“ suche22. 21
Welt vom 2. Februar 2005. Rüdiger Altmann, Der wilde Frieden – Notizen zu einer politischen Theorie des Scheiterns, 1987, S. 110. 22
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Dazu gehört eine Überprüfung des Systems der wechselseitigen Anerkennung von Abschlüssen in seiner bisherigen Tragweise. Man würde viel Abstimmungsbedarf einsparen, wenn man mehr die aufnehmenden Institutionen des Bildungswesens über den Zugang zu ihnen entscheiden lassen würde, vor allem die Hochschulen. Ihre Standards würden vereinheitlichend auf die abgebenden Institutionen zurückwirken. Eine gewisse Zurückdrängung des Staates aus dem Bildungswesen würde auch die Arbeit der KMK erleichtern, ihr gestatten, sich auf Wesentliches, auf Grundsatzfragen, zu konzentrieren. Jetzt muss sie, überspitzt gesagt, die Schulstunden in 16 Ländern bei diversen Fächern nachzählen, um sich über irgendeine Zeugnisanerkennung zu einigen. Nach dem Anstoß durch Niedersachsen und wohl nicht ganz ohne einen Blick auf die Rechtschreibreform hat die MPK am 6./8. Oktober 2004 es der KMK aufgegeben, sich im Sinne von mehr Effizienz zu reformieren. Die KMK hat sich daraufhin in Bewegung gesetzt und der MPK einen Vorschlag für eine Reduzierung ihrer Gremien, des Personals des Sekretariats und auch eine Modifizierung des Abstimmungsverfahrens unterbreitet. Es soll in Zukunft Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit geben, allerdings nicht für Angelegenheiten der KMK, die der Herstellung der Einheitlichkeit des Bildungswesens und der Mobilität im Bildungswesen dienen und die finanzwirksam sind.23 Dies alles ist lobenswert, wird allerdings die Grundprobleme unseres Kulturföderalismus nicht beheben. Hier kann es nur helfen über die Notwendigkeit der Reichweite des vor allem für Deutschland typischen Staatsbildungswesens eine ernsthafte Debatte zu eröffnen. Zweifellos muss es, wie es Art. 7 GG formuliert, eine Aufsicht des Staates geben, aber es muss nicht alles direkt staatlich organisiert sein. Fazit Der deutsche weit in unsere Geschichte zurückreichende Kulturföderalismus ist mehr als alle anderen staatlichen Aufgabenfelder der Bundesrepublik auf die Kooperation der Länder untereinander und der Ländergesamtheit mit dem Bund angewiesen. Wegen der Präponderanz der Länder ist der Bund immer wieder versucht, in die Kulturhoheit der Länder einzudringen. Am friedlichsten vollzieht sich das Nebeneinander von Bund und Ländern im Bereich der Kulturpolitik. 23
Pressemitteilung der KMK vom 10. März 2005, S. 2 ff.
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Wegen der Schwerfälligkeit des gesamten Entscheidungsfindungssystems gelingt es nur unzureichend, die für jedes Bildungswesen ständig notwendigen Anpassungen, Innovationen, in die Wege zu leiten. Eine neue Grundsatzdebatte über Bildungsreformen ist unerlässlich. Im Zentrum dieser Debatte sollte die Frage stehen, bis wohin notwendigerweise das Bildungswesen Staatsveranstaltung sein muss und wie viel mehr Raum für ein Bildungswesen in freier Trägerschaft geschaffen werden kann. Am positivsten stellt sich der deutsche Kulturföderalismus im Bereich der Pflege der Kultur als solcher dar. Das Fehlen einer zentralistischen Kulturpolitik hat eine sich in Europa sehen lassen könnende kulturelle Vielfalt geschaffen und erhalten. Die Zukunft ist immer offen. Hoffen wir, dass der wachsende Problemdruck Reformen befördert. In der Demokratie helfen nur offene Diskussionen weiter. Tragen wir dazu bei!
Bundesstaatsreform in Österreich Von Ewald Wiederin Es kommt selten vor, dass diesseits und jenseits des Walserberges Reformanstrengungen unternommen werden, die sich im Hinblick auf den Zeitrahmen, auf die Mittel, auf die Ziele und schließlich auch auf ihr Ergebnis so ähnlich sind wie das Projekt einer Erneuerung der deutschen Bundesstaatlichkeit in der Föderalismusreformkommission einerseits und das Projekt einer Gesamtreform der österreichischen Bundesverfassung im ÖsterreichKonvent andererseits. Dennoch muss ich schon zu Beginn alle Erwartungen enttäuschen, dass die deutsche Föderalismusdiskussion aus dem österreichischen Reformprojekt neue Anstöße beziehen oder aus ihm gar fertige Lösungen importieren könnte. Im Staatsrecht sind wir offenbar nicht nur durch eine gemeinsame Sprache, sondern auch durch gemeinsame Reformen eher getrennt als verbunden. Der Grund liegt in einer je und je unterschiedlichen Ausgangslage, die zur prima facie erstaunlichen Folge hat, dass die Reformtrends in exakt gegenläufige Richtungen gehen. Mein Beitrag wird sich in drei Teile gliedern. Im ersten Teil widme ich mich dem status quo. Um die Ausgangslage der Reformbemühungen verständlicher zu machen, werde ich zunächst einige Elemente herausarbeiten, die für den österreichischen Bundesstaat typisch sind, und dabei den Schwerpunkt auf jene Elemente legen, in denen sich Österreich von Deutschland unterscheidet. Im Anschluss daran will ich in aller Kürze skizzieren, in welchen Punkten unser föderales System Leistungsschwächen aufweist. Sodann wende ich mich im zweiten Teil den Bemühungen zu, diese Schwächen zu beseitigen. Ich werde in aller Kürze die gescheiterte Bundesstaatsreform in den frühen 90er-Jahren Revue passieren lassen, die den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union begleitet hat, und in weiterer Folge den Akzent auf die Diskussionen um die Bundesstaatlichkeit im ÖsterreichKonvent legen, der im Juni 2003 seine Arbeit aufgenommen und im Jänner 2005 seinen Endbericht vorgelegt hat. Im dritten Teil wage ich es, die österreichische Konventsarbeit den deutschen Reformversuchen gegenüber zu stellen und in einem Ausblick jene Trends nachzuzeichnen, die ungeachtet des Scheiterns des Konvents die österreichische Entwicklung längerfristig bestimmen werden.
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A. Status quo und Reformbedarf I. Spezifika der österreichischen Bundesstaatlichkeit Bundesstaatlichkeit ist radizierte Staatlichkeit.1 Als solche kann sie – allen Versuchen einer funktionalen Bestimmung von Bundesstaatlichkeit zum Trotz – weder am Reißbrett entworfen werden, noch lässt sie sich an andere Orte verpflanzen. Ein Bundesstaat von der Stange existiert schon deshalb nicht, weil nach ihm keine Nachfrage besteht. Jede bundesstaatliche Verfassung ist Maßarbeit, die dem spezifischen historischen, kulturellen, nationalen und politischen Gepräge einer Gesellschaft gerecht werden muss.2 Demgemäß ist sie ohne Kenntnis der Geschichte meist gar nicht fassbar. Was macht nun den österreichischen Bundesstaat aus? Ich kann auf diese Frage selbstverständlich keine erschöpfende Antwort geben, will aber immerhin versuchen, einige Besonderheiten herauszustreichen.3 1. Der Bundesstaat als Zerfallsprodukt: Wechsel der Staatsform bei Kontinuität der Strukturen Der österreichische Bundesstaat ist nicht im Wege eines Zusammenschlusses seiner Glieder entstanden, sondern als Produkt des Zerfalls der Donaumonarchie. 1920 wurden ungeachtet des Wechsels der Staatsform die Strukturen der Monarchie, die als hochdezentralisierter Einheitsstaat verfasst war, in dem die Kronländer über ein vergleichsweise hohes Maß an Autonomie verfügten, weitgehend unverändert in die neue Bundesverfassung übernommen. Die meisten Eigenheiten finden in diesem Ursprung ihre Erklärung: Der österreichische Bundesstaat steht im langen Schatten der Monarchie. 2. Parität als konstruktives Prinzip Ein echtes Spezifikum des österreichischen Bundesstaates bildet die Gleichwertigkeit von Bundes- und Landesgesetzen.4 Im Unterschied zu den 1 Josef Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR Bd. 115 (1990), S. 248 (251 f.); ders., Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1. Aufl. 1990, § 98 RN 2. 2 Matthias Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 29 RN 1. 3 Eingehender Ewald Wiederin, Bundesstaat neu, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Der Österreich-Konvent: Zwischenbilanz und Perspektiven, 2004, S. 49 (52 ff.).
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traditionellen Bundesstaaten, in denen Bundesrecht Landesrecht bricht oder ihm wenigstens vorgeht, verfügen Bundesgesetze und Landesgesetze in Österreich über die gleiche rechtliche Kraft.5 Diese Gleichwertigkeit geht darauf zurück, dass in der Monarchie sowohl die Reichsgesetze als auch die Landesgesetze als Willensäußerungen ein und desselben Monarchen galten, unter denen im Konfliktfall der jüngere Wille den Vorrang haben musste.6 Auf derselben Linie liegt, dass die wechselseitigen Einflussrechte im Bereich der Gesetzgebung symmetrisch konzipiert sind. Der Bundesrat kann durch einen Einspruch das Gesetzgebungsverfahren zwar verzögern und verkomplizieren; er vermag aber die Gesetzwerdung nicht zu verhindern, weil der Nationalrat auf seinem Beschluss beharren kann.7 Umgekehrt hat die Bundesregierung – den föderalen Usancen zuwider – die Möglichkeit eines Einspruchs gegen Landesgesetzesbeschlüsse, über den sich der Landtag wiederum beharrend hinwegsetzen kann.8 Weitgehende Parität herrscht sodann bei der Bewältigung föderaler Streitigkeiten. Konflikte zwischen Bund und Ländern werden nicht politisch auf dem Wege der Bundesexekution oder der selbständigen Bundesaufsicht, sondern rechtlich durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts entschieden. Der Verfassungsgerichtshof, dessen Mitglieder zum Teil auf Vorschlag der Länderkammer ernannt werden,9 entscheidet über die Kompetenzkonformität von Bundes- und Landesgesetzen auf Antrag einer Regierung der Gegenseite,10 und der Verwaltungsgerichtshof erkennt über die Rechtswidrigkeit von Bescheiden, die vom Land in Vollziehung von Bundesgesetzen erlassen worden sind, auf Antrag des zuständigen Bundesministers.11 4
Vgl. Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. I, 1997, Rz. 18.009; Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 5. Aufl. 2003, Rz. 218. 5 Umstritten ist, ob widersprechende Bundes- und Landesgesetze einander wechselseitig nach der Regel lex posterior derogat legi priori zu derogieren vermögen (so VfSlg. 3153/1957 und die traditionelle Auffassung in der Lehre) oder ob sie zunächst nebeneinander gelten und der Konflikt zwischen ihnen erst durch die verfassungsgerichtliche Aufhebung des kompetenzwidrigen Gesetzes aufgelöst wird (so unter Berufung auf VfSlg. 10.292/1984 das Gros der jüngeren Lehre). Nachweise des Streitstandes bei Ewald Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, 1995, S. 71 ff. 6 Statt vieler Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, 1885, S. 32. 7 Vgl. Art. 42 B-VG. 8 Vgl. Art. 98 B-VG. 9 Vgl. Art. 147 Abs. 2 B-VG. 10 Vgl. Art. 140 B-VG. 11 Vgl. Art. 131 Abs. 1 Z 2 B-VG. Demselben Muster folgt die Anfechtungsbefugnis der Landesregierung nach Art. 131 Abs. 1 Z 3 B-VG in jenen Bauangelegenheiten, in denen Landesgesetze durch den Bund vollzogen werden.
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Indem das B-VG 1920 die Parität von Bund und Ländern zum Prinzip erhoben hat, dürfte es auch der Bundesstaatstheorie Kelsens Pate gestanden haben, nach der sich unter dem gemeinsamen Dach der Gesamtverfassung der Bundesrechtskreis und die Landesrechtskreise gleichberechtigt gegenüberstehen. Es ist wohl kein Zufall, dass Kelsen seine Drei-Kreise-Theorie erst 1927 formuliert hat.12 Im Jahre 1914 hatte er aus Anlass seiner ersten theoretischen Befassung mit dem Bundesstaat noch einen ganz und gar konventionellen Ansatz verfolgt.13 3. Dominanz des Bundes in der Ausgestaltung So hyperföderalistisch sich der österreichische Bundesstaat vom Zuschnitt her präsentiert, so zentralistisch ist er jedoch in der Ausgestaltung. Nimmt man die Ausstattung der beiden föderalen Partner mit Kompetenzen in den Blick, so zeigt schon eine oberflächliche Analyse, dass der Bund die dominante Stellung einnimmt.14 Die Länder verfügen zwar nominell über die Allzuständigkeit. De facto läuft diese in Art. 15 Abs. 1 B-VG verankerte Kompetenz aber auf eine Restzuständigkeit hinaus, weil die wichtigen Angelegenheiten sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Vollziehung Sache des Bundes sind. Hervorhebung verdient insbesondere, dass in Österreich zu den Bundesangelegenheiten auch und gerade Agenden gehören, die der bundesstaatlichen Tradition gemeinhin das Hausgut der Länder ausmachen. Innere Sicherheit15, Bildung16 und Kultur17 seien beispielhaft erwähnt. Dieses massive Übergewicht des Bundes, das schon in der Stammfassung zum Ausdruck kommt, dürfte die paritätische Ausgestaltung der Strukturen befördert haben. Im Unterschied zu neu eingerichteten Zentralen, die zu Beginn ihrer Tätigkeit nur über handverlesene Zuständigkeiten verfügen und sich gegenüber politisch mächtigeren Subeinheiten durchsetzen müssen,18 12
Hans Kelsen, Die Bundesexekution, in: FG Fleiner, 1927, S. 127 (128 ff.). Hans Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung, AöR Bd. 32 (1914) S. 202 (390 u. 415 f.). 14 Zur Bundeslastigkeit der Kompetenzverteilung und zum zentralistischen Grundzug der österreichischen Bundesstaatskonzeption statt vieler Gerhart Holzinger, Aktuelle Fragen des Bundesstaatsprinzips, in: Walter Berka u. a. (Hrsg.), Verfassungsreform, 2004, S. 71 (71 f.); mit Blick auf die Kompetenzverluste der Länder durch den Beitritt zur Union Heinz Schäffer, Europa und die österreichische Bundesstaatlichkeit, DÖV 1994, S. 181 (193 f.). 15 Art. 10 Abs. 1 Z 3 und 7 B-VG. 16 Vgl. zum Schulwesen Art. 14 Abs. 1, 2, 3 und 5, zum land- und forstwirtschaftlichen Schulwesen Art. 14a Abs. 2 bis 4 B-VG. 17 Art. 10 Abs. 1 Z 13 B-VG. 18 Die Entwicklung eines Vorrangs von Europarecht vor nationalem Recht in der Rechtsprechung des EuGH mag als Beleg für diese These gelten. 13
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befand sich der Bund 1920 in einer Position der Stärke. Sie machte es ihm leichter, auf die Verankerung eines Bundesrechtsvorrangs oder vergleichbarer hegemonialer Elemente zu verzichten. So widersinnig es zunächst klingt: Hyperföderalistisches Grunddesign und stark zentralistische Ausgestaltung der österreichischen Bundesverfassung bedingen einander bis zu einem gewissen Grad. Es gibt allerdings auch Bereiche, in denen der Grundsatz der Parität zugunsten eines Monopols oder einer zumindest vorrangigen Stellung des Bundes verlassen ist. Erstens verfügen die Länder – und hierin lebt ihre Vergangenheit als Entitäten der Selbstverwaltung fort – über keine eigenen Gerichte.19 Zweitens ist die Verfassungsautonomie der Länder dadurch massiv beschränkt, dass die Bundesverfassung ihnen weit ins Detail reichende Organisationsvorgaben macht20 und dadurch für eine Einheitlichkeit der Strukturen in den Ländern sorgt. Drittens bevorzugt die Finanzverfassung den Bund auf eine Art und Weise, die die Länder wie die Gemeinden in die Rolle bloßer Kostgänger weist. Die Länder verfügen weder über eine Steuerautonomie, die diesen Namen verdient, noch haben sie auf den Finanzausgleich bestimmenden Einfluss.21 Diese Schieflagen sind zwar in einem Bundesstaat erstaunlich; sie kommen aber nicht überraschend, wenn wir uns den historischen Ursprung in Erinnerung rufen:22 Die Länder waren in der Monarchie als höhere Selbstverwaltungseinrichtungen konzipiert, die zwar über Legislativorgane und über Autonomie verfügten, deren Organisationsgewalt und deren Finanzhoheit aber äußerst beschränkt waren. 4. Entflechtungen und Verflechtungen Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass sich das B-VG weder eindeutig dem Trennungsföderalismus amerikanischen Ursprungs noch dem Verbundföderalismus deutscher Prägung zuordnen lässt. Der österreichische Bundesstaat ist beides zugleich. Auf Gesetzgebungsebene begegnet eine auf 19
Vgl. Art. 82 Abs. 1 B-VG: „Alle Gerichtsbarkeit geht vom Bund aus.“ Vgl. die Art. 95 ff. B-VG, § 8 Abs. 5 Übergangsgesetz 1920, BGBl. 1920/2 i. d. F. BGBl. I 1999/194, sowie das Bundesverfassungsgesetz betreffend Grundsätze für die Einrichtung und Geschäftsführung der Ämter der Landesregierungen außer Wien, BGBl. 1925/289. 21 Über die Verteilung sowohl der Besteuerungsrechte als auch der Abgabenerträge entscheidet gemäß § 3 Abs. 1 F-VG die Bundesgesetzgebung. Der Bundesrat kann deshalb im Wege eines Einspruchs das Zustandekommen des Finanzausgleichsgesetzes zwar verzögern, aber nicht verhindern. 22 Vgl. dazu schon Peter Pernthaler, EU-Mitgliedschaft, Bundesstaatsreform und Verwaltungsentlastung, ZÖR Bd. 53 (1998), S. 1 (2 ff.). 20
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den Grundsätzen der Exklusivität und der Komplementarität beruhende Zuordnung von Aufgaben an den Bund und die Länder, die echte Konkurrenzen weitgehend vermeidet und die – von Ausnahmen abgesehen, die in der Stammfassung überwiegend noch nicht enthalten waren – nicht zur Disposition der beiden föderalen Partner stehen. Diese Technik sorgt für Klarheit der Verantwortungen, die auch durch die Einbindung der jeweils anderen Gebietskörperschaft in den Gesetzgebungsprozess nicht verwischt wird. Denn der föderale Partner kann die Gesetzwerdung durch einen Einspruch zwar verzögern, aber nicht verhindern.23 So starr sich die Kompetenzverteilung in der Gesetzgebung präsentiert, so flexibel ist sie im Bereich der Vollziehung. In der Verwaltung ist der bundesstaatliche Grundsatz, dass eigene Aufgaben nur durch eigene Organe besorgt werden dürfen,24 in einem Maße durchlöchert, dass man ob der vielen Ausnahmen25 die Regel kaum mehr erkennt. Diese hohe Flexibilität ermöglicht es, in breitem Rahmen Mischverwaltungen einzurichten, die es in anderen Bundesstaaten entweder überhaupt nicht oder nicht in diesem Umfang gibt. II. Strukturschwächen und Reformbedarf Föderalismusreform zählt in Österreich zum Alltagsgeschäft. Seit es den Bundesstaat gibt, wird er reformiert, und zwar in Permanenz. Die Bestimmungen über die bundesstaatliche Kompetenzverteilung zählen zu den novellierungsanfälligsten Partien der Verfassung überhaupt. Und so paradox es anmutet: Der heutige Reformbedarf geht überwiegend auf das Konto jener bald größeren, bald kleineren Änderungen, die sich im Laufe der Zeit akkumuliert und die das ursprüngliche System in Mitleidenschaft gezogen haben. Wo nun im Detail die Funktionsschwächen liegen und welche Therapien angezeigt sind, um den föderalen Patienten zu heilen, darüber gehen die Auffassungen auseinander. In der grundsätzlichen Einschätzung sind sich hingegen alle einig: Der Bundesstaat gehört dringend reformiert, weil vor allem die Regelungen über die bundesstaatliche Kompetenzverteilung ihre Funktion nur mehr mit Einschränkungen erfüllen. Nach Jahrzehnten von Änderungen ad hoc, die in einer ersten Phase nahezu ausschließlich in Richtung einer Zentralisierung gingen und die ab den 70er-Jahren auch Verländerungen brachten, stellte eine hochkarätig besetzte Expertenkommission in ihrem im Jahr 1991 vorgelegten Schlussbericht fest, dass die Strukturen 23 24 25
Vgl. Art. 42, 98 B-VG. Er ist entwickelt in VfSlg. 4413/1963. Vgl. für viele Art. 11 Abs. 7, 15 Abs. 4, 97 Abs. 2 und 102 B-VG.
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der Kompetenzverteilung dermaßen korrumpiert sind, dass an einer Fundamentalreform der bundesstaatlichen Ordnung kein Weg vorbeiführt.26 Seither ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, ohne dass wir über diese Einschätzung hinausgelangt wären. Zumindest die Diagnose wird aber mittlerweile von allen Seiten akzeptiert, und auch der Österreich-Konvent hat sie jüngst wieder bestätigt. Die Strukturreformkommission hat im Wesentlichen vier Gebrechen zu Tage gefördert:27 Die Kompetenzverteilung leidet erstens an Zersplitterung; sie ist zweitens überkomplex und dadurch undurchschaubar; sie ist drittens zu starr, und sie bedarf viertens der Anreicherung durch kooperative Elemente. Man kann darüber streiten, ob diese Defizitliste einerseits vollständig und andererseits in allen Punkten richtig ist. Die Reformüberlegungen der letzten Jahre haben sie jedenfalls als Grundlage herangezogen. 1. Zersplitterung An der Spitze der Agenda steht ohne Zweifel die Beseitigung der äußeren wie inneren Zersplitterung, an der die Kompetenzverteilung derzeit krankt.28 Neben den zahlreichen Kompetenztatbeständen, die die Verfassungsurkunde enthält, existiert eine Fülle von Verfassungsbestimmungen mit kompetenzrechtlichem Inhalt, die zu überschauen selbst Experten Probleme bereitet: Es existieren fugitive Kompetenztatbestände in Bundesverfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen in Bundesgesetzen; weiters gibt es Kompetenzabdeckungsklauseln, die einfache Bundesgesetze in ihrer konkreten Gestalt verfassungsrechtlich absichern, ohne den Bund freilich zu künftigen Änderungen zu ermächtigen; sodann stößt man auf Bestimmungen, deren Verfassungsrang sich dadurch erklärt, dass sie der Bund in Ermangelung von hiezu erforderlichen Kompetenz als einfaches Gesetz gar nicht erlassen dürfte; und schließlich existieren mehr als achtzig Rechtssätze des Verfassungsgerichtshofes, denen die herrschende Meinung die Qualität von Verfassungsrecht zumisst. Zu den gut 150 Kompetenztatbeständen der Stammurkunde kommen auf diese Weise nochmals gut 150 weitere Verfassungsbestimmungen mit kompetenzrechtlichem Gehalt.29 26
Bundeskanzleramt (Hrsg.), Neuordnung der Kompetenzverteilung in Österreich, o. J. [1990], S. 523 (523 ff.). 27 Vgl. den Schlussbericht, in: Neuordnung (FN 26), S. 525 f. 28 Für Bestandsaufnahmen und Nachweise vgl. Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht, 2004, S. 319 ff. 29 Vgl. die Anlagen 1 und 2 zum Bericht des Ausschusses 2 des Österreich-Konvents vom 9.7.2004. Neben den dort dem Ausschuss 5 zugewiesenen Bestimmungen in Verfassungsrang verfügen auch jene Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen über einen kompetenzrechtlichen Gehalt, die der Ausschuss aufgrund einer von ihm
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Schon diese Zahl macht greifbar, dass der äußeren Zersplitterung auch eine innere korrespondiert. Die Kompetenzverteilung ist im Laufe ihrer Entwicklung dermaßen kleinteilig und kleinlich geworden, ihre Regeln sind dermaßen von Ausnahmen durchlöchert worden, dass sie statt Staatsaufgaben nur mehr Aufgabenfragmente erfasst, die wenig Gestaltungsoptionen vermitteln: Allzu oft scheitert die Umsetzung innovativer Reformansätze an der hiezu nötigen umfassenden Zuständigkeit. Der Ruf nach weiten Tatbeständen, die runde Aufgabenfelder zuweisen und dadurch sinnvolle Politik wieder ermöglichen, ist deshalb immer lauter geworden. 2. Kompliziertheit Mit der Zersplitterung der Regelungen ist auch die Komplexität des Gesamtsystems gewachsen.30 Zum einen hat die Entwicklung nicht nur immer neue und immer kleinere Tatbestände hervorgebracht, sie hat auch das in der Stammfassung noch überschaubare System der Verteilung um eine Fülle neuer Sonderformen bereichert, die das vorgefundene System sprengen, sodass wir mittlerweile – je nach Zählung – zwischen zehn und zwanzig Kompetenztypen halten.31 Dass all dies die Orientierung im System nicht erleichtert, liegt auf der Hand.32 Selbst Spezialisten sind in Kompetenzfragen vielfach überfordert, weil sie nur mehr vertraute Bereiche und nicht mehr das Gesamtsystem zu überblicken vermögen. Die Komplexität und Kleinteiligkeit hat bei allen Nachteilen aber auch ein Gutes. Wir wissen in Österreich genauer als in jedem anderen Bundesstaat der Welt, wo konkret die Kompetenzgrenze zwischen Bund und Ländern verläuft. Dafür sorgen zum einen achtzig Jahre verfassungsgerichtvorgeschlagenen Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten der Länder auf fremde Staaten oder zwischenstaatliche Einrichtungen ihres Verfassungsrangs zu entkleiden vorschlug. 30 Karl Weber, Die Verteilung der Gesetzgebungs- und Vollzugskompetenzen im Bundesstaat, in: Peter Bußjäger/Daniela Larch (Hrsg.), Die Neugestaltung des föderalen Systems vor dem Hintergrund des Österreich-Konvents, 2004, S. 1 (3), spricht treffend von einer „Spirale der Unübersichtlichkeit“. 31 Vgl. die Typologien bei Bernd-Christian Funk, Leistungsmängel der bestehenden Kompetenzverteilung, in: Neuordnung (FN 26), S. 47 (72 ff.); Öhlinger (FN 4), RN 240, 250 ff.; Heinz Schäffer, Die Kompetenzverteilung im Bundesstaat, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Bundesstaat und Bundesrat in Österreich, 1997, S. 65 (76 ff.). 32 Signifikant die Einschätzung bei Peter Pernthaler, Überlegungen für eine Strukturreform der Kompetenzverteilung in Österreich, FS Loebenstein, 1991, S. 133 (133): „Die geltende Kompetenzverteilung hat in Österreich einen Stand an Unübersichtlichkeit, Verflechtung und Zersplitterung erreicht, daß trotz aller Auslegungsregeln und Rücksichtnahme-Geboten selbständige Aufgabenerfüllung in Bund und Ländern im Rahmen der jeweiligen Kompetenzen kaum mehr möglich ist.“
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licher Rechtsprechung, auf die der Verfassungsgesetzgeber nicht selten korrigierend und modifizierend reagiert hat, und zum anderen eine Auslegungspraxis, die sich an den tradierten Besitzständen orientiert. 3. Starrheit Ein dritter Mangel liegt in der Rigidität der Zuordnung von Angelegenheiten in der Gesetzgebung. Bedarfskompetenzen haben zwar in den letzten Jahren ein wenig an Boden gewonnen,33 sie stehen aber nach wie vor am Rand. Delegationsbefugnisse existieren ebenfalls nur in äußerst geringem Umfang.34 Es ist grundsätzlich unmöglich, ad hoc in Abhängigkeit von Interesse und Fähigkeit zur Aufgabenbewältigung politisch zu entscheiden, welche Gebietskörperschaft ein neuartiges Problem bewältigen soll. Diese Starrheit der Zuordnungen ist deshalb ein Problem, weil sie es unmöglich macht, sogenannte Querschnittsmaterien35 in den Griff zu bekommen. Wenn und weil die Kompetenzgrenze quer durch einen bestimmten Politikbereich verläuft, ist es sowohl dem Bund als auch den Ländern verwehrt, diesen Bereich umfassend zu regeln. Die Verfassung zwingt in solchen Konstellationen zur aspektweisen oder sonstigen Isolierung eines Bundes- und eines Landesbereichs. Dieser Zwang zur Segmentierung führt nicht nur, aber vor allem im Zusammenhang mit der Richtlinienumsetzung zu Problemen.36 Neuartige Politikansätze sind oft Querschnittsansätze, die sich wenig um die überkommenen Einteilungen kümmern. Die Gemeinschaft sieht selten eine Notwendigkeit, auf die Kompetenzverteilung ihrer Bundesstaaten Rücksicht zu nehmen. Beide Faktoren bewirken, dass wir von Glück reden können, wenn wir es bei der Richtlinienumsetzung nur mit einem Gesetzgeber zu tun haben. Nicht selten umfasst ein und dieselbe Richtlinie Sachbereiche, die nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung teilweise in die Zuständigkeit des Bundes und teilweise in die Zuständigkeit der Länder fallen.37 Das 33 Vgl. neben Art. 11 Abs. 2 B-VG (Verwaltungsverfahren) nunmehr Art. 10 Abs. 1 Z 12 (Abfallwirtschaft) und Art. 11 Abs. 1 Z 7 B-VG (Genehmigung UVPpflichtiger Vorhaben). 34 Vgl. Art. 10 Abs. 2 B-VG. 35 Hiezu Funk, Leistungsmängel (FN 31), S. 128 f.; Pernthaler, Bundesstaatsrecht (FN 28), S. 338 ff. 36 Dazu zuletzt am Beispiel des Umweltrechts Verena Madner, Das Subsidiaritätsprinzip angewendet auf das Modell des österreichischen Föderalismus; welche Ebene soll worüber entscheiden? in: Daniela Graf/Franz Breiner (Hrsg.), Projekt Österreich, 2005, S. 72 (75 ff.). 37 Bisweilen gibt es für ein und dieselbe Richtlinien mehr als vierzig Umsetzungsakte: vgl. Madner (FN 36), 77.
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hat eine Mehrfachumsetzung zur Folge, die erstens aufwändig, zweitens kompliziert und drittens fehleranfällig ist. Die Unzufriedenheit mit der Starrheit der Kompetenzverteilung hat aus diesem Grund im Gefolge des Beitritts zur Union beträchtlich zugenommen. 4. Verbesserung der Kooperation All das wird auch dem deutschen Leser mehr oder weniger vertraut vorkommen. Der letzte Punkt könnte ihn hingegen überraschen. Die Strukturreformkommission hat die Intensivierung der Kooperation zwischen den Gebietskörperschaften eingemahnt und dafür plädiert, den Ländern und den Gemeinden auf Bundesebene Mitspracherechte einzuräumen.38 Unter anderem wurde angeregt, • in einem Kompetenzverbund zu realisierende Gemeinschaftsaufgaben zu institutionalisieren und hiebei Ermächtigungen zur Einrichtung von Mischverwaltungen vorzusehen, • Bund und Ländern die Möglichkeit einzuräumen, im Wege von Gliedstaatsverträgen echte Kompetenzänderungen durchzuführen, an den Rändern sich berührender Tatbestände Kompetenzabgrenzungen vorzunehmen und Zweifelfälle zu klären; • Vereinbarungen zwischen Staat und Gemeinde über Gegenstände der Vollziehung ihres jeweiligen Wirkungsbereiches zuzulassen, • den Ländern und den Gemeinden maßgeblichen Einfluss auf den Willensbildungsprozess auf europäischer Ebene zu sichern, • den Ländern und den Gemeinden die Partizipationsrechte in Bezug auf Bundesgesetze zu sichern, die ihnen Kosten verursachen.
B. Anläufe zu einer Reform des Bundesstaates I. Bundesstaatsreform aus Anlass des EU-Beitritts Die erste Gelegenheit, um nicht zu sagen Notwendigkeit zur Umsetzung der Empfehlungen bot der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Aus verfassungsrechtlichen Gründen war hiefür zum einen eine Volksabstimmung notwendig; zum anderen verfügte der Bundesrat über ein Zustim38 Vgl. den Schlussbericht der Strukturreformkommission, in: Neuordnung (FN 26), S. 527 ff., 540; Heinz Schäffer, Bundesstaatliche Kompetenzverteilungssysteme im rechtsvergleichenden Überblick, in: Neuordnung (FN 26), S. 139 (281 ff.); Hans-Georg Ruppe, Neuordnung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Teilbereich Finanzverfassung, in: Neuordnung (FN 26), S. 289 (385 ff.).
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mungsrecht.39 Die Länder waren deshalb in einer starken Position – und sie verstanden sie zu nutzen, indem sie ihre Zustimmung zum Beitritt von einer grundlegenden Reform der bundesstaatlichen Ordnung abhängig machten. Die Eckpunkte dieser Reform wurden in einem gentlemen’s agreement festgelegt, das zwischen dem Bundeskanzler und dem Vorsitzenden der Landeshauptleutekonferenz abgeschlossen wurde und nach seinem Unterzeichnungsort als „Perchtoldsdorfer Paktum“ in die Verfassungsgeschichte eingegangen ist.40 In Einlösung der Verpflichtungen aus dieser rechtlich nicht bindenden Vereinbarung brachte die Bundesregierung im Jahr 1994 im Nationalrat eine Regierungsvorlage ein, die eine umfassende Verfassungsänderung „im Sinne einer Strukturreform des Bundesstaates“ vorsah.41 Sie verfolgte erklärtermaßen die Absicht, die von der Strukturreformkommission individualisierten Schwachstellen zu beseitigen. Gelungen ist ihr dies jedoch nur zum Teil. • Um die vielbeklagte Zersplitterung zu überwinden, war einerseits ein Gebot der Inkorporation von Kompetenzbestimmungen in die Stammurkunde vorgesehen; andererseits wurden die zahlreichen außerhalb des B-VG angesiedelten Tatbestände in die Stammurkunde integriert. Nachdem allerdings sowohl die fugitiven als auch die im B-VG enthaltenen Kompetenznormen weitgehend tel quel übernommen wurden, ohne sie zu größeren Feldern zu arrondieren, blieb die innere Zersplitterung der Kompetenzordnung erhalten;42 teilweise wurde sie sogar noch ausgebaut.43 Und selbst die Überwindung der äußeren Zersplitterung wurde dadurch getrübt, dass eine Übergangsbestimmung verfügte, dass mehr als fünfzig Verfassungsbestimmungen außerhalb der Urkunde als Teile der 39 Strittig konnte lediglich sein, ob nur Art. 50 Abs. 1 B-VG oder auch Art. 44 Abs. 2 B-VG zum Tragen kamen. 40 Politische Vereinbarung über die Neuordnung des Bundesstaates vom 8.10.1992, abgedruckt in RV 1706 BlgNR 18. GP, S. 21 ff. Kritisch zu ihr Heinrich Neisser, Souveränität – Mitbestimmung – Föderalismus. Perspektiven der Europäischen Union, JBl. 1994, S. 713 (720). 41 RV 1706 BlgNR 18. GP. 42 Ebenso Heinz Mayer, Bundesstaatsreform: Zusammenfassende Beurteilung, AnwBl. 1994, S. 488 (488): „Der vorliegende Entwurf [. . .] hat eine wesentliche verfassungspolitische Zielsetzung, die Schaffung sachlich abgerundeter Kompetenzen, die eine gemeinsame Regelung zusammengehöriger Angelegenheiten ermöglichen, nicht erreicht und nicht einmal in Angriff genommen“; Karl Weber, Die Entwicklung des österreichischen Bundesstaates, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Bundesstaat und Bundesrat in Österreich, 1997, S. 37 (63 f.). 43 So wurden beispielsweise das Gesundheitswesen, das Verkehrswesen und das Behindertenwesen weiter filetiert: kritisch Karl Weber, Die Auswirkungen der Bundesstaatsreform auf die Verwaltungsreform, in: Peter Pernthaler (Hrsg.), Bundesstaatsreform als Instrument der Verwaltungsreform und des europäischen Föderalismus, 1997, S. 68 (70 f.).
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Stammurkunde zu gelten hatten, ohne den Wortlaut der rezipierten Bestimmungen anzuführen.44 Einen weiteren Wermutstropfen bildet die Aussparung der Finanzverfassung, die weiterhin in einem eigenen Bundesverfassungsgesetz angesiedelt bleiben sollte. • Da sich die Vorlage auf eine rein kodifikatorische Zusammenführung beschränkte und selbst diese zu einem guten Teil bloß fingierte, gelang es nicht, die Komplexität des Systems in nennenswertem Umfang zu reduzieren.45 Sowohl die Kleinteiligkeit der einzelnen Tatbestände als auch die Typenvielfalt innerhalb der Kompetenzordnung blieben weitgehend erhalten. • Die Schritte in Richtung Flexibilisierung gingen ebenfalls nicht sonderlich weit. Die zuvor auf handverlesene Tatbestände beschränkte Möglichkeit, die Länder zur Erlassung von Ausführungsgesetzen zu ermächtigen, wurde zwar für alle Bundesangelegenheiten geöffnet. Bei den Bedarfskompetenzen blieb hingegen alles beim Alten. • Auch die Verflechtungsbemühungen hielten sich in Grenzen. Die Vorlage griff den Vorschlag auf, Kompetenzverschiebungen und -abgrenzungen im Wege von Gliedstaatsverträgen zu treffen, ohne das Verhältnis dieses Instruments zum gleichzeitig eingeführten Inkorporationsgebot zu erläutern. Im Übrigen blieb es bei einer Änderung von Zustimmungsrechten, wobei der Tendenz nach Zustimmungsrechte des Bundes zu Akten der Landesstaatsgewalt rückgebaut, Zustimmungsrechte der Länder zu Bundesmaßnahmen hingegen ausgeweitet wurden.46 Revolutionär war lediglich eine Partie der Vorlage: die Abschaffung der mittelbaren Bundesverwaltung, die als Zwitter zwischen Organleihe und Mischverwaltung eine bundesstaatliche Anomalie darstellt, zugunsten einer Eigenverwaltung der Länder. Die Reform ist Ende 1994 in spektakulärer Weise gescheitert. Zunächst hatten sich die parlamentarischen Beratungen hingezogen, sodass die Vorlage nach Ende der Legislaturperiode ein zweites Mal eingebracht werden musste.47 Sodann war es infolge der geänderten Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat notwendig, der Opposition im Verfassungsausschuss Konzessionen zu machen und die unabhängigen Verwaltungssenate in echte Landesverwaltungsgerichte aufzuwerten.48 Das Ergebnis ging den Ländern zu weit. In einer außerordentlichen Landeshauptleutekonferenz erklärten sie einhel44
Vgl. den in Art. 1 Z 55 vorgeschlagenen neuen Art. 149a B-VG. Georg Lienbacher, Entwicklung und Zustand der Bundesstaatlichkeit in Österreich, in Josef Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 169 (187). 46 Vgl. die vorgeschlagenen Art. 11 Abs. 5, 78c B-VG. 47 RV 14 BlgNR 19. GP. 45
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lig, der Vorlage in dieser Form nicht zustimmen zu können. Dieser Beschluss war zwar verfassungsrechtlich irrelevant, weil die Konferenz als rein informelles Gremium ohne rechtliche Verankerung über keine Mitwirkungsrechte verfügt. Da die notwendige Zustimmung des Bundesrats damit äußerst unwahrscheinlich schien, wurde daraufhin die Vorlage von der Tagesordnung des Plenums genommen.49 Beschlossen wurde lediglich ein sogenanntes Begleit-Bundesverfassungsgesetz über die Mitwirkung österreichischer Organe an der Willensbildung im Rahmen der europäischen Integration.50 Es sah Regelungen vor, die sowohl den Ländern als auch dem Nationalrat ein Ausmaß von Einfluss gab, das über Art. 23 GG in einigen Punkten hinausgeht. Je nach dem, ob die betroffene Angelegenheit in die Gesetzgebung des Bundes oder der Länder fällt, ist die Bundesregierung bei Verhandlungen und Abstimmungen auf europäischer Ebene an eine Stellungnahme des Nationalrats oder an eine einheitliche Länderstellungnahme gebunden.51 Abweichungen sind nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen zulässig.52 Mit Wirksamwerden des Beitritts am 1. Jänner 1995 gab es für die Bundesstaatsreform zwar weiterhin Gründe, aber keinen Anlass mehr. Die Regierung brachte zwar ihre Vorlage in der 20. Legislaturperiode ein drittes Mal ein.53 Dem neuerlichen Vorstoß ermangelte es jedoch an Nachdruck, er wurde durch Alternativvorschläge relativiert,54 und die Vorlage versandete 48 Außerdem waren Erweiterungen von Bundeskompetenzen im Umweltbereich und stärkere verbandsübergreifende Kontrollrechte von Bundesorganen (Rechnungshof, Bundesumweltanwaltschaft, Einspruchsrecht des Finanzministers gegen Gesetzesbeschlüsse der Landtage) vorgesehen. Der Ausschussantrag ist wiedergegeben bei Peter Pernthaler/Gert Schernthanner, Bundesstaatsreform 1994, Österreichisches Jahrbuch für Politik 1994, S. 559 (585 ff.). 49 Über die eigentlichen Gründe, die die Landeshauptmänner zu einem Veto gegen die maßgeblich von den Ländern initiierten Reform bewogen haben, ist viel spekuliert worden, weil die vorgebrachten Argumente nur schwer nachvollziehbar waren und nicht bestimmend gewesen sein dürften (dazu Theo Öhlinger, Das Scheitern der Bundesstaatsreform, Österreichisches Jahrbuch für Politik 1994, S. 543 [543 f.]). Nach einer verbreiteten Einschätzung (Felix Ehrnhöfer, Bemerkungen zur Bundesstaatsreform, JRP 1994, S. 198 [201]) zählten die Landeshauptleute neben den Länder zu den Gewinnern der Reform. Mir will jedoch scheinen, dass ihnen dämmerte, dass sie ihre dominante Stellung im Land ihrer Schlüsselstellung in der mittelbaren Bundesverwaltung verdanken. 50 BGBl. 1994/1013. 51 Art. 23d Abs. 2 S. 1, 23e Abs. 2 S. 1. Vgl. weiters Art. 23e Abs. 6, der dem Bundesrat ein Stellungnahmerecht einräumt, sofern ein Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union zwingend durch ein Bundesverfassungsgesetz umzusetzen ist, das Kompetenzen der Länder auf den Bund überträgt. 52 Art. 23d Abs. 3, 23e Abs. 2 S. 2; Abs. 3 und 4 B-VG. 53 RV 14 BlgNR 20. GP.
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im Nationalrat. Die Anstrengungen verschoben und konzentrierten sich in weiterer Folge auf die Einführung einer echten Landesverwaltungsgerichtsbarkeit. Sowohl der Bund55 als auch die Länder56 legten Entwürfe vor, und zeitweise erschien eine Einigung in greifbarer Nähe. Die Meinungsverschiedenheiten über die konkrete Ausgestaltung sowie über Details der Kostentragung ließen sich jedoch bis zum Ende der Legislaturperiode nicht ausräumen. Nach den Wahlen 1999 kam mit der großen Koalition auch die Verfassungsmehrheit im Nationalrat abhanden. Die vormaligen Träger einer Verfassungspartnerschaft standen sich als fast schon feindliche Lager gegenüber. II. Föderalismusreform im Österreich-Konvent Aus dieser Pattstellung führte erst ein Vorschlag des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden im Herbst 2002 heraus. Er kündigte die Bereitschaft seiner Partei an, nach den Wahlen in einem Konvent an der grundlegenden Erneuerung der österreichischen Bundesverfassung mitzuwirken. Nachdem die Wahlen die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ bestätigt hatten, griff die Regierung in ihrem Programm für die XXII. Gesetzgebungsperiode diesen Vorschlag bereitwillig auf. Die Bundesstaatsreform war damit wieder auf dem Tapet, sie stand auf der Prioritätenliste ganz oben, und es ist rückblickend schwer zu klären, ob sie nicht von Anfang an als Sollbruchstelle angelegt war. Stellungnahmen im Vorfeld, die überwiegend von der Wirtschaft und von konservativen Vordenkern ausgingen, versahen die Bundesstaatlichkeit mit einem Fragezeichen und trafen damit in den Medien auf ein bemerkenswert positives Echo.57 Die Länder befürchteten deshalb in der Anfangsphase das Schlimmste und fanden sich zu einer Mitarbeit im Konvent nur unter der Bedingung einer star54 Peter Kostelka, damals Klubobmann der SPÖ, präsentierte am 4.11.1997 eigene „Vorschläge für eine tiefgreifende Reform des Bundesstaates“, die den Empfehlungen der Strukturreformkommission näher kamen als die RV zur Bundesstaatsreform. 55 Initiativantrag der Abgeordneten Kostelka, Khol und Kollegen (Klubobmänner der großen Koalition) vom 23.6.1995, IA Nr. 306/A, 19. GP. 56 Länderentwurf vom 20. Mai 1998 betreffend ein Bundesverfassungsgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz geändert wird (6. Hauptstück zur Landesverwaltungsgerichtsbarkeit), abgedruckt bei Christoph Grabenwarter, Auf dem Weg zur Landesverwaltungsgerichtsbarkeit, JRP 1998, S. 269 (283 ff.). 57 Zusammenfassungen bei Armin Mühlböck/Alexander Neunherz/Andreas Strasser/Christine Tyma, Föderalismus in Österreich – Jänner 2002 bis Februar 2003: Zwischen Stillstand und Umbruch, in: Jahrbuch des Föderalismus 2003, S. 204 (212 f.), und Peter Bußjäger, Der Österreich-Konvent als Chance oder Inszenierung? – der Bundesstaat Österreich vor einem neuen Anlauf der Verfassungsreform, in: Jahrbuch des Föderalismus 2004, S. 248 (248).
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ken Vertretung bereit.58 Die Gefahr einer Abschaffung des Bundesstaates war freilich niemals eine reale. Schon die Gründungsdokumente gaben dem Konvent die Bundesstaatlichkeit mit auf den Weg.59 1. Weichenstellungen am Beginn: Die Mandate der Ausschüsse Erstaunlicherweise sah man im Konvent davon ab, einen Ausschuss einzurichten, der eine integrierte Reform der bundesstaatlichen Ordnung hätte beraten können. Die föderalistischen Themen wurden trotz ihres sachlichen Zusammenhangs auseinander gerissen und auf sechs Ausschüsse verteilt. Einem Ausschuss war die Erarbeitung einer neuen Kompetenzverteilung in der Gesetzgebung zugewiesen;60 ein zweiter sollte sich mit der Verteilung der Verwaltungszuständigkeiten beschäftigen,61 und ein dritter hatte über die Landesverwaltungsgerichtsbarkeit zu beraten.62 Und damit nicht genug: Einem vierten Ausschuss oblag die Neuordnung der Finanzverfassung;63 die künftige Zusammensetzung der Länderkammer sollte fünftens im Ausschuss über die staatlichen Institutionen entschieden werden;64 und als sechster Ausschuss war schließlich auch der Ausschuss über „Legistische Strukturfragen“ am Rande mit bundesstaatlichen Themen befasst.65 Diese Segmentierung hat die Arbeiten der Ausschüsse wesentlich erschwert. Sie liegt aber ganz auf der Linie österreichischer Bundesstaatlich58
Unter den 70 Mitgliedern rangierten 18 Ländervertreter und 18 Vertreter der im Nationalrat und Bundesrat vertretenen politischen Parteien. Über die Zusammensetzung und ihre Veränderungen informiert der Bericht des Österreich-Konvents [vom 21.1.2005, ohne Datum], Teil 1, S. 14 ff. Er liegt mittlerweile im Druck vor (Büro des Österreich-Konvents [Hrsg.], Bericht des Österreich-Konvents, 4. Bd., 2005) und ist wie alle Konventsdokumente zugänglich über www.konvent.gv.at (9.5.2005). 59 Vgl. den Beschluss des Gründungskommitees des Österreich-Konvent vom 2.5.2003, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 1, S. 4: „Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung (also das demokratische Prinzip, das bundesstaatliche Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und die republikanische Staatsform) bleiben aufrecht.“ 60 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 5 sowie die Ergänzungsmandate, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 25 f., 27 f. 61 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 6 sowie die Ergänzungsmandate, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 29 f., 31 ff. 62 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 9 sowie die Ergänzungsmandate, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 52 f., 54 ff. 63 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 10, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 62 ff. 64 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 3, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 15 ff. 65 Vgl. das Mandat für den Ausschuss 2 sowie die Ergänzungsmandate, abgedruckt im Bericht (FN 58), Teil 2, S. 7 ff., 10 ff.
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keit. Unter föderalistischen Aspekten war wie schon in der Monarchie lediglich die Aufteilung der Gesetzgebungsagenden ein Thema. Die Verwaltung wurde als einheitliche Funktion begriffen, die im Zusammenwirken der beiden föderalen Partner nach einheitlichen Grundsätzen zu besorgen ist und die von einheitlich organisierten Verwaltungsgerichten anhand ebenso einheitlicher Maßstäbe kontrolliert wird. Die Aufteilung von sachlich Zusammengehörigem zwingt mich, über mehrere Ausschüsse zu berichten. Ich werde den Schwerpunkt auf die Gesetzgebungskompetenzen legen und versuchen, von dort aus den Anschluss zu den übrigen Ausschüssen zu finden. 2. Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen Der Ausschuss 5 des Konvents, in dem die Gesetzgebungskompetenzen zur Beratung standen, hatte es einfach und schwierig zugleich. Er war in der angenehmen Situation, sich nicht lange mit der Diagnose aufhalten zu müssen, weil insoweit die Arbeit durch die Strukturreformkommission längst getan war. Die Ziele, die sich der Ausschuss setzte, ergaben sich deshalb fast von selbst.66 Er wollte • erstens die Anzahl der Kompetenztypen reduzieren, um die Verteilung transparenter zu gestalten, • zweitens die Kompetenzverteilung insgesamt flexibler gestalten, um insbesondere auf die Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft und der Union besser reagieren zu können, • drittens abgerundete Aufgabenfelder schaffen, um die verloren gegangene Einheit von Kompetenz, Aufgabe und Verantwortung wiederherzustellen. Den größten Teil seiner Arbeitszeit und Arbeitskraft hat der Ausschuss in die Entwicklung des Grunddesigns einer neuen Kompetenzverteilung investiert.67 Auf der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen System wurden vor allem drei Modelle erwogen: ein mittlerweile allgemein „Drei-Säulen-Modell“ genanntes System, das ausschließliche Bundeskompetenzen, ausschließliche Landeskompetenzen und geteilte bzw konkurrierende Kompetenzen vorsieht, ein Zwei-Säulen-Modell, das auf konkurrierende Kompetenz verzichtet, und schließlich das Modell einer gemeinsamen Landesgesetzgebung. Die beiden letztgenannten Gegenmodelle zu den Art. 10 bis 15 B-VG sind jedoch Außenseiterpositionen geblieben. Auch über das Drei-Säulen-Modell konnte kein vollständiges Einvernehmen erzielt werden.68 Sein Erfolg beruht nicht zuletzt darauf, dass die ein66 67
Bericht des Ausschusses 5 vom 4.3.2004, S. 11. Bericht A 5 (FN 66), S. 11 ff.
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zelnen Mitglieder des Ausschusses mit ihm unterschiedliche Vorstellungen verbunden haben und dass es am besten in der Lage war, die verschiedenen Anliegen aufzunehmen. Ich werde versuchen, in aller Kürze darzustellen, über welche Punkte Konsens bestand und in welchen Bereichen es Auffassungsunterschiede gab, die bis zum Schluss nicht ausgeräumt werden konnten. a) Das Drei-Säulen-Modell: Konsenspunkte und Dissensfelder Als wenig kontrovers haben sich die erste sowie die zweite Kompetenzsäule erwiesen. In der ersten Säule sollen nach dem Muster des Art. 10 B-VG die ausschließlichen Bundeskompetenzen versammelt werden. Übereinstimmung bestand ferner darin, dass die Möglichkeit einer Delegation der Kompetenz an die Länder durch den Bundesgesetzgeber, die heute auf die Angelegenheiten des Art. 10 Abs. 1 Z 10 B-VG beschränkt ist, für alle in dieser ersten Säule aufgezählten Angelegenheiten zur Verfügung stehen soll.69 Eine Minderheit im Ausschuss trat sogar für eine auch in Deutschland breit diskutierte Opting-Out-Möglichkeit der Länder ein, die in die Nähe eines generellen Vorranges des Landesrechts vor dem Bundesrecht geraten würde. In der zweiten Säule, die die ausschließlich in die Landesgesetzgebung fallenden Angelegenheiten enthalten soll, wurden ebenfalls Instrumente einer Kompetenzübertragung diskutiert, aber überwiegend mit der Begründung abgelehnt, dass derartige Angelegenheiten in die flexibel konzipierte dritte Säule gehören. Diese ominöse dritte Säule bildet den Kern des Modells, und sie ist weniger neu und originell, als die bisherige Diskussion suggeriert. Nach dem Muster des Bonner Grundgesetzes soll ein Kompetenztyp gemeinsamer oder geteilter Angelegenheiten geschaffen werden, die beide Gebietskörperschaften konkurrierend gesetzlich regeln können. Obwohl der Typus meist als konkurrierende Gesetzgebung bezeichnet ist, handelt es sich in Wahrheit um alternativ-ausschließliche Kompetenzen, weil die Länder ihre Befugnis zur Erlassung von Normen nur soweit und solange behalten, als der Bund von seiner Kompetenz keinen Gebrauch gemacht hat. Eine solche dritte Säule soll die Kompetenzverteilung insgesamt beweglicher machen. Innerhalb der gemeinschaftlichen Angelegenheiten ist die Kompetenzgrenze nicht ein für alle mal festgelegt, sondern kann den aktuellen Regelungsbedürfnissen angepasst werden. 68 69
Vgl. den Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 109 ff. Bericht A 5 (FN 66), S. 15.
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Eine echte Innovation, für die es meines Wissens kein Vorbild gibt, bildet jedoch ein wichtiges Detail der Konzeption: In dieser dritten Säule soll auch die Generalklausel angesiedelt sein,70 sodass jede Aufgabe, die nicht entweder dem Bund oder den Ländern zugewiesen ist, grundsätzlich von beiden Gebietskörperschaften besorgt werden kann. Die Bewältigung einer neuen, in den Kompetenzkatalogen nicht enthaltenen und deshalb bei ihrer Erstellung regelmäßig auch nicht bedachten Aufgabe kann nicht mehr daran scheitern, dass der allein kompetente föderale Partner seine Gesetzgebungsbefugnis brach liegen lässt. Das System wird insgesamt flexibler, und es wird dadurch auch kompetitiver. Der Ausschuss ging weiters übereinstimmend davon aus, dass der Bund innerhalb der dritten Säule keine abschließenden Regelungen erlassen muss, sondern sich auf die Vorgabe von Zielen, Grundsätzen oder Rahmenregelungen beschränken kann. Die in Art. 12 Abs. 4 B-VG vorgesehene Bezeichnungspflicht für solche nicht unmittelbar anwendbare Bestimmungen soll erhalten bleiben.71 Damit ist die Liste jener Punkte, über die weitgehende Einigkeit erzielt werden konnte, auch schon erschöpft. Auf alle weiteren Fragen gab es ganz unterschiedliche Antworten. Strittig war zunächst, unter welchen Voraussetzungen der Bund auf die Angelegenheiten der dritten Säule zugreifen darf.72 Eine Seite wollte dies in das politische Ermessen des Bundes stellen und die dritte Säule als subjektive Bedarfskompetenz ausgestalten: Nach dem Vorbild der klassischen Bedarfskompetenz, jener für das Verwaltungsverfahren, soll es genügen, wenn der Bund ein Bedürfnis nach einheitlicher Regelung als vorhanden erachtet. Die Gegenseite plädierte für objektive Kriterien, deren Einhaltung vom Verfassungsgerichtshof überwacht werden kann, und wollte aus dem Bonner Grundgesetz die Kriterien „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ und „Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“ als Richtschnur übernehmen. Die Differenzen setzten sich bei Beurteilung der Befugnisse des Bundesrates fort.73 Einer ersten Auffassung zufolge sollte er zwar früher und intensiver als bisher in das Verfahren einbezogen werden; wenn aber auch Versuche der Vermittlung in einem gemeinsamen Ausschuss scheitern, sollte jedoch ähnlich wie bisher dem Nationalrat das letzte Wort bleiben. Eine zweite Meinung wollte dem Bundesrat in allen Angelegenheiten der dritten Säule das Recht der Zustimmung einräumen. Nach einer dritten Position soll 70 71 72 73
Bericht Bericht Bericht Bericht
A A A A
5 5 5 5
(FN (FN (FN (FN
66), 66), 66), 66),
S. S. S. S.
18. 18. 19 f.; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 110 ff. 20 f.; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 128 ff.
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der Bundesrat zwar konkrete Gesetzgebungsverfahren innerhalb der dritten Säule nicht blockieren können, aber die Befugnis erhalten, durch eine Feststellung des Bedarfs nach einer einheitlichen Regelung den Weg für eine Regelung auf Bundesebene zu öffnen oder ihn verschlossen zu halten. Eine letzte Front betraf das Rangverhältnis innerhalb der dritten Säule. Ein Teil der Mitglieder plädierte für die Verankerung der Regel Bundesrecht bricht Landesrecht; ein anderer Teil wollte es bei der lex-posteriorRegel belassen.74 Die Auffassungsunterschiede gingen quer durch die politischen Lager. Und sie lassen sich auf einen Fundamentaldissens zurückführen. Im Kern ging es um die Entscheidung, ob für die Gesetzgebung in der dritten Säule ein Zusammenwirken von Bund und Ländern, in welcher Form auch immer, erforderlich sein sollte, oder ob die Zuständigkeiten entflochten bleiben sollten. Die Ländervertreter im Ausschuss, egal welcher Couleur, plädierten für ein Verbundsystem und machten sich für eine starke Rolle des Bundesrates stark, während die Bundesvertreter, allen voran die Wirtschaftskammer Österreich, Blockaden und deutsche Verhältnisse befürchteten. Die politischen Parteien taten sich in dieser Situation schwer, die internen Interessensgegensätze auszugleichen und zu einer gemeinsamen Linie zu finden. Hier wie dort gelang eine gemeinsame Position nur um den Preis weitgehender Zugeständnisse an die eigenen Ländervertreter. Der in der letzten Phase der Konventsarbeiten eingebrachte Vorschlag der Sozialdemokraten für eine neue Kompetenzverteilung75 übernahm das zuvor vom Land Wien propagierte Modell einer Bedarfsfeststellung durch den Bundesrat. Der darauf erwidernde Vorschlag der ÖVP76 verlangte eine Zustimmung des Bundesrates, die an das Erfordernis einer doppelten Mehrheit geknüpft war. Sowohl die unbedingte Mehrheit der abgegebenen Stimmen als auch eine Mehrheit der Bundesratsabgeordneten von mindestens fünf Ländern musste den Gesetzesbeschluss des Nationalrats gutheißen. Noch weiter ging der Vorschlag der Länder.77 Ihm zufolge war das Zustandekommen von Bundesgesetzen in der dritten Säule sowohl von einer Zustimmung des Bundesrates als auch von einer Zustimmung der Länder abhängig, und die Zustimmung der Länder sollte mit einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln zu erteilen sein. Das hätte bedeutet, dass drei Bun74
Bericht A 5 (FN 66), S. 22. Eingebracht am 5.11.2004, abgedruckt im Bericht des Konvents (FN 58), Teil 4A, S. 145 ff. 76 Eingebracht am 26.11.2004, abgedruckt im Bericht des Konvents (FN 58), Teil 4A, S. 160 ff. 77 Er ist dem Bericht des Konvents (FN 58) als Teil 4C angeschlossen. 75
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desländer einen Beschluss hätten blockieren können, und dies im Extremfall selbst dann, wenn die Mehrheit ihrer Vertreter im Bundesrat zuvor der Maßnahme zugestimmt hatte. Im Unterschied zu diesen Vorschlägen, die allesamt ein mehr oder weniger ausgeprägtes Verbundsystem vorsehen, ist der vom Vorsitzenden des Konvents Fiedler erarbeitete Entwurf 78 um Trennungen bemüht. In den Angelegenheiten, in denen die Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern geteilt sind, soll der Bund Gesetze erlassen können, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ Gesetzesvorschläge, die sich auf diesen Tatbestand gründen, sind nach ihrem Einlangen im Nationalrat dem Bundesrat zu übermitteln. Sofern der Bundesrat das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Bundeskompetenz bestreitet, ist innerhalb von vier Wochen ein paritätisch zusammengesetzter Vermittlungsausschuss einzuberufen. Bejaht er das Vorliegen der Voraussetzungen, kann das Verfahren fortgesetzt werden, verneint er sie, so ist das Verfahren abzubrechen. Kommt eine Entscheidung infolge Ablaufs der Frist von vier Wochen oder infolge Stimmengleichheit nicht zustande, so kann der Bundesrat innerhalb von vier Wochen den Verfassungsgerichtshof anrufen mit der Folge, dass bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung das Verfahren unterbrochen bleibt. Unterlässt er eine Befassung des Verfassungsgerichts, ist der Weg für eine bundesgesetzliche Regelung frei. Die Bestimmungen über die Kompetenzverteilung zählten zu jenen Partien, in dem der Fiedler-Entwurf am heftigsten kritisiert worden ist. Sowohl Ländervertreter als auch Vertreter der ÖVP haben sich dagegen verwahrt, ihn zur Grundlage einer neuen Bundesverfassung zu machen. Es hat fast den Eindruck, als seien wir heute nach Abschluss der Konventsarbeit von einer Einigung weiter entfernt als in der Halbzeit der Beratungen. b) Die konkrete Aufgabenverteilung Ähnlich mühsam wie die Diskussion der Ausgestaltung der dritten Säule gestaltete sich die Debatte über die Formulierung der Aufgabenfelder und über ihre Aufteilung auf die drei Säulen. Das Ziel dieser Arbeit war allgemein akzeptiert: An ihrem Ende sollten statt hunderten von Aufgabenpartikeln ein Katalog von ungefähr fünfzig Zuständigkeitsfeldern stehen. Der Weg dahin war allerdings steinig. Um die Diskussion über die Bildung umfassender Materien nicht unnötig zu belas78
Bericht des Konvents (FN 58), Teil 4B, Art. 91 ff.
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ten, war der Ausschuss bestrebt, zunächst die neuen Tatbestände zu formulieren und erst dann in die Debatte über ihre Zuweisung an den Bund oder an die Länder einzutreten. Es ist jedoch weitgehend beim Versuch geblieben, weil die Zuordnungsfrage schon die Definitionsentscheidungen massiv beeinflusst hat. Rückblickend ist es kaum übertrieben, von einer Art „Gerrymandering“ von Kompetenzen zu sprechen. Sowohl die Ländervertreter im Ausschuss als auch die Anwälte von Bundesinteressen setzten sich für Aufgabenfelder ein, die angestammtes Hausgut ihrer Gebietskörperschaft und sachlich verwandte Kompetenzen des föderalen Partners auf eine Art und Weise verbanden, die möglichst große Mitnahmeeffekte für ihre Seite brachte.79 Schon aus diesem Grund bewegen sich die Vorschläge, allen Rufen nach grundsätzlichen Neuorientierungen zum Trotz, in der Nähe der heutigen Verteilung. Eine weitere Schwierigkeit erwuchs aus dem Bedürfnis, das Verhältnis zwischen neuen Aufgabenfeldern und den Kompetenztatbeständen der geltenden Verfassung zu bestimmen. Die meisten Initiativen ordneten in den Erläuterungen durch Entsprechungslisten alte Tatbestände den neuen Aufgabenfeldern zu. Nicht selten fanden sich in den Erläuterungen Zuordnungen, die man aufgrund der Formulierung des neuen Aufgabenfeldes niemals vermutet hätte. Aufgrund des hohen Stellenwertes, den die historische Auslegung in der österreichischen Praxis genießt, bergen diese Konkordanztabellen die Gefahr, die Kleinteiligkeit des alten Systems in die neue Kompetenzordnung zu übernehmen. Nähme man die Erläuterungen ernst und behandelte die Zuordnungen als erschöpfend – und die Vorschläge gehen überwiegend in diese Richtung –, dann änderte sich erstens im Ergebnis nur die Oberfläche. Zweitens wäre mit der neuen Begrifflichkeit im Abschnitt über die Kompetenzverteilung wohl die Integrationsfunktion der neuen Konstitution insgesamt entwertet: Eine Verfassung, deren Begriffe in die Irre führen, weil ihre Bedeutungen und die Intentionen der Autoren auseinander klaffen, ist von Beginn an nachhaltig diskreditiert. Dem Konvent ist es nicht gelungen, sich auf eine neue Kompetenzverteilung zu einigen. Neben Differenzen über die Zuordnung einiger umkämpfter Bereiche, zu den insbesondere die Sondergewerberechtskompetenzen der Länder, das Veranstaltungsrecht, das Energierecht und das Umweltrecht zählten,80 konnte bis zum Schluss ein Grunddissens über die dritte Säule nicht restlos ausgeräumt werden. Eine Strömung wollte diesen Bereich 79
So propagierte die Bundesseite eine Bundeskompetenz für Angelegenheiten der Wirtschaft, um Sondergewerberechtskompetenzen der Länder auf den Bund zu übertragen, die Landesseite dagegen eine Landeskompetenz für Sport und Tourismus, um die bestehenden Zuständigkeiten auszubauen. 80 Einen Überblick über die strittigen Punkte gibt der Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 116 ff.
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möglichst breit anlegen, um sie als Instrument zur Bewältigung von Querschnittsmaterien nutzen zu können und um die Länder für Einbrüche in ihr Hausgut durch die Eröffnung einer konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis in anderen, ihnen bisher zur Gänze verschlossenen Bereichen zu entschädigen. Die von den Vertretern der Praxis favorisierte Gegenauffassung sah in den gemeinsamen Angelegenheiten eher ein notwendiges Übel und war deshalb bestrebt, die dritte Säule so schlank wie möglich zu halten. Die Auffassungsunterschiede sind jedoch nicht dermaßen fundamental, dass sie sich nicht mit ein wenig gutem Willen überbrücken ließen. Im Ausschuss 5 haben alle Beteiligten ihre Positionen markiert, und sowohl der Bund als auch die Länder verfügen über hinreichend Spielraum, zumal es anders als in Deutschland an Schlüsselmaterien mangelt, in die sich beide Seiten nachgerade verbissen haben. Politische Verhandlungen haben deshalb gute Chancen. Das mag man auch daran ersehen, dass die in der Endphase erstatteten Vorschläge der beiden Großparteien und der Ländern in vielen Bereichen konvergieren. Verhandlungen können aber sinnvoller Weise erst beginnen, nachdem über die Willensbildung in der dritten Säule Klarheit besteht. Bevor dieser Stolperstein nicht aus dem Weg geräumt ist, bleibt die Diskussion akademisch. Als solche ist sie allerdings nicht ohne Sinn. Der Konvent hat immerhin bewiesen, dass es möglich ist, die Kompetenztatbestände drastisch zu reduzieren und die Kompetenzverteilung wesentlich zu vereinfachen. 3. Verteilung der Vollziehungskompetenzen Die Diskussion über die Kompetenzverteilung in der Vollziehung wurde im Ausschuss 6 geführt. Sie hat sich, was im Lichte des dem Ausschuss erteilten Mandates verständlich war, ganz auf die mittelbare Bundesverwaltung81 konzentriert. Die Abschaffung dieses Vollzugstyps schien schon vor zehn Jahren vor der Tür zu stehen und mit Beginn der Arbeiten im Konvent wieder in greifbare Nähe zu rücken, zumal das Regierungsprogramm 2003 explizit ihre Auflassung propagierte.82 Zur Überraschung vieler hat der Ausschuss 6 aber der Beibehaltung des gegenwärtigen Systems eine Lanze gebrochen.83 81 Unter mittelbarer Bundesverwaltung ist gemäß Art. 102 Abs. 1 B-VG die Ausübung der Vollziehung des Bundes durch den Landeshauptmann und die ihm unterstellten Landesbehörden zu verstehen. Dieses Vollzugsmodell, das in etwa der Bundesauftragsverwaltung durch die Länder nach Art. 85 GG entspricht, bildet den verfassungsrechtlichen Regelfall: Durch eigene Behörden darf der Bund ohne Zustimmung der beteiligten Länder nur jene Angelegenheiten vollziehen, die in Art. 102 Abs. 2 B-VG genannt sind. 82 Regierungsprogramm der Österreichischen Bundesregierung für die XXII. Gesetzgebungsperiode, S. 2.
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Der Ausschussbericht führt für diese Abschaffung der Abschaffung zwei Argumente ins Feld:84 Durch die Vollzugstätigkeit im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung könnten zum einen wichtige Informationen für die Bundesebene gewonnen werden. Europäische und internationale Meldepflichten erfordern einheitliche Erhebungsstandards im ganzen Bundesgebiet sowie die Zugänglichkeit der entsprechenden Daten.85 Zum anderen mache die politische Verantwortung der zuständigen Bundesminister Steuerungsbefugnisse nötig, die mit der Beseitigung der mittelbaren Bundesverwaltung entfallen würden. Außerdem würde die Gewährleistung eines bundeseinheitlichen Vollzuges erschwert. Beide Argumente sind dermaßen wenig überzeugend,86 dass sie nur notdürftig zu kaschieren vermögen, dass in Wahrheit ein realpolitischer Grund für die Aufrechterhaltung der mittelbaren Bundesverwaltung den Ausschlag gab. Die Länder, die bis 1994 ihre Beseitigung gefordert hatten, treten mittlerweile vehement für die Beibehaltung der mittelbaren Bundesverwaltung ein, weil die Landeshauptleute begriffen haben, dass sie ihre Schlüsselstellung im politischen Machtgefüge des Landes allein der mittelbaren Bundesverwaltung verdanken. Als Landesorgan ist der Landeshauptmann ein Mitglied der Landesregierung, der zwar primus inter pares ist, weil er den Vorsitz führt und der über Kompetenz protokollarischer Natur verfügt, der aber noch nicht einmal über eine Richtlinienkompetenz verfügt. Seinen Kolleginnen und Kollegen in der Landesregierung übergeordnet und ihnen gegenüber zu Weisungen befugt ist der Landeshauptmann allein aufgrund jener Rolle, die ihm die Bundesverfassung in der mittelbaren Bundesverwaltung zuweist. 4. Einführung einer Landesverwaltungsgerichtsbarkeit Im Rahmen der Diskussion über die Verwaltungsgerichtsbarkeit spielten bundesstaatliche Überlegungen ebenfalls eine gewisse Rolle: Mit der Einführung von Landesverwaltungsgerichten würde den Ländern ein Zugang zur Gerichtsbarkeit eröffnet, die gegenwärtig ausschließlich vom Bund ausgeht. Erfreulicherweise hat der Ausschuss 9 einen Konsens für die Einführung von Verwaltungsgerichten erster Instanz gefunden, die dem Verwaltungsgerichtshof vorgeschaltet werden sollen. Er hat sich hierbei nicht für eine reine Landesverwaltungsgerichtsbarkeit entschieden, sondern für ein 83
Zusammenfassung im Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 134 ff. Bericht des Ausschusses 6 vom 23.3.2004, S. 11 f. 85 Der Bericht weist auf das Berichtspflichtengesetz BGBl I 2002/65 sowie auf „die hohe Bedeutung eines kooperativen Datenaustausches zwischen den Gebietskörperschaften“ hin. 86 Für eine Kritik vgl. Wiederin, Bundesstaat neu (FN 3), S. 66 ff. 84
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gemischtes System, das im Ausschussbericht mit dem Schlagwort „9 + 1Modell“ bezeichnet wurde,87 das im Endbericht aber zutreffend als „9 + x-Modell“ etikettiert ist,88 weil es die Option mehrerer Bundesverwaltungsgerichte erster Instanz offen hält. Da durch diese Festlegung auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Weichen in Richtung eines Verbundsystems gestellt waren, stand der Ausschuss vor der Frage, welche Angelegenheiten in erster Instanz den Landesverwaltungsgerichten und welche Agenden der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundes zugewiesen werden sollen. Er hat hierauf keine klare Antwort gefunden. Sein Bericht informiert darüber, dass eine Strömung im Ausschuss die Zuordnung in die Kompetenz des Organisationsgesetzgebers legen will, während die Gegenrichtung eine Zuweisung durch den Materiengesetzgeber präferiert.89 Als dritte und vermittelnde Lösung wurden außerdem Art. 15a-Vereinbarungen erwogen.90 Hieraus muss man schließen, dass die Zuordnung selbst flexibel ausgestaltet sein und weder mit der Einordnung der betroffenen Angelegenheit in die Vollziehungskompetenz noch mit der organisatorischen Stellung der belangten Behörde als Bundes- oder Landesorgan zwingend etwas zu tun haben muss. Einigkeit bestand hingegen in der Frage, welcher Gebietskörperschaft die Regelung des Verfahrens und der Organisation obliegen soll. Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte soll einheitlich – und zwar offenbar unter Ausschluss der Möglichkeit abweichender Regelungen, wie sie in Art. 11 Abs. 2 B-VG vorgesehen ist – durch den Bundesgesetzgeber erlassen werden, während das Organisationsrecht in die Kompetenz der errichtenden Gebietskörperschaft fallen soll.91 Alles in allem liegt der Bericht des Ausschusses 9 auf derselben Linie wie der Bericht des Ausschusses 6. Die Verwaltungskontrolle wurde im Konvent ebenso wie die Verwaltung als einheitliche Funktion begriffen, die durch Bundes- und Landesorgane gemeinsam besorgt wird.92 87
Bericht des Ausschusses 9 vom 26.3.2004, S. 23. Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 211. 89 Bericht A 9 (FN 87), S. 25. 90 Bericht A 9 (FN 87), S. 35. 91 Bericht A 9 (FN 87), S. 25, 56; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 213. 92 Kritisch bleibt anzumerken, dass auch die Trennungsfunktion der Gewaltenteilung im Ausschuss teilweise auf der Strecke zu bleiben droht. Nachdem Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag und andere Sonderverwaltungsbehörden mit Kontrollfunktion in gewissem Umfang beibehalten werden können (vgl. Bericht A 9 [FN 87], S. 33 f., Bericht des Konvents [FN 58], Teil 3, S. 217), werden Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof künftig teils gegen Akte der Gerichtsbarkeit, teils gegen Akte der Verwaltung angerufen werden können. 88
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5. Finanzverfassung Im Mittelpunkt der Bemühungen um eine Reform der Finanzverfassung stand eine Debatte über Grundsätze. Von verschiedenen Seiten wurde vorgeschlagen, die finanziellen Beziehungen zwischen den Gebietskörperschaften und die Verteilung der Mittel auf sie durch die Vorgabe von Staatszielen zu determinieren. Eine erste Forderung betraf das Prinzip des ausgeglichenen Haushalts. Nach der konkreten Ausgestaltung sollte es als Schuhlöffel für eine Bundeskompetenz für die Haushaltskoordinierung dienen,93 und es stieß vor allem aus diesem Grund bei den Ländern und bei den Gemeinden auf Widerstand.94 Ein zweiter Vorstoß propagierte die Beibehaltung des schon heute in Art. 13 Abs. 2 B-VG verfassungsrechtlich verankerten gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Staatsziel und wollte es durch das Instrument einer Schuldenbremse effektuieren.95 Dagegen wurde zum einen der Vorwurf der Unklarheit erhoben, zum anderen wurde eine Überfrachtung mit Zielen befürchtet.96 Als drittes Ziel stand die Parität der Gebietskörperschaften zur Diskussion.97 Es wurde von den Ländern und von den Gemeinden propagiert, die unter Berufung auf eine gleichberechtigte Partnerschaft von Bund, Ländern und Gemeinden Mitwirkungsrechte in Bezug auf den Finanzausgleich und die Steuergesetze einforderten. Der Bund lehnt diesen Vorstoß unter Hinweis auf seine Verantwortung auf der europäischen Ebene ab. Die Verwirklichung strikter Parität zwischen Ländern und Gemeinden stieß demgegenüber auf Seiten der Länder auf Vorbehalte. Im Allgemeinen setzten sich die Gemeinden jedoch mit ihrer Forderung nach Anerkennung als gleichwertiger Partner durch: Sowohl die Grundsatzbemerkungen des Ausschusses98 als auch die konkreten Vorschläge99 zeigen, dass die künftige Finanzverfassung nicht mehr zweigliedrig, sondern dreigliedrig konzipiert sein soll. Grundsätzlich akkordiert werden konnte hingegen der Grundsatz der Zusammenführung von Einnahmen-, Ausgaben- und Aufgabenverantwor93
Bericht des Ausschusses 10 vom 15.7.2004, S. 11 ff. Bericht A 10 (FN 93), S. 13; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 225. 95 Bericht A 10 (FN 93), S. 15 ff. 96 Bericht A 10 (FN 93), S. 17; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 228. 97 Bericht A 10 (FN 93), S. 20 f.; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 230 f. und 238 ff. 98 Bericht A 10 (FN 93), S. 34; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3. S. 242. 99 Vgl. die Textvorschläge im Ergänzungsbericht des Ausschusses 10 vom 30.11.2004, S. 13, 15. 94
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tung.100 Die Überstimmung der Auffassungen geht jedoch in erster Linie auf den Umstand zurück, dass alle Seiten mit diesem Grundsatz Verschiedenes verbanden. Die Grünen, aber auch der Bund und die Gemeinden wollten den Ländern in stärkerem Maße als bisher Steuerhoheit einräumen.101 Die Länder lehnten diesen Vorschlag mit Nachdruck ab und plädierten im Gegenzug für eine langfristig rechtliche Absicherung eines ihren Aufgaben entsprechenden Anteils am Steueraufkommen.102 Von keiner Seite wurde der Zusammenführungsgrundsatz jedoch als radikale Absage an das derzeitige Verbundsystem gewertet.103 Einen letzten Streitpunkt bildete die Ausgestaltung des Finanzausgleichs. Hier waren die Fronten ebenso klar wie starr:104 Der Bund beharrte für den Fall des Scheiterns von Verhandlungen auf seiner Kompetenz-Kompetenz, während die Länder und die Gemeinden unter Berufung auf den Paritätsgrundsatz Zustimmungsrechte einforderten. Auch die Rechtsform blieb umstritten: Teils wurde für die Beibehaltung der Gesetzesform plädiert, teils für die Fixierung der Ergebnisse der Finanzausgleichsverhandlungen in einem Paktum zwischen den Gebietskörperschaften, das dem Verfassungsgerichtshof bei der Prüfung des Finanzausgleichsgesetzes als Maßstab zu dienen hätte.105
C. Lehren aus dem Scheitern? Versuch eines Ausblicks I. Vom Nachbarn lernen? Föderalismusreformen im Vergleich Auf den ersten Blick sind die Gemeinsamkeiten zwischen der österreichischen und der deutschen Reform des Bundesstaates frappierend. Neben der zeitlichen Koinzidenz springt vor allem die Wahl der Methode ins Auge: Beide Staaten haben die Reform in die Hände eines ad hoc eingesetzten, aus Politikern und Experten zusammengesetzten Gremiums gelegt. Von ihm erwartete man sich offenbar bessere Lösungen als vom verfassungsrechtlich vorgegebenen parlamentarischen Prozess mit seinem vielfältigen Blockadepotential. Diese Hoffnung ist hier wie dort enttäuscht wor100
Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 231 f. Bericht A 10 (FN 93), S. 22 f. 102 Bericht A 10 (FN 93), S. 21 f. 103 Vgl. Bruno Rossmann, Reform der Finanzverfassung – bitte warten! Braucht Österreich eine neue Finanzverfassung? in: Daniela Graf/Franz Breiner (Hrsg.), Projekt Österreich, 2005, S. 131 (140 ff.). 104 Vgl. den Überblick über die Positionen im Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 241. 105 Vgl. Bericht A 10 (FN 93), S. 33 f.; Bericht des Konvents (FN 58), Teil 3, S. 242. 101
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den. Weder im Österreich-Konvent noch in der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung ist ein Brückenschlag zwischen den zentralistischeren und den föderalistischeren Strömungen gelungen. Außer der Zeit, der Methode und dem Ergebnis hatten die Reformbemühungen diesseits und jenseits der Grenze jedoch nur wenig gemein. Als erster Unterschied springt die eine völlig andere Grundrichtung der Reform ins Auge.106 In Deutschland bildet die Entflechtung den bestimmenden Topos.107 Die Reduktion des Anteils jener Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates unterliegen sollten, bildete ebenso ein allgemein anerkanntes Reformanliegen wie die Stärkung der Landtage; Schlagworte wie Trennung der Verantwortungen und Wettbewerbsföderalismus gaben die Richtung vor. In Österreich rang man demgegenüber um eine stärkere Verflechtung – und scheiterte in der Bestimmung ihres rechten Maßes. Die Einführung eines neuen Kompetenztyps von gemeinschaftlichen Aufgaben erschien nahezu akkordiert; erst bei der Diskussion um die Stärkung der Befugnisse des Bundesrates gingen die Auffassungen auseinander. Ein zweiter Unterschied liegt im Grund für den Misserfolg der Bemühungen um eine Reform. In Deutschland war hiefür ausschlaggebend, dass sich der Dissens über die Zuordnung konkreter Sachaufgaben, allen voran der Bildung, bis zuletzt nicht ausräumen ließ. In Österreich ist der Konvent nicht an einzelnen Kompetenzfeldern zerbrochen. Das Scheitern der Bundesstaatsreform geht meiner Einschätzung nach auf das Konto der Weigerung der Bundesseite, den Ländern jene Mitwirkungsrechte im Bund einzuräumen, die den Ländern wichtiger waren als die Stärkung ihrer eigenen Kompetenzen. Und für diese Weigerung war die gleichzeitig geführte Reformdiskussion im Nachbarstaat zumindest nicht irrelevant: Mehr als einmal wurden im Konvent deutsche Verhältnisse als abschreckendes Beispiel beschworen. Ein dritter Unterschied liegt im Engagement der beteiligten Gebietskörperschaften und der Öffentlichkeit. In Deutschland legten Bund und Länder 106
Ebenso Thomas Fischer, Die Kompetenzdebatte in der deutschen Föderalismusreformkommission, in: Peter Bußjager/Ruodlf Hrbek (Hrsg.), Projekte der Föderalismusreform – Österreich-Konvent und Föderalismusreformkommission im Vergleich, 2005, S. 40 (40), der „diametral entgegen gesetzte Richtungen“ der Ansätze diagnostiziert. 107 Vgl. statt vieler den Überblick über die Reformdiskussion bei Thomas Fischer/ Gerhard Hirscher/Udo Margedant/Gerhard Schick/Horst Werner, Föderalismusreform in Deutschland. Ein Leitfaden zur aktuellen Diskussion und zur Arbeit der Bundesstaatskommission, 2004, S. 30 ff., sowie das Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag von Peter M. Huber, Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen?, 2004: Dort ist als wesentliches Charakteristikum deutscher Bundesstaatlichkeit herausgestrichen, „dass alle über alles entscheiden“ (S. 11).
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von Anfang an Positionspapiere vor; Stiftungen involvierten sich in die Diskussion, und die Medien versuchten, den Bürgerinnen und Bürgern den Reformprozess als Ringen um mehr Bürgernähe, mehr Transparenz und mehr Subsidiarität näher zu bringen. In Österreich wurde die Ausschussarbeit eher distanziert denn interessiert beobachtet. Es ist bezeichnend, dass die Kompetenzverteilungsentwürfe der beiden großen Parteien ebenso wie der gemeinsame Vorschlag der Länder erst zu einem Zeitpunkt präsentiert wurden, als die Beratungen des zuständigen Ausschusses der Sache nach bereits abgeschlossen waren; und es ist betrüblich, dass es einige der dem Konvent als Mitglieder angehörenden Landeshauptleute nicht der Mühe wert fanden, persönlich an den Beratungen teilzunehmen und ihre Positionen einzubringen.108 II. Hat der Föderalismus in Österreich Zukunft? 1. Der Bundesstaat als Stolperstein der Verfassungsreform Im Konvent hat sich der österreichische Föderalismus einmal mehr als unreformierbar erwiesen. Zwar sind Politiker unterschiedlicher Couleur nach dem Abschluss der Beratungen nicht müde geworden zu beteuern, dass es kein Scheitern war. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vor allem die Bestimmungen über den Bundesstaat waren, die eine Einigung auf eine neue Verfassung verhinderten.109 Anders als bei den Grundrechten, bei denen ein echter Durchbruch zeitweise in greifbarer Nähe schien, waren die politischen Parteien in der Kompetenzverteilung und in der Finanzverfassung weder in der Lage, das Spektrum der in die Diskussion eingebrachten Lösungsmöglichkeiten auf einige wenige Alternativen zu reduzieren, noch vermochten sie über Interessens- und Parteigrenzen hinweg Kompromisse zu schließen. Denn dazu waren sie schon in sich zu sehr gespalten. 2. Längerfristige Trends Nach der Reform ist vor der Reform. Dies gilt zumal dann, wenn ambitionierte Projekte auf Sand gesetzt sind. Kann man aus dem Scheitern etwas lernen? Wenngleich zu bezweifeln ist, dass die Beratungen des Konvents in absehbarer Zeit in den Beschluss einer neuen Kompetenzverteilung münden 108 Nur mehr skurril zu nennendes Detail am Rande: Das hinderte einen dieser abwesenden Landeshauptmänner nicht, den Konvent über die Medien pauschal der Föderalismusfeindlichkeit zu zeihen. 109 Ebenso Peter Bußjäger, Klippen der Föderalismusreform – Die Inszenierung Österreich-Konvent zwischen Innovationsresistenz und Neojosephinismus, 2005, S. 11.
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werden, so war seine Arbeit doch nicht umsonst. Im Konvent sind einige Trends sichtbar geworden, die wohl auch beim nächsten und übernächsten Anlauf einer Bundesstaatsreform noch den Ton angeben werden. a) Von starrer Aufteilung zu flexibler Verteilung Der erste Trend geht in Richtung Flexibilität. Auf allen Ebenen hat sich das klassische Modell einer starren Aufteilung von Aufgaben, die nur durch einen Akt des Verfassungsgesetzgebers geändert werden kann, als zu eng erwiesen. Bedarfskompetenzen, Delegationsmöglichkeiten und KompetenzKompetenzen werden deshalb wohl an Boden gewinnen. b) Vom zweigliedrigen zum dreigliedrigen Bundesstaat Ein zweiter Trend liegt in der Aufwertung der Kommunen.110 Die Gemeinden haben im Konvent ihre Anerkennung als dritte, der Bundes- und der Landesebene gleichberechtigt gegenüberstehende Ebene verlangt, und sie sind mit dieser Forderung auf erstaunlich wenig Widerstand gestoßen. Zwar ist über Gesetzgebungsbefugnisse der Gemeinden ebenso wenig diskutiert worden111 wie über einen Anteil an der Gerichtsbarkeit. In der Verwaltung ist es ihnen jedoch gelungen, ihre im internationalen Vergleich außergewöhnlich starke verfassungsrechtliche Stellung, die dem Zugriff und den Gestaltungsbefugnissen der für Gemeindeangelegenheiten zuständigen Länder Grenzen setzt, zu festigen. Einen echten Durchbruch konnten sie im Bereich der Finanzverfassung erzielen, wo sie mit ihrer Forderung nach Gleichstellung mit den Ländern als Finanzpartner Gehör gefunden haben. c) Von geteilter zu gemeinsamer Verantwortung Ein dritter Trend geht von der Teilung der Verantwortungen hin zu gemeinsamer Verantwortung. Negativ formuliert, läuft er auf eine Organisation der Unverantwortlichkeit hinaus. Schon heute ist die föderale Aufgabenverteilung durch eine Vielzahl verbindender Elemente überlagert, die dem Bund und den Ländern Einflüsse auf die Besorgung fremder Angele110 Vgl. dazu Karl Weber, Zwei- oder dreigliedriger Bundesstaat? Bemerkungen zur Stellung der Gemeinden in einer möglichen künftigen Bundesverfassung, in: ders./Norbert Wimmer (Hrsg.), Vom Verfassungsstaat am Scheideweg. Festschrift für Peter Pernthaler, 2005, S. 413 (413 ff.). 111 Die Bezeichnung des Ausschusses 5 als Ausschuss für „Aufgabenverteilung zwischen Bund, Länder und Gemeinden“ (vgl. FN 60) ist insoweit eine Fehlbenennung.
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genheiten sichern. Wenn ich es recht sehe, werden diese verbandsübergreifenden Ingerenzmöglichkeiten erweitert statt verringert werden. Da die gesellschaftliche Akzeptanz von Unterschieden zwischen den Bundesländern im Schwinden begriffen ist, wird der Bund seine dominante Stellung in der Gesetzgebung weiter ausbauen, wenngleich zur Wahrung der bundesstaatlichen Fassade eine Reihe von Agenden weiterhin den Landeslegislativen überlassen bleiben wird. In der Gerichtsbarkeit wird die Einführung der Landesverwaltungsgerichtsbarkeit am Übergewicht des Bundes nichts Substanzielles ändern. Im Bereich der Verwaltung dürfte schließlich die mittelbare Bundesverwaltung beibehalten werden und die Zulassung von Mischsystemen aller Art unvermeidlich sein. Für die Länder bleibt daher nur eine sinnvolle Strategie: Sie müssen im Abtausch für die dräuenden Kompetenzverluste echte Mitspracherechte auf der Bundesebene verlangen. Wenn unter diesen Rahmenbedingungen eine Reform gelingen soll, die die Länder mitzutragen vermögen, so kann sie nur zu einer Annäherung an das Grundgesetz führen – ganz ähnlich, wie eine Reform in Deutschland nur einen Schritt in jene Richtung darstellen kann, in der das B-VG 1920 steht. 3. Das eigentliche Dilemma: Österreicher als Putativföderalisten Dahinter liegt jedoch ein Problem, das tiefer geht und an die Wurzeln rührt. Die Zukunft des österreichischen Bundesstaates dürfte deshalb keine rosige sein, weil unser Verhältnis zum Bundesstaat dermaßen zwiespältig ist, dass es nur wenig übertrieben ist, die Österreicher als Putativföderalisten zu qualifizieren.112 Stünde in einer Umfrage die Abschaffung des Bundesstaates zur Entscheidung, so ergäbe sich in allen Bundesländern eine enorme Mehrheit für seine Beibehaltung. Wir fühlen und verstehen uns zunächst als Landesbürger, wir wählen den Landtag, wir schätzen die gut funktionierende Landesverwaltung und sehen uns durch die Landeshauptleute an ihrer Spitze angemessen repräsentiert. Sobald jedoch die Rede auf konkrete Lebenszusammenhänge kommt, ändert sich das Bild drastisch, weswegen bei entsprechender Fragestellung auch Umfragen völlig andere Ergebnisse brächten. Kaum jemand bringt mehr für unterschiedliche Standards in den Bauordnungen, bei der Entsorgung von Abfällen, bei Fischereikarten oder für die Ausbildung von Ta112 Ähnliche Beobachtungen bei Peter Bußjäger, Der „zentralistischste aller Bundesstaaten“ als (Lehr)Beispiel für Europa? in: Michael Piazolo/Jürgen Weber (Hrsg.), Föderalismus. Leitbild für die Europäische Union, 2004, S. 128 (142 ff.).
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gesmüttern Verständnis auf. Die Zeitungen beklagen, dass Landesbeamte im Schnitt mehr verdienen als Bundesbeamte, und treten vehement für Vereinheitlichung ein. In den Hearings, die der Konvent veranstaltet hat, ist schließlich mit viel Engagement die Übertragung der Tierschutzkompetenz, der Behindertenschutzkompetenz, der Naturschutzkompetenz, der Raumordnungskompetenz sowie einer umfassenden Kulturförderungskompetenz an den Bund verlangt worden. Forderungen nach Überstellung von Angelegenheiten in die Gesetzgebung der Länder habe ich hingegen keine einzige vernommen. Ins Allgemeine gewendet: Der Bundesstaat ist als Integrationsfaktor, als Prestigefaktor und als Machtfaktor von großer Bedeutung. Im täglichen Leben dominiert jedoch der Wunsch nach wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Homogenität. Föderalist ist man nicht in der Sache, sondern für das Gemüt. Dem Bundesstaat mangelt es daher in Österreich an einem soliden Fundament. Föderalismus lebt von geografischen, sprachlichen und kulturellen Unterschieden, und er steht und fällt mit der Überzeugung, dass es sich lohnt, diese Differenzen in der Identität zu bewahren. Dieser Wille zur Vielfalt war in Österreich niemals sonderlich ausgeprägt, und er ist es in der Sache heute weniger denn je. Es verwundert daher nicht, dass der österreichische Bundesstaat über die qualifizierte Länderautonomie der Donaumonarchie nie so recht hinaus gekommen ist. Um mir allerdings nicht selbst zu widersprechen, muss ich dieses Urteil relativieren. Nachdem es, wie eingangs erwähnt, „den Bundesstaat“ nicht gibt, spricht alles dafür, als hätten wir Österreicher exakt hierin die uns adäquate Form von Bundesstaatlichkeit gefunden.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Ewald Wiederin Von Lippold Frhr. v. Bredow Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, eröffnete die Diskussion und hob einleitend den Nutzen rechtsvergleichender Untersuchungen für die Reformdiskussionen in Österreich und Deutschland hervor. Interessant sei, inwieweit trotz aller bestehenden institutionellen Unterschiede die Betrachtung der deutschen Verhältnisse auf die österreichische Debatte Einfluß genommen habe. In diesem Zusammenhang hoffe er, daß eine mögliche Reform in Österreich nicht durch ein falsches Bild von der Stellung und Funktion des deutschen Bundesrates verhindert wurde. Die Schwierigkeiten einer direkten Übertragung der deutschen Reformdiskussion auf Österreich hervorhebend knüpfte Hofrat Dr. Heinz Anderwald, Landtagsdirektor, Steiermark, an Mertens Ausführungen mit einem Karl Kraus zugeschriebenen Zitat an, nach dem sich der Österreicher vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache unterscheide. In Bezug auf den vom Referenten Ewald Wiederin festgestellten „langen Schatten der Monarchie“, der den starken unitarischen Zug der österreichischen Verfassung bedinge, wies Anderwald auf die Entstehungsgeschichte der österreichischen Kompetenzartikel hin. Beim Umbau des dezentralen Einheitsstaats der Monarchie in einen demokratischen Bundesstaat seien einfach die Zuständigkeitskataloge der Ministerien abgeschrieben und zu Kompetenzbestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes geworden, ohne daß die geänderten Verhältnisse angemessen berücksichtigt wurden. Anderwald führte weiter aus, die Verankerung des demokratischen und des bundesstaatlichen Prinzips in Art. 1 und 2 des österreichischen BundesVerfassungsgesetzes gehe auf Karl Renner, und nicht auf Hans Kelsen zurück. Kelsen habe derart programmatische Bestimmungen eher abgelehnt, seine eigentliche geniale Leistung sei in der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu sehen. Betonen müsse er im übrigen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht deutscher, sondern österreichischer Provenienz sei. Hierzu merkte Merten später an, daß zugegebenermaßen die Verfassungsgerichtsbarkeit eine österreichische Erfindung sei, dieses Modell jedoch in Deutschland ausgebaut wurde. Nicht zuletzt durch das Institut der
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Verfassungsbeschwerde sei in Deutschland nach 1945 eine sehr effiziente Verfassungsgerichtsbarkeit entstanden, die in dieser Form starke Ausstrahlungswirkung auf andere Verfassungsordnungen gezeitigt habe. In Bezug auf die mittelbare Bundesverwaltung, wobei es sich, worauf wiederum Merten später hinwies, weitestgehend um das österreichische Pendant zur deutschen Bundesauftragsverwaltung handelt, bedauerte Anderwald die Tatsache, daß deren Abschaffung nunmehr – im Gegensatz zum Jahre 1994 – nicht mehr zur Debatte stehe. Denn eine Abschaffung der mittelbaren Bundesverwaltung hätte einen Ausbau der Befragungs- und Untersuchungsrechte der Länderparlamente bedeutet. In diesem Zusammenhang wies Anderwald darauf hin, daß in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, welche schließlich ca. 80 bis 85% der im Land wahrzunehmenden Kompetenzen darstellten, den Landeshauptleuten ein Weisungsrecht zukomme. Auch wenn dieses Weisungsrecht in der Praxis wohl keine Bedeutung habe, untermauere es die starke Stellung der Landeshauptleute, die nicht umsonst in Österreich als „Landesfürsten“ betitelt würden. Bezeichnend sei auch, daß sich gerade die Ländervertreter im Österreich-Konvent für einen Beibehalt des Amtes der Landesregierung, einer Art Gesamtministerium, ausgesprochen und eben nicht für eine freie Regelung in den jeweiligen Länderbereichen plädiert hätten. Zur vom Referenten Wiederin angesprochenen Beseitigung der Dualität der Verwaltung im Jahre 1925 merkte Anderwald noch an, daß sich diese Dualität in Einzelbereichen, so beispielsweise in der Schulverwaltung und auf dem Gebiet des Sozialwesens, erhalten habe. Dr. Horst Risse, ehemaliger Leiter des Sekretariats der FöderalismusKommission, Berlin, machte zunächst auf die Parallelen in der deutschen und österreichischen Reformdiskussion aufmerksam. Dem Referenten Wiederin sei insoweit zuzustimmen, als das Schlagwort zu Beginn der Verhandlungen in Deutschland im Jahre 2003 tatsächlich „Entflechtung“ gewesen sei. Ebenso wie in Österreich gehe es in der Sache jedoch nicht einfach nur um eine Entflechtung, sondern vielmehr um die Suche nach dem richtigen Maß an Verflechtung. Auch in Deutschland wirke sich die Inkompatibilität mancher europäischer Rechtsetzung mit den bundesstaatlichen Kompetenzregelungen negativ aus. Dies zeige sich insbesondere bei der Umsetzung von Richtlinien im umweltrechtlichen Bereich. Abschließend wies Risse darauf hin, daß sich die Positionen der deutschen Ministerpräsidenten zum Teil erheblich voneinander unterschieden hätten. So sei bei einigen Ministerpräsidenten deutlich das Bedürfnis nach Anlehnung an eine übergeordnete, Entscheidungen verantwortende Instanz spürbar gewesen. Etwas provozierend könne man sagen, daß sich der ein oder andere Ministerpräsident als „Landrat altpreußischer Prägung“ entpuppt habe.
Diskussion
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In seiner Entgegnung auf die bisherigen Diskussionsbeiträge ging Wiederin zunächst auf die Frage nach Unterschieden im Gestaltungswillen der österreichischen Bundesländer ein. Je westlicher ein Bundesland, desto eher sei es bereit gewesen, zusätzliche Gestaltungsspielräume zu übernehmen. Im ostösterreichischen Raum spüre man hingegen die Tendenz, keine weiteren Kompetenzen einzufordern, um sich nicht damit verbundene Probleme heranzuziehen. Erst in der letzten Phase der Beratungen sei es den Bundesländern daher gelungen, eine gemeinsame Position zu formulieren. Dieser gemeinsame Entwurf der Länder habe für eine Rechtsetzung in der dritten Säule, d. h. also im Bereich der geteilten bzw. konkurrierenden Gesetzgebung, allerdings ein bedenkliches Verfahren vorgesehen. In einem solchen Rechtsetzungsverfahren hätte es neben der Zustimmung des Bundesrates der Zustimmung von mehr als zwei Dritteln der Länder selbst bedurft. Demnach hätten drei Länder selbst bei einstimmiger Beschlußfassung im Bundesrat das Zustandekommen eines Gesetzes scheitern lassen können. Im Hinblick auf die Mitwirkung der österreichischen Bundesländer in Angelegenheiten der Europäischen Union hob Wiederin zunächst hervor, daß es in Österreich eine Debatte, die mit der Diskussion in Deutschland um die Reform des Art. 23 Grundgesetz vergleichbar wäre, nicht gegeben habe. Obgleich die Stellung der Länder durch die Möglichkeit der Abgabe einer bindenden gemeinsamen Stellungnahme eigentlich stärker als in Deutschland sei, führe das mangelnde Engagement der Länder dazu, daß es solche Stellungnahmen de facto nicht gebe. Der Vorstoß des Bundes zur Schaffung einer Kompetenz zur Richtlinienumsetzung durch den Bund mit der Möglichkeit der Länder, von dieser Umsetzung abzuweichen, sei hingegen von den Ländervertretern vehement abgelehnt worden. Die Installation einer derartigen Bedarfskompetenz beim Bund hätte das Hausgut der Länder, das ohnehin schon sehr schmal sei, nahezu zum Verschwinden gebracht. Zuletzt ging der Referent auf die Anmerkungen Anderwalds zur Abschaffung der mittelbaren Bundesverwaltung ein und trat dem Eindruck entgegen, daß dieses Thema endgültig von der politischen Agenda gestrichen sei. Wiederin führte aus, daß sich die mittelbare Bundesverwaltung bewährt habe; sie funktioniere besser als die unmittelbare, da die Strukturen überschaubarer und die Verwaltungsapparate schlanker seien. Anderwald indes beipflichtend hob er hervor, daß die Länderparlamente tatsächlich aufgewertet würden, sollte die mittelbare Bundesverwaltung in landeseigene Verwaltung überführt werden. Nur verliere das Bundesparlament eben auch in dem Maße Kontrollrechte, so daß insoweit also wieder nachjustiert werden müsse. Merten griff die Ausführungen Wiederins in Bezug auf die Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union auf und bezweifelte, daß es tatsächlich Fälle gegeben habe, in denen die deutsche Bundes-
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regierung aufgrund der in Art. 23 Grundgesetz geregelten Mitsprache der Länder durch den Bundesrat daran gehindert worden wäre, rechtzeitig und mit einer Stimme zu europäischen Rechtsetzungsvorhaben Stellung zu nehmen. Dies müsse einmal anhand rechtstatsächlicher Materialen untersucht werden. Merten vermutete, daß der vielbeklagte Mangel an Einflußnahme der Bundesregierung auf die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union vielmehr darin begründet liege, daß auf Bundesebene viel zu spät auf Brüsseler Vorschläge reagiert werde und sich die Bundesregierung wohl auch zu wenig um Koalitionen mit anderen Mitgliedstaaten bemühe. Die Behauptung, Art. 23 des Grundgesetzes mache Deutschland europauntauglich, gehe daher vielleicht ein wenig an der Wirklichkeit vorbei. Diese Verfassungsbestimmung habe ohnehin nur das festgeschrieben, was in Deutschland schon Jahrzehnte vorher Verfassungspraxis gewesen sei. Interessant sei in diesem Zusammenhang auch das von Wiederin angesprochene Fehlen derartiger Klagen in Österreich. Schließlich entspreche die Regelung in Art. 23d des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes im wesentlichen dem deutschen Art. 23 des Grundgesetzes. Im Anschluß an Merten bekräftigte Prof. Georg-Berndt Oschatz, Minister a. D., Bundesratsdirektor a. D., Berlin, dessen Einschätzung zur Europatauglichkeit des Art. 23 Grundgesetz. Auf keinen Fall handele es sich bei der Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat um eine Behinderung der Bundesregierung unter zeitlichen Gesichtspunkten. Dies werde schon daran deutlich, daß die in Art. 52 Abs. 3a) des Grundgesetzes ermöglichte Europakammer des Bundesrates nur in Ausnahmefällen zusammentreten müsse. Abgesehen von ganz wenigen Eilfällen genüge dem Bundesrat sein turnusmäßiges Zusammenkommen in Drei- bzw. Sechswochentakten zur fristgerechten Abgabe von Stellungnahmen in Angelegenheiten der Europäischen Union. Ein anderes Problem sei, ob die Länder ihre Kompetenzen immer richtig bündelten, um auch sachgerecht Stellung zu nehmen. Auch das Bemühen um eine Vertretung aller Länder vor Ort in Brüssel und die Frage, ob sich insbesondere die kleinen Bundesländer einen genügenden Überblick in Angelegenheiten der Europäischen Union verschaffen können, seien überdenkenswert. So bestätigt in seinen Zweifeln an der pauschalen Behauptung, Art. 23 des Grundgesetzes sei nicht europatauglich, dankte Merten dem Referenten Wiederin nochmals für dessen erhellende rechtsvergleichende Ausführungen und schloß die Diskussion.
Reformstau durch Föderalismus? Von Hans-Jürgen Papier I. Einleitung Der Föderalismus gehört seit den Zeiten des Heiligen Römischen Reiches zum historischen Erbe Deutschlands und zum Kernbestand deutscher Staatlichkeit. Liebevoll und in zahlreichen Details regelt das Grundgesetz den heutigen föderativen Staatsaufbau. Die unmittelbar oder mittelbar bundesstaatsrelevanten Bestimmungen machen gut die Hälfte des Verfassungstextes aus. Darüber hinaus verbietet das Grundgesetz jegliche Verfassungsänderung, die den Grundsatz der Bundesstaatlichkeit als solchen berührt. Der Föderalismus steht also verfassungsrechtlich auf festen Füßen. Verfassungspolitisch ist der Föderalismus allerdings seit einiger Zeit ins Gerede gekommen. Dabei geht es nicht mehr nur um schon länger bekannte Erscheinungen, wie etwa den schleichenden Bedeutungsverlust der Landesparlamente. Zu einer grundsätzlichen Debatte über die Zukunft des Föderalismus haben vor allem die aktuellen politischen Herausforderungen geführt, die sich etwa aus der Reformbedürftigkeit der sozialen Sicherungssysteme und des Steuerrechts oder aus der Notwendigkeit einer weiteren Deregulierung und Liberalisierung im Bereich von Wirtschaft und Arbeit ergeben haben. Die bundesstaatliche Politikverflechtung mit ihren schwerfälligen Entscheidungsverfahren und ihren zahlreichen Blockademöglichkeiten hat hier die Frage nach der Leistungsfähigkeit der hergebrachten föderativen Strukturen aufgeworfen. Die Problematik hat Resonanz auch bei den politischen Organen gefunden. Bundestag und Bundesrat hatten bekanntlich eine Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung eingesetzt, die ihre Arbeit Ende des Jahres 2004 – zumindest vorläufig – ohne abschließendes Ergebnis beendete. Reformstau durch Föderalismus? Diese Frage bleibt also auch im Jahre 2005, vor dem Hintergrund etwa der Bemühungen aller Parteien um eine Bekämpfung der Rekordarbeitslosigkeit, ein aktuelles und akutes Thema. Ich möchte im Folgenden zunächst einige der Entwicklungen nachzeichnen, die unser bundesstaatliches System im Laufe der letzten 50 Jahre vollzogen hat, diejenigen Entwicklungen also, die letztlich zu den heutigen Problemstellungen geführt haben. Auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme
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möchte ich mich dann mit den Möglichkeiten befassen, durch eine Modernisierung der föderativen Ordnung die Handlungs- und Reformfähigkeit des Staates zu verbessern. II. Entwicklungen und Veränderungen in der bundesstaatlichen Ordnung Der Bundesstaat des Grundgesetzes war zu Beginn durch eine dualistische Prägung gekennzeichnet, die zwischen den Verfassungsräumen von Bund und Ländern deutlich unterschied und dabei die Eigenstaatlichkeit der Länder besonders betonte. Diese dualistische Staatsform hat sich im Laufe der Jahre zu einem unitarisch-kooperativen System gewandelt, einem System des – wie man auch sagt – „Verbundföderalismus“. Die Entwicklung war in gewisser Weise in der Konzeption des Grundgesetzes angelegt, in allen Konsequenzen aber vielleicht doch nicht so vorhergesehen. Nimmt man die Europäische Union hinzu, so sind die staatlichen Aufgaben und Befugnisse heute einerseits auf drei föderative Ebenen – Länder, Bund und Europa – verteilt, zugleich aber auf vielfältige Weise miteinander verzahnt und verflochten. Lassen Sie mich kurz auf die wichtigsten Faktoren eingehen, die zu dieser Verflechtung beigetragen haben. 1. „Hochzonung“ staatlicher Aufgaben Eine erste Entwicklung besteht darin, dass sich Politik und Rechtsetzung zunehmend von den niedrigeren auf höhere Ebenen verlagert haben. Das gilt sowohl für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern als auch für das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Innerstaatlich sind neue Kompetenzen für den Bund im Wege der Verfassungsänderung begründet worden. In noch größerem Maße haben vertragliche Kompetenzübertragungen von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union stattgefunden. Zu diesen strukturellen Änderungen kommt hinzu, dass bestehende konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten nahezu vollständig von der jeweils höheren Ebene tatsächlich in Anspruch genommen und ausgeschöpft wurden. Auch diese aus dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern bekannte Erscheinung wiederholt sich im europäischen Rahmen, wo die meisten Politik- und Regelungsbereiche einer zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit unterliegen. Unter dem weitgehenden Entzug von Rechtsetzungs- und Gestaltungsaufgaben hat vor allem das Erscheinungsbild der Länder gelitten, die ihre Eigenstaatlichkeit gegen eine Herabstufung auf den Status bloßer Verwaltungs- oder Vollzugseinheiten verteidigen müssen.
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2. „Beteiligungs-“ und „Exekutivföderalismus“ Die geschilderte Aufgabenverlagerung hat zugleich zu einschneidenden Veränderungen im parlamentarischen System geführt. Was an Zuständigkeiten auf der niedrigeren Ebene verloren ging, wurde nämlich sehr häufig – und das ist der entscheidende Punkt – durch Beteiligungsrechte auf der höheren Ebene kompensiert. Sehr plastisch wird deshalb heute von „Beteiligungsföderalismus“ oder auch „Exekutivföderalismus“ gesprochen. Denn Gewinner dieser Entwicklung sind vor allem die Regierungen, zulasten der Parlamente in Bund und Ländern. So wirken die Landesregierungen über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit, ebenso wie die Bundesregierung über den Ministerrat der EU an der Rechtsetzung auf europäischer Ebene. Diese „Verklammerung“ der verschiedenen Entscheidungsebenen über Beteiligungsrechte der Exekutive ist die typische Erscheinungsform der bundesstaatlichen Politikverflechtung. Sie findet ihre höchste Steigerung in dem sog. Europa-Artikel 23 des Grundgesetzes, wonach die Länder über den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken; hier sind also alle drei föderativen Ebenen – in einem „Durchgriff“ von den Landesregierungen über den Bundesrat bis in die europäische Politik hinein – miteinander verknüpft. Im Gegenzug hat sich die Funktion der Parlamente immer öfter auf die einer „Ratifikationsinstanz“ ohne wesentliche eigene Gestaltungsmacht verkürzt, besonders sinnfällig bei der Umsetzung der auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen, zum Beispiel im Bereich der zumeist sehr detaillierten Richtlinien. 3. Kooperation und Koordination der Landesexekutiven Ist die partielle Kompetenzverlagerung von den Parlamenten auf die Regierungen in der Funktionsweise des „Beteiligungsföderalismus“ vorgezeichnet, so muss es auf der anderen Seite überraschen, wenn sich dasselbe Handlungsmuster auch dort findet, wo den Bundesländern de iure eigene Gesetzgebungszuständigkeiten verblieben sind. Denn auch dort vollzieht sich die Rechtsetzung nicht selten so, dass sich die Landesexekutiven untereinander abstimmen und sich auf Musterentwürfe oder im Kern gleichförmige Regelungen einigen. Das Spektrum der Kooperationsformen reicht dabei von der Ministerpräsidentenkonferenz über die Fachministerkonferenzen bis hin zu einer zahlenmäßig kaum zu erfassenden, aber jedenfalls in die Hunderte gehenden Reihe von ständigen oder ad hoc gebildeten Ausschüssen, Gremien, Arbeitskreisen, Projektgruppen usw. Auch auf der Ebene der länderübergreifenden Fachbruderschaften wird also kräftig an dem dichten Netz des „Verbundföderalismus“ gewoben. Und auch hier ist den Landtagen die sachliche Gestaltung in beträchtlichem Maße entzogen; sie sind zumeist
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vor die Alternative gestellt, auf das ihnen unterbreitete Resultat exekutivföderaler Koordination mit Ja oder Nein zu antworten, wobei in der Praxis vielfach nur die Möglichkeit der Zustimmung verbleibt. Vor diesem Hintergrund, lassen Sie mich das an dieser Stelle kurz einschieben, verliert die grundsätzlich berechtigte Forderung – insbesondere der Landesparlamente – nach einer Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten auf die Länder und nach einer Stärkung des Subsidiaritätsprinzips einiges von ihrer politischen Überzeugungskraft. Denn Sinn einer Föderalismusreform im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten kann nicht sein, dass eine bisherige Gesetzgebung des Bundes lediglich durch einen aufwändigen Koordinationsprozess zwischen den Ländern ersetzt wird, an dessen Ende dann wiederum eine im Ergebnis bundeseinheitliche Rechtslage steht, lediglich in sechzehnfacher landesgesetzlicher Ausführung. Eine Reföderalisierung der Gesetzgebung macht mit anderen Worten nur dann Sinn, wenn die Länder – und hier insbesondere die Landesparlamente – wieder die Möglichkeit, den Willen und die Kraft zu wirklicher Eigenstaatlichkeit und zu eigenständiger Gestaltung erhalten bzw. finden. 4. Machtzuwachs des Bundesrats Ich komme noch einmal zurück auf die Stellung des Bundesrats. Der Machtzuwachs des Bundesrats stellt sicherlich eines der auffälligsten Phänomene in der Entwicklung des deutschen Föderalismus dar. Er spiegelt sich in dem Anteil zustimmungsbedürftiger Bundesgesetze wider, also solcher Gesetze, bei denen dem Bundesrat ein definitives Vetorecht zukommt; dieser Anteil liegt – bezogen auf die Gesamtzahl der Bundesgesetze – seit einiger Zeit bei etwa 60%. Ein Großteil der gesellschaftspolitisch bedeutsamen Gesetzesvorhaben der letzten Jahre fällt hierunter. Aber nicht nur formelle Parlamentsgesetze, sondern – was für die Praxis bedeutsam ist – auch Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften unterliegen in weitem Umfang der Zustimmung des Bundesrats. Die Machtposition des Bundesrats beruht allerdings – auch das muss gesagt werden – nicht allein auf dessen verfassungsrechtlicher Stellung, sondern auch auf dem Wahlverhalten der Bürger. Schon seit längerer Zeit bevorzugen die deutschen Wähler bei den für die Zusammensetzung des Bundesrats maßgeblichen Wahlen zu den Landesparlamenten diejenigen Parteien, die sie bei der jeweils zurückliegenden Bundestagswahl in die Opposition verwiesen haben. Erst aus diesem Hin- und Herpendeln der Wählergunst ergibt sich letztlich die Schlüsselposition des Bundesrats. Es steht zu befürchten, dass sich an diesem Wahlverhalten in absehbarer Zukunft nichts ändern wird. Denn keine Bundesregierung und keine Bundestags-
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mehrheit, gleichgültig von welcher Partei oder Koalition sie gestellt wird, wird in den kommenden Jahren umhin können, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Die Neigung in der Bevölkerung dürfte groß sein, die jeweilige Regierungsmehrheit auf Bundesebene dafür in den darauf folgenden Landtagswahlen „abzustrafen“, so dass die Situation gegenläufiger Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zur Dauereinrichtung werden könnte. 5. Der Bundesrat als parteipolitischer Gegenpart zur Regierungspolitik Wie wirkt sich die Machtposition des Bundesrats auf das politische Handlungsgefüge aus? In der Öffentlichkeit wurde die Position des Bundesrats zuletzt vielfach als ein Blockadepotential wahrgenommen. Der Bundesrat fungiert bei wichtigen oder politisch brisanten Gesetzesvorhaben des Bundes häufig weniger als Vertretung spezifischer Länderinteressen, sondern – nicht anders als die parlamentarische Opposition im Bundestag, aber mit deutlich mehr Druckmitteln ausgestattet – als ein parteipolitischer Gegenpart zur Regierungspolitik. Man mag diese Funktionsverschiebung beklagen, verfassungsrechtlich zu beanstanden oder gar zu verhindern ist sie indes nicht. Kriterien, die etwa ein bestimmtes parteipolitisch motiviertes Abstimmungsverhalten im Bundesrat verbieten würden, lassen sich nicht aufstellen. Die Verfassung sieht gegenüber dem Bundesrat auch kein Instrument vor, wie es der Kanzler in Form der Vertrauensfrage gegenüber dem Bundestag hat. 6. Zwischen Blockadedrohung und Kompromisszwang Wesentliche politische Entscheidungen haben sich jedenfalls aus der parlamentarischen Beratung heraus verlagert in einen Verhandlungsverbund von Regierungsvertretern aus Bund und Ländern, wobei die Beziehung von Bundesregierung einerseits und Bundesratsmehrheit andererseits zwischen einer gegenseitigen Blockade im ungünstigen und einer – Bund und Länder übergreifenden – informellen „Großen Koalition“ im günstigen Falle schwankt. „Wesentliches Charakteristikum“ des deutschen Föderalismus sei, so heißt es in einer Stellungnahme für die Föderalismuskommission, „dass alle über alles entscheiden“ (P. M. Huber). Das ist vielleicht etwas überzogen. Dennoch: Entscheidungen sind zumeist nur mehr im Konsens zwischen den beiden großen Volksparteien möglich, und wenn, dann in der Regel nur in der Form eines Kompromisses, der sich häufig genug auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner bewegt. Grundlegende Reformen und Richtungsentscheidungen sind unter diesen Bedingungen naturgemäß wesentlich erschwert. Auch Wahlen entscheiden unter diesem Blickwinkel weniger
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über politische Programme und grundlegende politische Weichenstellungen als über die Verteilung der Karten in künftigen Verhandlungsrunden – gelegentlich entscheiden sie deshalb auch gar nichts. Als typische Entscheidungsform des „Verbundföderalismus“ hat sich, wie gesagt, der alle Beteiligten und alle Interessen übergreifende Kompromiss etabliert. Das hat in Zeiten von Wohlstand und Wachstum durchaus sein Gutes. Das am Ende der Verhandlungen stehende Ergebnis kann sich auf einen breiten Konsens stützen; betroffene Gruppen finden sich in der Entscheidung, jedenfalls mit Anteilen der von ihnen bevorzugten Lösung, wieder; und politisch kann jede Seite die Erfolge der Entscheidung für sich verbuchen und deren Mängel auf den Gegner abwälzen. Stehen jedoch, wie derzeit, grundlegende Reformen und Richtungsentscheidungen und dabei vor allem auch Maßnahmen an, die Einschnitte und Belastungen für viele Bürger bringen, so kann sich die föderative Politikverflechtung mit ihren Blockademöglichkeiten und Kompromisszwängen als hindernd und lähmend erweisen. Insofern wird man tatsächlich sagen müssen, dass sich in unserem föderativen System, so wie es sich unter der Geltung des Grundgesetzes entwickelt hat, auch Hemmnisse für die Steuerungs- und Reformfähigkeit des Staates herausgebildet haben, die mit den – ebenso unbestreitbaren und nach wie vor gegebenen – Vorzügen der Bundesstaatlichkeit abzuwägen sind. III. Möglichkeiten, Perspektiven und Grenzen einer Föderalismusreform Lassen Sie mich damit zu meiner zweiten Frage kommen, nämlich der Frage nach den Möglichkeiten, Perspektiven, aber auch Grenzen einer Föderalismusreform. Ich bin mir bewusst, dass das eben gezeichnete Bild nicht vollständig ist und zum Teil vielleicht auch ein wenig zu negativ erscheinen mag. Das etwas vergröberte Bild verdeutlicht allerdings die Ansatzpunkte der zahlreichen Reformvorschläge, die zuletzt vor allem im Rahmen der Föderalismuskommission diskutiert wurden. Die wichtigsten Stichworte in dieser Diskussion lauteten: Rückübertragung von Aufgaben auf die Länder; Stärkung und Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips; Überprüfung der Zustimmungsrechte des Bundesrats; Stärkung der finanziellen Eigenständigkeit und der substantiellen Eigenstaatlichkeit der Länder; und insgesamt eine Entflechtung der bundesstaatlichen Ebenen. Kurz gesagt: Ziel ist die – zumindest teilweise – Umkehrung der von mir skizzierten Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erforderlich, an dieser Stelle auf alle Details der Reformdiskussion einzugehen, zumal diese in den anderen Referaten eingehend erörtert werden. Ich möchte mich stattdessen auf einige grundsätzliche und strukturelle Fragen konzentrieren.
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1. Probleme der Kompetenzverteilung zwischen den föderativen Ebenen a) (Rück-)Übertragung von Kompetenzen Lassen Sie mich beginnen mit der Frage einer Neuordnung der Kompetenzen zwischen den föderativen Ebenen, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung. Hier liegen die Zuständigkeiten derzeit ganz überwiegend beim Bund, der – wie geschildert – auch im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Gesetzgebungsbefugnisse weitgehend zulasten der Länder ausgeschöpft hat. Es geht deshalb in erster Linie um eine Übertragung oder Rückübertragung von Zuständigkeiten des Bundes auf die Länder. Mit dieser Zielrichtung wurden auch in der Föderalismuskommission zahlreiche Vorschläge erörtert. Sie beziehen sich auf verschiedenste Kompetenztitel aus dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung – beginnend etwa mit der Regelung des Notariats bis hin zur Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst der Länder – sowie aus dem Bereich der Rahmengesetzgebung, hier etwa dem Jagdrecht oder dem Hochschulwesen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, halte ich alle diese Vorschläge grundsätzlich für diskutabel. Auch wenn es, wie im Falle des Hochschulrechts, um durchaus gewichtige Materien geht, so handelt es sich – auf das ganze Spektrum der Gesetzgebungsmaterien gesehen – aber letztlich, wie ich meine, doch nur um Randkorrekturen, die das Gesamtbild der Kompetenzverteilung nicht grundsätzlich verändern würden. Ein Blick auf die politische Wirklichkeit offenbart vielmehr, wie sehr die deutsche Gesellschaft letztlich an einheitlichen Lebensverhältnissen und an einer entsprechend einheitlichen Rechtsordnung orientiert ist. Man erinnere sich nur an den allgemeinen Aufschrei der Entrüstung, den im letzten Herbst die eher beiläufige Äußerung des Bundespräsidenten hervorgerufen hat, dass es in Deutschland nach wie vor große Unterschiede in den Lebensverhältnissen gebe, die sich nicht einebnen ließen, ohne den Subventionsstaat zu zementieren. Schon die bloße Feststellung von tatsächlichen und für jedermann sichtbaren Gegebenheiten berührt also, so scheint es, ein politisches Tabu, und das, obwohl das Grundgesetz – entgegen einer in Bevölkerung und Medien verbreiteten Meinung – keinen, jedenfalls keinen über das allgemeine Sozialstaatsprinzip hinausgehenden Auftrag zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse enthält. Dieselbe Erwartungshaltung lässt sich auch auf der Ebene der Rechtsetzung feststellen. Ein bayerisches Bürgerliches Gesetzbuch, ein rheinland-pfälzisches Arbeitsrecht oder ein sächsisches Rentenversicherungsrecht erscheinen schon theoretisch kaum vorstellbar, obwohl alle diese Materien seit jeher der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen, also schon nach geltendem Verfassungsrecht
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prinzipiell einer landesgesetzlichen Regelung zugänglich wären. Es darf deshalb nicht überraschen, wenn in der Reformdiskussion zuletzt nicht nur die Rückübertragung einzelner Zuständigkeiten auf die Länder, sondern – gerade gegenläufig – weitere Kompetenzverlagerungen auf den Bund, etwa für das Medienrecht, ins Spiel gebracht wurden. b) Zugriffsrecht der Länder auf die Bundesgesetzgebung? Ein anderer, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern betreffender Vorschlag ist das sog. Zugriffsrecht der Länder. Danach hätten die Länder die Befugnis, von bundesgesetzlichen Regelungen abweichende Landesgesetze zu erlassen, wobei diesen Landesgesetzen Vorrang vor dem Bundesrecht zukäme. Die Regelung durch den Bund hätte also die Funktion einer Auffanggesetzgebung, die gilt, solange und soweit ein Land von seinem Zugriffsrecht keinen Gebrauch macht. Auf welche Materien oder Regelungsinhalte sich ein solches Zugriffsrecht der Länder beziehen soll, war eine weitere, in der Föderalismuskommission bis zuletzt erörterte Frage. Die Umkehrung des Rangverhältnisses von Bundesrecht und Landesrecht, zu der ein Zugriffsrecht der Länder führen würde, würde – das ist zunächst festzuhalten – einen erheblichen Systembruch darstellen. Selbst in dem vergleichsweise loseren Staatenverbund der Europäischen Union gehört der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten zu den Essentialia der Verfassung der Gemeinschaft; erst recht gilt dies für den Vorrang von Bundesrecht vor Landesrecht in einem Bundesstaat wie Deutschland. Hinzu kommt, dass wohl in der Regel auch nicht alle Länder von ihrem Zugriffsrecht Gebrauch machen würden, so dass eine Gemengelage von partikularem Bundesrecht und einzelnen landesgesetzlichen Regelungen entstünde. Die Nachteile einer solchen Rechtszersplitterung übersteigen nach meinem Dafürhalten die möglichen Vorteile einer – teilweisen – Reföderalisierung der Gesetzgebung. Als Korrekturmittel wurde deshalb bereits vorgeschlagen, dem Bund die Möglichkeit einzuräumen, seinerseits erneut ein Bundesgesetz zu erlassen, wenn sich im Anschluss an einen Zugriff der Länder wiederum ein Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Regelung zeigen sollte. Mit einem solchen permanenten Hin und Her von Bundes- und Landesgesetzgebung wäre allerdings vollends jede Rechtssicherheit vereitelt. Die Idee des Zugriffsrechts vermag mich deshalb insgesamt nicht zu überzeugen. 2. Reform der Mitwirkung der Länder an der Bundespolitik Lassen Sie mich damit zu einem anderen Themenkomplex kommen, auf den ich etwas näher eingehen möchte, nämlich die Beteiligung der Länder
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an der Gesetzgebung des Bundes. Im Zentrum steht insoweit die Institution des Bundesrats, in der – wie geschildert – die bundesstaatliche Politikverflechtung kulminiert. Ausgangspunkt für alle Reformüberlegungen ist hier, dass das Grundgesetz jede Verfassungsänderung verbietet, die die „grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“ berührt (Art. 79 Abs. 3 GG). Das Organ „Bundesrat“, über das sich diese Mitwirkung derzeit vollzieht, könnte daher zum Beispiel nicht ersatzlos aufgehoben werden. Die Garantie der Ländermitwirkung bei der Bundesgesetzgebung würde allerdings nicht hindern, die Zustimmungsrechte des Bundesrats wieder ein Stück in Richtung auf den ursprünglichen Zustand hin zurückzuführen. Freilich darf die Entflechtung, die sich auf diese Weise erzielen lässt, auch nicht überschätzt werden. Denn die häufigsten und wichtigsten Anwendungsfälle für das Zustimmungsrecht des Bundesrats entfallen auf nur zwei Tatbestandsgruppen. Gerade bei diesen aber stößt man auf Schwierigkeiten. a) Zustimmungsgesetze im Bereich der Finanzverfassung So entfällt etwa ein Drittel der Zustimmungsgesetze auf den Bereich der Finanzverfassung, wobei es sich vor allem um Gesetze über Steuern handelt, deren Aufkommen den Ländern und Gemeinden ganz oder teilweise zufließt. Dabei geht es insbesondere um die aufkommensstarken sog. Gemeinschaftsteuern, d. h. um die Einkommen-, die Körperschaft- und die Umsatzsteuer (Art. 105 Abs. 3 GG). Solange bei diesen Steuern einerseits die Erträge zwischen Bund und Ländern geteilt werden, andererseits die Gesetzgebungshoheit allein beim Bund liegt, solange wird man den Ländern auch ein Mitentscheidungsrecht nicht vorenthalten können. Das Zustimmungsrecht des Bundesrats ist insoweit im Rahmen der gegebenen Verfassung wohl unverzichtbar. Wollte man im Bereich der Finanzverfassung zu einer substantiellen Entflechtung zwischen Bund und Ländern kommen, so müsste man den Ländern eigene Steuerquellen erschließen und ihnen eine wirkliche Finanzautonomie einräumen. b) Zustimmung bei organisations- und verfahrensrechtlichen Regelungen Mehr als die Hälfte der Zustimmungsfälle ergibt sich – zum anderen – aus den Bestimmungen des Grundgesetzes, wonach Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, wenn sie die Einrichtung der Behörden oder das Verwaltungsverfahren regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu bereits im Jahre 1958 entschieden, dass sich das Zustimmungserfordernis in derartigen Fällen nicht bloß auf die konkreten verfahrens- oder or-
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ganisationsrechtlichen Vorschriften bezieht, sondern auf das jeweilige Gesetz als Ganzes, also auch auf dessen sachliche Regelungen. Diese Rechtsprechung ist immer wieder kritisiert worden, und auch in der derzeitigen Reformdebatte wurde gefordert, durch eine Verfassungsänderung klarzustellen, dass nur die speziellen Regelungen zur Verwaltungsorganisation und zum Verwaltungsverfahren der Zustimmung des Bundesrats unterliegen, nicht aber das Gesetz als Ganzes. Eine solche Änderung des Grundgesetzes wäre in der Tat möglich. Nur: Wäre damit wirklich viel gewonnen? Es gibt immer wieder Regelungskonzepte, die es politisch sinnvoll oder geboten erscheinen lassen, materielle Regelungen und Vollzugsregelungen in einem einzigen Gesetz, gewissermaßen „aus einem Guss“, zusammenzufassen. In einem solchen Fall erfüllt auch das Erfordernis, dass der Bundesrat seine Zustimmung zu dem Gesamtpaket zu geben hat, seinen guten Sinn. Wo es andererseits an einem Grund für die Koppelung fehlt, dort können Regelungsvorhaben schon nach geltendem Verfassungsrecht auf zwei Gesetzesvorlagen aufgeteilt werden – eine mit den sachlichen Regelungen und eine zweite mit den Vollzugsregelungen. Die erste, materiellrechtliche Gesetzesvorlage kann der Bundestag bei entsprechenden Mehrheiten auch gegen einen Einspruch des Bundesrats durchsetzen und nur bei der zweiten, organisations- und verfahrensrechtlichen Vorlage bliebe er auf die Zustimmung der Bundesratsmehrheit angewiesen. Es gibt allerdings nur erstaunlich wenige praktische Beispiele für eine solche Vorgehensweise. Das bekannteste ist wohl das 2001 beschlossene Lebenspartnerschaftsgesetz. Hier setzte der Bundestag bekanntlich die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare durch. Dass dazu heute in den Ländern unterschiedliche Vollzugsregelungen bestehen, muss man unter dem Blickwinkel föderalistischer Vielfalt nicht unbedingt als Schaden oder Schönheitsfehler sehen. Jedenfalls gilt: Eine Grundgesetzänderung würde keine Handlungsspielräume eröffnen, die nicht auch schon bisher gegeben wären, wenn ein entsprechender politischer Wille vorhanden wäre. 3. Grundsätzlichere Überlegungen Ich möchte an dieser Stelle, auch aus Zeitgründen, die Erörterung einzelner Reformvorschläge abschließen. Generell bin ich der Meinung, dass sich mit den bisher, vor allem in der Föderalismuskommission diskutierten Vorschlägen zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung gewisse Verbesserungen im Detail erreichen lassen, die keineswegs gering zu achten sind, dass aber eine grundlegende Änderung der derzeitigen, wenig befriedigenden Situation auf diese Weise nicht eintreten wird. Die Föderalismuskommission hatte sich aus – durchaus einsichtigen – politisch-pragmati-
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schen Gründen einen relativ engen Diskussionsrahmen gesetzt. So verständlich das ist, so muss man auf der anderen Seite doch sehen, dass damit eine essentielle Reform des deutschen Föderalismus schwer zu erreichen ist. Wenn von vorneherein alle Reformvorschläge ausgeblendet werden, zu denen das politische System derzeit nicht bereit ist, so fehlt auch für manche Vorhaben, die sich vielleicht Schritt für Schritt verwirklichen ließen, die zukunftsweisende Orientierung. Lassen Sie mich deshalb, nachdem mit dem vorläufigen Ende der Kommissionsarbeit eine gewisse Zäsur eingetreten ist, noch einmal kurz auf zwei Vorschläge eingehen, die den üblichen Rahmen etwas verlassen. Ich habe diese Vorschläge bereits früher gemacht und möchte sie beileibe nicht ständig wiederholen. Wenn es jedoch so ist, dass innerhalb der bestehenden politischen Strukturen nur geringfügige und letztlich nur wenig weiterführende Veränderungen möglich sind, dann ist es, so meine ich, legitim und notwendig, gelegentlich auch in grundsätzlichere staatsrechtliche und verfassungspolitische Erwägungen einzutreten. a) Senatsmodell als Alternative zum Bundesrat? Ein erster Vorschlag zielte auf eine mögliche Alternative zum bestehenden Bundesratsmodell. Eine weiterreichende Entflechtung der bundesstaatlichen Beziehungen ließe sich möglicherweise erzielen, wenn man – wie dies übrigens auch im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee diskutiert wurde – den Bundesrat durch einen Senat, ähnlich dem US-amerikanischen Vorbild, ersetzte, also zu einem echten Zwei-Kammer-Parlament überginge. Hierdurch würde eine deutliche Trennlinie zwischen der staatlichen Organisation in Bund und Ländern gezogen. Die Mitglieder eines Senats wären – anders als die Mitglieder des Bundesrats – nicht gleichzeitig Mitglieder einer Landesregierung; die Landesregierungen verlören – umgekehrt – ihren unmittelbaren Einfluss auf die Bundespolitik. Aufgelöst wäre damit zugleich die – unter dem Blickwinkel des Gewaltenteilungsprinzips ohnehin problematische – Verknüpfung zwischen den Länderexekutiven und der Bundesgesetzgebung. Schließlich hätten auch die Wahlen in den Ländern wieder ihren jeweils eindeutigen Bezugspunkt: Landtagswahlen würden unter landespolitischen, Senatswahlen unter bundespolitischen Vorzeichen stehen. Dies könnte dazu beitragen, den faktischen „Dauerwahlkampf“ etwas abzumildern, der durch die beständige Abfolge der Landtagswahlen entsteht und der sich auf die Gesetzgebungsarbeit im Bund nicht eben förderlich auswirkt. Vorzüge könnte das Senatsmodell auch unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Kontrolle und Verantwortlichkeit aufweisen. Das politische Verhalten eines Senats wäre, insbesondere bei einer Direktwahl der Senatoren durch das Landesvolk, wesentlich unmittelbarer und wohl auch wirkungsvoller sanktioniert als das derzeit beim Bundesrat der Fall ist.
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Natürlich hat das Senatsmodell auch Nachteile. Am schwersten würde wohl wiegen, dass die Erfahrung und der Sachverstand der Landesexekutiven von der Bundesgesetzgebung abgekoppelt würden. Auf der anderen Seite muss die Einbringung von Sachverstand nicht notwendigerweise mit einem Mitentscheidungsrecht verbunden sein, wie das derzeit der Fall ist. Im Übrigen spielen bei der Ausübung von Vetorechten durch den Bundesrat nicht immer nur Gründe überlegenen exekutiven Sachverstands, sondern eben auch oppositionspolitische Motive eine entscheidende Rolle. Ich kann das Für und Wider von tradierter Bundesrats- oder neuartiger Senatslösung in diesem Rahmen nicht weiter ausbreiten. Ich möchte hier auch gar nicht die eine oder die andere Lösung propagieren. Es geht mir mit dem Hinweis auf mögliche Alternativen, wie gesagt, vor allem darum, auf eine augenfällige, politisch durchaus verständliche Verengung der derzeitigen institutionellen Diskussion hinzuweisen. b) Neugliederung des Bundesgebiets Das gilt auch für folgenden Punkt. Er betrifft – gewissermaßen querschnittartig – fast alle Reformvorschläge, tritt aber besonders deutlich bei der Forderung nach einer größeren finanziellen Eigenständigkeit der Länder hervor, einer Forderung, die in einer weiterreichenden Perspektive häufig mit der Idee eines „Wettbewerbsföderalismus“ in Verbindung gebracht wird. Die Forderung nach mehr finanzieller Eigenverantwortung steht zunächst in einem gewissen Kontrast zu dem realen Zustand vieler Länderhaushalte und zu der Finanzverfassung unseres Bundesstaats. Letztere ist geprägt durch den Gedanken des Ausgleichs der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder, einschließlich der Möglichkeit von Ergänzungszuweisungen des Bundes an leistungsschwache Länder. Es findet also eine korrigierende, teilweise auch nivellierende Umverteilung statt, die der Haushaltswirtschaft in den Ländern eine gewisse Folgenlosigkeit verleiht. Das ist freilich nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite besteht darin, dass die deutschen Länder hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl, Gebietsgröße, Wirtschaftskraft und finanziellen Leistungsfähigkeit in höchstem Maße inhomogen sind. Beide Seiten bedingen sich gegenseitig: Das strukturelle Ungleichgewicht der Länder erfordert und rechtfertigt unter dem Blickwinkel bundesstaatlicher Solidarität im Grundsatz den Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft. Notwendige Vorbedingung einer Reform der Finanzverfassung wäre deshalb eine grundlegende Neugliederung des Bundesgebiets mit dem Ziel der Konstituierung deutlich weniger, dafür möglichst gleichgewichtiger, jedenfalls aber aus sich heraus lebensfähiger Länder. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen: Die Neugliederung des Bundesgebietes ist nicht nur Vorbedingung für eine Neuordnung der Finanzver-
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fassung, sondern im Grunde auch Vorbedingung für alle anderen substantiellen Reformschritte. Die Rückübertragung von Aufgaben und Kompetenzen auf die Länder, die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und generell des Parlamentarismus auf der Länderebene, die Entflechtung der Gemeinschaftsaufgaben und die Beseitigung der Mischfinanzierungen – all dies macht nur Sinn, wenn die Länder auch in der Lage sind, die wieder gewonnenen Handlungsspielräume kraftvoll und im Sinne einer eigenständigen gestalterischen Politik zu nutzen. Wirkliche Eigenstaatlichkeit, die die Länder nach wie vor für sich beanspruchen, setzt unter den heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ein Handlungspotential voraus, über das nicht mehr alle Länder in einem hinreichenden Maße verfügen. Wer die dauerhafte Stärkung und Sicherung eines vitalen deutschen Föderalismus – gerade auch im Zusammenhang der europäischen Integration – erreichen will, kommt deshalb nach meinem Dafürhalten an diesen Fragen nicht vorbei. Ein erster Schritt wäre dabei die Änderung des geltenden Art. 29 GG, der das Verfahren einer Neugliederung des Bundesgebiets wenig praktikabel, ja im Grunde eher hinderlich ausgestaltet. IV. Schluss Ich komme damit zum Schluss. Das Prinzip der Bundesstaatlichkeit und seine konkrete Ausformung in Deutschland werden nur dann überlebensund zukunftsfähig sein, wenn sie sich immer wieder neu legitimieren und der Bevölkerung begreiflich gemacht werden können. Der Hinweis auf die jahrhundertelange föderative Tradition Deutschlands kann dazu allein nicht genügen, es sei denn, man versteht diese Tradition als einen Prozess stetigen Wandels und stetiger Anpassung. Die gegenwärtige Reformdiskussion wird sich deshalb auch der Frage stellen müssen, welche Funktion dem Föderalismus in der Zukunft zufällt, welchen Beitrag er für das Gemeinwesen erbringen soll. Als Prinzip staatlicher Einheitsbildung hat der Föderalismus von der Bismarck’schen Reichsgründung über den Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit nach 1945 bis hin zur Wiedervereinigung Deutschlands unschätzbare Dienste geleistet und leistet sie immer noch; aber die innere Einheit, um die es heute vor allem geht, wird vorrangig bestimmt durch den Wunsch nach möglichst einheitlichen Lebensverhältnissen und damit durch das eher unitarische Prinzip des Sozialstaats. Auch die ethische Begründung von Föderalismus und Subsidiarität als Sicherungen persönlicher Freiheit ist keineswegs überholt; aber auch insoweit stehen heute andere Prinzipien, nämlich die rechtsstaatliche Bindung der Staatsgewalt und der Schutz der Bürger durch Grundrechte, im Vordergrund. Am gravierendsten ist aber sicher der Vertrauensverlust, den der Föderalismus als eine zwar aufwendige, aber gleichwohl effektive Orga-
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nisationsform erlitten hat. Der schwerfällige Prozess, in dem sich die Reformen auf den Gebieten des Gesundheitswesens, der Rentenversicherung, der Arbeitsmarktpolitik oder des Steuerrechts vollziehen, lässt für viele Bürger auch den Föderalismus nur noch als Sand im Getriebe des politischen Systems erscheinen. Das Zusammentreffen mit einer Fülle sachlicher Reformvorhaben, die für sich allein schon schwer genug zu bewältigen sind, macht das gleichzeitige Vorhaben einer Reform der bundesstaatlichen Strukturen doppelt schwierig, zugleich aber doppelt dringlich. Die gegenwärtige Krise der Bundesrepublik sollte deshalb auch als Herausforderung und Chance zu einer wirklichen Erneuerung gesehen werden.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans-Jürgen Papier Von Stefan Ittner Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten dankte Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. HansJürgen Papier für sein einsrucksvolles und sehr differenziertes Referat zum Föderalismus und wies auf seine Bedenken hinsichtlich der exekutiven Erfahrung hin, die sich bei einem Senatsmodell ergeben würden. Nach dem Aufruf zur Diskussion meldete sich Gero Wangerin. Er drückte sein Erstaunen darüber aus, dass bei der Tagung die kommunale Ebene – neben Europa, Bund, und Ländern – so gut wie keine Berücksichtigung finde. Kommunales Selbstverwaltungsrecht gehöre seiner Ansicht nach zu den fundamentalen Verfassungsgrundsätzen und sei ein wesentlicher Bestandteil des Föderalismus. Dieses Recht werde in der Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben und häufig auch verletzt. Die eigentlichen Opfer dieser föderalistischen Fehlentwicklung seien die Kommunen, da immer mehr öffentliche Aufgaben auf sie verlagert worden seien, ohne dass ein entsprechender Finanzausgleich stattgefunden habe. Der niedersächsische Landtag stehe sogar kurz vor der Selbstauflösung mangels finanzieller Leistungsfähigkeit. Herr Wangerin möchte mit seinem Diskussionsbeitrag den Blickwinkel nun noch mal auf diese vierte Ebene lenken. Papier räumte ein, dass er die Gemeinden und Kreise – bzw. in Bayern die Bezirke – unerwähnt gelassen habe. Er wies aber darauf hin, dass dies auch am Thema liege, denn er sollte schließlich über Föderalismus sprechen, und in einem strengen Sinne gehöre die kommunale Selbstverwaltung nicht dazu. Die Existenz und Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung sei kein Thema, das unmittelbar mit der föderalen Ordnung zu tun habe, und staatsrechtlich seien die Kommunen der Landesebene zugeteilt. Wenn die Länder in ihrer Eigenstaatlichkeit und ihrer finanziellen Eigenständigkeit ausbluteten, merkten das die Kommunen als erste und am heftigsten, weil dort vor Ort der Vollzug stattfinde. Aber in einem staatsrechtlichen Thema, dass dem Föderalismus gewidmet sei, kämen zugegebenermaßen die Kommunen immer zu kurz. Papier regte an, über das Thema der Kommunen einmal eine eigenständige Tagung zu machen. Ihm sei bekannt, dass die Lage der Kommunen ausgesprochen kritisch sei.
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Dr. Klaus-Dieter Grunwald dankte Papier für seine Ausführungen, die gezeigt hätten, dass man verfassungspolitische Aspekte in die Diskussion einbeziehen müsse. Ein zweistelliger Millionenbetrag sei mit der Föderalismuskommission ohne jedes Ergebnis verschwendet worden. Das könnten wir uns nicht leisten. In der Bevölkerung gebe es eine politische Unzufriedenheit, der es an Struktur, Plan und politischem Realismus fehle. Die einzige Institution, die diesen politischen Immobilismus auflösen könne, sei das Bundesverfassungsgericht, wie man an zahlreichen Beispielen wie der Ausbeutung junger Familien durch das Steuersystem sehen könne. Er fand am Vortrag besonders den Punkt bedenkenswert, dass wir vom „Gleichheitssyndrom“, also dem Versuch, alles gleich machen zu wollen, wegkommen sollten. Er bedauerte, dass hier nicht das amerikanische als ältestes föderalistisches System zu Wort komme, das auf Vielfalt und Wettbewerb statt Gleichheit setze, was letztlich zu mehr Freiheit und Erfolg führen würde. Hinsichtlich von Reformspielräumen könne er es nicht gutheißen, dass nur das Bundesverfassungsgericht die Spitze des Fortschritts sei und das System immer wieder zu Selbstblockaden führe. Er begrüßte, dass Papier immer wieder in der Presse auftrete und sage, wo es langgehen könne. Er schloss mit einer Frage an Papier, wo dieser noch Handlungsspielräume sehe. Papier wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht nicht Träger der operativen Politik sei und nicht sein könne. Das Bundesverfassungsgericht entscheide verbindlich über die Auslegung und Einhaltung des verfassungsrechtlichen Rahmens für politische Gestaltung. Es sei damit natürlich auch in politisch relevanten Bereichen tätig, wenn etwa ein Gesetz des deutschen Bundestages für verfassungswidrig bzw. nichtig erklärt werde. Aber das Bundesverfassungsgericht könne natürlich niemals als eine Art positiver Gesetzgeber auftreten. Insofern sei ein kraftvolles, gestalterisch befähigtes Parlament unersetzbar. Das Bundesverfassungsgericht habe kein Interesse daran, dass die Reputation der politisch tätigen Institutionen so gering sei und könne, wolle und dürfe nicht in die Bresche springen, wenn das Parlament an Regelungskraft eingebüßt habe. Dr. Kurt-Friedrich von Scheliha brachte die Rolle des Bundesrates zur Sprache. Papier habe in einer Nebenbemerkung darauf hingewiesen, dass zunächst nach der Entstehung des Grundgesetzes ein Dualismus zwischen Bund und Ländern geherrscht habe. Es habe eine Anzahl von profilierten Ministerpräsidenten wie Erhard, Meier, Arnold und Kopf gegeben, die stärker ihre Funktion als Ministerpräsidenten wahrgenommen hätten, als dass sie parteipolitisch orientiert gewesen wären. Adenauer habe beispielsweise auch den Bundesrat ein bisschen verächtlich als „Parlament der Oberregierungsräte“ bezeichnet. Dann habe sich eine Entwicklung des Bundesrates hin zum überwiegend parteipolitischen Instrument vollzogen. Dies habe zur deutlichen Konfrontation geführt, als beispielsweise in den letzten Jahren
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der Regierung Kohl steuerpolitische Gesetzentwürfe der Regierung vom Tisch gewischt wurden. Heute sei die Situation nicht anders. Der Bundesrat werde also von der Intention her immer mehr als parteipolitisches Instrument missbraucht. Dann lande die Sache beim Vermittlungsausschuss und werde für die Bevölkerung völlig undurchsichtig. Dadurch sei auch der Vertrauensverlust nachvollziehbar, von dem Papier gesprochen habe. Das Senatsmodell sei damals im parlamentarischen Rat eingehend erörtert worden, man habe sich dann aber doch für die Fortsetzung des Bundesrats in anderer Form entschieden. Herr von Scheliha regte an, dass man diesen Gedanken immer mal wieder ventilieren solle, obwohl er nicht glaube, dass die Regierungschefs bereit sein würden, auf ein Mitspracherecht im Bundesrat zu verzichten. Papier bedankte sich für diese interessante Ergänzung seiner Ausführungen. Es sei in der Tat so, dass sich damals aus nachvollziehbaren Gründen Adenauer gegen das Bundesratsmodell ausgesprochen habe, weil er natürlich schon die Macht der Landesregierungen befürchtet habe. Dies erkläre auch seine abfällige Bemerkung über den Bundesrat als „Parlament der Oberregierungsräte“. Da habe er wohl schon den drohenden Machtzuwachs der Landesexekutiven gesehen. Die Entwicklung sei aber nun so gelaufen, und das Bundesratsmodell habe in Deutschland ja auch Tradition. Es basiere auf dem Bundesrat der badischen Reichsverfassung, der dort aber anders angelegt gewesen sei als im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Dr. Joachim Lohmann sprach die Problematik an, dass Länder zwar Zuständigkeiten haben, diese aber nicht ausfüllen und stellte die Frage, was die Vorschläge Papiers brächten, wenn die Länder im Grundsatz ihre Zuständigkeiten nicht ausfüllten, sondern – wie im Bereich des Schulwesens – abgeben an die „Fachbrüderschaften“. Der Verlust der Länder an eigener Gestaltung im Schulbereich liege nicht an ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit in diesem Bereich. Trotzdem hätten sie ihn zum weitaus größten Teil an die KMK abgegeben. Dies sei der Versuch einer Ressortverselbständigung gegenüber den jeweiligen Landesregierungen wie auch den Parlamenten durch Entzug in ihre Fachbrüderschaften. Wenn er nicht aufgebrochen würde und Länder ihre Rechte nur unzureichend wahrnähmen, würden auch „starke“ Länder nicht viel helfen. Dann hätte man zwar starke Länder, es würde sich aber trotzdem wieder fast alles in den Fachministerkonferenzen abspielen, während die Parlamente ihre Eigenständigkeit im Grundsatz kaum wahrnehmen würden. Er bezweifelte, dass daran ein Kammersystem viel ändern würde. Papier verwies darauf, dass der Begriff „Fachbruderschaften“ nicht von ihm stamme, sondern von Frido Wagner in die rechtswissenschaftliche Dis-
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kussion eingeführt wurde. Seitdem sei dieser Begriff in der juristischen Diskussion verbreitet. Seine Hoffnung sei, dass stärkere Länder, die zu größerer Eigenstaatlichkeit in der Lage seien, diesen Ring der gegenseitigen Absprache vielleicht eher einmal durchbrechen könnten, als ein Verein von Ländern, die vielleicht nicht über die Kraft und die personellen Ressourcen verfügten, eigenständige Wege zu gehen. Er habe die Beobachtung gemacht, dass in vielen Fragen die Länder wie der Freistaat Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg schon in der Lage seien, zumindest in diesem Kreis der Abstimmungsbürokratie eine gewisse Führungsrolle oder die Meinungsführerschaft zu übernehmen. Er räumte allerdings ein, dass er auch keinen Königsweg habe und es vielleicht eine zu vage Hoffnung und eine zu naive Vorstellung sei, die dahinter stecke, und es sich eventuell nicht lohne, sich an diese dicken Bretter heranzuwagen. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera stimmte mit Papiers Analyse überein, obwohl diese nicht besonders günstig für das deutsche Modell sei. Er habe auch zutreffend darauf hingewiesen, dass andere Staaten dieses Modell nicht hätten und wir somit der einzige Staat seien, der das Bundesratsmodell habe. Magiera regte an, auch den Blick auf Europa zu lenken, denn dahin hätten wir unser Modell exportiert. Er wies darauf hin, dass es in Deutschland unmöglich wäre, die Länder so zuzuschneiden, dass sie alle die gleiche Kraft hätten. In Europa würde sich das Problem potenzieren, denn dort sei es ja unmöglich, irgendwelche Staaten zusammen zu tun, damit sie in etwa gleich stark wären. Auch wenn man den Blick nach USA richtete, wo die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse dadurch hergestellt werde, dass man dort hinzieht, wo man viel Geld verdient, so wäre dies in Europa allein schon wegen der sprachlichen Probleme sehr schwierig. Im Ergebnis teile er die Analyse Papiers, dass man keine Rezepte habe, wie man dies in irgendeiner Weise verbessern könne. Der einzige Trost sei, dass der Föderalismus – ähnlich wie Demokratie allgemein – für Deutschland und vielleicht auch für Europa immer noch das beste aller schlechten Systeme sei, was man erreichen könne. Man müsse eben mit den Schwächen leben. Diese seien so schlimm auch wieder nicht, schließlich sei bisher noch keiner daran gestorben. Papier stimmte zu, dass die europäischen Mechanismen ähnlich wie die der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland seien. Er gab aber zu bedenken, dass doch ein gewisser Unterschied bestehe. Die Bundesrepublik Deutschland sei ein Staat und der Bund eben ein Gesamtstaat, während die EU ganz bewusst auch nach dem politischen Willen der Völker Europas in der derzeitigen Situation und der Grundlage der neuen Verfassung kein Staat, sondern ein Staatenverbund sein werde. Es sei nach wie vor eine losere Verknüpfung als die Vereinigung der Bundesländer in einem Bundesstaat. Deshalb könne Europa als Staatenverbund wohl auch gar nicht anders
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organisiert sein und funktionieren als nach den gegenwärtigen und laut Verfassung auch künftigen Strukturen. Aus diesem Grund überzeuge ihn der Vergleich nicht in voller Hinsicht, obwohl sich natürlich die Schwächen, die sich bei uns zeigten, auch auf europäischer Ebene wiederholten. Bezogen auf die europäische Ebene habe er dafür aber mehr Verständnis, weil es da wahrscheinlich nicht anders sein könne, weil Europa kein Bundesstaat sei und nach unserem Verfassungsverständnis auch keiner sein könne. Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof bedankte sich für das anregende Referat und dafür, dass auch das Thema der Neugliederung angeschnitten wurde. Er bedauerte, dass dieser Bereich in der ganzen Föderalismusdiskussion tabuisiert würde und ein Denkverbot herrsche. Jeder meine doch, wenn das Thema aufs Papier komme, dann hieße die Richtung nur noch 10 oder 6 Bundesländer, und die kleinen würden rausfliegen. Es wäre dankenswerterweise bereits angesprochen worden, dass wir eigenständige, kraftvolle Länder bräuchten, weil sonst der Föderalismus nicht mit Leben erfüllt sei. Diese falsche Zielsetzung – weniger Bundesländer und die Kleinen raus – führe dazu, dass wir gar nicht darüber nachdenken würden, was eine Neugliederung bringen könnte. Die erste Frage wäre: in welche Richtung wollen wir neu gliedern? Eine Gliederung nur nach der Einwohnerzahl, also der Größenverhältnisse, wäre etwas zu einfach. Ginge es nach der Verwaltungs- und Gesetzgebungskraft, dann wären wir wieder beim Thema Bundesrat. Ginge es nach der Finanzkraft, dann würden die kleinen Bundesländer insgesamt in Frage gestellt. Ginge es nach wirtschaftsgeographischen Merkmalen, dann müsse man das Thema Stadtstaaten und deren Speckgürtel ansprechen. Es herrsche noch keine Einigung darüber, in welche Richtung eine Neugliederung laufen könne. An dieser Stelle müsse man dringend ansetzen. Es könne ja auch so sein, dass im Falle einer Steuerung der Wirtschaftsstrukturen durch den Neuzuschnitt der Bundesländer nicht Bremen und Hamburg verschwinden würden, sondern auf Kosten von Schleswig-Holstein und Niedersachsen vergrößert würden. Dies solle aber kein Plädoyer sein, sondern nur eine Anregung zum Nachdenken. Papier stimmte zu, dass man sich in Fragen der Neugliederung in der Politik offenbar ein Denkverbot verpasst habe. Erstaunlicherweise nähmen dies auch die Medien ganz unbeschwert auf. Jeder, der darüber nachdenke, werde bezichtigt, nicht mehr an die Verfassung zu glauben. Das habe natürlich dazu geführt, dass man diese Überlegungen nicht vertieft habe und man sich den Fragen, die sie anschneiden würden, nicht stelle. Die Politik klammere dies aus und werde dies auch weiter tun. Deshalb sei man auch in der staatsrechtlichen Wissenschaft nicht bereit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Er selbst lege sich als Präsident des Bundesverfassungsgerichts hier auch bewusst Zurückhaltung auf. Dies müsse von der Wissenschaft – und gegebenenfalls von den Medien – transportiert und entwickelt
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werden. Es gebe bei den Kriterien keinen Königsweg. Aber solange man überhaupt nicht bereit sei, dieses Thema anzuschneiden, möchte er sich auch nicht als ewiger Forderer und Mahner betätigen, sondern sich darauf beschränken, einmal einen Denkanstoss gegeben zu haben. Univ.-Prof. Dr. Thomas König nahm Bezug auf das Problem der Reformbedürftigkeit und der Beseitigung von Hemmfaktoren, um die Handlungsfähigkeit zu steigern. So werde der Vermittlungsausschuss ja häufig kritisiert. Aber wenn man nach Papiers Analyse vorgehe, habe der Vermittlungsausschuss doch sehr erfolgreich – mit einer Erfolgsquote von fast 100% – Konflikte entschärft, die zwischen Bundesrat und der Mehrheit im Bundestag letztlich immer wieder entstanden seien. Der Vermittlungsausschuss sei letztlich der Garant dafür, dass es nicht zu Machtblockaden komme, sondern er hebe diese auf und verschaffe – dies habe das Bundesverfassungsgericht bestätigt – durch die Mittel der Nivellierung der Stimmengewichte und der Abstimmung in einem Gremium immer wieder neue Mehrheiten. Man könne sogar Gesetze miteinander zu „Package Deals“ kombinieren, die ja manchmal zu Verwirrungen inhaltlicher Natur, aber dennoch zur Handlungsfähigkeit führten. Man müsse also davon ausgehen, dass hier zwischen dem Verhältnis von Bundesrat und Bundestag eine höchst effiziente Institution existiere. König nahm im Folgenden Bezug auf die Rolle des Bundestags. Wenn man sich die Gesetzgebungsstatistik anschaue, die von Papier sehr vorsichtig interpretiert worden sei, könne man feststellen, dass alle Gesetze durch die Mehrheit im Bundestag geändert worden seien. Das heißt, es sei letztlich doch die Bundestagsmehrheit, die diese Gesetze gestalte und nicht der Bundesrat. Der Bundesrat hemme die Gesetzgebung relativ selten. Selbst die Regierung Kohl sei zu einem Verabschiedungsrekord von 90% ihrer Gesetzesvorlagen gekommen. Das Problem könne schließlich auch an den Koalitionsparteien und deren Abschlüssen liegen. Dann sei eine mögliche Alternative nicht das Senatsmodell, sondern ein System, das die Koalitionsbildung möglichst ausschließe, sprich ein Mehrheitswahlsystem. Papier nahm daraufhin zum Vermittlungsausschuss Stellung. Unter den gegebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben der Gesetzgebung sei dieser sicherlich eine sinnvolle Erscheinung. Ohne ein solches Gremium ginge es wohl nicht. Wenngleich man auch sagen müsse, dass diese Art der Gesetzgebung in bestimmten Fällen dazu führe, dass – übertrieben gesagt – in einer Nacht Gesetzespakete von über 1000 Seiten verabschiedet würden. Diese Art der Gesetzgebung führe wieder zu einer anderen Mangelerscheinung, nämlich zu der beklagten Regulierungswut, Normenflut, und zu handwerklichen Mängeln in der Gesetzgebung. Diese Mängel würden dann immer wieder auch mal in Verfassungsverstöße umschlagen, weil man im Grunde nicht mit der gebotenen Ruhe und Übersicht dafür sorgen könne,
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dass die auf diese Weise zustande gekommenen Gesetze über ein Mindestmaß an Rationalität und Systematik verfügten. Unter den gegebenen Umständen sei das Wirken des Vermittlungsausschusses unverzichtbar. Er habe auch immer gegen die Einsetzung von Kommissionen Stellung bezogen, die dann gewissermaßen die politisch substanzielle Entscheidung aus dem Parlament heraus verlagerten, aber den Vermittlungsausschuss beziehe er da eindeutig nicht mit ein. Dieser sei ja ein Gremium des Parlaments und des Bundesrats, das durchaus unter den gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen unverzichtbare Arbeit leiste. Aber ob diese Arbeit unter anderen Aspekten dem Bundesbürger nur Freude bereiten könne, das sei eben die große Frage. Es sei richtig, dass viele Gesetzesvorlagen der Bundesregierung aus dem Gesetzgebungsverfahren im Bundestag nicht so herauskämen wie im Zeitpunkt der Vorlage durch die Bundesregierung. Es wäre nun noch zu prüfen, inwieweit diese Änderungen sich nur auf Detailfragen beziehen würden oder wirklich substanzieller Art oder das Ergebnis von stärkeren Einwirkungen von Lobbyverbänden seien. Beim Bundesrat sei die Frage anders. Man dürfe die Möglichkeit des Bundesrats als Blockadeinstrument wirklich nicht überschätzen. Die meisten Gesetze liefen da durch, es sei ja nicht das Alltagsgeschäft, das der Bundesrat sich querlegt. Wenn die Mehrheit des Bundesrates aber signalisiere, dass ein bestimmtes Vorhaben nicht laufe, dann werde es möglicherweise schon gar nicht eingebracht. Die Vorwirkung einer bestimmten Haltung einer jeweiligen Mehrheit im Bundesrat könne man so nicht statistisch erfassen. Jedenfalls besitze der Bundesrat, wenn er eine andere Mehrheit aufweise, ein sehr viel stärkeres Verhinderungs- und Änderungsdurchsetzungspotenzial als etwa Mehrheiten im Bundestag. Dr. Christian Jülich nahm Bezug auf die idealtypische Funktion der Landesparlamente. Papier habe drei Voraussetzungen dafür genannt, dass der Landesgesetzgeber tätig werde: er müsse die Möglichkeit haben, er müsse den Willen haben und er müsse die Stärke haben. Die Möglichkeit sei eine Frage von Kompetenzen. Dort wo er sie habe, tauche die nächste Ebene, die Frage des Willens, auf. Die Problematik der „bösen Fachbrüderschaften“ sei ja hier erörtert worden. Er vertrat die Ansicht, dies könne durchbrochen werden, wenn die Kraft dafür da wäre. Er habe immer gesagt, wenn man einen umfangreichen Gesetzentwurf irgendwo in einen Landtag einbringe, seien mehr als 10% der Materie überhaupt nicht verhandlungsfähig. Er sei nach seinen Erfahrungen zutiefst deprimiert über das, was man in den Landesparlamenten erleben könne, sogar in einem großen Land wie Nordrhein-Westfalen. Papier stimmte dieser Einschätzung zu, mahnte aber, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass sich daran etwas ändern könne. Er hoffe, dass eine Ausweitung der Regelungszuständigkeiten bei den Landesparlamenten dazu
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führen werde, dass wieder mehr Personen, die wirklich politisch gestalten wollten, bereit seien, sich in die Landesparlamente wählen zu lassen. Peter Marx sprach die Möglichkeiten einer Volksgesetzgebung an und fragte, ob Papier es für möglich halte, ob im Grundgesetz ein Spielraum bestehe oder geschaffen werden könne, so dass durch das Element einer Volksgesetzgebung gegebenenfalls wechselseitige Blockaden zwischen Bundestag und Bundesrat aufgehoben werden könnten. Es gebe ja beispielsweise die Formulierung „das Volk wirkt mit durch Wahlen und Abstimmungen“, wobei dies bisher bei Abstimmungen – zumindest bezogen auf die Bundesebene – bisher überhaupt nicht stattgefunden habe. Bei einer früheren Tagung wäre hierzu mal gesagt worden, dass die Bundesregierung bisher das Volk nicht für reif halte, um über etwas abstimmen zu können und deswegen nichts zur Abstimmung vorgelegt habe. Die Idee einer Volksgesetzgebung könne seines Erachtens durchaus geeignet sein, einen Reformstau zwischen Bundesrat und Bundestag zumindest strategisch auf längere Frist aufzuheben, weil durch eine Volksgesetzgebung dann auch entsprechend der Wille des Volkes konkret zum Ausdruck kommen könne. Merten merkte an, dass das Grundgesetz zumindest eine Abstimmungsmöglichkeit vorsehe, nämlich die Länderneugliederung in Artikel 29, wovon aber kein Gebrauch gemacht werde. Papier ergänzte, dass das Grundgesetz selbstverständlich geändert werden könne. Der verfassungsändernde Gesetzgeber könne so eine Volksgesetzgebung für bestimmte Bereiche einführen. Er wies allerdings darauf hin, dass man bei einem Volksentscheid auch berücksichtigen müsse, dass die Rechte der Länder gemäß Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gewahrt blieben. Die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes müsse also gewährleistet sein. Dies sei auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber unumstößlich und bindend. Man müsse also bei einer Volksgesetzgebung, wenn man dem Bundesstaatsvolk ein Gesetz zum Entscheid vorlege, in irgendeiner Form die Rechte der Bundesländer wahren. Da reiche es nicht zu sagen, ein Volksentscheid sei angenommen, wenn ein bestimmter Prozentsatz der Gesamtbevölkerung des Bundes dem zugestimmt habe, weil das dann offensichtlich auch die Mehrheit in den Ländern sei. Dies gehe nicht, da man dem Bundesvolk die Frage vorgelegt habe und die Länder dann in irgendeiner Form an der Volksgesetzgebung beteiligen müsse. Den Konflikt, der dadurch entstehen könne, dass die Länder nach Art. 79 Abs. 3 unumstößlich an der Bundesgesetzgebung zu beteiligen seien, könne man auch durch die Volksgesetzgebung – zumindest im Grundsatz – nicht ausschließen. Sie müsse dann andere Formen finden, aber die Länder müssten an der Gesetzgebung – auch wenn sie vom Bundesvolk ausgehe – beteiligt werden. Sicher könnten gewisse gegebene Blockadepotentiale überwun-
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den werden, wenn man in stärkerem Maße eine Volksgesetzgebung einführen würde, wobei man vielleicht gar nicht so weit gehen müsse. Wenn man meine, über einen stärkeren Einbau plebiszitärer Elemente die gegenwärtigen politischen Hemmnisse überwinden zu können, würde es vielleicht ausreichen, das Institut der Volksinitiative einzuführen. Diese würde eventuell genügen und ließe die Hoheit des Parlaments als der Volksvertretung intakt. Das Parlament wäre dann nach wie vor der alleinige Gesetzgeber, nur die Initiativen würden nicht nur, wie es jetzt der Fall sei, von der Bundesregierung, einem Quorum des Parlaments oder vom Bundesrat ausgehen, sondern dann hätte auch ein Quorum des Volkes ein Initiativrecht. Er wolle sich dafür gar nicht einsetzen, sondern nur darauf hinweisen, dass eine solche Volksinitiative möglicherweise reichen würde, um die von vielen beklagte Erstarrung des politischen Systems aufzubrechen, aber die Gesetzgebung beim Repräsentationsorgan zu belassen. Merten merkte an, dass bei der Volksgesetzgebung der politische Druck auf den Bundesrat natürlich ungeheuerlich wäre, falls das „Parlament der Oberregierungsräte“ die Zustimmung zu einem Gesetz verweigern würde, das das Volk in überwältigender Mehrheit beschlossen habe. Papier ergänzte hierzu, dass die Mitwirkung der Länder dann anders gesichert sein müsse, etwa dergestalt, dass man nicht nur die Mehrheit des Bundesvolkes, sondern auch eine qualifizierte Mehrheit der Abstimmung der Ländervölker verlange. Es gebe also Modelle, nach denen man die Rechte der Länder sichern könne, aber ob diese nun politisch erstrebenswert seien, das möchte er offen lassen. Merten dankte Papier erneut für das Referat und beendete die Diskussion.
Entflechtung bundesstaatlicher Verantwortung im Bereich der Gesetzgebung Von Edzard Schmidt-Jortzig Daß sich die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland festgezogen hat, daß sie den Anforderungen an die Handlungsfähigkeit des Staates im Innern wie im Äußern nicht mehr gerecht werden kann und daß sie auch den Menschen immer weniger als leistungsfähig und erstrebenswert erscheint, hat sicher vielfältige Gründe. Undurchsichtigkeit des Systems, bürokratische Verkrustungen und eine schleichende Unitarisierung sind etwa zu nennen. Aber vor allem spielen wohl die mannigfache Verklammerung von Zuständigkeiten, die nachlassende Fähigkeit, öffentliche Aufgaben geschlossen und zügig in Angriff zu nehmen und durchzuführen, sowie die Verwischung der Verantwortlichkeiten eine Rolle. Hauptziel einer Föderalismusreform muß deshalb die Wiederherstellung voller Handlungskompetenzen sein und ihre klare Zuordnung auf eine der beiden Staatsebenen, Bund oder Länder. Darüber sind sich alle einig. Ohne solcherart die Verantwortlichkeiten wieder freizulegen, wird der deutsche Bundesstaat keine valide Statur mehr erreichen und im weltweiten oder europäischen Konzert der Staaten weiter zurückfallen. Dieses Reformziel bezieht sich auf sämtliche Bereiche des staatlichen Handelns. Es gilt für die Verwaltungszuständigkeiten ebenso wie für das Finanzierungsgeflecht. Auch die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte in der EU muß entsprechend neu geordnet werden. Vor allem aber ist die Entflechtung der Verantwortlichkeiten im Bereich der Gesetzgebung ein Eckpunkt der Reformbemühungen. Ohne hier befreiend voranzukommen, verkümmert die Politikfähigkeit in Bund und Land und verlieren beide Staatsebenen ihr Steuerungspotential. I. Ausdünnung der konkurrierenden Bundesgesetzgebungszuständigkeit Unter den Gesetzgebungsaktivitäten des Bundes sind als erstes jene unter die Lupe zu nehmen, die sich kompetenziell irgendwie mit denen der Länder verbinden, auf sie bezogen sind oder nur gemeinsam ausgeschöpft werden können. Sie leisten der Verantwortungsvermengung besonders Vorschub.
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Allerdings: Für eine Harmonisierung der Verhältnisse lassen sie sich in einem Bundesstaat auch nicht völlig vermeiden. Es kommt mithin erneut auf das richtige Maß der Aufeinanderzuordnung an. Unter den verbundenen Legislationsformen spielt die konkurrierende Bundesgesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1, 74a Abs. 1 und 4, 105 Abs. 2 GG die wichtigste Rolle und dies nicht nur quantitativ, sondern auch systematisch. Sie also kommt reformerisch vor allem ins Visier. 1. Neuzuteilung der Regelungsgegenstände Zur legislativen Verantwortungsentflechtung müßten hier zunächst die Festlegungen des Erstreckungsareals zurückgestutzt werden. Zu dem System der Sachkataloge für die einschlägige Bestimmung gibt es dabei ernsthaft keine Alternative. Wenn die beiden vorhandenen Hoheitsebenen grundsätzlich Staatsqualität haben, kommt ihnen beiden auch Gesetzgebungshoheit zu, und deren Aufteilung und Abgrenzung voneinander läßt sich dann nur nach den Regelungssubstraten, den jeweiligen Gestaltungsmaterien treffen. Die Legislativzuständigkeit der Länder gilt dabei nach der bundesstaatlichen Verfassung (Art. 30, 70 Abs. 1 GG) als der Ausgangstatbestand. Dem Bund müssen die Regelungsgegenstände also ausdrücklich und enumerativ zugewiesen werden. Die entsprechende Festlegung der Materien hat dem Bund im Laufe der Jahre immer mehr Normierungsbereiche zugeordnet. Dieser Befund belegt nicht nur latente Entwicklungen, die offenbar in jedem Bundesstaat bestehen, sondern zeigt vielleicht auch eine speziell deutsche Tendenz, nämlich eine gewisse Neigung der Länder, nicht ungern manche Verantwortungslast auch loswerden zu können. Eine Revitalisierung des Föderalismus hat deshalb darauf zu sehen, daß dieser Trend umgekehrt wird. Bei der Dislozierung der Gesetzgebungsfelder sind in den Verhandlungen der Föderalismuskommission durchaus respektable Ergebnisse zustande gekommen. So soll der Bund etwa das Melde- und Ausweiswesen, den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland, das Waffen- und Sprengstoffrecht, die Kriegsopferversorgung und das Atomrecht in seine ausschließliche Zuständigkeit übernehmen, während die Länder beispielsweise für das Versammlungsrecht, das Notariatswesen, den Ladenschluß, das Gaststättenrecht, die Flurbereinigung, das Siedlungs- und Heimstättenwesen und die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse allein verantwortlich sein sollen. Die Entflechtung ließe sich aber gewiß noch weiter vorantreiben (immer vorausgesetzt freilich, daß es gelingt, die Länder institutionell stärker zu machen, d. h. in die Lage zu versetzen, auch wirklich mehr Regelungsaufgaben bewältigen zu können). Es darf jedenfalls nicht nur um
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Marginalgegenstände gehen, die den Ländern rückübertragen werden. Wichtig scheint deshalb namentlich, daß die konkurrierende Bundeszuständigkeit für das gewissermaßen „betriebliche“ Beamtenrecht, die Besoldung und Versorgung des beamteten öffentlichen Dienstes also, aufgelöst werden soll und die Länder diesen Bereich für ihre und die kommunalen Beamten selber regeln können, während der Bund sich auf die Festlegung für seine eigenen Bediensteten zurückzieht. Allerdings wird sich nach allem eine größere Rechtsvielfalt im Bundesgebiet ergeben. Verschiedene Normierungsfelder werden einfach von Land zu Land unterschiedliche Regelungen aufweisen. Die gern beschworene „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ wird sich also nicht unbedingt mehr auf die Ausformung aller rechtlichen Tatbestände erstrecken können. Das bequeme Einrichten in einer bundesweit identischen (und dichten) Regelungslage wird – jedenfalls in Teilen – ein Ende finden. Darauf müssen sich die Menschen einstellen. Aber daß man damit durchaus auch leben kann, zeigt die Realität in anderen Bundesstaaten (beispielsweise den USA, der Schweiz oder Australien), und immerhin läßt sich dann bei Landtagswahlen gezielter auf das politische Wirken der verantwortlichen Gesetzgebungsmehrheiten reagieren. Föderalismus bedeutet nun einmal stets eine offene Flanke des Gleichheitssatzes, läßt aber dadurch auch die Stimulationskräfte von Heterogenität, Vergleichsmöglichkeit und Wettbewerb entstehen. 2. Entriegelung des konkurrierenden Gesetzgebungsrechts Bisher ist nicht nur die Inanspruchnahme, sondern schon die Kompetenzentstehung nach Art. 72 Abs. 2 GG vom Vorliegen einer bestimmten Erforderlichkeit abhängig. Und nachdem eine Verfassungsänderung 1994 diese Voraussetzung bewußt verschärft hat, wendet nun bekanntlich auch das Bundesverfassungsgericht die Konditionierung strenger an. Dies erscheint nur konsequent. Selbst wenn man bei den betreffenden Karlsruher Entscheidungen die eine oder andere Begründungsschwäche ausmachen mag, ist das Ergebnis entsprechend der Normvorgabe vollauf korrekt. Und man kann jetzt nur überlegen, ob die bestehende Rechtslage politisch noch passen will oder durch erneute Verfassungsänderung beseitigt bzw. umgeformt werden sollte. Die zurückliegende Föderalismuskommission hat zwar auf eine Änderung der Erforderlichkeitsklausel verzichtet, dafür aber die bundesgesetzliche Inanspruchnahme von mehr als der Hälfte aller Regelungsmaterien von ihrem Diktat ausgenommen. Ob dies ein eleganter oder jedenfalls praktischer Weg ist, läßt sich allerdings bezweifeln. Dogmatisch-systematisch kann man zwar eine solcherart „entriegelte“ konkurrierende Gesetzgebungsbefug-
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nis immer noch von dem ausschließlichen Gesetzgebungsrecht nach Art. 71, 73 GG unterscheiden. Die rechtswissenschaftliche Überzeugungskraft der Unterscheidung geht aber gegen null. Und für die politische Realität erweist sich die Differenz als völlig unerheblich. Von der Sinnhaftigkeit einer Gestaltung wie beim neuen Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG (Statusrechte und -pflichten der Beamten mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung) soll noch gar nicht gesprochen werden, wo die Befreiung von der Erforderlichkeitsklausel sogleich mit einer Bindung an die Bundesratszustimmung gekontert wird. M. E. empfiehlt sich durchaus, an der verschärften Erforderlichkeitsklausel festzuhalten, dafür aber eben die Materien der konkurrierenden Bundesgesetzgebungszuständigkeit kritisch zu überprüfen. Nur die Erforderlichkeitsklausel konturiert überhaupt den Typus der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit. Und allein ihre Aufrechterhaltung verstärkt den verfassungspolitischen Druck, weitere Materien aus dem Bundeszugriff herauszunehmen und den Ländern zu überantworten. Daß es im übrigen auch nicht überzeugend wirkt, wenn man kaum, daß das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsänderung ernst nimmt, dieselbe gleich wieder abschaffen will, ist freilich nur ein ästhetisches Argument. II. Zusätzliche Bundesgesetzgebungskategorien Neben der konkurrierenden Bundesgesetzgebungszuständigkeit gibt es noch weitere Kategorien einer bundesstaatlich verbundenen, abhängigen Legislativhoheit des Bundes. Die bekannteste ist die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG. Aber die Verfassung kennt außerdem den Typ einer „Grundsätzegesetzgebung“ (Art. 109 Abs. 3 GG) oder einer überhaupt gemeinschaftlichen Regelung (Art. 91a Abs. 2–4 GG). Denkbar wären aber gewiß auch noch zusätzliche Möglichkeiten. 1. Rahmengesetzgebung Ob man neben der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis des Bundes als weitere „Verzahnungskategorie“ noch die Rahmengesetzgebung (Art. 75, 98 Abs. 3 S. 2 GG) benötigt, läßt sich durchaus grundsätzlich problematisieren. Bisher hat sich der Bund jedenfalls immer nur mühsam an die Vorgabe halten mögen, lediglich Grundsätzliches und Ausfüllungsbedürftiges regeln zu dürfen. In der Realität erweist sich die Bundesrahmengesetzgebung zudem vielfach als institutionalisierte politische Bevormundung der Länder, wie die Beispiele Hochschulrahmengesetz (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG) oder Bundesnaturschutzgesetz (Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 GG) belegen.
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Auch hier hat sich indessen die Föderalismuskommission um eine Abhilfe bemüht. Sie wollte im Sachkatalog des Art. 75 Abs. 1 GG die Nummern 1 (Rechtsverhältnisse der Beamten), 2 (allgemeine Rechtsverhältnisse der Presse), 5 (Melde- und Ausweiswesen) und 6 (Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland) streichen. Die verbleibenden Nummern 1a (allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens), 3 (Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege) und 4 (Bodenverteilung, Raumordnung und Wasserhaushalt) erwiesen sich dann aber doch als nicht einigungsfähig. Die größeren, stärkeren Länder bestanden auf einer Rückgewinnung der vollen Regelungshoheit und versprachen, die notwendige Harmonisierung und Kooperation durch Staatsverträge sicherzustellen. Der Bund wollte aber auf keinen Fall den maßgeblichen Regelungszugriff auf das Hochschulwesen und die Umweltpolitik aufgeben. Bei ernsthaftem Reformwillen könnten jedoch gewiß auch diese strittigen Gegenstandsfelder in die volle Regelungshoheit der Länder zurückgegeben werden. Nur, sofern Brüssel eine geschlossene Umsetzung einschlägiger Richtlinien verlangt, wäre noch über eine Grundsatzzuständigkeit des Bundes nachzudenken. Das aber sollte als Sondertatbestand bei den europabezogenen Verfassungsnormen geklärt werden und nicht zu einer allgemeinen Bundesgesetzgebungskategorie taugen (darauf ist noch kurz zurückzukommen). Art. 75 GG und damit der Typ „Bundesrahmengesetzgebung“ könnten wenigstens insgesamt aufgehoben werden. 2. Gemeinschaftliche Aufgabenregelung Seit 1969 hält das Grundgesetz nach Art. 91a die Möglichkeit bereit, daß durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates gewisse Materien „näher bestimmt“, d. h. vor allem bezüglich Verfahren und Einrichtung für die inhaltlich notwendige „gemeinsame Rahmenplanung“ vorgeklärt, aber auch in den „allgemeinen Grundsätzen für ihre Erfüllung“ geregelt und in der anteiligen Finanzierung strukturiert werden. Die koordinierte Aufgabenwahrnehmung nach Art. 91b GG ist demgegenüber etwas anderes und bleibt gesetzgeberisch irrelevant. Die gemeinschaftliche Gestaltungsmöglichkeit nach Art. 91a GG hat sich alles in allem als Hort an Intransparenz, bürokratischem Aufwand, ökonomischer Unwirksamkeit und rechnungsprüferischer Resistenz erwiesen. Leider konnte sich die Föderalismuskommission indessen nicht darauf einigen, die Kategorie ersatzlos zu streichen. Nur bezüglich „Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken“ (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG) war man dazu bereit, nicht aber bezüglich der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (Nr. 2) sowie der Verbesserung der
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Agrarstruktur und des Küstenschutzes (Nr. 3). Zwar läßt sich nachempfinden, daß manche Länder sich mit der Bewältigung dieser Aufgaben finanziell überfordert fühlen mögen. Aber das besagt ja noch nichts darüber, daß man die betreffenden Aufgaben in einer umfänglichen Rahmenplanung von Berlin aus inhaltlich mitbestimmen müßte, wo unverkennbar doch die regionale Fachkompetenz in diesen Belangen näher und größer ist. Wenn man Finanzhilfen benötigte, läßt sich das auf dem Wege von Art. 104a Abs. 4 GG erreichen, auch dort muß das Nähere über die Art der zu fördernden Investitionen ja noch durch ein Zustimmungsgesetz geregelt werden. Das grundsätzliche Festhalten an einer lähmenden Bundesmitwirkungsnotwendigkeit ist um gewisser Finanznöte willen wenigstens keinesfalls gerechtfertigt. 3. Neue Art einer legislativen Verzahnung? Für die Arbeit der Föderalismuskommission hatten sich die Landes-Ministerpräsidenten als Wunschkategorie auf eine sog. „Zugriffsgesetzgebung“ verständigt. Sie forderten „auf ausgewählten Kompetenzfeldern eine Möglichkeit des Zugriffs für (einzelne Länder). Dabei behält der Bund das Recht der Gesetzgebung . . . Daneben können die Länder aber im politischen Ideenwettbewerb eigene, ganz oder teilweise von der Regelung des Bundes abweichende Gesetze beschließen, die als Landesrecht auch dann in Kraft bleiben, wenn der Bund seinerseits novelliert.“
Eine vergleichbare Diversifizierung zunächst einheitlich gesetzten Bundesrechts kennt das Grundgesetz bereits in der geltenden Fassung. So erlaubt Art. 72 Abs. 3 GG zu bestimmen, „daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne von Art 72 Abs. 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann“. Und Art. 125a Abs. 2 GG läßt ähnliches für Bundesrecht zu, das als konkurrierendes oder Rahmengesetz erlassen wurde, bevor im Herbst 1994 die Kautelen in Art. 72 Abs. 2 und 75 Abs. 2 GG schärfer gefaßt wurden. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG endlich sieht vor, daß aufgrund Veränderung der Kataloge in Art. 74 Abs. 1 und 75 Abs. 1 GG heute vom Bund nicht mehr veränderbares Recht „durch Landesrecht ersetzt werden“ kann. Und in ganz anderer Hinsicht ermöglicht noch Art. 74a Abs. 3 GG eine normative Verselbständigung, wenn er nämlich dem Bund eröffnet, unter bestimmten Umständen für seinen Dienstbereich von den für alle öffentlich Bediensteten erlassenen Vorschriften bezüglich Besoldung und Versorgung abzuweichen. Für all diese Ausscheroptionen gibt es aber noch keine Staatspraxis, und auch die Rechtslehre hat Abgrenzungen, Tatbestandsschärfung und dogmatische Einordnung bisher nur eingeschränkt liefern können. Eine allgemeine Kategorie der „Zugriffs-, Abweichung- oder Rückholgesetzgebung“ einzuführen, empfiehlt sich also schon wegen systematischer Unsicherheiten wenig. Insbesondere müßte auch
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noch die Auswirkung auf das allgemeine Rangprinzip von Art. 31 GG geklärt werden. Lediglich für die sach- und fristgerechte Umsetzung europäischen Sekundärrechts – im Zusammenhang von Art. 23 GG also – würde sich m. E. eine entsprechende Vorgriffs- oder Auffanggesetzgebung des Bundes bei gleichzeitigem Zugriffs- oder Abweichungsrecht der Länder empfehlen. Denn nur so ließen sich die chronischen Umsetzungsschwierigkeiten Deutschlands bei Brüsseler Richtlinien vermeiden, sobald „im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder“ betroffen sind. Erwogen werden sollte deshalb auf den fraglichen Feldern (in den anderen Bereichen hat der Bund ohnehin das Gesetzgebungsrecht) eine irgendwie primäre Umsetzungs-Gesetzgebungsmöglichkeit, mit welcher kraft der „gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes“ von ihm erst einmal der rein technische Transformationsakt vorgenommen werden kann. Die Ausfüllung der normativen Gestaltungsspielräume, die bei Richtlinien immer gegeben sind, bliebe dann – und sei es nur auf dem Wege der Abweichung – den Ländern vorbehalten. III. Reduzierung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen Als wichtigstes Ziel der Föderalismusreform galt und gilt allenthalben, daß man die Vetomöglichkeiten des Bundesrates verringern möge. Zu oft hat man erfahren müssen, daß Gestaltungsinitiativen der Bundestagsmehrheit vom Bundesrat verwässert oder aufgehalten werden. Konsens ist dann nur mit Zusagen auf anderen Feldern oder mit Finanzhilfen zu erreichen, und ohnehin schwierige Operationen werden durch die zusätzliche Kompromißebene noch weiter kompliziert. Auch läßt sich die Verantwortung für Regelungsschritte letztlich nicht mehr ausmachen, wenn sich im Erfolgsfalle Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat um die politische Patenschaft streiten und im Krisenfall nur gegenseitige Schuldzuweisung herrscht. Die Zahl der vom Bundesrat mitzuentscheidenden Bundesgesetze hat sich in den gut fünfzig Jahren Verfassungsleben unter dem Grundgesetz um die Hälfte ausgeweitet. Zu Anfang waren nur ca. 40% der Bundesgesetze zustimmungspflichtig, heute sind es an die 60%. Insgesamt gibt es etwa 50 Tatbestände im Grundgesetz, welche Zustimmungsbedürftigkeit auslösen, aber sie verbreitern sich zusätzlich, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst das Zustimmungserfordernis nur in einem einzigen Punkt gleich das gesamte Gesetz mitwirkungspflichtig macht und spätere Gesetzesänderungen ganz unbesehen der Zustimmungsbedürftigkeit spezieller Vorschriften schon dann immer vom Bundesrat konsentiert werden müssen, wenn das Gesamtgefüge des ursprünglichen Gesetzes verändert
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wird (was eigentlich immer attestiert werden kann). Als grundsätzlich richtig erweist sich jedenfalls, daß Hauptauslöser für den Zustimmungsfall Art. 84 Abs. 1 GG ist. Und unbestritten war deshalb immer, daß besonderes Anliegen einer Föderalismusreform gerade die Entschärfung dieser Vorschrift sein müsse. Überraschen mag nur, daß die betreffende Diskussion eigentlich selten auch unter dem Aspekt einer Reduzierung der Bundeseinwirkungen auf die Organisationshoheit der Länder geführt wird. 1. Vorgeschlagener Besserungsweg Was schließlich als Ergebnis der Reformbemühungen in der Föderalismuskommission zu Papier gebracht wurde, ist allerdings höchst bescheiden. Die gefundene Neuformulierung des Artikels mutet vielmehr ihrerseits geradezu problematisch an. Zum einen nämlich bestätigt sich bei ihr erneut die Tendenz des modernen Gesetzgebers, Vorschriften allemal so zu konditionieren und zu „verhartzen“, daß am Ende ein Regelungsungetüm mit zahlreichen Modifizierungen, Ausnahmen und Unstimmigkeiten herauskommt, welches selbst von Experten kaum noch durchdrungen, geschweige denn kontrolliert gehandhabt werden kann. Zum anderen werden die erstrebten Entflechtungsgewinne durch Zugeständnisse und Neueröffnungen an dritter Stelle weitgehend wieder zunichte gemacht. Der artikulierte Reformvorschlag will zunächst vom geltenden Wortlaut nur die Hauptaussage stehen lassen: „Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren“. Diese Regel ergibt sich freilich schon von selbst, denn daß bei einer Gesetzesausführung durch die Länder „als eigene Angelegenheit“ sie auch die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, folgt ja schon aus Art. 30 GG, der grundsätzlichen Staatsqualität der Länder und ihrer konstitutiven Organisationshoheit. Da der Reformvorschlag aber augenscheinlich vor einer echten Flurbereinigung zurückscheute, soll doch noch ein Hintertürchen für bestimmte Bundeseinflußnahmen offengehalten werden, und damit dann solche Ausnahmezugriffe nicht die Länder wieder zu sehr knebeln, wurde ihnen eine Überspielungsmöglichkeit eingeräumt. Satz 2 des Vorschlags soll deshalb lauten: „Sofern Bundesgesetze etwas anderes bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen“. Kautelen für diese Abweichungsoption werden indes nicht genannt, so daß die Klärungsbedürftigkeit durch das Bundesverfassungsgericht geradezu mit Händen zu greifen ist. Für Satz 3 wird dann dem Umstand Rechnung getragen, daß wohl eine Vorschrift zur Auflösung der absehbaren Geltungskonkurrenz zwischen den unterschiedlichen Normen gebraucht werde, weshalb es hier nun heißen soll: „Regelungen der Länder gehen den Regelungen des Bundes nach Satz 2 vor“. Satz 4
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treibt freilich die angerichtete Konfusion noch weiter: „In Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeiten für die Länder regeln“. Da soll es also nun – wieder unbenannte – Steigerungen der ohnehin ja exzeptionellen Bundeseinwirkungsbedingungen nach Satz 2 geben, gewissermaßen noch „ausnahmsweisere“ Ausnahmelagen, wie immer man diese ansetzen mag – von den hierbei geltend zu machenden „besonderen Bedürfnissen nach bundeseinheitlicher Regelung“ sei noch gar nicht gesprochen. Alle danach überhaupt zustande kommenden Bundesgesetze bedürfen schließlich gemäß Satz 5 erneut der Zustimmung des Bundesrates. Der einzig sinnvolle Satz der neu konstruierten Verfassungsvorschrift ist nach allem allein der letzte: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden“. „Reform“ soll ja im Grunde Verbesserung eines bisherigen Regelungszustandes im Hinblick auf ein vorgegebenes Gestaltungsziel bedeuten und nicht nur Veränderung als solche, egal in welche Richtung, und sei es gar ins Chaos. „Reform“ also würde man die konzipierte Verfassungsänderung kaum nennen können, eine „Konfusionsschaffung“ aber auf jeden Fall. 2. Lösungsalternative Ein wirklicher Fortschritt in Richtung auf eine Reduzierung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen wäre bei Art. 84 Abs. 1 GG sofort zu erreichen, wenn man a priori jede Einwirkungsmöglichkeit des Bundes auf Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren der Länder unterbände. Im geltenden Art. 84 Abs. 1 GG brauchte dafür nur der Nachsatz „Soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen“ gestrichen zu werden. Ohnehin könnte der Bund ja bereits jetzt die mißliebige Zustimmungsbedürftigkeit vermeiden, wenn er schlicht auf entsprechende organisatorische Einwirkungen bei den Ländern verzichtete. Aber es gelingt einfach nicht, daß sich der Bund aus dem Organisationsbereich heraushält. Er möchte eben augenscheinlich überall mitreden oder seine eigenen Sachregelungen bis zum letzten Adressaten weiter verfolgen. Ein rechtliches Bedürfnis nach Mitgestaltungsbefugnis bei Behördenorganisation und Verwaltungsverfahren besteht jedenfalls nicht. Für ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber der administrativen Leistungsfähigkeit der Landesbehörden gibt es heutzutage weder Raum noch Anlaß. Die materiellen Regelungen der Bundesgesetze können außerdem allemal so stringent gehalten werden, daß für unterschiedliche Anwendungsformen – abweichende Arten oder Modalitäten der „Ausführung“ also – gar kein Raum mehr bleibt. Und wo man allgemeine Rechtmäßigkeits- oder Dignitäts-
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schwächen bei Landesverwaltungen meint befürchten zu müssen, verweist das Grundgesetz solche Besorgnis unmißverständlich auf die Sekundärebene. Art. 104a V GG bestimmt seit langem, daß die Länder nicht nur die finanzielle Verantwortung für ihren Aufwand bei der Gesetzesausführung tragen, sondern dem Bund auch „für eine ordnungsgemäße Verwaltung . . .“ haften – nur müßte man diesen Ansatz der Verfassung endlich einmal gesetzlich aufgreifen und ausgestalten. Will man bei der Bereinigung konsequent sein, könnte man Art. 84 Abs. 1 GG daher einfach aufheben. Daß die Länder bei Ausführung der Bundesgesetze „als eigene Angelegenheit“ die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren eigenständig regeln, ergibt sich ja – wie gesehen – schon von selbst. Es wäre dann selbst eine Vorschrift wie Satz 6 des Kommissionsvorschlags („Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden“) überflüssig. Denn irgendeine Befugnis zur „Einrichtung der Behörden“ in den Ländern, als die eben auch eine Festlegung der Aufgabenzuständigkeit von Gemeinden verstanden wird, wäre dem Bund von vornherein verschlossen. Es erledigte sich auf diesem Wege also die berechtigte Forderung der Kommunen von selbst, gegen die sog. „Durchgriffe“ des Bundes geschützt zu sein, welche immer wieder die verfassungsrechtlichen Restriktionen mißachten und die Gemeinden und Kreise finanziell auszehren. Ringt man sich zu einer entsprechenden Terrainbereinigung bei Art. 84 Abs. 1 GG durch, liegt auch der Folgeschritt nicht fern, gleichermaßen die Bundeseinwirkungen bei der Auftragsverwaltung auszuschalten (Art. 85 Abs. 1 GG). Reicht dem Bund die fachaufsichtliche Steuerung eines Landesvollzugs seiner Gesetze nicht aus, muß er danach trachten, ihn in eigene Verwaltungszuständigkeit zu übernehmen. Beläßt er die Gesetzesausführung aber bei den Ländern, sollte er sich grundsätzlich aus der Organisation des Verwaltungsaufwandes heraushalten. Schließlich ist sicherlich jedem Wunsch nach einem neuen, das bestehende Dilemma also noch ausweitenden Zustimmungstatbestand zu widerstehen, und zwar mit Entschiedenheit. Das gilt exemplarisch für den Vorschlag bei „Bundesgesetzen mit erheblichen Kostenfolgen“, wie ihn die Föderalismuskommission mit dem neuen Art. 104a Abs. 3a GG formuliert hat: „Führen die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, bedürfen diese der Zustimmung des Bundesrates, wenn sie Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen und geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten begründen“. Es sei noch darüber hinweggesehen, daß hier erneut begriffliche Unklarheiten geschaffen werden, weil das Merkmal der „geldwerten Sachleistungen“ äußerst unscharf ist und schon jetzt eine umfangreiche Begleiterklärung der Kommission erforderte. Bedeutsamer ist
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vielmehr, daß mit einer solchen Vorschrift genau jene Sachlage kodifiziert würde, die in Wahrheit schon bisher den Bundesrat oft dazu veranlaßte, seine Zustimmung zu Organisationseinwirkungen nach Art. 84 Abs. 1 GG zu verweigern bzw. sich abhandeln zu lassen. Das Ziel einer Reduzierung der Zustimmungsbedürftigkeiten würde jedenfalls konterkariert. Außerdem wäre im Sinne einer Verantwortungsentflechtung die richtige Vorkehrung gegen Kostenüberwälzungen durch den Bund gewiß nicht ein Dabei-Mittun der Länder, sondern die Einrückung einer klaren Lastentragungspflicht des Bundes, d. h. gegebenenfalls eine Erweiterung des Konnexitätsprinzips in Art. 104a Abs. 1 oder 2 GG.
IV. Handlungsanleitung Betrachtet man nach allem den jetzt erlebten Reformanlauf nüchtern und differenzierter, so ist es sicher berechtigt, die Arbeit der Föderalismuskommission doch als nicht ganz nutzlos anzusehen. Sie hat ihren Gegenstand, die Reform und deren Erfordernis für die Öffentlichkeit deutlich ins Bewußtsein gerückt. Weithin sind einschlägige Schwächen der bundesstaatlichen Ordnung zur Sprache gekommen, man hat die Probleme der Verfassung erörtert und Lösungswege benannt. Worauf es nun ankommt, ist allerdings, zügig einen neuen Anlauf zu unternehmen, um aus dem Problembewußtsein ein wirkliches Reformwerk zu machen und durchzusetzen. Die Bestärkung und Aktualisierung seiner Verfassungsordnung ist eine Existenzfrage für den Staat in einer rasch sich verändernden Welt, nicht nur für Deutschland. Sie in der vorgegebenen bundesstaatlichen Struktur zu bewältigen, muß immer wieder von neuem versucht werden. Sie ist eine Daueraufgabe. Für einen neuen Anlauf sind die Erfahrungen aus dem fehlgeschlagenen Versuch zu nutzen. Deshalb ist die notwendige Entflechtung der Verantwortung zwischen den beiden Staatsebenen in Deutschland gezielt und noch bewußter voranzutreiben. Im Bereich der Gesetzgebung heißt dies auf jeden Fall, die verschiedenen Gesetzgebungsgegenstände neu aufzuteilen und die Länder dabei deutlich zu stärken. Die Verzahnungskategorien von Bundesund Landesgesetzgebung sind gleichzeitig zurückzuschneiden. Die Bundesrahmengesetzgebung sowie die gemeinschaftlichen Regelungen nach Art. 91a GG sollten aufgegeben werden. Auch auf die Neuschaffung einer generellen Kategorie von Zugriffs- oder Abweichungsgesetzgebung ist unbedingt zu verzichten. Schließlich müßte man noch konsequenter als bisher einen Abbau der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen betreiben. Insbesondere gilt es, die Zustimmung auslösenden Einwirkungen des Bundes auf die Organisationshoheit der Länder zu unterbinden.
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Im übrigen muß einfach der Wille zum Föderalismus gestärkt und gepflegt werden. Deutschland verdankt der bundesstaatlichen Struktur nicht nur sein historisches Zusammenwachsen, sondern auch jene Freiheitlichkeit und Stabilität der Verfassungsordnung in den vergangenen Jahren, die in der Welt weithin geachtet und vielfach nachgeahmt wurde. Das gilt es immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, und die Gründe dafür sind herauszustellen. Für Resignation ist jedenfalls keinerlei Anlaß. Die Selbstbehauptungskräfte und das Erneuerungsvermögen unseres Gemeinwesens können allemal stark genug sein, um momentane Schwierigkeiten und Erlahmungen zu überwinden.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Edzard Schmidt-Jortzig Leitung: Karl-Peter Sommermann Von Annette Schorr Univ.-Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann dankte dem Referenten. Es sei sehr zu begrüßen, daß Univ.-Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig auch die positiven Aspekte der Arbeit der Föderalismuskommission hervorgehoben habe. Deutlich sei aber auch geworden, daß einige Bestimmungen noch nicht hinreichend diskutiert worden seien, um neuer Verfassungstext zu werden. Ein gutes Beispiel dafür sei der im Vortrag eingehend besprochene Art. 84 GG. Sommermann stimmte der Aussage des Referenten, Art. 84 GG sei an sich eine klare Lösung, mit der Einschränkung zu, wenn man künftig auf die Bestimmungsrechte des Bundes hinsichtlich der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungsverfahrens in den Ländern verzichte. Nicht außer acht gelassen werden dürften die erheblichen Konsequenzen. SchleswigHolstein habe als erstes Land eine sehr weitgehende Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens hervorgebracht und damit das innovative Potential auf Länderebene deutlich gemacht. Aber das heutige Verwaltungsrecht sei sehr stark auf eine Steuerung des Verfahrens ausgerichtet, da die Normierungskraft des materiellen Verwaltungsrechts eher begrenzt sei. Es frage sich, ob nicht mit der im Vortrag angeregten Reform ein erhebliches Steuerungspotential beseitigt würde. Schmidt-Jortzig erwiderte darauf, seiner Ansicht nach bestehe ein rechtliches Bedürfnis nach solchen Verwaltungsverfahrensregelungen des Bundes nicht. Dies gelte um so mehr, als der Bund mit seinem eigenen Verwaltungsverfahrensrecht erklärt habe, es gelte nicht in den Fällen, in denen die Länder vergleichbare Landesverwaltungsverfahrensgesetze hätten. Weil aber alle Bundesländer vergleichbare Landesverwaltungsverfahrensgesetze hätten, wäre faktisch ein allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht in Deutschland in Geltung, weshalb nicht zu befürchten sei, daß irgendwo unterentwickelte Verwaltungsverfahrensregelungen gälten. Ein Bedürfnis für bundesgesetzliche Regelungen sehe er daher nicht. Für ihn sei die Erforderlichkeit bei den in der Realität getroffenen Regelungen von einzelnen bundesrechtlichen Verfahrensregelungen nicht erkennbar gewesen. Seitens der Länder bestehe
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kein großes Bedürfnis, die Einflußmöglichkeiten des Bundes zu vermindern. Sie verlören dadurch ihre Bundesratszustimmungsmöglichkeiten, die gerne genutzt würden, um andere, vor allem finanzielle Interessen durchzusetzen. Auch wenn er keinen Bedarf sehe, die Mitwirkung des Bundesrates bei Bundesgesetzen zu reduzieren, müsse man auf diesen Zugriff verzichten. Dr. Wito Schwanengel, Erfurt, sprach in diesem Zusammenhang die Einführung des Art. 104a Abs. 3a GG an. Diese Vorschrift sei ursprünglich als Kompensation vorgesehen gewesen. Er stimmte dem Referenten zu, daß die Einbeziehung geldwerter Dienstleistungen in die geldwerten Sachleistungen problematisch sei. Möglich sei auch ein Übergang zu einer begrenzten Gesetzeskonnexität, wiederum für Geldleistungsgesetze gewesen. Er stellte die Frage, ob Schmidt-Jortzig sich für einen vollen Übergang zum Konnexitätsprinzip ausspreche. Dies beurteilte er kritisch, da er den Vorteil nicht sehe, wenn ein Konnexitätsprinzip eingeführt werde, das sich wiederum nur auf „Geldleistungsgesetze“ konzentriere. Die Streitanfälligkeit wäre dann die gleiche wie bei der jetzigen Regelung. Schmidt-Jortzig erläuterte, daß diese Frage in der Kommission ein Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen sei. Die Länder hätten im Gegensatz zum Bund gerne eine Gesetzeskausalität in Art. 104a GG gehabt. Er spreche sich nur deshalb so vehement gegen Art. 104a Abs. 3 GG aus, da dort genau das perpetuiert werde, was im Rahmen des Art. 84 GG Probleme bereite. Die Länder verzichteten nur ungern auf ihre Einflußmöglichkeit im Bundesrat. Nicht selten ließen sie sich ihre Zustimmung im Bundesrat bei Gesetzen, in denen es um geldwerte Leistungen ginge, abkaufen. Es sei unsinnig, dies an der einen Stelle abzuschaffen, um es an der nächsten zu institutionalisieren. Er stimme Schwanengel zu, daß man sich mit dem Konnexitätsprinzip auseinandersetzen müsse, sobald man den hinter Art. 104a Abs. 3 GG stehenden Gedanken abschaffen wolle. Er stehe einem Übergang zur Gesetzeskausalität beim Konnexitätsprinzip zwischen Bund und Ländern positiv gegenüber. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera, Speyer, bemerkte, der Wunsch nach einer klaren Trennung von Aufgaben und Befugnissen sei in einem föderalen System verständlich, in der Praxis sei es aber nahezu unmöglich, dies umzusetzen. Dies sei bereits bei einzelnen Aufgaben auf den verschiedenen Ebenen schwierig. Sobald ein grenzüberschreitender Bezug bestehe, sei immer der Bund gefordert. Am Beispiel der Studienmöglichkeiten innerhalb Europas erläuterte er, daß die einzelnen Untergliederungen mit umfassenden Aufgaben vielleicht überfordert seien. Zur Frage von Sommermann merkte er an, daß der natürliche Wunsch, Klarheit zu schaffen, nicht leicht zu erfüllen sei. In der Europäischen Union herrsche, anders als in den USA, wo der Bund legislative und exekutive Befugnisse habe, ein Verbundsystem. Die
Diskussion
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Union habe bestimmte Aufgaben und erlasse die entsprechenden Gesetze. Die Ausführung obliege dann den Mitgliedstaaten. In der Praxis habe sich gerade bei der Umsetzung von EG-Richtlinien gezeigt, daß es von Bedeutung sei, wie die Mitgliedstaaten organisiert seien und ihr Verfahren geregelt sei. Die Union integriere zunehmend organisatorische und verfahrensrechtliche Verpflichtungen in ihre Sachkompetenzen. Naturgemäß stoße dies auf Schwierigkeiten in den unterschiedlich organisierten Mitgliedstaaten. In Deutschland treten besondere Schwierigkeiten wegen der Trennung zwischen Bund und Ländern auf. Bei der Umsetzung des Zieles, mehr Klarheit zu erlangen, dürfe also nie vergessen werden, die europäischen Verpflichtungen mitzuberücksichtigen. Schmidt-Jortzig entgegnete, daß Grundmanko der Reformdiskussion sei gewesen, die Grundlage einer Stärkung der Gestaltungshoheiten der Länder nicht angesprochen zu haben. Dies setze voraus, daß man sich zuvor Gedanken über die Leistungsfähigkeit der Länder mache. Damit verbunden wäre die Frage nach dem Zuschnitt der Länder. Er war der Ansicht, dieses Thema hätte die Föderalismuskommission sofort scheitern lassen. Diese Frage in Deutschland zu stellen, sei unmöglich. Er pflichtete Magiera bei, daß die gesamte Diskussion aus europäischer Perspektive zu führen sei. Wenn man den Grundsatz berücksichtige, daß richtige hoheitliche Verwaltung nicht mehr als drei Ebenen haben sollte, dann wäre der integrierende Bereich die europäische Ebene als oberste Ebene. Unstreitig wäre auch eine Basisebene auf Kommunalbasis. Offen sei, wie sich auf der Zwischenebene in einem Bundesstaat alles ordne. Gegen eine Übernahme durch die Länder spreche, daß dies zu kleinteilig sei. Umgekehrt wäre auch daran zu denken, die Länder abzuschaffen und nur als Verwaltungsträger ohne Gestaltungs- und Gesetzgebungshoheit zu konzipieren. Nur eines sei sicher – die notwendige Harmonisierung und die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse wachse zunehmend der europäische Ebene zu. Angesichts dessen sei die Föderalismusreformdiskussion nur ernsthaft zu führen, wenn die Frage nach dem Zuschnitt der Länder gestellt und die europäische Perspektive stärker berücksichtigt werde. Dr. Frank Hennecke, Ministerium für Umwelt und Forsten RheinlandPfalz, nahm Bezug auf die Ausführungen Magieras. Das Plädoyer für die Belassung der gesamten Verfahrensregelungen bei den Ländern stehe in einem Spannungsverhältnis zu dem anderen Postulat der Reformbemühungen, nämlich der Europatauglichkeit der Gesetzgebungskompetenzen. Er stimmte zu, daß das europäische Recht zunehmend das Verfahrensrecht zu seinem Inhalt mache. Deutlich werde dies vor allem am Beispiel des Umweltrechts. Nichts sei erreicht, wenn die Länder zwar die Kompetenz zur Umsetzung des europäischen Rechts hätten, aber ihnen kein Spielraum belassen würde und sie alle ihre Entscheidungen gleichlautend treffen müßten. Dies bedeute keinen Gewinn für den Föderalismus und führte nur zu weite-
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ren Zeitverzögerungen. Ihn interessiere eine Bewertung dieser Frage durch Schmidt-Jortzig. Direkt Bezug darauf nahm Dr. Joachim Lohmann, Staatssekretär a. D., Kiel, und widersprach Hennecke. Er lenkte den Blick der Teilnehmer auf den Gesichtspunkt der Haushaltskonsolidierung der Länder. Der einzige Weg zu einer Konsolidierung bei der derzeitigen schlechten Haushaltslage aller Länder sei eine Verwaltungsreform. In diesem Bereich tue sich schon viel, und ein Ende sei nicht abzusehen, wobei die Lösungen der Länder sich sehr stark unterschieden. Während die einen beispielsweise den Regierungspräsidenten abschafften, stärkten andere ihn. Die Verselbständigung nachgeordneter Behörden sei gleichermaßen zu beobachten wie die Kommunalisierung. Völlig unterschiedliche Konzepte würden gewählt, um ein Problem zu lösen. Der Bund könne dort nicht sinnvoll eingreifen, sondern hier sei die Selbstorganisation der Länder gefragt. Die Organisationsgewalt müsse bei den Ländern verbleiben. Schmidt-Jortzig stimmte Lohmann zu, in bestimmten Bereichen bestehe die Möglichkeit, über Rückhol- und Zugriffsmöglichkeiten der Länder Einsparungen zu machen. Er gehe aber davon aus, daß nur eine kleiner Teil der Länder davon Gebrauch machen würde. Während der gesamten Reformdiskussion sei deutlich geworden, daß die Länder eine sehr heterogene Gruppe seien. Während die starken Länder immer mehr Gestaltungsmacht haben und dem Bund einige der zugewachsenen Kompetenzen wieder entziehen möchten, hätten sich die schwächeren sehr gut mit dem Bundesparternalismus arrangiert und wenig Interesse daran, selbst zu handeln. Bis zu einem gewissen Grade könne er sich in Bezug auf Europa eine Zugriffsgesetzgebung oder etwas Vergleichbares vorstellen, bei der natürlich immer die Grenzen des Gestaltungsspielraums der Richtlinie im Auge behalten werden müssten. Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin, Universität Salzburg, kam im Verlauf der Diskussion auf die Zugriffsrechte zu sprechen. In Österreich habe man in diesem Bereich vielfältige und keine schlechten Erfahrungen gemacht. Zugriffsrechte der Länder gebe es in Österreich im Zivil- und im Strafrecht, außerdem im Verwaltensverfahrensrecht, also gerade dort, wo Art. 84 Abs. 1 GG in die Diskussion geraten sei. Im Verwaltungsverfahren könne der Bund einheitliche Regelungen vorgeben, aber trotzdem, soweit dies erforderlich sei, könnten Bund und Länder für ihre Sachbereiche abweichende Regelungen erlassen. Dies könne vom Verfassungsgerichtshof nachgeprüft werden. Durch dieses System wäre einerseits eine Einheitlichkeit des Verfahrensrechts gewahrt, andererseits eine Verbindung von Materie und Verfahren hergestellt, die wiederum notwendig sei, um neue Politikansätze umzusetzen. Da es in Österreich keinen Bundesrechtsvorrang gebe, entstünden insoweit keine Probleme. Er verwies darauf, daß die Anwendungsfälle des Art. 31 GG überaus selten seien. Jetzt sei eine gute Gelegenheit, über die Notwendigkeit einer solchen Regelung nachzudenken.
Diskussion
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Hinsichtlich der Neugliederung sei er mit dem Referenten einer Meinung. Die Frage könne nicht offen gestellt werden. Dies gelte gleichermaßen für Deutschland wie für Österreich. Die Verwurzelung und Identifikation mit dem eigenen Land gehe in Bundesstaaten sehr weit. In seinen Augen werde die Debatte um die Leistungsfähigkeit der Länder überschätzt. In anderen Ländern bestünden wesentlich größere Unterschiede zwischen den Gliedstaaten. Er gab zu bedenken, daß in Österreich zudem gerade die kleinen Länder bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. Schmidt-Jortzig entgegnete Wiederin, daß die Situation in Deutschland eine andere sei. Vor allem hätten sich die Realitäten so entwickelt, daß eine rein akademische Betrachtung nicht mehr ausreichend sei. Zum Beispiel sei Bremen faktisch zahlungsunfähig. Angesichts dieser Tatsachen könne man sich nicht mehr mit der schöpferischen Vielfalt zufrieden geben. In der Kommission habe es den Versuch gegeben, das Verfahren der Neugliederung so zu vereinfachen, daß an einer Neugliederung Interessierte nicht von vorneherein abgeschreckt würden. Das derzeitige Verfahren des Art. 29 GG sei ein reines Verhinderungsverfahren. Doch auch dieser Versuch habe keine positive Resonanz gefunden. Die positiven Erfahrungen in Österreich bei der Zugriffs-, Abweichungs- und Rückholgesetzgebung hätten sicherlich ihre Ursache in dem Fehlen einer Art. 31 GG vergleichbaren Vorschrift. Er bezweifele aber, daß im deutschen System auf diese Vorschrift ohne weiteres verzichtet werden könne. Das bundesstaatliche System in Deutschland gründe entscheidend auf dieser Kollisionsregel. Die Probleme im europäischen Zusammenhang seien jedoch mit etwas wie der Zugriffsgesetzgebung durchaus in den Griff zu bekommen. Gerade wenn seitens der Europäischen Union Verwaltungsvorgaben gemacht würden, sei für ein Bedürfnis des Bundes, tätig zu werden, kein Raum mehr. Die Harmonisierungs- und Angleichungsaspekte würden von Europa übernommen und der Bund zunehmend aus dieser Rolle verdrängt. In seinem Schlußwort betonte Schmidt-Jortzig, bei einer Neuauflage der Föderalismusreformdebatte müsse der europäische Aspekt viel stärker als bisher berücksichtigt werden. Überhaupt habe die ganze Reform daran gekrankt, daß wesentliche Aspekte, wie die Neugliederung oder auch der Finanzverfassungsaspekt von vorneherein ausgeklammert wurden. Zusammen mit einem starken Zeitdruck seien dadurch viele Themen ohne umfassende Perspektive oder Grundlage erörtert wurden. Dies gelte es bei einem neuen Versuch zu vermeiden. Zum Abschluß dankte Sommermann dem Referenten und allen Diskussionsteilnehmern für die anregende Diskussion.
Aufgabengerechte Finanzausstattung im Bundesstaat* Von Ferdinand Kirchhof I. Erfolg der Föderalismuskommission Über die aufgabengerechte Finanzausstattung im Bundesstaat hat sich die Föderalismuskommission im letzten Jahr intensiv Gedanken gemacht, ohne dass sie zu einem endgültigen und abschließenden Ergebnis gelangt ist. In der Öffentlichkeit macht deshalb das Wort die Runde, die Föderalismuskommission sei gescheitert. Dieser Eindruck ist aber falsch. Zwar hat sie es nicht erreicht, den Auftrag zu erfüllen, ein Konsenspapier mit jeweils Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Kommission aus Bundestag und Bundesrat zusammen zu stellen. Aber in der Kommission sind die Fakten für die Schwerfälligkeit bundesstaatlichen Agierens analysiert, seine Fehlerquellen aufgedeckt und zugleich Modelle und Ideen für die Reform geschaffen worden. Damit hat die Kommission Voraussetzungen für eine Bundesstaatsreform geschaffen, die von der Politik umgesetzt werden können. Die Ideen und Modelle stecken mittlerweile in den Köpfen, der Druck auf die Politik zu ihrer Umsetzung ist größer geworden. Die Kommission hat also durchaus einen, freilich bescheidenen Erfolg hervorgebracht. II. Die Finanzverfassung als dienende Folgeverfassung Wer über aufgabengerechte Finanzausstattung eines Staates und seine Reform redet, begibt sich auf das Feld der Finanzverfassung. Deshalb einige notwendige Grundgedanken zum Ziel von Finanzverfassung und Bundesstaat. Eine Finanzverfassung hat im Gegensatz zu den Grundrechten und den sonstigen staatsorganisationsrechtlichen Normen eine sekundäre Funktion. Sie soll monetär unterstützen, was der Staat organisationsrechtlich vorgibt, d. h. seine Ziele, Aufgaben, Organe und Verfahren finanziell nachbilden. Vor allem muss sie die Einnahmen eines Staates aufgabengerecht verteilen. Insoweit hat die Finanzverfassung eine dienende Funktion, denn sie soll Geldmittel dort bereitstellen, wo sie gebraucht werden, wo Autonomie * Gestrafftes Manuskript des gleichnamigen Vortrags auf der 73. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung „Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa“. Der Redestil wurde beibehalten.
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oder Demokratie gefördert, wo Staatsziele verfolgt und Staatsaufgaben durchgeführt werden müssen. Diese dienende Funktion der Finanzverfassung besteht sowohl für Zentral- als auch für Bundesstaaten. Ein Bundesstaat stellt der Finanzverfassung jedoch besondere Aufgaben, weil die staatlichen Mittel nicht nur innerhalb einer einzigen Staatsorganisation verteilt werden müssen, sondern zeit- und aufgabengerecht zwei Ebenen – in Deutschland also insgesamt 17 Gliedkörperschaften – mit dem Ziel der Stärkung ihrer Autonomie zuzuweisen sind. Das staatliche Finanzierungssystem ist wegen des gegliederten Aufbaus im Bundesstaat komplizierter. III. Der Ertrag einer bundesstaatlichen Organisation Die Diskussion über die Reform des deutschen Bundesstaates wird in der Öffentlichkeit sehr einseitig geführt. In erster Linie wird überlegt, wie die Kompetenzen neu zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden könnten und welche Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren geändert werden müssten. Die dem notwendig vorangehende Überlegung, an welchem Ziel man diese Reform ausrichten soll, wird aber nicht angestellt, obwohl dies der erste, notwendige Schritt zur Reform ist. Dazu sind die Ziele des Bundesstaates zu definieren und zur Richtschnur der Reform zu machen. Der Bundesstaat als solcher bildet ein bloßes Organisationsprinzip. Er wird in den Art. 20 und 28 GG als Staatsfundamentalnorm festgelegt, im Namen der „Bundesrepublik Deutschland“ nach außen manifestiert und von der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich auf Dauer fixiert. Das Organisationsprinzip hat also im Grundgesetz einen hohen Stellenwert. Die reine Organisationsform des deutschen Staates würde diese Bedeutung nicht verdienen; sie liegt vielmehr im Ertrag, den man sich von dieser Untergliederung eines Staates verspricht. IV. Die Ziele eines Bundesstaates Deshalb sind zuerst die Ziele des Bundesstaates zu ermitteln. An ihnen hat sich die deutsche Finanzverfassung und ihre Reform auszurichten. Der Bundesstaat verfolgt mit seiner gegliederten Organisation mehrere Ziele. Er will durch Aufgliederung in Bund und sechzehn Länder eine permanente, sukzessive Demokratie erreichen. Wahlen in rascherer Reihenfolge ergeben eine aktuellere, kleinräumige und territorial eine doppelte Legitimation für staatliches Handeln. Der Bundesstaat will die Orts- und Sachnähe von Entscheidungen fördern. Rechtlich oder politisch wird das mit den Begriffen der Dezentralisation, der Subsidiarität oder der Bürgernähe erfasst. Dahinter
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steht die Erwartung, dass Entscheidungen inhaltlich optimiert werden, wenn sie möglichst nah am Problem und den Betroffenen gefällt werden. Der Bundesstaat sichert Freiheit durch vertikale Gewaltenteilung. Die Aufgliederung der Staatsmacht auf 17 teilsouveräne Gliedkörperschaften schützt zum einen den Bürger unmittelbar, zum anderen aber auch die kleineren staatlichen Einheiten, nämlich die Länder, und ihre Opposition, indem sie die Vielfalt der politischen Meinungen garantiert. Eine regionale und landsmannschaftliche Pluralität war ohne Zweifel die historische Wurzel für den Bundesstaat. Die Erhaltung landsmannschaftlicher Vielfalt als Ziel für einen föderalen Staat hat heute allerdings geringere Bedeutung angesichts einer großen Fluktuation in der Bevölkerung und nach der Errichtung von sogenannten „Bindestrich-Bundesländern“ wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen. Der regionalen Vielfalt dient ein Bundesstaat aber noch heute, weil in ihm die Möglichkeit besteht, politische Projekte in territorialer Begrenzung zu erproben und zu bundeseinheitlichen, herkömmlichen Lösungen in Kontrast zu setzen. Wichtiger wird zurzeit das bundesstaatliche Ziel der Integration und Identifikation. Psychologisch identifizieren sich Menschen eher mit Verbänden, die sie überschauen können, aber kaum mit anonymen Organisationen. Wir schimpfen gerne auf „die da oben in Brüssel“, weil wir Organisation, Verfahren und Entscheidungen der uns fernen Europäischen Gemeinschaft nicht verstehen. Den lokalen Verband vor Ort bezeichnen wir hingegen als „Heimatstadt“, denn wir kennen seine Amtsträger, Verfahren und Entscheidungen besser. Hier setzt der Bundesstaat mit der eigenen Zielsetzung ein, dem Bürger die Identifikation mit der kleineren Einheit der Länder zu ermöglichen. Ein Staat wird eher von seinen Bürgern angenommen, wenn er sich in überschaubaren Einheiten zeigt, die den Alltag des Menschen abbilden. Zuletzt ist als Ziel des Bundesstaates noch die Innovationsförderung zu nennen. Ob man sie mit dem Begriff des Wettbewerbs- oder des Gestaltungsföderalismus versieht, ist dabei zweitrangig. Letztlich sollen innerhalb eines einzigen Staates verschiedene politische Lösungen und Modelle existieren und miteinander konkurrieren. Erst diese Ziele bringen der Organisationsform des Bundesstaates Ertrag. Wegen ihnen ist der Bundesstaat für das politische Leben, für die Demokratie und für seine Bürger von so hoher Bedeutung. Erst sie rechtfertigen die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. V. Die Notwendigkeit einer Entflechtung von Kompetenzen und Verfahren Diesen Zielen muss auch die Finanzverfassung des Bundesstaates dienen. Sie muss den Bund und seine sechzehn Gliedstaaten sowohl finanziell aufgabenadäquat ausstatten als auch die genannten Ziele fördern, d. h. Auto-
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nomie und Demokratie verstärken, die Identifikation seiner Bürger mit dem Staat fördern und regionale Vielfalt verbessern. Die Finanzregeln des Grundgesetzes unterstützen als Folgeverfassung die Staatsprinzipien, hier das Bundesstaatsprinzip. Fasst man die bundesstaatlichen Ziele zur Reform der Finanzverfassung auf, ergeben sich bereits zwei Grundforderungen an eine Reform der föderalen Finanzverfassung in Deutschland. Die zwei Stichworte dazu lauten „Entflechtung“ und „Rückübertragung“. In den letzten Jahrzehnten haben sich die staatlichen Kompetenzen und Verfahren immer mehr zu einem kooperativen oder gar zu einem unitarischen Bundesstaat bewegt. Bund und Länder sind in Gesetzgebung, Verwaltung und Finanzierung zunehmend mit gemeinsam auszuübenden Kompetenzen und mit Mitwirkungsrechten des einen an den Angelegenheiten des anderen ausgestattet worden. Das führt mittlerweile zur Lähmung bei der Entscheidungsfindung, weil jeder in Angelegenheiten des anderen Entscheidungsbefugnisse besitzt. Wenn keiner ohne den anderen handeln kann, verwischt sich die Verantwortung und werden keine Entscheidungen mehr getroffen, auch wenn sie notwendig sind. Wo ein politisches Vorhaben gelingt, hat der Erfolg viele Väter; wo es misslingt, wird jeweils der anderen Gebietskörperschaft die Verantwortung zugeschoben. Die Reform muss deshalb Kompetenzen, Aufgaben und Finanzen jeweils nur einer Gliedkörperschaft zuordnen und Mitwirkungsrechte einer Gebietskörperschaft an den Agenden einer anderen strikt ausschließen. VI. Rückgabe von Kompetenzen an die Länder Das zweite Reformziel ergibt sich aus der Tatsache, dass der Bund mittlerweile in der Gesetzgebung und der Finanzierung von Aufgaben – begünstigt durch bewegliche Tatbestandselemente in den Art. 70 ff. und 104a ff. GG – alle wichtigen Aufgaben an sich gerissen hat. Grundgesetzliche Kompetenzvorgaben, die eine subtile Austarierung von Bundes- und Länderzuständigkeiten erstrebten, sind einseitig zugunsten des Bundes ausgelegt worden, sodass wir heute vor dem zentralstaatlichen Problem stehen, dass alle wichtigen Normen bundesgesetzlich erlassen und alle wichtigen Aufgaben vom Bund (mit-)finanziert werden. Der Bundesstaat tendiert aber nach dem Subsidiaritätsprinzip zur Übertragung von Aufgaben auf die kleinere Einheit, damit sie bürgernah vor Ort erfüllt werden. Das Reformziel lautet deshalb Durchforstung der Kompetenzen und Rückgabe an die Länder, soweit eine bundeseinheitliche Lösung nicht zwingend erforderlich ist.
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VII. Das Ideal eines fiscal federalism Die Orientierungslinien der Entflechtung, der konzentrierten Zuweisung von Verantwortung auf jeweils eine Gliedkörperschaft und der Rückübertragung der Aufgaben auf die Länder führt letztlich zur Idee des fiscal federalism, der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen in einem Sachbereich stets nur einer Gebietskörperschaft zuweisen will. Damit wird neben der Entflechtung, der Verantwortungskonzentration und der Subsidiarität zugleich ein demokratischer, sich selbst steuernder Regelkreis eingeführt. Wähler, Parlament und Regierung einer Gebietskörperschaft entscheiden über politische Programme, über deren Kosten und damit auch über die Abgabenbelastung der Bevölkerung. Liegen Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen in einer Hand, kommen die Kosten dieser Entscheidungen wieder auf Regierung, Parlament und Wähler zurück. Sie tragen für ihre demokratischen Entscheidungen im Gegenzug die Finanzverantwortung; konkret: sie spüren die finanzielle Belastung der von ihnen gewählten Politik im eigenen Geldbeutel. Die Idee des fiscal federalism schließt den demokratischen Regelkreis, indem er die demokratische Idee im Rücklauf der monetären Verantwortung ins Finanzielle übersetzt. Überdies verhindert er ausufernde und luxuriöse Politik, weil sie dem Bürger schlicht zu teuer wird. VIII. Die vier Techniken bundesstaatlicher, aufgabengerechter Finanzausstattung 1. Begrenzte Leistungsfähigkeit einer Finanzverfassung Die optimale Finanzverfassung muss auf diesen Befund in Deutschland und auf die Zielsetzung des Bundesstaates ausgerichtet werden. Eine Finanzverfassung kann allerdings – darauf muss man hinweisen, um sie nicht zu überfordern – nicht Finanzen vermehren, sondern nur vorhandene, anderen Orts bereits erwirtschaftete Geldmittel aufgabenadäquat verteilen. Das Erzielen ökonomischen Mehrwerts obliegt der Wirtschaft; der Staat partizipiert an ihrem Erfolg durch Steuern und Abgaben. Die Finanzverfassung kann nur die Staatseinnahmen zeit-, volumen- und aufgabengerecht verteilen. 2. Zuweisung von Steuerquellen Für eine derartige Verteilung existieren vier typische Methoden. Alle sind im Grundgesetz aufgegriffen worden. Die erste besteht in der Zuweisung von Steuerquellen, also der Regelung der Ertragshoheit. Diese Methode bietet den Vorteil einer Sicherung dauerhafter und planbarer Finanzierung. Trotz gegensätzlicher öffentlicher Meinung, dass die Steuereinnahmen sin-
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ken würden, sind sie in Deutschland über Dekaden hinweg kontinuierlich und mit steigender Tendenz geflossen. Die Methode hat ferner den Vorzug, dass sich die Gebietskörperschaft, der eine bestimmte Finanzquelle zugewiesen ist, selbst politisch um deren Erhaltung und Pflege kümmern muss. Der Nachteil einer Zuweisung von Steuerquellen besteht darin, dass sie unabhängig von dem Aufgabenbestand der Gebietskörperschaft sprudeln. Wenn neue Aufgaben entstehen oder bestehende sich erweitern, reagiert das System primärer Steuerzuweisung darauf nicht. Auf der kommunalen Ebene hat sich diese fehlende Reaktion auf den Aufgabenbestand als problematisch erwiesen, als das Volumen der Sozialhilfe plötzlich erheblich und dauerhaft anstieg. Vor 25 Jahren war sie für die Kommunalfinanzen nur ein Randthema, heute bringt sie Landkreise als größter Ausgabeposten ins Defizit. Eine reine Steuerquellenverteilung ist unzureichend. Zusätzliche Ventile in der Finanzausstattung sind notwendig. 3. Kostenerstattung bei Erfüllung fremder Aufgaben Eine weitere Methode besteht in der Erstattung von Kosten für Aufgaben der Länder durch den Bund. Wenn die Oberkörperschaft Bund ihren Ländern gesetzlich Aufgaben überträgt und damit Kosten anlastet, die sie selbst tragen müssen, kann eine Erstattung dieser Kosten zu einer aufgabenadäquaten Finanzierung führen. Diese Methode hat den Vorteil einer im Detail steuerbaren, stets kostendeckenden Finanzausstattung der Länder. Im Verhältnis der Länder zu ihren Kommunen, bei denen das gleiche Strukturproblem besteht, ist diese Methode mittlerweile in fast allen Landesverfassungen als Erfolgsmodell verankert. Im Bund ist es nur in Ansätzen vorhanden und sollte dort eingeführt werden. Diese Methode sieht sich zwei Gegenargumenten ausgesetzt: Zum einen wird ein großer Verwaltungsaufwand befürchtet, weil die Kosten bis auf die Stelle hinter dem Komma exakt ausgerechnet und belegt werden müssten. Die Länder würden dadurch zu Rechnungsstellen des Bundes degradiert. Diesem Einwand ließe sich durch eine Verpflichtung auf die Erstattung von durchschnittlichen, notwendigen Ausgaben begegnen; luxuriöses Verwalten eines Landes würde nicht durch erhöhte Erstattungen honoriert; eine exakte Kostenberechnung durch Pauschalen vermieden. Zum anderen wird dieser Methode vorgehalten, sie würde die Autonomie der Länder gefährden, weil sie bei ihrer Aufgabenwahrnehmung an den „goldenen Zügel“ der Finanzzuweisungen einer Oberkörperschaft gelegt würden, die finanziell die Aufgabenerfüllung mitbestimmt. Dieser Einwand stammt aus den schlechten Erfahrungen mit lenkenden Subventionen und Zweckzuweisungen. Hier ist in der Tat die Befürchtung gerechtfertigt, dass die Aussicht auf eine Cofinanzierung des Bundes Länder zur Wahrnehmung
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von Aufgaben bewegt, die sie sonst nicht aufgegriffen hätten. Ihre materielle Autonomie wird durch die Verlockung finanzieller Dotation von dritter Seite gefährdet. Die Methode der Kostenerstattung von den Ländern durchgeführter, bundesgesetzlich angeordneter Aufgabenerstattung unterliegt dieser Gefahr aber nicht. Hier ist es nicht das verlockende Angebot von Finanzmitteln, das ein Land zur Wahrnehmung von Aufgaben veranlasst, denn bereits das Bundesgesetz stellt den Ländern verbindlich die Aufgabe. Die Kostenerstattung des Bundes wirkt nicht mehr auf die Aufgabenerfüllung ein, sondern gleicht lediglich im Nachhinein Aufwendungen aus. Die Methode der Kostenerstattung gefährdet die Autonomie der Länder nicht, weil nach dem Prinzip „wer bestellt, bezahlt“ nur nachher Rechnungen beglichen werden. 4. Finanzausgleich zwischen Haushalten Als dritte Methode zur Staatsfinanzierung kommen die vertikalen und horizontalen Transfers im Finanzausgleich in Frage. Sie haben den Vorteil, dass sie Haushalte ausgleichen können, sodass keine Defizite entstehen. Sie weisen aber gravierende Nachteile auf. Sie richten sich nicht nach dem tatsächlichen Bedarf für die jeweilige Aufgabe, sondern nivellieren Finanzausstattungen nach den Zahlen eines Gesamtbudgets. Das Leistungsgefälle zwischen den Ländern wird durch monetäre Ingerenz eines Dritten eingeebnet. In der Praxis des bundesdeutschen Finanzausgleichs weiten sie in der Tendenz finanzielle Dotationen des Bundes aus. Das wird zur Gefahr für den Bundesstaat, weil die Länder Kostgänger des Bundes werden und kein Interesse mehr an einer autonomen Wirtschaftspolitik besitzen. Sie pflegen ihre eigenen Finanzquellen nicht mehr, weil sie aus fremdem Haushalt Zuschüsse erhalten. 5. Finanzhilfen für einzelne Aufgaben Die vierte Methode besteht in Finanzhilfen des Bundes für einzelne Aufgaben der Länder. Dieses Modell verfolgt zum Beispiel Art. 104a Abs. 4 GG zurzeit. Sie können aufgabenscharf geleistet werden, hängen aber vom politischen Willen des dritten Geldgebers ab. Verwendet der Bund gegenüber den Ländern diese Finanzierungstechnik, erhält er den oben genannten „goldenen Zügel“, mit dem er durch monetäre Zuweisungen in die Sachkompetenzen der Länder eingreift. Die Länder erhalten keine planbare und beständige Finanzquelle sondern allenfalls jährliche Geschenke nach der Gnade des Bundes für bestimmte Aufgaben. Besonders problematisch werden diese Finanzdotationen, wenn sie nur als Anschub- und Teilfinanzierung geleistet werden. Es ist mittlerweile üblich geworden, dass der Bund nur einen Teil der Kosten einer Aufgabe der
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Länder finanziert und dass das bezuschusste Land den Restbetrag zuschießen muss. Ferner begrenzt der Bund seine Dotation zeitlich auf eine fünfbis zehnjährige Anschubphase; danach müssen die Länder die vollen Kosten selbst tragen. Durch derartige Anschub- und Teilfinanzierungen erleidet das Land doppelten Schaden. Zum einen wird wie bei jeder Finanzhilfe seine Sachkompetenz beeinflusst. Die Förderung von Ganztagsschulen oder Eliteuniversitäten der Länder durch den Bund bietet hierfür aktuelle Beispiele. Zum anderen wird nicht nur in die Sach-, sondern auch in die Haushaltskompetenz des geförderten Landes eingegriffen, weil der von der Teilfinanzierung nicht erfasste Restbetrag sogleich aus dem Landeshaushalt entnommen und bei Auslaufen der Anschubfinanzierung die gesamten Kosten voll vom Land übernommen werden müssen. Hier wird die Autonomie der Länder sowohl im sachlichen als auch im finanziellen Bereich gefährdet. 6. Präferenz für eine Kombination aus Finanzquellenzuweisung und Kostenerstattung Ein Überblick über die vier Methoden der Finanzierung führt zum Ergebnis, dass die primäre Zuweisung von Steuerquellen und die sekundäre Erstattung von Durchschnittskosten bei der Finanzierung übertragener Aufgaben eine optimale bundesstaatliche Lösung darstellt. Transfers im Finanzausgleich schaden dem Bundesstaat eher, wenn sie im Volumen zu groß ausfallen und unterschiedliche Finanz- und Wirtschaftspolitik nivellieren. Einzeldotationen des Bundes bergen die Gefahr, dass eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung durch die Länder in der Zufälligkeit verfügbarer Geldmittel des Bundes versinkt. IX. Der Übergang von der Steuer- auf eine vollständige Abgaben- und Einnahmenverfassung Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zu geeigneten Methoden einer aufgabenadäquaten Finanzierung des Bundesstaates komme ich nun konkret zu den Problemen und notwendigen Reformen der deutschen Finanzverfassung in Art. 104a ff. des Grundgesetzes. Das erste Problem unserer Finanzverfassung beruht überhaupt nicht auf der bundesstaatlichen Gliederung Deutschlands; es wirkt sich aber im Bundesstaat besonders fatal aus. Art. 105 ff. GG erfassen von den Einnahmen des Staates lediglich die Steuern. Gebühren, Beiträge und andere Sonderlasten werden von ihnen nicht geregelt. Das Grundgesetz folgt damit der Konzeption des Steuerstaates, in dem die Abgabenart Steuer den wesentlichen Finanzertrag bringt und Sonderlasten lediglich zu vernachlässigbaren Randerträgen führen. Diese Prämisse hat sich in den letzten Jahrzehnten als falsch erwiesen. Sozialversiche-
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rungsbeiträge überschreiten das Volumen des Bundeshaushalts mittlerweile bei weitem, die Kommunen speisen ihren Haushalt in großem Umfang durch Gebühren und Beiträge, die Länder haben die Finanzierung durch Sonderabgaben entdeckt und in so großem Maße ausgeweitet, dass die Annahme, die Steuer sei die Haupteinnahmequelle des Staates, nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Der Abgabenstaat finanziert sich zum Großteil aus anderen Finanzquellen. Der Erlös aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, der mit damals 98 Mrd. DM ein Fünftel des Bundeshaushalts erreichte, belegt das eindrücklich. Eine aufgabenadäquate Finanzausstattung im Bundesstaat kann nur gelingen, wenn im Eingangsbereich alle Einnahmen vollständig erfasst werden. Sonst werden Teilerträge aus anderen Abgabearten ohne jeglichen Bezug zu den Gliedkörperschaften und ihren Aufgaben zugewiesen. Die Art. 105 ff. GG sind deshalb auf alle Abgaben, am besten auf alle erfolgswirksamen Einnahmen einschließlich privatrechtlicher Entgelte, zu erstrecken. Nur so kann der Staat seine Gesamteinnahmen richtig verteilen. X. Die Ersetzung der Verwaltungs- durch die Gesetzeskausalität bei der Kostenlast Ein spezifisches, föderales Problem ergibt sich aus dem Grundsatz der Verwaltungskausalität des Art. 104a Abs. 1 GG. Der Bund hat durch eine ausufernde Interpretation der Art. 72 ff. GG die wesentlichen Regulierungsaufgaben an sich gerissen. Damit kann er normativ Staatsaufgaben schaffen und erweitern, insbesondere auch objektive Pflichten zur Finanzierung von Aufgaben oder subjektive Ansprüche der Bürger begründen. Art. 84 f. GG treffen für den deutschen Bundesstaat die im internationalen Vergleich ungewöhnliche Regelung, dass derartige Bundesgesetze in der Regel von den Ländern durchgeführt werden. Diese Konstellation einer gesetzlichen Kreation von Aufgaben durch den Bund und deren Verwaltung durch die Länder stellt zwingend die Frage, wer für die Kosten dieser Aufgabenerfüllung aufzukommen hat. Es könnte der Verursacher der Aufgaben sein; dann müsste der Bund den Ländern die Aufwendungen für die Durchführung der Bundesgesetze erstatten. Es könnten aber auch die Länder die Kosten tragen, weil jene erst die Aufgabe erfüllen, für welche die Kosten anfallen. Art. 104a Abs. 1 GG entscheidet sich für den Grundsatz der Verwaltungskausalität und weist den Ländern die Kostenlast zu, weil bei der Verwaltung die Aufwendungen entstehen. Diese Vorstellung hat sich als falsch erwiesen, weil immer detailliertere Bundesgesetze den Ländern kaum noch Raum lassen, diese Aufwendungen zu beeinflussen. Im Zeitalter der Normenflut ist fast jede Aufgabe mittlerweile gesetzlich verfasst, mit Personalund Sachstandards versehen und oft mit objektiven Pflichten oder gar mit subjektiven Ansprüchen des Bürgers verbunden worden. Mit der Anordnung
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des Grundsatzes der Verwaltungskausalität in Art. 104a Abs. 1 GG hat das Grundgesetz die Weichen für einen kraftvollen und autonomen Bundesstaat grundsätzlich falsch gestellt. Die Länder tragen die Kosten drittgeschaffener Aufgaben, ohne sich dagegen wehren zu können; ihre Finanzautonomie wird gefährdet, weil der Bund ihre Ausgaben zum Großteil mitbestimmt. Der Bund hat die Chance zu großzügiger Gesetzgebung an den Bürger längst entdeckt, weil sie aus fremder Tasche finanziert wird. Der Grundsatz der Verwaltungskausalität führt die Länder in strukturelle Finanznot ohne eigenes Zutun; sie werden zum Kostgänger des Bundes. Zur Lösung bieten sich zwei Wege an: Zum einen könnte man jedem Gesetzgeber die Durchführung seiner Normen in eigener Person auftragen. Damit würde aber den Ländern in Deutschland ein letztes Moment administrativer Eigenständigkeit genommen und der Bund noch mächtiger. Deshalb dürfte diese Lösung nicht in Frage kommen. Zum anderen kann man nach dem Motto „wer bestellt, bezahlt“ den Urheber der Aufgaben für die Kosten verantwortlich machen. Nach dem Grundsatz der Gesetzeskausalität sollte in Art. 104a Abs. 1 GG der Bund für seine Gesetze kostenpflichtig werden; die Länder sollten einen Anspruch auf Erstattung ihrer notwendigen, durchschnittlichen Aufwendungen erhalten. Das würde die Gebietskörperschaften im Bundesstaat wieder richtig ausstatten. Die Verantwortung für die Kosten staatlicher Aufgaben würde wieder auf ihren Urheber zurückgeführt. Der Grundsatz der Gesetzeskausalität könnte als Nebenertrag sogar die Normenflut zurückdrängen. Heute hat der Bund die Möglichkeit Normen zu erlassen, ohne sich um deren Finanzierung zu kümmern. Wenn er nach dem Grundsatz der Gesetzeskausalität auch deren Aufwendungen tragen muss, wird er sich in der Gesetzgebung zurückhalten, weil sie ihm zu teuer werden. Die Föderalismuskommission hat am Anfang eine Einführung des Grundsatzes der Gesetzeskausalität erwogen, sie dann aber aus der Befürchtung, es würde ein großer Verwaltungsaufwand entstehen und es müssten alle Kosten detailliert belegt und abgerechnet werden, nicht aufgegriffen. Hier hat die Föderalismuskommission eine Chance zur aufgabengerechten Finanzausstattung des Bundesstaates vertan. XI. Die Untauglichkeit von Steuergesetzgebungskompetenzen der Länder für eine Föderalismusreform 1. Charmantes Ideal vor den Grenzen des Rechts und der Praktikabilität Nach der Idee des fiscal federalism sollen Einnahmen, Ausgaben und Aufgaben in einer Hand zusammengeführt werden, damit der geschilderte,
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demokratisch legitimierte und monetär verantwortete Regelkreis entsteht. Diese Idee führt zur Forderung, den Ländern die Autonomie zur Normierung derjenigen Steuerquellen zu geben, die ihnen zustehen, oder ihnen zumindest Zuschlagsrechte bei der Einkommensteuer einzuräumen. Diese Idee besitzt Charme und entspricht dem Ideal des fiscal federalism. Bei aller Sympathie für dieses Ideal darf aber die rechtliche Möglichkeit und die praktische Tauglichkeit einer derartigen Steuerautonomie der Länder nicht außer Betracht bleiben. 2. Rechtsgrenzen im EG-Vertrag bei Verbrauchsteuern Rechtlich scheidet eine Autonomie der Länder bei Verbrauchsteuern aus. Umsatzsteuer und spezielle Verbrauchsteuern stehen nach Art. 93 EG-Vertrag fast völlig in der Kompetenz der EG. Im Umsatzsteuerrecht hat sie ihre Ermächtigung durch eine so genannte Vollharmonisierung, also eine Totalregelung, ausgenutzt, sodass außer dem Steuersatz und einigen Verfahrens- und Vorsteuerabzugsregeln das deutsche Umsatzsteuergesetz fast vollständig von den Richtlinien abgeschrieben ist. Eine nationale Kompetenzverschiebung vom Bund auf die Länder wäre sinnlos, weil materiell kein Regelungsfreiraum mehr besteht. Art. 33 der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie verbietet es, eine zweite Umsatzsteuer zu erheben. Zuschlagsrechte können den Ländern nicht zugestanden werden, weil die Zahl der Umsatzsteuertarife europarechtlich festgelegt und national ausgenutzt ist. Bei den besonderen Verbrauchsteuern hat die EG eine etwas zurückhaltendere Harmonisierung für die Steuergüter Energie, Tabak und Alkoholika eingeleitet. Auch in diesem Bereich sind nationale, materielle Sonderlösungen nur begrenzt möglich. Art. 33 Abs. 6 Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 3 Verbrauchsteuersystemrichtlinie beschränken den nationalen Gesetzgeber letztlich auf die Erfindung lenkender Ökosteuern; deren Anreize müssten aber bundesweit gelten; für die Länder bleibt hier kein Spielraum übrig. 3. Binnenmarktfeindlichkeit von Differenzierungen bei Personen- und Ertragsteuern Rechtlich zulässig wäre nach EG-Recht indessen eine Verlagerung der Kompetenzen bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer und bei anderen Ertragsteuern. Da die Gemeinschaftssteuern nach Art. 106 Abs. 3 GG im Ertragsverbund von Bund und Ländern stehen, wäre eine Gesetzgebung der Länder darüber jedoch keine für den Bund annehmbare Lösung. Die Steuern, die nach Art. 106 Abs. 2 GG den Ländern zufließen, könnten allerdings von ihnen geregelt werden, ohne dass der Bundesfiskus Schaden er-
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litte. Dennoch halte ich ein Gesetzgebungsrecht der Länder über diese Steuern für unpassend. Die europäische Gemeinschaft verfolgt nach Art. 14 Abs. 2 EG einen Binnenmarkt ohne Grenzen, der unter anderem von Steuerschranken an den Territorialgrenzen der Mitgliedstaaten absieht. Diesem Ziel würde es zuwiderlaufen, statt an der nationalen Grenze ausgerechnet im größten Mitgliedstaat im Binnenbereich zwischen seinen Ländern Steuergrenzen zu errichten. Zudem sind Steuerquellen sehr beweglich. Sie können durch Verlagerung von Wohn- oder Geschäftssitz oder durch Verlegung der Finanzquelle in andere Länder verschoben werden. Eine Steuerhoheit der Länder führte zu einem Steuerwettbewerb zwischen ihnen. Zur Vermeidung von Doppelbelastung oder Minderbesteuerung müssten zwischen den Bundesländern Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen werden. Bundesweit handelnde Unternehmen müssten plötzlich Verrechnungspreise dokumentieren, wenn Betriebsstätten in mehreren Ländern liegen. Letztlich dürften mobile Steuerquellen für eine Steuerautonomie zwischen den Ländern kaum in Frage kommen. 4. Möglichkeit bei Steuern auf immobile Finanzquellen Damit ist die an sich gute Idee einer Steuerautonomie der Länder aus rechtlichen und praktischen Gründen nur noch bei immobilen Steuerquellen möglich. Die Grunderwerb- und die Grundsteuer kämen dafür in Frage. Die Grundsteuer, teilweise auch die Grunderwerbsteuer stehen indessen den Kommunen zu. Die Steuerautonomie der Länder würde sich gar nicht nach der Idee des fiscal federalism im Staatshaushalt des jeweiligen Landes sondern in den Kommunalhaushalten auswirken. Unter der Perspektive der Föderalismusreform wäre diese Übertragung der Gesetzgebungshoheit mithin wenig förderlich. (Es ist eine andere Frage, ob man den Ländern eine Gesetzgebungshoheit über die Grundsteuer zusprechen sollte, damit sie ein Instrument erhalten, das Kommunalfinanzsystem zu reformieren. Die meisten Kommunen hängen mittlerweile am Tropf des kommunalen Finanzausgleichs, die Landkreise decken ihre Defizite durch Kreisumlagen gegenüber den Kommunen. Dieses wenig aufgaben- und effizienzorientierte Finanzierungssystem könnte man durch eine Umstellung auf eine Grundsteuerfinanzierung wie in den USA renovieren. Zur Föderalismusreform taugt eine Übertragung der Gesetzgebungskompetenz indessen nicht.) 5. Föderalismusreform oder Aufkommenssteigerung? An dieser Stelle sei auch auf den stets finanzhungrigen Fiskus hingewiesen, der eine Föderalismusreform durchaus auch mit anderer Motivation be-
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treibt. In der Diskussion um eine Steuerautonomie der Länder werden nur Zuschläge auf die Einkommensteuer erwähnt, von Abschlägen ist nie die Rede. Die Verlagerung der Gesetzgebungshoheit wird mit einer Verbesserung der Einnahmen des Staates begründet. Hier schimmert das Motiv einer höheren Steuerbelastung deutlich durch. Die Erschließung neuer Finanzquellen gegenüber dem Bürger sollte nicht unter dem Deckmantel der Föderalismusreform vorbereitet werden. XII. Die Neuordnung der Ertragshoheit Für eine Bundesstaatsreform interessanter wäre eine Neuzuordnung der Ertragshoheit nach Art. 106 GG. Statt einer Kostenerstattung für bundesgesetzlich verursachte Aufgaben wäre eine zusätzliche Zuweisung der Erträge einzelner Steuerquellen an die Länder möglich. Hierfür kämen vor allem die besonderen Verbrauchsteuern in Frage. Sie weisen nicht die Schwankungen im Aufkommen wie die Ertrag- und Personensteuern auf. Sie entwickeln eine Tendenz zu steigendem Aufkommen, weil die EG und der deutsche Mitgliedstaat sich von den weitgehend ausgereizten Personensteuern ab- und den leichter erhebbaren Verbrauchsteuern zuwendet. Der Umweltschutz durch Ökosteuern gibt dieser Tendenz weiteren Schwung. Tabak- und Energiesteuern sind in den letzten Jahren erheblich angewachsen. Werden die Länder an ihrem Ertrag in größerem Umfang als bisher beteiligt, gelingt es ihnen leichter, ihrer chronischen, strukturellen Finanznot zu entweichen. Es ist möglich, ihnen eine derartige Steuerquelle vollständig oder anteilig zuzuweisen. Wichtig ist nur, dass man die Zuweisung(-santeile) verfassungsrechtlich fixiert und nicht dem einfachen Bundesgesetz überlässt, um den Ländern eine verlässliche und planbare Finanzausstattung zu sichern. Lediglich die Umsatzsteuer sollte man wie bisher bundesgesetzlich beweglich halten, um ein notwendiges Ventil im Falle unzureichender Steuerverteilung verfügbar zu halten. XIII. Die unerlässliche Verminderung des Finanzausgleichs Unerlässlich ist eine Reform des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern. Die Diagnose über seine zahlreichen Krankheiten ist bekannt. Nivellierung, immenses Ausgleichsvolumen, ungerechte Ausgleichsfaktoren u. ä. schaden dem Bundesstaat mehr als sie den einzelnen Ländern nützen. Die Zahl der Nehmerländer ist mittlerweile größer als die der Geberländer. Die Begünstigten majorisieren die Belasteten; die Eigenstaatlichkeit der Länder leidet unter ihrer Empfängermentalität. Eine eigenständige Haus-
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halts- und Finanzpolitik wird von ihm unterminiert. Zur föderalismusgerechten Reparatur bleibt letztlich nur die Möglichkeit, primär an anderer Stelle, nämlich bei der Verteilung der Steuerquellen und bei der Erstattung der Kosten, bundesstaatsgerecht zu reformieren und dem Finanzausgleich allein noch die Rolle eines Spitzenausgleichs für marginale, unvorhersehbare und kurzfristige Probleme zuzugestehen. XIV. Die Rückführung der Finanzhilfen Finanzhilfen des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG sind wegen ihrer punktuellen, jährlichen, vom Willen des Bundes abhängenden Vergabe bundesstaatlich problematisch. Die drei Tatbestandsvoraussetzungen für Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG sind derartig offen formuliert, dass man fast für jede gewünschte Investitionshilfe eine Subsumtionsmöglichkeit findet. Wegen der bereits geschilderten, bundesstaatsgefährdenden Anschubund Teildotationen sollte man nur noch eine Vollfinanzierung bestimmter Investitionsvorhaben zulassen und sie an eine Zustimmung durch eine Zweidrittelmehrheit des Bundesrates binden. Solche Hürden wirken besser als konturenlose Tatbestandsvoraussetzungen, die man in der politischen Praxis leicht umgehen kann. XV. Die bundesstaatswidrigen Gemeinschaftsaufgaben Die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und b GG laufen dem Bundesstaat unmittelbar zuwider, weil ihre Festlegung, Verwaltung und Finanzierung gemeinsam durch Bund und Länder erfolgt. Die Föderalismuskommission hatte zu Recht erwogen, sie bis auf den Küstenschutz und die überregionale Forschungsförderung ganz zu beseitigen. Dem kann man nur zustimmen. XVI. Bundesfinanzverwaltung für Gemeinschaftsteuern In den Diskussionen der Kommission kam am Ende die Forderung auf, die Verwaltung der Gemeinschaftsteuern in Art. 108 GG aus den Händen der Landesfinanzverwaltung zu nehmen und einer neu zu errichtenden Bundesfinanzverwaltung zu übertragen. Die Forderung erstaunt auf den ersten Blick und scheint föderalismusfeindlich zu sein. Ich halte sie dennoch für gerechtfertigt und sogar für föderalismusfreundlich. Historisch war eine Bundesfinanzverwaltung für diese Steuerarten geplant. Erst der Einspruch der Alliierten, die zuviel an Zentralstaatlichkeit fürchteten, hatte sie unterbunden. Heute sprechen viele Gründe für eine Verwaltung in Bundeshand.
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Alle Gemeinschaftsteuern sind bundesgesetzlich geregelt. Nach dem Grundsatz der Belastungsgleichheit sind sie streng gleichheitsgerecht – bis hin zum tatsächlichen Gleichheitserfolg beim einzelnen Steuerpflichtigen – zu vollziehen. Steuerrecht ist eine strikt gesetzesgebundene Verwaltung; den Finanzämtern steht kein Ermessen zu. Letztlich drängt dieses bundeseinheitliche Steuerrecht auf einen bundeseinheitlichen, gleichen Vollzug. Dieser kann von Finanzämtern des Bundes besser gesichert werden als von Finanzbehörden des Landes. Die Länder würden bei einer Übertragung auf die Bundesfinanzverwaltung nur gewinnen. Politik lässt sich mit der Verwaltung von Steuern schon lange nicht mehr gestalten; dafür eignet sich nur die Steuergesetzgebung. Die Länder würden erhebliche Personalaufwendungen in den eigenen Finanzämtern sparen. Die Notwendigkeit einer Abstimmung von sechzehn Steuerverwaltungen führt zurzeit zu etwa 140 Koordinationsgremien, die mit Beamten aus allen Ländern besetzt sind und erhebliche Kosten verursachen. Politische, praktische und gleichheitsrechtliche Erwägungen legen somit die Verwaltung der Gemeinschaftsteuern durch eine Bundessteuerverwaltung nahe. An der Aufteilung ihres Ertrags nach Art. 106 Abs. 3 GG würde diese Umstellung der Administration der Steuergesetze überhaupt nichts ändern, d. h. die Länder hätten keine materiellen Einbußen zu fürchten. XVII. Föderalismusreform durch wenige, aber markante Änderungen Mit wenigen Änderungen könnte man die deutsche Finanzverfassung wieder für den Föderalismus tauglich machen. Modelle und Ideen für diesen Bereich der Bundesstaatsreform gibt es mittlerweile genügend. Das Erkenntnisinteresse von Politik und Öffentlichkeit über Techniken und Möglichkeiten zur Reform ist bereits gestillt. Mir bleibt nur zu hoffen, dass die Politik diese Vorschläge aufgreift und bei der Reform endlich weit und mutig springt, damit wir wieder einen Bundesstaat aus eigenständigen Bund und Ländern erhalten.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Ferdinand Kirchhof Leitung: Karl-Peter Sommermann Von Christian Koch Die Diskussion eröffnete Karl-Peter Sommermann mit einigen anerkennenden Worten für die „scharfsinnige Einführung in die Finanzverfassung“. Man dürfe die Legitimationsgrundlage nicht aus dem Blick verlieren, nicht zuletzt auch die „dienende“ Funktion der Finanzverfassung. Insbesondere zur „dienenden“ Funktion ließe sich manches sagen, meinte Kyrill-Alexander Schwarz, Karlsruhe; auf die Bandbreite der Funktionen und Funktionserwartungen komme es letzten Endes an. Und gerade im Zusammenhang mit den Ausführungen von Schmidt-Jortzig sei klar geworden, daß konsequent die Aufgabe im Vordergrund stehen müsse. Wie verhalte es sich also mit den Aufgaben, gerade angesichts des prinzipiell unbegrenzten Aufgabenkreises, akzentuiert vom jeweiligen staatlichen Selbstverständnis? Worin bestünden die notwendigen Aufgaben? Wie sei es zudem um eine strikte Aufgabenanalyse bestellt? Auf welcher Ebene müsse der Rückbau von Aufgaben insbesondere stattfinden? Kirchhof betonte noch einmal: „Aufgabenhoheit ist das erste“. Und in der Tat müsse der Schwerpunkt in angemessener Themenbegrenzung gesucht werden. Die Mechanismen der Aufgabenkritik seien entwickelt und stünden zur Erprobung bereit, die Argumente würden vorgetragen, aber „es passiert nichts“. Die Finanzverfassung trägt aber auch die Aufgabenerfüllung letztlich nur mehr nach Maßgabe ihrer Finanzierbarkeit. In dieser Wechselwirkung liege der Schlüssel zu Verständnis und angemessener Gewichtung der Finanzverfassung. Andererseits: Das Aufkommen an Finanzen werde immer größer, womit die Finanzverfassung nahezu zwangsläufig eine tragende Rolle für die Identifizierung und den Zuschnitt von Staatsaufgaben erhalte. Aufgabenkritik sei indessen nun gerade nicht ihre Hauptfunktion. Sommermann bezog sich auf das Maßstäbegesetz sowie auf das Finanzausgleichsgesetz und fragte nach der Rationalität eines solchen Gesetzes, oder sei es etwa nur schlecht gemacht? Wohl kaum, denn immerhin könnten insbesondere die Verhandlungsführer der Länder durch die in solchen Gesetzen verkörperten Leitbilder politisch entlastet werden. Kirchhof sah hier
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das maßgebliche Problem in der hinreichenden Konkretisierung; immerhin sei in einer früheren Phase der Überlegungen zu diesen gesetzlichen Vorgaben noch an „Rechenmaßstäbe“ gedacht gewesen: Was aber nütze das dogmatische Gerüst, wenn es an einem hinreichenden Konkretisierungsgrund fehle. Zum Finanzausgleich (mehr Nehmer als Geber) sei im übrigen zu bemerken, daß es aus einem solchen System eigentlich kein Entrinnen gebe, man komme aus den disparaten Vorgaben nicht mehr heraus, ein Wandel von innen sei kaum vorstellbar. Als dysfunktional erweise sich auch die Zuordnung der Steuerarten; in diesem Sinne nahm Kurt-Friedrich v. Scheliha, Kiel, die Steuerarten in den Blick, insbesondere Erbschaftsteuer, Grundsteuer, Gewerbesteuer. Die Erbschaftsteuer habe sich als unzweckmäßig erwiesen; für die Grundsteuer weise jedes Land ein eigenes Gesetz aus. Friktionen seien allenthalben greifbar. Kirchhof plädierte vor diesem Hintergrund erneut dafür, Aufgabenund Finanzverantwortung in einer Hand zu vereinen unter eindeutiger Zuweisung der Ertragshoheit, nicht aber der Gesetzgebungshoheit. Letzteres verbiete sich schon aus europarechtlichen Gründen. Hinsichtlich der Gewerbesteuer verweise er auf das Bewertungsgesetz: Ein System einheitlicher Bewertung habe sich als nicht funktionstüchtig erwiesen. Eine einheitliche Bewertung scheitere letztlich an der Zielvielfalt, die mit dem Steuerrecht verknüpft sei. Die Länder sollten die Bemessungsgrundlage selbst festlegen. Über das kommunale Stimmrecht komme der Bürger legitimierend ins Spiel. In der Bewertungsgesetzgebung sei hier nur auf die Probleme des Verkehrswertes bzw. des verminderten Verkehrswerts hinzuweisen, bei der Erbschaftsteuer auf das Moment der „Anlaßbewertung“. Von anderer Seite wurde erneut die (Staats-)Aufgabe zum Ausgangspunkt weiterer Betrachtung genommen. Bei aller Berechtigung einer solchen Betrachtung fehle es indessen ganz grundsätzlich an dem Ziel, nicht mehr ausgeben zu wollen als eingenommen werde. Aufgabe und Aufgabenkritik seien hierbei wesentliche Momente, wobei es eigentlich aber eher um die zu erreichenden politischen Ziele gehe, weniger um den Aufgabenbestand und dessen Pflege. Die Perspektive, jede denkbare oder auch nur sinnvolle Aufgabe auch tatsächlich durch den Staat unter Bindung seiner Finanzkraft wahrnehmen zu sollen, sei nicht mehr gegeben; es habe der Staat sich auf das Notwendige zu beschränken. „Anpassung“ laute daher ein weiterer Auftrag, Markt und Wettbewerb habe der Aufgabenträger in den Blick zu nehmen. Der Schwerpunkt liege, daran führe kein Weg vorbei, in der „Aufgabendiskussion“. Dies eben, so entgegnete Kirchhof, sei die Frage, „was der Staat bewirken soll“. Hinsichtlich der Einnahmen seien Kredite der absolut falsche Weg, und so sei er zum „Freund eines völligen Abbaus der Schulden“ geworden, unter Hinweis etwa auf die Beispiele Belgiens oder der Schweiz.
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Joachim Lohmann, Kiel, erklärte seine Zustimmung zum Konnexitätsprinzip und dessen heilsamer Wirkung; die Durchführungsebene verhalte sich typischerweise nicht unbedingt sparsamkeitsbewußt; die untere Ebene sei nicht immer effizient. Ein Blick auf die Gemeinsame Landesbauverwaltung mache dies deutlich: Bisher habe der Bund die Hälfte der Kosten getragen; nun hätten sich die Kosten um die Hälfte senken lassen. Die Konnexität habe indessen auch zu Aufblähungen von Titeln um bis zu 250 vom Hundert beigetragen (indem etwa andere Aufgaben mit hineingezogen worden seien). Für Kirchhof erweist sich in der Tat gerade die Durchführung von Gesetzen oft als sehr wenig sparsam: „Die Kosten entstehen beim Verwalten“. Und dies mache letztlich den entscheidenden Kostenfaktor aus: „Wir müssen es nicht bezahlen, also sind wir großzügig“. Deshalb gelte es, Durchschnittswerte zu erstellen, die hinreichende Orientierung bieten könnten. Und Art. 104a Abs. 5 GG müsse in Zukunft immer eine Kostentragung des Landes auslösen. Bei Art. 104a Abs. 4 GG hingegen stünden bereits heute Vergleichbarkeitskriterien zur Verfügung. Dies könne man durchaus schon als ein Erfolgsmodell ansehen. Unausgewogen sei das System bei kommunalen sozialen Hilfeleistungen, bei der Jugendhilfe. Das ALG I/IISystem verleite zu gezieltem Mißbrauch: „Hier ist ein Brunnen, laßt uns schöpfen“. Sommermann hingegen fragte vor dem Hintergrund dieser Argumente, ob man ein wenig überspitzt formulieren könne, daß die Länder auf dem Wege zu bloßen Zahlungsempfängern des Bundes seien? Die nachgerade Gängelung der Länder habe ihre Ursache im aufgabenstellenden Bundesgesetzgeber; die Kostenfrage komme wenn auch zeitlich verzögert als unausweichliche Konsequenz hinterher. Heinz Anderwald, Graz, plädierte nachdrücklich für ausgeglichene Budgets. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika betonte er, daß es überzeugende Beispiele für Staaten gebe, die durchaus Verpflichtungen zu ausgeglichenen Haushalten statuiert hätten. Auch auf die Maastricht-Kriterien könne man insofern hinweisen. Auch im Verlaufe ihrer Implementierung in die mitgliedstaatlichen Finanzpolitiken habe es doch zunächst noch in erheblichem Maße kritische und skeptische Diskussionen im Vorfeld gegeben. Kirchhof betonte erneut, daß es hinreichend ernstzunehmende Vorschläge gebe; man brauche nur die Präsidenten der Rechnungshöfe zu Zeugen aufzurufen. Auch eine stärkere Verlagerung der Kontrollmitverantwortung zum Bundesverfassungsgericht könne eine interessante Perspektive sein. Im übrigen verweise er auf die schweizerische Bundesverfassung: Sie enthält die Umschreibung der Schuldengrenze (in Art. 126 Abs. 2 und 3). „Ideen gibt es genug“; es gelte nun, „die Aufgaben- und Ausgabenblöcke zu identifizieren“.
Landesparlamente im Mehrebenensystem Von Christoph Grimm Sehr geehrte Damen und Herren, vor einigen Tagen habe ich die Stellungnahme des Landtags in einem Normenkontrollverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz unterzeichnet. Eine Ortsgemeinde aus der Südpfalz hatte sich gegen die landesgesetzliche Ausweisung von Naturschutzgebieten im Rahmen des europäischen ökologischen Netzes „Natura 2000“ gewandt. Da ein erheblicher Teil des Gemeindegebietes von der gesetzlichen Unterschutzstellung betroffen war, sah sich die Gemeinde in ihrer landesverfassungsrechtlich verbürgten Planungs- und Finanzhoheit verletzt. Die Stellungnahme des Landtags kommt zu dem Ergebnis, dass Rechte der Gemeinde durch das betreffende Landesgesetz nicht verletzt werden. Dieses Ergebnis stützte sich jedoch nicht – wie man zunächst vermuten könnte – auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, also der Belange des Naturschutzes mit denjenigen der kommunalen Selbstverwaltung. Für eine solche Abwägung zweier prinzipiell gleichgewichtiger Rechtsgüter war von vornherein kein Raum. Denn das den Gemeinden in der Landesverfassung garantierte Selbstverwaltungsrecht gelangte in der vorliegenden Fallkonstellation gar nicht erst zur Anwendung! Der Grund hierfür war, dass die landesgesetzliche Ausweisung der Naturschutzgebiete auf bundesrahmenrechtlichen Vorgaben beruhte, die ihrerseits der Umsetzung von zwei Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft dienten. Die Gebietsausweisung war dem Landesgesetzgeber daher zwingend durch höherrangiges Recht – hier insbesondere durch EU-Recht – vorgegeben. Seine Rolle beschränkte sich mit anderen Worten im Wesentlichen darauf, die EU-rechtlichen Vorgaben abzuschreiben. Die Folge war, dass aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts entgegenstehendes nationales Recht und damit auch die einschlägigen landesverfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht zur Anwendung kommen konnten. Dieses Beispiel verdeutlicht für mich in geradezu idealtypischer Weise die – man muss wohl sagen – dramatische Situation, in der sich die deutschen Länder, vor allem aber die Landesparlamente befinden. Wir erleben einen seit Jahrzehnten ungebrochenen Prozess der schleichenden Entmach-
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tung der Landesparlamente, ihrer Gestaltungskraft und ihrer zentralen Rolle im politischen System. Dabei sind die Landesparlamente im Kernbereich ihrer Funktionen betroffen. Denn der bedeutendste Kompetenzverlust ist auf dem Gebiet der Gesetzgebung zu beklagen. Dieser massive legislative Kompetenzverlust vollzieht sich sowohl gegenüber dem Bund als auch gegenüber der Europäischen Union. Es griffe daher zu kurz, sich nur auf das Verhältnis der Länder zum Bund zu beschränken. Vielmehr müssen die Landesparlamente ihre Stellung innerhalb eines Mehrebenensystems, bestehend aus Ländern, Bund und Europäischer Union, behaupten. Im Verhältnis der Länder zum Bund ist eine Wandlung des föderativen Systems hin zu einem unitarischen und vielfach verflochtenen Bundesstaat festzustellen. So hat der Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung im Laufe der Zeit eine erhebliche Ausweitung erfahren. Diese stetige Ausweitung fällt umso stärker ins Gewicht, als der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nahezu vollständig ausgeschöpft hat. Erst die im Zuge der Verfassungsreform im Jahre 1994 erfolgte Änderung des Artikels 74 Abs. 2 GG scheint insoweit dem in der Vergangenheit faktisch unbegrenzten Zugriffsrecht des Bundes in begrenztem Umfang Einhalt geboten zu haben; in diese Richtung deuten zumindest die jüngst ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Altenpflege, zum Ladenschluss und zur Juniorprofessur. Im Bereich der Rahmengesetzgebung stellt sich die Lage aus Sicht der Landesparlamente nicht viel besser dar. Mit den Worten des ehemaligen Bundespräsidenten Rau ist der bundesrechtliche Rahmen in vielen Bereichen „so breit, dass man das Bild nicht mehr sieht“. Der Bund hat die Rahmengesetzgebung in teils exzessiver Weise zum Erlass umfangreicher und detaillierter Regelungen genutzt und damit dem Landesgesetzgeber jeden substanziellen politischen Gestaltungsspielraum genommen. Als Beispiele seien etwa das Beamtenrechtsrahmengesetz oder auch das Hochschulrahmengesetz genannt. Erwähnen will ich schließlich noch die Verlagerung der Steuergesetzgebung auf den Bund, die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben und die ausufernde Mischfinanzierung von Bund und Ländern, die ebenfalls Ausdruck der beschriebenen Wandlung des föderativen Systems sind. Diese sich im innerstaatlichen Bund-Länder-Verhältnis vollziehende Kompetenzverlagerung setzt sich durch Verlust von legislativen Länderkompetenzen in Richtung der Europäischen Union fort. Wie der Bund im Verhältnis zu den Ländern hat auch die Europäische Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten stetig an Kompetenzen hinzugewonnen.
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Diese umfassen nach derzeitigem Stand neben den „klassischen“ Kompetenzen in den Bereichen Warenverkehrsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit sowie Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs unter anderem Zuständigkeiten in den Bereichen Verkehr, Wettbewerb, Beschäftigung, Sozialpolitik, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, Forschung und technologische Entwicklung, Umweltschutz sowie Visa, Asyl und Einwanderung. Über diese Politikbereiche hinaus enthält der EG-Vertrag mit Artikel 308 eine Klausel, die der Europäischen Gemeinschaft ohne ausdrücklichen Kompetenztitel eine zusätzliche Regelungsbefugnis für die Fälle einräumt, in denen die von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen nicht ausreichen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das die Gemeinschaft nach dem EG-Vertrag verwirklichen soll. Auch wenn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Generalermächtigung des Artikels 308 EGV keine Kompetenz-Kompetenz enthalten soll, so geht die Norm doch in diese Richtung. Alles in allem geht die Feststellung sicher nicht zu weit, dass fast alle Gegenstände der Landesgesetzgebung europarechtlich überlagert sind. Diese Überlagerung kann dabei so weit gehen, dass die Rolle des Landesgesetzgebers sich auf ein bloßes Abschreiben der europarechtlichen Vorgaben beschränkt. Das gilt gerade auch in den Fällen, in denen die europarechtlichen Vorgaben aufgrund einer Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes zunächst in Bundesrecht und erst in einem zweiten Schritt in Landesrecht umgesetzt werden – erinnert sei nur an den eingangs von mir geschilderten Fall aus dem Bereich des Naturschutzrechts. Der Verlust an Gesetzgebungskompetenzen – gegenüber dem Bund wie gegenüber der Europäischen Union – wird für die Länder in einem gewissen Maße durch eine Vermehrung der Anzahl zustimmungspflichtiger Gesetze kompensiert. Hiervon profitieren jedoch nicht die Landesparlamente, sondern die Landesregierungen. Denn sie sind es, die aufgrund der spezifischen Ausgestaltung des Bundesrats durch eine Ausweitung der Zustimmungspflicht einen Machtzuwachs mit Blick auf die Bundesgesetzgebung erfahren. Gleiches gilt im Übrigen in Angelegenheiten der EU, in denen sich die Mitwirkung der Länder gemäß Artikel 23 GG ebenfalls über den Bundesrat vollzieht. Das dominante Merkmal der Veränderungen des bundesdeutschen föderativen Gefüges ist daher die Verlagerung von eigenständiger landespolitischer Gestaltungsfreiheit hin zu einer bloßen Beteiligung an Entscheidungen des Bundes. Mit anderen Worten: die Entwicklung von Autonomie zur Partizipation. War das Grundgesetz zunächst auf Trennung von Bund und Ländern in Zuständigkeiten und Aufgabenwahrnehmungen angelegt, sehen wir uns heute einem exekutivisch geprägten Verbundföderalismus gegenüber.
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Der eigentliche Verlierer dieser Entwicklung sind die Landesparlamente. Man kann, ja man muss von einer „Entparlamentarisierung“ der Politik sprechen. Ausdrücklich festhalten möchte ich dabei, dass sich dies nicht allein in dem kontinuierlichen Abbau der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder widerspiegelt. Auch in den Bereichen, in denen den Ländern eigenständige Kompetenzen verblieben sind, sehen sich die Landesparlamente in zunehmendem Maße auf die Funktion einer bloßen „Ratifikationsinstanz“ degradiert. So stimmen sich die Landesregierungen in unzähligen Koordinierungsgremien untereinander ab und einigen sich auf Musterentwürfe oder zumindest gleichförmige Regelungen. Diese außerhalb des parlamentarischen Raums erarbeiteten Entwürfe werden dann dem Landesgesetzgeber vorgelegt. Der sieht sich nur noch vor die Wahl gestellt, das ihm unterbreitete Resultat exekutiv-föderaler Koordination als Ganzes anzunehmen oder abzulehnen. Ein inhaltlicher Gestaltungsspielraum des Parlaments ist bei dieser Verfahrensweise weitgehend ausgeschlossen. Soweit der tatsächliche Befund. – Ihn allein unter verfassungspolitischen Gesichtspunkten bewerten zu wollen, griffe zu kurz. Denn, meine Damen und Herren, die existenzielle Krise, in der sich die Landesparlamente befinden, wirft auch grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen auf. Ich dramatisiere nicht, wenn ich sage, dass diese Fragen den Kernbereich dessen berühren, was unser Grundgesetz in Artikel 20 an Staatsstrukturprinzipien festlegt und was durch die „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsänderung entzogen ist. Dies betrifft zunächst die Garantie der Bundesstaatlichkeit. Wenn der Befund eines dramatischen Bedeutungsverlustes der Landesparlamente zutrifft, dann gelangt man an einen Punkt, an dem die Staatsqualität der Länder in Zweifel zu ziehen ist. Lassen Sie mich dies kurz erläutern: Art. 79 Abs. 3 GG erklärt eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, für unzulässig. Ich möchte an dieser Stelle nicht der Frage nachgehen, inwieweit dem Verweis auf Artikel 20 GG und der darin enthaltenen Festlegung auf den Bundesstaat neben den explizit in Artikel 79 Abs. 3 GG aufgeführten bundesstaatlichen Garantien ein eigenständiger normativer Gehalt zukommen kann. Für die uns interessierende Problematik gehe ich von einer im Ergebnis einheitlichen Absicherung der Bundesstaatlichkeit durch die Artikel 20 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG aus. Kern des so verstandenen Bundesstaatsprinzips ist die Staatlichkeit des Bundes und seiner Glieder, also der Länder. Dabei ist es vor allem die poli-
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tische Kompetenz der Gesetzgebung, die die Länder als Staaten von bloßen Verwaltungseinheiten unterscheidet. Um es mit Konrad Hesse zu formulieren: Erforderlich ist ein „Existenzminimum“ bzw. ein „Mindestbestand“ an „Kompetenzen zu eigener, richtungweisender und nicht nur lückenfüllender oder sonstwie untergeordneter Gesetzgebung“. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist zur Wahrung der unberührbaren Länderstaatlichkeit und ihrer Essentialia erforderlich, dass den Ländern „ein Kern eigener Aufgaben als ‚Hausgut‘ unentziehbar verbleibt“ (BVerfGE 34, 9, 20). Wie auch immer man einen solchen Mindestbestand an Kompetenzen, insbesondere an Gesetzgebungskompetenzen, umschreiben will – wir sind meines Erachtens an einem Punkt angelangt, in dem dieser Mindestbestand, jener Kern unberührbarer Länderstaatlichkeit, ernsthaft gefährdet ist. Mit anderen Worten: Die Grenze des verfassungsrechtlich gerade noch Zulässigen ist erreicht und droht überschritten zu werden. Doch nicht nur das Bundesstaatsprinzip ist betroffen. Als bedenklich erweist sich die Lage der Landesparlamente auch mit Blick auf das Demokratieprinzip. Das Demokratieprinzip in der grundgesetzlichen Ausprägung der repräsentativen Demokratie setzt voraus, dass den direkt gewählten Parlamenten eine eigenständige und substanzielle Regelungskompetenz gewährt sein muss. Die fortschreitende Erosion der Gesetzgebungskompetenzen der Landesparlamente provoziert die Frage, ob dies heute noch der Fall ist. Je mehr die Parlamente zu einer bloßen Ratifikationsinstanz für an anderer Stelle getroffene Entscheidungen verkommen, je mehr also die Parlamente aus der ihnen vorbehaltenen zentralen Rolle verdrängt werden, desto mehr ist auch das Prinzip der repräsentativen Demokratie berührt. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass es der exekutivisch geprägte Verbundföderalismus für den Wähler zunehmend schwerer macht, mit seinem Wahlakt die Grundlinien der Politik zu bestimmen – ein Befund, der im Übrigen nicht nur für die Landesebene, sondern durchaus auch für den Bund zutrifft. Wenn aber die Wahlentscheidung des Bürgers durch eine zunehmende Verflechtung politischer Entscheidungsstrukturen massiv konterkariert wird, dann führt das zu einer Erosion des materiellen Gehalts des Wahlrechts. Der Kernbereich des Demokratieprinzips ist dann unmittelbar berührt. Zur Verdeutlichung sei noch einmal an den eingangs geschilderten Fall aus dem Umweltrecht erinnert: Erlässt die Europäische Union auf diesem Feld Richtlinien, reagiert der Bundesgesetzgeber mit entsprechenden rahmenrechtlichen Regelungen. Die Länder haben folglich einen zweifach vorgegebenen Rahmen auszufüllen. Das Ergebnis ist eine dreistufige Gesetzgebung. Dies ist geradezu das Paradebeispiel eines Verflechtungsexzesses, bei dem für den Bürger eine Zuordnung der Verantwortlichkeiten kaum
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noch möglich ist. Wenn aber der Wähler nicht mehr weiß, wer wofür verantwortlich ist, können Wahlen ihre Legitimationsfunktion nicht mehr erfüllen. Die Ausführungen zu den Strukturprinzipien Bundesstaat und Demokratie setzen nicht nur der Kompetenzübertragung im Verhältnis der Länder zum Bund Grenzen. Sie gelten über die Integrationsermächtigung des Artikels 23 GG auch für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europa bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Dabei gilt nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht nur für die Begründung der Europäischen Union, sondern für jede Änderung ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, die Regelung des Artikels 79 Abs. 2 und 3 GG. Durch den Verweis auf Artikel 79 Abs. 3 GG wird garantiert, dass der grundgesetzliche Typus der bundesstaatlichen Ordnung auch im Verhältnis zur Europäischen Union Bestand hat. Diese Schranke auch auf das Verhältnis zur Europäischen Union zu erstrecken, war notwendig. Denn die Regelungen des Artikels 23 Abs. 2 bis 7 GG sehen zwar eine umfangreiche kompetenzielle Beteiligung der Länder an der Europapolitik des Bundes vor, die sich über den Bundesrat vollzieht; dieses Regelwerk bietet jedoch offenkundig keinen hinreichenden Schutz vor einer zunehmenden Kompetenzverlagerung, vor allem nicht aus Sicht der Landesparlamente. Artikel 23 GG und die darin angelegte Mitwirkung der Länder über den Bundesrat fügt sich insoweit nahtlos in das Bild eines exekutivisch geprägten Beteiligungsföderalismus, der unausweichlich zu einer zunehmenden Aushöhlung originärer Länderkompetenzen und damit auch zu einer Entmachtung der Landesparlamente führen muss. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Nimmt man eine Bewertung von Stellung und Gewicht der Landesparlamente innerhalb des Mehrebenensystems Länder – Bund – Europäische Union vor, so muss man eine verfassungspolitisch wie auch verfassungsrechtlich bedenkliche Auszehrung der Länder zugunsten von Bund und Europäischer Union konstatieren. Die stetige Verlagerung insbesondere von Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf die Ebenen Bund und Europäische Union, die Verflechtungen des exekutivisch-kooperativen Bundesstaates – sie garantieren den Landesparlamenten die immergleiche Position: diejenige des Verlierers.
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Das ist der Befund. Doch welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Bevor ich versuchen werde, Antworten auf diese Fragen zu finden, sei mir – als Leitgedanke alles Folgenden – eine These gestattet: In dem Maße, in dem wir immer mehr in einen verfassungsrechtlich bedenklichen Zustand geraten, ist die Diskussion um eine Revitalisierung des Föderalismus, um eine Stärkung des Länderparlamentarismus keine primär verfassungspolitische Notwendigkeit mehr. Vielmehr meine ich, dass das Gebot zum Handeln angesichts der Lage der Dinge ein zunehmend verfassungsrechtliches ist! Mit anderen Worten: Dass wir Handeln müssen, und in welche Richtung dieses Handeln weisen muss, dies ist in zunehmendem Maße verfassungsrechtlich vorgegeben. Lediglich innerhalb dieses Rahmens ist Raum für eine verfassungspolitische Diskussion um die richtigen Schritte und Mittel. Dies vorausgeschickt, möchte ich mich nun konkreten Maßnahmen zur Stärkung der Landesparlamente im Mehrebenensystem zuwenden. Die primäre Forderung geht naturgemäß in Richtung einer echten und substanziellen Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen vom Bund, aber auch von der Europäischen Union auf die Länder. Leider scheint dieser Weg – zumindest derzeit – verschlossen. Dies gilt in jedem Fall mit Blick auf die Ebene der Europäischen Union. Hier besteht nach überaus schwierigen Verhandlungen die historische Chance, den EU-Verfassungsvertrag in Kraft zu setzen und damit auf dem Wege der Europäischen Einigung einen entscheidenden Schritt voranzuschreiten. Sicherlich wäre es aus Sicht der Länder wünschenswert gewesen, dass es zu der einen oder anderen Rückübertragung von Kompetenzen gekommen wäre. Gleichwohl meine ich, dass derzeit – und dies ausdrücklich auch aus Sicht der Länder – unser aller Streben dahin gehen sollte, eine zügige Ratifikation der Verfassung in allen Mitgliedstaaten herbeizuführen. Dies gilt in besonderem Maße auch deshalb, weil sich aus Sicht der Länder und der Landesparlamente mit der neuen Verfassung durchaus Chancen verbinden. Ich werde hierauf noch zu sprechen kommen. Wenden wir uns wieder den innerstaatlichen Verhältnissen zu. Was die Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen vom Bund auf die Länder anbelangt, sind die Reformbemühungen mit dem Scheitern der Föderalismusdebatte im Dezember des vergangenen Jahres bekanntlich ins Stocken geraten. In Anbetracht des allen beteiligten Akteuren bewussten ungeheueren Reformdrucks bin ich vorsichtig optimistisch, dass sich am Ende doch noch eine Lösung der drängenden Probleme finden wird. Die Vorschläge liegen ja auf dem Tisch und harren ihrer Umsetzung. Ich will insoweit nur kurz auf einige eingehen. So scheint mir die Einführung einer umgekehrten konkurrierenden Gesetzgebung – auch wenn dieser Ansatz zuletzt in der Föderalismuskommis-
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sion nicht mehr weiterverfolgt wurde – sinnvoll, etwa in Form von Zugriffsrechten der Länder oder Öffnungsklauseln auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung. Bundesrecht könnte in diesen Fällen durch Landesrecht geändert oder ergänzt werden; den Ländern bliebe ein klarer und substanzieller Regelungsspielraum für eigene Rechtsgestaltungen. Die Rahmenkompetenz sollte auf eine echte Grundsatzgesetzgebung zurückgeführt werden; besser wäre es, ganz auf sie zu verzichten. Eine echte Reform darf auch den Komplex der Mischfinanzierungen nicht ausklammern, sind doch gerade die Gemeinschaftsaufgaben Sinnbild einer ineffizienten und intransparenten Politikverflechtung. Ferner – und dies wurde im Rahmen der Föderalismuskommission bewusst ausgeblendet – stellt sich die Frage, wie zukünftig die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern zu regeln sind. Nicht zuletzt wird auch die Frage einer Länderneugliederung zu behandeln sein – ein Thema, dem die Föderalismuskommission ebenfalls ausgewichen war. Soweit zu den Perspektiven einer echten Rückübertragung substanzieller Kompetenzen von Bund und Europäischer Union auf die Länder. Wie auch immer die Chancen für eine solche Rückübertragung stehen mögen – es ist – um meine These wieder aufzugreifen – nicht bloß ein verfassungspolitisches, sondern zunehmend ein verfassungsrechtliches Gebot, den weiteren Verlust an Landeskompetenzen zu stoppen! An diesem Punkt möchte ich ansetzen und die Landesparlamente ins Spiel bringen. Blicken wir den Tatsachen ins Auge: Die Einbindung der Länder – genauer: der Landesregierungen – über den Bundesrat hat in der Vergangenheit offenkundig nicht ausgereicht, dem Kompetenzverlust Einhalt zu gebieten. Sie wird in ihrer jetzigen Form auch in Zukunft nicht ausreichen. Die Gründe hierfür sind offenkundig und bedürfen keiner weiteren Vertiefung. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Der Schlüssel, einer weiteren Erosion der Landeskompetenzen Einhalt zu gebieten, liegt auch in den Händen der Landesparlamente. Sie müssen sich dessen aber auch bewusst werden! Ich will dies im Einzelnen ausführen. Im Jahre 1991 fasste die Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente eine Entschließung, worin eine Ergänzung des Art. 51 GG um folgenden Absatz 4 vorgeschlagen wurde: „Soweit dem Bund durch Änderung des Grundgesetzes Gegenstände zur Gesetzgebung übertragen werden, sind die Mitglieder des Bundesrates bei der Stimmabgabe an hierzu gefasste Beschlüsse der Landesparlamente gebunden. Dasselbe gilt, wenn nach Artikel 24 Abs. 1 [heute müsste es auch heißen: Artikel 23 GG] Hoheitsrechte der Länder auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden.“ [Hervorhebung durch den Verfasser.]
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In die gleiche Richtung weist die Lübecker Erklärung, die auf dem Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente im März 2003 angenommen worden war. Dort wird gefordert, dass in Bundesratsangelegenheiten, die Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder wesentlich berühren, die Landesregierungen die Stellungnahmen der Landesparlamente maßgeblich zu berücksichtigen haben. Für Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, die Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder wesentlich berühren, wird die gleiche Forderung erhoben: Auch dort haben die Landesregierungen nach dem Willen des Föderalismuskonvents die Stellungnahmen der Landesparlamente maßgeblich zu berücksichtigen. Sowohl der Vorschlag der Landtagspräsidentenkonferenz als auch derjenige des Föderalismuskonvents sucht also eine Lösung über den Einfluss der Landesparlamente auf die Stimmabgabe im Bundesrat. Ich halte das für einen sehr interessanten Lösungsansatz, der es verdient, einer näheren Prüfung in verfassungsrechtlicher Hinsicht unterzogen zu werden. Aus dem parlamentarischen Kontrollrecht folgt das Recht der Landesparlamente, sich mit dem Abstimmungsverhalten ihrer Landesregierungen im Bundesrat zu befassen, etwa in Form von Entschließungen oder parlamentarischen Anfragen. Dabei ist nach ganz herrschender Meinung im staatsrechtlichen Schrifttum und nach ständiger parlamentarischer Praxis eine parlamentarische Kontrolle des Landesparlaments gegenüber der Landesregierung auch dann zulässig, wenn sie vor der Beschlussfassung der Landesregierung in der jeweiligen Bundesratsangelegenheit stattfindet. Denn nur ein solches „mitlaufendes Kontrollrecht“ wird dem Rang der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Landesregierung – einem auch aus Sicht des Grundgesetzes unverzichtbaren Kernstück des parlamentarischen Regierungssystems in den Ländern – gerecht. Allerdings können Beschlüsse des Parlaments die Regierung lediglich politisch, nicht aber rechtlich binden. Entsprechend ist eine rechtliche Verpflichtung der Landesregierung durch Stellungnahmen des Landesparlaments in Bundesratsangelegenheiten nach derzeitiger Rechtslage ausgeschlossen. Der Grund hierfür liegt zunächst in der Organselbständigkeit der Landesregierung, der gegenüber das Landesparlament keine allgemeine, von gesetzlichen Grundlagen losgelöste Prärogative besitzt. Dessen ungeachtet wäre es aber auch mit grundgesetzlichen Vorgaben unvereinbar, auf der Ebene der Landesverfassungen eine derartige rechtliche Bindung des Stimmverhaltens der Landesregierungen an Stellungnahmen der Landesparlamente einzuführen. So sieht dies zumindest ein ganz überwiegender Teil des staatsrechtlichen Schrifttums, dem ich mich aus folgenden Gründen anschließen will.
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Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach, zuletzt in der Entscheidung zum Zuwanderungsgesetz (BVerfGE 106, 310, 334), entschieden hat, folgt aus dem in Artikel 51 Abs. 1 GG festgelegten Recht der Landesregierung, ihre Vertreter im Bundesrat zu bestellen und abzuberufen, zugleich das Recht zur Erteilung rechtlich verbindlicher Weisungen. Dabei handelt es sich um ein exklusives Recht der Landesregierungen. Denn die gesamte Struktur des Artikels 51 Abs. 1 GG ist in einem Maße auf die Landesregierungen zugeschnitten, welches ein Weisungsrecht anderer Landesorgane damit unvereinbar erscheinen lässt. Das Mandat der Landesregierungen im Bundesrat ist ein originär bundesrechtliches, welches vom Landesverfassungsrecht komplett abgehoben ist und folglich keinen landesverfassungsrechtlichen Zuständigkeiten unterliegen kann. Die Zuerkennung eines Weisungsrechtes an die Landesparlamente führte im Ergebnis dazu, dass die Legislative des Landes einen Einfluss auf die Willensbildung im Bund erhielte. Die Landtage würden so zu „Quasi-Mitgliedern“ des Bundesrates, weil sie indirekt über den Inhalt der Stimmabgabe des Landes verfügen könnten und somit den entscheidenden Faktor für die Willensbildung des Landes in Bundesratsangelegenheiten darstellten. Hierin läge aber ein Verstoß gegen die im Grundgesetz in spezifischer Weise festgeschriebene bundesstaatliche Kompetenzordnung, ein unzulässiges „Hinübergreifen“ in die Zuständigkeiten des Bundes in Bundesangelegenheiten und damit letztlich eine unzulässige Durchbrechung des Systems der vertikalen Gewaltenteilung. Halten wir also fest: Es wäre nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, in die Landesverfassung eine Bindung der Landesregierung an Stellungnahmen des Landesparlaments in Bundesratsangelegenheiten aufzunehmen. Ohne weiteres unbedenklich ist es dagegen, eine bloße einfache Berücksichtigungspflicht in die Landesverfassung einzufügen, so geschehen etwa in Artikel 34a der baden-württembergischen Landesverfassung. In eine im Ergebnis gleiche Richtung geht auch die Vereinbarung, die der rheinlandpfälzische Landtag mit der Landesregierung aufgrund der landesverfassungsrechtlichen Ermächtigung in Artikel 89b der Landesverfassung geschlossen hat. Im Falle einer solchen einfachen Berücksichtigungspflicht kommt es gerade zu keiner rechtlichen Bindung, auch nicht im Ansatz, so dass das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung nicht berührt ist. Wie verhält es sich aber mit der in der Lübecker Erklärung vorgeschlagenen „maßgeblichen Berücksichtigung“? Meines Erachtens wäre die Aufnahme einer solchen Formulierung in die Landesverfassung mit Blick auf die Vorgaben des Grundgesetzes nicht unproblematisch. Denn die Pflicht zur maßgeblichen Berücksichtigung käme einer rechtlichen Bindung zumindest bedenklich nahe. Insoweit wird im Rahmen des Artikels 23 GG,
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der in Absatz 5 ebenfalls die Pflicht zur maßgeblichen Berücksichtigung kennt (dort der Stellungnahme des Bundesrates durch die Bundesregierung), von Teilen des staatsrechtlichen Schrifttums sogar vertreten, dass „maßgeblich Berücksichtigen“ im Ergebnis nichts anderes als eine rechtliche Bindung sei. Demgegenüber geht eine andere Auffassung „nur“ von einer Regelbindung aus, die im Ausnahmefall ein Abweichen von der ansonsten zu befolgenden Stellungnahme gestattet. Mag auch angesichts des Wortlauts einiges für diese Auffassung sprechen – die Nähe zur rechtlichen Bindung legt es doch nahe, die Verankerung einer entsprechenden Pflicht nicht auf Ebene der Landesverfassung vorzunehmen. Bleibt also eine Änderung des Grundgesetzes, wobei sich aus systematischen Erwägungen die Ergänzung des Artikels 51 GG um einen neuen Absatz 4 anbietet – entsprechend dem von mir erwähnten Vorschlag der Landtagspräsidentenkonferenz aus dem Jahre 1991. Eine solche Änderung des Grundgesetzes wäre auch zulässig, insbesondere vereinbar mit den Vorgaben des Artikels 79 Abs. 3 GG. Die „Gliederung des Bundes in Länder“ wäre von der Ergänzung des Artikels 51 GG ersichtlich nicht berührt. Aber auch die „Grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“ wäre sowohl bei einer Bindung der Landesregierung an Stellungnahmen des Landesparlaments als auch bei einer bloßen Pflicht zur maßgeblichen Berücksichtigung weiterhin gewährleistet. Das gilt selbst dann, wenn man dem Begriff der „Länder“ in Artikel 79 Abs. 3 GG entnehmen wollte, dass es eine Repräsentation der Länder auf Bundesebene als Gebietskörperschaften in einem entsprechenden Organ mit landesbezogener und landesgebundener Stimmabgabe geben muss. Denn auch im Falle der an Weisungen des Landesparlaments gebundenen Stimmabgabe der Landesregierung im Bundesrat käme es nicht zu einem freien Mandat, sondern lediglich zu einer Modifizierung hinsichtlich des zur Weisungserteilung befugten Organs. Die Beteiligung der Länder selbst wäre somit nicht beeinträchtigt. Schließlich würde die Ergänzung des Artikels 51 Abs. 4 GG auch nicht gegen das durch Artikel 79 Abs. 3 GG über den Verweis auf Artikel 20 GG in Bezug genommene Bundesstaatsprinzip verstoßen – so man denn dem Bundesstaatsprinzip in Artikel 79 Abs. 3 GG neben den explizit aufgeführten bundesstaatlichen Garantien überhaupt eine eigenständige Bedeutung beimessen will. Denn die vorgeschlagene Ergänzung des Artikels 51 GG bewirkt zwar eine Änderung des derzeitigen Bundesratssystems. Diese Änderung überschreitet jedoch nicht die Grenze des Artikels 79 Abs. 3 GG, sondern hält sich im Rahmen einer zulässigen systemimmanenten Modifikation. Insoweit ist zu sehen, dass es, wie bereits erwähnt, lediglich darum geht, die ohnedies weisungsgebundenen Mitglieder des Bundesrates in be-
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stimmten, eng umgrenzten Fällen einer Weisung nicht der Landesregierung, sondern des Landesparlaments zu unterwerfen. Diese partielle Änderung ist aber weit davon entfernt, den sachlichen Zweck oder die Funktionen bundesstaatlicher Ordnung zu gefährden. Die vorgeschlagene Ergänzung des Artikels 51 um einen neuen Absatz 4 ist somit verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie gäbe den Landesparlamenten ein wertvolles rechtliches Instrumentarium in die Hände, um einer weiteren Kompetenzverlagerung auf den Bund und die Europäische Union wirksam entgegentreten zu können. Zu dem rechtlichen Aspekt tritt im Übrigen noch ein verfassungspolitischer hinzu: Mit der Ergänzung des Artikels 51 GG fänden die Landesparlamente – abgesehen von den Erwähnungen in Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2a GG – an prominenter Stelle Eingang in das Grundgesetz. Auf diese Weise würde ein deutliches Signal gegen den Prozess der Entparlamentarisierung gesetzt und die Bedeutung der Landesparlamente im Bewusstsein der Öffentlichkeit gestärkt. Eine Einschränkung will ich noch machen: Mir ist bewusst, dass die Instruktion der Bundesratsmitglieder durch die Landesparlamente einen nicht ganz unerheblichen Eingriff in ein bislang originäres Recht der Exekutive darstellt. Dieser Eingriff sollte daher auf das unbedingt Notwendige beschränkt werden. Ich schlage daher vor, eine Bindung oder auch eine Pflicht zur maßgeblichen Berücksichtigung nur für die Fälle einzuführen, in denen Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder betroffen sind. Lassen Sie mich kurz noch eine in meinen Augen interessante Alternative zu der soeben erörterten Ergänzung des Artikels 51 GG erwähnen. Anstelle der expliziten Regelung der Weisungsbefugnis in einem Absatz 4 könnte dort auch eine Öffnungsklausel aufgenommen werden, dergestalt dass die Frage der Instruktion der Bundesratsmitglieder nach Maßgabe einer landesrechtlichen Regelung auszugestalten ist. Auch eine solche Öffnungsklausel wäre zweifelsohne verfassungsrechtlich unbedenklich und ließe Raum für landeseigene Regelungen. Gerade hierin liegt der Charme der Lösung. Denn natürlich ist die Frage der Instruktion der Bundesratsmitglieder eines Landes dem Grundsatz nach auf der Landesebene zu verorten. Lediglich die erwähnte spezifische Ausgestaltung des Bundesratssystems im Grundgesetz steht der landesverfassungsrechtlichen Verankerung einer Weisungsbefugnis zugunsten der Landesparlamente entgegen und macht eine Regelung auf der Ebene des Grundgesetzes erforderlich. Die Öffnungsklausel ermöglichte es, gleichermaßen diesen grundgesetzlichen Vorgaben wie auch dem Bedürfnis nach größtmöglicher landesrechtlicher Autonomie gerecht zu werden.
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In meinen bisherigen Ausführungen habe ich Ihnen dargelegt, warum meiner Einschätzung nach die Chancen für eine echte Rückübertragung von Kompetenzen auf die Länder derzeit eher zurückhaltend zu beurteilen sind. Die maßgeblichen Gründe dafür, dass es in dieser Situation ein verfassungsrechtliches Gebot ist, wenigstens einen weiteren Kompetenzverlust zu verhindern, und dass der Schlüssel hierfür in die Hände der Landesparlamente zu legen ist, habe ich Ihnen ebenfalls eröffnet. Schließlich habe ich Ihnen – wie ich hoffe – vielversprechende Modelle vorgestellt, die es den Landesparlamenten ermöglichen würden, eine weitere Erosion ihrer Kompetenzen abzuwenden. Den letzten Teil meiner Rede will ich den Perspektiven und Chancen widmen, die sich für die Länder, insbesondere aber für die Landesparlamente aus dem EU-Verfassungsvertrag ergeben. Meine Einschätzung ist, dass der EU-Verfassungsvertrag den Länderforderungen nach größeren autonomen Handlungsspielräumen entgegenkommt. Aus den durchaus zahlreichen Fortschritten will ich nur die beiden – meines Erachtens nach besonders bedeutsamen – Verbesserungen in den Bereichen der Kompetenzabgrenzung sowie der Subsidiarität herausgreifen: Der Verfassungsvertrag schafft eine klarere Kompetenzordnung. So wird künftig ausdrücklich zwischen „ausschließlichen EU-Zuständigkeiten“, „Bereichen geteilter Zuständigkeiten“ und reinen „Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen“ unterschieden werden (Artikel I-12 EU-Verfassung). Der Gedanke der Subsidiarität wird gestärkt und die entsprechende Regelung im EU-Vertrag präzisiert. Künftig darf die Union nur tätig werden, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ Eine im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip aus Sicht der Länder besonders hervorzuhebende Neuerung stellt das sogenannte „Frühwarnsystem“ dar, welches in dem „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ näher geregelt ist. Danach kann jedes nationale Parlament oder jede Kammer eines nationalen Parlaments – im Falle Deutschlands also Bundestag und Bundesrat – innerhalb von sechs Wochen nach der Übermittlung eines Kommissionsvorschlags in einer begründeten Stellungnahme darlegen, weshalb dieser Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (Artikel 6 Subsidiaritätsprotokoll). Äußern sich die nationalen Parlamente bzw. ihre Kammern mit mindestens einem Drittel ihrer Stimmen entsprechend, so muss
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die Kommission ihren Vorschlag überprüfen (Artikel 7 Subsidiaritätsprotokoll). Schließlich ist gemäß Artikel 8 des Subsidiaritätsprotokolls der Europäische Gerichtshof für Klagen wegen Verstoßes eines Europäischen Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig, die von einem Mitgliedstaat erhoben „oder entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden“. Ich will ein wenig näher auf das Frühwarnsystem sowie das Klagerecht im Falle eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip eingehen. Insbesondere stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche innerstaatlichen Rechtsänderungen aus Sicht der Länder, insbesondere aber der Landesparlamente erforderlich sind, um diese neuen Rechte auch tatsächlich ausüben zu können. Zunächst zum Frühwarnsystem. Gestatten Sie mir dazu vorab eine – eher grundsätzliche – Bemerkung. Ich begreife eine umfassende und frühzeitige Subsidiaritätsbeteiligung primär als ein Gestaltungsinstrument zur Mitwirkung an der Europäischen Politik und erst in zweiter Linie als Abwehrmechanismus. Eine stärkere Einbindung der Regionen ist meines Erachtens unerlässlich, um dem viel beschriebenen demokratischen Defizit der Europäischen Union entgegenzuwirken. Die verstärkte Einbeziehung der jeweils kleineren Einheit wird dazu führen, dass auf diese Weise auch ein Beitrag zum Abbau der Entfremdung des Bürgers vom politischen Geschehen im Allgemeinen und von der Europapolitik im Besonderen geleistet werden könnte. Eine umfassende und frühzeitige Subsidiaritätsbeteiligung der Länder und Landesparlamente dient mit anderen Worten auch dazu, die Legitimationsbasis europäischer Politik zu verbreitern und so die Europäische Einigung zu vertiefen. Dies vorausgeschickt will ich kurz skizzieren, welche innerstaatlichen Schritte ich für erforderlich halte, um eine umfassende Einbindung der Landesparlamente in die Subsidiaritätskontrolle zu gewährleisten. Die Landesregierungen haben sich für eine dezentrale Beteiligung der Landtage über die jeweiligen Landesregierungen ausgesprochen. Ich halte dies für den richtigen Ansatz. Allerdings ist das Subsidiaritätsverfahren aus Sicht der Landesparlamente integraler Bestandteil einer umfassenden Politikbegleitung auf europäischer Ebene. Für die Landtage ist es daher sehr wichtig, dass die Landesregierungen ihnen bereits in der Vorfeldphase der europäischen Beratungen bewertete Informationen mit Blick auf die spezifischen Interessen des Landes und die Subsidiaritätsfrage zur Verfügung stellen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Eine Information erst zu Beginn der im Subsidiaritätsprotokoll vorgesehenen Sechswochenfrist dürfte in vielen Fällen zu spät kommen, um innerhalb des parlamentarischen Verfah-
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rens ein politische Willensbildung herbeiführen zu können. Mit anderen Worten: Nur eine frühzeitige Positionierung und permanente Begleitung des Verfahrensstandes ermöglicht es den Landesparlamenten, nach Einbringung der Initiative auf europäischer Ebene kurzfristig eine begründete Subsidiaritätsstellungnahme innerhalb der Sechswochenfrist abzugeben. Lassen Sie mich abschließend auf die Frage des Klagerechts im Falle eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip zu sprechen kommen. Ich habe die entsprechende Vorschrift des Artikels 8 des Subsidiaritätsprotokolls bereits im Wortlaut zitiert. Aus ihr folgt für die Bundesrepublik Deutschland, dass sowohl Bundestag als auch Bundesrat ein Klagerecht im Wege der Übermittlung durch die Bundesrepublik Deutschland zusteht. Aus der offen gehaltenen Formulierung, die ausdrücklich die jeweilige innerstaatliche Rechtsordnung der Mitgliedstaaten erwähnt, ergibt sich jedoch nicht, ob jedes einzelne Bundesland einen Klageantrag erzwingen kann, ohne auf einen Mehrheitsbeschluss im Bundesrat angewiesen zu sein. Diese Frage hat bereits Eingang in die politische und staatsrechtliche Diskussion gefunden. Für die Klagebefugnis eines einzelnen Bundeslandes werden dabei folgende Erwägungen angeführt: Zwar verlange Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 GG zwingend einen Mehrheitsbeschluss des Bundesrats. Jedoch sei ein Handeln des Bundesrats, welches gar keine Beschlussfassung voraussetze, von Artikel 52 GG nicht betroffen. Um einen solchen Fall handele es sich aber, wenn ein Bundesland eine Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip anstrengen wolle. Denn in diesem Fall werde der Bundesrat zum Rechtsschutz des Landes eingesetzt. Eine Beschlussfassung sei dann unnötig und sogar schädlich, weil sie in das Rechtsschutzverfahren politische Zweckmäßigkeitserwägungen einführe. Von daher sei es gerechtfertigt, eine Bindung an den Antrag eines einzelnen Bundeslandes zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips vor dem EuGH im deutschen Binnenrecht einzuführen. In Betracht käme insoweit eine grundgesetzliche Regelung oder eine Regelung durch einfaches Bundesgesetz. Ich halte diese Argumentation prinzipiell für zutreffend. Sie bedarf jedoch noch der Präzisierung. Das entscheidende Argument, welches für das Klagerecht eines einzelnen Bundeslandes ins Feld geführt werden kann, nämlich der Rechtsschutzgedanke, welcher mit dem Erfordernis eines Mehrheitsbeschlusses grundsätzlich unvereinbar ist, trägt nur für die Konstellationen, in denen Länderkompetenzen und damit Rechte der Länder betroffen sind. Erst die Beeinträchtigung eigener Rechte kann den Verzicht auf das Erfordernis eines Mehrheitsbeschlusses rechtfertigen. Geht es dagegen um Bundeskompetenzen, spricht nichts dafür, einem einzelnen Land die Befugnis zu verleihen, das Bundesorgan Bundesrat zur Weiterleitung einer Klage zu zwingen. In diesem Fall bedarf es – analog dem Verfahren
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bei einer Bundesratsinitiative – zwingend eines Mehrheitsbeschlusses des Bundesrats. Um einerseits eine klare Abgrenzung zu ermöglichen und andererseits der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Beschlussfassung in parlamentarischen Angelegenheiten üblich und folglich das Absehen hiervon auf Ausnahmefälle zu beschränken ist, halte ich es daher für angezeigt, eine Bindung an den Antrag eines einzelnen Landes nur dann einzuführen, wenn ausschließliche Länderkompetenzen, noch präziser: Gegenstände der ausschließlichen Ländergesetzgebungskompetenz betroffen sind. Nur in diesen Fällen kann es um einen echten Kompetenzverlust auf Länderseite gehen. Hier schließt sich sodann auch der Kreis zu der von mir bereits erörterten Frage, inwieweit es möglich und geboten wäre, den Landesparlamenten einen stärkeren Einfluss auf das Verhalten der Landesvertreter im Bundesrat zu verleihen. Geht es um ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Länder, halte ich es nicht nur für zulässig, sondern sogar für geboten, den Landesparlamenten auch die Möglichkeit einzuräumen, ihre Landesregierung durch Beschlussfassung zur Erhebung einer Klage zu verpflichten. Die Lage der Landesparlamente innerhalb des Mehrebenensystems ist kritisch. Ich habe Ihnen einige Mittel und Wege zur Befreiung aus dieser Lage in Ansätzen skizziert. Doch der Worte sind inzwischen genug gewechselt. Jetzt muss endlich gehandelt werden! Andernfalls drängt sich für eine der nächsten Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen – überspitzt formuliert – das Thema auf: „Landesparlamente als Volksvertretungen in einer Verwaltungseinheit“.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Christoph Grimm Von Regina Heiny Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten dankte Christoph Grimm für den informativen Überblick über die Situation der Landesparlamente. Er dankte ihm außerdem, dass er auch Vorschläge unterbreitet habe, was de constitutione ferenda zu unternehmen sei. Dadurch sei es nicht bei der Beschreibung eines bedauernswerten Zustandes belassen worden, sondern es seien Therapievorschläge unterbreitet worden, über die nun diskutiert werden könne. Als erster ergriff Dr. Hans-Joachim Bauer das Wort und nahm auf die These Grimms Bezug, die Gesetzgebungskompetenzen der Bundesländer müssten verstärkt werden; dies sei sogar verfassungsrechtlich geboten. Nach seiner Ansicht male diese These den Teufel an die Wand: Immerhin sei den Ländern formal doch noch ein nicht ganz unbeträchtlicher Kompetenzkatalog und auch materiell einiges an Inhalten zugeordnet. Er sehe nicht, dass dies eine quantité négligeable sei. Es sei vielleicht – wenn auch nicht für ihn – eher die Frage, ob die Gesetzgebungsbereitschaft eines Landesparlaments eine Größe für die Bestimmung der Gesetzgebungskompetenz sein könne. Es sei ja schon öfter diskutiert worden, ob die These des full-time jobs für die Landesparlamente so noch zutreffe. Von daher, so denke er, dürfe man zwei Ebenen, wenn man denn von mehreren Ebenen spreche, nicht verwechseln. Grimm entgegnete, er habe versucht, einen Prozess zu schildern, den er für besorgniserregend halte. Seine These sei, dass, wenn dieser Prozess fortschreite, es zu einem verfassungsrechtlichen Problem kommen werde. Im Hinblick auf den aktuellen Zustand könne er zumindest insoweit der Bewertung Bauers zustimmen, als dieser sage, dass es noch nicht so weit sei. Schreite der aufgezeigte Prozess aber weiter fort, so befürchte er, dass sich ein verfassungsrechtliches Problem stellen werde, und zwar im Hinblick auf die Staatsqualität, zu der unverzichtbar auch eine materielle Gesetzgebungskompetenz gehöre. Zu bedenken sei nämlich, dass die europäische Gesetzgebung noch eine andere demokratische Qualität aufweise als die traditionelle innerstaatliche Gesetzgebung und sich ihr Zugriff, der ja jetzt schon bis in viele Kernbereiche der Landespolitik wie zum Beispiel die Kulturoder die Medienpolitik spürbar sei, verstärken werde.
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Dr. Christian Jülich richtete zunächst die Frage an Grimm, ob zu dem Aspekt der Überlagerung der landesgesetzlichen Kompetenzen durch Europa, Bund und sonstige Vorgaben quantitative Auswertungen existierten, die aufzeigen, wie die Entwicklung in diesem Bereich verlaufe. Seine zweite Frage bezog sich auf den Komplex der Einwirkungsmöglichkeiten des Landesparlaments auf das Verhalten der Landesregierung im Bundesrat. In diesem Kontext interessierte ihn, welche Praktiken sich etwa ganz konkret in Rheinland-Pfalz entwickelt hätten, um diese Einwirkungsmöglichkeiten zu realisieren. Auf die erste Frage erwiderte Grimm, dass es – jedenfalls in RheinlandPfalz – natürlich keine ins Einzelne gehende Auflistung darüber gäbe, inwieweit Bundes- und Europarecht sozusagen prägend bzw. vorprägend für den Landtag seien. Anderenorts gäbe es jedoch Untersuchungen darüber, dass etwa im Bereich des Wirtschaftsrechts circa siebzig Prozent des Regelungsgehalts schon durch Europarecht bestimmt würden. Dies betreffe dann also nicht nur die Landtage, sondern auch den deutschen Bundestag. Er vermute, dass sich diese Tendenz fortsetze und sich auch auf andere Politikfelder erstrecken werde. Der zweite Aspekt, den Jülich angesprochen habe, frage nach der, auch von ihm selbst angesprochenen, eigenen Verantwortung der Landesparlamente. Es sei leider so, dass die Landesparlamente sich gegen den aufgezeigten Prozess nicht in der Weise gewehrt hätten, wie es idealtypisch von ihnen gefordert werden müsste. Dies habe natürlich auch mit der Struktur unseres Parlamentarismus oder unseres Regierungssystems zu tun: Die repräsentative Demokratie, die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, das heißt also die Verzahnung von Regierungsmehrheit im Parlament und Regierung führe dazu, dass die spezifischen, die Rolle des Parlamentes ausdrückenden Funktionen jedenfalls im politischen Alltag im Parlament so nicht mehr zum Tragen kämen. Vielmehr sei es zwar die Funktion der Opposition, die Rolle des Parlamentes zu betonen, sie habe nun aber keine Mehrheit. Die politischen Abstimmungsprozesse, die dann auch zu einer politischen Positionierung des Landes und der Landesregierung führen, fänden anders ausgedrückt innerhalb der Regierungsmehrheit statt, und nicht mehr im Parlament als Ganzem. Dies sei aus seiner Sicht eine sehr beklagenswerte Entwicklung, die aber, so glaube er, nicht korrigierbar sei, am allerwenigsten von dem Präsidenten des Landtages. Nur das Parlament als Ganzes könne dies immer wieder für sich reklamieren. Gerade wegen der bestehenden Abstimmungsbedürfnisse und -notwendigkeiten habe der rheinland-pfälzische Landtag beispielsweise in der vorletzten Wahlperiode einen Europaausschuss gebildet und mit der Landesregierung zusammen festgelegt, dass in diesem Ausschuss über alle europäischen
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Initiativen so frühzeitig wie möglich berichtet werde und dass darüber diskutiert werden könne. Einen solchen Ausschuss speziell für Bundesratsfragen habe der rheinland-pfälzische Landtag nicht; dies müsse in den jeweiligen Fachausschüssen und dann in der Kompetenz der Ausschussvorsitzenden und der Abgeordneten, die in diesen Ausschüssen arbeiten, organisiert werden. Der Präsident könne zwar immer auf Entwicklungen oder Probleme hinweisen und den Blick auf das Parlament als Ganzes richten, die Entwicklung des Exekutivparlamentarismus könne aber, jedenfalls was die Mehrheitsfragen und -entscheidungen betreffe, auch durch Präsidentenkonferenzen nicht aufgehalten werden. Dr. Georg Gölter betonte, dass in Bezug auf das gesamte Tagungsthema Resignation um sich greife. Seiner Ansicht nach träten Schwierigkeiten vor allem deshalb auf, weil die Deutschen und vor allem die Politiker entgegen allen Bekundungen innerlich nicht bereit seien, unterschiedliche Regelungen zu akzeptieren. Föderalismus als Wettbewerbsföderalismus sei etwas zutiefst Unpopuläres: Beispielsweise könnten mögliche Rückübertragungen von Kompetenzen auf die Länder in begrenzten steuerrechtlichen Bereichen dazu führen, dass in einem Bundesland mehr Kfz-Steuer bezahlt werden müsste als in einem anderen; und diese Vorstellung werde von den Bürgern nicht hingenommen. Aus diesem Grund sei es sehr schwierig, an den entscheidenden Kernbereich der Reformdiskussion, nämlich die Finanzverpflichtung, heranzugehen. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen nahm Gölter auf die von Grimm dargestellten Abstimmungsprozesse Bezug. Am Beispiel von Rheinland-Pfalz führte er aus, dass die CDU Rheinland-Pfalz als Opposition sich an die CDU in Baden-Württemberg oder Hessen wende, wenn sie etwa bewirken wolle. Es hätten sich also völlig neue Stränge der Abstimmung herauskristallisiert. Die Vorstellung, dass es im rheinland-pfälzischen Landtag eine breite parlamentarische Diskussion mit Blick auf anstehende Bundesratsentscheidungen geben könne, halte er deshalb für illusorisch. Schließlich bemängelte Gölter das fehlende Interesse der Abgeordneten, welches ebenfalls ein Grund für die dramatischen Kompetenzprobleme der Landesparlamente sei. Merten wertete die Ausführungen als interessanten Diskussionsbeitrag und wies darauf hin, dass schon jetzt an einer Stelle, nämlich Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a) des Grundgesetzes die Volksvertretung eines Landes erwähnt sei. Grimm teilte die Ansicht Gölters, dass der Föderalismus eine Kopfgeburt und angesichts vieler Auswüchse schwer zu vermitteln sei; dennoch sei er notwendig. Dr. Sven Hölscheidt brachte zum Ausdruck, dass er einen Widerspruch zwischen Grimms nationalrechtlichem und europäischem Befund sehe: Grimm habe eindrucksvoll dargelegt, dass die Landesparlamente Kompeten-
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zen verlören und man sich nun an einer verfassungsrechtlichen Grenze befände. Dies habe Grimm unter anderem zu Recht darauf gestützt, dass immer mehr Kompetenzen an die europäische Ebene abgegeben würden. Trotz dieses Befundes habe Grimm dann aber dafür plädiert, die Europäische Verfassung zu ratifizieren, obwohl dadurch weitere Kompetenzen auf die europäische Ebene übertragen und der Bereich der Mehrheitsentscheidungen erweitert würde. Dies habe Grimm mit dem Subsidiaritätsprinzip gerechtfertigt, welches sich formal in einem neuen prozeduralen Mechanismus ausdrücke. Nach Hölscheidts Ansicht müsse man bei diesem Mechanismus aber einmal bedenken, dass die Bundesregierung bislang ja auch schon ihre eigenen Subsidiaritätsberichte und Beanstandungen vorgebracht habe, die Neuerung also nicht so bedeutsam sei. Außerdem könnten die Subsidiaritätsbedenken zwar vorgebracht werden, die Kommission habe aber die Möglichkeit, bei ihrem Vorschlag zu bleiben, so dass dieser Mechanismus auch kein sehr starkes Instrument sei. Im Bezug auf den Aspekt der Klagemöglichkeit vor dem EuGH stellte Hölscheidt heraus, dass der EuGH bisher noch in keinem einzigen Fall einen Rechtsakt unter Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip zu Fall gebracht habe. Des Weiteren gebe er zu bedenken, dass es im Europa der Fünfundzwanzig sechsunddreißig gesetzgebende Kammern gebe; vor diesem Hintergrund werde es den EuGH wahrscheinlich nicht sehr beeindrucken, wenn auf Antrag eines einzelnen Bundeslandes der deutsche Bundesrat allein klage. Grimm entgegnete, er sei sich bewusst, dass es auf europäischer Ebene außerordentlich schwierig sei bzw. sein werde, die Fahne des Föderalismus in diesem politisch-rechtlichen Kontext hochzuhalten: Nur drei der fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten seien föderalistisch strukturiert. Außerdem seien innerhalb dieser drei Staaten die Länderkompetenzen auch noch sehr unterschiedlich ausgeformt, so dass die Zahl der Mitstreiter sehr gering sei. Er stimmte außerdem Hölscheidts Einschätzung der Rechtsprechungspraxis des EuGH zu. Gleichzeitig betonte er aber, man müsse optimistisch bleiben, da die Alternative einer Resignation vor politischen historischen Abläufen gleichkäme, welche er für unverantwortlich halte. Der Föderalismus dürfe keine Leerformel, sondern müsse mit Leben erfüllt sein. Jeder Politiker und jeder Staatsbürger solle dafür kämpfen, diese – wie er finde – menschennähere staatsrechtliche Ordnung zu erhalten. Merten ergänzte, es käme in der Tat darauf an, wie sich der EuGH verstehe. Wenn das Gericht sich mehr auf seine rechtsstaatliche Aufgabe besinne und sich stärker wie andere Verfassungsgerichtshöfe geriere, dann könne seiner Meinung nach auch ein Landtag mit seiner Klage gehört werden. Grimm schloss sich diesen Ausführungen an und äußerte die Hoffnung, dass das Verfassungsgericht auf deutscher Seite sei.
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Dr. Heinz Anderwald verglich die Situation der deutschen mit der Lage der österreichischen Landtage und stellte fest, dass Letztere die verfassungsrechtliche Grenze schon vor dreißig Jahren überschritten hätten. Die Situation sei um ein Mehrfaches dramatischer: Im Bereich der Gesetzgebung bliebe den Landtagen zum Beispiel nur das an Kompetenzen, was dem Bund zu „dumm“ sei. Außerdem berichtete er von den österreichischen Reformdebatten, die 1994 anlässlich des Beitritts Österreichs zur Union stattfanden und derzeit in Form eines Österreichkonvents durchgeführt würden. Anschließend nahm er auf das europäische Begutachtungsverfahren Bezug: In Österreich sei darüber beraten worden, dass die Landtage bei entsprechenden Alarmsignalen über den österreichischen Bundesrat eine Stellungnahme abgeben könnten. In diesem Zusammenhang seien aber noch einige Rechtssetzungsmaßnahmen notwendig, so etwa die Änderung der Bundesverfassung, der Parlamentsgeschäftsordnung, der Landesverfassungen und der Landtagsgeschäftsordnungen. Nun stelle sich ihm die Frage, ob es zu dieser Materie in der Bundesrepublik oder etwa in Rheinland-Pfalz bereits konkretere Überlegungen gäbe. Grimm führte hierzu aus, dass solche konkreten Überlegungen im Rahmen der sogenannten Föderalismuskommission ja nun fast ein Jahr lang stattgefunden hätten. Diese organisierte Diskussion sei jetzt, so hoffe er, nur unterbrochen; daneben werde sie aber derzeit auf allen interessierten Ebenen in Politik und Wissenschaft fortgesetzt. Seiner Ansicht nach lägen alle Ideen auf dem Tisch, um der Problemlösung näher zu kommen. Nun bedürfe es politischer Entscheidungen, und es müssten diejenigen handeln, die die verfassungsrechtliche Legitimation hätten, das heißt die Politiker und die Parlamente. Unverzichtbar sei eine Änderung des Grundgesetzes und eventuell – dies sei aber jedenfalls nicht vordringlich – auch Änderungen der Landesverfassungen. Es gebe einige, sehr bedeutende Zeitgenossen, nach deren Ansicht man am Scheitern der Föderalismuskommission festmachen könne, dass die Politik nicht mehr zu großen Würfen in der Lage sei. Dies sei eine bedenkliche Diagnose, die von den Politikern ernst genommen werden müsse. Zwar sei der Föderalismus angesichts vieler Auswüchse nur schwer zu vermitteln; dennoch dürfe man vor diesem Fakt nicht resignieren, sondern müsse für die Werte des Föderalismus kämpfen und diese den Menschen näher bringen. Dr. Frank Hennecke kam auf den von Grimm geschilderten Ausgangsfall zurück, der ein verfassungsrechtlich sehr bedeutsames Licht auf die Gesamtproblematik werfe. Der Fall werfe eine interessantes normentheoretisches Problem auf: Ausgangspunkt sei, dass der Landesgesetzgeber ein Bundesgesetz landesspezifisch umgesetzt habe; der verfassungsrechtliche Prüfmaßstab für das Landesgesetz sei die Landesverfassung, die die Garan-
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tie kommunaler Selbstverwaltung spezifisch auspräge. Bei dieser Prüfung könne sich nun herausstellen, dass das Landesgesetz der Landesverfassung nicht genüge oder ihm widerspreche; dann müsse der Landesgesetzgeber bundesrechtlich etwas tun, was er landesverfassungsrechtlich nicht dürfe. Dieses Problem könne man lösen, wenn man sage, der Bundesgesetzgeber habe insoweit die Landesverfassung eingeschränkt. Der Bundesgesetzgeber stehe nun aber selbst in verfassungsrechtlicher Bindung und müsse die in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Garantie der kommunalen Selbstverwaltung achten; dies sei der Prüfmaßstab des hier in Rede stehenden Bundesgesetzes. Bei einer solchen Prüfung könne sich wiederum herausstellen, dass der Bundesgesetzgeber der Selbstverwaltungsgarantie widersprochen habe, und damit würde sich die Frage, die sich bereits auf Landesebene gestellt habe, wiederholen. Der Bundesgesetzgeber müsse in Umsetzung einer EU-Richtlinie etwas tun, was er bundesverfassungsrechtlich nicht dürfe. Dieses Problem könne man lösen, wenn man die EU-Richtlinie im Lichte des deutschen Verfassungsrechtes interpretiere und sage, die Richtlinie müsse so verstanden werden, dass in ihr gar keine Kompetenzübertragung zu Lasten der kommunalen Selbstverwaltung liegen könne. Genau dies werde aber nicht die Sichtweise des Europäischen Gerichtshofes sein, da dieser nach anderen Kriterien judiziere. Dies könne dann zu dem Ergebnis führen, dass die EU-Richtlinie deutsches Verfassungsrecht durchbrochen habe. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise und Verfahrensform sei er sehr skeptisch, inwieweit innerstaatliche Verfassungsstrukturen europarechtlich Bestand haben würden. Grimm hob hervor, dass das Urteil des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofes in diesem Fall mit großer Spannung erwartet werde. Dies sei ein juristisches Feld, welches stark im Fluss sei. Im Übrigen teile er die Einschätzung Henneckes, dass hier eine Richtlinie Landesverfassungsrecht überlagere und dies den Kern des Problems darstelle. Er habe zwar Verständnis für die Rechtsprechungstradition des Europäischen Gerichtshofes, der sich als Motor des Einigungsprozesses verstanden und im Zweifel für die Einigung entschieden habe; dies müsse aber nicht für die Ewigkeit sein. Dr. Joachim Lohmann bezog sich auf den von Grimm geforderten verstärkten Einfluss des Landtags auf die Position der Landesregierung im Bundesrat. Er habe den Eindruck, dass jedenfalls in der letzten Zeit zu fast jedem auf Bundesebene diskutierten, öffentlich kontroversen Thema immer auch Landtagsdebatten stattfänden; und dies fast immer mit dem Ziel, die Landesregierung festzulegen. Er habe bei diesen Debatten jedoch das Problem, dass diese sehr häufig nur ein Abklatsch der Debatten auf Bundesebene gewesen seien. Das Ansehen des Landtags hätten diese Debatten
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nicht gestärkt, weshalb sie in der Regionalpresse auch fast immer untergegangen bzw. zum Teil hämisch debattiert worden seien. Er verstehe nicht, wieso sich die Landesregierung und vor allem der Landtag nicht darauf konzentrierten, dem unitarischen Druck dort zu widerstehen, wo ihre originären Zuständigkeiten lägen. Schlimmer sei noch, dass auch die Regierungsfraktionen im Allgemeinen nicht wagten, sich gegenüber den Landesregierungen in solchen originären Punkten durchzusetzen. Grimm teilte die Einschätzung Lohmanns, was die Rollenverteilung im Parlament und im Verhältnis vom Parlament zur Regierung betraf. Er sehe aber nicht, wie man dies ändern könne. Deutlich widersprach er Lohmanns Kritik im Bezug auf die Parlamentsdebatten und deren Inhalt. Angesicht des Umstandes, dass sich der Bundestag aus wichtigen Debatten völlig ausblende bzw. angesichts der Abläufe in der Bundespolitik ausblenden müsse, sei es um so wichtiger, dass eine breite politische Diskussion ermöglicht werde. Zwar liege die unmittelbare Entscheidungskompetenz in diesen Angelegenheiten nicht bei den Landtagen; nur sie könnten aber erreichen, dass Bürgerwille und -meinung in der politischen Diskussion organisiert gehört werde. Für Fragen, die in unserer Gesellschaft diskutiert würden und verfassungspolitische und -rechtliche Dimensionen hätten, stelle der Landtag das richtige Diskussionsforum dar, auch ohne unmittelbare Gesetzgebungszuständigkeit. Es habe insoweit eine Verlagerung der Rolle der Parlamente hin zu einem Forum der öffentlichen Meinungsbildung und Diskussion stattgefunden. Merten dankte Grimm und beendete die Diskussion.
Die Europatauglichkeit des Art. 23 GG Von Peter M. Huber Lieber Herr Merten, vielen Dank für die freundliche Vorstellung und die Vorschußlorbeeren. Auch ich bin über das Lob ganz gerührt gewesen und rot geworden. Die Schuhe von Herrn Papier sind mir natürlich zu groß. Aber da er in München im Zimmer neben mir sitzt, wenn er denn einmal da ist, gibt es vielleicht etwas, was durch die Wände hindurch ausstrahlt und die Brücke zu Ihrer ursprünglichen Planung der Veranstaltung schlagen läßt. Ob mir zu den Kommunen etwas einfällt, muß ich mal sehen. Eigentlich habe ich es nicht vorgesehen auf meiner Agenda, aber zur Not können wir in der Diskussion darauf eingehen. Ich habe als Themenvorschlag oder -vorgabe, da hatten wir drüber gesprochen, über die Europatauglichkeit des Art. 23 GG sprechen wollen oder sollen. Ich möchte in der Sache aber eher über die nationale Rechtsetzung unter den Bedingungen des Mehrebenensystems sprechen, und zwar zum Funktionswandel, den Bundestag und Bundesrat in diesem Mehrebenensystem erfahren haben und weiter erfahren werden. Weder das an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stoßende – davon war heute morgen schon die Rede – nationale Verfassungsrecht noch das europäische bestimmen heute noch allein Ziele und Funktionen des Gemeinwesens. Nur aus ihrer Zusammenschau erschließt sich die Grundordnung unseres politischen und sozialen Lebens. Das gilt de constitutione lata, und erst recht, wenn die europäische Verfassung 2006 oder später in Kraft treten wird. Insoweit sind Grundgesetz und europäische Verfassung auch das heutige Primärrecht, Komplementärverfassungen, auf gegenseitige Ergänzung angelegte Teile eines Mehrebenenverfassungsverbundes, und jede auf die Rolle einer Teilverfassung beschränkt. An der Schnittstelle zwischen dem nationalen Recht und dem eigentlichen sekundären Europarecht gelegen, erweist sich das Primärrecht, das europäische Verfassungsrecht, als ein Instrument struktureller Kopplung, mit dem die 25 Teilrechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf das „Integrationsprogramm“, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, ausgerichtet werden. In diesem Integrationsprogramm besitzen alle Mitgliedstaaten eine identische und grundsätzlich vorrangige Teilverfassung, die europarechtlich garantiert ist, und auch vor der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie – jetzt habe ich schon einen Anknüpfungspunkt gefunden – weder auf Bun-
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des- noch auf Landesebene haltmacht. Ich bin gespannt, was der rheinlandpfälzische Verfassungsgerichtshof entscheiden wird, aber ich wäre skeptisch, ob sich Art. 28 Abs. 2 GG oder die entsprechende Garantie auf rheinland-pfälzischer Ebene gegenüber der Richtlinie, soweit sie nicht Gestaltungsspielräume läßt, durchsetzen kann. Diesem Befund, daß es sich um Komplementärverfassungen handelt, muß die demokratische Legitimation der in der Europäischen Union ausgeübten öffentlichen Gewalt ebenso entsprechen wie ihre Entscheidungsverfahren. Und das gilt auch für die Rechtssetzung auf europäischer wie auf nationaler Ebene. Für das Europarecht läßt sich, um die eine Seite zu beleuchten, der Rückgriff auf das nationale Recht schon im Wortlaut des heutigen Art. 6 Abs. 1 EUV entnehmen, der auf allgemeine Grundsätze, wie sie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten geregelt sind, Bezug nimmt. Dies zeigt, daß es hier nicht nur darum geht, das Demokratieprinzip z. B. als allgemeinen Rechtsgrundsatz aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu destillieren, sondern daß sich die EU auch auf diese nationalen Wurzeln, Strukturen und Legitimationsgrundlagen stützt. Die Erwähnung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, heute im Art. 6 Abs. 3 EUV, demnächst im Verfassungsentwurf, unterstreicht diese Rückkoppelung der Europäischen Union an die Mitgliedstaaten. Praktisch wird die Interdependenz der europäischen Rechtssetzung beim Erlaß des Sekundärrechts und des Tertiärrechts. Hier werden Legitimationsstränge über das europäische Parlament auf der einen und die nationalen Parlamente auf der anderen Seite in den europarechtlich geregelten Verfahren bei der Vertragsänderung, der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, der Mitentscheidung, der Zusammenarbeit im Agrarsektor u. ä. zusammengeführt, so daß es auch typischerweise nicht zu einem Widerspruch zwischen den beiden Strukturen, den nationalen und europarechtlichen Legitimationsgrundlagen kommen kann. Vollkommen ausgeschlossen ist dieser Widerspruch nicht, wie das vertraglich nicht fixierte Veto bei Mehrheitsentscheidungen im Luxemburger Kompromiß, über dessen europarechtliche Zulässigkeit ja Doktorarbeiten und viele schlaue Abhandlungen geschrieben wurden, aber auch andere Kompromisse, wie der von Ioannina zeigen. Hier mag möglicherweise, wenn es um die Identität der Verfassung geht, auch noch ein Restposten an kommunaler Selbstverwaltung mit umfaßt sein. Allerdings würde ich auf den ersten Blick sagen, daß bei Art. 79 Abs. 3 GG, wenn man dort die Identität des Grundgesetzes verankert sieht, Art. 28 GG jedenfalls nicht auftaucht; und ob man ihn aus dem Rechtsstaatsprinzip oder aus einem allgemeinen Grundsatz der Freiheit destillieren kann, würde ich skeptisch beurteilen. Auch unter der formellen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips führt man die kommunale Selbstverwaltung im allgemeinen nicht auf.
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Aber nicht nur die unionsrechtlichen Legitimationsstränge bedürfen der Ergänzung, auch die demokratische Legitimationsvermittlung und Kontrolle in den Mitgliedstaaten – das soll mein eigentliches Thema sein – ist zunehmend auf eine Abstützung durch europarechtlich geregelte Legitimationsverfahren angewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat, wie Sie wissen, in dem Maastricht-Urteil von der Legitimationsabstützung der europäischen Rechtssetzung durch das Europäische Parlament gesprochen, die vor allem dort notwendig ist, wo es zu Mehrheitsentscheidungen kommt, und diese Mehrheitsentscheidungen, die heute schon als Regelfall angesehen werden können, werden es jedenfalls dann sein, wenn die Verfassung in Kraft getreten sein wird. Aus der Sicht des Grundgesetzes, und die ist jedenfalls für das Vertragsänderungsverfahren und die Ratifizierung der europäischen Verfassung maßgeblich, auch wenn mein Eindruck bei der Anhörung im Bundestag war, daß den Abgeordneten dies nicht so ganz klar gewesen ist, folgt daraus, daß Anforderungen an die Einflußwirksamkeit der europarechtlich geregelten Verfahren in dem Maße steigen müssen, in dem die nationalen Parlamente an Einfluß auf die europäische Politik und Rechtssetzung einbüßen oder, umgekehrt, daß soweit eine demokratische Legitimationsvermittlung über die europäische Ebene nicht ausreicht, die nationalen Parlamente eine besondere Aufgabe zu erfüllen haben, daß sie das Schwergewicht der demokratischen Legitimationsvermittlung bilden und insoweit die Kärnerarbeit leisten müssen. Die europäische Verfassung bringt mit einer Reihe von Instrumenten, auch mit der stärkeren Berücksichtigung der Wahlrechtsgleichheit im Parlament wie auch im Rat, durchaus einen erheblichen Fortschritt. Auch die Einführung der Bürgerinitiative fördert die europarechtlich vermittelte Legitimation; aber ganz zu befriedigen vermag auch dieser Zustand noch nicht, jedenfalls nicht so, daß das nationale Parlament aus seiner Verantwortung entlassen werden könnte. Die europäische Rechtssetzung spiegelt vielmehr die Komplementarität von unionaler und nationaler Teilverfassung durch die Institutionalisierung einer ebenenübergreifenden Kooperation wider. Im Grunde gibt es vier Hauptakteure: die Kommission, das Europäische Parlament, den Rat und die nationalen Parlamente. Sie alle müssen zusammenwirken, um europäische Rechtsakte zu erlassen, vollzugsfähig zu machen und demokratisch zu legitimieren. Dabei kommt dem Europäischen wie auch den nationalen Parlamenten aus Gründen des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips die zentrale Rolle zu. Ich will nicht im einzelnen schildern, wie das beim Erlaß des Primärrechts, also des europäischen Verfassungsrechts, und beim Erlaß des Sekundärrechts, der Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen aussieht; ich will nur kurz erwähnen, daß auch beim Tertiärrecht, also dem sogenannten Kommitologiebereich, die Verwaltungen der Mitgliedstaaten mitwirken, und daß ohne die Umsetzung der
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Richtlinien, die ja durch nationales Recht erfolgen muß und ohne Operationalisierung der europäischen Verordnungen, die typischerweise auch durch nationales Recht erfolgen muß, eine effektive, die Wirklichkeit steuernde Rechtssetzung auf europäischer Ebene gar nicht möglich wäre. Weil vorhin mal die Zahl durch den Raum gegeistert ist, wie groß denn der europarechtlich veranlaßte Anteil an Rechtssetzung in den nationalen Parlamenten ist: Herr Landratspräsident Grimm hat von 70% im Wirtschaftsrecht gesprochen, Sie kennen alle die Prognose von Delors, der Ende 1989 prognostiziert hat, es werden 50% der gesamten Gesetzgebung sein, nach der Realisierung des Binnenmarktes 80% im Wirtschaftsrecht. Es gibt zwei empirische Studien, soweit ich das überblicke. Die eine stammt vom Conseil d’État für Frankreich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Damals wurde festgestellt, daß 53% – also kurz nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages – 53% der französischen Gesetze nur noch der Umsetzung europäischer Vorgaben dienen. Die Generalstaaten der Niederlande haben es in derselben Zeit zu erheben versucht und sind auf 46% gekommen. Seitdem haben wir Amsterdam und Nizza erlebt und demnächst vielleicht das Inkrafttreten der europäischen Verfassung. Vor diesem Hintergrund können Sie davon ausgehen, daß der Anteil heute weit über 50% liegt. Angesichts seiner im Staatenverbund notwendigen Schlüsselstellung bilden Legitimation und Kontrolle des Rates und der in ihm vertretenen Regierungen den Schwerpunkt der Kooperationsaufgabe der nationalen Parlamente und nach meiner Einschätzung auch das eigentliche Problem bei der Demokratie auf der Ebene der Europäischen Union. Da sich angesichts des mittlerweile vorherrschenden Mehrheitsprinzips parlamentarische Verantwortung für Verhandlungsführung und Abstimmung im Rat nur mehr bedingt einfordern läßt, weil jede Regierung ihrem Parlament vortragen kann, daß sie ein anderes Ergebnis nicht habe erreichen können, drängen sowohl die nationale Gewährleistung des Demokratieprinzips als auch seine europarechtliche Verbürgung im Art. 6 Abs. 1 EUV auf eine Intensivierung der parlamentarischen Kontrolle der Ratsarbeit. In Deutschland hat der verfassungsändernde Gesetzgeber den mit der europäischen Entwicklung verbundenen Einbruch in die Zuständigkeiten von Bundestag, und Vergleichbares gilt für den Bundesrat, wie Sie wissen vor zehn Jahren durch die Einführung des Art. 23 zu mildern versucht. Dieser regelt die Beteiligungsrechte beider Kammern beim Erlaß des Primärrechts und bei der Mitwirkung der deutschen Vertreter im Rat, und er wird durch zwei Gesetze konkretisiert. Ich will es nur ganz kurz in Erinnerung rufen, um Ihre Aufmerksamkeit nicht allzu lang zu strapazieren. Wir haben auf der Ebene der Verfassungsgebung, der Vertragsänderung nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit, die jetzt natürlich auch bei der europäischen Verfassung eine Rolle spielt. Darüber hinaus haben wir bei allen anderen Gesetzen, die
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das Integrationsprogramm betreffen, das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrats, soweit er nicht über Art. 79 Abs. 2 GG schon mit Zweidrittelmehrheit einer Vertragsänderung zustimmen muß. Auf der sekundärrechtlichen Ebene, bei der eigentlichen europäischen Rechtssetzung, ist es dagegen so, daß der Bundestag das Problem lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen hat. Insofern unterscheidet er sich auch gar nicht so sehr von den Landtagen, die vorhin behandelt wurden. Und er ist erst anläßlich des Maastrichter Vertrages aus seinem Dornröschenschlaf ein bißchen erwacht und hat eben durch die Einführung der Art. 23 Abs. 2 und 3 GG sowie durch die Etablierung des Europaausschusses und den Erlaß des Zusammenarbeitsgesetzes den Versuch unternommen, die Erosion seiner Zuständigkeiten ein bißchen zu bremsen oder zu kompensieren. Wahrscheinlich war er, wenn ich es richtig einschätze, dabei eher Getriebener als treibende Kraft und konnte hinter dem Bundesrat, für den natürlich die Länder, um ihren Einfluß und ihre Staatsqualität fürchtend, einen ganz anderen Impact, wie man neudeutsch sagen würde, entfaltet haben, nicht völlig abfallen. Angesichts von 130.000 Rechtsakten – so die Zählung von Günter Hirsch –, die die Europäische Union inzwischen erlassen hat, ist dieses Mitwirkungsrecht auch mehr als überfällig gewesen. Wenn wir uns im einzelnen anschauen, worin es besteht, stellen wir fest, daß es Informationsrechte und entsprechende Verpflichtungen der Bundesregierung über Inhalte, Zielsetzungen, Verfahren, Zeitpunkte von Vorhaben auf europäischer Ebene, über den Stand der Verhandlungen und die Willensbildung der Bundesregierung sind, die im Zusammenarbeitsgesetz näher geregelt werden. Die Praxis, Herr Hölscher kann mich ja später korrigieren, aber das höre und erlebe ich immer wieder, sieht freilich so aus, daß diese Instrumente sehr großzügig bzw. lax gehandhabt werden. Viele europäischen Vorlagen kommen erst dann in die zuständigen Ausschüsse, wenn die Richtlinie oder die Verordnung bereits in Kraft getreten ist, so daß das Informationsrecht leerläuft und die Vorlage entsprechend nachlässig von den Abgeordneten behandelt wird. So ähnlich, nicht viel besser ist es bei den Mitwirkungsmöglichkeiten nach Art. 23 Abs. 3 GG. Die Bundesregierung hat die Stellungnahme des Bundestages zu berücksichtigen. Sie muß sie ihrer Entscheidungsfindung zugrunde legen, kann aber später davon abweichen. Praktisch bedeutet auch das, daß es so gut wie keine inhaltliche Einflußnahme des Bundestags im Vorfeld europäischer Rechtssetzungen gibt. Es gibt natürlich, wenn es um die Umsetzung geht, etwa bei der Antidiskriminierungsrichtlinie, auch große Aufregungen o. ä. Aber die kommen meistens zu spät. Das liegt vermutlich auch daran, daß das parteipolitische System, der Parteienstaat, angesichts der Spiegelbildlichkeit der Ausschüsse, des Europaausschusses wie der Fachausschüsse, dazu führt, daß die Parlamentsmehrheit kein gesteigertes Interesse daran besitzt, der eigenen Regierung in die Suppe
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zu spucken oder die Kontrolle allzu intensiv ausfallen zu lassen. Für die jetzige Regierung kann ich das nur vermuten. Für die Vorgängerregierung habe ich mal mit eigenen Ohren angehört, daß Herr Pfennig, erster Vorsitzender dieses Europaausschusses, dafür sorgen sollte, daß die Wogen im Europaausschuß nicht zu hoch schlugen. So ist es auch gelaufen. Dieser Europaausschuß ist von seiner Anlage her eine ganz tolle Sache. Er soll aus Effektivitätsgründen dafür Sorgen, daß das Parlament rasch reagieren kann. Es gibt in der Verfassung die Vorgabe, daß er an die Stelle des Plenums treten kann, was bisher meines Wissens erst einmal geschehen ist – bei irgendeiner symbolischen Frage über „Krieg und Frieden“, aber nicht bei Detailfragen der europäischen Rechtssetzung. Er leidet natürlich auch ein bißchen daran, dieser Europaausschuß, daß dort die Generalisten vertreten sind, und die Absprache und die Koordination mit den Fachausschüssen nicht allzu intensiv ist. Ich war am Mittwoch bei der Anhörung, wo es darum ging, ob und inwieweit man die Mitwirkungsrechte des Bundestags anläßlich der Ratifizierung der europäischen Verfassung ausweiten oder konkretisieren muß. Meine Beobachtung war, daß nicht nur der Ausschußvorsitzende, der eigentlich während der gesamten Anhörung seinen Pressespiegel durchgearbeitet hat, sondern auch die anderen Abgeordneten nur begrenzt ein Interesse daran hatten, diese Fragen zu Ende zu diskutieren. Die Mitwirkungsrechte des Bundesrates sind, verglichen mit denen des Bundestages, weitergehend. Es gibt eine Berücksichtigungspflicht bei allen Angelegenheiten, die irgendein Interesse der Länder berühren, aber es gibt auch das Recht zur maßgeblichen Berücksichtigung, wenn im Schwerpunkt entweder die Einrichtung der Behörden, das Verwaltungsverfahren oder ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder betroffen sind bzw. der Bund von seinen Kompetenzen noch keinen Gebrauch gemacht hat. Maßgebliche Berücksichtigung bedeutet, daß die Bundesregierung an die Stellungnahme des Bundesrates gebunden wäre, und hiervon nur, wie es das Grundgesetz sagt, aus zwingenden außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichen könnte. Dies setzt aber voraus, daß der Bundesrat mit einer Zweidrittelmehrheit beschließt und dazu ist es bislang nicht gekommen. Die Verwaltung des Bundesrates teilt dazu mit, daß dies nicht erforderlich gewesen sei, weil die Bundesregierung immer rechtzeitig eingeschwenkt sei. Der einzige Fall, der wohl in die Nähe eines solchen Beharrungsbeschlusses gekommen ist, war die IVU-Richtlinie. Aber auch dort haben sich Bundesregierung und Bundesrat rechtzeitig verständigt. Es gibt darüber hinaus die Institution des sogenannten Ländervertreters. Da wird Deutschland nicht durch den zuständigen Bundesminister im Rat vertreten, sondern durch einen vom Bundesrat zu benennenden Minister der Länder. Und auch der Bundesrat hat, wie Sie sicher wissen, parallel zum Bundestag eine Europakammer. Das war die Bestandsaufnahme.
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Ich komme jetzt zur Kritik dieser Bestandsaufnahme oder zum Versuch einer Würdigung. Die Europäisierung bereitet dem deutschen Regierungssystem angesichts seiner von Ihnen sicher in den letzten Tagen schon diskutierten und vermutlich auch allgemein anerkannten Schwerfälligkeit besondere Probleme. Die Wahrnehmung deutscher Interessen im Rat ist ebenso notleidend wie die Implementation des Europarechts in unsere Rechtsordnung. Es ist kein Geheimnis, daß der Mitgliedsstaat, der in Brüssel am häufigsten überstimmt wird, die Bundesrepublik Deutschland ist. Dazu gibt es keine offizielle Statistik; aber inoffiziell ist es, wie gesagt, ein offenes Geheimnis, was mich immer zu der Frage veranlaßt, warum eigentlich unsere Regierungen, egal welcher Couleur, so heiß darauf sind, die Mehrheitsentscheidungen auszudehnen. Denn erstes Opfer dieser Mehrheitsentscheidungen sind wir. Zu einer strategischen, prospektiven Beteiligung an der europäischen Rechtssetzung sind wir, anders als die Briten, die das wirklich gut im Griff haben, auch kaum in der Lage. Das läßt sich, um zwei Beispiele herauszugreifen, an dem grundlegenden Paradigmenwechsel, den das Umweltrecht seit Ende der achtziger Jahre erfährt, wo die traditionell an materiellen Qualitätsstandards orientierte deutsche Herangehensweise durch einen flexibleren Kosten- und Nutzen in Verhältnis setzenden und prozeduralen Ansatz der vor allem von den Briten durchgesetzt worden ist, ebenso festmachen, wie an der Hilflosigkeit, mit der man sich im Bereich des öffentlichen Bankensystems den rechtlich durchaus zweifelhaften Vorgaben der EU-Kommission untergeordnet hat. Es zeigt sich, wie gesagt, an der häufigen Überstimmung, und es zeigt sich auch daran, daß wir über viele Jahre hinweg der letzte oder vorletzte Mitgliedstaat bei der Umsetzung des Europarechts in der Europäischen Union gewesen sind. Diese Defizite haben ihre erste Ursache meines Erachtens schon auf der Ebene der Bundesregierung, wo die Koordinationsprobleme nicht gelöst werden. Es gibt zwar einen Staatssekretärsausschuß und eine Europaabteilung im Bundesfinanzministerium. Aber das reicht nicht, um eine konsistente Europapolitik in Berlin zu entwerfen. Das liegt vermutlich vor allem daran, daß die Ressorts nicht sehr willig sind, ihre jeweiligen Zuständigkeiten einer Koordinierung zu unterwerfen, und auch daran, daß sich die Bundeskanzler bisher eher gescheut haben, in Fragen, die nicht Krieg und Frieden betrafen, sondern die 130.000 Rechtsakte, die unser Recht überlagern, von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. Mit Blick auf die Dienstleistungsrichtlinie könnte sich jetzt erstmals eine Änderung anbahnen. Es liegt auch daran, daß die Bundesressorts mit der zügigen Bündelung der Interessen von parteipolitisch unterschiedlich geprägten Landesregierungen sowie von Bund und Ländern nicht selten überfordert sind und daß ihnen angesichts des exekutiv föderalistischen Systems, in dem wir leben, häufig auch die Vollzugserfahrung fehlt, und damit auch die Neigung, die Auswirkungen, die
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eine bestimmte Rechtssetzung auf europäischer Ebene hat, in allen Einzelheiten zu durchdenken und abzuschätzen. Insgesamt – und das ist nicht nur meine Meinung – besteht ein strukturelles Defizit, was die institutionellen Voraussetzungen für eine konsistente Europapolitik angeht, jedenfalls auf der Fachebene und jedenfalls auch, was die effektive Durchsetzung deutscher Interessen angeht, was immer diese auch sein mögen. Auch der Ländervertreter hat sich nach allgemeiner Auffassung, jedenfalls aller Sachverständigen in der gescheiterten oder vorläufig zum Stillstand gekommenen Bundesstaats-Kommission, nicht bewährt. Schon im Hinblick auf die Paketlösungen, etwa Brenner-Basistunnel gegen Olivenanbauprämien, ist es problematisch, wenn die Bundesregierung nicht über alle Gegenstände verfügen kann, die andere Mitgliedsstaaten und ihre Vertreter gerne in den „Sack“ hineingeben möchten. Denn es kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, daß alle anderen vierundzwanzig Mitgliedsstaaten ihr Bargaining gerade an unserer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung ausrichten werden. Die Konsequenz ist, daß Deutschland eben kein Verhandlungspartner ist und sich insofern entweder enthalten muß – nicht von ungefähr heißt „Enthaltung“ übrigens im Brüsseler Jargon German Vote, was Bände spricht – oder eben überstimmt wird. Die Beteiligungs- und Abstimmungsrechte des Bundesrates mögen dieses Defizit mildern, beseitigen können sie es nicht. Hinzu kommen Schwierigkeiten mit dem Wechsel des jeweiligen Ministers und das Zeitproblem, wenn es schnell zu Entscheidungen im Ministerrat kommt. Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Herr Diepgen, hat einmal berichtet, dass es allein in dem Jahr fünfmal nicht zu Entscheidungen zwischen den sechzehn Ländern gekommen sei, so daß sich der Ländervertreter dann enthalten habe – wie gesagt German Vote! Aber das liegt nicht nur an den Ländern, das liegt schon auch am Bund. Auch die Implementation des Europarechts ist in Deutschland besonders schwierig. Da die Rechtssetzung auf europäischer Ebene Sache des Bundes ist, aber vor allem die Länder das Recht vollziehen, gibt es hier zwangsläufig Brüche und Diskrepanzen. Die Ebene des Bundes hat einerseits – das habe ich schon gesagt – nicht die Vollzugserfahrung, sie trägt auch nicht die Kosten (Art. 104a Abs. 1 GG) und ist deshalb geneigt, Rechtssetzungsvorhaben erst mal zuzustimmen, ohne die Konsequenzen ausreichend zu bedenken. Beispiele habe ich genannt, im Umweltrecht, aber auch in vielen anderen Bereichen, auch bei der Diskriminierungsrichtlinie, finden sie sich zuhauf. Daneben hat Deutschland, was die Flanke Europa angeht, auch Schwierigkeiten, die effektive, vollständige und gleichmäßige Geltung des Europarechts sicherzustellen. Fehlt dem Bund etwa im Rundfunkrecht die Gesetz-
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gebungskompetenz oder hat er wie im Naturschutzrecht nur eine Rahmenkompetenz, so bereitet die Erfüllung gegenüber der Europäischen Union bestehender Verpflichtungen häufig Probleme. Und das ist nicht nur ein theoretisches Problem, wie zahllose Vertragsverletzungsverfahren, z. B. der 1996 gestellte Antrag der Kommission auf Verhängung eines Zwangsgeldes gegen Deutschland wegen Nichtbefolgung von EuGH-Urteilen im Bereich der Vogelschutzrichtlinie, der Gewässerschutzrichtlinie und der Grundwasserrichtlinie zeigen. Es ist dann nicht dazu gekommen; vielmehr waren die Griechen die ersten, die ein Zwangsgeld aufgebrummt bekommen haben, aber immerhin, der Antrag war von der Kommission vorbereitet. Zwar sind die Länder auch binnenstaatlich durch das Bundesstaatsprinzip und die Bundestreue verpflichtet, dem Bund die Erfüllung seiner europarechtlichen Verpflichtungen zu ermöglichen. Auch wäre hier der Einsatz der Bundesaufsicht, vielleicht sogar des Bundeszwangs denkbar. Aber all diese Instrumente leiden daran, daß sie zunächst eine Klärung in Karlsruhe, wenn nicht erforderlich machen, so doch nahelegen, daß sie deshalb schwerfällig und langwierig sind und innerhalb der kurzen Zeiträume, die Europarecht setzt, in der Regel nicht ausreichen, um die europarechtlichen Verpflichtungen etwa aus einer Richtlinie zu erfüllen. Nicht einmal Haftungsansprüche gibt es, nachdem das Bundesverwaltungsgericht, meines Erachtens zu Unrecht, den Art. 104a Abs. 5 a, wonach Bund und Länder einander für eine ordnungsgemäße Verwaltung haften, auf europarechtliche Defizite für nicht anwendbar erklärt hat. Als grundlegendes Strukturproblem unseres Rechtssetzungssystems läßt sich unter den Bedingungen der weit fortgeschrittenen Integration also ausmachen, daß das Grundgesetz ungeachtet aller Bekenntnisse zu Europa, nach wie vor ein Rechtssetzungssystem etabliert, das für einen in sich ruhenden und sich selbst genügenden Nationalstaat konzipiert ist, in dem es vor allem darum geht, die Macht auf möglichst viele Akteure zu verteilen. Dieser introvertierte Föderalismus, wie ich es nennen möchte, trägt der europäischen Einbindung Deutschlands, nicht mehr ausreichend Rechnung, zumal sich der Gedanke der vertikalen Gewaltenteilung, der im Föderalismus steckt, mit der Etablierung der Europäischen Union, d. h. einer neueren Ebene, auf die auch Staatsgewalt verlagert werden kann, bis zu einem gewissen Grade überholt hat. Vor diesem Hintergrund zwingen die Rationalitäten europäischer Rechtssetzung, erst recht wenn die Verfassung in Kraft sein wird dazu, auch in unserem Rechtssetzungssystem den Bedingungen und Strukturen europäischer Entscheidungsfindung durch die Organisation der innerstaatlichen Willensbildung und des nationalen Rechtssetzungsprozesses Rechnung zu tragen. Insoweit bedeutet die Mitgliedschaft in der Europäischen Union heute in der Tat faktisch das Ende nationaler Verfassungsautonomie, und dies zwingt dazu, das Europa-Verfassungsrecht, den Art. 23 GG, neu zu
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ordnen. Seine Defizite beruhen zwar in erster Linie auf der mangelnden Strategiefähigkeit und -willigkeit und einem fehlenden Problembewußtsein auf Bundesebene sowie auf den Reibungsverlusten des Ressortprinzips, denen mit der Errichtung eines Bundeseuropaministeriums, das Bundeskanzler Schröder eigentlich nach der letzten Bundestagswahl angekündigt hatte, aber dann gegenüber dem Außenminister nicht durchsetzen konnte, abgeholfen werden könnte. Die Briten, um nur das zu sagen, haben beim Premierminister einen Europaminister angesiedelt, der mit einer Perspektive von zehn Jahren plant, was sie im Umweltrecht, im Kapitalmarktrecht, im Verbraucherschutzrecht etc. erreichen möchten. Das verfolgen sie mit langem Atem, und indem sie junge Kommissionsbeamte auch mal zum Essen einladen und ihnen das eine oder andere Dossier unterjubeln, letzten Endes erfolgreich. Wir sind zu tölpelhaft, um Vergleichbares zu erreichen. Daneben trägt aber auch die Mitwirkung der Länder, an der Außenvertretung Deutschlands zu dem insgesamt desolaten Befund bei. Zwar wachen die Länder eifersüchtig über ihre in Art. 23 einschließlich Abs. 6 GG für die Ländervertreter 1992 verbrieften Mitwirkungsrechte. Zehn Jahre Staatspraxis belegen allerdings eine erhebliche Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in diesem Bereich. Es ist auch im übrigen nicht erkennbar, daß die Länder mit diesen Mitwirkungsrechten allzu viel erreicht hätten, so daß viele sagen, weil eben wenig erreicht worden ist, seien sie im Grunde doch unschädlich. Ob das wirklich stimmt, möchte ich bezweifeln. Denn man muß sehen, daß allein die Existenz dieser Mitwirkungsrechte eine Art erzieherische Wirkung besitzt und daß natürlich die Bundesregierung tunlichst darauf achtet, keinen, in eine harte Beharrungsentscheidung mündenden Konflikt mit dem Bundesrat heraufziehen zu lassen. Ich habe aus dem Bundesjustizministerium dankenswerterweise mal einen Stapel von Unterlagen über einzelne Rechtssetzungen der Europäischen Union mit genauem Zeitplan, wann die Abstimmungen zwischen Bundesregierung und Bundesrat erfolgt sind, zur Ansicht bekommen, um der vom Bundesrat gerne vertretenen Behauptung, alles funktioniere doch bestens, einen kritischen Blick entgegensetzen zu können. Mein Eindruck war, daß es nach den Buchstaben des Gesetzes natürlich keine Konflikte gab; es gab keinen einzigen Beharrungsbeschluß bisher. Aber es war leider auch so, daß manchmal erst zwei, drei Tage vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat die Abstimmung mit dem Bundesrat hergestellt wurde, so daß für eine Mitverhandlung der Bundesregierung in Brüssel relativ wenig bzw. keine Zeit, kein Spielraum mehr blieb. Insgesamt streitet das Demokratieprinzip, meine ich, für eine strengere und effektivere Kontrolle der Bundesregierung durch den Bundestag und
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der Grundsatz der Bundesstaatlichkeit dafür, daß die vom Grundgesetz austarierte Balance zwischen Bund und Ländern nicht durch eine Entscheidungsverlagerung nach Brüssel zerstört wird. Deswegen meine ich, und das wären sozusagen meine Therapievorschläge, muß eine Neuordnung des Europaverfassungsrechts auf eine Optimierung der Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten von Bundestag und Bundesrat hinsichtlich der Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte Deutschlands durch die Bundesregierung zielen. Das ist nicht nur legitim, es ist verfassungsrechtlich, also vor allem beim Bundestag, beim Bundesrat will ich es nicht ganz so streng sehen, geradezu indiziert. Dabei müssen durch Fristen und Zustimmungsfunktionen Ausführungsgesetze natürlich sicherstellen, daß die europarechtlich im Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente vorgesehenen Befassungsfristen von sechs Wochen auch effektiv genutzt werden. Für den Europaausschuß des Bundestages wie für die Europakammer des Bundesrates wird das eine besondere Herausforderung sein. Wenn man das ernst nimmt, werden sie ihr gesamtes Arbeitsverhalten ändern und sich insbesondere dem Brüsseler Zeitplan unterordnen müssen. Für den Bundestag ist es meines Erachtens erforderlich, wie beim Bundesrat eine maßgebliche Berücksichtigung vorzusehen. Ich habe nie verstanden, wieso das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte Verfassungsorgan auf Bundesebene einen geringeren Einfluß auf die Europapolitik haben soll als der Bundesrat, der bekanntlich nur eine zweite Kammer ist. Wenn man hinzunimmt, daß die Bundesregierung durch ihre Vertretung im Ministerrat materielle Gesetzgebungstätigkeit ausübt, also Dinge tut, die nach der deutschen Verfassungsordnung, Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitsdoktrin u. a., eigentlich dem Parlament als der Mitte der Demokratie zugewiesen sind und daß diese Mitte zu 60–70% längst nach Brüssel entschwunden und in die Hände der Exekutive abgewandert ist, glaube ich, kann es überhaupt keine Alternative dazu geben, wenn man den Kern parlamentarischer Funktionen und Verantwortlichkeiten aufrechterhalten will, diese Europäisierung, diese Erosion der eigentlichen Bedeutung des Parlaments, aufzufangen und zu kompensieren. Und das kann nur dadurch geschehen, daß der Bundestag – wie es in Österreich der Fall ist, aber auch in Dänemark – die Möglichkeit bekommt, die Bundesregierung zu binden – mit Vorbehalten, was finanzwirksame Angelegenheiten angeht, mit Vorbehalten bei zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen, aber gekoppelt mit einer Berichtspflicht der Bundesregierung, daß sie, bevor sie abweicht, dies dem Bundestag zur Kenntnis bringen muß. Daraus kann er seine politischen Folgerungen ziehen – Gang nach Karlsruhe, Mißtrauensvotum oder was auch immer. Sie werden einwenden, das alles sei viel zu schwerfällig, das funktioniere nie, so wie der Bundestag arbeitet. Aber er darf nicht weiter so arbeiten, wie er bisher gearbeitet hat, sondern er muß den Europaausschuß oder
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– da komme ich vielleicht zum Schluß noch drauf – einen Gemeinsamen Ausschuß mit dem Bundesrat eben so einsetzen, daß eine zeitnahe, zeitgleiche Kontrolle der Bundesregierung und eine permanente Rückkoppelung gewährleistet sind. Der Marktausschuß des Folketing in Dänemark bringt es seit Jahrzehnten fertig, parallel zu den Ministerratssitzungen in Brüssel zu tagen, und wir werden nach dem Inkrafttreten der europäischen Verfassung eine ganze Reihe von Parlamenten in den Mitgliedsstaaten haben, die es so ähnlich machen. Wenn den Parlamenten Repräsentation, demokratische Kontrolle, Legitimation und Öffentlichkeit der europäischen Rechtssetzung nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern ernsthaftes Anliegen sind, führt an einer derartigen Umorientierung der Tätigkeit des Bundestags kein Weg vorbei. Noch ein Wort zum Subsidiaritätsprotokoll und zu den Klagerechten des Bundestags. Wenn wir eine grundsätzliche Bindung der Bundesregierung an die Stellungnahme des Bundestages haben, erübrigt sich innerstaatlich auch die Frage, wie es mit der Subsidiaritätsrüge aussieht. Diese Subsidiaritätsrüge, die das Parlament nach der neuen europäischen Verfassung erheben kann, wäre dann zugleich ein Verfassungsrecht gegenüber der Bundesregierung, was den Charme hätte, daß man dieses auch innerstaatlich im Wege der Organklage durchsetzen könnte, so daß auch die Minderheit oder eine Fraktion, die ja in Prozeßstandschaft für das gesamte Parlament tätig werden kann, das Recht hätte, die Bundesregierung zur Erhebung der Subsidiaritätsrüge zu verpflichten. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, wird man auch dort, wo es keine innerstaatliche Umsetzung gibt, die europarechtliche Subsidiaritätsrüge als Minderheitenrecht ausgestalten müssen, weil – wie ich vorhin anhand der Erfahrungen in der 13. Legislaturperiode geschildert habe – die parlamentarische Mehrheit in der Regel nicht dazu tendiert, Subsidiaritätsverletzungen, die die Regierung nicht beanstandungswürdig findet, ihrerseits zu rügen. Sie kennen die Arbeiten von Hans-Peter Schneider, der in den siebziger Jahren schon die Überlagerung des herkömmlichen Gewaltenteilungssystems durch die Polarität von Regierung und Opposition herausgearbeitet hat, weil es in aller Regel die Opposition ist, die die Kontrollfunktion des Parlaments wahrnimmt. Konsequenterweise würde ich auch dafür plädieren, daß man im Zusammenarbeitsgesetz, ähnlich wie beim Bundesrat, das Klagerecht, das das neue Subsidiaritätsprotokoll vorsieht, als ein Recht ausgestaltet, das von der parlamentarischen Minderheit erhoben werden kann. Da gibt es entweder das Modell „abstrakte Normenkontrolle“, mit einem Drittel oder Organklage jeder Fraktion. Darüber kann man sicher streiten. Es sollte jedenfalls nicht allein in der Hand der Regierung liegen, ob die europarechtlichen Möglichkeiten innerstaatlich nur von der Mehrheit oder auch von der Opposition genutzt werden können. Was den Bundesrat angeht,
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würde ich für eine weitgehende Parallelisierung plädieren, schon um das Entscheidungsverfahren nicht zu kompliziert werden zu lassen. Auch seine Stellungnahme sollte flächendeckend maßgeblich berücksichtigt werden, wobei die Erfahrungen zeigen, daß es angesichts der hohen Hürden für den Beharrungsbeschluß letztlich nicht zum Showdown kommen dürfte. Einen Punkt bin ich Ihnen jetzt noch schuldig geblieben, den ich noch nachschieben muß, nämlich die Frage, bei welchen Angelegenheiten es denn diese maßgebliche Berücksichtigung der Parlamentskammern geben soll. Das kann, weil meine Argumentation ja darauf beruht, daß das Parlament seine Gesetzgebungsfunktion verloren hat, im Grunde nur bei solchen Gegenständen der Fall sein, die in Deutschland oder in der Europäischen Union materiell ein Gesetz erfordern würden. Die Frage ist dann, wie findet man heraus, welche Gegenstände materiell ein Gesetz erfordern würden. Nach nationalem Verfassungsrecht haben wir die Wesentlichkeitsdoktrin, die natürlich erst dann verbindlich beurteilt werden kann, wenn das Verfassungsgericht entschieden hat, weil immer nur das wesentlich ist, was Karlsruhe als wesentlich empfindet, und das ist der Rechtssicherheit nicht gerade förderlich. Aber da kommt uns das Europarecht zu Hilfe. Zum einen haben wir heute schon in Art. 255 EGV und in einer Reihe von sekundärrechtlichen Vorschriften in allen Verfahren, in denen der Rat, in Zukunft der Ministerrat, als Gesetzgeber tätig wird, einen besonderen Anspruch auf Zugang zu den Akten. Dabei muß im vorhinein dokumentiert sein, in welchen Fällen der Rat nicht mehr nur Beschlüsse erläßt, sondern als europäischer Gesetzgeber tätig wird. Die Verfassung sieht sogar vor, daß in solchen Angelegenheiten die Tagungen des Ministerrats öffentlich zu sein haben, so daß auch insofern eigentlich ex ante feststeht, in welchen Fällen wir es mit materieller Rechtssetzung zu tun haben. Das mag nicht ganz paßgenau mit der deutschen Wesentlichkeitsdoktrin sein, aber grosso modo stimmt das schon: es sind dieselben Überlegungen und Prinzipien, die dahinter stehen – Transparenz und Demokratie, und insofern denke ich, würden wir mit dieser europarechtlichen Vorlage auch eine hinreichend klare Abgrenzung der Gegenstände erhalten, in denen wir es mit einer maßgeblichen Berücksichtigung der Stellungnahmen beider Kammern zu tun hätten. Beide Kammern heranziehen zu müssen, ist natürlich auch Quelle von Irritationen oder Sand im Getriebe. Deshalb ist von dem früheren Generalanwalt Lenz, meines Wissens zum ersten Mal, und inzwischen auch von vielen anderen, auch von mir, vorgeschlagen worden, daß man einen Gemeinsamen Ausschuß einrichten sollte, der paritätisch mit sechzehn Bundestagsabgeordneten und sechzehn Vertretern des Bundesrates zu besetzen wäre, fachlich unterschiedlich besetzt, orientiert an den Zusammensetzun-
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gen der Ministerräte in Brüssel, der dann parallel mit der jeweiligen Ministerratstagung Gewehr bei Fuß zu stehen und die Leine der Regierung länger oder kürzer zu halten hätte. Hier wäre es – was die Österreicher ja inzwischen vorgesehen haben – Aufgabe der Bundesregierung, am Ende Rechenschaft darüber abzulegen, ob und inwieweit sie den Vorgaben des Parlaments bei ihrem Stimmverhalten im Rat Rechnung getragen hat. Den Ländervertreter würde ich ersatzlos abschaffen. Er ist schon eine verfassungsrechtliche Mißgeburt, weil er zwar institutionell demokratisch legitimiert ist, aber ein Landesminister für den Bund verbindlich handeln kann. Wer zieht ihn eigentlich zur Rechenschaft, wenn man mit seinem Abstimmungsverhalten nicht einverstanden ist? Es ist ein erheblicher Eingriff in das demokratische Legitimationsniveau, und daß er sich in der Praxis von den Package Deals bis zum Zeitbedarf nicht bewährt hat, habe ich bereits dargelegt. Als letzten Punkt möchte ich dann noch ein paar Bemerkungen zu den Implementationsschwierigkeiten machen. Wir haben ja, wenn es um die Umsetzung des Europarechts geht, den Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie, d. h. es richtet sich nach deutschem Verfassungsrecht, welche Richtlinien durch den Bund und welche durch die Länder umgesetzt werden. Das hat, vor allem dort, wo der Bund keine Zuständigkeiten hat, das Problem zur Folge, das wir etwa bei der FFH-Richtlinie erlebt haben, daß die Länder den Bund in die europarechtliche Falle und Haftung laufen gelassen haben. Vor diesem Hintergrund fand ich die ja schon in der Enquête-Kommission Verfassungsreform erstmals angedachte Auffanggesetzgebung mit Zugriffsrecht eine sehr verlockende und eigentlich ganz schlaue Idee. Dieser neue Typus der Auffanggesetzgebung mit Zugriffsrecht, der nach meinem Dafürhalten nicht für die gesamten Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung gedacht wäre, sondern für die Gegenstände, in denen eigentlich die Länder zuständig sind, sollte dem Bund die Möglichkeit geben, dort, wo es zwingende europarechtliche Vorgaben gibt, diese Vorgaben in nationales Recht umzusetzen, ohne allerdings – wie wir es etwa bei der Antidiskriminierungsrichtlinie erlebt haben – dabei „draufsatteln“ zu können. Und wenn er das tut, sollen die Länder natürlich, weil es um ihre Kompetenzen geht, die Möglichkeit haben, ohne Begründung sofort davon abzuweichen bzw. darüber hinauszugehen. Eine solche Auffanggesetzgebung des Bundes hätte den Vorteil, daß er, der für die Außenvertretung Deutschlands zuständig ist, die europarechtlichen Verpflichtungen erfüllen könnte, und daß mit mehr Zeit im innerstaatlichen Bereich, im Wettbewerb zwischen den Ländern, auch darüber nachgedacht werden könnte, ob und wie eine bloße Übernahme dieser Richtlinien angezeigt ist oder man in dem einen oder andern Fall doch „draufsatteln“ möchte. Ich könnte Ihnen vielleicht noch ein paar Bemerkungen machen,
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wie mißlich sich diese fehlende Zuständigkeit des Bundes etwa beim Stabilitätspakt und den Verschuldungsobergrenzen des EG-Vertrags auswirkt. Aber da wir jeden Tag der Zeitung entnehmen können, daß dieser ohnehin nicht mehr das Papier wert ist, auf dem er geschrieben steht, erspare ich Ihnen diesbezügliche Ausführungen und komme zum Schluß. Zu den täglich drängender werdenden Herausforderungen an die Ordnung des Grundgesetzes gehört an erster Stelle der tiefgreifende Funktionswandel, den das nationale Verfassungsrecht durch seine immer weiter fortschreitende Europäisierung erfährt. Wenn es richtig ist, daß sich Bedeutung und Stellenwert einer Verfassung nur erschließen, wenn man unter Zugrundelegung eines funktionalen Verfassungsbegriffs danach fragt, inwieweit sie die politische Einheitsbildung der Gesellschaft aktualisiert, wenn man sie von der Aufgabe und Funktion in der Wirklichkeit konkreten Lebens her, in ihrer Steuerungskraft zu erfassen sucht, wenn es richtig ist, daß das an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit stoßende nationale Verfassungsrecht, das Grundgesetz, heute nicht mehr und das europäische auf absehbare Zeit noch nicht zur gesellschaftlichen Einheitsbildung allein in der Lage sind, daß sich nur aus ihrer Zusammenschau die Grundordnung unseres politischen und sozialen Lebens erschließt, dann muß die nationale Ordnung der Staatsfunktionen wie auch das bundesstaatliche Gefüge insgesamt diesem tiefgreifenden Funktionswandel Rechnung tragen. Beide müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie die Erfüllung der wesentlichen Staatszwecke, Sicherheit nach innen und außen, soziale Gerechtigkeit, ökologische Zukunftsfähigkeit und die Bewahrung und Behauptung der unsere nationale Identität prägenden Kultur und Sprache gerade auch unter den institutionellen Bedingungen der europäischen Integration erfüllen können. Deshalb, meine ich, muß die Europatauglichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts der zentrale Leitgedanke für eine Neuaustarierung der horizontalen wie vertikalen Gewaltenteilung im Grundgesetz sein. Es ist – da bin ich Realist genug – betrüblich, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber bislang noch nicht begriffen zu haben scheint, wem es die Stunde geschlagen hat, nämlich ihm. Vielen Dank.
Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Peter M. Huber Leitung: Siegfried Magiera Von Ramona Trautmann Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, dankte dem Referenten und stellte einleitend unter Bezugnahme auf dessen Lehrstuhlbezeichnung „Öffentliches Recht und Staatsphilosophie“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München fest, dass der Vortrag eindrucksvoll unter Beweis gestellt habe, dass insbesondere Staatsphilosophie heute über die Grenzen des Staates hinausreiche und insofern auch die europäische Integrationslehre umfasse. Magiera griff die von Huber kritisch beleuchtete Wahrnehmung deutscher Interessen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens auf europäischer Ebene auf und stimmte ihm insoweit zu, dass die Bundesrepublik auf der Gestaltungsebene der Europäischen Union nicht immer erfolgreich sei. Was allerdings den gezogenen Vergleich mit Großbritannien als Beispiel für eine strategisch gute prospektive Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung betreffe, mahnte er zur Vorsicht. Magiera gab zu bedenken, dass möglicherweise auch die Europaskepsis Großbritanniens hier eine Rolle spiele, die ein größeres Gewicht auf die Durchsetzung nationaler Interessen bedingen könne. Demgegenüber wirke sich vielleicht die grundsätzliche Integrationsfreundlichkeit der Bundesrepublik – auch in ihrer Rolle als größter Mitgliedstaat der Europäischen Union – in diesem Zusammenhang in Form größerer Kompromissbereitschaft aus, bei der rein nationale Interessen nicht immer vorrangig seien. Ergänzend zu den Ausführungen Hubers über die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen und der dadurch wachsenden Gefahr einer Überstimmung der Bundesregierung im europäischen Gesetzgebungsverfahren merkte Magiera an, dass dies nicht nur den Erlass von Rechtsakten, sondern auch deren Änderung betreffe. Zur Illustration der Schwierigkeiten, die aus dem Einstimmigkeitserfordernis resultieren können, wies er auf die Diskussionen um den Stabilitätspakt und den Eigenmittelbeschluss der Europäischen Union hin. Wenngleich dies dem Grunde nach richtig sei, betonte Huber jedoch, dass die Problematik in praktischer Hinsicht mit 2/3 größtenteils den
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Neuerlass von Rechtsakten der europäischen Ebene betreffe, die dann weitgehend gegen den Widerstand der Bundesrepublik erfolge. Die scherzhafte Bemerkung Magieras, dass sich Deutschland in der Umsetzungsstatistik europäischer Rechtsakte nach der Erweiterung der Europäischen Union nunmehr im Mittelfeld befinde und nicht mehr eines der Schlusslichter bilde, nahm Huber zum Anlass, um auf die „Musterschüler“ Großbritannien und Dänemark hinzuweisen. Vielleicht deute gerade deren Europaskepsis darauf hin, dass insbesondere Großbritannien den europäischen Integrationsprozess insgesamt etwas ernster nehme, was sich auch in der Umsetzungspraxis widerspiegele. Magiera dankte für diesen Hinweis und spannte den Bogen zur Rolle der nationalen Parlamente im Gesetzgebungsprozess auf europäischer Ebene. Das Referat und auch der Vortrag des Präsidenten des Landtages Rheinland-Pfalz Grimm am Morgen hätten verdeutlicht, dass die Parlamente einiger Mitgliedstaaten die ihnen zukommenden Mitwirkungsmöglichkeiten nicht hinreichend wahrnehmen. Seiner Einschätzung nach liege hierin der Unterschied zu Großbritannien und Dänemark, die ihre Parlamente frühzeitig in den Entstehungsprozess europäischer Rechtsakte einbezögen. Die umfassende Informationspolitik führe im Ergebnis zu einer höheren Akzeptanz der erzielten Einigungen und einem größeren Interesse an ihrer ordnungsgemäßen Umsetzung. Hierzulande würden europäische Rechtsakte von den Abgeordneten demgegenüber häufig als eine Art Fremdkörper angesehen. Huber bekräftigte diese Einschätzung anhand seiner Erfahrungen als Sachverständiger. So hindere die bestehende Informationsflut die Parlamente im Grunde daran, eine effektive Begleitung der Gesetzgebungsprozesse vorzunehmen. Dies gelte nicht nur für den deutschen Bundestag, entsprechende Aussagen habe ihm gegenüber beispielsweise auch der Vorsitzende des österreichischen Europaausschusses gemacht. Den Parlamentariern werde eine derartige Masse an Dokumenten über europäische Gesetzesvorhaben vorgelegt, dass niemand auf die Idee käme, diese ernsthaft zu lesen. In Großbritannien werde dies hingegen anders gehandhabt. In den dortigen select committees on european affairs seien einzelne Abgeordnete mit der Sichtung aller entsprechenden Vorlagen befasst. Diejenigen Angelegenheiten, die für die nationalen Interessen bzw. das britische Rechtssystem von besonderer Bedeutung sind, würden sodann dem select committee – bei besonderer Bedeutsamkeit sogar dem Plenum – zur Diskussion vorschlagen. Dieses Vorgehen werde im Unterhaus wie auch im House of Lords praktiziert und funktioniere wunderbar. Dementsprechend sei seiner Auffassung nach bei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung kein Mitgliedstaat so gut aufgestellt wie das Vereinigte Königreich. Magiera schloss die Diskussion mit nochmaligem Dank an Huber für dessen innovatives Referat.
Die Modernisierung des deutschen Bundesstaats zwischen Anspruch und Wirklichkeit Von Wito Schwanengel I. Der unitarisch-kooperative Föderalismus: Die Krise eines Strukturelements Der deutsche Bundesstaat erscheint als die Sagrada Família des Grundgesetzes. Wie sich das bis heute unvollendete Bauwerk Antonio Gaudís zum Wahrzeichen Barcelonas entwickelte, ist der Bundesstaat tragender Pfeiler und zugleich ewige Baustelle in der Verfassungsarchitektur des Grundgesetzes. In jüngster Zeit scheinen die Risse im Grundpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung allerdings die Statik des Verfassungsstaates zu gefährden. Die Schwerfälligkeit politischer Entscheidungsprozesse und die mangelnde Erkennbarkeit politischer Verantwortung werden auf die Blockaden des deutschen Bundesstaates zurückgeführt und der deutsche Föderalismus in einen direkten Ursachenzusammenhang mit den Symptomen einer als „Reformstau“ titulierten Krise des politischen Systems gerückt. Als rechtliches Formprinzip ist der Föderalismus auf die Wahrung der Vielfalt in Einheit gerichtet: Ein föderales Gemeinwesen ist nur lebensfähig, wenn es sowohl seine staatsrechtliche Gesamtexistenz als auch den Fortbestand seiner Glieder schützt, weil es sich nur so vom vertraglichen Staatenbund und einem dezentralen Einheitsstaat unterscheidet.1 Indem das föderative Prinzip die getrennten Glieder in staatlicher Einheit verbindet, gehört die Kompetenzteilung ebenso wie ein Minimum an Kooperation zum Wesenszug jedes Bundesstaats.2 Da es sich beim Föderalismus aber um eine „radizierte“ Staatsidee handelt3, ist die Frage nach dem richtigen Maß von gliedstaatlicher Autonomie und zentralstaatlicher Einheitlichkeit bereits im 1 Martin Nettesheim, Grundgesetzlicher Föderalismus und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenerfüllung: Zu den Grenzen der Kooperation zwischen den Ländern, in: Jahrbuch des Föderalismus 2002, S. 252 (255); Henner Jörg Boehl, Verfassunggebung im Bundesstaat, 1997, S. 135 f. 2 Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 20 I RN 45; Walter Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV, 21999, § 105 RN 2. 3 Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee/ Kirchhof, HStR, Bd. IV, 21999, § 98 RN 2.
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Ansatz falsch gestellt. Jeder Bundesstaat ist ein Unikat, und die allgemeine Bundesstaatstheorie liefert keine Erkenntnisse für den einzelnen Bundesstaat, weil dieser nur in seiner konkreten Ausgestaltung durch die Verfassungsordnung begriffen werden kann.4 Deshalb muß auch ein realistischer Vorschlag zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung von den historischen, politischen und kulturellen Vorprägungen und der Funktionslogik des jeweiligen Bundesstaates ausgehen und darf nicht vom politischen Wunschdenken der Akteure bestimmt sein. Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für den Bundesstaat in Art. 20 Abs. 1 GG, die bereits im Staatsnamen der „Bundesrepublik“ Deutschland zum Ausdruck kommt5, legt als maßgebliche Grundlage für den Staatsaufbau zwei Ebenen der Staatlichkeit fest.6 Neben dem Gesamtstaat (Bund) haben auch die Gliedstaaten (Bundesländer) Staatsqualität7, die nach dem Garantiegehalt des Art. 79 Abs. 3 GG auch durch eine Verfassungsänderung nicht aufgegeben werden darf.8 Die eigenständige Staatsgewalt der Länder leitet sich dabei zwar nicht vom Bund ab, wohl aber ist die Staatlichkeit der Länder ein Prädikat nach Maßgabe des Grundgesetzes.9 Sie wird nachgewiesen durch die den Ländern belassenen Kompetenzen. Im Gegensatz zur Ordnung anderer Bundesstaaten kennt das Grundgesetz aber keine einheitliche Aufgabenkompetenz. Während der amerikanische Föderalismus durch das Prinzip dualistischer Staatsgewalt bestimmt ist, nach dem sich die Verwaltungskompetenz eines Gliedstaates und weitgehend auch die Finanzzuständigkeit aus der Gesetzgebungskompetenz ergibt, dominiert im Grundgesetz eine Zuständigkeitsverteilung nach den Staatsfunktionen.10 4 Henner Jörg Boehl (FN 1), S. 137; Josef Isensee (FN 3), § 98 RN 6; Hartmut Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 22006, Art. 20 RN 19; Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 147. 5 Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 20 I RN 7 ff. u. 20. 6 Der ursprünglich dreigliedrige Bundesstaatsbegriff, der zwischen Gesamtstaat und Bund unterschied [so wohl noch: BVerfGE 13, 54 (77 f.)], wird seit dem „Hessen-Urteil“ des BVerfG [E 13, 54 (77 f.)] nicht mehr vertreten; vgl. dazu: Stefan Storr, Verfassungsgebung in den Ländern, 1995, S. 92 ff. 7 Die Staatsqualität der Länder hat das BVerfG bereits 1951 in der „Südweststaatenentscheidung“ [E 1, 14 (34)] anerkannt. 8 Vgl. dazu: Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 20 I RN 56 ff., für den die Fortexistenz von zwei staatlichen Ebenen auch in einem europäischen Bundesstaat denkbar ist, weil eine Aufgabe der staatlichen Souveränität und damit eine Reduzierung der Staatlichkeit der Bundesrepublik auf eine solche im staatsrechtlichen Sinne nicht der Änderungssperre des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegt. 9 Josef Isensee (FN 3), § 98 RN 68. 10 Gunter Kisker, Kooperation zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1977, S. 689 (689 f.); Heinrich Wilms, Überlegungen zur
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Dabei scheint bei der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zunächst das Primat der Länderfreundlichkeit zu dominieren. Der für die bundesstaatliche Kompetenzzuweisung grundlegende Art. 30 GG geht von einer Vermutung für die Zuständigkeit der Länder aus, sofern sich nicht eine besondere Zuständigkeit des Bundes ergibt.11 Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ist zudem für jede Staatsfunktion in einer konkretisierenden Grundsatznorm enthalten: Art. 70 GG für die Gesetzgebung, Art. 83 GG für die Verwaltung und Art. 92 GG für die Gerichtsbarkeit. Allerdings ist der Schutzgehalt dieser Grundsatznormen zugunsten der Länderzuständigkeit nur gering, da sie methodisch als Auffang- und Residualklauseln konzipiert sind.12 Blickt man auf die enumerativen Bundeskompetenzen in den jeweils nachfolgenden Katalogen (Art. 72 ff., 84 ff., 93 ff. GG), gilt der Leitgedanke einer Kompetenzvermutung zugunsten der Länder für die Organisation der Rechtsprechung13, überwiegend für die Verwaltung, nicht aber für die Gesetzgebung, wo er durch das dichte Netz der Bundeskompetenzen für die Gesetzgebung praktisch ausgezehrt ist. Auch wenn das Grundgesetz von einer relativ strikten Kompetenz- und Aufgabentrennung ausgeht14, ist angesichts des Ungleichgewichts der Aufgabenverteilung innerhalb der einzelnen Staatsfunktionen zugleich eine Verflechtung der Handlungs- und Gestaltungsräume des Bundes und der Länder in der Verfassungsordnung angelegt und im Bundesrat instutionalisiert. Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung zielt auf eine Stärkung des Bundesgesetzgebers und kompensiert die Beschränkung der autonomen Gestaltungsmöglichkeiten der Landtage durch eine starke Stellung der Landesexekutiven. Der Bund ist zur Ausführung seiner Bundesgesetze grundsätzlich auf die Länder angewiesen und besitzt dafür abgestufte Einwirkungsrechte auf die Reform des Föderalismus in Deutschland, ZRP 2003, S. 86 (87); Ursula Münch, Konkurrenzföderalismus für die Bundesrepublik: Eine Reformdebatte zwischen Wunschdenken und politischer Machbarkeit, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 115 (116). 11 BVerfGE 42, 20 (28); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 19 III 3 a, m. w. N. 12 Ingolf Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 22006, Art. 30 RN 15; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 82006, Art. 30 RN 1; Wilfried Erbguth, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 32003, Art. 30 RN 8 f., der eine Rechtsvermutung ablehnt und von einer länderfreundlichen Auslegungsrichtlinie spricht. 13 Die Rechtsprechung ist dagegen einer Kooperation nicht zugänglich. Eine Ausnahme besteht nur für die Organisation der Justizverwaltung und – in Grenzen – der Gerichte. Vgl. dazu: Rudolf, Walter (FN 2), § 105 RN 18. 14 Christian Calliess, Die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund von kooperativem und kompetitivem Föderalismus, DÖV 1997, S. 889 (890); Hartmut Klatt, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland als Rahmen für das Verhältnis von Zentralstaat und Ländern, in: Hirscher (Hrsg.), Die Zukunft des kooperativen Föderalismus in Deutschland, 1991, S. 41 (43).
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Verwaltung der Länder. Die Länder ihrerseits wirken über den Bundesrat an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit und sind zu ihrer Finanzierung von Ausgleichszahlungen des Bundes abhängig, weil die Befugnis zur Steuererhebung vornehmlich beim Bund liegt.15 Diesen unitarisch-kooperativen Föderalismus hat Konrad Hesse schon frühzeitig als prägendes Erscheinungsbild des deutschen Bundesstaates charakterisiert.16 In der Praxis hat die unheilvolle Kombination aus fortschreitender Unitarisierung der Gesetzgebungskompetenzen und Politikverflechtung über den Bundesrat allerdings dazu geführt, daß weder Bundes- noch Landesgesetzgeber über nennenswerte eigene Handlungsspielräume verfügen.17 Der Gesetzgebungsprozeß hat sich zunehmend in die Strukturen eines „Beteiligungsföderalismus“ verlagert, der den Sinngehalt der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern einer schleichenden Aushöhlung ausgesetzt und die Wirkkraft des Bundesstaatsprinzips erschüttert hat. In Anbetracht der grundlegend gewandelten Rahmenbedingungen deutscher Politik seit Anfang der neunziger Jahre verschärften sich die Interessengegensätze und Verteilungskonflikte und drängten auf eine Entflechtung. Konflikte ließen sich kaum noch durch finanzielle Kompensationen lösen, weil der „Stimmenkauf“ der Länder im Bundesrat wegen knapper Kassen immer schwieriger wurde und die komplexe Gemengelage aus partei- und landespolitischen Interessen die Entscheidungsprozesse im Bundesrat zusätzlich erschwerte. Hinzu kam, daß die im Bund regierenden Parteien im Laufe der Legislaturperiode regelmäßig Landtagswahlen verloren, so daß unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Regel wurden.18 Vor diesem Hintergrund waren sich Staatswissenschaft und -praxis einig, daß sich die Defizite des grundgesetzlichen Föderalismus nur durch die Reform der Kompetenzsystematik und eine darauf aufbauende Neuordnung der Kompetenzmaterien sowie eine Entflechtung der politischen Entscheidungsprozesse beheben lassen. II. Die Reformbemühungen in der Politikverflechtungsfalle Zur Vitalisierung des föderalen Prinzips hatten Bundestag und Bundesrat im Herbst 2003 eine gemeinsame „Kommission zur Modernisierung der 15
Vgl. hierzu: Hartmut Klatt (FN 14), 43 f. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; vgl. dazu: Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 259 f. 17 Thomas Fischer, Reformziel Aufgabenentflechtung: Die Beratungen der Föderalismuskommission zur Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 100 (105). 18 Wolfgang Renzsch, Bundesstaatsreform – nach dem Scheitern der KOMBO?, in: Jahrbuch des Föderalismus, 2005, S. 91 (92 f.). 16
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bundesstaatlichen Ordnung“ mit dem Ziel eingesetzt, die Gesetzgebungsmacht der Länder zu stärken, ihre Blockademacht bei der Bundesgesetzgebung abzubauen sowie die bundesstaatlichen Finanzbeziehungen zu entflechten.19 Hinter der scheinbar abstrakt-überparteilichen Programmatik wurden jedoch schnell die parteipolitisch motivierten Konkurrenzkonzepte erkennbar.20 In der Zusammensetzung der Kommission suchte man einen Kompromiß zwischen dem Modell des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG und dem eines Konvents.21 Allerdings sollte die Entscheidung über den Reformvorschlag den Repräsentanten der zu einer späteren Verfassungsnovellierung berufenen Verfassungsorgane vorbehalten bleiben, so daß hinsichtlich der stimmberechtigten Mitglieder das Modell des Vermittlungsausschusses dominierte.22 Damit spiegelte die Kommission die seinerzeit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat wider und trug ihrerseits zur Blockbildung bei, was den Zwang zum Kompromiß verschärfte.23 So bedurfte es schließlich eines Top-Down-Verfahrens der beiden Vorsitzenden, um in Ermangelung eines Grundkonsenses die kleinteiligen Lösungen und Kompromißformeln in einen Vorentwurf für eine abschließende Beschlußfassung zusammenzufassen.24 In den ungeklärten Kompetenzfeldern Bildung und Umwelt offenbarte sich allerdings der bis dahin versteckt gebliebene Dissens.25 Als unüberwindbar erwies sich der Interessengegensatz in der Bildungsfrage26, so daß die Kommission letztlich mit ihrem Anspruch einer für alle Seiten akzeptablen Paketlösung scheiterte 19
Vgl. Beschluß zur „Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (Bundesstaatskommission), BR-Drucks. 750/03; BT-Drucks. 15/1685. 20 Vgl. Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Deutscher Bundestag/Bundesrat, Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 2005. 21 Wolfgang Renzsch (FN 18), S. 93 f. 22 Ein Stimmrecht besaßen allein die 16 Abgeordneten des Bundestages und die 16 Mitglieder des Bundesrates (Regierungschefs der Länder). Der Chef des Bundeskanzleramtes und die beiden Bundesminister als Vertreter der Bundesregierung gehörten, ebenso wie die sechs Vertreter der Landtage (zwei Landtagspräsidenten und vier Fraktionsvorsitzende) und die drei Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, der Kommission nur als beratende Mitglieder an. 23 Vgl. Martin Stock, Föderalismusreform: Mit der Großen Koalition ins Abenteuer?, ZUR 2006, S. 113 (115 f.); Stephan Brink, Unreformierter Föderalismus, ZRP 2005, S. 60 (61). 24 Vorentwurf für einen Vorschlag der Vorsitzenden der Bundesstaatskommission Franz Müntefering (Bund, SPD) und Edmund Stoiber (Länder, CDU/CSU) vom 13.12.2004, Kommissions-Drs. 0104. 25 Vgl. Volker Kröning, Bundesstaatsreform: In einem Akt oder Schritt für Schritt?, Recht und Politik 1/2005, S. 9 (11). 26 Vgl. dazu: Ursula Münch, Bildungspolitik als föderativer Streitpunkt: Die Auseinandersetzung um die Verteilung bildungspolitischer Zuständigkeiten in der Bun-
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und die Beratungen im Dezember 2005 ohne einen gemeinsamen Vorschlag abgebrochen wurden. Die Forderung nach einer Beseitigung der föderalen Reibungsverluste stand jedoch auch nach dem Scheitern der Bundesstaatskommission auf der Agenda der deutschen Politik. Der durch den Eindruck der Reformunfähigkeit eingetretene Flurschaden beflügelte dabei die Forderungen nach baldiger Wiederaufnahme der Verhandlungen.27 Nach der vorzeitigen Auflösung und Neuwahl des Bundestags knüpfte die große Koalition aus CDU/CSU und SPD an den in der Bundesstaatskommission erreichten Teilkompromiß an und komplettierte diesen durch ein Tauschgeschäft, demzufolge der Bund für die Abgabe der Bildungskompetenzen einen Kompetenzzuwachs im Umweltrecht erhalten sollte. Der in den Koalitionsvertrag aufgenommene Konsens28 mündete in einem Gesetzentwurf, der im März 2006 gleichzeitig in Bundestag und Bundesrat eingebracht wurde.29 Die brüchige Grundlage des Kompromisses wurde deutlich, als im weiteren Verlauf die Abwehrfront gegen eine Wiedereröffnung der Sachdiskussion erneut unter Druck geriet. Kritiker vermerkten, daß die von Länderseite betriebene Föderalisierung der Bildungspolitik, vor allem aber das Kooperationsverbot für gemeinsame Förderprogramme im Bildungsbereich sowie die Trennung von Forschung und Lehre bei der Bundesförderung, Deutschland in die internationale Bedeutungslosigkeit führen würden. Auf Widerstand stieß auch das im Zuge des Tauschhandels wiederbelebte Konstrukt des Zugriffsrechts der Länder. Namentlich die Abweichungsbefugnis bei den umweltrelevanten Materien würde zu einem dysfunktionalen Wettbewerb um die niedrigsten Umweltstandards führen und das Ziel eines einheitlichen Umweltgesetzbuches insgesamt in Frage stellen. Unausgesprochen schien die Abweichungsgesetzgebung aber vor allem den sorgsam tarierten Interessenausgleich durch wechselseitiges Geben und Nehmen zu gefährden. Angesichts der anhaltenden Kritik wurde das Reformpaket schließlich nochmals aufgeschnürt. Die zwischen den Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuß des Bundestages ausgehandelten Änderungen enthielten aber weitgehend nur kleinere Retuschen.30 Von Substanz war allein die Ausweitung der Gemeinschaftsfinanzierung auf Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen. Schlußendlich desstaatskommission, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 150 ff.; Volker Kröning (FN 25), S. 13 f. 27 Vgl. hierzu: Martin Stock (FN 23), S. 116; Wolfgang Renzsch (FN 18), S. 98 f. 28 Koalitionsvertrag vom 18.11.2005, Abschnitt B.V.1 i. V. m. Anlage 2; vgl. dazu: Volker Kröning, „Bestehende föderale Ordnung überholt“ – Präsidiale Mahnung und Parteienverantwortung, Politik und Zeitgeschichte 1/2006, S. 9 ff. 29 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 16/813 und BR-Drs. 178/06. 30 Vgl. dazu: Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages, BR-Drs. 462/06.
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fanden die Änderungen an 20 Artikeln des Grundgesetzes die erforderliche Zweidrittelmehrheit und wurden zusammen mit einem Begleitgesetz am 30. Juni 2006 im Bundestag31 und am 7. Juli 2006 im Bundesrat32 beschlossen und traten am 1. September 2006 in Kraft33. III. Die Reform der Gesetzgebungskompetenzen: Neuordnung mit unzureichender Entflechtungswirkung 1. Die Auszehrung der Landeskompetenzen durch umfassende Kompetenznahme des Bundes Bei der vertikalen Abgrenzung der Gesetzgebungsbefugnisse folgt das Grundgesetz dem Muster einer enumerativen Auflistung der Bundeskompetenzen und einer den Ländern pauschal zugewiesenen Residualkompetenz.34 Nach Art. 70 GG kann der Bund nur auf Gebieten tätig werden, für die er eine Kompetenz im Grundgesetz besitzt oder daraus ableiten kann. Für die Gewichtsverteilung zwischen Bund und Ländern ist aber weniger die Zuweisung der Residualkompetenz als vielmehr ihr Umfang im Vergleich zu den enumerativen Zuständigkeiten von Bedeutung. Diese Bundeszuständigkeiten waren bislang in den abgestuften Katalogen der ausschließlichen, konkurrierenden und Rahmengesetzgebung aufgeführt. Ein starker Zentralisierungssog ging dabei von einer extensiven Inanspruchnahme der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung aus. Die wichtigsten Gesetzesbereiche waren und sind im Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung des Art. 74 GG enthalten. Auch wenn die Materien der konkurrierenden Gesetzgebung entweder vom Bund oder von den Ländern geregelt werden können, besteht nur eine „unechte Konkurrenz“, weil der Bund aufgrund der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG die Kompetenz der Länder in dem von ihm gewünschten Umfang suspendieren kann.35 In der Folge der fast bis zur Neige ausgeschöpften Kompetenz schrumpfte die Landesgesetzgebung auf ein Mi31 Die für eine Zweidrittelmehrheit erforderlichen 410 Stimmen wurden mit 428 Ja-Stimmen erreicht (162 Abgeordnete stimmten mit Nein und 3 enthielten sich der Stimme). 32 Bei insgesamt 69 Stimmen der Länder im Bundesrat wurde die Zweidrittelmehrheit gegen die Stimmen von Mecklenburg-Vorpommern (3 Stimmen) und bei Enthaltung von Schleswig-Holstein (4 Stimmen) erreicht. 33 Gesetz über die Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006, BGBl. I 2006, S. 2034. 34 Jost Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV, 21999, § 99 RN 2. 35 Rupert Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 22006, Art. 72 RN 10; Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. IV, 21999, § 100 RN 111.
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nimum und erschöpfte sich außerhalb der traditionellen Reservatbereiche der Länder (Kultur, Polizei, Kommunales) auf die Regelung von Details.36 Auch die Rahmenkompetenz hat mit der Möglichkeit des Bundes zu Detailund Durchgriffsregelungen zur Erosion der Gesetzgebungssubstanz der Länder beigetragen. Von ihrer Grundidee her war die Rahmengesetzgebung auf eine kooperative Rechtsetzung von Bund und Ländern angelegt37, nach der die Rahmenvorgabe des Bundes von den Ländern auf unterschiedliche Weise ausgefüllt werden sollte. Im Laufe der Jahre kristallisierte sich aber die partielle Zulässigkeit von erschöpfenden und unmittelbar geltenden Detailregelungen des Bundes als eigentliche Crux der zweistufigen Rechtsetzung im Bund-Länder-Verhältnis heraus.38 Durch Vollregelungen für ganze Teilbereiche war der Bundesgesetzgeber in der Lage, alle wichtigen politischen Weichenstellungen im Rahmengesetz selbst vorzuprogrammieren. Besonders abschreckende Beispiele für eine bis ins Detail gehende Rechtsetzungspraxis des Bundes waren dabei das Beamtenrechtsrahmengesetz und das Hochschulrahmengesetz. Daß der Bund seine Befugnisse so umfassend ausschöpfen konnte, ist vor allem der sogenannten „Bedürfnisklausel“ des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. zuzuschreiben, die sich im Laufe der Jahre zum Einfallstor des Bundes in die Domäne der Länder entwickelte.39 Um der Auszehrung der Landeskompetenzen entgegenzuwirken, wurde als „Herzstück“ der Verfassungsreform von 199440 die alte „Bedürfnisklausel“ durch die neue „Erforderlichkeitsklausel“ ersetzt. Auch die Befugnis des Bundesgesetzgebers zu erschöpfenden Detailregelungen in einer Rahmenvorschrift wurde durch Art. 75 Abs. 2 GG auf „Ausnahmefälle“ begrenzt. Entgegen aller Skepsis41 ist das Bundes36
Stefan Oeter (FN 16), S. 260. Karl-Peter Sommermann, Die Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder durch die Grundgesetzreform von 1994, Jura 1995, S. 393 (397); Rupert Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 22006, Art. 75 RN 12. 38 Markus Kaltenborn, Rahmengesetzgebung im Bundesstaat und im Staatenverbund, AÖR Bd. 128 (2003), S. 412 (437). 39 Vgl. Rupert Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 252 (258 ff.). 40 Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 72 RN 87 sowie zu den verschiedenen Reformbemühungen RN 37 ff. 41 Stefan Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 72 RN 112; Christoph Degenhardt, in: Sachs, GG-Kommentar, 32003, Art. 72 RN 15; Martha Dagmar Müller, Auswirkungen der Grundgesetzrevision von 1994 auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, 1996, S. 48 ff.; Christoph Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes, 1999, S. 82 ff. 37
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verfassungsgericht mit seinen Urteilen zum Altenpflegegesetz42, zur Juniorprofessur43 und zu den Studiengebühren44 der Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers gefolgt.45 Durch eine restriktive Konkretisierung der Voraussetzungen für eine Kompetenznahme des Bundes hat das Gericht die Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelungen einer inhaltlichen Kontrolle unterstellt und die begrenzenden Anforderungen an die zulässige Regelungsdichte einer Rahmenvorschrift präzisiert und verschärft. Mit dieser Rechtsprechung wurde der Weg für eine eindeutigere Kompetenzabgrenzung gewiesen, der auch die Rahmenbedingungen für die Beratungen der Bundesstaatskommission spürbar veränderte. 2. Die Neuordnung der Gesetzgebungsverantwortung in der konkurrierenden Gesetzgebung Nachdem das Gericht durch eine Aufwertung der Kompetenzausübungsschranken der Art. 72 Abs. 2 und 75 Abs. 2 GG dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 70 Abs. 1 GG für eine Gesetzgebungsbefugnis der Länder mehr Raum verschafft hatte, sah der Bund den Bestand weiter Teile seiner konkurrierenden und Rahmengesetzgebungskompetenz gefährdet. Zur Bewahrung seines gestalterischen Spielraums strebte er zunächst die Überführung einer Reihe von konkurrierenden Gesetzgebungsmaterien in seine ausschließliche Zuständigkeit an, stieß dabei aber auf den Widerstand der Länder, die allenfalls bereit waren, einzelne Materien der konkurrierenden Gesetzgebung von dem Erforderlichkeitsnachweis des Art. 72 Abs. 2 GG zu befreien.46 Blickt man indes auf die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG, bleibt von der zum Schutz der Legislativbefugnisse der Länder errichteten Schranke gegen das Tätigwerden des Bundes nur noch ein Torso. Der dürf42 BVerfGE 106, 62 ff.; vgl. dazu: Heike Jochum, Richtungsweisende Entscheidung des BVerfG zur legislativen Kompetenzordnung des Grundgesetzes, NJW 2003, S. 28 ff. 43 BVerfGE, 111, 226 ff.; vgl. dazu: Helge Batt, Bundesverfassungsgericht und Föderalismusreform, ZParl 2004, S. 753 ff. 44 BVerfGE 112, 226 ff.; vgl. dazu: Karl-E. Hain/Stefan Uecker, Die Studiengebührenentscheidung – Konzeptionelle Kontinuität in der Kompetenz-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2005, S. 48 ff. 45 Vgl. Bericht der „Gemeinsamen Verfassungskommission“ v. 28.10.1993, BTDrucks. 12/6000, S. 33; sowie: Christian Calliess (FN 14), S. 895; ders., Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa: Ein Lehrstück für die Europäische Verfassung, EuGRZ 2003, S. 181 (187 f.); Arndt Schmehl, Die neue Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG, DÖV 1996, S. 724 (727). 46 Vgl. Thomas Fischer (FN 17), S. 114; Hans Jörg Dietzsche/Sven Hinterseh, Entflechtung der Gesetzgebungskompetenzen – eine Perspektive für „bessere“ Verantwortungszuordnung der verschiedenen Ebenen?, in: Borchard/Margedant (Hrsg.), Der deutsche Föderalismus im Reformprozeß, 2006, S. 11 (17 f.).
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tige Katalog an konkurrierenden Zuständigkeiten, nach dem der Bund künftig noch den Nachweis der Erforderlichkeit erbringen muß, läßt den Vorrang der Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung praktisch leerlaufen und verschiebt die Gesetzgebungskompetenz im konkurrierenden Bereich erneut in Richtung des Bundes. Warum diese voraussetzungslose Vorranggesetzgebung angesichts der umfassenden Kompetenznahme des Bundes nicht gleich offen und positiv als ausschließliche Bundesgesetzgebung daherkommt, bleibt unerfindlich. Kompetenzstreitigkeiten lassen sich damit jedenfalls nicht eliminieren, sondern werden sich vom Maßstab der Erforderlichkeit auf die Reichweite der mitunter allzu pauschalen Gattungsbegriffe der Bundeskompetenz verlagern.47 Um das Absinken der Landeskompetenzen zu kompensieren, war dieses Zugeständnis von Seiten der Länder nur durch die Bereitschaft des Bundes zur Kompetenzübertragung zu haben. Während die Länder in zahlreichen Schlüsselfeldern eigene Legislativzuständigkeiten reklamierten48, bot der Bund zunächst nur einen dürftigen Katalog von nicht besonders wichtigen Materien für eine Rückübertragung an49. Der nunmehr vorliegende Katalog der vom Bund auf die Länder transferierten Gesetzgebungsmaterien bildet gleichsam die Schnittmenge dieses Tauschgeschäfts. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung erhalten die Länder Legislativbefugnisse für den Strafvollzug, das Versammlungsrecht, das Heimrecht, das Wohnungs-, Siedlungs- und Heimstättenwesen, den Grundstücksverkehr und das Pachtwesen in der Landwirtschaft, die Flurbereinigung, die verhaltensbezogene Lärmbekämpfung und Teile des Gewerberechts einschließlich des Ladenschlusses50. Beachtet man, daß auch die verschärfte Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG nur ein kompromißhafter Ausgleich für die im Rahmen der Verfassungsreform von 1994 mißlungene Kompetenzverlagerung 47
So auch: Christoph Möllers, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ foederalismusreform/Anhoerung, S. 5. 48 So in der Bildungs- und Hochschulpolitik, beim Dienstrecht für Landesbeamte, der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, der öffentlichen Fürsorge und der Umweltpolitik; vgl. „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung: Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund“, Beschluß der MPK vom 27.3.2003 sowie „Föderalismusreform: Positionspapier der Ministerpräsidenten“, Beschluß der MPK vom 6.5.2004. 49 Vgl. Brigitte Zypries, Reform der bundesstaatlichen Ordnung im Bereich der Gesetzgebung, ZRP 2003, S. 265 (267); sowie: Positionspapier der Bundesregierung „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung: Positionen des Bundes“ vom 9.4.2003 mit einer deutlich größeren Bereitschaft zur Kompetenzübertragung in der aktualisierten Fassung vom 7.11.2004. 50 Weiterhin zählen hierzu gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n. F.: das Gaststättenrecht, Spielhallen und die Schaustellung von Personen sowie Messen, Ausstellungen und Märkte.
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war, kann man die Neuzuordnung der Gesetzgebungsverantwortung und die Neuaufteilung der Gesetzgebungsmaterien in der konkurrierenden Gesetzgebung als Beitrag zur Kompetenzentflechtung werten. Der auf die Länder übertragene Normbestand überzeugt gleichwohl nicht. Maßstab für eine sachgerechte Kompetenzaufteilung müßte das Subsidiaritätsprinzip sein. Danach kommen für eine Rückübertragung alle Aufgaben in Betracht, die alleiniger Befassungsgegenstand der Landesgesetzgebung sein können, während nur solche, die in ihrem sachlichen Zuschnitt über den Kompetenzbereich der Länder hinausreichen, wesensgemäß vom Bund wahrgenommen werden müssen.51 Eine solche Sachgesetzlichkeit ist nicht erkennbar, wenn das grundrechtlich weitgehend vorgeprägte Versammlungsrecht auf die Länder übertragen wird, während aus der öffentlichen Fürsorge nur das Heimrecht in die Verantwortung der Länder übergeht, obwohl dieser Bereich angesichts unterschiedlicher Lebenshaltungskosten im Bundesgebiet keiner umfassenden bundeseinheitlichen Regelung bedarf. Angesichts der Forderung aufkommensneutraler Lösungen war eine sachgerechte Kompetenzverteilung einer immanenten Reformbarriere ausgesetzt. Die Ursache hierfür lag in der weitgehenden Ausklammerung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, die Reformoptionen mehr als nötig begrenzte.52 Die tiefsitzende Furcht vor föderaler Ungleichheit und die Tendenz zur Besitzstandswahrung53 spiegelt sich auch in der Kritik an einer Vielzahl von Einzelkompetenzen. Mit der Verlagerung des Strafvollzugs in die Hand der Länder würde abgesehen von einer unterschiedlichen Handhabung des Vollzugs das Ziel der Resozialisierung aus den Augen verloren.54 Die baulichen und personellen Mindeststandards in der Alten- und Behindertenpflege könnten in Zeiten knapper Haushalte mit der Verantwortung der Länder für das Heimrecht in eine konkurrenzbedingte Abwärtsspirale geraten.55 Weit größere Gefahren für eine Nivellierung der gestalterischen Spielräume dürften indes von der Neigung der Länder zur Selbstkoordination ausgehen.56 51
Edzard Schmidt-Jortzig, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalis musreform/Anhoerung, S. 5. 52 Wolfgang Renzsch (FN 18), S. 94 f. 53 Georg-Berndt Oschatz, Die Kompetenzsicherung im Exekutiv- und Verbundföderalismus, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 87 (90). 54 Vgl. Heinz Müller-Dietz, Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug, ZRP 2005, S. 156 (158). 55 Götz Frank, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/ Anhoerung, S. 6 f. 56 Vgl. dazu: Jost Pietzcker, Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Starck (Hrsg.) Zusammenarbeit der
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Bereits jetzt planen sie für wichtige Gesetzesvorhaben ihrer neuen Landeskompetenzen die Erstellung abgestimmter „Musterentwürfe“. Auch wenn keine Pflicht der Länder zur Uneinigkeit besteht57, wäre es eine Verkennung des föderalen Wesensgehalts, wenn man die Selbständigkeit der Aufgabenwahrnehmung als bloßes Privileg der Gliedstaaten begreift, weil originäre Landeskompetenzen auch ein Mindestmaß eigenverantwortlicher Ausübung fordern.58 3. Die Abschaffung der Rahmengesetzgebung und die Paradoxie der Abweichungsgesetzgebung Nachdem die Abgrenzung zwischen Rahmen- und Detailregelung trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen war, bestand frühzeitig Einvernehmen in der Absicht, die Zuständigkeitskategorie der Rahmengesetzgebung abzuschaffen. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung die Bundeskompetenz quantitativ und qualitativ begrenzt. Allerdings war die Rahmengesetzgebung als kooperative Rechtsetzungsform von Bund und Ländern bereits strukturell auf eine Aufgabenverflechtung angelegt und verhinderte eine klare Zuordnung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten.59 Aus Sicht der Länder bot die Abschaffung der Rahmengesetzgebung den besten Weg, um Übergriffen des Bundes entgegenzuwirken und größere Gestaltungsmöglichkeiten in den für sie besonders relevanten Zuständigkeitsfeldern der Hochschulpolitik, des Beamtenrechts und der Umweltpolitik zu erhalten. Aus Bundessicht genügte die Rahmengesetzgebung nicht den Anforderungen an eine unionskonforme Umsetzung der EU-Richtlinien, da sich das zweistufige Verfahren auf Bundes- und Landesebene gerade im Teilbereich des Umweltrechts als extrem langwierig erwiesen hatte. Anfänglich wurde eine Ersetzung der Rahmendurch eine Grundsatzgesetzgebung nach dem Vorbild der Kompetenznorm für das Haushaltsgrundsätze- und Stabilitätsgesetz (Art. 109 Abs. 3 GG) und der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsfigur des „MaßGliedstaaten im Bundesstaat, 1988, S. 17 ff.; Hartmut Klatt, Intraföderale Beziehungen im kooperativen Bundesstaat, VerwArch. Bd. 78 (1987), S. 186 ff.; HansJochen Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HVerfR, 21994, § 22 RN 124 ff. 57 So bereits: Theodor Maunz, Pflicht der Länder zur Uneinigkeit, NJW 1962, S. 1641 ff. 58 Martin Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: Brenner/ Huber/Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes: Kontinuität und Wandel, FS für Peter Badura, 2004, S. 363 (372 ff.). 59 Thomas Fischer (FN 17), S. 108; Peter M. Huber, Das Bund-Länder-Verhältnis de constitutione ferenda, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 21 (32).
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stäbegesetzes“ erwogen.60 Die Idee einer Grundsatzgesetzgebung überzeugte allerdings nicht, da auch die neue Einkleidung die Gefahr einer ins Detail gehenden Bundesregelung nicht ausgeschlossen und die mangelnde Europatauglichkeit nicht beseitigt hätte.61 Um dem gemeinsamen Anliegen einer stärkeren Aufgabenentflechtung näher zu kommen, schien vielmehr eine vollständige Überführung der Materien in die Landes- oder Bundeszuständigkeit naheliegend. Im Beamtenrecht wurde dieses Entflechtungsziel mit der Aufgabe der Rahmenkompetenz für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Landes- und Kommunalbeamten (Art. 75 Nr. 1 GG) und der gleichzeitigen Aufhebung der konkurrierenden Bundeskompetenz für ein einheitliches Besoldungsund Versorgungsrecht (Art. 74a GG) erreicht. Künftig kann der Bund nur noch die Rechtsverhältnisse seiner eigenen Beamten (Art. 73 Nr. 8 GG) und als konkurrierende Zuständigkeit den Kernbestand der beamtenrechtlichen Statusrechte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG n. F.) regeln. Hingegen wurde den Ländern die Verantwortung für die Laufbahnen sowie die Besoldung und Versorgung der Landes- und Kommunalbeamten übertragen. Die Rechtseinheit im Laufbahn- und Besoldungsrecht war Anfang der 70er Jahre eingeführt wurden, um einen unerwünschten Besoldungswettlauf der Länder, etwa bei der Rekrutierung von Lehrern und Polizeibeamten, entgegenzuwirken. Daß gerade die finanzschwachen Länder die Rückübertragung der Besoldungskompetenz nutzen werden, um durch eine Besoldungsabsenkung Einsparpotentiale zu schaffen, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Der Grundsatz amtsangemessener Alimentation62 verhindert jedoch, daß die Beamtenbesoldung zu einer variablen Größe wird, die sich einfach nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der öffentlichen Hand richtet.63 Die Besoldung der Landesbeamten hängt nicht von der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der jeweiligen Dienstherrn ab64, sondern muß sich an den wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnissen und damit an der Maßstabsgrenze des allgemeinen Lebensstandards im jeweiligen Land orientieren.65 Daß die Bezüge der Beamten dabei auch herabgesetzt werden können, ist 60 Vgl. zu diesem Vorschlag: Wolfgang Arndt u. a., „Entflechtung 2005“: Zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsverantwortung im deutschen Föderalismus, Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“, 2000, S. 22 f. 61 Peter M. Huber (FN 59), S. 33. 62 BVerfGE 8, 1 (14) in std. Rspr. [E 44, 263 (265); 55, 372 (392); 81, 363 (375); 101, 116 (121)]; vgl. auch: Günther, Norbert, Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987, S. 85 ff. m. w. N. 63 BVerfGE 44, 249 (264). 64 So die Befürchtung von Frank Götz (FN 55), S. 5. 65 Vgl. Wito Schwanengel, Die Wiedereinführung des Berufsbeamtentums in den neuen Ländern, 1999, S. 154 ff.
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angesichts der Personalhoheit der Länder durchaus sachgerecht. Hingegen ist die Erweiterung des Art. 33 Abs. 5 GG um eine Fortentwicklungsklausel überflüssig und schädlich.66 Die Vorschrift will das Berufsbeamtentum als inzidenten Bestandteil der Gewaltentrennung erhalten und durch einen Kernbestand an Strukturprinzipien sichern.67 Die hergebrachten Grundsätze belassen dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum für eine zeitgemäße Fortentwicklung des Beamtenrechts. Die Flexibilität und Grundsatzfestigkeit des Art. 33 Abs. 5 GG bedarf daher keiner Fortentwicklungsklausel. Sie ist überdies schädlich, weil sie die Gefahr des Mißbrauchs impliziert und als Vorwand und Anlaß für einen ideologisch motivierten Zugriff auf das Beamtenrecht dienen kann. Bei den Rahmenmaterien des Hochschul- und Umweltrechts bestand indes eine Differenz in der Frage, in welche Richtung die Einzelmaterien verlagert werden sollten. Im Ergebnis des angesprochenen Tauschgeschäfts erhielt der Bund beim Hochschulrecht nur den bildungspolitischen Restposten für Hochschulzulassung und -abschlüsse (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG n. F.), bekam dafür aber durch die Überführung der umweltrelevanten Materien in die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28–32 GG n. F.) die Möglichkeit zu einer Arrondierung des Umweltrechts für das avisierte Ziel eines allgemeinen Umweltgesetzbuchs. Dieser Effekt wird jedoch durch Art. 73 Abs. 3 GG n. F. wieder konterkariert, weil die Länder in den genannten Materien abweichende gesetzliche Regelungen treffen können. Aus Gründen der Widerspruchsfreiheit wurden die diesbezüglichen Kompetenztitel zugleich vom Erforderlichkeitskriterium des Art. 72 Abs. 2 GG ausgenommen. Im Naturschutz kann damit künftig jedes Land mit eigenen Gesetzen von den einheitlichen Bundesvorgaben abweichen, etwa bei der Nutzung des Grundwassers, dem Hochwasserschutz oder den Kriterien für die Ausweisung von Naturschutzgebieten. Eine echte Länderfreundlichkeit ist damit aber auch nicht verbunden, weil die neue Abweichungsbefugnis ihre Grenze in einem vage formulierten Abweichungsverbot für die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes findet (Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 n. F.). Diese Grundsatzkompetenz des Bundes knüpft damit in Wahrheit an die gerade verabschiedete Rahmenkompetenz an. Angesichts dieser Systematik dürfte ein umweltpolitisches Durcheinander in der Staatspraxis vorprogrammiert sein. Während das Immissionsschutzrecht unangefochten bei der Zentralgewalt verbleibt, könnte das Naturschutzrecht in einen patchworkartigen 66
Ulrich Battis, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/ Anhoerung, S. 1 ff. 67 Wito Schwanengel (FN 65), S. 90 f.; Detlef Merten, Das Berufsbeamtentum als Element deutscher Rechtsstaatlichkeit, in: Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung, 1997, S. 145 (161).
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Zustand übergehen, so daß zumindest der kühne Plan eines Umweltgesetzbuchs auf brüchiger Grundlage steht.68 Konstruktiv bedeutet die Einführung dieses neuen Typs der „Abweichungsgesetzgebung“ nach Art. 72 Abs. 3 GG n. F. einen Paradigmenwechsel, der mit der bundesstaatlichen Logik des Vorrangs der gesamtstaatlichen Norm (Art. 31 GG) bricht und die Gefahr einer unübersichtlichen Rechtszersplitterung in sich trägt. Der Bund hat zwar eine umfassende Regelungsmöglichkeit, aber wenn er etwas regelt, ist nicht mehr sichergestellt, daß damit normativ das Abschließende gesagt ist.69 Im Ergebnis führt die Abweichungsgesetzgebung zu einem Flickenteppich landesrechtlich differenzierter Zugriffsregelungen und einem partikularen Bundesrecht, das seinen Anspruch auf bundesweite Geltung aufgibt und praktisch als „Auffangrecht“ für fehlendes Landesrecht fungiert.70 Das Geltungsverhältnis von Bundesrecht und abweichendem Landesrecht regelt Art. 73 Abs. 3 S. 3 GG n. F. mittels der lex posterior-Regel. Damit ist aber lediglich Geltungsklarheit in der Abfolge von Bundes- und Landesrecht geschaffen. Da abweichendes Landesrecht keine Sperrwirkung gegenüber nachfolgendem Bundesrecht entfaltet, ist der Bund auch nach einem Tätigwerden der Länder nicht daran gehindert, die entsprechende Materie seinerseits zu novellieren. Zwar steht dem bloßen Neuerlaß ein und desselben Bundesrechts der Grundsatz der Bundestreue entgegen71, ansonsten können sich Bundes- und Landesgesetzgeber aber aus beliebigen Gründen abwechseln. Dieses „Pingpongspiel“72 um die neueste Regelung trägt die Gefahr eines föderalen Gesetzgebungswettlaufs in sich, der mit den Grundsätzen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit unvereinbar ist. Daran ändert auch die sechsmonatige Sperrfrist für das Inkrafttreten der Bundesgesetze nichts. Im Falle einer Gesetzesnovelle des Bundes schützt sie den Bürger nicht vor wechselnden Rechtsbefehlen, weil der Anwendungsvorrang des Bundesgesetzes entweder das abweichende Landesgesetz ersetzt oder eine erneute Landesabweichung 68
Martin Stock (FN 23), S. 117. Edzard Schmidt-Jortzig, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalis musreform/Anhoerung, S. 8. 70 So auch im Rahmen der Sachverständigenanhörung in der Bundesstaatskommission: Ferdinand Kirchhof, Kommissions-Drs. 0011, S. 6 f.; Rupert Scholz, Kommissions-Drs. 0005, S. 5 f.; Hans Meyer, Kommissions-Drs. 0013, S. 20 f.; während Huber die Zugriffsgesetzgebung als geeignetes Instrument betrachtet, um nach dem Prinzip von „trial and error“ den föderalen Wettbewerb zu beleben; Peter M. Huber, Kommissions-Drs. 0008, S. 8 f.; ders. (FN 59), S. 30 ff. 71 So: Johannes Dietlein, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismus reform/Anhoerung, S. 2. 72 Edzard Schmidt-Jortzig (FN 69), S. 8. 69
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erzwingt. Vollkommene Konfusion droht, wo landesrechtliche Abweichung und bundesgesetzliche Novellierung nicht das Gesetz als Ganzes betreffen. In diesem Fall wäre die verbindliche Gesetzeslage nicht nur temporär, sondern auch inhaltlich unklar. Wenn das jüngere Gesetz eine Materie nicht im gleichen Umfang regelt wie das ältere, ist es möglich, daß dieses zum Teil fortgilt.73 Nur mit einem Rückgriff auf Inhalt und Reichweite der vorrangigen Einzelregelungen ließe sich die Geltung eines Bundes- oder abweichenden Landesgesetzes erkennen. Ändert der Bundesgesetzgeber nur die Einzelnorm des zugrundeliegenden Bundesgesetzes, besteht überdies die Gefahr, daß die verbleibenden Abweichungsregelungen der Länder ihren Sinnzusammenhang verlieren. Auch wenn sich das Abweichungsinteresse der Länder in Grenzen hält, droht die Bundesgesetzgebung aufgrund der Abweichungskompetenz unter Konsensdruck zu geraten, in Folge dessen die politische Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung des Bundesrechts nicht mehr klar zuzuordnen ist.74 Im Ergebnis führt dieser neue Gesetzgebungstyp jedenfalls nicht zu weniger, sondern mehr vertikaler Kooperation und Verflechtung und konterkariert damit das mit der Abschaffung der Rahmengesetzgebung verfolgte Reformziel einer transparenten Kompetenzordnung. IV. Die Reform des Beteiligungsföderalismus: Zirkelschluß beim Abbau von Zustimmungserfordernissen Das Übergewicht des Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung führte zu einem kompensatorischen Bedeutungszuwachs des Bundesrates. An die Stelle der verlorengegangenen Landesstaatsgewalt trat die Mitwirkung der Länder an der Bundesstaatsgewalt. Während die Ausweitung und Verdichtung der Bundesgesetzgebung die Entmachtung der Landtage perpetuierte, gewannen die Landesregierungen über den Bundesrat Einfluß auf die Gestaltung des Bundesrechts.75 Angesichts dieses „Beteiligungsföderalismus“ entwickelte sich der Bundesrat, ursprünglich als „föderative Bremse“ zur Bewahrung gliedstaatlicher Eigenständigkeit gedacht76, zu einem Beförderer der Unitarisierung und Politikverflechtung. Vor allem die Zustimmungsrechte ließen die „Vetomacht“ des Bundesrates zu einem bestimmenden Faktor der Gesetzgebung des Bundes werden. Das Regel-Ausnahme-VerReinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 92005, § 7 f. Johannes Dietlein (FN 71), S. 2. 75 Vgl. Hartmut Klatt (FN 14), S. 51; Rudolf Dolzer, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat: Entwicklungsstand und Reformbedarf, in: VVDStRL Bd. 58 (1999), S. 7 (23 f.); Hermann Eicher, Der Machtverlust der Landesparlamente: Historischer Rückblick, Bestandsaufnahme, Reformansätze, 1988, S. 76 ff. 76 Stefan Oeter (FN 16), S. 264. 73 74
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hältnis zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen77 verkehrte sich in der Staatspraxis in sein Gegenteil. Entgegen der vielfach kolportierten Auffassung hat sich der Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze allerdings nur allmählich und keinesfalls linear von rund 50% auf 60% erhöht, während sich die Anzahl der eine Zustimmungsbedürftigkeit auslösenden Zuweisungsnormen fast vervierfacht hat.78 Dies besagt aber zunächst wenig über die praktische Bedeutsamkeit des Zustimmungsrechts. So beruhen allein 50% aller Zustimmungsfälle auf der ursprünglich als Ausnahme konzipierten Ermächtigung des Bundesgesetzgebers nach Art. 84 Abs. 1 GG, mit Zustimmung des Bundesrates Regelungen über die Behördenorganisation und das Verwaltungsverfahren zu treffen. Beachtet man, daß die Regelform der bundesstaatlichen Aufgabenteilung nach Art. 83 GG die ländereigene Ausführung der Bundesgesetze ist, stellen die Ingerenzrechte des Bundes einen Einbruch in die Organisationshoheit der Länder als Ausfluß ihrer Eigenstaatlichkeit dar. Andererseits gewann der Bundesrat auch jenseits spezifischer Länderinteressen maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung des Bundesrechts, weil sich die Zustimmungspflicht nach der „Einheitsthese“ des Bundesverfassungsgerichts79 nicht auf die sie auslösende Einzelvorschrift beschränkte, sondern sich auf das Gesetz als Ganzes bezog.80 Auch wenn der Bundesrat nur wenigen Gesetzen seine Zustimmung endgültig verweigerte, bewirkte die Blockademöglichkeit in der Dunkelkammer des Vermittlungsausschusses häufig substantielle Abstriche am ursprünglichen Gesetzgebungsvorhaben. Wollte der Bundestag dies verhindern, mußte er die materiellen von den verfahrensrechtlichen Regelungen trennen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht diese Praxis des Bundesgesetzgebers verfassungsrechtlich abgesegnet hat und überdies eine Abkehr von der „Einheitsthese“ ankündigte81, gehörte Art. 84 Abs. 1 GG angesichts der über Jahrzehnte hinweg unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern82 zu den wichtigsten Ursachen der Politikverflechtung im bundesstaatlichen Gefüge des Grundgesetzes.83 77
BVerfGE 1, 76 (79); 37, 363 (383). Vgl. Christian Dästner, Zur Entwicklung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen seit 1949, ZParl. 2001, S. 290 (293). 79 BVerfGE 37, 363 (381); 55, 274 (319); im Ansatz bereits BVerfGE 8, 274 (294). 80 Vgl. Hans-Heinrich Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 5 2005, Art. 84 RN 23 ff. m. w. N.; Armin Dittmann, in: Sachs, GG-Kommentar, 3 2003, Art. 84 RN 15; Christoph Gramm, Gewaltenverschiebung im Bundesstaat, AÖR Bd. 124 (1999), S. 212 (221 ff.). 81 BVerfGE 105, 313 (339). 82 Vgl. Gerd Strohmeier, Der Bundesrat: Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, ZParl. 2004, S. 717 (722). 83 Peter M. Huber (FN 59), S. 34. 78
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Demgemäß war es oberstes Ziel, durch eine substantielle Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen zu verringern. Der einfachste Weg zur Entflechtung des Beteiligungsföderalismus wäre es gewesen, wenn man die Ingerenzrechte des Bundes einfach gestrichen hätte. Diese Lösung war aber nicht mehrheitsfähig, weil der Bund zur Sicherung materieller Standards ein Mindestmaß an verfahrensrechtlichen und organisatorischen Vorkehrungen für unverzichtbar hielt.84 Andererseits hätte der bloße Verzicht auf das Zustimmungserfordernis des Art. 84 Abs. 1 GG dem Bund nicht nur einen ungehemmten Zugriff auf die Organisationshoheit der Länder eröffnet, sondern auch deren Mitwirkungsmöglichkeit an der Bundesgesetzgebung reduziert und damit die Machtverteilung im Bund-Länder-Verhältnis in gravierender Weise verändert. Daraus entstand die Idee, neben den materiellen Zugriffsrechten des Art. 72 Abs. 3 GG n. F. auch ein formelles Zugriffsrecht der Länder auf Verwaltungsvorgaben des Bundes vorzusehen. Dieses legislative Zugriffsrecht sollte es ermöglichen, auf das Zustimmungsrecht des Bundesrates zu verzichten. Betrachtet man indes die Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG genauer, wird im Grunde nur die bisherige Zustimmungsbedürftigkeit durch eine zustimmungspflichtige Sperrbefugnis für abweichendes Landesrecht ersetzt.85 Zunächst bestätigt Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG, daß Anwendung und Vollzug der Bundesgesetze eine Sache der Länder bleibt, die sich dabei nach eigenem Organisations- und Verfahrensrecht richten können. Sodann wird dem Bund aber eine uneingeschränkte und zustimmungsfreie Regelungskompetenz für Organisations- und Verfahrensfragen eingeräumt (Satz 2). Soweit der Bundesgesetzgeber entsprechende Regelungen trifft, besitzen die Länder ein Abweichungsrecht. Durch Verweis auf die lex posterior-Regel des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG n. F. kann der Bund abweichendes Landesrecht durch Novellierung der eigenen Verfahrensvorschriften ersetzen (Satz 4), wobei die Länder durch eine sechsmonatige Sperrfrist für das Inkrafttreten einer späteren bundesgesetzlichen Regelung die Gelegenheit zu erneuten Landesabweichungen erhalten (Satz 3). Das Abweichungsrecht gilt aber nicht uneingeschränkt, weil der Bund über eine Sperrklausel in Ausnahmefällen wegen eines Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung berechtigt ist, abweichendes Verfahrensrecht der Länder auszuschließen (Satz 5). Bundesgesetze, die verbindliches Verfahrensrecht setzen, bedürfen aber weiterhin der Zustimmung des Bundesrats (Satz 6). Angesichts dieser monströsen Regelung, mit der die grundsätzliche Verwaltungshoheit der Länder auf eine Abweichungsbefugnis von bundesgesetzlichen Verwaltungsvorgaben 84
Hans Jörg Dietzsche/Sven Hinterseh (FN 46), S. 14. Vgl. dazu: Edzard Schmidt-Jortzig, Die fehlgeschlagene Verfassungsreform, ZG 2005, S. 16 (19 ff.). 85
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reduziert und durch eine Sperrbefugnis des Bundes konterkariert wird, von einer Vereinfachung des Verfahrensrechts zu sprechen, erscheint reichlich euphemistisch. Die neue zustimmungsfreie Regelungskompetenz des Bundes wird praktisch mit einer Beschränkung seiner Regelungsmacht erkauft. Im Grunde handelt es sich dabei nur um ein Verfahrensangebot, weil der Bund mit einer Organisations- oder Verfahrensregelung die Länder nicht binden kann.86 Angesichts der Neigung des Bundes, die Einheitlichkeit des Gesetzesvollzugs durch verbindliches Verfahrensrecht sicherzustellen, besteht deshalb die latente Gefahr, daß sich die als Ausnahme konzipierte Sperrklausel zur Regel entwickelt. Die mit der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben mitgliedstaatlicher Verwaltungstätigkeit begründete Notwendigkeit abweichungsresistenter Zustimmungsgesetze verstärkt die Annahme einer inflationären Inanspruchnahme der Sperrbefugnis und belegt zudem, daß die Abgrenzung von Organisations- und Verfahrensregelungen mit Unsicherheiten behaftet ist. Um den Bundeseinbruch durch verbindliches Verfahrensrecht zu begrenzen, bedarf es letztlich einer verfassungsgerichtlichen Klärung des „Ausnahmefalls“ und der „Bedürfnisklausel“, die als tatbestandliche Eingrenzungen bereits in ihrem Verhältnis zueinander unklar sind und auch darüber hinaus schwierige Abgrenzungsfragen aufwerfen, etwa hinsichtlich des „Bedürfnisses“ von der „Erforderlichkeit“ i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG.87 Bisher enthielt das Zustimmungserfordernis des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a. F. für die Länder die implizite Möglichkeit, sich gegen finanziell belastende Bundesgesetze zu wehren. Die Staatspraxis belegt, daß vor allem die mit dem Gesetzeszweck verbundenen finanziellen Probleme den Bundesrat veranlaßten, seine Zustimmung zu verweigern bzw. sich abhandeln zu lassen. Zum Ausgleich für die weggefallenen Mitwirkungsbefugnisse im bundespolitischen Gesetzgebungskonzert erhielten die Länder deshalb in Art. 104 Abs. 4 GG n. F. einen neuen Zustimmungstatbestand, der an die Kostenfolgen und die Kostenträgerschaft bei der Ausführung von Bundesgesetzen anknüpft.88 Hinsichtlich der Kostenfolgen erstreckt sich die Zustimmungspflicht auf Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen. Dabei belegen bereits die detaillierten Interpretationsbemühungen zum Terminus „vergleichbarer 86
Christoph Möllers (FN 47), S. 2. Vgl. dazu: Christian Pestalozza, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ foederalismusreform/Anhoerung, S. 6. 88 Vgl. Hans Hofmann, Die Vorschläge der Bundesstaatskommission im Spiegel notwendiger Reformen der Finanzverfassung, in: Borchard/Margedant (Hrsg.), Der deutsche Föderalismus im Reformprozeß, 2006, s. S. 37 (46 f.). 87
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Dienstleistungen“89, der ursprünglich nur zur Erläuterung des Begriffs der „geldwerten Sachleistungen“ diente90, wie wenig vorhersehbar die Auswirkungen dieses neuartigen Zustimmungserfordernisses sind.91 Auch enthält der Verfassungstext keine Begrenzung der Zustimmungspflicht auf Bundesgesetze mit „erheblichen“ Kostenfolgen92, so daß nach dem Wortlaut etwa auch eine geringfügige Erhöhung der Sozialhilfe das entsprechende Gesetz zustimmungspflichtig macht. Hingegen wurde mit der Einfügung der Kostenträgerschaft zumindest ein rechtfertigender Anknüpfungspunkt für die Zustimmungsbedürftigkeit statuiert. Danach sind kostenintensive Bundesgesetze nur dann zustimmungspflichtig, wenn die daraus entstehenden Ausgaben auch von den Ländern zu tragen sind. Da Art. 104 Abs. 4 GG n. F. nicht nur eine Kompensation für verfahrensinduzierte Kosten, sondern eine umfassende Neuregelung der Kostenverantwortlichkeit für den Vollzug von Bundesrecht enthält, läßt sich nicht mit Sicherheit voraussagen, wie extensiv der Bundesrat sein neues Zustimmungsrecht nutzen wird. Deshalb dürfte auch die auf eine Berechnung des Sekretariats der Bundesstaatskommission gestützte Erwartung, die trotz der Kostenregelung von einer Reduzierung der Zustimmungsquote auf 35–40% ausgeht, auf einer unsicheren Prognosegrundlage stehen.93 Von einer Entflechtung des Exekutivföderalismus und einem spürbaren Zuwachs an Handlungsfähigkeit kann jedenfalls mitnichten die Rede sein. V. Die Entflechtung der Gemeinschaftsaufgaben: Detailbegrenzung eines Systembruchs Die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben stellte eine Zäsur im BundLänder-Verhältnis dar, die als problematischer Systembruch schon frühzeitig mit dem Begriff der „Politikverflechtung“ charakterisiert wurde.94 Anfangs mit der Begeisterung für den Gedanken der Planung und Steuerung als „aktives Staatsprinzip“ gelobt95, gerieten die Gemeinschaftsaufgaben bald in 89 Amtl. Begründung zum Gesetzentwurf, BR-Drs. 178/06, S. 44, wobei ein Begleittext aus dem Koalitionsvertrag vom 18.11.2005, Anlage 2 RN 2, eingefügt wurde. 90 Der Begriff „vergleichbarer Dienstleistungen“ wurde erst mit dem Änderungsantrag, BR-Drs. 462/06, eingefügt. 91 Hans Hofmann (FN 88), S. 49. 92 Dies suggeriert indes die Amtl. Begründung zum Gesetzentwurf, BR-Drs. 178/06, S. 16, die im Allgemeinen Teil von einer Zustimmungspflicht bei der „Auferlegung erheblicher finanzieller Verpflichtungen“ spricht. 93 Vgl. Dokumentation (FN 20), S. 862; Amtl. Begründung zum Gesetzentwurf, BR-Drs. 178/06, S. 34. 94 Fritz W. Scharpf, Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus, in: Scharpf/Reissert/Schnabel, Politikverflechtung, Bd. I, 1976, S. 20 f.
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die Kritik, weil der Bund über den „goldenen Zügel“ der Mitfinanzierung eine Art „Angebotsdiktatur“96 ausübte und zahlreiche Einflußmöglichkeiten auf Politikbereiche aus dem Zuständigkeitsbereich der Länder erhielt. Neben dem unkalkulierbaren Risiko für die Haushaltsautonomie der Länder produzierten die Gemeinschaftsaufgaben einen hohen Abstimmungs- und Verwaltungsaufwand und beflügelten Intransparenz und Verantwortungslosigkeit.97 Die Dominanz der Ministerialbürokratie führte zudem zu einer schleichenden Entmachtung der Parlamente, namentlich der Landtage.98 Auch zeigte die Erfahrung, daß die Besitzstandswahrung der Länder eine Schwerpunktbildung nahezu unmöglich machte, so daß Gemeinschaftsaufgaben wie der Hochschulbau praktisch keinerlei Lenkungseffekte entfalteten. Legion sind demgemäß die Stimmen, die eine Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben fordern.99 Aus dem Kanon der Gemeinschaftsaufgaben konnten indes nur der „Hochschulbau“ und die „Bildungsplanung“ abgeschafft werden. Auch wenn man akzeptiert, daß sich hinter der Verbesserung der regionalen Wirtschafts- und Agrarstruktur vor allem Transferleistungen an die ostdeutschen Länder verbergen, bestand auch hier Handlungsbedarf. Da Deutschlands Zukunft sicher nicht im Agrarsektor liegt, läßt sich fragen, ob die mit der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur“ verbundene langfristige Mittelbindung und Prioritätensetzung sachgerecht ist. Weil die Länder Agrarsubventionen schon deshalb aufrechterhalten, weil eine Reduzierung zum Verlust von Agrarstrukturmitteln des Bundes führen würde, sind überdies Fehlsteuerungen intendiert. Ebenso sind mischfinanzierte Maßnahmen zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur durch eine Verfälschung des Wirtschaftlichkeitsprinzips, eine mangelnde Erfolgskontrolle und eine nicht am Bedarf orientierte Mittelzuweisung gekennzeichnet.100 Durch die Streichung der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“ (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG a. F.), die Abschaffung der Rahmenkompetenz für das Hochschulrecht (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG a. F.) und die Neugestaltung des 95 Vgl. Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, Kommission für die Finanzreform (Hrsg.), 2. Aufl. 1966, S. 20 f. 96 Ingo v. Münch, Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, VVDStRL Bd. 31 (1973), S. 51 (75 f.). 97 Hans Hofmann (FN 88), S. 38. 98 Hartmut Klatt (FN 14), S. 51 f.; Stefan Oeter (FN 16), S. 292 ff.; Vgl. auch Frido Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: VVDStRL Bd. 37 (1979), S. 215 (238 ff.), der den Begriff der „vertikalen Fachbruderschaften“ prägte. 99 Peter M. Huber (FN 59), S. 39 m. w. N. 100 So der Präsident des Bundesrechnungshofs, Stellungnahme zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/aus schuesse/a06/foederalismusreform/Anhoerung, S. 4.
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Mischfinanzierungssystems der Finanzhilfen des Bundes (Art. 104b GG n. F.) erhielten die Länder die grundsätzliche Allzuständigkeit und Finanzierungsverantwortung für den Bereich von Schule und Hochschule. Im Bereich der Gesetzgebung wurde lediglich der Zu- und Abgang an Hochschulen in die voraussetzungslose konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes übernommen. Wenn die Länder gleichwohl von einem entsprechenden Bundesgesetz abweichen können, ist diese Zugriffskompetenz von der nicht unberechtigten Sorge geprägt, der Bund könnte mit dieser scheinbar punktuellen Kompetenz hochschulpolitische Detailfragen regeln.101 Das mit Art. 104b Abs. 1 GG n. F. eingeführte Verbot von Finanzhilfen des Bundes für Aufgabenbereiche, die nicht Gegenstand seiner Gesetzgebungsbefugnis sind, sowie die zeitlich begrenzte und degressive Gewährung der Finanzhilfen (Abs. 2) schützen die föderale Kompetenzordnung davor, daß sich der Bund neue Kompetenzen wie bei dem sogenannten Ganztagsschulprogramm „erkauft“. Der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Kampfbegriff eines „Kooperationsverbots“ ist in der Sache zwar unzutreffend, weil nicht eine auf der Verteilung von Zuständigkeiten beruhende Kooperation verboten wurde, sondern ein Mitregieren des Bundes im Aufgabenbereich der Länder. Gleichwohl versinnbildlicht er die Auseinandersetzungen um die Reichweite der Bundeshilfe im Hochschulbereich. Durch das Verbot einer Mitfinanzierung von Landesaufgaben ist eine Mischfinanzierung nur noch im Rahmen der neuen Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91b GG erlaubt. Neben der Förderung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, wie den Max-Planck-, Helmholtz- und Leibnitz-Instituten, gestattete der ursprüngliche Entwurf des Art. 91b Abs. 1 GG für den Bereich der Hochschulen nur eine limitierte Mitfinanzierung von Forschungsvorhaben und Forschungsbauten. Dies intendierte eine Trennung von Forschung und Lehre, die nicht nur mit der tragenden Universitätsidee schwerlich vereinbar gewesen wäre, sondern vor allem die Schere zwischen der Finanzierung der Forschung und der Personal- und Sachausstattung der Lehre weiter geöffnet hätte. Trotz der befürchteten strukturbildenden Sogwirkung einer Bundesfinanzierung stimmten die Länder deshalb dem hochschulpolitischen Zusammenwirken mit dem Bund zu, um mit dem Bypass bundesfinanzierter Sonderprogramme, wie dem angestrebten Hochschulpakt zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze, der chronischen Unterfinanzierung der Hochschullehre bei steigenden Studentenzahlen begegnen zu können. Nach der Neufassung des Art. 91b Abs. 1 Nr. 2 GG können an Hochschulen aber weiterhin nur „Vorhaben“ der Wissenschaft und Forschung und nicht „Einrichtungen“ gefördert werden. Damit erscheint es zumindest zweifelhaft, ob die verschämt als „Exzellenzinitiative“ bezeichnete Bundesfinanzierung von Eliteuniversi101
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täten künftig noch zulässig ist.102 Nachdem eine gesamtstaatliche Bildungsplanung niemals wirksam wurde103 und der „PISA-Schock“ anschaulich belegte, daß eine Vergleichsuntersuchung im Bildungswesen mehr bewegen kann als halbherzige Modellversuche, eröffnet der neue Art. 91b Abs. 2 GG die Möglichkeit einer gemeinsamen Bildungsevaluation, auf deren Grundlage die Länder, unbeschadet gemeinsamer Empfehlungen, eigene Folgerungen ableiten können. VI. Schlußbemerkung Diese größte Grundgesetzänderung soll dem deutschen Bundesstaat eine Frischzellenkur verordnen und die ausgetrockneten föderalen Strukturen mit neuem Leben füllen. Angesichts der unverkennbaren Diskrepanz zwischen den abstrakten Modernisierungsforderungen und den konkreten Reformmaßnahmen erscheint es indes fraglich, ob das Bekenntnis nach größerer Vielfalt, geringerer Politikverflechtung und klarerer Verantwortungszurechnung auch tatsächlich eingelöst wird. Die Föderalismusreform in der jetzt festgeschriebenen Fassung bleibt mutlos und in wichtigen Punkten inkonsequent und konzeptionell unausgereift. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorherzusehen, daß die jetzige Reforminitiative nur eine Zwischenetappe des bundesstaatlichen Umbaus ist. Wenn die Einwohner Barcelonas ironisch vermerken, daß die Fertigstellung der Sagrada Família das Ende ihrer Stadt bedeute, dürfte dem deutschen Bundesstaat noch ein langes Leben beschieden sein.
102 Vgl. Stellungnahme des DAAD zur gemeinsamen Expertenanhörung von Bundestag und Bundesrat, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusre form/Anhoerung, S. 5, in der die Zulässigkeit der institutionellen Förderung ebenfalls bezweifelt wird, es sei denn, man interpretiert den Begriff des „Vorhabens“ so weit, daß er jede Projektförderung erfaßt, auch wenn davon „Einrichtungen“ profitieren. 103 Vgl. Uwe Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein-Starck, GG-Kommentar, 52005, Art. 91b RN 6 f., wonach sich die BLK heute weitgehend mit Stellungnahmen und Empfehlungen beschäftigt, deren praktische Relevanz vorsichtshalber nicht evaluiert wird, während die Bund-Länder-Zusammenarbeit durch eine Selbstkoordination der Länder in der KMK ersetzt wurde.
Verzeichnis der Referenten und Diskussionsleiter Präsident des Landtages Rheinland-Pfalz Christoph Grimm Prof. Dr. Peter Michael Huber Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof Prof. Dr. Siegfried Magiera Prof. Dr. Dr. Detlef Merten Prof. Georg-Berndt Oschatz Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier Dr. Horst Risse Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Wito Schwanengel Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern Prof. Dr. Ewald Wiederin