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German Pages 694 Year 2023
Jonas Scherr Die Zivilisierung der Barbaren
Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte
Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz
Band 156
Jonas Scherr
Die Zivilisierung der Barbaren
Eine Diskursgeschichte von Cicero bis Cassius Dio
D.30
ISBN 978-3-11-133146-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-133181-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-133193-5 ISSN 1862-1112 Library of Congress Control Number: 2023944748 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
„Le barbare, c’est d’abord l’homme qui croit à la barbarie.“ Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale deux. Paris 1973, 384.
| τέκνοις ἐμοῖς.
Vorwort Dieses Buch hat eine Reise hinter sich. Es begann als Idee im Kontext der Abfassung meiner Magisterarbeit im Jahr 2010, wurde Exposé im Sommer 2011, und schließlich Dissertationsschrift bis in den Sommer 2015. Es folgte die Verteidigung der Arbeit Anfang 2016 – und angesichts großer, neuer Aufgaben als Vater (2015 und 2017) sowie Inhaber einer vollen Stelle als Assistent am Lehrstuhl für Antike Geschichte und Kultur an der Universität Stuttgart (ab Ende 2015) leider erst einmal nicht die Überarbeitung des Manuskripts zur Publikation. Als mich Anfang 2019 eine lebensbedrohliche Infektion niederstreckte, warf mich dies erneut aus der bereits eingeschlagenen Bahn. Kaum rekonvalesziert, schlossen sich die wegen vereinbarter Fristen drängender werdenden Arbeiten am Polybios-Sammelband mit M. Gronau und S. Saracino an, der Anfang 2022 publiziert wurde (Baden-Baden). So sehr es mich ärgert, dass dieses Buch nun so spät veröffentlicht wird, so sehr muss ich anerkennen, dass ihm die lange Möglichkeit der Reflexion und der Wieder- und Neubewertung doch auch gutgetan hat. Im Anschluss an ‚den Polybios‘ gelang es mir endlich, den vorliegenden Text der Arbeit vollends zu aktualisieren – insbesondere freilich im Hinblick auf neu erschienene Forschungsliteratur –, zu kürzen, wo dies möglich und nötig war, zu erweitern, wo das angebracht schien, und das Manuskript publikationsfertig zu machen. Im August 2022 reichte ich es zur Begutachtung für die Reihe „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte“ ein, für die es zu Weihnachten 2022 akzeptiert wurde. Nach einigen Verzögerungen begannen dann ab Juni 2023 die Arbeiten an Satz, Index usw. Dementsprechend ist hinsichtlich des Forschungsstandes das verarbeitet, was mir bis Sommer 2022 zu rezipieren möglich war; nur in Ausnahmefällen wurde später erschienene Literatur gelegentlich noch eingearbeitet. Hier ist nun Dank auszusprechen. Dieser gilt zunächst und zuvörderst meinen beiden Doktorvätern, Prof. Dr. F. Bernstein und Prof. Dr. R. Bichler, sowie den Herausgebern der Reihe, Prof. Dr. M. Deufert, Prof. Dr. H.-G. Nesselrath und Prof. Dr. P. Scholz. Die folgenden Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, weil sie den ganzen oder Teile des Text(es) in irgendeinem Stadium der Arbeit gelesen und kommentiert und/oder mit mir besprochen haben (wozu die Vorgenannten freilich ebenfalls zählen), seien in alphabetischer Folge angeführt: Prof. Dr. F. Daubner, Dr. P. Deeg, D. Eibeck, M.A., Dr. C. Fron, Dr. F. Groll, M. Gronau, Dr. M. Hörnes, E. Kölmel, M.A., Prof. Dr. H. Leppin, Prof. Dr. C. Mann, Dipl.-Päd. J. Scherr, L. Scherr-Templin, M.Sc., W. Scherr sowie Prof. Dr. G. Woolf. Hinzu kommen die Teilnehmer eines Seminars an der Universität Stuttgart im Sommersemester 2020 und die Zuhörer und Diskutanten meiner diver-
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VIII | Vorwort
sen Vorträge u.a. in Bozen, Erfurt, Frankfurt/M., Innsbruck, Stuttgart und Trient, darunter besonders die Mitglieder der Stuttgarter althistorischen Abteilung des Historischen Instituts, die des Bernstein’schen Privatissimum sowie (in partieller Überschneidung damit) jene des Graduiertenkollegs „Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert“. Im Rahmen des letzteren ist meine Arbeit an diesem Buch mit einem dreijährigen Promotionsstipendium gefördert worden, wofür ich ebenfalls sehr herzlich zu danken habe. In der Überarbeitung des Manuskripts profitierte ich zuletzt schließlich von kurzen, aber äußerst produktiven Gastaufenthalten an der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts in München, die sich über das Jahr 2023 verteilten. Auch für die freundliche Gewährung derselben möchte ich an dieser Stelle meinen Dank abstatten. Derselbe gilt J. Mohrmann, T. Schmidt und T. Schwegler, die mir bei der Erstellung der Register eine große Hilfe waren. Für die angenehme und reibungslose Zusammenarbeit bei der Finalisierung und Drucklegung des Buches danke ich den zuständigen Mitarbeiterinnen des Verlags, namentlich J. Bartz, E. Kolla und K. Legutke. Mein letzter und größter Ausdruck des Danks richtet sich schlussendlich an meine Familie, und ganz besonders an meine Frau Jennifer, die mir von der ersten Sekunde der Entstehung dieses Buches an den Rücken gestärkt und mich unterstützt hat. Ohne sie hätte es sicherlich nicht in der vorliegenden Form entstehen können. Esslingen am Neckar, im Oktober 2023
Inhalt Vorwort | VII Abkürzungsverzeichnis | XIII Einleitung|1 Zur Einführung|1 Vorhaben|4 Forschungsstand|16 Aufbau des Buches|33
Teil I: Zivilisatoren und Barbaren|37 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4
Traditionslinien|39 Mythische Kulturheroen und Zivilisationsstifter|39 Herakles – Hercules|44 Dionysos – Liber Pater – Bacchus|53 Die Kulturbringer Roms|66 Rhetorische Traditionen|71 Der „Euagoras“ des Isokrates|71 Die Polis als Kulturbringerin|81 Plutarch, Alexander und das Erbe des Hellenismus|86 Alexander, Zivilisator der Barbaren|86 Die Frage der Traditionalität|109 Datierung und Zeitkontext|112 Individualität und Originalität|116
2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.6
Individuelle Zivilisatorenfiguren|125 Pompeius|125 Caesar|139 Augustus|161 Selbstzeugnis|162 Augusteische Dichtung|164 Biographie, Historiographie und weitere Genres|174 Quinctilius Varus|201 Corbulo (und Claudius)|211 Agricola (und Domitian)|217
X | Inhalt
2.7 2.8 3 3.1 3.1.1
Traian|232 Das Bild des Zivilisators und die Zweite Sophistik|245
3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.3.8
Kollektive Kulturbringer|270 Athen, die Mutter der Zivilisation|270 Von Delphi nach Sizilien: Zivilisatorische Athenbilder bis in späthellenistische Zeit|270 Von Athen nach Rom: Zivilisatorische Athenbilder bis in hadrianische Zeit|274 Von Kleinasien nach Athen: Der Panathenaikos des Aelius Aristides|279 Von Athen ins Barbaricum: Massilia, die Gallier und Rom|290 Rom, Italien und das Imperium Romanum: Erben und Förderer der Zivilisierung|300 Cicero, der römische Imperialismus und die Zivilisierung der Barbaren|301 Die augusteischen Dichter|305 Livius|312 Strabon und die römischen Zivilisatoren|313 Plinius der Ältere|325 Martial, Tacitus und Iuvenal|334 Die Romrede des Aelius Aristides|343 Ein oikumenisches Idyll? Mit Tertullian in die Spätantike|356
4
Zusammenfassung|361
3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.3.1
Teil II: Zivilisierung ohne Zivilisatoren?|373 1 1.1 1.2
Umwelteinflüsse|375 Die Wanderung und Wandlung der Galater|377 Die Kimbern in Italien|386
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2
‚Kontaktmetamorphosen‘|391 Ein ethnographischer Topos|392 Strabon|393 Pomponius Mela|402 Tacitus|405 Salmakis|409
Inhalt | XI
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 3.1.9 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4
5
Der sich selbst zivilisierende und der zivilisierte Barbar|418 Einzelne Fallstudien: Zwischen Fürsprache und Selbstaussage|421 Cicero und Cornelius Balbus|421 Pompeius Trogus|424 Ovid und der Thrakerkönig|427 Claudius und die Provinzialen|430 Statius und Septimius Severus|434 Martial: Ein iberisches Rom|439 Favorinus von Arelate|444 Lukian von Samosata: Angeklagte und Skythen|460 Apuleius von Madauros: Zivilisiertheit vor Gericht|476 Zivilisierte Barbaren als Zivilisatoren: Die numidischmauretanischen Könige|486 Geiseln, Assyrer, ägyptische Bauern und kein Ende|514 Imitatione falsa – scheiternde Zivilisierung|523 Missbrauch der Zivilisation: Der pannonische Aufstand und der Thrakerkrieg|524 Irrwege der Kultur: Trimalchio und Orodes|528 Tacitus und das Scheitern der Zivilisierung von Barbarensprösslingen|534 Unzivilisierbar? Aulus Gellius, Herodes Atticus und M. Bassaeus Rufus|541 Zusammenfassung|546
Auswertung: Quid ergo?|553 Tabelle und Abbildungen|567 Literaturverzeichnis|589 Register|651 Quellen|651 Personen, Wesen- und Gottheiten|664 Orte|672 Sachbegriffe|676
Abkürzungsverzeichnis Für die vorliegende Arbeit wurden hinsichtlich der Vergabe von Abkürzungen die folgenden Systeme verwandt: für Literatur/Periodika: L’Année Philologique, ergänzt durch Konventionen des DAI, für lateinische Autoren: DNP, ergänzt durch ThLL (Index 21990), für griechische Autoren: DNP, ergänzt durch LSJ, für numismatische, epigraphische und papyrologische Quellen sowie für Nachschlagewerke und Fragmentsammlungen: DNP, ergänzt durch OCD 42012. In diesem Rahmen waren jedoch nicht in allen Fällen adäquate Abkürzungen auffindbar. Es wurde daher wie folgt ergänzt:
Literarische Quellen: Cyr. Alex. De ador.: Kyrill von Alexandria, De adoratione et cultu in spiritu et veritate. Her. Crit.: Herakleides Kritikos, Über die Städte in Hellas. Phil. Cher.: Philon von Alexandria, De cherubim. Phil. Ios.: Philon von Alexandria, De Iosepho. Phil. Legat.: Philon von Alexandria, Legatio ad Gaium. Phil. Mos.: Philon von Alexandria, De vita Moysis. Phil. Plant.: Philon von Alexandria, De plantatione. Plut. Adv. Col.: Plutarch, Adversus Colotem. Plut. De Alex. fort.: Plutarch, De Alexandri magni fortuna aut virtute. Plut. De cap.: Plutarch, De capienda ex inimicis utilitate. Plut. De coh.: Plutarch, De cohibenda ira. Plut. De def. orac.: Plutarch, De defectu oraculorum. Plut. De esu carn.: Plutarch, De esu carnium orationes. Plut. De exil.: Plutarch, De exilio. Plut. De fort. Rom.: Plutarch, De fortuna Romanorum. Plut. De lib. ed.: Plutarch, De liberis educandis. Plut. De se ipsum: Plutarch, De se ipsum citra invidiam laudando. Plut. De superst.: Plutarch, De superstitione. Plut. Praec. ger. reip.: Plutarch, Praecepta gerendae reipublicae. Plut. Quaest. conv.: Plutarch, Quaestionum convivialium libri.
https://doi.org/10.1515/9783111331812-203
XIV | Abkürzungsverzeichnis
Plut. Quaest. Rom.: Plutarch, Quaestiones Romanae. Plut. Quomodo adul.: Plutarch, Quomodo adulator ab amico internoscatur. Plut. Reg. et imperat.: Plutarch, Regum et imperatorum apophthegmata. Plut. Terrestr. an aquat.: Plutarch, Terrestriane an aquatilia animalia sint callidiora.
Inschriften: IAMaroc: L. Galand et al. (Hgg.): Inscriptions antiques du Maroc. 3 Bde., Paris 1966-2003. Test.Salaminia: J. Pouilloux/P. Roesch/J. Marcillet-Jaubert (Hgg.): Salamine de Chipre. XIII. Testimonia Salaminia 2. Corpus épigraphique. Paris 1987.
Münzen: MAA: J. Alexandropoulos: Les monnaies de l’Afrique antique: 400 av. J.-C. – 40 ap. J.-C. Toulouse 2007.
Nachschlagewerke: DLG: X. Delamarre: Dictionnaire de la langue gauloise. Une approche linguistique du vieux-celtique continental. 2. Aufl., Paris 2003. EAH: R. S. Bagnall u.a. (Hgg.): The Encyclopedia of Ancient History. 13 Bde., Malden 2012/13. HAS: A. Holder: Alt-celtischer Sprachschatz. 3 Bde., Leipzig 1896–1913, ND 1961/62. PGRS: P. Janiszewski/K. Stebnicka/E. Szabat: Prosopography of Greek rhetors and sophists of the Roman Empire. Übers. D. Dzierzbicka, Oxford 2015.
Einleitung Zur Einführung Wohl in den frühen 90er Jahren unserer Zeitrechnung verfasste der von der iberischen Halbinsel stammende römische Dichter Martial ein kurzes Epigramm auf eine gewisse Claudia Rufina, vielleicht die Ehefrau seines Freundes Aulus Pudens.1 Diese hatte offenbar kurz zuvor ein Kind gesund zur Welt gebracht, was Martial zum Anlass nahm, das folgende Lobgedicht auf sie zu schreiben: Claudia caeruleis cum sit Rufina Britannis edita, quam Latiae pectora gentis habet! Quale decus formae! Romanam credere matres Italides possunt, Atthides esse suam. Di bene quod sancto peperit fecunda marito, quod sperat generos quodque puella nurus. Sic placeat superis, ut coniuge gaudeat uno et semper natis gaudeat illa tribus.2
Die Eigenschaften, die hier gepriesen werden, sind bemerkenswert. Denn Martial stellt Rufinas barbarische Herkunft aus Britannien in Kontrast zu ihrer kulturellen Prägung:3 auch wenn sie aus Britannien stamme, habe sie dennoch die
|| 1 Publiziert wurde das betreffende Buch 11 wahrscheinlich 96 u.Z.; vgl. zur Datierung Kay, Commentary, 1, sowie grundlegend zur Chronologie der Epigramme Martials immer noch Friedländer, Epigrammaton libri, 50–67, auf den auch Kay verweist. Zur Identitätsfrage vgl. Mart. 4,13, ein Epigramm zur Hochzeit des Aulus Pudens mit einer Claudia Peregrina, die mit Rufina identisch sein könnte; dazu Kay, Commentary, 186; Barié/Schindler, Martial, 1395; Moreno Soldevila et al., Prosopography, 150f. 2 Mart. 11,53: „Claudia Rufina ist zwar von den blauen Britanniern hervorgebracht worden, / doch wie sehr hat sie das Herz des latischen Volkes! / Welche Schönheit der Gestalt! Für eine Römerin können italische Mütter / sie halten, attische für eine der ihren. / Dank den Göttern, dass sie fruchtbar war und dem verehrten Gatten gebar, / dass sie als junge Frau bereits auf Schwiegerkinder hoffen darf. / So möge es den höheren Mächten gefallen, dass sie sich als Gattin des einen erfreue / und ebenso stets dreier Kinder.“ Sowohl diese als auch alle anderen Übersetzungen zu lateinischen und griechischen Texten in dieser Arbeit wurde(n) vom Verfasser unter Benutzung bereits vorliegender Übertragungen angefertigt. Fallweise wird besondere Nähe zu einzelnen derselben ausgewiesen (als „Übers. nach“). 3 Der Hinweis auf die Bläue der Britannier ist sicherlich auf eine u.a. bei Caesar (Gall. 5,14) überlieferte Sitte zu beziehen, sich selbst mit vitrum (Waid?) blau zu färben; vgl. schon Collesso, Martialis, 565 (unter Verweis auf die Parallele in 14,99 bei Martial selbst) und Friedländer, Epigrammaton libri, 193, gefolgt u.a. von Barié/Schindler, Martial, 1396 und Kay, Commentary, https://doi.org//10.1515/9783111331812-001
2 | Einleitung
pectora der Latia gens, die Gesinnung einer echten Latinerin.4 Auch ihr Äußeres scheint diesen Ansprüchen zu genügen.5 Dies dürfte einerseits als bewusst gesetzter Kontrast zur Abstammung von den caerulei Britanni, andererseits als komplementäre Lobpreisung zum „Latiae pectora gentis habet“ sowie – mit diesem gemeinsam – als logische Voraussetzung der nachfolgenden beiden Textzeilen zu verstehen sein: Weil Rufina so römisch bzw. latinisch gesinnt und so wohlgestalt im Sinne mediterranen Schönheits- und Stilempfindens ist – sie also bezüglich ihrer äußeren und inneren Qualitäten vollauf zivilisiert ist –, könnte sie von italischen ebenso wie athenischen Müttern für eine der ihren gehalten werden.6 Letzteres ist offensichtlich gegründet auf die Vorstellung der attischen Sprache und Kultur als einer ‚klassischen‘, besonders hochstehenden Form des Griechentums und daher als Chiffre für ‚so griechisch wie nur möglich’ zu verstehen.7 Dadurch, dass sich diese Zuschreibungen bis hinein in ihre Eigenschaft als Mutter erstrecken, erweist sich, dass Rufina tiefgreifend entbarbarisiert ist und nicht nur oberflächlich zivilisierte Qualitäten besitzt – gerade mit Blick auf die Erziehung des Nachwuchses stellten die Zeitgenossen schließlich hohe Anforderungen.8 Trotz ihrer Abkunft als Barbarin, so ließe sich dieser erste Teil des
|| 186. Den Begriff gebraucht etwa auch Seneca, um die Schilde der Briganten zu beschreiben (Sen. apocol. 12,3). 4 Dazu Kay, Commentary, 186: „‚pectora‘ in the ‚ingenium’ sense“. 5 Kay, Commentary, 186, bringt „quale decus formae“ zurecht in Zusammenhang mit dem Leitthema der ersten vier Verse, nämlich Rufinas ‚Entbarbarisierung’, und postuliert dabei einen Kontrast zum Verweis auf das fremdartige Aussehen der ‚blauen Britannier’: „With her barbarian ancestry and physique Claudia might be expected to look foreign, but that is not the case“. Sollte Rufina, wie ihr cognomen andeutet, rotes Haar gehabt haben, böge Martial sich die Wahrheit damit sehr zurecht. 6 S. Collesso, Martialis, 565, bezüglich „Atthides“ als Synonym zu „Athenienses“. 7 Athen war nicht erst seit römischer Zeit als Hort des Griechentums stilisiert und angesehen worden, wie etwa Isokr. or. 4 eindrucksvoll bezeugt (dazu genauer in Kap. I.1.2.2). Dies wurde durch den römischen Attizismus weiter gesteigert, der seit dem 1. Jh. v.u.Z. an Einfluss gewann und zu Martials Zeit eine Blüte in Gestalt der Zweiten Sophistik erreichte (s. hierzu insb. Spawforth, Greece). Athen war also spätestens in der frühen Prinzipatszeit ein auch in der lateinischen Welt sprichwörtliches Symbol für Bildung und Zivilisation geworden; vgl. etwa Cic. de orat. 1,13,1; Iust. 2,6,6; Val. Max. 2,1,10; Prop. 1,6,13, 3,21,1; Hor. ep. 2,2,43–5; Manil. 4,687; Ov. epist. 2,83; Iuv. 15,110. Wollte man daher in Martials Zeit eine einzelne Polis als Symbol für das Hellenentum insgesamt herausgreifen, so konnte das nur Athen sein. S. dazu auch Hafner, Athen. 8 Vgl. etwa zeitgenössisch Quint. inst. 1,1,6: „In parentibus vero quam plurimum esse eruditionis optaverim, nec de patribus tantum loquor.“ Auf die hier eingeforderte Bildung auch der Mutter wird dem Wortsinne nach in Form einer „Entrohung“ bzw. „Entrohtheit“ Bezug ge-
Zur Einführung | 3
Epigramms zusammenfassen, war Rufina eine wahrhaft zivilisierte Dame. Und dieser Umstand war für Martial offenbar so wichtig, dass er darauf die Hälfte des Lobgedichtes verwandte, nämlich den gesamten Teil des Epigramms, der sich auf Rufinas persönliche Qualitäten bezieht (Z. 1–4), die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Anlass des Gedichts, d.h. der Kindsgeburt stehen.9 Interessant ist hierbei die Frage nach der Motivation Martials: Denn aller Wahrscheinlichkeit nach war er im Sinne von Auftragsarbeit oder Freundschaftsdienst für Pudens(?) anlässlich der Geburt des Kindes der Rufina angehalten, ein entsprechendes Epigramm zu verfassen. Was wir mit seinem Text vor uns sehen, ist also nicht ein Lobpreis auf Rufinas Zivilisiertheit um ihrer selbst willen, sondern vielmehr das Ergebnis eines Nachdenkens darüber, wie man eine aus Britannien stammende ‚Ex-Barbarin’ dichterisch verherrlichen könnte. Und Martials Antwort auf diese Frage beinhaltet offensichtlich auch den geradezu apologetischen Umgang mit Rufinas barbarischer Herkunft. Er versucht, aus der Not eine Tugend zu machen, indem er diese zwar konzediert, aber betont, dass sie für niemanden wahrnehmbar und Rufina daher ein vollwertiges Mitglied der griechisch-römischen Oberschicht sei. Die Zivilisierung dieser Barbarin stellt so wenigstens auf der literarischen Ebene einen Prozess dar, der ihre unvorteilhafte Herkunft einigermaßen auszugleichen und damit ihre Integration in die stadtrömische Oberschicht zu legitimieren vermag. Aufgrund der Funktionslogik solcher apologetisch-enkomiastischer Texte: wo kein Angriff (zu erwarten), da keine Verteidigung, verwendet Martial sein Gedicht also weitestgehend darauf, darzulegen, dass Rufina trotz ihrer Herkunft und entgegen der von ihm antizipierten Erwartung des Hörers/Lesers ihrer sozialen Position würdig ist.10 Das ist auch insofern bemerkenswert, als Claudia Rufina angesichts ihres nomen gentile wohl schon vor der
|| nommen (s. zum Begriff und den unmittelbaren Kognaten G. Burckhardt: ThLL 5, s. v. ‚erudibilis‘ bis ‚2. eruditus‘, 828–835, mit den verschiedenen Bedeutungsebenen), was etwa nach Sen. dial. 6,7,3 eine Eigenschaft ist, die Barbaren charakteristisch von Zivilisierten abgrenzbar macht (s. auch Tac. Agr. 21,1–2, wozu unten in Kap. I.2.6). Auch nach Auffassung des etwas späteren (Pseudo-?)Plutarch war eine Erziehung durch umfassend zivilisierte Personen von unabdingbarer Wichtigkeit, um eine positive Ausformung von Charakter und Fähigkeiten zu gewährleisten: (de lib. ed. 4–7 = mor. 3d–5c; dazu Kemper, Schrift, passim, spez. 106f.). S. allg. zum Ideal der zivilisierten, gebildeten römischen Mutter Rawson, Children, 157f. und ausführlich Hemelrijk, Matrona, 61–67. 9 Diesem Thema widmet sich dann der zweite Teil des Gedichts, Z. 5–8. 10 Ein derartiges Vorgehen schreibt etwa auch Menander Rhetor in seinem rhetorischen Lehrwerk vor; s. explizit und allgemein formuliert Men. Rh. 346,9–23, zur spezifischen Anwendung bspw. 369,18–371,3 (im Zusammenhang des Herrscherlobs).
4 | Einleitung
Eheschließung das römische Bürgerrecht innegehabt hatte, was aber offenbar alleine nicht ausreichte, um ihre Zugehörigkeit zur römischen Gesellschaft und insbesondere Elite vollgültig zu legitimieren.11
Vorhaben Passagen aus der antiken literarischen Überlieferung wie dieses Epigramm auf Claudia Rufina sind es, mit denen sich die vorliegende Arbeit befasst. Denn das Ziel der Untersuchung ist, antike Diskurse über die darin zu fassende Vorstellung von der ‚Zivilisierung der Barbaren‘ zwischen der Zeit der späten römischen Republik und der Ära der severischen Kaiser in möglichst großer Breite zu analysieren und in einem größeren historischen Zusammenhang zu verorten. Bevor nun die einzelnen dabei an die Quellen gestellten Fragen sowie der Anspruch und Aufbau der Arbeit näher vorgestellt und erläutert werden, seien zum besseren Verständnis zunächst einige Worte zur Terminologie verloren, wie sie soeben und auch schon im Titel dieses Buches verwandt worden ist. Dies meint insbesondere die Begriffe der „Zivilisierung“ und des „Barbarentums“ bzw. die jeweiligen Kognaten, Derivate und Komposita. „Zivilisierung“ ist bei weitem kein neuer Terminus in der Forschung zu kulturellen Wandlungsprozessen der Antike – ganz im Gegenteil lässt sich sogar sagen, dass er überhaupt erst zu deren Beschreibung geschaffen worden zu sein scheint. Denn eine der ersten, wenn nicht gar die erste Verwendung(en) des Begriffes in einer modernen europäischen Sprache findet sich in der 1572 publizierten Übersetzung der Moralia Plutarchs von Jacques Amyot. Dort wird er gebraucht, um Plutarchs Wendung βασιλεῖς βαρβάρους ἡμεροῦντες als „cultiuer & ciuiliser des Roys barbares“ zu übertragen, wodurch in etwa dieselbe semantische Ausprägung als ‚Entbarbarisierung‘ zum Ausdruck kommt wie noch drei Jahrhunderte später bei Theodor Mommsen.12 Dieser verwendet ihn in entspre-
|| 11 Verbunden mit ihrer Herkunft aus Britannien verweist das Gentiliz vermutlich auf eine Familie, die (bzw. aus der ein Vertreter) schon bei oder kurz nach der römischen Eroberung unter Claudius das römische Bürgerrecht erhalten hatte. Rufina wäre demnach also vielleicht Römerin in dritter Generation. 12 Amyot, Plutarque, 308h zu Plut. De Alex. fort. 1,4 (mor. 328b); vgl. dazu J. Fisch: Zivilisation, Kultur. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde., Stuttgart 1972–1997, Bd. 7, 679–774, hier 698f.; weiter Briant, Lieux communs, 208–230, spez. 222, der das Werk geistesgeschichtlich verortet. Zur Plutarchstelle, die auch für die vorliegende Arbeit eine hohe Bedeutung besitzt, ausführlich hier in Kap 2.A.3.
Vorhaben | 5
chendem Sinne im Kontext seiner Erwägungen zum kulturellen Wandel in den römischen Provinzen der Kaiserzeit, wo er schreibt, dass für ihn „das Großartige dieser Jahrhunderte“ überhaupt gerade darin liege, dass die „Durchführung der lateinisch-griechischen Civilisirung“, verstanden als „die allmähliche Einziehung der barbarischen oder doch fremdartigen Elemente in diesen Kreis“ umgesetzt worden sei.13 In einer Terminologie, die die griechisch-römische Doppelkultur in den Status der Zivilisation selbst erhebt und dem Barbarentum gegenüberstellt, übernimmt Mommsen damit die Perspektive der allermeisten antiken Schriftquellen. Sachlich ist der Terminus der „Zivilisierung“ demnach im engsten Sinne dafür gemacht, um die in dieser Arbeit untersuchten Vorstellungen zu benennen. Seit Mommsen ist der Begriff denn auch von vielen Forschern in entsprechender Bedeutung gebraucht worden, in jüngerer Zeit etwa – in den jeweiligen sprachlichen Pendants – von Paul Veyne, Greg Woolf, Richard Hingley und Andrew Fear.14 Anders als bei Mommsen wird er dort jedoch verwandt, um die Perspektive antiker Quellen auf entsprechende kulturelle Wandlungsprozesse zu beschreiben, und nicht mehr direkt diese selbst.15 Mitunter wird dieser Umstand allerdings nicht in hinreichendem Maße herausgestellt und dadurch nur unzureichend geklärt, wie der Begriff zu verstehen sei.16 Eben an dieser Stelle setzt || 13 Mommsen, Römische Geschichte 5, 4 (d.h. in der Einleitung des diesbezüglich einschlägigen achten Buches bzw. fünften Bandes seiner „Römischen Geschichte“); vgl. weiter bspw. auch Römische Geschichte 3, 85f. S. dazu Hingley, Globalizing, 18–29, der das Begriffspaar „Barbarism“ und „Civilization“ forschungs- und begriffsgeschichtlich (im Kontext des Konzeptes der Romanisierung sowie römischer und moderner Imperialismen) ausführlich diskutiert. 14 Veyne, Humanitas, passim; Woolf, Becoming Roman, bes. 1–7 und 48–76, ders., Staying Greek, bes. 119; Hingley, Globalizing, passim, bspw. 15; Fear, Burden, 24, 30 und 34. Auch in anderen Epochendisziplinen findet der Terminus analoge Verwendung; vgl. etwa Stimmer, Sprache. 15 Vgl. etwa Woolf, Becoming Roman, 4f. sowie 106, wo sich die Feststellung findet, dass „[b]arbarism might be defined in negative terms as an absence of civilized qualities“. Dass Woolf damit die Ebene der antiken Vorstellungswelt meint, bringt er dabei nicht explizit zum Ausdruck – es ergibt sich allerdings ganz unzweifelhaft aus seinen vorangehenden Ausführungen und dem sich anschließenden Kontext. 16 Vgl. etwa Woolf, Staying Greek, 119, mit dem Gedanken eines römischen „culture myth […] that humanitas, having been invented by Greeks and taught to Romans, was now being spread by the latter throughout the world“, was er anschließend als „civilizing process“ tituliert. Doch auch hier wird aus dem größeren Kontext heraus schnell deutlich, dass es Woolf nicht um ein absolutes Verständnis von Zivilisation zu tun ist, sondern um ein spezifisch römisches. Ähnliches gilt etwa für Kousser, Civilization, wenn sie 186 von „the Roman’s ambition to spread civilization throughout their empire, and [...] its repercussions for those living in the conquered territories“ schreibt: Für sich genommen mag das problematisch formuliert und als Bestäti-
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letztlich dann auch ein Großteil der vornehmlich ‚postkolonial‘ orientierten Kritik an solchen Studien und überhaupt Forschungsfragen an – nicht ganz zu Unrecht wird auf die Gefahr hingewiesen, antike imperial(istisch)e Diskurse unkritisch fortzuschreiben.17 Und gerade deshalb sind an dieser Stelle klare Definititionen und Abgrenzungen von großer Bedeutung – zu einer Untersuchung ‚kolonialer‘ Diskurse wie jener, denen die vorliegende Arbeit gewidmet ist, muss zwingend gehören, sich derselben stets als solcher bewusst zu bleiben. In dieser Arbeit wird analog zu einem derartigen Begriffsgebrauch der Terminus der „Zivilisation“ also grundsätzlich ebenfalls als uneigentlicher, emisch zu verstehender Gegensatzbegriff zu „Barbarentum“ bzw. „Barbarei“ verwandt. Analog dazu gestaltet sich die Benutzung der übrigen Begriffe der Wortfamilie, so auch der prozessual verstandenen „Zivilisierung“. Diese beschreibt damit aus einer der dominanten antiken Sichtweise nachempfundenen Perspektive als Sammelbegriff all jene Phänomene kulturellen Wandels, die in der Forschung als Romanisierung/Romanisation und Hellenisierung, Mediterranisierung oder sogar Globalisierung, Glokalisierung oder Kreolisierung bezeichnet werden.18 Es
|| gung eines Verständnisses griechisch-römischer als der Zivilisation erscheinen – doch wird bei aufmerksamer Lektüre der Einführung 185–187 sehr deutlich, dass es auch ihr um ein Verstehen entsprechender römischer Elitendiskurse geht. 17 Dazu näher im Abschnitt „Forschungsstand“. 18 S. zur Debatte um den Romanisierungsbegriff einführend etwa die beiden einerseits komplementären, andererseits konträren Artikel im Neuen Pauly: W. Spickermann: DNP 10 (2001), s.v. ‚Romanisation‘,1121f. und G. Woolf: DNP 10 (2001), s.v. ‚Romanisierung‘, 1122–1127 sowie die Überblicke bei Le Roux, Romanisation en question, Alföldy, Grundbegriff und in den Artikeln von U. Rothe: EAH 11, s.v. ‚Romanization‘, 5875–5881 sowie A. Spawforth, M. Millett, S. Mitchell: OCD4 (2012), s.v. ‚Romanization‘, 1283f.; prägnant zuletzt Price, Introduction, 5 (mit passenden Referenzen): „Other twenty-first-century interpretations of the Roman Empire seem almost like late-breaking news, for example globalization, microecology, comparative imperialisms, creolization and cultural plunder and appropriation. This overview of scholarship could be extended in many ways; the literature is broad, ever-expanding, if not always deep.“ Die wichtigsten oben angesprochenen theoretischen und terminologischen Stränge der ‚Romanisierungsforschung’ werden überblickshaft diskutiert in den verschiedenen Beiträgen bei Schörner: Romanisierung – Romanisation; den letzten Stand der v.a. archäologischen Forschung und Theoriedebatte repräsentiert der Konferenzband Belvedere/Bergemann, Romanization; vgl. auch Price/Finkelberg/Shahar, Rome. Zum ‚Schwesterkonzept‘ der Hellenisierung, das insgesamt weniger Kontroversen erzeugt hat und zu dem auch keine vergleichbare terminologische Teilung wie jene in „Romanisierung“ und „Romanisation“ vorliegt, vgl. zuletzt die ausführlichen Diskussionen bei Markschies, Hellenisierung, spez. 15–97 (mit reicher Doxographie); Engels, Konzept; Michels, Kulturtransfer, 19–40. Vgl. im Überblick R. Mairs: EAH 6, s.v. ‚Hellenization‘, 3122–3125; S. Hornblower: OCD4 (2012), s.v. ‚Hellenism, Hellenization‘, 656f.; s. auch Schweizer, Bilder, bes. 16f.; immer noch grundlegend sind Hengel, Juden, Griechen und
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geht also ausschließlich darum, antikes Denken nachzuvollziehen – keinesfalls ist die vorliegende Arbeit an irgendeiner Stelle so zu verstehen, dass es sich bei den griechisch-römischen Kulturen der Antike etwa tatsächlich um ‚die Zivilisation an und für sich‘ gehandelt habe, wie dies noch Mommsen einstufte. Denn dieser und nicht wenige seiner Zeitgenossen unterstellten ja den sogenannten Barbaren im Anschluss an antikes Schrifttum eine reale kulturelle Minderwertigkeit, woraus die Vorstellung resultierte, dass diese von den überlegenen, höherstehenden Mittelmeerkulturen mehr oder minder ‚ohne Verlust‘ assimiliert worden wären oder sich diesen bereitwillig assimiliert hätten.19 Damit wird ein zugunsten des Griechisch-Römischen ausfallendes Werturteil gefällt, das die Expansion des Imperium Romanum ebenso rechtfertigt wie den
|| Momigliano, Alien Wisdom. Vlassopoulos, Greeks, gebraucht im Kontext der ‚Hellenisierung‘ der Mittelmeerwelt das Konzept der „glocalisation“, um die Herausbildung von Einheitlichkeit in einem globalen Blickwinkel bei gleichzeitig starker Differenz in lokaler Perspektive zu beschreiben; s. mit ähnlichem Gedanken zur ‚Romanisierung‘ im Römischen Reich u.a. auch Naerebout, Divergence. 19 S. bspw. aus der älteren Forschung Haverfield, Romanization, 13, der, ganz Kind seiner Zeit, über die Romanisierung des westlichen Teils des Imperium Romanum schreibt: „Here Rome found races that were not yet civilized, yet were racially capable of accepting her culture. Celt, Iberian, German, Illyrian, were marked off from Italian by no broad distinction of race and colour, such as that which marked off the ancient Egyptian from the Italian, or that which now divides the Frenchman from the Algerian Arab. They were marked off, further, by no ancient culture, such as that which had existed for centuries round the Aegean. It was possible, it was easy, to Romanize these western peoples.“ Vgl. zu Haverfields Romanisierungsforschung im Kontext europäisch-britischer Imperialismen bes. Freeman, Imperialism (spez. 27–32) und allg. Freeman, Haverfield. Aus der neueren Literatur ließe sich etwa Kimmig, Kolonisation, 5 anführen, der vom „überlegenen zivilisatorischen Impetus des hochkulturellen Südens“ spricht, durch den die hallstattzeitlichen Kelten „sichtbar auf eine höhere kulturelle Ebene gehoben“ worden seien. Auch Fear spricht in wenigstens problematischer Weise von „primitive, Celtic habits“ im Gegensatz zur römischen Kultur mit ihrer „civilising mission“ (Burden, 28f.). Dieter Timpe meint, dass „die zivilisatorische Überlegenheit des antiken Kulturmenschen oder Herrschaftsträgers [...] ein Faktum [sei], das von dem Vorurteil, um einen selbst kreise die Welt, wohl unterschieden werden“ müsse (Begriffsbildung, 19). Woran solche Überlegenheit überhaupt zu bemessen wäre, darüber verliert Timpe kein Wort. Vgl. nicht unähnlich Demandt, Alexander, der anhand der auch hier im Kapitel 2.A.3 besprochenen Verherrlichung des Makedonen als Zivilisator der orientalischen Barbaren bei Plutarch (De Alex. fort. 1,4–1,10 [mor. 327e–332c]), die er für weitgehend glaubhaft nimmt, ernsthaft behauptet (378): „Alexanders Verschmelzungspolitik implizierte indessen auch eine Hellenisierung. Gemäß dem kulturellen Gefälle bedeutete sie einen Gewinn, nicht nur aus westlicher Sicht.“ S. zur geistesgeschichtlich unseligen Rolle solcher Alexanderbilder und solchen Denkens im Zusammenhang europäischer Imperialismen Briant, Lieux communs, 206–285.
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somit beinahe unvermeidlich scheinenden Untergang ‚barbarischer’ Kulturen.20 Die blutigen Feldzüge Roms geraten so im Extremfall zur offensiv vorgetragenen Philanthropie. Von solchen Vorstellungen sei hiermit dezidiert Abstand genommen. Im Fokus der folgenden Untersuchung steht demgegenüber aber durchaus der Sachverhalt, dass in den relevanten Quellen selbst häufig eine derartige (quasi-)ethnozentrische, regelrecht kulturchauvinistische Position eingenommen wird. Die gewählte Terminologie dient also ausschließlich dazu, in emischer Perspektive antikes Gedankengut zu untersuchen und zu beschreiben, ohne dieses damit für korrekt zu erklären. Im Untersuchungszeitraum (d.h. von der Späten Republik bis in die Severerzeit, hierzu gleich genauer) bedeutet dies den Umgang mit einem Barbarenbegriff, der sich mit Karl Münscher pointiert dergestalt bestimmen lässt, dass „omnes nationes dicuntur barbarae praeter Graecos Romanosque“.21 Dabei ist in den meisten Fällen ein wenigstens implizit – oft genug || 20 Vgl. für eine Diskussion hierzu etwa Woolf, Becoming Roman, bes. 4–6. Die schon genannten, sich um eine emanzipatorische Antwort bemühenden „post-colonial studies“ sind vorwiegend ein Anliegen der angelsächsischen Forschung gewesen (und dabei für die hier bearbeiteten Themen eher der Archäologien); vgl. bes. den Sammelband Webster/Cooper, Perspectives; prominent sind die Arbeiten von D. Mattingly, u.a. Mattingly, Experiencing. Stark von entsprechender Theorie geprägt ist zuletzt auch der Band von Burton, Imperialism. In gewisser Weise läuft die als ‚anti-ideologisch‘ antretende postkoloniale Forschung freilich Gefahr, gerade dadurch selbst einen (entgegengesetzt) ideologisierten Blickwinkel einzunehmen und methodisch zu simplifizieren; vgl. in diesem Sinne u.a. die berechtigte Kritik an Mattingly, Experiencing in der Rezension von M. L. Dészpa (in: sehepunkte 12 [2012], URL: ), zu der als Korrektiv aber auch die nahezu gegenteilige Besprechung von R. Witcher zur Kenntnis genommen werden sollte (ClRev 62 [2012], 249–251). S. weiter die sehr ausgewogene Bewertung bei U. Walter und R. Schulz (GWU 64 [2013], 624–626), die in ihrer Kritik jedoch eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt wie jene Dészpas; nicht unähnlich äußert sich M. Millett, selbst ein Vertreter der angelsächsisch-postkolonialen Forschung (JRA 25 [2012], 772–775). 21 K. Münscher: ThLL 2, s. v. ‚barbarus‘, 1735–1744, hier 1735. In einem derartig idealtypischen Kontext findet sich die Trias etwa bei Cicero, wenn er in fin. 2,49 mit „Graecia“, „Italia“ und „Barbaria“ eine dreiteilige Umschreibung der ‚gesamten Welt‘ gebraucht (s. zur Stelle und dem sachlichen Kontext auch Lund, Germanenbild, 12–14 und Christ, Barbaren, 277). Vgl. auch Cic. Lig. 11, wo sich der Gedanke ebenfalls niederschlägt, wenn Cicero seinem Widersacher Tubero bezüglich dessen Anklage gegen Ligarius vorwirft: „hoc egit civis Romanus ante te nemo: externi sunt isti mores aut levium Graecorum aut immanium barbarorum.“ Es gibt also neben den ‚leichtlebigen Griechen’ und den ‚ungeschlachten Barbaren’ ein tertium genus, an das höhere Maßstäbe anzulegen sind als an die anderen beiden. Ein prinzipatszeitliches Beispiel der Dreiteilung bietet Quint. inst. 5,10,24, der als Begründung für die Relevanz der Kategorie natio bezüglich der argumentativen Behandlung von Personen anführt: „nam et gentibus proprii mores sunt nec idem in barbaro, Romano, Graeco probabile est“. S. zur Entwicklung dieser Trias u.a.
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aber überdeutlich – pejorativer Aspekt fassbar.22 Doch ist dies durchaus relativ zu denken, denn es existierten fließende Übergänge, etwa Vorstellungen von etwas zivilisierten Barbaren oder halbbarbarisierten Griechen und Römern, und auch idealisierende Schilderungen barbarischer Primitivität lassen sich bekanntlich finden.23 Diese schon deshalb idealtypische, de facto bipolare Dreiheit ‚Römer – Griechen – Barbaren‘ wird hier zu einer Zweiheit ‚Zivilisierte – Barbaren‘ abstrahiert, die ganz im Sinne der Koselleck’schen Begrifflichkeit als Paar ‚asymmetrischer Gegenbegriffe‘ anzusehen ist.24 Im Gegensatz zu Kosellecks Überlegung ist meine terminologische Zweiheit aber lediglich auf einer wissenschaftlichen Metaebene angesiedelt und findet nur bedingt direkte Pendants in den Quellensprachen25, sodass es sich hier also nicht mehr um realweltliche „Gegenbegriffe
|| Dubuisson, Latin (spez. zum sprachlichen Aspekt); allgemeiner und aktueller bspw. Méry, Barbares et civilisés, bes. 157–163 und 177f., die den Status des 1. Jhs. v.u.Z. als Schlüsselsituation betont; weiter auch Deremetz, Entre grecs. Auch bei griechischen Autoren sind spätestens in der Prinzipatszeit die Römer ganz regelmäßig zumindest jenes uneindeutig changierende, weder wirklich barbarische noch wirklich hellenische „tertium quid“, das Simon Swain (Hellenism, 68) als gängiges Römerbild bei den meisten griechischsprachigen Autoren der ‚Zweiten Sophistik‘ identifiziert hat; vgl. bspw. schon Dion. Hal. Ant. 8,17,1; Strab. 9,2,2 (C. 401) oder später Cass. Dio. 44,2,2. 22 Einschlägige Lit. hierzu bietet unten A. 57. 23 Vgl. aber zu positiven Vorstellungen von Barbaren und ihren Kulturen und Wissensbeständen bspw. Dihle: Philosophie der Barbaren sowie Dörrie: Wertung der Barbaren; der Zusammenhang ist hier meist der der Suche nach ‚ursprünglichem‘ Wissen oder das Bild vom ‚edlen Wilden‘. Gerade auf die ‚Naturvölker‘ des Nordens wurden solche Deutungsmuster nicht selten angewandt: Riese, Naturvölker; Trüdinger, Studien, 133–146; Lovejoy/Boas, Primitivism, 287– 367; Romm, Edges, 45–81; s. Winiarczyk, Utopien, 36, A. 40, mit weiterer Lit. 24 Vgl. Koselleck, Gegenbegriffe, bes. 211–218 zur theoretischen Fundierung. 25 Bisweilen verwenden Autoren des Untersuchungszeitraums eine derartige Zweiteilung der Menschheit durchaus explizit; s. etwa die dreifache Gegenüberstellung in Sen. dial. 6,7,3: „magis feminas quam viros, magis barbaros quam placidae eruditaeque gentis homines, magis indoctos quam doctos eadem orbitas vulnerat“: Die Menschheit besteht neben den beiden anderen Dichotomien aus Barbaren einerseits, aus friedfertigen und gebildeten Menschen andererseits. Dass man letztere Gruppe im Wesentlichen als ‚Griechen und Römer‘ zu verstehen hat, dürfte unstreitig sein; deren gemeinsame Merkmale der Friedfertigkeit und der Bildung sind es demnach, die sie verbinden und von den Barbaren unterscheiden. So konstituiert Seneca also eine Gegensatzgruppe zu den Barbaren, die dem Konzept der ‚Zivilisierten‘, wie es in dieser Arbeit verwandt wird, recht genau entspricht. S. zur Wortwurzel erudire – wörtlich: „entrohen“, was bereits einen Fortschrittsgedankens impliziert – bereits soeben in Anm. 8. Im Griechischen ist das Adjektiv ἥμερος verschiedentlich in vergleichbarer Bedeutung zu finden (vgl. LSJ, s.v. ‚ἥμερος‘, 771, bes. I/4), dessen Wortfamilie auch insgesamt von großer Bedeutung für diese Arbeit ist und an späterer Stelle näher diskutiert werden wird.
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[handelt], die darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen“26, sondern vielmehr um theoretisch gesetzte Gegenbegriffe, die sich auf einen historischen Ausschluss wechselseitiger Anerkennung beziehen. Damit nimmt die Verwendung einer solchen Begrifflichkeit in gewissem Maße Ergebnisse dieser Untersuchung vorweg und weist auf ein spezifisches Element der antiken Konzeption von Prozessen des Kulturtransfers auf ‚barbarische‘ Personengruppen hin. „Zivilisierung“ findet nach dem hier zugrundegelegten Verständnis immer dann statt, wenn nach den untersuchten antiken Zeugnissen – Barbaren Eigenschaften oder Fähigkeiten erwerben, die Barbaren für gewöhnlich abgesprochen werden, – Barbaren explizit ‚entbarbarisiert‘ werden, ihnen also ausdrücklich zugeschrieben wird, sie seien zu einem bestimmten Zeitpunkt weniger barbarisch als zu einem früheren Zeitpunkt, – Barbaren ‚römisch‘ oder ‚griechisch werden‘, also Eigenschaften oder Fähigkeiten erwerben, die als etwas Römisches bzw. Griechisches angesehen bzw. angesprochen werden. Jeder der genannten Punkte ist dabei in einem weiteren Sinne als potentiell nicht nur auf Personen und Personenverbände, sondern auch Territorien und ganz allgemein ‚Dinge‘ im materiellen wie sozialen Sinne – also etwa Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Sprache oder Bestattungssitten – anwendbar zu denken. Eine besondere Problematik ergibt sich bezüglich einer solchen Begriffswahl aus der oftmals inkonsistenten und unpräzisen Verwendung und Bedeutungsspanne der Begriffe ‚Barbar‘, ‚Grieche‘ und ‚Römer‘ bzw. der zugehörigen Adjektive in den Quellen.27 Denn nicht immer sind Barbaren im Sinne dieser Arbeit gemeint, wenn der Begriff tatsächlich fällt – so ist etwa Antonius nicht im engeren Sinne ein Objekt dieser Untersuchung, auch wenn er in Ciceros dritter Philippischer Rede als „barbarus“ charakterisiert wird und die dortige Verbindung der Adjektive „contumeliosus“, „barbarus“ und „rudis“ durchaus von In-
|| 26 Koselleck, Gegenbegriffe, 213. 27 Schon Platon diskutiert genau diese Inkonsistenz (rep. 262c–263a), auch Strabon bespricht den ‚traditionellen‘ Barbarenbegriff hinsichtlich seiner Unschärfe und in Auseinandersetzung mit Eratosthenes‘ Ansichten: Strab. 1,4,9 (C. 66–67). Doch zeitigten solche Reflexionen keine erkennbare Wirkung, nicht einmal bezüglich des Gebrauches des Terminus im jeweils eigenen Werk, was für Strabon in dieser Arbeit noch verschiedentlich deutlich werden wird.
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teresse ist.28 In diesem Sinne stünde hier also zwar Antonius nicht im engeren Sinne im Fokus der vorliegenden Arbeit, die Sprache, mit deren Hilfe ihn Cicero diffamieren will, hingegen schon. Umgekehrt kann etwa in der Beschreibung eines Volk(-sstamm-)es die volle Palette der Barbarentopik präsent sein, ohne dass der Begriff gebraucht wird.29 Dennoch ist ein solcher Volksstamm eindeutig als ‚barbarisch‘ im Sinne meines zugrundegelegten Konzeptes zu werten. Ähnlich verhält es sich mit der Gegenkategorie der Zivilisierten. Griechentum wurde über die Jahrhunderte völlig verschieden verstanden. Bei Herodot findet sich der Gedanke, dies an gemeinsamer Abstammung (bzw. wörtlich ‚gemeinsamem Blut‘), gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Formen der Kultausübung und gleichartiger Lebensweise fixieren zu können.30 Spätestens bei Isokrates lässt sich dann auch die Vorstellung eines Griechentums fassen, das primär durch kulturelle, aus griechischer Bildung resultierenden Gemeinsamkeiten fundiert scheint.31 Und jeder dieser Gedankenstränge findet sich letztlich
|| 28 Cic. Phil. 3,15. Vgl. zu derartigen diffamierenden, in völlig verschiedenen Kontexten verwandten Barbarentopoi bes. Opelt, Schimpfwörter, passim (Index s.v. ‚barbarus’). 29 Vgl. bspw. nur Mela 1,42f. über Nordafrika: „[...] interiores incultius etiam secuntur vagi pecora, utque a pabulo ducta sunt ita se ac tuguria sua promovent, atque ubi dies deficit ibi noctem agunt. quamquam in familias passim et sine lege dispersi nihil in commune consultant, tamen quia singulis aliquot simul coniuges et plures ob id liberi adgnatique sunt nusquam pauci. (43) ex his qui ultra deserta esse memorantur Atlantes solem exsecrantur et dum oritur et dum occidit ut ipsis agrisque pestiferum. nomina singuli non habent, non vescuntur animalibus, neque illis in quiete qualia ceteris mortalibus visere datur.“ 30 Hdt. 8,144,2, wo der Autor den Athenern gegenüber spartanischen Gesandten in den Mund legt: τὸ Ἑλληνικὸν ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσσον καὶ θεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁμότροπα. Auch wenn man mit Bichler (Ethnography, 155–157) den Standpunkt vertreten mag, dass Herodot hier kritisch-ironisch gegen die genannte Ansicht Stellung beziehe, bleibt die Passage dennoch Beleg dafür, dass entsprechendes Gedankengut zu Herodots Zeit eine gewisse Verbreitung besaß. Eine ausführliche Diskussion der Stelle und der vier Kategorien bietet Zacharia, Markers. 31 Vgl. Isokr. Or. 4,50, der allerdings damit nicht etwa Barbaren für prinzipiell des Hellenentums fähig erklärt, sondern betont, dass hellenische Abstammung alleine nicht ausreiche, um ‚vollwertiger Grieche‘ zu sein, sondern dass (athenische) Bildung hinzukommen müsse (s. zur Stelle auch genauer hier in Kap. I.1.2.2). Schon erheblich früher hatte die Sophistik die grundsätzliche physische Gleichheit der Menschen postuliert und so einen prinzipiellen Gegenpol zur Vorstellung einer natürlichen, nicht-kulturellen Differenz zwischen beiden Gruppen gesetzt, s. dazu v.a. Antiph. Frg. 44(b) II Pendrick = Frg. 44B II Diels/Kranz; dort heißt es: ἐπεὶ φύσει γε / πάντα πάντες / ὁμοίως πεφύκ