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German Pages 369 Year 1999
Die Wirtschaft im geteilten und vereinten Deutschland
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 69
Die Wirtschaft im geteilten und vereinten Deutschland
Herausgegeben von
Karl Eckart und Jörg Roesler
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Wirtschaft im geteilten und vereinten Deutschland I hrsg. von Karl Eckart und Jörg Roesler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 69) ISBN 3-428-09881-1
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09881-1 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
e
VORWORT Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis der Kooperationsveranstaltung, die die Gesellschaft fiir Deutschlandforschung mit dem Ost-West-Kolleg der Bundeszentrale fiir politische Bildung in der Zeit vom 22.10. bis 25.10.1997 in Brühl bei Köln durchgefUhrt hat. Es sind aber auch einige Beiträge mitaufgenommen worden, die nicht als Referate gehalten wurden, die aber dennoch eine sinnvolle Ergänzung der behandelten Thematik darstellen. Insgesamt ist mit einer Spanne von mehr als 50 Jahren ein langer Zeitraum erfaßt worden, in dem es zu umfangreichen sozialen und ökonomischen Veränderungen gekommen ist. An die Ausfilhrungen über Reparationsleistungen der SBZIDDR und Westdeutschlands sowie die Agrarwirtschaft in den beiden deutschen Staaten schließen sich Darstellungen über die Entwicklung der Industriestruktur und der Standortverteilung der Industrie in Sachsen nach dem Zweiten Weltkrieg an. Mit dem Versuch einer wirtschaftshistorischen Analyse wird die Geschichte der Einbindung der DDR-Volkswirtschaft in die Internationale Arbeitsteilung abgehandelt. Mit den Hinweisen auf die Periodisierung der Wirtschaft der DDR wird der historisch ausgerichtete Teil abgerundet. Einige Beiträge befassen sich mit den Strukturproblemen in der Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR. Mit Hinweisen auf den wirtschaftlichen und sozialen Umbau in den neuen Bundesländern werden ausgewählte Segmente behandelt. So wird auf die Potentiale und Chancen der Kohle-Energie-Region im südlichen Brandenburg im Rahmen des Umbaus der wirtschaftlichen Strukturen Ostdeutschlands eingegangen. Auch die Transformation der Elektrizitätswirtschaft in den neuen Bundesländern wird thematisiert. Berücksichtigt werden darüber hinaus Ausfiihrungen über den Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität und Entwicklungsperspektive ostdeutscher Industrieunternehmen. Schließlich wird auch der Frage nachgegangen, ob es eine Alternative zum praktizierten deutschen Wiedervereinigungsprozeß gab. Zwei regional begrenzte Themen über Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet vor und nach der deutschen Vereinigung sowie Bevölkerungsentwicklung und siedlungsstrukturelle Konsequenzen in Thüringen seit 1990 schließen die Arbeit ab. Karl Eckart
INHALT Vorwort ............................................................................................................... 7 Rainer Karlsch Die Reparationsleistungen der SBZIDDR im Spiegel deutscher und russischer Quellen ............................................................................................... 9 Werner Plumpe Die Reparationsleistungen Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ........................................................................................................... 31 Kar! Eckart Die Agrarwirtschaft in den beiden deutschen Staaten ...................................... 47 Hartmut Kowallce Die Entwicklung der Industriestruktur und der Standortverteilung der Industrie in Sachsen nach dem 11. Weltkrieg .................................................... 77 Falk Küchler Die Geschichte der Einbindung der DDR-Volkswirtschaft in die internationale Arbeitsteilung. Versuch einer wirtschaftshistorischen Analyse ........ 99 Dletmar Petzina Deutschland und die wirtschaftlichen Folgen des Ost-West-Konflikts nach dem Zweiten Weltkrieg .......................................................................... 153 Matthias Judl Periodisierung der Wirtschaft der DDR .......................................................... 169 Matthias Judl Aktuelle sozioökonomische Entwicklungsprozesse und Probleme im vereinigten Deutschland - Statement .............................................................. 185 Hans Viehrig "Potentiale und Chancen der Kohle-Energie-Region im südlichen Brandenburg im Rahmen des Umbaus der wirtschaftlichen Strukturen Ostdeutschlands ............................................................................................... 189 Hans-Peler Müller Die Strom verträge von 1990 und der "Stadtwerkestreit". Zur Transformation der Elektrizitätswirtschaft in den neuen Bundesländern ................ 197
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Inhalt
Jörg Roesler Der Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität und Entwicklungsperspektive ostdeutscher Industrieunternehmen. Versuch einer Typisierung rur den Zeitraum 1990 - 1997 ........................................... 229 Spiridon Paraskewopoulos Gab es eine Alternative zum praktizierten deutschen Wiedervereinigungsprozeß? ............................................................................ ,...................... 265 Hans-Joachim Bürkner Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet vor und nach der deutschen Vereinigung ............................................. 277 Helmut Jenkis Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik - Sozialökonomische Grundlagen ......................................................................................... 299 Jürgen Schulz Bevölkerungsentwicklung und siedlungsstrukturelle Konsequenzen in Thüringen seit 1990 ......................................................................................... 353 Autoren und Herausgeber ............................................................................... 369
Rainer Karlsch DIE REPARATIONSLEISTUNGEN DER SBZ/DDR IM SPIEGEL DEUTSCHER UND RUSSISCHER QUELLEN
1. Alte Kontroversen
Das Thema der deutschen Reparationen besaß bis 1990 erhebliche außenpolitische Brisanz, zumal das Londoner Schulden abkommen vom Februar 1953 die Möglichkeit weiterer alliierter Reparationsforderungen für den Fall der deutschen Wiedervereinigung offen gelassen hatte. Im Zuge der 2+4Verhandlungen konnte ein Neuaufleben alter Forderungen jedoch abgewendet werden. Selbst eine deutsch-deutsche Diskussion um die einseitigen ostdeutschen Nachkriegslasten kam 1989/90 nicht zustande. Die Modrow-Regierung versuchte vergeblich, unter Verweis auf einen "Reparationsausgleichsplan" des Bremer Historikers Amo Peters I, von der Bundesregierung einen Kredit in Höhe von 15 Mrd. DM zu erhalten. Doch Anfang 1990 war absehbar, daß auch mit dieser Summe die DDR nicht mehr zu retten gewesen wäre? Jedenfalls verlor die Reparationsfrage 1990 ihre unmittelbare außen- und innenpolitische Bedeutung. Das Thema verschwand aus der Tagespolitik und spielte nunmehr eine wichtige Rolle bei den Debatten um die Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. 3 Dabei kam es zu einer bemerkenswerten I Amo Peters hatte die Idee eines Reprarationsausgleichsplanes erstmals im Juli 1964 präsentiert. Zum damaligen Zeitpunkt sollte nach seiner Auffassung die Bundesrepublik der DDR ca. 88 Mrd. DM geschuldet haben. Seiner Zinseszinsrechnung von 1989 basierte u.a. auf den (überhöhten) Reparationsangaben aus dem DDR-Handbuch, Köln 1985, S. I 121f. Gemäß der neuen Rechnung von Peters sollen die "Reparationsschulden der Bundesrepublik gegenüber der DDR" bis 1989 auf 727 Mrd. DM aufgelaufen sein. 2 Vgl. ND vom 24.5.1993, Podiumsgespräch "Die Reparationsfrage". 1 Vgl. Wilma Merkel und Stefanie Wahl, Das geplünderte Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991; Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZIDDR 1945-1953, Berlin 1993; Albrecht Ritschl, An Exercise in Futility: East German Economic Growth and Decline 1945-89, Discussion Paper No. 984, London 1994; Christoph Buchheim, Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden 1995; Christoph Buchheim, Die Wirtschaftsordnung als Barriere des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in der DDR, in: VSWG, Jg. 82, 1995/2, S. 194-210; Hans-
10
Rainer Karlsch
Verkehrung bisheriger Argumentationsmuster. Bis 1989 waren die Reparationslasten von offizieller Seite in der DDR möglichst heruntergespielt worden. Umgekehrt bestand im Westen die Tendenz, die sowjetischen Reparationsentnahmen zu überhöhen. 4 Im Jahr 1990 konterten die Kritiker von Peters, der von einseitigen ostdeutschen Lasten sprach, mit Rechnungen, die nunmehr, ganz im Gegensatz zu den Bilanzen der ftlnfziger Jahre, von annähernd gleichen Nachkriegslasten der beiden deutschen Staaten ausgingen. 5 Eine solch verblüffende Wendung war freilich nur möglich durch die Vermengung zweier Problemkreise - der Reparationen und der Wiedergutmachungs leistungen. Den höheren Reparationen ftlr die Sowjetunion und Polen, von der SBZIDDR nahezu allein bezahlt, wurden die Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik gegenübergestellt. In der Tat hatte die DDR fur die Wiedergutmachung nahezu nichts bezahlt. 6 Verkürzt ausgedrückt, läßt sich feststellen, daß im Westen die Juden und im Osten die Sowjetunion und die Kommunisten als Hauptopfer des Nationalsozialismus angesehen wurden. 7 Damit korrespondierte, daß Reparationen und Wiedergutmachung in der Bundesrepublik und der DDR in einem diametral entgegengesetzten Verhältnis standen. Die DDR mußte sich auf die Reparationsleistungen an die Sowjetunion und Polen konzentrieren. Die Bundesrepublik hingegen kam im Bereich der Reparationen durch das Petersberger Abkommen von 1949 und das Londoner Schuldenabkommen von 1953 recht glimpflich davon. Jedoch leistete und leistet bis heute die Bundesrepublik in erheblichem Maße individuelle und kollektive Wiedergutmachung, wovon der größte Teil ins Ausland floß. 8 Allerdings vernachlässigt die Gegenüberstellung von Reparations- und Wiedergutmachungsleistungen den unterschiedlichen Zeithorizont. Der Schweizer Jürgen Wagener, Anlage oder Umwelt? Überlegungen zur Innovationsschwäche der DDRWirtschaft, in: Berliner Debatte Initial, 1995/1, S. 67-82; Manfred Wegner, Die DDR im wirtschaftlichen Rückblick 1996, München 1996. • Vgl. z.B.: DDR-Handbuch, Bd. 2, Köln 1985, S. 1121f. Auch Wilma Merkel und Stefanie Wahl, Das geplünderte Deutschland, S. 16 haben noch eine Gesamtsumme von mehr als 100 Mrd. M Reparationsleistungen genannt, ohne auf das Problem der Doppelzählungen einzugehen. 5 Vgl. I.L. Collier, Reparationen und Professor Peters Schuld, in: Deutschland-Archiv 1990/6, S.873ff. 6 Vgl. Konstantin Goschler, Nachkriegsdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches - Ende des zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 317-342. 7 Vgl. Lutz Niethammer, Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Der historische Ort des Nationalsozialismus (Hg. Walter H. Pehle), FrankfurtlM. 1990, S. 118. 8 Vgl. Jörg Fisch, Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg, München 1992, S. 219ff.
Die Reparationsleistungen der SBZIDDR
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Historiker Jörg Fisch stellte dazu treffend fest: "Letztlich können hohe Reparationsleistungen eines vom Krieg zerstörten Staates unmittelbar nach der Niederlage kaum mit geringfUgigen regelmäßigen Haushaltszahlungen einer gewaltigen prosperierenden Volkswirtschaft verglichen werden."9 Die Gegenüberstellung von Reparationen und Wiedergutmachungsleistungen tendiert dazu, die enormen Unterschiede in der Belastung während der entscheidenden ersten Nachkriegsjahre zu verwischen. 2. DemfJntageverluste
In den achtziger Jahren bemühten sich Manfred Melzer lO , Wolfgang Zank " und ansatzweise auch eine Ostberliner Forschungsgruppe um Jörg Roesler '2 , die Auswirkungen Demontageverluste in der SBZ im Gegensatz zur älteren Forschung 13 zu relativieren. Christoph Buchheim ging 1996 noch einen Schritt weiter und stellte die Demontagen in der SBZ, ähnlich denen in den Westzonen, als eine Modemisierungschance (" verkappter Segen") fUr die SBZ-Wirtschaft dar. '4 Je größer die Demontageverluste in einer Branche, desto größer der Zwang zu Neuinvestitionen. Denkt man diese These konsequent zu Ende, so hätten komplett demontierte Branchen (Flugzeugindustrie, Stahlindustrie, Automobilbau, Reifenindustrie usw.) die größten Wachstumschancen besitzen müssen. Derartige Überlegungen haben den Nachteil, daß sie völlig von den konkreten historischen Rahmenbedingungen abstrahieren. Nach meiner auf den Demontagelisten der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) beruhenden Schätzung von 1993 wurden in der SBZ bis zu 2 500 Betrieb demontiert. Diese Schätzung lag über dem bis dahin von Harmssen angegebenen Höchstwert von 2 100 demontierten Betrieben. Die inzwischen aufgefundenen kompletten sowjetischen Demontagelisten legen sogar nahe, von ca. 3 400 Betrieben abgebauten Betrieben auszugehen. 's 9
Ebd., S. 226.
Vgl. Manfred Melzer, Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der DDR von 1936 bis 1978 sowie Schätzung des künftigen Angebotspotentials (DIW Beiträge zur Strukturforschung Heft 59), Berlin 1980. 11 Vgl. Wolfgang Zank Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland, München 1987. 12 Vgl. Jörg Roes1er, Veronika Siedt, Michael Elle, Wirtschaftswachstum in der Industrie der DDR 1945-1970, Berlin 1986. 10
Vgl. insbesondere: Gustav-Wilhelm Harmssen, Am Abend der Demontage, Bremen 1951. Vgl. Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in München. Berichtsband, München 1997, S. 235ff.; Bericht über die Sektionen des Historikertages in München, in: DeutschlandArchiv 1997/5. 13
14
15 Vgl. Michael Semirjaga, Kak my upravjali Germanije, Moskva 1995, S. 124; Norman Naimark, The Russians in Germany, Cambridge 1995, S. 169.
Rainer Karlsch
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Allein Sachsen verlor fast 1 000 Werke und damit deutlich mehr als alle drei Westzonen zusammengerechnet (667). Entwicklung des Bruttoanlagevermögens in der SBZ 1936-48 (Preis basis 1944)16 Position BAV 1936
in Mrd. RMPB 1944) 9,44 Mrd. RM
1936 = 100
100
+ Brutto-Anlageinvestitionen 1936-45
+ 7,11 Mrd. RM
75,3 v.H.
- Abschreibungen 1936-45
- 3,51 Mrd. RM
- 37,2 v.H.
- Kriegszerstörungen
- 1,42 Mrd. RM
- 15,0 v.H.
BAV 1945
11,62 Mrd. RM
123,1 v.H.
+ Brutto-Anlageinvestitionen 1946-48
+ 0,82 Mrd. RM
8,7vH.
- Abschreibungen 1946-48
- 1,09 Mrd. RM
11,5 v.H.
- 4,33 Mrd. M
46,0 v.H.
- Demontagen 1945-48 BAV 1948
7,02 Mrd. RM
74,3 v.H.
Wichtiger als die Feststellung der bloßen Zahl der demontierten Objekte ist die Abschätzung der volkswirtschaftlichen Verluste. Die Berechnung der Kapazitätsverluste und der Verluste beim Bruttoanlagevermögen ist sehr kompliziert und kann nur zu ungeflihren Resultaten fUhren. In der Bi-Zone lag demgegenüber das BAV 1948 noch deutlich über dem Vorkriegsstand 17 Noch drastischer widerspiegeln sich die Demontageverluste beim Rückgang der industriellen Kapazitäten. Von Branche zu Branche verschieden fiel das Kapazitätsniveau weit hinter den Vorkriegsstand zurück. Eine grobe Schätzung von Wemer Matschke, beruhend auf Erhebungen des Bundesamtes fUr gewerbliche Wirtschaft in Eschbom, gibt einen Überblick. 16 Vgl. Rainer Karlsch, Umfang und Struktur der Reparationsentnahmen aus der SBZIDDR 1945-1953. Stand und Probleme der Forschung, in: Christoph Buchheim, Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZIDDR, Baden-Baden 1995, S. 45ff. 17 Vgl. Wemer Abe1shauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1983, S. 20.
Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR
13
Kapazitätsverluste ausgewählter Industriezweige der SBZ 'S
Industriezweig
Kapazitätsverlust
Automobilbau
4/5
Eisenerzeugung
Y.
Werkzeugmaschinen-Industrie
Y.
Lokomotivbau
Y.
Elektroindustrie
2/3
Optische Industrie
2/3
Feinmechanische Industrie
lh
Pharmazeutische Industrie
1/3
Schuh industrie
1/3
Textilindustrie
1/5
Lebensmittelindustrie
1/5
Bei aller Problematik solcher Schätzungen werden die Schwerpunkte der Demontagen und die Tiefe des Einschnittes 1945/46 deutlich. Im Interesse der besseren Anschaulichkeit, sollen nun auch noch die Demontageverluste ausgewählter Branchen bzw. Unternehmen angeftlhrt werden . Die während des Krieges im mitteldeutschen Raum und in Sachsen stark ausgebaute Flugzeugindustrie wurde im Zuge der industriellen Abrüstung komplett abgebaut. Ein sowjetischer Bericht über die "industrielle Entwaffnung in Sachsen" verdeutlicht dies. Auch die hochentwickelte sächsische Fahrzeugindustrie erlitt gravierende Einbußen. Die wichtigsten Werke Horch und Audi benötigten ungefähr zehn Jahre, um wenigstens den Vorkriegsstand wieder zu erreichen. Etwas günstiger als in der Fahrzeugindustrie sah es in der chemischen Industrie aus, obwohl vor allem die großen Werke der I.G. Farbenindustrie AG und der BRABAG erhebliche Demontageverluste erlitten. Diesen Werken wurden jedoch "industrielle Kerne" belassen. IR Vgl. Wemer Matschke, Die industrielle Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945 bis 1948, Berlin 1988, S. 195.
14
Rainer Kar1sch
Demontageverluste der sächsischen Flugzeugindustrie und des Werkzeugmaschinenbaus '9 in Prozent
Maschineneinheiten
Davon demontiert
Flugzeugbau
2765
2765
100,0%
Flugzeugmotoren
1 519
1 519
100,0%
Luftschraubenherstellung
1 181
1 181
100,0%
Baugruppen für Flugzeuge
5100
4346
84,9%
Gerätebau für Flugzeuge
1802
1455
83,6%
Schleifmaschinenbau
1 713
1487
86,8%
Werkzeugmaschinenbau
40300
33 172
82,2%
Werkzeugbau
8942
4036
45,1%
Schmiede- und Pressen bau
2747
1 729
62,9%
Produktionsprofil Flugzeugindustrie
Werkzeugmaschinenbau
Die wirtschaftliche Entwicklung des Audi-Werkes in Zwickau von 1936 bis 1955 (Zahlen gerundet)lO Kennziffer
Maßeinheit
1936
1944
Kapazität
Mio. RMIM
22,0
37,0
1,4
15,3
Produktion
Mio. RMIM
21,5
36,8
1,4
8,6
61,3
Mio.M
23,7
36,8
1,4
3,6
25,5
Stück
325
942
98
324
1946
1949
1955
(lfd. Preise) Produktion (PB 1944) WerkzeugMaschinen
19 Zahlen zusammengestellt nach: Kurt Arlt, Die militärische und ökonomische Entwaffnung in Sachsen 1945 bis 1948, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 52 (1993), S. 406f. 20 Zusammengestellt nach: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, AußensteIle Chemnitz, IFA KfZ Werk Audi, Nr. 189; Nr. 198, Nr. 359.
15
Die Reparationsleistungen der SBZIDDR
Fertigungs-
m2
32000
48187
12000
38419
1 184
2480
403
906
1 825
18 125
14839
3360
9502
33589
Fläche Belegschaft Personen Pro Kopf Leistung
RM/M
Belegschaft und Umsatz der Horch-Werke Zwickau 1936 bis 19542 \ Umsatz in Mio. M
Umsatz, PB 1944
5250
45,2
45,2
1940
6500
70,8
1944
10333
125,0
110,0
1946
1 850
7,4
7,4
1947
2067
11,0
1l,0
1950
3800
57,1
30,0
1954
4898
146,7
77,7
Jahr
Belegschaft
1936
Kriegszerstörungen und Demontagen in Werken der chemischen Industrie der SBZ22
Werke Leuna-Werke Merseburg
KriegszerStörungen 25 %
Stickstoffwerk Piesteritz Elektrochemisches Kombinat Bitterfeid
5%
Demontagen 50%
Verbliebene Anlagen, gemessen am Stand von 1944 25 %
70%
30%
55 %
40%
21 Zahlen zusammengestellt nach: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, AußensteIle Chemnitz, IFA Ktz Werk, Horch Werk, Nr. 374,479,573. Die Umrechnung auf die Preise des Jahres 1944 beruht auf einer plausiblen Schätzung. 22 Vgl. Rainer Karlsch, Capacity Losses, Reconstruction and Unfinished Modernization: The chemical Industry in the Soviet Zone of Occupation (SBZ)/GDR 1945-1965, Working Paper, Berkeley 1997, S. IOr.
Rainer Karlsch
16
Farbenfabrik Wolfen
10%
50%
40%
Filmfabrik Agfa Wolfen
10%
25%
65 %
Buna Schkopau
10%
20%
70%
Nur die Agfa Filmfabrik Wolfen und das Buna-Werk in Schkopau behielten ca. 2/3 ihrer Anlagen. Alle anderen großen I.G.-Werke verloren weit mehr als die Hälfte ihres Anlagevermögens. Ähnliches kann auch für die Elektroindustrie, deren wichtigste Werke sich in Berlin befanden, festgestellt werden. Nur ein großes AEG-Werk, das Kabelwerk Oberspree, behielt etwas mehr als 2/3 seiner Maschinen und Anlagen. Demontagen in Werken der Berliner Elektroindustrie23
Werke AEG-Apparatefabriken Treptow (EA W) AEG TranformatorenFabrik Siemens-Plania Lichtenberg AEG-Kabelwerk (KWO)
Demontagen 95 %
Verbliebene Anlagen, gemessen am Stand von 1944 5%
90%
10%
70%
30%
30%
70%
Diese von Johannes Bähr zusammengestellten Angaben widerlegen nebenbei bemerkt überzeugend die in der Berlin-Literatur oft kolportierte These von den weitaus höheren Demontageverlusten in den Westsektoren der geteilten Stadt. 24 Bis heute widerspiegelt sich der Abbau des "zweiten Gleises" im kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen. Das "zweite Gleis" gilt als Synonym für die sowjetische Demontagepolitik und ihre bis zum Ende der DDR spürbaren Nachwirkungen. 25 Dank der Studien von Rüdiger Kühr besitzen wir nunmehr auch genauere Angaben über die Demontageverluste der Deutschen Reichsbahn. Nach seinen Vgl. Johannes Bähr, Industrie im geteilten Berlin, Habilschrift FU Berlin 1997, S. 92. Vgl. z.B. Karl C. Thalheim, Die Wirtschaft Berlins zwischen Ost und West, in: Ernst Birke, RudolfNeumann (Hg.), Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, Bd. I, FrankfurtlM. 1959, S. 333371. 25 Vgl. Jörg Roesler, Das zweite Gleis, in: Spuren Suchen 1990, Heft 4, S. 43ff. 23
24
Die Reparationsleistungen der SBZIDDR
17
Erhebungen wurden ca. 25 % der Hauptgleise abgebaut. Besonders gravierend waren die Verluste der Reichsbahn an Güterwaggons und Lokomotiven. Ihr Bestand sank kriegs- und demontagebedingt 1946/47 im Vergleich zu 1936 auf ca. 37 % bzw. 58 % ab. Dennoch kam es zunächst nicht, wie es Wolfgang Zank in seiner Untersuchung über die SBZ-Wirtschaft 1987 26 mutmaßte, zu einer so schweren Krise des Transportwesens, daß diese die industrielle Entwicklung schon 1945/46 lähmte. Die Untersuchung von Kühr zeigt einmal mehr, daß Analogieschlüsse von der west- auf die ostdeutsche Nachkriegsentwicklung ohne ausreichende Quellenbasis in die Irre führen können.
Verlustbilanz der Reichsbahn bei Lokomotiven (1936 = 100)27 betriebsfahige Lokomotiven
Jahr
Index
1936
4708
März 1946
3550
November 1946
3564
Juli 1947
2760
58,6
März 1948
2959
59,2
Nov. 1949
3674
78,0
Dez. 1957
4879
103,6
100
Verlustbilanz der Reichsbahn bei Güter- und Personenwagen (1936 = 100)28 Jahr
Güterwagen
Index
1936
176601
100
1946
65879
37,3
1947
67090
38,0
1948
68225
40,8
Personenwagen
Index
15476
100
5042
32,6
Vgl. Wolfgang Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland, München 1987. zusammengestellt nach: Rüdiger Kühr, Reparationsverluste und Sowjetisierung des Eisenbahnwesens der SBZ 1945-1949, Bochum 1997, S.191f. 28 zusammengestellt nach: Ebd. 26
27
2 Eckart I Roesler
Rainer Karlsch
18
1949
72 118
40,8
1950
81 780
46,3
1951
82028
46,4
1957
131 894
74,7
9009
58,2
Länge der durchgehenden Hauptgleise auf dem Gebiet der SBZ 1939 bis 1956 Jahr
Strecken länge
Index
1939
23275 km
100,0
Jan. 1946
19794 km
85,0
Dez. 1950
17268 km
74,2
1956
18098 km
77,8
Fassen wir die Folgen der Demontagen in Stichpunkten zusammen. Kurz- und mittelfristige Folgen der Demontagen: -Verschwinden der Rüstungsindustrie - starke Reduzierung der in der SBZ ohnehin unterrepräsentierten schwerindustrielIen Branchen - Steigen der Arbeitslosigkeit - Sinken der Produktivität und Erhöhung des Anteils der Handarbeit Längerfristige Folgen der Demontagen: - chronische Transportengpässe - Präjudizierung der Investitionstätigkeit. 3. Die Wende in der sowjetischen Reparationspolitik Von ihren ursprünglichen Intentionen her war die sowjetische Reparationspolitik auf einen "harten Frieden" gerichtet. Dies widerspiegelte sich insbesondere in den Planungen des Außenministeriums und in der Demontagepolitik des Sonderkomitees. Nachdem die ersten Nachkriegsmonate die praktische Undurchfiihrbarkeit von gleichzeitigen Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion offenbart hatten, ging die Besatzungsmacht zu weniger destruktiven Formen der Reparationsentnahmen über. Zunächst entstand vornehmlich in rüstungswichtigen Betrieben ab Sommer 1945 eine "industrielle Sonderstruktur". Wichtiger
Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR
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Bestandteil dieser Struktur waren Konstruktions- und Ingenieurbüros, über die der Know how-Transfer aus Deutschland in die Sowjetunion lief. Mitte 1946 gab es in der SBZ mehr als 200 WTB, in denen mehr als 8 000 Spezialisten und 11 000 Arbeiter tätig waren. 29 Grundsätzlich zeichnete sich mit der Errichtung von WTB bzw. SKB ein neues Element der sowjetischen Reparationspolitik ab. Die sowjetische Demontage- und Reparationspolitik veränderte sich in diesem speziellen Fall schon frühzeitig und aus ganz pragmatischen Erwägungen heraus. JO Den entscheidenden Bruch mit den ursprünglichen Reparationsprinzipien markierte dann die im Sommer 1946 beginnende Bildung von SAG-Betrieben. J' Ihre Bildung bedeutete das Ende der Politik der "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln". Wäre diese Wendung nicht, oder auch nur einige Monate später erfolgt, hätte dies für die SBZ-Wirtschaft fatale Konsequenzen gehabt. Die Erhöhung der Effektivität der Reparationsentnahmen und Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage in der SBZ waren wichtige Ziele der Neuausrichtung der sowjetischen Besatzungspolitik. Mit der Bildung der SAG wurden jedoch auch noch andere Ziele verknüpft. Die Einrichtung der SAG ermöglichte eine bessere Kontrolle über die Schlüsselbereiche der Wirtschaft der SBZ sowie die direkte Planung und Koordinierung der Reparationsproduktion. Ob sich die Sowjetunion mit dem Kurswechsel in der Reparationspolitik im Sommer 1946 endgültig auf einen Alleingang festlegte, damit die Spaltung Deutschlands forcierte und sich freie Hand für die exklusive Ausbeutung der SBZ schuf oder trotzdem an ambitionierten deutschlandpolitischen Optionen festhalten und dafür ein flexibles Instrument schaffen wollte, ist unter Zeithistorikern nach wie vor sehr umstritten. 32 Bis 1949 wurde der größte Teil der Produkte der SAG-Betriebe a Konto Reparationen in die Sowjetunion geliefert. Danach erfolgte die Ausrichtung auf den sowjetischen und osteuropäischen Markt vornehmlich über den regulären Außenhandel. Vgl. Semrijaga, Kak myupravijal:, S. 139. Vgl. Burghard Ciesla, Der Spezzialistentransfer in die UDSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR, in: Das Parlament. Beilage B 49-50 1993, S. 24- 31 11 Vgl. Rainer Karlsch, Johannes Bähr, Die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) in der SBZIDDR, in: Karl Lauschke, Thomas Welskopp (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen, Essen 1994. 12 Während Gunter Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945-1948. Alliierte Einheit deutsche Teilung?, München 1995, S.165ff., 334 die SAG-Bildung als Zeichen für einen Alleingang deutet, auch um die Produktionsbegrenzungen des alliierten Industrieniveauplans vom März 1946 zu umgehen, ist Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 68ff. genau der entgegengesetzten Meinung. 29
30
2*
20
Rainer Karlsch
Die SAG-Betriebe wurden im Bewirtschaftungssystem in jeder Beziehung bevorzugt und die betrieblichen Versorgungsleistungen waren besser als in anderen Werken. 33 Infolgedessen erzielten die SAG-Betriebe größere Produktionszuwächse als die übrige Industrie. Die wirtschaftliche Anbindung der SBZIDDR an die Sowjetunion wäre sicher auch ohne die SAG-Bildung gekommen, verlief aber dadurch noch eindeutiger und rascher. Wenn trotz der denkbar schlechten Startbedingungen flir die Industrie in der SBZ hohe Zuwachsraten verzeichnet werden konnten, so spricht dies sowohl flir den Wiederaufbauwillen der Belegschaften als auch flir die kurzfristig positiven Wirkungen der Reparationsaufträge ("Reparationskonjunktur"). Die verbliebenen industriellen Potentiale wurde revitalisiert und veraltete Technik durch den Mehreinsatz menschlicher Arbeit kompensiert. Die Reparationsproduktion bot der ostdeutschen Industrie über Jahre eine Absatzgarantie, flihrte jedoch gleichzeitig zu einer anhaltenden Unterversorgung des Binnenmarktes. Die Konzentration des Wiederaufbaus auf die SAGBetriebe hatte zudem nachteilige Wirkungen auf die mittleren und kleinen Betriebe, deren Expansionsmöglichkeiten im Zuge der Systemtransformation ohnehin stark beschnitten wurden.
4. Lieferungen aus der laufenden Produktion und" indirekte Reparationen" An der Produktion von Reparationsgütern waren nicht allein die SAGBetriebe beteiligt. Auf diese Betriebe entfiel ungeflihr die Hälfte der Reparationsproduktion. Der Rest wurde von Staatsbetrieben (VEB) und in geringerem Umfang auch von Privatbetrieben gefertigt. Entsprechend den von der SMAD bzw. SKKD vorgegebenen Reparationsplänen hatte die Industrie der SBZ/DDR Reparationsgüter zu fertigen. Der Versuch diese Leistungen zu bilanzieren, war bis 1990 mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Entnahmen aus der laufenden Produktion wurden von der DDR-Forschung bis 1990, aufgrund von Doppelzählungen, deutlich überschätzt. Eine Gegenüberstellung bekannter älterer und neuer Schätzungen verdeutlicht dies.
11 Vgl. Rainer Karlsch, Johannes Bähr, Die Sowjetischen Aktiengesellschaften, S. 214ff.; Norman M. Naimark, The Russians in Germany, S. 189ff.; Annegret SchUle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in ThUringen 1816-1995, S. 216ff.
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Schätzungen der Entnahmen aus der laufenden Produktion der SBZ 1945 bis 1948 in Mrd. M (Preisbasis 1936) Autor
Jahr
Schätzung
Hannssen
1948
13,40
Nettl
1953
6,19
Karlsch
1993
3,94
Die Jahresberichte der Landesregierungen und des Amtes fllr Reparationen der DWK bzw. Regierung der DDR erlaubten 1993 eine wesentliche Präzisierung der Rechnung. Reparationen aus der laufenden Produktion laut Abrechnung der Landesregierungen und des Amtes für Reparationen, ohne Uranbergbau (in Mio. RM bzw. M)34 Zeitraum
Preisbasis 1944
Aktuelle Preise
1945-53
7650
11480
Bei einem Kursverhältnis: 1 $ : 4 RM und unter Berücksichtigung der Preisbasis von 1938 (Preisbasis von 1944 - 10 % = Preisbasis von 1938, d.h. 7 650765 = 6 695:4 = 1 750 Mio. $) ergibt dies einen Gegenwert von 1,75 Mrd. Dollar. Selbst unter Berücksichtigung aller Nebenkosten lag die vom Amt fllr Reparationen ausgewiesene Summe von ca. 11,5 Mrd. M. erheblich unter den bis dahin kursierenden Schätzungen, die fllr diese Position zwischen 26 und 36 Mrd. M schwankten. 3s Allerdings ist mit der Auswertung der Berichte des Amtes fllr Reparationen das Problem noch nicht gelöst. Ebenfalls Anrechnung auf dem Reparationskonto unter der Position "laufende Produktion" fanden die Uranlieferungen der Wismut AG. Sie repräsentierten ca. 40 % der Gesamtsumme dieser Position. Neben den offiziell auf dem Reparationskonto verrechneten Lieferungen gab es noch eine Vielzahl "verdeckter laufender Leistungen", deren Erfassung, geschweige denn exakte Bewertung kaum noch möglich ist. Die indirekten Reparationen seien an dieser Stelle nur genannt: Gewinne und Pachten der SAG, Exportgewinne der SAG, Aufkäufe sowjetischer Handelsgesellschaften, J4
Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt?, S. 194.
JS
Vgl. Jörg Fisch, Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg, S. I 95ff.
22
Rainer Karlsch
Beute- und Besatzungsgeld sowie die verschiedenen Fonnen der "intellektuellen Reparationen". 36 Nicht weiter erläutert werden sollen die Besatzungskosten. Sie beliefen sich bis Ende 1953 auf ca. 17 Mrd. Mark. 37 Die Pro-Kopf-Belastungen durch Besatzungskosten waren in beiden deutschen Teilen bis 1953 in etwa gleich. Offiziell endete die Zahlung von Besatzungs- bzw. Stationierungskosten für die DDR ab 1959. Dennoch wurden auch weiterhin Stationierungskosten entrichtet, da die jährlichen DDR-Mark Zuweisungen für die sowjetischen Truppen nicht zum kommerziellen Kurs, sondern zu einem für die Sowjetunion vorteilhaften Kurs verrechnet wurden. 38 Mit dem "Stationierungsabkommen" vom 12. März 1957 und den Folgedokumenten von 1958 war ein neuer rechtlicher Rahmen geschaffen worden, der bis zum Ende der DDR Gültigkeit besaß. 39 5. "Reparationsindustrien ": Uranbergbau, Werften
und Schwermaschinenbau
Noch immer unterschätzt wird die nachhaltige Veränderung der Industriestruktur in der SBZIDDR infolge der sowjetischen Reparationspolitik. Deshalb sei ausdrücklich auf die ambivalenten Wirkungen der "Reparationskonjunktur" verwiesen. Zu dem mit Abstand wichtigsten Reparationsunternehmen entwickelte sich der Uranbergbau der Wismut AG. Innerhalb weniger Jahre stieg dieses Unternehmen zum drittgrößten Uranproduzenten der Welt auf. Anfang der fünfziger Jahre zählte die Wismut AG ca. 200000 Beschäftigte. 40 Nach der Schließung besonders unrentabler Schächte und der Mechanisierung der Unter-TageArbeiten pegelte sich die Beschäftigtenzahl bis Anfang der sechziger Jahre bei ca. 46 000 ein.
36 Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt?, S. 193ff.; Matthias ludt and Burghard Ciesla (Hg.), Technology Transfer Out ofGerrnany after 1945, Washington 199636 J7 Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt?, S. 221. 38 Vgl. Rainer Karlsch, "Ein Buch mit sieben Siegeln". Die Schattenhaushalte für den Militärund Sicherheitsbereich in der DDR und ihre wirtschaftliche Bedeutung, in: Wolfram Fischer (Hg.), Wirtschaft im Umbruch, SI. Katharinen 1997, S. 282-306. 39 Vgl. Rainer Karlsch, "Wirtschaftliche Belastungen durch bewaffnete Organe", Expertise im Auftrage des Deutschen Bundestages, Bonn 1997. 40 Vgl. Rainer Karlsch, Harm Schröter (Hg.), "Strahlende Vergangenheit". Studien zur Geschichte der Wismut, SI. Katharinen 1996.
Die Reparationsleistungen der SBZIDDR
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Von 1946 bis 1953 lieferte die Wismut AG fast 9 500 t Uran und war damit der wichtigste Lieferant für die sowjetische Atomindustrie. Für diese Lieferungen erhielt die DDR Gutschriften auf dem Reparationskonto. Ungefähr 40 % der Gutschriften für sämtliche Lieferungen aus der laufenden Produktion entliefen auf die Uranlieferungen. Dies unterstreicht die Sonderstellung der Wismut AG. Den bis Ende 1953 erfolgten Gutschriften in Höhe von ca. 350 Mio. $ stand ein direkter Aufwand von mehr als 7,2 Mrd. Mark gegenüber. D.h. um einen "Reparations dollar" zu erwirtschaften, mußte die DDR im Durchschnitt mehr als 20 Mark für die Uranerzgewinnung aufwenden. Unter Einbeziehung der indirekten Kosten verschiebt sichdie $-DDR-Mark Relation noch weiter. Auch nach dem Ende der Reparationen und der Umwandlung der Wismut in eine gemischte sowjetisch-deutsche AG blieb die Uranförderung bis 1990 ein gigantisches Zuschußgeschäft. Zwischen 1954 und 1985 wurden für die Subventionierung der SDAG Wismut ca. 20 Mrd. M aufgewandt. Ganz zu schweigen von den menschlichen Opfern und den ökologischen Schäden. Eine zweite große Reparationsindustrie entstand mit den Werften an der Ostseeküste. Die sowjetischen Reparationsforderungen stellten in diesem Fall de facto ein regionales Strukturprogramm dar, in dessen Zuge die Demontageverluste (Flugzeugindustrie ) mehr als ausgeglichen werden konnten. Der ansonsten chronisch strukturschwache Norden erhielt damit einen Industriealisierungsschub. Vor dem zweiten Weltkrieg wurden im Schiffbau der späteren SBZ lediglich 5 000 Beschäftigte gezählt. Im Jahr 1953 hingegen mehr als 56 000. 41 Bis Ende 1953 wurden 1 160 Schiffe für die "Weltmacht ohne Flotte", also die Sowjetunion, gebaut bzw. repariert. Problematisch war nicht der Aufbau der Werften, sondern ihre weitgehende Abhängigkeit vom sowjetischen Markt. Ähnliches trifft auch auf den Ausbau des Schwermaschinenbaus in der SBZIDDR zu. Vor allem die Werke in Magdeburg (Krupp-Gruson, Mackensen) und Leipzig veränderten im Zuge der sowjetischen Reparationspläne ihr Produktionsprofil. 42 In den "Reparations industrien" wurden mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen, die dann bis zum Ende des Ostblocks vom Hauptabnehmer Sowjetunion abhingen. Insofern kann durchaus von einer "Schicksalsgemeinschaft" gesprochen werden .
• 1 Vgl. Dietrich Strobel, GUnter Dame, Schiffbau zwischen Eibe und Oder, Herford 1993, S. 111. 42
Vgl. Rainer Karlsch, Umfang und Struktur der Reparationsentnahmen, S. 72ff.
Rainer Karlsch
24
Die Anbindung an den sowjetischen Markt wirkte vor allen in den ersten Nachkriegsjahren wie ein großes Konjunkturprogramm und trug maßgeblich zur Rekonstruktion der ostdeutschen Wirtschaft bei. In späteren Jahren begannen diese nach 1945 entstandenen Strukturen mehr und mehr zu erstarren ("altindustrielle Gesellschaft"). 6. Sowjetische und deutsche Reparationsbi/anzen
Natürlich versuchte die Sowjetunion, wie alle anderen Siegermächte auch, den Umfang ihrer Reparationsentnahmen möglichst gering zu bewerten. Beim Vergleich verschiedener nicht publizierter und publizierter sowjetischer Rechnungen fällt auf, daß die Demontagegüter mit 2,9 Mrd. RM bzw. in einer Rechnung vom August 1948 mit mehr als 1 Mrd. $ vergleichsweise hoch bewertet wurden.
Interne Reparationsrechnung der UdSSR in Mrd. RM (PB 1938) vom Frühjahr 1947 Position
in Mrd. RM
Demontagen
2912
SAG-Übemahmewert
1 618
Lieferungen
766
Auslandsguthaben
366
Lieferungen aus Westzonen Summe
31 5693
Interne Reparationsrechnung der UdSSR in Mrd. Dollar (PB 1938) vom 2. August 194843 Position
in Mrd. $
Summe
3000
Demontagen in SBZ
1065
Demontagegüter aus Westzonen SAG-Übemahmewert
22 566
43 Vgl. Jochen Laufer, Konfrontation oder Kooperation?, in Alexander Fischer (Hg.), Studien zur Geschichte der SBZ/DDR, Berlin 1993, S. 65, Michail Semirjaga; Kak my upravijali, S. I 45ff.
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Die Reparationsleistungen der SBZIDDR
Lieferungen aus lfd. Produktion
603
Auslandsguthaben
405
Handelsflotte
127
Patente
210
Demgegenüber wurde im Falle der Westzonen von der Interalliierten Reparationsagentur der Wert der demontierten Ausrüstungen nur mit 143,5 Mio. $ angegeben ("Restwert"). Unter Zugrundelegung des "Handelswertes" ergab sich,je nach Wertansatz, eine Summe zwischen 575 und 720 Mio. $.44 Die vergleichsweise hohe Bewertung der Demontagegüter durch die Sowjetunion widerspiegelt zum einen ihren (erhofften) Wert fur den sowjetischen Wiederaufbau und zum anderen das tatsächlich weitaus größere Ausmaß der Demontagen in der SBZ. (Ähnliche Resultate dürfte ein Vergleich der Tonnage der entnommenen Ausrüstungen ergeben.) Die Verwendung der Demontagegüter in der Sowjetunion wurde von der Forschung bisher überwiegend skeptisch bewertet. Die unsachgemäße Entnahme der Maschinen und Ausrüstungen, zahlreiche logistische Probleme, fehlende Montageunterlagen und viele weitere Schwierigkeiten wurden immer wieder genannt. Zu diesem Problemkreis fehlen jedoch noch immer Detailstudien. Die russische Historiker Semirjaga schätzt den Wert der Demontagegüter für den Wiederaufbau in der Sowjetunion insgesamt sehr hoch ein und fuhrt dafür zahlreiche Beispiele an. 45 Nach seinen Recherchen gelangten mehr als 70 % der demontierten Anlagen in die russischen Kemgebiete, 21 % in die Ukraine, und der Rest entfiel auf die anderen Republiken. 46 Zu einer ganz anderen Wertung gelangt der russische Historiker Kynschewskij. Für ihn war die Demontageaktion nichts weiter als ein gigantischer Fehlschlag, in dessen Ergebnis die entnommenen Maschinen unter Schneewehen verrotteten. 47 Wichtiger für den Wiederaufbau in der Sowjetunion als die Demontagegüter waren die Lieferungen aus der laufenden Produktion der SBZIDDR, zumal es sich hierbei spätestens ab 1948 ganz überwiegend um Investitionsgüter handelte, die nach sowjetischen Vorgaben, teils auch unter sowjetischer Kontrolle,
~4 Vgl. Jörg Fisch, Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg, S. 206; Christoph Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft, München 1990, S. 85. ~s Vgl. Michail Semirjaga, Kak my upravijali, S. I 48ff. 46
Vgl. Michail Semirjaga, Kak my upravijali, S. 152.
~7 Vgl. Pavel N. Knyschewskij, Moskaus Beute, Wie Vermögen, Kulturgüter und Intelligenz
nach 1945 aus Deutschland geraubt wurden, München 1995, S. 49ff.
Rainer Karlsch
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gewissennaßen "paßgerecht" gefertigt werden konnten. Diese Leistungen sind in den sowjetischen Bilanzen entschieden unterbewertet worden.
Offizielle sowjetische Reparationsabrechnung vom August 195348 Summe in Mio. Dollar Position (Preisbasis 1938) Gesamtforderung
10000
Bis Ende 1950 bezahlt
3658
"Restschuld" Ende 1950
6 342
- Reparationserlaß 1950
- 3 171
Restforderung ab 1951
3 171
- Reparationserlaß 1953
- 2 537
Bis Ende 1953 gezahlt
634
Reparationsleistungen insgesamt
4 292
Davon: Laufende Produktion
2 808
Am Beispiel der Abrechnung der Reparationspläne für 1950 bis 1953 soll dies näher erläutert werden. Ab 1950 erfolgte die Verrechnung der Reparationsleistungen zu Weltmarktpreisen des Jahres 1938 in Dollar. Die SKKD übergab der Regierung der DDR jährliche Reparationspläne in Höhe von jeweils 211,4 Mio. $. In dieser Summe waren sowohl die Entnahmen aus der laufenden Produktion als auch ein Gegenwert für die Uranlieferungen der Wismut AG enthalten. Ein konstanter Verrechnungskurs zwischen dem "Reparationsdollar" (PB 1938) und der DDR-Mark wurde jedoch nicht festgesetzt. D.h. unabhängig von der Höhe des Aufwandes für die Reparationsproduktion und die Uran förderung bekam die DDR pro Jahr nur eine Gutschrift von 211,4 Mio. $ auf dem Reparationskonto. Aus den Notizen von Grotewohl und Pieck ist zu schließen, daß dann nachträglich "Kurse" für die Warenlieferungen und Uranförderung festgesetzt wurden. Je höher der Aufwand der DDR ausfiel, desto ungünstiger die Kursgestaltung. Eine Überschreitung der Vorgaben, also der fiktiven Plansumme von 211,4 Mio. $, wurde ausgeschlossen.
'~Vgl.
Keesings-Archiv vom 23 .8.1953, S. 4129.
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Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR
Reparationsverpflichtungen der DDR 1951 bis 1953 gemäß den sowjetischen Reparationsplänen (in Mio. $ ,PB 1938t9
Position Gesamtverpflichtungen Für 1951-53 gemäß Plan
1951-53
Pro Jahr
635,0 Mio $
211,3 Mio. $
- davon Reparationsplan
367,5 Mio. $
122,5 Mio. $
- bleiben für Wismut AG
267,5 Mio. $
89,2 Mio. $
Tatsächliche Reparationsbelastungen der DDR 1951 bis 1953 (in Mio. Mark, laufende Preise)
Position
1951-53
Durchschnitt Pro Jahr
- davon laufende Produktion
3430
1 143
- Wismut AG
4300
1433
Summe
7730
2577
Für den Zeitraum von 1951-53 ergibt sich damit die Tatsache, daß den tatsächlichen Aufwendungen der DDR für Warenlieferungen und Uranförderung in Höhe von ca. 7,73 Mrd. Mark lediglich Gutschriften in Höhe von 635 Mio. Dollar gegenüber standen. Das entsprach einer Kursrelation von 1 $ Gutschrift zu 12 DDR-Mark Aufwand. Nochmals sei betont, neben diesen anerkannten Reparationsleistungen gab es zahlreiche weitere Leistungsarten, die keinen Eingang in die Abrechnungen fanden. Reparationsbilanz der SBZIDDR (in Mio. Mllaufende Preise)50
Trophäenaktion
1,00
Demontagen
6,10
Besatzungskosten
16,80
Laufende Lieferungen
11,48
49 Errechnet nach: BArch Berlin-Lichterfelde, SAPMO, Nachlaß Grotewohl NL 90/339, Disposition zu einem Bericht über die Erfüllung des Reparationsplanes im I. Quartal 1951; Nachlaß Pieck FBS 93/1172 (NL Pieck 36/736), Besprechung mit Tschuikow am 4.4.1951. 50 Vgl. Rainer Karlsch, Kriegszerstörungen und Reparationslasten, in: Hans Erich Volkmann (Hg.), Ende des dritten Reiches - Ende des zweiten Weltkrieges, München 1995, S. 539.
Rainer Karlsch
28 "verdeckte Lieferungen"
3,50
Uranbergbau
7,30
Besatzungs- und Beutegeld
5,00
Rückkauf der SAG-Betriebe
1,75
Außenhandelsverluste
1,10 53,93
Summe
Die Tabelle weist allerdings erhebliche methodische Unzulänglichkeiten auf, da einmalige und laufende Leistungen zusammengerechnet wurden. Zudem müssen bei einer Umrechnung in Dollar, je nach Zeitraum und den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen, die einzelnen Leistungskategorien zu verschiedenen Dollarkursen bewertet werden. Bspw. ist es ein Unterschied, ob nachgewiesene Demontageschäden mit 6,1 Mrd. RM in die Bilanz eingehen, oder ob Besatzungsgeld, dessen Höhe und Verwendung unklar ist, in die Bilanz aufgenommen wird. Die Bewertungsprobleme sollen hier nicht weiter vertieft werden. Unzureichend ist jedoch eine bloße Summierung der einzelnen Reparationskategorien, ohne Beachtung der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge. Mit dem Ende der Reparationsleistungen entspannte sich ab 1954 die Haushaltslage der DDR deutlich. Bis dahin mußten die umfangreichen Reparationstransfers mit einem weitgehenden Konsum- und Investitionsverzicht bezahlt werden.
Ausgewählte Verteilungspositionen des NE der DDR 1950 und 1955 in Mrd. M (Preisbasis 1950)51 "Sonderverbrauch"
Jahr
Nettoprodukt
1950
30662
4936
1 533
1 901
1955
49819
3437
3936
5231
SI
Zusammengestellt nach: Ebd.
Subventionen VEB
Subventionen für Außenhandel
29
Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR
Ausgewählte Verteilungspositionen des Nationaleinkommens der DDR 1950 und 1955 in %52 Jahr
Nationaleinkommen
"Sonderverbrauch"
Subventionen fiirVEB
Subventionen für Außenhandel
1950
100
16,1 %
5,0%
6,2%
1955
100
6,9%
7,9%
10,5%
Der "Sonderverbrauch" im Jahr 1950 in Mrd. M 4936
Sonderverbrauch 1950 - davon bekannt: Besatzungskosten
1993
Reparationen (PB 44)
1 030
Wismut AG
1 081
SAG Investitionen
285
- Zwischensumme
4389
Sonstiges
547
Insgesamt
4936 7. Resümee
Die SBZ/DDR hat die höchsten im 20. Jahrhundert bekannt gewordenen Reparationsleistungen erbracht und damit mehr Reparationen geleistet als die Sowjetunion ursprünglich von ganz Deutschland gefordert hat. Während die Sowjetunion die Gesamtsumme der von der SBZ geleisteten Reparationen lediglich auf 4,3 Mrd. $ bezifferte, dürfte die tatsächliche Reparationssumme mindestens um das ca. 3 Fache höher gelegen haben. Möglich war dieser Reparationstransfer nur durch einen weitgehenden Konsumverzicht der Bevölkerung sowie einen Investitionsverzicht in den meisten Branchen der ostdeutschen "Rumpfwirtschaft" . Auf der ersten Blick war die sowjetische Reparationspolitik sehr erfolgreich. Weder traten die von den Amerikanern und Briten befürchteten Transferpro52 Zusammengestellt nach: Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, Berlin 1956, S. 9lf.; BArch Berlin-Lichterfelde, ON 1, VS 04/81, Nr. 5, Analyse über die Entwicklung der Finanzwirtschaft der DDR 1951-55 vom 9.9.1954.
30
Rainer Karlsch
bleme auf, noch brach die Wirtschaft im Osten Deutschlands unter den hohen Lasten zusammen. In welchen Maße der Wiederaufbau in der Sowjetunion von den Reparationen profitierte, bedarf noch eingehender Untersuchungen. Es bleibt eine hypothetische Frage, ob die Sowjetunion mit einer anderen Reparationspolitik besser gefahren wäre. Für den Osten Deutschlands blieben die Wirkungen dieser Politik höchst ambivalent. Einen "verkappter Segen" stellten die Reparationen fur die ostdeutsche Wirtschaft, trotz der "Reparationskonjunktur" und regional beachtlicher Industrialisierungseffekte, nicht dar. Heute werden die ungleich höheren Nachkriegslasten der SBZ/DDR allgemein anerkannt. Ein gegenseitiges Aufrechnen von Reparationen und Wiedergutmachung im vereinten Deutschland ist müßig. Wichtig ist viel mehr das Wissen um die höchst ungleichen Startchancen beider deutschen Teile. Erst dies ermöglicht eine hinreichende Würdigung der Wiederaufbauleistungen im Osten Deutschlands und damit auch der Lebensleistung von Millionen Menschen. Aufgabe der künftigen Forschung sollte es sein, das Thema der Reparationen in Kooperation mit polnischen und russischen Historikern zu analysieren, die Fixierung der Diskussion auf die deutsche Verlustbilanz zu beenden und statt dessen die Bedeutung der Reparationsleistungen fur das deutsch-russische Verhältnis zu thematisieren.
Werner Plumpe DIE REPARATIONSLEISTUNGEN WESTDEUTSCHLANDS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg ist bis heute nicht umfassend untersucht. Art, Struktur und Höhe von Zahlungen und Entnahmen sind zwischenzeitlich recht gut bekannt l , die Frage nach der ökonomischen Bedeutung der Reparationsleistungen sowohl für die unterschiedlichen Teile Deutschlands wie fur die Empfangerstaaten ist aber weiterhin strittig? Zwar wurden der offensichtliche wirtschaftliche Erfolg der späteren Bundesrepublik ebenso wie das erkennbare ökonomische Zurückbleiben der späteren DDR stets in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Reparationsverpflichtungen gebracht; die ökonomischen Zusammenhänge sind freilich komplexer und lassen einfache Rechnungen kaum zu. Im folgenden sollen drei Punkte zur Sprache kommen. Zunächst geht es darum, die Reparationspolitik insbesondere der westlichen Besatzungsmächte darzustellen und die Gründe zu erläutern, wie und warum es zu einer reparationspolitischen Spaltung Deutschlands lange vor der politischen Spaltung des Landes kam, die nicht unmaßgeblich dazu beitrug, daß die seinerzeitige SBZ erheblich stärker von den Reparationsforderungen betroffen wurde als die Westzonen. Im Anschluß daran ist ein Blick auf die von Westdeutschland tatsächlich erbrachten Leistungen zu werfen, um in einem dritten Schritt schließlich die ökonomische Bedeutung der Reparationen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu diskutieren. Die ersten beiden Punkte wissen sich u.a. der relativ neuen Darstellung des Schweizer Zeithistorikers Jörg Fisch 3 verpflichtet, der ReparatiI Zu Mitteldeutschland bzw. der DDR siehe Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZIDDR 1945-1953, Berlin 1993. Zu Westdeutschland Jörg Fisch, Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1992. Vgl. auch Christoph Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft, München 1990, S.77ff. 2 Im westdeutschen Fall konzentrierte sich die einschlägige Diskussion v.a. auf die Frage um die effektive Bedeutung des Marshall-Planes, vgl. Gerd Hardach, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948-1952, München 1994. Siehe auch Harold G. Vatter, The German Role in the Early Postwar Revival in Germany, A Reappraisal, in: Francis H. Heller, John R. Gillingham (Hg.), The United States and the Integration ofEurope. Legacies ofthe Postwar Era, New York 1996, S.l45-166. In jüngeren wirtschaftshistorischen Darstellungen zum westdeutschen "Wirtschaftswunder" wird die Frage von Reparationen und Auslandshilfen im übrigen weitgehend vernachlässigt, vgl. Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997. 1 Fisch, Reparationen. Wilfried Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944-1947, Düsseldorf 1996. Zur britischen Politik
32
Wemer Plumpe
onspolitik und Reparationsleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1992 umfassend darstellte. Trotz einiger methodischer und inhaltlicher Probleme - so rechnet Fisch unter wenig überzeugenden Argumenten die Bedeutung der Annexionen deutscher Gebiete und der entschädigungslosen Enteignung von Deutschen in Ostmitteleuropa aus dem Reparationskomplex heraus und ist bei der Beurteilung der sowjetischen Besatzungspolitik auf dünner Quellenbasis recht spekulativ4 - ist die Darstellung Fischs die bisher umfassendste und klarste Behandlung des Themas. Die Diskussion der Folgeproblematik gerät bei Fisch freilich einerseits sehr knapp; zum anderen ist sie - angesichts einer unzureichenden Forschung nicht verwunderlich - hochgradig spekulativ. Die Diskussion der Folgen von Reparationsentnahmen stützt sich daher v.a. auf die allgemeine wirtschaftshistorische Literatur, muß aber in ihren Aussagen letztlich sehr vorläufig bleiben, da in der Forschung hier noch viel zu tun bleibt und die Bedeutung von Reparationen und Hilfen selbst heute noch häufig unter politischen Vorzeichen interpretiert wird. 5 1. Der Problemhorizont
Kontributionen als Tribut des Verlierers an den Sieger sind seit der Antike überliefert und wurden zum festen Bestandteil des Kriegsvölkerrechtes. Mit dem Ersten Weltkrieg trat in Europa indes ein Wandel ein, da es nun nicht mehr um die Kontribution des Verlierers sondern um die Sühne des Aggressors ging. Noch 1871 hatte Frankreich im Frankfurter Frieden nicht wegen seiner Kriegsschuld zu zahlen, sondern weil es den Krieg verloren hatte. Der Versailler Vertrag hingegen ging von der Kriegsschuld Deutschlands aus, die eine Wiedergutmachungspflicht des Aggressors begründe. Hiernach hätte Deutschland selbst dann zahlen müssen, wenn es den Krieg gewonnen hätte. 6 Die Festschreivgl. Alan Kramer, Die britische Demontagepolitik am Beispiel Hamburgs, 1945-1950, Hamburg 1991. 4 Fisch, Reparationen, S.29ff. 5 Dies zeigte sich nicht zuletzt im Jahre 1997 angesichts d~s fllnfzigjährigen Jubiläums des Marshall-Planes. 6 Es handelte sich mithin um einen deutlichen Bruch mit der europäischen Tradition des Krieges. Krieg war in dieser Tradition, so lange er den Regeln des Völkerrechtes entsprach, ein legitimes Mittel der Staatenkonkurrenz. Die Änderung im I. Weltkrieg (Vorbild dabei war im übrigen der amerikanische Bürgerkrieg, in dem die Union den Krieg gegen den Süden moralisch eskalierte und dadurch zugleich die eigene brutale Kriegfllhrung rechtfertigte, vgl. James M. McPherson, Für die Freiheit sterben. Die Geschichte des amerikanischen BUrgerkrieges, MUnchenlLeipzig 1992) hing eng mit der Tatsache zusammen, daß industrialisierte Massenstaaten gegeneinander Krieg fllhrten, die auf eine Mobilisierung der Heimatfronten existentiell verwiesen waren; so warnten die Deutschen vor den reaktionären Kosaken, die Westmächte vor den blutrünstigen Hunnen etc. Die hiermit verbundene Moralisierung des Krieges ließ einen nüchternen, den Regeln des Völkerrechtes entsprechenden Friedensschluß nicht mehr zu: Der Friede wurde zugleich zum moralischen Urteil. Vgl. grundlegend Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Texte von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S.20ff.
Die Reparationsleistungen Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg
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bung eines Kriegsschuldartikels im Versailler Vertrag und eine daraus sich ableitende allgemeine, nicht genau quantifizierte Wiedergutmachungspflicht bilden mithin einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Kriegsvölkerrechtes, der erhebliche Konsequenzen haben sollte. Folgende Probleme ergaben sich unmittelbar: a) Die Festlegung der Höhe der Zahlungen und der Lieferungen, die sich im Grunde nach der Logik Versailles an der Größe des Schadens und der moralischen Schuld zu orientieren hatten, nicht an der Zahlungsfähigkeit Deutschlands. Die ersten Festlegungen waren daher auch absurd hoch, weshalb deutsche Proteste nicht ausblieben. Es schloß sich ein sukzessiver Prozeß der Eskalation einerseits, der Anpassung der Zahlungshöhe an die deutsche Zahlungsfähigkeit über Dawes- und Young-Plan bis hin zum Hoover-Moratorium andererseits an. Eine zufrieden stellende Lösung, die einen friedlichen Ausgleich ermöglicht hätte, wurde nicht gefunden, auch wenn man das "reine" Reparationsproblem schließlich im Griff hatte.? b) Ein weiteres Problem war die Art der Transferierung der Zahlungen durch Devisentransfers und/oder Direktlieferungen. Beide Verfahren waren nicht unproblematisch, da Devisen erst verdient werden mußten, Direktlieferungen die Industrie der Empfängerländer schaden konnten. Die Erfüllung der Reparationszahlungen hing mithin von einer positiven deutschen Außenhandelsbilanz, damit vom Zugang zu den internationalen Märkten und von der Öffnung der internationalen Kapitalmärkte ab. Eine einigermaßen stabile Problem lösung wurde daher nur zwischen 1924 und 1929 nicht zuletzt wegen des Zustroms amerikanischen Kapitals nach Deutschland erreicht. 8 c) Vor diesem Hintergrund war es wenig verwunderlich, daß Deutschland nicht nur ständig seine Zahlungsunfähigkeit mit guten und weniger guten Gründen betonte, sondern gegen die Reparationsregelung, die ja die moralische Verurteilung voraussetzte, im Grunde Sturm lief. Noch in der Weltwirtschaftskrise war es Brünings primäres Ziel, selbst um den Preis großer innerer Wirtschaftsprobleme die deutsche Zahlungsunfähigkeit zu dokumentieren und damit die Reparationsverpflichtung loswerden zu können. 9 Das Scheitern des Versailler Systems stand als Menetekel vor allen Reparationsüberlegungen zu Ende des Zweiten Weltkrieges: Das Transfer- und das Kontrollproblem wurden zu den Ecksteinen aller einschlägigen Planungen. Dabei war die Wiedergutmachungspflicht der Achsenmächte unstrittig. Einen eigenständigen Einfluß hierauf, wie ihn Deutschland nach 1918 als Völkerrechtssubjekt noch hatte, sollte es nach dem 2. Weltkrieg allerdings nicht mehr geben; Reparationen wurden nach 1945 eine reine Angelegenheit der Sieger auf der Basis der vollständigen Unterwerfung der Kriegsgegner. Damit war zwar das Kontrollproblem gelöst, aber noch keineswegs die Frage nach der Art und 7 Vgl. Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre. Von Versailles zur Wall Street 1919-1929, München 1978, S.97-116. 8 Gilbert Ziebura, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/1924-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, FrankfurtIM 1984. 9 Dietmar Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S.103.
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Höhe der deutschen Leistungen geklärt. Diese Probleme bestimmten die Planungen und Beschlüsse der nächsten Jahre. 2. Die Reparationspolitik Umfassende Reparationsplanungen gab es vor 1945 nicht. Klar war nur, daß es keine direkten, grenzüberschreitenden Geldzahlungen geben sollte, da die Entwicklung nach 1918 diese Reparationsform zu problematisch erscheinen ließ. Die ersten Überlegungen zur Frage zukünftiger Reparationen gingen offensichtlich von der SU aus; Stalin unternahm im Jahr 1942 erste, angesichts der Kriegslage aber noch sehr vorläufige Vorstöße. Eine erste offizielle Stellungnahme kam hingegen von britischer Seite, die 1943 den Malkin-Bericht einer bereits Ende 1942 eingesetzten Kommission vorlegte (entscheidender Stichwortgeber war John Maynard Keynes, der bereits in den zwanziger Jahren sich sachkundig-kritisch zu Reparationsfragen geäußert hatte '0): hiernach sollten nicht zu hohe Reparationsleistungen in einer kurzen Zeitspanne nach Kriegsende erhoben werden, und zwar durch Arbeitsleistungen, Demontagen und Lieferungen aus der laufenden Produktion. Eine feste Summe wurde nicht genannt, eine Position, an der Großbritannien aus taktischen Gründen auch in den folgenden Jahren festhielt. Das ins Auge gefaßte Volumen der Reparationszahlungen war im übrigen eher niedrig: es war von vier Mrd. Dollar die Rede, von denen die SU 50-70% erhalten sollte." Zunächst blieb dieses Konzept politisch ohne Bedeutung. Erst Ende 1943 trat eine Änderung der Lage insofern ein, als zahlreiche Staaten angesichts der sich abzeichnenden deutschen Niederlage begannen, Reparationen zu fordern. Auf diese Weise und wegen des Kriegsverlaufs wurde die Reparationsfrage zum Dreimächtethema, obwohl die USA selbst an Reparationsleistungen nicht unmittelbar interessiert waren und die Sowjetunion noch über keinerlei gen aue Planungen verfugte. Die Beauftragung der European Advisory Commission mit den einschlägigen Planungen in der Reparationsfrage im Oktober 1943 spiegelte die noch offene Situation wider. Zwar hielt sich die Sowjetunion auch in der kommenden Zeit bedeckt, jedoch sickerten nach und nach Informationen über ihre Reparationsforderungen durch, so daß bald klar war, daß die UdSSR vor allem an das deutsche Auslandsvermögen, an Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion dachte (Varga-Aufsatz vom Oktober 1943)'2. In Amerika kam es zeitgleich zu verschiedenen Überlegungen, die vor allem im Rahmen der Foreign Economic Administration, einem Beratungsstab des AußenmiI() Zur seinerzeitigen britischen Expertendiskussion vgl. Dietmar Petzina, Is Germany Prosperous? Die Reparationsfrage in der Diskusion angelsächsischer Experten zwischen 1918 und 1925, in: Christoph Buchheim, Michael Hutter, Harold James (Hg.), Zerrissene Zwischenkriegszeit. Wirtschaftshistorische Beiträge, Baden-Baden 1994, 5.241-262. 11 Fisch, Reparationen, S.41 ff. 12 Fisch, Reparationen, S.45.
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nisteriums, angestellt wurden: hier war im Herbst 1944 von Summen in Höhe von 200 Mrd. Dollar die Rede, die in 12-15 Jahren (berechnet nach deutschen Militärausgaben 1938) eingezogen werden sollten, nachdem zuvor Besatzungskosten und Importfinanzierung abgedeckt waren. 13 Ein Teil der Reparationen könne durch Auslandsguthaben und Demontagen aufgebracht werden; der Hauptteil der Riesensumme aber sollte, das war klar, durch Entnahmen aus der laufenden Produktion abgedeckt werden. Auf diese Weise glaubte man in Washington auch, die weltwirtschaftlich destruktiven Wirkungen von Reparationen mindern zu können. 14 Gerade wegen der Implikationen dieser an sich sehr hohen Reparationsforderung aber brach nun ein Sturm der Entrüstung los. 15 Verschiedenen amerikanischen Nachkriegsplanern, insbesondere aber der Bürokratie des Schatzamtes unter Henry J. Morgenthau jr. kam eine Regelung, die umfangreiche Lieferungen aus der laufenden Produktion vorsah, wie ein Programm zur Erhaltung und Stärkung der deutschen industriellen Basis vor, die es aber gerade im Interesse der Verhinderung einer erneuten deutschen Aggression zu verringern und umzustrukturieren galt. Wenn die von Morgenthau scheinbar favorisierte Reagrarisierung Deutschlands auch nur eine nicht zuletzt noch von den Nazis selbst aufgestellte Propagandabehauptung wahr, so sahen seine Pläne und die seines Ministeriums gleichwohl die Halbierung der deutschen industriellen Kapazität und die Beseitigung der Schwer- und großer Teile der Investitionsgüterindustrie vor, von der territorialen Aufteilung des Landes zu schweigen. Insbesondere sollte das Ruhrgebiet vollständig deindustrialisiert und seine Bevölkerung umgesiedelt werden. 16 Der Morgenthau-Plan selber enthielt keine Reparationsregelung, sondern schloß lediglich Lieferungen aus der laufenden Produktion kategorisch aus. Tendenziell war er freilich reparationsfeindlich, da er Deutschlands Fähigkeit zu umfassenden Wiedergutmachungsleistungen auf dem Papier zumindest deutlich beschnitt. Auch die auf seiner Basis vorstellbaren umfangreichen Demontagen mochten zwar als Reparationen dienen; ihr eigentlicher Zweck aber war das nicht, da in dieser Sicht die Demontagen völlig unabhängig von ihrem Reparationswert waren. Worum es Morgenthau ging, war vielmehr die Etablierung eines offenen, multilateralen Weltwirtschaftssystems mit den USA als Zentrum, des11 Auch wenn hier noch von konkreten Summen die Rede war, zumal von Summen, die gemessen an den britischen Vorstellungen sehr hoch waren, weigerten sich aber auch die Amerikaner seit Potsdam, konkrete Zahlen zu nennen. Die Zahlen frage wurde so immer mehr zum taktischen Spiel im Streit der Besatzungsmächte. Vgl. lohn H. Backer, Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, MUnchen 1981, S.33ff. 14 Fisch, Reparationen, S.46f. os Vgl. die sehr einseitige, aber nicht zuletzt deshalb wiederum informative Studie von Bemd Greiner, Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Planes, Hamburg 1995, S.79ff. ", Mausbach, Zwischen Morgenthau und Marshall.
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sen Erfolg aber eben von einer Ausschaltung des deutschen Kriegspotentials abzuhängen schien. Nur in dieser Frage herrschte in den USA wirklich Dissens, ob eben der erfolgreiche Aufbau einer liberalen Weltwirtschaft durch konstruktive Einbeziehung oder durch ökonomische Niederhaltung der ehemaligen Kriegsgegner zu erreichen sei. Das Ziel selbst war unumstritten .. 17 Da man selbst ohnehin nur am deutschen Auslandsvermögen interessiert war, besaß man die Spielräume, die Reparationsfrage taktisch zu behandeln: "Reparationen wurden zum Abfallprodukt einer Politik, die zunächst auf Sicherheit vor dem Kriegsgegner und damit auf dessen Schwächung und Zerstörung, später auf dessen erneute Stärkung und den Wiederaufbau angelegt war." In seiner Konsequenz mußte der Plan "das Verhältnis der USA zu all jenen Siegerstaaten belasten, die an Reparationen interessiert waren. Und das waren praktisch alle vom Krieg direkt in Mitleidenschaft gezogenen Staaten.,,18 Die Bedeutung des Morgenthauplanes darf zwar nicht überschätzt werden, jedoch war er in der zweiten Jahreshälfte 1944 in Washington sehr einflußreich; seine Gedanken oder zumindest deren Derivate fanden Eingang in die grundlegende Besatzungsdirektive JCS 1067, die eine "destruktive" Behandlung der deutschen Wirtschaft vorsah, und über sie auch in das Potsdamer Abkommen. Noch der Industrieniveauplan vom März 1946, der eine Halbierung der deutschen Wirtschaftsleistung von 1936 als Wiederaufbauziel vorgab, atmete diesen "destruktiven" Geist, den erst der beginnende kalte Krieg im Jahre 1946 endgültig überwinden sollte .. 19 Reparationspolitisch war er hingegen von zentraler Bedeutung, da seit dem Herbst 1944 die USA die Reparationen, an denen sie selbst nur mäßig interessiert waren, als taktisches Element ihres übergreifenden Wiederaufbauzieles in Europa sahen. Die unmittelbaren Wirkungen waren dabei sogar paradox. Während Henry Morgenthau politisch gerade die Zusammenarbeit mit der UdSSR fortsetzen wollte und in Deutschland den auszuschaltenden Feind des Weltfriedens sah, stieß sein Plan die Russen reparationspolitisch vor den Kopf: der Sowjetunion wurde klar signalisiert, daß Lieferungen aus der laufenden Produktion in Washington keine Unterstützung finden würden. 3. Ja/ta (Februar 1945/0
Die praktische Regelung der Reparationsfrage blieb den Kriegs- und Nachkriegskonferenzen der Siegermächte vorbehalten. Zu einer ersten "Klärung" 17 William J. Barber, Presuppositions, Realities, and Creative Ad Hocery: The Road to the Unplanned Plan, in: Francis H. Heller, John R. Gillingharn (Hg.), The United States and the Integration ofEurope. Legacies ofthe Postwar Era, New York 1996, S.125-143. Vgl. auch Ute Daniel, Dollardiplomatie in Europa. Marshallplan, kalter Krieg und US-Außenwirtschaftspolitik, Düsseldorf 1982. IS Fisch, Reparationen, S.49f. 19 Vgl. mit unterschiedlichen Bewertungen Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI, Greiner, Die Morgenthau-Legende. 20 Fisch, Reparationen, S.57ff.
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kam es im Frühjahr 1945 auf der Krim in Jalta. Die Sowjetunion legte erstmals einen konkreten Plan vor, nach dem Deutschland 20 Mrd. US-Dollar (in Preisen von 1938) zu zahlen hatte, von denen sie selbst die Hälfte, die USA acht und Großbritannien zwei Mrd. Dollar erhalten sollten. Auch von der Art der Zahlung hatten die Russen definitive Vorstellungen. Die Hälfte der Summe sollte durch Lieferungen aus der laufenden Produktion, die andere Hälfte durch Demontagen und konfisziertes Auslandsguthaben abgedeckt werden. Das Programm, so die sowjetische Vorstellung, könne in zwei Jahren abgewickelt werden. Auch über die Demontagen hatte sich die russische Seite Gedanken gemacht: man wollte die Rüstungsindustrie beseitigen und die Schwerindustrie auf etwa 20 % ihrer Kapazität reduzieren. Diese Forderungen waren, hierin ist Fisch zu folgen, hoch, hatten aber nicht das Ausmaß der US-Planungen vom Oktober 1944 und waren auch mit dem britischen Malkin-Bericht durchaus zu vereinbaren. Überraschend war lediglich die hohe Demontageforderung, die faktisch kaum durchfUhrbar sein würde, da das Anlagevermögen der späteren Bizone insgesamt nur 10,2 Mrd. Dollar betrug. Fisch macht rur diese Forderung nicht nur ein großes sowjetisches Sicherheitsbedürfnis sowie durchaus positive Erfahrungen mit der Verlagerung von Anlagegütern verantwortlich, vielmehr komme hierin auch die Reaktion auf eine erwartete britisch-amerikanische Ablehnung von Lieferungen aus laufender Produktion zum Ausdruck. Auf jeden Fall enthielt der sowjetische Vorschlag insofern taktische Momente; Hauptinteresse der UdSSR blieben eindeutig Lieferungen aus laufender Produktion, so lange hierdurch Sicherheitsinteressen nicht verletzt wUrden. Die amerikanische Delegation reagierte zögerlich, aber nicht grundsätzlich ablehnend, während die Briten die Forderungen als zu hoch ansahen. In London wollte man vorrangig eine Bedienung der deutschen Vorkriegsschuld, die Rückgabe britischen Eigentums sowie eine ausreichende Importfinanzierung sicherstellen, bevor an Reparationen zu denken sei. Man stimmte dem sowjetischen Vorschlag daher nicht zu. In Jalta kam es mithin nur zu einer Art Formelkompromiß: Reparationen wurden im Grundsatz bejaht; sie sollten v.a. durch Demontagen und Konfiskationen, Lieferungen aus laufender Produktion und die Nutzung deutscher Arbeitskräfte erfolgen. Eine feste Reparationssumme wurde nicht festgelegt, statt dessen einigte man sich auf die Einsetzung einer interalliierten Reparationskommission. 4. Zwischen Jalta und Potsdam (Februar bis Juli 1945/ 1
In den USA brachten die Formelkompromisse von Jalta eine Zuspitzung der Debatten über die zukünftige wirtschaftliche Rolle Deutschlands. Während die Berurworter einer "destruktiven" Haltung Jalta kritisierten, da Entnahmen aus laufender Produktion in erheblichem Umfang möglich zu werden schienen, plädierten auch die Anhänger einer mehr konstruktiven Richtung gegen die 21 Backer, Entscheidung zur Teilung, S.33ff. Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI, passim.
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Jaltaer Ergebnisse, weil Deutschlands Leistungsfähigkeit überschätzt und der Wiederaufbau behindert würde. Nach langen Auseinandersetzungen wurde schließlich der amerikanische Vertreter in der Interalliierten Reparationskommission, Pauley am 18. Mai 1945 mit folgenden Richtlinien versehen: Ziel der Reparationspolitik sei die Schwächung Deutschlands und die Zerstörung seines Kriegspotentials; mögliche Reparationen dürften die USA in keiner Weise binden, daher müßten die Kapazitäten für minimalen Lebensstandard belassen werden. Entsprechend seien aus den Expörterlösen zuerst die Importe zu finanzieren. Sollten die industrielle Schwächung Deutschlands und die Selbsterhaltung auf niedrigem Niveau gesichert sein, könne an Reparationen gedacht werden. Mit diesen klaren Direktiven waren Reparationen aus der laufenden Produktion de facto ausgeschlossen; ohne deren konstruktiven Ansatz zu teilen, unterstützten die USA nunmehr die britische Auffassung in der Reparationsfrage, die für sie, die nur an deutschen Auslandswerten interessiert waren, ohnehin ein geringes materielles Gewicht besaß. Eine Konfrontation mit der Sowjetunion war damit vorgezeichnet, zumal die Briten ihre Haltung noch verhärteten. Eine gemeinsame Reparationsregelung wurde immer unwahrscheinlicher; im Gegenteil wurde es naheliegend, die Mächte mit ihren Repatationsansprüchen auf ihre jeweiligen Besatzungszonen zu beschränken. Die Reparationskommission tagte ein einziges Mal am 21. Juni 1945 in Moskau, während ihre Ausschüsse häufig zusammentrafen, faßte aber keine grundlegenden Beschlüsse. 22 Alle weiteren Entwicklungen mußten daher vom Ausgang der Potsdamer Konferenz abhängen.
5. Potsdam In Potsdam trat aber dann das ein, was zuvor bereits immer wahrscheinlicher geworden war: man konnte sich nur noch dahingehend einigen, daß man nicht einig war. Daher wurde schließlich beschlössen, daß Reparationen aus den jeweils eigenen Zonen zu entnehmen seien. Zusätzlich sollte die Sowjetunion 25% der Demontagen aus den Westzonen erhalten, 40% davon ohne Gegenleistung, 60% gegen Lieferung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Während die Sowjetunion aus ihrer Zone auch die Ansprüche Polens bedienen sollte, wurden die kleineren westlichen Reparationsgläubiger an die USA und Großbritannien verwiesen. Die Demontagen von industriellem Anlagevermögen sollten in einem Zeitraum von zwei Jahren nach einem innerhalb von sechs Monaten zu erarbeitenden Industrieplan erfolgen. 23 Die Initiative zur reparationspolitischen Teilung ging von den USA aus. Die Voraussetzungen für eine Kompromißlösung waren freilich auch denkbar 22
Fisch, Reparationen, S.63ff.
Siehe den Punkt IV "Reparationen aus Deutschland" des Protokolls der Potsdamer Konferenz, abgedruckt in: Das Potsdamer Abkommen. Dokumentensamlung, Berlin (Ost) 1979, S.223f. 23
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schlecht, da jene Kräfte in den USA, die auf eine mittelfristige Kooperation mit der UdSSR setzten, zugleich die schärfsten Kritiker der sowjetischen Reparationspolitik waren und umgekehrt jene, die Entnahmen aus laufender Produktion tolerierten, ihrerseits mit dem rabiaten Vorgehen der Russen in den von ihnen besetzten Teilen Europas alles andere als einverstanden waren. Die Briten wollten den Russen ohnehin nicht entgegenkommen, so daß auch in Potsdam nurmehr Formelkompromisse, in Reparationsfragen aber eine faktische Teilung des Landes herauskam. Auch wenn sich in den folgenden Jahren nicht zuletzt der stellv. amerikanische Militärgouvemeur Lucius D. Clay immer wieder um Kompromisse mit der russischen Seite bemühte und an einer gemeinsamen Deutschlandpolitik des Kontrollrates festhielt, was sich u.a. im ersten Industrieniveauplan vom März 1946 widerspiegelte, waren doch die Risse seit Potsdam unübersehbar, zum al nach den Erfahrungen in Berlin und der SBZ klar war, daß die westlichen Mächte die Sowjetunion aus Westdeutschland auf jeden Fall heraushalten wollten·24 Die Russen selbst hatten überdies ein starkes Interesse, in ihrer Zone, ja in ihrem Machtbereich freie Hand zu haben, so daß die reparationspolitische Teilung schließlich akzeptiert wurde. In anderen Fragen einigte man sich zähneknirschend, wobei die Russen wiederum sich nicht durchsetzen konnten, die 30% des deutschen Auslandsvermögens sowie einen Anteil an westdeutschen Unternehmen verlangten. Schließlich bekamen sie aber immerhin 50% der Handelsflotte sowie das deutsche Vermögen in Ostmitteleuropa und Ostösterreich zugesprochen. Fisch resümiert: "Die Potsdamer Reparationsregelung stellte einen eindeutigen Sieg der Westmächte dar. Diese hatten sich in allen entscheidenden Punkten durchgesetzt, vor allem mit dem Prinzip, daß nirgends feste Summen genannt wurden und damit, daß die Sowjetunion rigoros von jeder Mitsprache in allen von ihre nicht unmittelbar kontrollierten Gebieten ausgeschlossen blieb. Die Folge war, daß auch die Westmächte keine entsprechenden Möglichkeiten in den von den Sowjets kontrollierten Gebieten hatten.,,25 6. Das Ende der alliierten Reparationspolitik in Deutschland (1945-1947) Noch aber war die Teilung nicht völlig vollzogen, noch gab es Ansätze reparationspolitischer Kooperation. Die Arbeiten am Industrieniveauplan, die Wilfried Mausbach aus amerikanischer Perspektive jüngst detailliert dargestellt hae6 , reflektierten diese noch nicht völlig entschiedene Übergangssituation. Im Rahmen der Verhandlungen zeichneten sich zunächst zwei klare Positionen ab. Die Russen wollten aus Demontage- und Sicherheitsinteressen ein möglichst 24 Fisch, Reparationen, S.69ff. Zu Clay Mausbach, Zwischen Morgenthau und Marshall. Vgl. auch Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, Stuttgart 1988. 2S Fisch, Reparationen, S.78. 26 Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI, S.187ff.
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niedriges Niveau durchsetzen, die Briten plädierten hingegen für ein höheres Leistungsniveau der deutschen Wirtschaft allein schon deshalb, da sie mögliche finanzielle Hilfen für ein niedergehaltenes Deutschland kaum zu tragen in der Lage gewesen wären. An der Stahlquote, bei der sich schließlich eine von den USA favorisierte mittlere, gleichwohl näher an der russischen Haltung orientierte Linie durchsetzte, zeigte sich die gesamte Problematik. 27 Man einigte sich nach langem Hin und Her, Deutschland eine industrielle Kapazität in der Höhe von 1932 zu belassen und seinen zukünftigen Lebensstandard im europäischen Durchschnitt (gemessen ohne Rußland und Großbritannien) anzusiedeln. Alle diese Grenzen überschreitende Kapazität sollte demontiert und als Reparationsgut verfügbar gemacht werden. Umstritten blieb, ob diese Niveaus als Mindestoder Höchststandard anzusehen seien. Die Russen plädierten dafür, die Festlegungen als Höchststandard anzusehen; alle auch später darüber hinausgehende Produktion sollte zu Reparationszwecken dienen. Die Westmächte votierten eher dafür, die Regelungen als Mindeststandard zu begreifen; alles über das Niveau von 1932 hinausgehende sollten die Deutschen zumindest späterhin behalten. Der schließlich am 28. März 1946 verabschiedete "Plan für Reparationen und das Niveau der deutschen Nachkriegswirtschaft gemäß dem Berliner Protokoll" enthielt all diese Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten. Er war indes allein schon deshalb ökonomisch unsinnig, weil er von einem statischen Zustand der deutschen Wirtschaft ausging, in dem sich die Produktion jeder einzelnen Branche bis auf die Tonne festlegen ließ. Auch ignorierte er das offenkundige Problem, daß trotz hoher Kapazitäten nur eine geringfügige Produktion erzielt wurde?8 Der Plan war daher vor allem Ausdruck der politischen Situation, insbesondere der noch vorhandenen Bereitschaft der USA, die deutsche Wirtschaft gezielt zu schwächen. 29 Mit den Regelungen des Frühjahres 1946, so widersprüchlich sie auch sein mochten, ging jedoch zumindest die Entwicklung einer systematischeren Entnahmepolitik nach den wilden Entnahmen und Plünderungen der ersten Besatzungsmonate einher. 30 Aber bereits im Mai 1946 beendete die amerikanische Besatzungsmacht alle Reparationslieferungen an Frankreich und die Sowjetunion, da insbesondere Frankreich sich nicht bereit zeigte, an der in Potsdam anvisierten deutschen Wirtschaftseinheit konstruktiv mitzuwirken. Auf diese Weise konnte in der Tat der Eindruck entstehen, daß die USA zugunsten Frankreichs und der Sowjetunion demontierten, während sie zugleich der eigenen Zone unter 27 Gloria Müller, Die Rolle der Briten bei der Auseinandersetzung um die Stahlquote des I. Industrieplanes vom 26. März 1946, in: Dietrnar Petzina, Walter Euchner (Hg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet, Düsseldorf 1984, S.65-86. 28 Zu den Bestimmungen des Planes und zur Kritik hieran Franz Seume, Industrie, in: DIW (Hg.), Die deutsche Wirtschaft zwei Jahre nach dem Zusammenbruch, Berlin 1947, S.I 05-143. 29 Fisch, Reparationen, S.94ff. JO Hierzu Karlsch, Allein bezahlt?, S.55ff filr die SBZ; filr die französische Zone Mathias Manz, Stagnation und Aufschwung in der französischen Besatzungszone 1945-1948, Ostfildem 1985, S.38ff.
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die Arme greifen mußten. 31 Gleichwohl bedeutete der Demontagestopp keineswegs, daß die amerikanische Seite und insbesondere OMGUS unter Lucius D. Clay ihre Kompromißbereitschaft gegenüber der UdSSR vollständig aufgegeben hatten. Insbesondere Clay war sogar bereit, den Sowjets Lieferungen aus laufender Produktion zuzugestehen, um sein Ziel, die angestrebte Wirtschaftseinheit Deutschlands unter einem handlungsfiihigen Kontrollrat, noch zu erreichen32. konnte sich aber mit derart weitreichenden Vorstellungen in Washington nicht durchsetzen. 33 In Großbritannien waren die Würfel zu diesem Zeitpunkt längst gegen eine Kooperation mit der Sowjetunion gefallen, die man rur die potentiell größere Gefahr als das am Boden liegende Deutschland hielt. 34 Die Reparationsfrage erwies sich erneut als taktische Manövriermasse der Weltpolitik, wobei die Westmächte nach Fisch deshalb größere Spielräume hatten, da sie weniger materiell interessiert waren: "Die unterschiedliche britische und amerikanische Haltung zeigte, daß es auf Seiten der Westmächte letztlich nicht die Reparationen als solche ging, da beide Staaten daran nicht interessiert waren, sondern daß der Streit um Reparationen aus laufender Produktion spätestens seit 1946 eine Funktion der Frage war, ob man eine scharfe Trennung der Einflußsphären, mit schließlicher Teilung Deutschlands, wollte oder nicht.,,35 Auf der Moskauer Außenministerkonferenz Anfang 1947 war die Spaltung mit Händen zu greifen, man zeigte nur noch zum Schein Kompromißbereitschaft; im NovemberlDezember 1947, auf der Londoner Außenministerkonferenz, stand die reparationspolitische Konfrontation von Anfang an fest. Spätestens jetzt war auch das förmliche Ende jeder gemeinsamen Reparationspolitik in Deutschland eingetreten. Der interalliierte Schein entfiel und die Reparationspolitiken waren nunmehr auch nach außen hin sichtbar nur noch Sache der jeweiligen Besatzungsmächte in ihren Zonen. Im folgenden soll daher allein die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen betrachtet werden .. 36 7. Die Politik der westlichen Besatzungsmächte Ende 1945 trafen sich in Paris Vertreter von 18 reparationsberechtigten Staaten und gründeten dort die Interalliierte Reparationsagentur (IARA). Trotz der offenkundigen Wünsche zahlreicher kleiner europäischer Staaten, Lieferun31 Zum vielbesprochenen Demontagestopp vgl. John Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945-1949, FrankfurtIM 1971 , S.87-92. Backer, Entscheidung, S.96ff. 32 Hierzu Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI, S.245ff. Ferner Krieger, Lucius D. Clay, S.126ff. J3 Fisch, Reparationen, S.98ff. 34 Falk Pingel, Die "Russen am Rhein"? Zur Wende der britischen Besatzungspolitik im Frühjahr 1946, in: Vfz. 30 (1982), S.98-116. Ferner Rolf Steininger, Westdeutschland ein "Bollwerk gegen den Kommunismus"? Großbritannien und die deutsche Frage im Frühjahr 1946, in: MGM 38 (1985), S.163-207. J5 Fisch, Reparationen, S.103. 36 Krieger, Lucius D. Clay, S.225ff.
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gen aus Deutschland (Investitionsgüter, Kohle) zu erhalten, setzten Briten und US-Amerikaner ihre Auffassung durch, daß Lieferungen aus der laufenden Produktion nicht in Frage kämen. Diese Auffassung hing wie bereits betont mit den eigenen Interessen einerseits, dem vor allem in Amerika noch einflußreichen Ziel, die deutsche Wirtschaft zu schwächen, andererseits zusammen. Statt dessen setzten Briten und Amerikaner durch, daß Forderungen an Deutschland durch Zugriff auf das Auslandsvermögen und Demontagen befriedigt werden sollten. Auch wurden insbesondere auf britischen Wunsch die deutschen Vorkriegsschulden und deren vorrangige Bedienung betont. 37 Dieses Konzept der Schwächung Deutschlands hatte freilich gravierende Folgen, da es Deutschland aus der europäischen Arbeitsteilung, in die es vor allem als Investitionsgüterlieferant eingebaut war, herausbrach. Wollten die kleineren europäischen Staaten nun wichtige Investitionsgüter beziehen, mußten sie sie gegen Dollar in Amerika kaufen; das Problem der europäischen Dollarlücke, durch den Ausfall Ostmitteleuropas als Nahrungsmittellieferant noch verstärkt, geriet auf die Tagesordnung. 38 Daß sich im Kontext der Entstehung des Kalten Krieges 1946/47 daher auch die amerikanische Haltung der deutschen Wirtschaft gegenüber änderte, verwundert nicht. Die relativ harte Haltung der ersten Besatzungszeit, die sich im Besatzungsalltag unterhalb der Ebene der großen Politik freilich sehr viel differenzierter darstellte 39, war ohnehin nie ohne Kritiker geblieben, jedoch zeichnete sich erst jetzt das u.U. katastrophale Ausmaß der Folgen der deutschen Niederhaltung ab. Die USA begannen daher in der zweiten Jahreshälfte 1946 sukzessive auch offiziell zu einer "konstruktiveren" Haltung überzugehen; 1947 schließlich wurden im Zeichen des Marshall-Planes dann die Weichen neu gestellt. 40 Dieser Schwenk kam am deutlichsten in der Neugründung der Bizone 1947 sowie der Verabschiedung des revidierten Industrieniveauplanes vom Juli/August 1947 zum Ausdruck, mit dem die in Westdeutsch land zugelassenen Industriekapazitäten deutlich erweitert und im Nachgang die Demontageliste deutlich verkürzt wurden. 41 Damit wurde auch der bisher ins Auge gefaßte Umfang der Demontagen und damit der westdeutschen Reparationsleistungen reduziert; im Herbst 1947 legten die drei westlichen Militärregierungen stark gekürzte Demontagelisten vor. Der Wandel in der US-Politik war gravierend; hatten bisher die Amerikaner einer Niedrighaltung der deutschen Wirtschaft das Wort geredet, so plädierten sie nunmehr gegen Briten, Franzosen und die kleineren Reparationsgläubiger für eine rasche Reduktion der Demontagen und Reparationen, um WestdeutschFisch, Reparationen, S.109f. Buchheim, Wiedereingliederung, S.III f. 39 Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, passim. 4() Mausbach, Zwischen Morgenthau und MarshalI, S. 302fT. 41 Fisch, Reparationen, S .116. 37
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lands Beitrag für den europäischen Wiederaufbau voll nutzen zu können. Mit dem hier angelegten Verzicht auf Demontagen und Reparationen taten sich freilich die vom Krieg getroffenen westeuropäischen Staaten erheblich schwerer, zumal in den Reparationsleistungen auch eine symbolische Genugtuung lag. Der Marshall-Plan stellte insofern eine amerikanische Kompensation an Westeuropa für entgangene deutsche Lieferungen dar. 42 Zwar kamen Frankreich und Großbritannien Ende 1947 den USA mit den revidierten Demontagelisten ein Stück weit entgegen, an diesen Abbaumaßnahmen aber hielten sie nunmehr energisch fest. Auf britischer Seite ist gar seit 1947 eine Intensivierung ihrer Demontagepolitik feststellbar. 43 Auf anhaltenden US-Druck hin erfolgte jedoch nach und nach eine Aufweichung der Auflagen, 1949 mit ' dem Petersberger Abkommen auch ein weitgehendes Ende der Demontagen, dessen offizieller Abschluß aber erst durch den Deutschland-Vertrag von 1952 eintrat. Mit den zugleich erfolgenden Regelungen der deutschen Vorkriegsschuld und den Veträgen mit Israel war daher in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die Reparationsfrage im westdeutschen Fall förmlich geklärt. 44 8. Der Umfang Im folgenden soll nunmehr der Umfang der westdeutschen Reparationsleistungen kurz dargestellt werden. Dieser Umfang war in der Nachkriegszeit aus naheliegenden Gründen umstritten. Heute gibt es plausible Schätzungen, die versuchen, die Bewertungsprobleme "fair" zu lösen. Die Bewertungsfrage ist bei Fisch, der selbst zu überzeugenden Schätzungen gelangt, breit diskutiert, so daß sich hier ihre Erörterung erübrigt. 45 Man kann den Umfang der westdeutschen Leistungen entweder sachlich oder chronologisch gliedern. Zunächst jedoch ein Hinweis zu den Gesamtleistungen. Westdeutschland zahlte bis 1953 als Reparationsleistungen insgesamt 16,8 Mrd. Dollar (Preisbasis 1938), was einer Belastung pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von 360,8 Dollar entspricht (DDR 16,3 Mrd. Dollar/888,7 Dollar). Ohne Besatzungskosten reduziert sich im westdeutschen Fall die Summe auf ca. 4,8 Mrd. Dollar oder 103,1 Dollar pro Kopf der Bevölkerung. 46 Die westdeutschen Leistungen übertrafen damit die Zahlungen aller anderen Kriegsverlierer um mehr als das dreifache, entsprachen aber nicht einmal der Hälfte der Prokopfleistung der SBZ/DDR. Zu diesen 16,8 Mrd. Dollar kamen von 1953 bis 1988 Leistungen hinzu, die sich aus öffentlichen und individuellen Wiedergutmachungszahlungen, dem Londoner Schul42 Zum Marshall-Plan Hardach, Der Marshall-Plan, S.77ff. •, Alan S. Milward, Großbritannien, Deutschland und der Wiederaufbau Westeuropas, in: Dietmar Petzina, Walter Euchner (Hg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet, DUsseldorf 1984, S.25-40. 44 Fisch, Reparationen, S.I 09ff. • 5 Fisch, Reparationen, S.208ff. • 6 Fisch, Reparationen, S.319.
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denabkommen und weiter (bis 1955) anfallenden Besatzungskosten ergaben. Diese Zahlungen summierten sich noch einmal auf knarp 17 Mrd. Dollar (Preisbasis 1938) bzw. 92 Mrd. DM in laufenden Preisen. 4 Da weiterhin Zahlungen geleistet werden, läßt sich eine Gesamtsumme bislang nicht angeben. Nimmt man allein die Jahre 1945 bis 1965, als die einschlägigen Verträge mit Israel ausliefen, ergibt sich eine Gesamtsumme von 22 Mrd. Dollar (Preisbasis 1938). Chronologisch gesehen entfielen die Zahlungen zunächst auf den Zeitraum von 1945 bis 1953, der eine Art Reparationsphase im engeren Sinne ausmachte. Danach erfolgten Zahlungen im Rahmen von internationalen Verträgen und individueller Wiedergutmachung. Diese dauert bis heute an, so daß streng genommen die Reparationszahlungen noch nicht zu einem Ende gekommen sind. Die beiden Reparationsphasen unterschieden sich deutlich. Dominierten im ersten Abschnitt Restitutionen, Zwangsexporte, Nutzung deutscher Arbeitskräfte, Demontagen und Besatzungskosten, so herrschten seit Beginn der zweiten Phase Zahlungen vor, auch wenn es im israelischen Fall zu umfangreichen Lieferungen insbesondere von Investitionsgütern kam. Aus der Übersicht der von der IARA verteilten Reparationsgüter werden die Kategorien dessen deutlich, was als Reparationsgut in Frage kam: 1. Deutsches Auslandsvermögen in Feind- und neutralen Staaten, 2. Demontagen, 3. Handelsflotte. Lieferungen aus der laufenden Produktion wurden nicht gerechnet, jedoch gab es sie, insbesondere Kohle- und Holzlieferungen. Zu diesen drei Hauptkategorien kamen noch die Besatzungskosten hinzu. Ebenso zu Buche schlugen zunächst, ohne entsprechend verrechnet worden zu sein, Restitutionen und Entnahmen aus der Zeit vor dem März 1946, als auf der Basis des Industrieniveauplanes die offizielle Reparationsentnahme begann. Diese "Plünderungen" dürften insbesondere in der französischen Zone erhebliches Gewicht besessen haben. Die Bedeutung der in der ersten Reparationsphase entnommenen Werte in Höhe von 16,8 Mrd. Dollar (4,8 Mrd. Dollar ohne Besatzungskosten) ist nicht einfach zu beurteilen. Von den Demontagen wurden nach neu esten Schätzungen knapp 4% des westdeutschen Bruttoanlagevermögens betroffen48 , gemessen an den Vorgaben des Industrieniveauplanes und der Kapazitätsauslastung eine eher geringe Zahl. Die Besatzungskosten schlugen schon erheblich stärker zu Buche. Ihr Anteil am Sozialprodukt betrug 1946/47 in der FBZ 28%, in der ABZ 16% und in der BBZ 12,7% (SBZ 26,1%).49 Bei diesen Zahlen (16,8 Mrd. Dollar Reparationen) sind andererseits die Lieferungen und Kredite insbesondere der Amerikaner im Rahmen von GARIOA und Marshall-Plan zu berücksichtigen. Fisch schätzt eine Nettokredithilfe in Höhe von 2,5 Mrd. Dollar, Hardach geht von insgesamt gut 3 Mrd. Dollar amerikanischer Nachkriegshilfe für Westdeutschland aus. 50 Ohne Besatzungskosten war mithin die Nettobelastung WestEbenda, S.222. Wemer Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik, FrankfurtlM 1983. 49 Fisch, Reparationen, S.218. 50 Hardach, Marshall-Plan, S.221. 47 48
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deutschlands bis 1953 ausgesprochen gering. Dafür stiegen die Zahlungen seit 1953 stark an, trafen freilich auf ein sich im wirtschaftlichen Aufschwung befindendes Land. Die volumenmäßige Bedeutung der Zahlungen blieb daher weiterhin gering. Ihr Anteil am Volkseinkommen lag von 1953 bis 1965 bei 0,72%. Sie machten 3,1% der Exporte bzw. 1,63% des gesamten Außenhandels aus. Trotz einer alles in allem sehr hohen Summe war damit die relative Belastung Westdeutschlands nicht gravierend, zumal die Hauptbelastung in den fiinfziger Jahre, also in der Zeit des Wirtschaftswunders lag, als die einschlägigen Zahlungen problemlos aufgebracht werden konnten.51 9. Die Folgen Die Beurteilung der Bedeutung und der Folgen von Demontagen und Reparationen fiir die sich anschließende Wirtschaftsentwicklung hängt von zahlreichen Faktoren ab, die ein einfaches Urteil schwer machen. Betrachtet man allein die wirtschaftliche Entwicklung der beiden deutschen Staaten nach 1945, so scheinen Bedeutung und Wirksamkeit der Demontagepolitik und der Reparationszahlungen offensichtlich. Während Westdeutschland vergleichsweise glimpflich davon kam - ein großer Teil der Reparationszahlungen fiel zudem in eine Zeit, als ihre wirtschaftliche Bedeutung geringer wurde - und mit nur wenig geschmälerter industrieller Substanz den Wiederaufbau in Angriff nehmen konnte, sah sich die seinerzeitige Sowjetische Besatzungszone nicht nur eines Großteiles ihrer industriellen Kapazitäten beraubt; sie hatte überdies in bestimmten Schlüsselbereichen de facto ihre gesamte Anlagensubstanz eingebüßt, von den langfristig nachteilig wirksamen Folgen der Demontagen im Bereich der Infrastruktur noch ganz abgesehen. Diese Argumentation geht von der stillschweigenden Voraussetzung aus, der Wiederaufbau und sein Tempo nach 1945 seien eine Funktion der Faktorausstattung gewesen. 52 Sie besitzt in der Tat zunächst erhebliche Plausibilität. Das westdeutsche Bruttoanlagevermögen übertraf 1945 wegen des kriegsbedingten Investitionsbooms in die Rüstungsindustrie den Stand von 1936 um gut 20%. Wertverluste und Demontagen verringerten das Potential zwar, doch 1949 lag es noch immer um 11 % über dem Vorkriegsstand. Da sich seine Struktur und Qualität überdies verbessert hatten, war die Kapitalausstattung kein Engpaß; die Reparationen und Demontagen waren vom Umfang zu gering und betrafen schwerpunktmäßig jene Bereiche, die während des Krieges am stärksten ausgebaut worden waren. 53 Die Engpaßbereiche der frühen fiinfziger Jahre (Bergbau, Stahl, Infrastruktur, Energie) waren nicht durchweg primäre Demontageziele Siehe die Diskussion bei Fisch, Reparationen, S.257ff. Diese These v.a. bei Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte. Jüngst erneut bei Vatter, The German Role. 53 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S.ll ff. 51
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gewesen. Die Reparationen schufen daher im westdeutschen Fall von Ausnahmen abgesehen kaum Wachstumsengpässe. 54 Die Reparationen waren im westdeutschen Fall mithin kein Faktor, der den Wiederaufbau strukturell behindert hätte ebenso übrigens wie der Wiederaufbau nicht strukturell von den Marshall-Hilfen abhing. Andererseits führte aber auch das Fehlen von Reparationshemmnissen nicht automatisch zum Wirtschaftswunder; hierfür spielten Weltmarkt und Wirtschaftspolitik eine entscheidende Rolle. In der SBZ hingegen war das Ausmaß der Reparationen an sich bereits desaströs und mußte sich mit den Wirkungen der Weltmarktexklusion und einer wenig intelligenten Wirtschaftspolitik zusätzlich negativ verstärken. Daß es in der DDR gleichwohl gelang, den Wiederaufbau Ende der fünfziger Jahre alles in allem erfolgreich abzuschließen, ist vor diesem Hintergrund überraschender als der westdeutsche Boom, der doch weitgehend dem westeuropäischen Muster entsprach. 55
54 Das Ausmaß der Remontagen und der hiermit verbundenen Modernisierung übertraf im übrigen häufig sehr schnell die Kapazitätsverluste der Demontagen; doch ist dies rein logisch eine andere Geschichte. Vgl. Martina Köchling, Demontagepolitik und Wiederaufbau in NordrheinWestfalen, Essen 1995. ss Zu den Grundlagen des Booms neuerdings Lindlar, Wirtschaftswunder.
Karl Eckart DIE AGRARWIRTSCHAFT IN DEN BEIDEN DEUTSCHEN STAATEN In den beiden deutschen Staaten gab es unterschiedliche agrarpolitische Leitbilder. In der Bundesrepublik Deutschland war bzw. ist die Landwirtschaft durch Privateigentum, Marktwirtschaft und den bäuerlichen Familienbetrieb gekennzeichnet. In der DDR dagegen galt das agrarpolitische Leitbild des Sozialismus. Dieses basierte auf der totalen Transformation der Agrarverfassungen mit kleinbäuerlicher bzw. privater großbetrieblicher Struktur in eine Verfassung mit kollektiver bzw. staatswirtschaftlicher Agrarstruktur. Es war eine radikale Alternative zur einzelbetrieblichen und privatwirtschaftlichen Agrarwirtschaft. Als Organisationsform wurde dem Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebes des Westens das Leitbild des sozialistischen Großbetriebes in den Formen des Staatsgutes und der Produktionsgenossenschaften gegenübergestellt.' Ich möchte in meinen Ausflihrungen chronologisch vorgehen und die Besonderheiten bei der Verfolgung dieser Leitbilder flir vier Zeiträume erfassen: I. die flinfziger Jahre, 2. die sechziger Jahre, 3. die siebziger Jahre und 4. die achtziger Jahre.
1. Die Agrarwirtschafl in denfün/ziger Jahren 1.1 Die Agrarwirtschaft in der BRD in den flinfziger Jahren Da ist zunächst zu beachten, daß der Marshallplan, der Plan zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft, in der Zeit von 1948-1953 eine fundamentale Rolle spielte. Aus diesem European Recovery Program (ERP) wurden 524,3 Mio. DM flir die Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft Westdeutschlands und Berlins in Form von Krediten und Zuschüssen zur Verfligung gestellt. Niedersachsen und Bayern, die beiden Bundesländer mit den höchsten FlüchtI
Immler, H.: Agrarpolitik in der DDR, Köln 1971, S. 23-25.
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lingszahlen und den größten Versorgungsproblemen, bekamen die größten Anteile. Sie wurden z.B. für den Wiederaufbau kriegszerstörter Gehöfte verwendet. Um zu verhindern, daß es in Zukunft zu Versorgungsproblemen kommen könnte, wurde nach Aufhebung der Bewirtschaftung 1949/50 die Landwirtschaft nicht in die freie Marktwirtschaft entlassen, vielmehr begann ein systematischer Auf- und Ausbau der Landwirtschaft. Ende 1950 kam es zu den ersten Marktordnungsvorschriften für Getreide. Das Getreidegesetz war das Grundgesetz der Getreide- und Futtermittelwirtschaft. 2 Darin wurde die Aufstellung eines Versorgungsplanes bestimmt, die Verwendung des Getreides, seine Ausmahlung und die Mischung der hergestellten Erzeugnisse geregelt. Eine Milhlenstelle sollte die Verarbeitung in den Mühlen überwachen. Die Preise für Inlandsgetreide wurden im voraus für jedes Getreidewirtschaftsjahr festgesetzt. Marktordnungsvorschriften gab es auch ab 1951 für den Verkehr mit Milch, Milcherzeugnissen und Fetten (=Milch- und Fettgesetz).3 Es regelte die Schaffung von Molkereieinzugs- und -absatzgebieten, durch die eine rationelle Erfassung und Verteilung der Milch gesichert werden sollte. Das Gesetz über den Verkehr mit Zucker (Zuckergestz)4 verpflichtete den Bundesernährungsminister, für jedes Zuckerwirtschaftsjahr einen Versorgungsplan aufzustellen. Zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung und zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft sowie zur Schaffung eines besseren Gleichgewichtes zwischen Landwirtschaft und industrieller Arbeit und zur Erreichung eines höheren Lebensstandards wurden schon ab 1950 die ersten Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur in Kraft gesetzt. Da ist zunächst das Flurbereinigungsgesetz von 1953 zu nennen. 5 Damit sollten die Zersplitterung des ländlichen Grundbesitzes und ihre arbeitserschwerenden und erzeugnishemmenden Folgen beseitigt und eine zweckmäßige Neueinteilung der Gemarkung erreicht werden. Es sollten weiterhin die im Zusammenhang damit durchzuführenden landeskundlichen Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung beitragen. Das umfassendste und bedeutendste Gesetz ist aber das Landwirtschaftsgesetz von 1955. 6 Ziel des Gesetzes war es, der Landwirtschaft die Teilnahme an
2
BGBL. I vom 4.11.1950, S. 721
3
BGBL.lvom28.2.1951,S .. 135
~
BGBL. I vom 5.1.1951, S. 47
5
BGBL. I vom 14.7.1953, S. 591
6
BGBL. I vom 5.9.1955, S. 565
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der fortschreitenden Entwicklung der Volkswirtschaft zu sichern und ihre Produktivität zu erhöhen. Daneben sollte auch die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung mit Ernährungsgütern sichergestellt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte die Landwirtschaft mit den Mitteln der allgemeinen Wirtschafts- und Agrarpolitik in den Stand versetzt werden, die rur sie bestehenden naturbedingten und wirtschaftlichen Nachteile gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen auszugleichen und die soziale Lage der in der Landwirtschaft Tätigen zu verbessern. Zur Beurteilung der Ertragslage der Landwirtschaft ordnete das Gesetz an, jährlich den Ertrag und Aufwand von 6.000 - 8.000 landwirtschaftlichen Betrieben festzustellen. Das Ergebnis dieser Feststellung hatte die Bundesregierung in einem "Bericht über die Lage der Landwirtschaft" dem Deutschen Bundestag bis zum 15.2. eines jeden Jahres vorzulegen. Insgesamt sollte der Bericht Aufschluß darüber geben, in welchem Umfang die Landwirtschaft Jahr rur Jahr am Aufstieg der Gesamtwirtschaft teilgenommen hatte. In ihrem jährlichen Bericht hatte sich die Bundesregierung auch darüber zu äußern, welche Maßnahmen sie zur Erreichung der Ziele des Landwirtschaftsgesetzes bereits getroffen hat oder zu treffen beabsichtigte. Darur wurde der Grüne Plan aufgestellt. Schließlich bestimmte das Gesetz auch noch, daß die Bundesregierung rur die Bereitstellung von Mitteln zu sorgen hatte, soweit sie zur Durchruhrung der beabsichtigten Maßnahmen notwendig waren. Ende der runfziger Jahre erfolgte auch die agrarwirtschaftliche Einbindung Deutschlands in die europäische Agrarpolitik. Am 1.1.1958 trat nämlich der Vertrag zur Gründung der EWG in Kraft. In Artikel 3 wurde u.a. die Einruhrung einer gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft vorgesehen. Artikel 39 des EWG-Vertrages enthält die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik: •
die Produktivität der Landwirtschaft durch den bestmöglichen Einsatz der Produktions faktoren steigern,
•
der Landwirtschaft eine angemessene Lebenshaltung gewährleisten,
•
die Märkte stabilisieren,
•
die Versorgung sicherstellen,
•
dafiir Sorge zu tragen, daß die Verbraucher zu angemessenen Preisen beliefert werden.
Durch schrittweise Errichtung eines gemeinsamen Marktes sollten diese Ziele in einer Übergangszeit von 12 Jahren erreicht werden. Diese agrarpolitischen Rahmenbedingungen hatten in jeder Hinsicht eine dynamische Entwicklung ermöglicht.
4 Eckarl I Roesler
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Auf der landwirtschaftlichen Nutzfläche kam es in den flinfziger Jahren zu einer anbaustrukturellen Wende: Der Getreideanbau nahm Anfang der fiinfziger Jahre insgesamt rasch zu, der Hackfruchtbau und auch der Feldfutterbau gingen zurück. Man spricht von der sog. "Vergetreidung". Das ist ein typisches Kennzeichen der Extensivierung in der Betriebsorganisation der Feldwirtschaft, die in dieser Zeit begann. Eine starke Zunahme erfuhren die Rinder- und Schweinebestände. Dadurch erhöhte sich auch die Rindfleisch- und Schweinefleischproduktion sehr stark. Und da immer weniger Kühe infolge zunehmender Mechanisierung als Zugtiere eingesetzt wurden, konnten auch die Milchleistungen je Tier ständig erhöht werden. Auch die Zahl der Pferde nahm infolge steigender Mechanisierung stark ab. Die Mechanisierung ermöglichte in den fiinfziger Jahren eine Rationalisierung in der Feldwirtschaft und auch in der Innenwirtschaft. Diese ergab sich aus der Tatsache, daß sich die Tauschkraft landwirtschaftlicher Erzeugnisse gegenüber Lohnarbeit drastisch verschlechterte, Löhne eine immer größere Belastung fiir den Betrieb darstellten und somit die Zahl der Vollarbeitskräfte ständig zurückging. Zur Drosselung des Arbeitsaufwandes war es unumgänglich, die notwendigen Arbeiten zu mechanisieren. In der technischen Ausrüstung der landwirtschaftlichen Betriebe nahm von Anfang an der Schlepper eine bevorzugte Stellung ein. Es gab eine gewaltige Zunahme. Auch Mähdrescher kamen in dieser Zeit zum Einsatz. Ihre Bedeutung stieg ständig. Klein- und Kleinstbetriebe waren immer weniger in der Lage, sich eigene Mähdrescher oder andere Maschinen und Geräte anzuschaffen. Es entstanden deshalb in zunehmendem Maße Lohnunternehmen, Maschinengemeinschaften und Maschinenringe. Mit umfangreichen finanziellen Mitteln durch Bund und Länder konnte diese Entwicklung forciert werden. Schon in den fiinfziger Jahren begann der Rückgang der Zahl der Betriebe. Die relativ geringen Einkommen im Vergleich zu anderen Tätigkeiten waren hauptsächlich der Grund fiir die Aufgabe der Betriebe. Die freigewordenen Flächen konnten u.a. fiir die Aufstockung kleinerer Betriebe genutzt werden. Seit 1956 versuchte die Bundesregierung verstärkt Betriebsvergrößerungen durch sog. "Aufstockung" mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Im Jahre 1950 machte der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in der BRD 14,2% aus. 7 Als Folge der kriegsbedingten Umschichtung bedeutete das sicherlich ein Überbesatz an Ar7 Olsen, K.: Grundlagen der westdeutschen Agrarstruktur. Eine Übersicht in Zahlen und Bildern, Hannover 1955, S. 5.
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beitskräften. Schon bald aber übten Industrie, Handel und Gewerbe einen Sog auf die in der Landwirtschaft Tätigen aus. Schneller als erwartet kam es in den fünfziger Jahren infolge des aufblühenden Wirtschaftslebens und infolge der Wiedereinführung der Wehrpflicht zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Arbeitskräften, wobei die Wettbewerbsbedingungen für die Landwirtschaft recht ungünstig waren, so daß sich auch von daher ein Zwang zur Mechanisierung ergab. Die Versorgung der Bevölkerung konnte trotz aller Entwicklungen verbessert werden. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Rindfleisch stieg von 11,4 kg (1950/51) auf 18 kg(1961162). Der Schweinefleischverbrauch stieg sogar von 19,4 kg auf 31,0 kg in dieser Zeit an. Besonders stark nahm der Verzehr von Eiern und Eierprodukten zu. Allerdings muß dabei auch bedacht werden, daß Importe - insbesondere von Milchprodukten - noch beachtlich waren. 1.2 Die Agrarwirtschaft in der DDR in den fünfziger Jahren Die fünfziger Jahre standen in der Agrarwirtschaft der DDR ganz im Zeichen der Kollektivierung. Das bedeutete konsequente Umgestaltung der besitzrechtlichen, der betriebswirtschaftlichen, also der organisatorischen, anbau- und viehwirtschaftlichen Strukturen. Auf der 11. Parteikonferenz am 12. Juli 1952 wurde die "freiwillige" Gründung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften verkündet, um den "Aufbau des Sozialismus" zu realisieren. Mit Stalins Tode am 5. März 1953 trat für wenige Monate ein Stillstand im Kollektivierungsprozeß ein, weil man zunächst keine Klarheit über den sowjetischen Kurs hatte, den die neuen Machthaber einschlagen würden. Doch dieser Stillstand war nur von kurzer Dauer. Ende 1960 ging unter großem Druck die Kollektivierung zu Ende. Mit dem Beginn der Kollektivierung veränderte sich in einem knappen Jahrzehnt die Betriebsstruktur vollständig. Der Privatsektor verschwand in dem Maße, in dem sich der sozialistische Sektor ausdehnte. 8 Faßt man die LN aller LPG-Typen zusammen, dann kann man errechnen, daß sich dieser Anteil an der gesamten LN schnell erhöht hatte. Gleichzeitig nahm mit dieser Entwicklung die durchschnittliche Fläche der LPG zu. Sie lag 1961 bei 304 ha. 9 8 Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 1956, hrsg. v. Bundesministerium rur gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1957, S. 206. 9 Statistisches lahrbuch der DDR, hrsg. vom Zentral amt rur Statistik der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (0), 1975, S. 23.
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Wird zum genossenschaftlichen Sektor (gebildet von den LPG) noch der staatliche Sektor (gebildet von den Volkseigenen Gütern) hinzugerechnet, dann wird damit der gesamte sozialistische Sektor erfaßt, der 1961 einen Anteil von 92,7% hatte. Zu den bemerkenswerten Kennzeichen der sozialistischen Landwirtschaft der DDR gehörten die in Musterstatuten verankerten privaten Hoflandwirtschaften der LPG-Mitglieder.!O Nach Abschluß der Kollektivierungsphase Ende 1960 gab es nur noch 28.238 "übrige Betriebe". Sie machten 7,3% der LN der DDR aus und umfaßten 471.801 ha. Es waren Privatbetriebe von Einzelbauern in Splitterlagen und im wesentlichen Betriebe des privaten Erwerbsgartenbaus, Weingärten und private Obstanlagen. Auch kircheneigene Betriebe waren darin enthalten. Insgesamt wurden in diesem verbliebenen Bereich noch 55.053 Beschäftigte gezählt.!! Die Kollektivierung der Landwirtschaft hatte zur Folge, daß bis zum Mauerbau 1961 ein großer Teil der Arbeitskräfte nach Westdeutschland flüchtete und dieser somit der Landwirtschaft der DDR verlorenging. Aber auch der Auf- und Ausbau der Grundstoff- und Schwerindustrie, der einen großen Bedarf an Arbeitskräften hatte, trug zur ständigen Abnahme der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft bei. Beim Aufbau des Sozialismus und dem Zentralen Verwaltungs system spielten von Anfang an die Mechanisierung und Technisierung in der Landwirtschaft eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt standen dabei die Maschinen-TraktorenStationen (MTS).!2 Neben den MTS waren ebenso wichtig die Volkseigenen Güter (VEG) mit ihrem beachtlichen Maschinen- und Gerätebestand. Auch in diesem staatlichen Sektor spielte der Traktor eine sehr wichtige Rolle. Hinzu kamen Z.B. Pflüge, Drillmaschinen u.a. 13 Vergleicht man diese Entwicklung in der DDR mit derjenigen in der Bundesrepublik Deutschland, dann kann man Parallelen in der Ausweitung der Zahl der Maschinen und Geräte feststellen und die Bemühungen um zunehmende Mechanisierung und Technisierung. Zur Erreichung des ernährungspolitischen Ziels war es notwendig, die Erträge in der Pflanzenproduktion zu steigern. Zunehmender Mineraldüngereinsatz war deshalb wichtig. Schon 1950 hätte eine noch bessere Mengenversorgung mit Stickstoffdünger erfolgen können, denn die im Krieg stark zerstörten Stick-
11
GBL 11952, S. 1392 und GBL 11959, S. 333. DDR-Handbuch 1985, S. 804.
12
Die DBZ 1956, S. 202.
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Statistisches Jahrbuch der DDR, hrsg. vom Zentral amt rur Statistik der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (0), 1959, S. 426-427. IJ
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stoffwerke waren bereits wieder aufgebaut. Ein großer Teil mußte jedoch als Reparationsverpflichtungen zunächst noch abgegeben werden. Außerdem hielt man es in den folgenden Jahren fiir notwendiger, Stickstoffdüngemittel zu exportieren. Man vertrat die Meinung, daß die im Handelsaustausch gegen Stickstoffdünger ennöglichten Nahrungsmitteleinfuhren sicherer seien als die Steigerung durch diese Düngennengen im eigenen Land. Auf den zur Bewirtschaftung vorhandenen Flächen gab es - wie in der BRD große Veränderungen. Die Getreidefläche insgesamt veränderte sich nur geringfiigig, aber ihre Struktur: Die Roggen- und Haferanbauflächen nahmen ab, Gerste und Sommergetreide dagegen zu. Die Hackfruchtfläche verringerte sich um fast 300.000 ha. Die beachtenswerteste Entwicklung gab es jedoch beim Grün- und Silomais. 1953 betrug die Erntefläche erst 2.067 ha. In den folgenden Jahren wurde sie explosionsartig ausgedehnt und erreichte 1961 bereits einen Umfang von 344.076 ha. 14 Die Ausdehnung des Anbaus ist in direktem Zusammenhang mit der starken Zunahme des Viehbestandes zu sehen, fiir den eine stabile Futtergrundlage geschaffen werden mußte. Zu erwähnen ist die Tatsache, daß in dieser Zeit in der Bundesrepublik Deutschland Maisanbau noch eine völlig untergeordnete Rolle spielte. Es bestand wegen der kleinbetrieblichen Struktur und der geringen Viehbestände in der privatwirtschaftlich organisierten Landwirtschaft noch kein Bedarf. Die Veränderungen in der Bodennutzungsstruktur der DDR waren keineswegs nur Anpassungen an die natürlichen Bodenbedingungen. Da nämlich fiir alle privaten landwirtschaftlichen Betriebe umfangreiche Ablieferungspflicht fiir pflanzliche und tierische Erzeugnisse bestand, waren sie zum Anbau bestimmter Früchte und zur Haltung bestimmter Viehbestände gezwungen. Erst wenn die privaten Bauern in die LPG eintraten, wurde das Ablieferungssoll merklich verringert und die Möglichkeit zur freieren Wahl des Anbaus gegeben. Veränderungen gab es nicht nur in der Anbaustruktur, sondern auch in der Ertragslage. Die Flächenerträge schwankten von Jahr zu Jahr. Sie zeigten fiir einige Nutzpflanzen tendenziell eine ansteigende Entwicklung. Die gerade in dieser Zeit der fiinfziger Jahre erzielten Flächenerträge waren nicht nur aufgrund schwankender Niederschlags- und Temperaturverhältnisse starken Veränderungen unterworfen. Verantwortlich dafiir waren auch die abnehmende
14 Statistisches Jahrbuch der DDR, hrsg. vom Zentral amt ftlr Statistik der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (0), 1964, S. 286.
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Selbständigkeit der Landwirte, die Zwangskollektivierung, die dadurch fehlende Motivation der Arbeitskräfte und die Unsicherheit ihrer Zukunft. 15 Mit dem Beginn der Sozialisierung in der Landwirtschaft und der Kollektivierung wurde eine fiir wenige Jahre zunehmende Entwicklung in der Zahl der Rinder unterbrochen. Erst ab 1958 setzte wieder eine starke Zunahme ein. Ähnlich verlief die Entwicklung bei Schweinen, Legehennen und bei der tierischen Erzeugung. Die Bestandsvennehrung von Rindern war das Ergebnis zentraler Planung. Die katastrophale Lage der Unterversorgung der Bevölkerung mit Fleisch und Fett mußte und konnte durch eine umfangreiche Schweinehaltung überwunden werden. Die Frühreife der Schweine und die große Vermehrungsflihigkeit boten sich dafiir an. Auch die natürliche Futtergrundlage mit dem Anbau von Futtergetreide und Kartoffeln waren günstig und eine geeignete Basis. Es konnte zwar die tierische Erzeugung beachtlich erhöht werden, doch die Versorgungslage der Bevölkerung verbesserte sich dadurch kaum, im Gegenteil: Sie wurde Anfang der fünfziger Jahre immer dramatischer, so daß am 9.12.1952 Otto Grotewohl von Ernährungsschwierigkeiten sprach. Er gab bekannt, daß der Minister fiir Handel und Versorgung, von seinen Dienstgeschäften suspendiert sei. Er verkündete weiterhin, daß die Regierung 15 Minister und Staatssekretäre in die Bezirke entsandt habe, um die Bauern zu erhöhter MiIchablieferung zu veranlassen. Erfassung und Aufkauf von Fleisch sollten ebenfalls durch diese Aktion verbessert werden. 16 Die schon seit längerem bestehenden Pflichtablieferungen wurden mit der "Verordnung über die Pflichtablieferung und den Aufkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse fiir das Jahr 1953" entsprechend der Zunahme der Viehbestände angehoben. 17 Die Erfassung der Abliefeningsmengen erfolgte durch die staatlichen Handelsorgane, die "Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetriebe" (VEAB). Da in der ersten Hälfte der fünftiger Jahre vorrangig der Aufbau der Schwerund Grundstoffindustrie mit Investitionsmitteln versehen wurde, beschloß der Ministerrat am 20.4.1953 eine Erhöhung der Verbraucherpreise für bewirtschaftete Lebensmittel wie Fleisch, Fleischwaren und zuckerhaltige Erzeugnis-
IS Merkei, K. und Schuhans, E.: Die Agrarwirtschaft in Mitteldeutschland. Sozialisierung und Produktionsergebnisse. Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland 1960, S. 47. 16 Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 1956, hrsg. vom Bundesministerium fur gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1957, S. 203.
17 Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 1956, hrsg. vom Bundesministerium fur gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1957, S. 211.
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se. Damit konnten jährlich etwa 16 Mio. Mark an Zuschüssen eingespart und in der Industrie eingesetzt werden. 18 In der zweiten Hälfte der fiinfziger Jahre veränderte sich die Versorgungssituation. In einigen Bereichen konnte die Versorgung im Laufe der Zeit allmählich verbessert werden. Beispielsweise stieg der Verbrauch von Trinkmilch von 80,0 kglKopf (1955) auf 106 kglKopf (1959) an. Infolge der besser werdenden Versorgungslage wurde dann Ende Mai 1958 beschlossen, die Lebensmittelkarten völlig abzuschaffen (acht Jahre nach Abschaffung der Lebensmittelkarten in der Bundesrepublik). Dieser Schritt war aber voreilig, denn die katastrophale Lage der Landwirtschaft der DDR am Ende der Zwangskollektivierung hatte die vorübergehende Wiedereinfiihrung des Rationierungssystems bei Grundnahrungsmitteln zur Folge. 19 Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsgütern konnte zwar in der zweiten Hälfte der fiinfziger Jahre verbessert werden, doch dieses war zum großen Teil nur mit Hilfe von Importen möglich, z.B. bei Fleisch- und Fleischwaren (1953: 54.400 t; 1959: 193.100 t). Bei Weizen gab es eine kontinuierliche Steigerung von 349.000 t (1953) auf 1.335.000 t (1959). Importiert wurde fast nur aus den Ländern des Rates fiir Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). 2. Die Agrarwirtschaft in den sechziger Jahren
2.1 Die Agrarwirtschaft in der BRD in den sechziger Jahren Es sollte die Landwirtschaft in die Lage versetzt werden, sich durch umfassende Investitionsförderung auf den verschärften Wettbewerb in der EWG einzustellen. Zum Schwerpunkt Erzeugung und Vermarktung kamen finanzielle Förderungen fiir sozialpolitische Maßnahmen, außerdem Förderungsmaßnahmen für von Natur aus benachteiligte landwirtschaftliche Gebiete. Entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 11.3.1960 sollten landwirtschaftliche Betriebe, die durch Boden, Klima und sonstige Standortverhältnisse benachteiligt sind, insbesondere in Höhenlagen, verstärkt finanziell gefördert werden. Es spielten deshalb folgende agrarstrukturelle Maßnahmen eine Rolle: - Flurbereinigung, - Aussiedlung und Aufstockung, waldbauliche Maßnahmen und Althofsanierung, Iß Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 1956, hrsg. vom Bundesministerium fur gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1957, S. 221.
I' Lilge, H.: Deutschland von 1955 - 1963. Von den Pariser Verträgen bis zum Ende der Ära Adenauer (Hefte zum Zeitgeschehen, Heft 10), Hannover 1965, S. 58
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- Wirtschaftswegebau, - Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung etc. - Wasserwirtschaft, - Elektrifizierung. Die Anpassungshilfen stiegen ständig an und machten Ende der sechziger Jahre rund 4 Mrd. aus. Schon 1962 wurde in der EWG ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer gemeinsamen Agrarpolitik getan, und es wurden sechs Verordnungen verabschiedet. Es waren Verordnungen über die schrittweisen Einrichtungen gemeinsamer Marktorganisationen und zwar rur Getreide, Schweinefleisch, Eier, Geflügelfleisch, Obst, Gemüse und Wein. Das wichtigste Element des gemeinsamen Marktordnungssystems wurde ein einheitliches Preissystem rur Agrarprodukte in allen Mitgliedsstaaten. Vom Ministerrat wurden dabei jährlich drei Preise neu festgelegt: - Richtpreis. Diesen sollen die landwirtschaftlichen Erzeuger rur ihre Produkte erhalten. Es ist ein politisch gewünschter Zielpreis, um die landwirtschaftlichen Einkommen zu erhalten. - Interventionspreis. Wenn der tatsächlich erzielte Marktpreis auf Grund eines zu großen Angebotes unter den Richtpreis sinkt, dann greift der Interventionspreis. Das ist der Preis, zu dem die staatlichen Interventionsstellen jede angebotene Menge abnehmen müssen. Es gilt die Abnahmegarantie. - Schwellenpreis. Zu diesem Preis dürfen Agrarprodukte aus Drittstaaten in die Gemeinschaft eingeführt werden. Wenn der Weltmarktpreis unter dem Schwellenwert liegt, wird das importierte Agrarprodukt an der EU-Grenze bis auf den festgelegten Schwellenwert verteuert. Die Differenz zwischen Weltmarkt- und Schwellenpreis wird von der EU abgeschöpft und fließt dem EUHaushalt zu. Andererseits werden Agrarexporte aus der EU durch sogenannte "Erstattungen" subventioniert, wenn der Weltmarktpreis niedriger ist als der Schwellenpreis. Am 15.12.1964 beschloß der Rat der EWG, vom 1.7.1967 an in der EWG gemeinsame Preise anzuwenden. Mit der Verabschiedung der gemeinsamen Marktorganisationen wurde auch die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) beschlossen und der "Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds" (EAGFL) eingerichtet. Man kann die sechziger Jahre als eine Zeit charakterisieren, in der Integrationsimpulse die Landwirtschaft aus einer nationalwirtschaftlichen in eine europäische Entwicklung ruhrten. Die gesamte volkswirtschaftliche Entwicklung
Die Agrarwirtschaft in den beiden deutschen Staaten
57
und die agrarpolitischen Rahmenbedingungen hatten umfangreiche Strukturveränderungen zur Folge. Schon Mitte der sechziger Jahre lagen große Ackerflächen brach. Von den Besitzern wurde es nicht mehr als erstrebenswert angesehen, ihre Klein- und Kleinstbetriebe mit Grenzertragsböden zu bewirtschaften. Das war verstärkt in Südwestdeutschland der Fall. Diese Flächen der Sozialbrache lagen in den Jahren 1964/65 in der Bundesrepublik bei 157.400 ha. In nur drei Jahren (19651968) vergrößerte sich die Brachfläche in der BRD um 13,7% und umfaßte insgesamt 171.240 ha. 20 In einigen Räumen Deutschlands erfolgten anderweitige Nutzungen dieser Flächen. So wurden "Grenzböden", Z.B. besonders in Bayern, aufgeforstet. 21 In der Bodennutzung gingen die Veränderungen weiter, wie sie schon in den fünfziger Jahren tendenziell sichtbar waren: weitere Abnahme der Hackfruchtfläche, weitere Ausdehnung der Getreidefläche etc. Die Erträge konnten ständig gesteigert werden. Besonders deutlich wird die Steigerung im Vergleich mit den fünfziger Jahren. Auch in der Viehwirtschaft setzte sich die Entwicklung fort. Es stand jedoch der zunehmenden Zahl von Tieren eine abnehmende Zahl von Haltern gegenüber. Es begann ein Konzentrationsprozeß, der sich in den folgenden Jahren noch wesentlich verstärkte. Zunahme der Tierbestände bedeutete auch Zunahme der tierischen Erzeugung. Die Mechanisierung und Technisierung verlief in den vorgezeichneten Bahnen. Eine besonders erwähnenswerte Entwicklung vollzog sich im Bereich der Chemisierung. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre hatten sich die Erzeugerpreise pflanzlicher Produkte um 19% erhöht. Die Einkaufspreise für Saatgut stiegen in dieser Zeit ebenfalls um 19%. Die Handelsdüngerpreise nahmen jedoch nur 10%, die Einkaufspreise für Pflanzenschutzmittel sogar nur um 2% zu. Beizmittel, Insektizide und Herbizide wurden sogar billiger. Diese Relationen führten zu kräftigen Steigerungen des Mineraldüngerverbrauchs und zur Zunahme von Pflanzenschutzmitteln. 22 Die erhöhten Mineraldüngergaben bei Getreide forderten zwingend eine intensivere Unkrautbekämpfung. Arbeitssparend war das nur mit chemischen Mitteln möglich, die ab 1960 verstärkt eingesetzt wurden. Im Hackfruchtbau 20 Hoerster, Th.: Die Flurbereinigung - Instrument zur Neuordnung im ländlichen Raum. In: Berichte über Landwirtschaft, Jg. 47,1969, Bd. XLVII, S. 523. 21 Rieger, D.: Entwicklung und Standortorientierung der Schafhaltung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Berichte über Landwirtschaft, Jg. 47,1969, Bd. XLVII, S. 119. 22 Andreae, B.: Die Zwangslage der Landwirtschaft als Herausforderung an den Pflanzenschutz. In: Berichte über Landwirtschaft, Jg. 47, 1969, Bd. XL VII, S. 9.
58
Karl Eckart
besonders im ZuckeITÜbenanbau - bedeutete das zur damaligen Zeit eine Umstellung. Außerdem spielte nun die Monogermsaat eine Rolle. Waren bis dahin etwa 1 Mio. Rübenkeimlinge auf 1 ha ausgesät worden, so brachte man nun nur noch 70.000-80.000 Rübenkeimlinge (Monogermsaat) aus. Das Vereinzeln war überflüssig. Die Pflanzen hatten weiten Abstand und waren unkrautfrei. Die in den fiinfziger Jahren begonnene Entwicklung der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und Verschiebung zwischen den Betriebsgrößenklassen setzte sich auch in den sechziger Jahren fort. Die Kleinst- und Kleinbetriebe verschwanden mehr und mehr, die Zahl der größeren und Großbetriebe nahm zu. Die Durchschnittsflächen unterschieden sich zwischen den Bundesländern. Sie lagen jedoch weit unter den Durchschnittsgrößen der Betriebe in der DDR. In Gebieten mit traditioneller Kleinindustrie gab es seit Generationen den Arbeiterbauern. Es war die Kombination des Kleinlandwirts und des ungelernten Arbeiters. Solche Kombinationen existierten häufig in Realerbteilungsgebieten im Südwesten Deutschlands, wo es also neben der Landwirtschaft z.T. noch zu beachtlichen Einkommen aus anderen Tätigkeiten kommen konnte. Die rasant voranschreitende Entwicklung der Industrie bot besonders in solchen Regionen den landwirtschaftlichen Arbeitskräften und Betriebsinhabern gute Verdienst- und Einkommensmöglichkeiten. Infolge dieser immer deutlicher werdenden Entwicklung versuchte das Statistische Bundesamt erstmals in den sechziger Jahren die landwirtschaftlichen Betriebe unabhängig von ihrer Fläche nach den Erwerbsquellen ihrer Inhaber zu gliedern. Dabei wurden entsprechend ihrem Anteil am gesamten Einkommen Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetriebe unterschieden. Danach waren z. B. Vollerwerbsbetriebe solche, deren Organisation und Größe ausreichte, einer bäuerlichen Familie bei rationeller Bewirtschaftung ein angemessenes Einkommen zu gewährleisten. Als solches Einkommen wurden im Zeitpunkt der Erhebung 10.000,-- DM bis 15.000,-- DM angenommen. Landwirtschaftliche Nebenerwerbsbetriebe mit Marktleistung waren Betriebe, die nur im Nebenberuf bewirtschaftet wurden, aber noch eine Marktleistung von über 1.000,-- DM im Jahr erzielten. Diese sogenannten sozialökonomischen Betriebstypen unterschieden sich hinsichtlich ihrer Zahl und Durchschnittsfläche. So hatte ein Vollerwerbsbetrieb 1965 eine Durchschnittsfläche von ca. 18 ha. Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft nahm auch in den sechziger Jahren rapide ab. Besonders stark ging infolge besserer Verdienstmöglichkeiten in der Industrie die Zahl der nicht ständig familienfremden Arbeitskräfte zurück.
Die Agrarwirtschaft in den beiden deutschen Staaten
59
Faßt man die ständigen und nichtständigen familienfremden Arbeitskräfte zusammen, dann sieht man Z.B. rur Schleswig-Holstein einen Rückgang von 88.400 (1956) auf25.200 (1968/69). In NRW verringerte sich in dieser Zeit die Zahl sogar von 19l.000 auf nur noch 42.300. Die Versorgung der Bevölkerung in den sechziger Jahren konnte ständig verbessert werden. Ein in den runfziger Jahren begonnener Trend im Nahrungsmittelverbrauch setzte sich auch in dieser Zeit fort. Der Pro-KopfVerbrauch von Kartoffeln ging rapide zurück, ebenso der Verbrauch von Getreideerzeugnissen. Der Verzehr von Frischobst und Gemüse hingegen nahm beträchtlich zu und stand in direktem Zusammenhang mit Importen aus den EWG-Ländern, insbesondere aus den Niederlande und aus Italien. Die Eßgewohnheiten veränderten sich sehr stark. 2.2 Die Agrarwirtschaft in der DDR in den sechziger Jahren Für die agrarwirtschaftliche Entwicklung in der DDR in den sechziger und den folgenden Jahren war der VIII. Deutsche Bauernkongreß im Jahre 1964 sehr wichtig. Damals wurde der planmäßige Übergang zu industriemäßigen Produktionsmethoden als charakteristischer Prozeß der Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft bis 1980 erklärt. Das bedeutete: ,,- die Produktion auf einige Hauptproduktionszweige zu konzentrieren und die ökonomisch zweckmäßigste Kombination der Zweige festzulegen, - die Großproduktion einzelner Erzeugnisse mit spezialisierten Fachkräften und vollkommenen Maschinensystemen in selbständig abrechnenden Betriebseinheiten zu sichern, - die modeme Wissenschaft und Technik zur weitesten Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion umfassend anzuwenden und eine hohe Rentabilität in den Betrieben zu erreichen.'::
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Skizze 4: Entwicklung des Faktors I (I) der DDR-Wirtschaft 1960 bis 1980; 1960 Tabelle 12)
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4000 MW stillgelegt. Mitte 1997 unterhielt die Vereinigte Kraftwerke AG Berlin (VEAG) in der Region 2 Großkraftwerke (Jänschwalde 3000 MW, Boxberg 2260 MW), deren 8 x 500 MWBlöcke mit moderner Umwelttechnik nachgerüstet wurden (6 x 210 MWBlöcke in Boxberg gehen noch bis zum Jahr 2000 vom Netz). Als Ersatzkapazitäten nehmen am Standort Schwarze Pumpe 2 x 800 MW-Blöcke modernster Technologie (1997/98) und in Boxberg (Ostsachsen) 1 x 907 MW-Block (2000) den kommerziellen Betrieb auf. Auf der Grundlage eines langfristigen Vertrags zwischen VEAG und LAUBAG (1997) werden in Zukunft 85 % der Lausitzer Braunkohle verstromt werden. Auf dem Strom- und Wärmemarkt wird neuerdings die Konkurrenz von Stadtwerken bemerkbar. Von der ökonomischen Stabilität der Braunkohlenförderung in den Tagebauen der LAUBAG und der Position der Grundlast-Kraftwerke der VEAG auf dem zukünftig liberalisierten Strommarkt in Deutschland hängt die Zukunft des Braunkohle-Energie-Sektors in der Niederlausitz weitgehend ab. Der Bergbau muß seine spezifischen Kosten langfristig real konstant halten und Veränderungen seiner natürlichen Abbaubedingungen (z.B. wachsende Wasserhebung je t Rohkohle, 1996 7,0 m 3 Wasser/t Kohle) durch Produktivitätssteigerungen kompensieren. Die deutsche Energiewirtschaft verweist immer wieder auf ihren Standortvorteil gegenüber Konkurrenten, in der eigenen Braunkohle über eine langfristig kalkulierbare, einheimische Rohstoftbasis zu verrugen. Angesichts der enormen Investitionen
Hans Viehrig
192
in die Modernisierung der ostdeutschen Kraftwerke plädiert die VEAG nachdrücklich filr einen Schutz des ostdeutschen Strommarktes vor Lieferungen von außen bis mindestens 2006 (VEAG-Geschäftsbericht 1996). Von der Zukunft des Kohle- und Energie-Sektors hängen direkt oder nachgeordnet einige Zehntausend Arbeitsplätze in der Region ab. 2. Außerhalb des Kohle-Energie-Sektors bestehen nur wenige größere industrielle Kerne, die standörtlich integrative Effekte auslösen können (u.a. BASF Schwarzheide GmbH, Hoechst Guben GmbH). Die Entwicklung von neuen Gewerbegebieten nach 1990 erfolgte in der Region in erster Linie auf altindustriellen Flächen, jedoch sind diese im Mittel nur zu 50 % belegt. Im Saldo von Gewerbean- und -abmeldungen je 10 000 Ew. werden in den Landkreisen der Region Beträge erreicht, die deutlich unter dem Landesmittel liegen (LUA Brandenburg 1996). In der Struktur der Wirtschaft sind gewünschte anteilige Verschiebungen zum Dienstleistungssektor bei gleichzeitig bedeutendem Beschäftigungszuwachs in diesem Bereich zu erkennen. Besonders wird dieser Prozeß im Oberzentrum Cottbus sichtbar (dort auch Ansiedlung von Bundesund Landesbehörden wie Oberfinanzdirektion, Bundesknappschaft, Oberbergamt). Obgleich die Region auch durch umfangreiche Investtransfers in der Infrastruktur (KomplettierungIModernisierung des Autobahnnetzes, Ausbau der Telekommunikation, Regionalbahnnetz) enorme Fortschritte erlangt hat, hat sich dort bisher kein neues regionalwirtschaftliches Gleichgewicht eingestellt. Ausdruck dessen sind die Bevölkerungsverluste der Region und vieler Gemeinden, die Abwanderung junger Bevölkerung und zunehmende Arbeitslosigkeit. Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in der brandenburgischen Niederlausitz (1990/95) Landkreis/Stadt
Bevölkerung 1990, 03.10. 1995,31.12.
Entwicklung 1990/95
Cottbus,
132349
123214
- 6,90 %
kreisfreie Stadt Oberspreewald-
166 351
156758
- 5,76 %
Senftenberg, (Stadt)
29622
27336
- 7,71 %
Lauchhammer (Stadt)
24945
22948
- 8,00 %
Lübbenau (Stadt)
20668
18896
- 8,57 %
Lausitz (LK)
Potentiale und Chancen der Kohle-Energie-Region
193
Spree-Neiße (LK)
157358
153493
- 2,45 %
Forst (Stadt)
27214
25701
- 5,56 %
Guben (Stadt)
33214
29093
- 12,31 %
Spremberg (Stadt)
24202
23297
- 3,74 %
Quelle: Berechnet nach LDS Brandenburg 1996
Verglichen mit der Arbeitslosenquote des Landes Brandenburg vom Mai 1997 (18,0 %) lag diese in den Arbeitsamtsbereichen Senftenberg (24,0 %), Lübbenau (21,2 %), Spremberg (20,9 %), Forst (20,8 %) und Guben (22,5 %) weitaus höher. 3. Im Rahmen der in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen um einen innovativen Umbau der Region hat im letzten Jahr das Projekt des Motodroms Lausitz-Ring auf der Tagebaubrache von Meuro auch mit Blick auf die von der brandenburgischen Landesregierung zugesagten 241 Mio. DM Fördennittel eine besondere Rolle gespielt. Nach Prüfung der privaten Finanzierungsangebote und der geforderten Betreibergarantie für 15 Jahre ist im Juli 1997 der zugesagte Bewilligungsbescheid für den Bau der Renn- und Teststrecken vom Brandenburger Wirtschaftsministerium angekündigt worden. In den Jahren 1999/2000 könnten aus Betreibersicht erste Rennen stattfinden. Das Gesamtprojekt Lausitz-Ring erstreckt sich auf einer Fläche von 560 ha im Tagebaugebiet Meuro zwischen der A 13 Berlin-Dresden und Senftenberg (Rennstrecke von 11 km Länge, Teststrecke; Freizeitflächen). Die Betreiber setzen auf die Kombinierbarkeit der Rennstrecken für Motorsportveranstaltungen verschiedener Art (u.a. Indy-Car-Rennen), auf den Produktvorteil, einmalig in Deutschland 24-Stunden-Dauertests von Material und Technik durchführen zu können und die standörtliche Kombination mit einem Erlebnis-, Kultur- und Themenpark Lausitz-Ring. Kritiker der Standortentscheidung wiesen auf das Risiko ausbleibender Marktakzeptanz der Rennstrecken, eine Überschätzung des volkswirtschaftlichen Nutzens für die Region und der prognostizierten arbeitsmarktpolitischen Effekte hin. 4. Auf der Suche nach endogenen Potentialen für neue wirtschaftliche Entwicklungen außerhalb von Bergbau und Industrie wird der Gedanke einer Internationalen Bauausstellung in der brandenburgischen Niederlausitz (ab 2000) unter dem Namen IBA Fürst Pückler-Land diskutiert. Diese IBA greift den Namen des großen Gartenarchitekten auf, um das inhaltliche Ziel zu verdeutlichen, Werkstatt zu sein für "neue, aber den Bergbau nicht verleugnende Landschaften". Davon könnten neben anderen innovativen Impulsen vor allem Wirkungen auf die Qualität des Lebensraumes Niederlausitz ausgehen. Bei der Sanierung der Braunkohlenabbaugebiete wird in erster Linie davon ausgegan13 Eckan I Roesler
194
Hans Viehrig
gen, Tagebau- und Industriebrachen in lausitztypische, vielfach nutzbare Bergbaufolgelandschaften zu verwandeln. Das Ergebnis sind bisher forst- und landwirtschaftliche Flächen von unterdurchschnittlicher Qualität sowie Restlochseen für Badenutzung und renaturierte Flächen rur den Naturschutz. Die diskutierte Leitidee für die Gestaltung der Bergbaufolgelandschaft ist nun orientiert auf die Schaffung von Landschaften, in denen auch die Erhaltung wichtiger Kulturdenkmäler aus der Braunkohlenzeit zu höherer, beispielsweise touristischer Attraktivität beiträgt. Die IBA könnte als "Ideenbörse" und "regionale Innovationsagentur" diesen Prozeß begleiten. Gleichzeitig stünde auch die Förderung von Initiativen in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft auf ihrem Programm. Zweifellos wird die landschaftliche Gestaltung der Sanierungsgebiete langfristig zu einer Erweiterung der naturverbundenen, freiraumorientierten Erholungsmöglichkeiten in der Region führen. Überregionale Bedeutung im Fremdenverkehr könnten im wesentlichen spezialisierte Freizeitangebote (Industriedenkmäler, Bergbaumuseen), punktuell auch infrastrukturell gut ausgestattete Badeseen (Senftenberger See) sowie künftige größere Erlebnis-Freizeit- und Kulturparks (Lausitz-Ring) erlangen. Dennoch liegt die Gefahr einer Überschätzung künftiger Chancen in der Nutzung überregionaler Tourismuspotentiale nahe. Die langfristige Herausbildung eines "systemischen" regionalen Gleichgewichts in der Region macht sowohl ein Aufhalten weiterer Deindustrialisierung, besser noch einen Zuwachs von Reindustrialisierung, den weiteren Ausbau marktfähiger Dienstleistungen und innovativer Veränderungen des Milieus (Bergbaufolgelandschaften) in der Region bei landesplanerischer Zusammenarbeit mit Sachsen erforderlich.
Literatur
Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg (1996): Statistisches Jahrbuch. Potsdam Landesumweltamt Brandenburg (LUA) (1996): Berlin-Brandenburg regional '96. Potsdam LAUBAG. Lausitzer Braunkohle Aktiengesellschaft (1996): Bericht über das Geschäftsjahr 1995/96. Senftenberg Scherf. K. u. H. Viehrig (Hrsg.) (1995): Berlin und Brandenburg auf dem Weg in die gemeinsame Zukunft. Gotha: Justus Perthes Verlag (Perthes Länderprofile)
Potentiale und Chancen der Kohle-Energie-Region
195
Schiffer, H. W (1997): Deutscher Energiemarkt '96. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Essen, H. 3, S. 152/165 Schiffer, H. W (1994): Deutscher Energiemarkt '93. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Essen, H. 3, S. l32-152 ? / -?
VEAG Vereinigte Energiewerke AG (1997): Bericht über das siebte Geschäftsjahr. 01. 01./31. 12. 1996. Berlin
13'
Hans-Peler Müller* DIESTROMVERTRÄGE UND DER "STADTWERKESTREIT" VON 1990 ZUR TRANSFORMATION DERELEKRTIZITÄTSWIRTSCHAFT IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN 1. Widersprüchliche Energiepolitik der DDR-Regierung
Im Jahre 1989/90 hatte das Elektroenergiesystem der DDR einen Modemisierungsrückstand von einer technischen Generation hinsichtlich Energieträgerstruktur und darauf zugeschnittener Energieerzeugungsanlagen-Struktur, aber auch Verarbeitung, Entschwefelung und Umweltsanierung im Zusammenhang mit der Braunkohlenutzung. Verbrauchsstruktur und technischer Standard waren vergleichbar der Situation im Rheinland zum Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre. I Das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln schätzte daher 1992 die Kosten für den Umbau des gesamten Energiesystems der DDR auf ca. 200 Mrd. DM: 50-60 Mrd. DM für den Umbau des Elektroenergiesystems, 18-24 Mrd. DM für die Gaswirtschaft, 10-12,5 Mrd. DM für die Mineralölwirtschaft und Kosten von je 10 000 bis 30 000 DM für die Umstellung von 5 Mio. Privathaushalten auf Öl oder Gas. 2 Unmittelbar nach dem Ende der SED-Herrschaft nahm die Regierung Modrow noch im Dezember 1989 Verhandlungen mit drei großen Energieversorgungsunternehmen der Bundesrepublik auf. Es waren dies die DDR-Anrainer Bayernwerke, die zum VEBA-Konzem gehörende PreussenElektra sowie die Essener RWE als größter bundesdeutscher Betreiber von Braunkohlekraftwerken, mit ihrer Tochtergesellschaft Rheinbraun AG zugleich größter bundesdeutscher Braunkohlenförderer. 3 Da die Modrow-Regierung im Zusammenhang mit der Joint-Venture-Debatte immer wieder Vorbehalte vor einern übergroßen westdeutschen Wirtschafts einfluß auf die DDR äußerte, scheint man nur über
• Forschungsverbund SED-Staat, Freie Universität Berlin. I RWE (Hg.): Die ostdeutsche Energiewirtschaft im Wandel. Von der Plan- zur Marktwirtschaft (Okt. 1993), S. 6.
2
IW: 200 Mrd. DM rur Ost-Energieversorgung. Der Tagesspiegel, 1.8. 1992.
Dies gab der Vorstandsvorsitzende der PreussenElektra, Hermann Krämer, im Juni 1990 bekannt. Vgl. PreussenElektra beharrt auf DDR-Plan. Die Welt, 26.6.1990. 3
198
Hans-Peter Müller
Einzelprojekte gesprochen zu haben. 4 Zu konkreten Ergebnissen kam es demzufolge nicht. Erst unter der Regierung de Maiziere wurde mit einer ernsthaften Umstrukturierung der DDR-Energiewirtschaft auf der Grundlage eigener Vorstellungen der DDR-Seite begonnen. Nach Darstellung des damaligen VEBA-Vorstandsvorsitzenden Piltz sei auf DDR-Seite vor allem die Sorge entstanden, "daß sich die westdeutschen Unternehmen, auf deren Hilfe man unbedingt angewiesen sei, zunächst nur die 'attraktiven Rosinen' herauspicken würden und daß das, was sich nicht rentiere, nicht gemacht würde, auch wenn es rur die Aufrechterhaltung und Neuorientiertung der Stromversorgung in der DDR dringend nötig sei."s Zwar wehrte sich Piltz später energisch dagegen, daß der DDRWunsch nach einem Gesamtkonzept unter westdeutscher Gesamtverantwortung "uns nur ein willkommener Vorwand ftlr unsere geheimen Wünsche gewesen sei".6 Die ersten Verhandlungsergebnisse zeigten dann jedoch, daß die drei westdeutschen Konzerne unverhohlen die Bedingungen diktiert hatten und der später als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnte zuständige DDR-Minister und sein federftlhrender Staatssekretär alles daran gesetzt hatten, die Kombinatsstrukturen möglichst weitgehend zu erhalten. Vor allem war er der aus planwirtschaftlichen Zeiten entstammenden Vorstellung eines weiteren linearen Wachstums des Stromverbrauchs und einer demzufolge notwendigen Erweiterung der DDR-Stromproduktion von 23 000 auf 28 000 MW installierte Leistung unterstellt. 7 Die Situation verkomplizierte sich dadurch, daß die DDR-Regierung zwei einander widersprechende Zielstellungen gleichzeitig verfolgen wollte. Zum einen als ersten Schritt zur Abschaffung des Volkseigentums die Umwandlung volkseigener Betriebe in Kapitalgesellschaften. Mit diesem Schritt sollte zugleich die Entflechtung der zentralistischen und monopolistischen Kombinatsstrukturen verbunden sein. Nach der "Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften" vom I. März 1990 hatten sich unter Aufsicht einer noch zu gründenden Treuhandanstalt volkseigene Betriebe durch "zweckmäßige Entflechtung" zukünftigen Strukturerfordernissen des Marktes anzupassen, um effizient und marktfii-
• Wiedergabe eines Gesprächs mit dem VEBA-Vorstandsvorsitzenden Klaus Piltz in: Heiner Radzio: Kein Engagement, wenn es nicht der andere Teil Deutschlands wäre, Handelsblatt 6.17.7.1990. S Ebenda. 6 Ebenda. 7 Joachim Wille: Die DDR soll die Chance filr eine Energiewende nicht verpassen. Frankfurter Rundschau, 26.6.1990.
Die Strom verträge von 1990 und der "Stadtwerkestreit"
199
hig zu werden. 8 Aus den volkseigenen Betrieben und Kombinaten war im Energiebereich der "Wirtschaftsverband ElektroenergielKraftwerke" gegründet worden, dem die Verbundnetz AG, die Kernkraft AG, die Braunkohlenkraftwerke AG und die Staatliche Hauptlastverteilung angehörten. Damit wurden Stromerzeugung und Verbundnetz unter dem genannten Dachverband zusammengefUhrt, was sich in der internationalen Energiedebatte als zunehmend problematisch, wenngleich wegen monopolistischer Marktstrukturen als hoch profitabel herausgestellt hat. Die 15 territorialen Energiekombinate hatten den "Wirtschaftsverband Energieversorgung" gegründet und waren damit ebenfalls auf dem Weg zur regionalen Energieversorgern nach westdeutschem Modell. Zugleich war die energiepolitische Meinungsbildung in der DDR stark beeinflußt durch massive Akzeptanzprobleme der braunkohlenabhängigen Energieversorgung. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur wurde auch verstanden als eine Chance zu einer Kehrtwende in der Energiepolitik, und zwar in bewußtem Kontrast nicht nur zur DDR-Vergangenheit, sondern zugleich in der Bundesrepublik. Der Energiebereich stellte also einen der wenigen Bereiche dar, in dem es einen sehr breiten Konsens gab, von dem ansonsten gewünschten Modell Bundesrepublik deutlich abzuweichen. In der Koalitionsvereinbarung der Maiziere-Regierung vom 12. April 1990 war daher eine energiepolitische Leitentscheidung gefällt worden, die auf grundsätzlich andere Energieversorgungsstrukturen als im Westen hinauslief: Nämlich die "Schaffung dezentraler Wärme- und Energieversorgungsbetriebe (Stadtwerke) bei gleichzeitiger Entflechtung der Energiekombinate. ,,9 Im Treuhandgesetz vom 17 Juni 1990 wurde ausdrücklich festgelegt, daß "volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufgaben und kommunalen Dienstleistungen dient, ... durch Gesetz den Gemeinden und Städten zu übertragen (ist)."10 Mit dieser Vorschrift korrespondierten die Vorschriften der Kommunalverfassung vom 17. 1990 und das Kommunalvermögensgesetz vom 6Juni 1990, schließlich die am 25. Juli Mai verabschiedete DurchfUhrungsverordnung zum Kommunalvermögensgesetz. 11 Somit waren in der Rechtslage der DDR gewissermaßen strategische Ausgangspositionen zukünftiger kommunaler Energieversorgungsstrukturen untergebracht. 12 8 Vgl. § 2 des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990. Gesetzblatt der DDR Teil I Nr. 33 v. 22. Juni 1990, S. 300 f. 9 Zit. nach Lutz Mez u.a.: Die Enmergiesituation in der vormaligen DDR. darstellung, Kritik und Perspektiven der Elektrizitätsversorgung, Berlin 1991, S. 105. 10 Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17 Juni 1990, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 33, 22.6.1990. 11 Vgl. Mez, a.a.O. S. 105 ff.
12 "Kommunales Vermögen, das kommunalen Aufgaben und kommunalen Dienstleistungen dient, wird den Gemeinden, Städten und Landkreisen kostenlos übertragen." (§ I Gesetz über das Vermögen der Gemeinden, Städte und Landkreise (Kommunalvermögensgesetz» Die 2monatige Antragsfrist sollte am 5. August 1990 ablaufen. (§ 7 I Kommunalvermögensgesetz)
200
Hans-Peter Müller
Im krassen Gegensatz dazu verhandelte die DDR-Regierung andererseits mit den drei großen bundesdeutschen Verbundunternehmen über eine möglichst komplette Übernahme der gesamten Stromversorgung. Die Regierung wollte damit vermeiden, für die alljährlich im Winter wiederkehrenden Bezugseinschränkungen und -sperren politisch haftbar gemacht zu werden. Der RWEVorstandsvorsitzende Franz Josef Schmitt hat die Situation später so beschrieben: "Schon aufgrund des riesigen Investitionsbedarfs war von Anfang an klar, daß die Sanierung der Stromwirtschaft der ehemaligen DDR keine staatliche Veranstaltung sein konnte, also unter Einbeziehung investitionskräftiger Wirtschaftsunternehmen zu erfolgen hat. Darüber hinaus mußte eine rasche und möglichst bruchlose Lösung gefunden werden, da eine effizient arbeitende Elektrizitätsversorgung eine unabdingbare Voraussetzung für die notwendige rasche Verbesserung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse in den fünfneuen Bundesländern ist. Die vor dem Beitritt im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion amtierende DDR-Regierung strebte dabei eine Lösung 'aus einem Guß' an, also möglichst die Übernahme der Gesamtverantwortung im Bereich der Elektrizitätswirtschaft durch einige wenige westliche Versorgungsunternehmen.,,1J Die Konzerne waren sich der grundsätzlich anderen Strukturen, die sie vorfanden, wohl bewußt. Aus ihrer Sicht war es daher eine staatliche Aufgabe, die Rahmenbedingungen für ihr Engagement insoweit zu definieren, als und in wieweit ostdeutsche Besonderheiten weiterhin energiepolitisch Berücksichtigung finden sollten. Zugleich gingen sie davon aus, daß in einem wiedervereinigten Deutschland regionale wirtschaftliche Beeinflussungen und Abhängigkeiten zunehmen würden und somit über kurz oder lang eine neue gesamtdeutsche energiepolitische Konstellation entstehen würde. Den Generalauftrag zum Umbau der ostdeutschen Stromversorgung interpretierten sie jedenfalls so, daß "bei gleichen Rahmenbedingungen wie in der alten Bundesrepublik [es] letztlich zu ähnlichen Verhältnissen fUhren (werde) - bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangslage. ,,14 Damit galt für die Wirtschaft wie fur die staatliche Vereinigung insgesamt die alte Bundesrepublik als Referenzmodell. Selbstlos war das Engagement der Konzerne jedoch keineswegs. Noch war ihnen die DDR-Konkurrenz hoffnungslos in jeder Beziehung unterlegen; aber ihr Auftrag lautete, diese Konkurrenzfähigkeit herzustellen. Dies erforderte eine Definition des eigenen Interessenstandorts in der neuen gesamtdeutschen Konstellation. Sie lautete: "Die ehemalige DDR soll kein stromwirtschaftliches Anhängsel Westdeutschlands werden. Zwar ist bereits im Winter 1991/92 der 13 Franz losef Schmitt: Die Modernisierung der Elektrizitätsversorgung in den neuen Bundesländern: Eine Aufgabe der westdeutschen Versorgungswirtschaft. Vortrag vor der Wintertagung des deutschen Atomforum e.V. "Kernenergie im geeinten Deutschland" am 29./30.1.1991, S. 8. 14 Ebenda., S. 10.
Die Strom verträge von 1990 und der "Stadtwerkestreit"
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Einbezug in das westeuropäische Verbundnetz beabsichtigt, aber der Osten wird ein eigenes Verbundgebiet sein, das entsprechend den Spielregeln des Verbundes in erster Linie mit eigener Kraftwerkskapazität die Lastanforderungen seines Gebietes abdeckt. Eine solche verbrauchsnahe Produktion ist nicht nur elektrizitätswirtschaftlieh vernünftig, sondern auch aus gesellschaftspolitischer Verantwortung geboten; denn wir wollen dem Ostteil Deutschlands zu möglichst viel wirtschaftlicher Eigenständigkeit verhelfen. Die Beibehaltung des ostdeutschen Stromerzeugungstandorts eröffnet die langfristige Option, diejenigen Länder im Osten Europas mit Strom lieferungen zu unterstützen, in denen aufgrund fehlender Energierohstoffe oder aus Gründen des Umweltschutzes und der Anlagensicherheit oder aus sonstigen Gründen mit Engpässen in der Stromversorgung zu rechnen ist." 15 Andererseits winkten kräftige Gewinne in den neuen Ländern, weil die preistreibenden Vorschriften zum Schutz der deutschen Steinkohle ("Kohlepfennig" , Marktkontingente für Importsteinkohle) in der DDR nicht galten und über kurz oder lang ein identisches Strompreisniveau zu erwarten war. Im Juni 1990 wurde ein erster Vertragsentwurf zwischen der DDR und den drei Energieversorgern bekannt. Ziel war danach die unverhohlene Übernahme der Macht in der DDR-Energiewirtschaft ohne gleichzeitige "vermögensrechtliche Transaktionen", d.h. ohne die Übernahme des wirtschaftlichen Risikos. Zu diesem Zweck sollte als "Vorschaltinstrument" zu einer später zu gründenden zentralen Obergesellschaft zunächst eine Betriebsführungsgesellschaft gegründet werden, an der die westdeutschen Konzerne die Mehrheit erhielten. Zwar wurde im Verlaufe der Debatte immer wieder mit enormen Milliardenbeträgen argumentiert, die rur eine Sanierung des Energiesystems der DDR erforderlich wären. Konkrete Investitionszusagen gab es jedoch nicht. So entstand rur alle Außenstehenden der fatale Eindruck, daß die großen Drei mithilfe einer sofortigen Kapitaleinlage von lediglich 1,9 Mrd. DM rur die Geschäftsbesorgungsgesellschaft, deren Geschäftsanteile die Drei unter sich aufteilten, die gesamte DDR-Energiewirtschaft mittels eines Systems ineinander verschachtelter Mehrheitsbeteiligungen und monopolistischen Exklusivregeln in die Hand bekommen wollten. Zu diesem Zweck z.B. sollte das gesamte Hochspannungsverbundnetz und die regionale Verteilung unter ihnen regional aufgeteilt werden. Die erzielten Zugeständnisse von Seiten der DDR-Regierung waren enorm. Sie verpflichtete sich, ab 1.1.1991 die Strompreise rur alle Abnehmergruppen freizugeben und alle Preissubventionen außer für Fernwärme einzustellen. 16 Da man am Markt nicht unterzubringende Erzeugungskosten befürchtete, sollte eine üppige "Gewährleistungsklausel" in allen Abnehmerbereichen "auskömm15
Ebenda., S. 18.
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Vgl. Handelsblatt, 3.8.1992.
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liehe Preise ... unter Berücksichtigung eines angemessenen Gewinns" notfalls durch staatliche Subventionen sicherstellen. 17 Zudem wollte man beim Erwerb von jeglicher Haftung tUr alle bestehenden Umweltaltlasten an den Kraftwerksstandorten befreit werden. Die Frage der Kernenergiestandorte und der Braunkohlen-Altlasten war komplett ausgeklammert worden. Zur Herstellung angemessener Bilanzrelationen sollten im Falle ungünstiger DM-Eröffnungsbilanzen etwaige Fehlbeträge durch öffentliche Schuldenübernahme ausgeglichen werden. Sollte hierüber keine dauerhafte Einigung erzielt werden können, wäre ein wichtiger Grund zur Kündigung gegeben. Ein VerlustUbertrag aus der Geschäftsbesorgung sollte in jedem Fall ausgeschlossen bleiben. Die monopolistischen Strukturen sollten rur 20 Jahre zum Zweck der beabsichtigten Sanierung garantiert werden, bevor über eine Entflechtung verhandelt werden könnte. Die Verträge sahen außerdem vor, daß die von den großen Drei ebenfalls mehrheitlich dominierten 15 Regionalversorger mindestens 70% des von ihnen verteilten Stroms aus den braunkohle betriebenen Großkraftwerken des zentralen Verbundunternehmens beziehen sollten. Da es die Bundesregierung in den gleichzeitigen Verhandlungen über den Einigungsvertrag aus energiewirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Gründen ablehnte, der DDR einen "Braunkohlepfennig"18 analog zum westdeutschen "Steinkohlepfennig" zuzugestehen, war von der pathetisch beschworenen nationalen Verantwortung der Energiekonzerne wenig zu spüren: Die Altlastenklausel wälzte alle Risiken letztlich auf den Bundeshaushalt ab, während gleichzeitig das Stromgeschäft von jeder absatz- und erlösmindernden Quasi-Steuer freigehalten wurde. Als diese Konditionen bekannt wurden, war die öffentliche Entrüstung einhellig. Der Präsident des Bundeskartellamtes sprach von einem "wettbewerbsrechtlichen Super-Gau"19, die Konzerne hatten sich gegen Vorwürfe des "Handstreichs", des Knebel-Vertrages (hinsichtlich der Kommunen) und eines risikolosen "Monopolvertrages" bei gleichzeitiger "Invasion" zu einem "Schandpreis" zu wehren. Aber die Angegriffenen wichen nicht zurück, sondern verteidigten den Dominanzanspruch auf eine ununterbrochene Kette von Mehrheitsbeteiligungen vom Großkraftwerk bis zur letzten Steckdose: "Die notwendige Führungsfähigkeit erfordert mehrheitliche Beteiligungen. ,,20 Der VorstandsvorsitNur Kostendeckung statt einer Gewinngarantie. Handelsblatt 6.17 .1990. Die DDR-Seite wünschte danach einen "Braunkohlepfennig" fllr den Abbau, die Förderung und die Verstromung von Braunkohle sowie fllr Maßnahmen des Umweltschutzes in diesem Bereich. Die Bundesregierung gestand demgegenüber lediglich zu, den "Steinkohlepfennig" nicht auf die ostdeutschen Länder auszudehnen. (Bonn lehnt Forderung nach einem Braunkohlepfennig ab. Handelsblatt 26.7.1990.) 19 Der Prllsident des Verbandes Kommunaler Unternehmen, der Stuttgarter Oberbürgenneister Rommel, sprach von einem "Knebelungsvertrag". 20 Hans Overberg: VEBA-ChefPiltz weist Vorwürfe gegen bundesdeutsche Stromkonzerne zurück. "Wir wollen keinen Handstreich in der DDR". Rheinische Post, 6.7.1990. 17
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zende der Bayernwerke, Holzer, gab sich unverhohlen erpresserisch: "Wir geben dieses Engagement nicht um jeden Preis. Als privatwirtschaftlich gefiihrtes Unternehmen können wir keine Investitionen tätigen, die sich nicht langfristig rechnen. An einer auf Dauer caritativen Veranstaltung können und wollen wir uns nicht beteiligen. ,,21 Wie auf vielen anderen Feldern der Transformation der DDR-Wirtschafts und Gesellschaft wurden die energiepolitischen Weichenstellungen der nächsten Zeit Gegenstand eines heftigen Streits über der Frage, ob in der DDR möglichst schnell analoge Strukturen zur Bundesrepublik hergestellt werden sollten oder ob die DDR zum Experimentierfeld neuer energiepolitischer Ansätze gemacht werden könnte, von denen man sich mit der Zeit Veränderungsdruck auf die verkrusteten bundesrepublikanischen Strukturen erhoffen könne. Die "Forschungsstelle Umweltpolitik" an der Freien Universität Berlin warnte in einem Gutachten die DDR-Regierung, "die einmalige Chance zu verpassen, eine wirklich modeme, energie-effiziente und umweltfreundliche Stromversorgung in der DDR aufzubauen ... 'Mit einem Schlag wird eine UraltStruktur übernommen - und zwar über den Umweg eines stalinistischen Energiemodells."'22 Die Forschungsstelle plädierte dafiir, die Modernisierung der Grundlasterzeugung wegen Know-how und Finanzierungsmöglichkeiten den Großkonzernen zu überlassen, nicht jedoch die dezentrale Ebene und den Bereich der Verteilung zu den Verbrauchern. Außerdem verwies man auf die enormen Einsparpotentiale sowie auf die Tatsache, daß die DDR Nacht filr Nacht ein braunkohlebetriebenes 500 MW-Kraftwerk benötigt hatte, nur um die aufwendige nächtliche Beleuchtung ihrer Grenzanlagen zu betreiben. 23 Von Konzernseite wehrte man sich umgekehrt gegen den "Versuch, den energiepolitischen Ideologienstreit der Bundesreppublik auf das Gebiet der DDR zu verlagern". Gegen die Kartellamtsvorbehalte entgegnete man, "es sei ferner wenig sinnvoll, 'in der desolaten Lage der DDR-Stromversorgung theoretische Wettbewerbsmodelle auszuprobieren, die selbst in modemen Stromwirtschaften Vorteile nicht erbracht haben."'24 Die Risiken und Altlasten im Bereich der Stromversorgung erreichten zudem ein Ausmaß, das "ausschließlich privatwirtschaftlich nicht verkraftet werden könne".25 Pathetisch erklärte der VEBA-Vorstandsvositzende Piltz: "Wenn es nicht die DDR, der andere Teil Holzer: Nun ist die DDR am Zuge. Die Welt, 27.7.1990. Joachim Wille: Die DDR soll die Chance ftlr eine Energiewende nicht verpassen. Frankfurter Rundschau, 26.6.1990. Ebenso: "Die DDR hat die ungewöhnliche und besondere Chance ... " Zur Energieversorgung. Darstellung, Kritik und Perspektiven. Ein Gutachten der Forschungsstelle ftlr Umweltpolitik. Dokumentation. Frankfurter Rundschau, 29.6.1990. 23 Jochen Wille: Die DDR soll die Chance ... , eben da. 24 Nagelprobe ftlr Strom-Vertrag. Frankfurter Rundschau, 13.7.1990. 25 Stromgespräche im Kartellamt. Süddeutsche Zeitung, 6.7.1990. 21
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Deutschlands wäre, würde man möglicherweise nicht so engagiert einsteigen, wie wir es jetzt tun wollen. 1126 Die Kritiker erhielten zunächst dadurch Auftrieb, daß das Bundeskartellamt und das Ost-Berliner Amt fUr Wettbewerbsschutz am 2. Juli 1990 ein Vollzugsverbot verkündeten und das Bundeskartellamt zu Gesprächen im Rahmen des Fusionskontrollverfahrens einlud. Die Gespräche machten deutlich, daß kleinere westdeutsche Regionalversorger ihrerseits bereits konkrete Projekte in der DDR verabredet hatten, sich jedoch durch die exklusive Behandlung der großen Drei massiv behindert sahen. Diese Vorbehalte fanden beim Kartellamt insofern Unterstützung, als das Amt eine Lösung favorisierte, die auf der Erzeugerstufe mindestens zwei konkurrierende Großunternehmen wünschte, die in der DDR auf fossiler Basis Elektrizität erzeugen würden, und daß das Hochspannungsnetz auf jeden Fall von der Erzeugung getrennt bleiben sollte. 27 Die Struktur der DDR-Stromwirtschaft, Erzeugung, Netz und Verteilung getrennt voneinander zu betreiben, solle aus wettbewerblichen Gründen auf jeden Fall beibehalten werden. Schließlich sollten Anreize fUr eine dezentrale Stromerzeugung geschaffen, die Frage der Einspeisung(svergütung) geregelt und Strom importe mit einer Durchleitungspflicht zugunsten Dritter ermöglicht werden. Als letztes sollten Vorkehrungen gegen eine vertikale Konzentration von Erzeugern und Verteilern getroffen werden. 28 In der Volksammer der DDR kam es nach Bekanntwerden des Vertragsentwurfs zu besorgten Anfragen, die der Übertragung der energiepolitisch durchaus problematischen westdeutschen Großstrukturen auf die DDR galten, aber auch einem direkten Konflikt zu dem gleichzeitig in der Volkskammer behandelten Kommunalvermögensgesetz. Da das Lausitzer Großkraftwerk Boxberg samt angeschlossener Kohlegruben die Bildung einer eigenständigen Kapitalgesellschaft anstrebte (vgl. dazu unten im Kapitel 12), stellte sich die Frage, ob die Vereinigte Kraftwerke-AG (VK-AG) Peitz, der Zusammenschluß aller Braunkohlekraftwerke der DDR und schließlich der Gegenstand der Geschäftsbesorgung durch die westdeutschen großen Drei, überhaupt rechtmäßig zustandegekommen war.
26 DDR-Stromvertragl Veba-Chef Klaus Piltz: "Wir wollen keinen Reibach machen". Handelsblatt, 6./7.7.1990. 27 Auf europäischer Ebene tobte hier bereits ein Kampf um den sog. "Third Party Access" (TPA). Danach sollte aus WettbewerbsgrUnden der (rur das deutsche Energierecht typische) Eigentümer und regionale Gebietsmonopolist eines Netzes gezwungen werden können, Dritten den Zutritt zu seinem Versorgungsbereich zu gestatten und hierftlr sein Netz zur Verftlgung zu stellen. Die westdeutschen Energiekonzeme wehrten sich vehement gegen diesen zentralen Angriff auf ihre wechselseitig untereinander abgesicherte MonopolsteIlung auf dem deutschen Strommarkt. 28 Zitiert aus einer Anfrage des Volkskammer-Abgeordneten Bogisch (SPD) in der 26. Tagung der Volkskammer am 20.7.1990, Protokoll S. 1133.
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Eine parlamentarische Arbeitsgruppe der Volkskammer fand heraus, daß der Antrag des betreffenden Kraftwerkes durch die Regierung abgelehnt worden war und danach erst die neue VK-AG gegründet worden war; die negative Stellungnahme der Belegschaftsvertretung hatte das Ministerium (zurecht) ignoriert, denn nach der Umwandlungsverordnung war nur die "Stellungnahme des Vertretungsorgans der Beschäftigten des umzuwandelnden Betriebes" einzuholen, (§ 2 UmwVO), und zwar unabhängig von deren Votum. Ganz offenkundig hatte sich das Ministerium jedoch mit einem Verweis auf die Rechtslage nicht zufrieden geben wollen. Vielmehr hatte man die Kraftwerksleitung zusätzlich massiv dadurch unter Druck gesetzt, daß das Kombinat Verbundnetze EL T einen langfristigen Abnehmervertrag für den erzeugten Strom verweigerte. Der Berichterstatter der Volkskammer-Arbeitsgruppe stellte daher fest: "Die Verweigerung des langfristigen Abnehmervertrages durch das Kombinat Verbundnetz EL T hat eine für Boxberg nicht lösbare Zwangslage geschaffen, die nur durch eine Entscheidung zum Beitritt zur Vereinigten Kraftwerks Aktiengesellschaft zuließ."29 Damit war klar, daß das Ministerium alles daran setzen wollte, die Kombinatsstrukturen möglichst komplett unter das Dach der Geschäftsbesorgungsgesellschaft zu bekommen. Über die Motive des Ministeriums hatte der Staatssekretär in einem Schreiben vom 20. Juni erläutert: "Es ist vorgesehen, die bisherigen Kraftwerke des Kombinates Braunkohlenkraftwerke in eine einheitliche Kapitalgesellschaft Vereinigte Kraftwerks-AG als Niederlassung dieser Aktiengesellschaft zusammenzufassen. Aus der Sicht der Regierung kann nur über diesen Weg eine langfristige Perspektive fur die Braunkohleverstromung und den Erhalt von Arbeitsplätzen an den bisherigen Kraftwerksstandorten und Braunkohlewerken gewährleistet werden. ,,30 Am 20. und 22. Juli befaßte sich die Volkskammer ausführlich mit der Umstrukturierung der DDR-Energiewirtschaft, um der auf vollendete Tatsachen drängenden DDR-Regierung Fesseln anzulegen. Die Regierung wurde beauftragt, mit allen interessierten Elektrizitätsunternehmen der Bundesrepublik im Interesse eines größeren Wettbewerbs zu verhandeln. Sie beschloß die Einsetzung einer Enquete-Kommission zu Problemen der Energiewirtschaft und zu einem zukünftigen Energiekonzept. Und es wurden Leitlinien der Neuordnung der Energiewirtschaft im Sinne der Äußerungen des Kartellamtpräsidenten und im Hinblick auf eine zukünftige kommunale Dezentralisierungspolitik verabschiedet. Die Volkskammer war jedoch politisch zu schwach, um der Regierung diese Beschlüsse aufzuzwingen. Und nicht nur aus faktischen Gründen waren die Konzerne in einer unglaublich starken Position, die sich noch dadurch verbesserte, daß unter Ausschluß der Öffentlichkeit mit einer schwachen Ge29 Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik: 10. Wahlperiode, 21 Tagung, 5.7.1990, Stenografische Niederschrift S. 864. 30 Ebenda.
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genseite verhandelt wurde. Die Konzerne hatten zusätzlich dadurch strategisch vorgesorgt, daß durch Sitz und Stimme im Verwaltungsrat der mächtigen Treuhandanstalt der VEBA -Vorstandsvorsitzende Piltz die Energieinteressen dort direkt vertreten konnte. 2. Die "Stromverträge"von 1990 Die Enquete-Kommission kam nicht zustande; die Umstrukturierungsleitlinien der Volkskammer wurden ignoriert; der Auftrag zur Neuverhandlung der Verträge und zur vorherigen Erarbeitung einer energiepolitischen Gesamtkonzeption an das Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit wurde nicht zur Kenntnis genommen; die durch die Verabschiedung des Kommunalvermögensgesetzes geschaffene neue Rechtslage, die eine faktische Blockade für einen Vertrag bedeutete, beiseite geschoben. Am 22. August 1990 wurden die Stromverträge mit einigen Abänderungen unterzeichnet. Die Grundstruktur des Vertragswerkes blieb dabei erhalten. Aus einem exklusiven Geschäftsbesorgungsauftrag heraus sollten die großen Drei die Energiewirtschaft der DDR sanieren und privatisierungsfiihig machen. Der eigene Kapitaleinsatz war im Vergleich zur Aufgabe lächerlich gering und zugleich mehrfach abgesichert. 1,3 Mrd. DM sollten in die neue Geschäftsbesorgungsgesellschaft, 600 Mio. DM in die Stromverbundunternehmen eingebracht werden. Sämtliche Umrüstungs- und Modernisierungsmaßnahmen sollten aus laufendem cash-flow finanziert werden und gegebenenfalls, wie die angestrebten Kraftwerksneubauten, mit einer projektbezogenen Kapitalbeteiligung westlicher EVU's. Von der politischen Begründung für die monopolistischen Verträge, daß nur durch die kapitalstarken westdeutschen EVU's Knowhow und Kapital für eine grundlegende und zugleich sozialverträgliche Sanierung der Grundlastversorgung zu erwarten sei, war hier nicht viel zu sehen. Ein massiver privater Kapitalfluß kam nicht zustande. Im Gegenteil: Da die drei Großen selbst die mächtigsten Erwerbsinteressenten waren, kamen die Verträge einem vergleichweise wenig risikobehafteten Auftrag an sie gleich, sich auf Kosten der öffentlichen Hand die Arrondierung ihrer Marktposition auf einem zukünftig gesamtdeutschen Markt gleichsam mundgerecht zurechtzuschneidern. 31 Verglich man die angestrebte Struktur des DDR-Energiewesens mit dem Kombinatszustand zuvor, dann war wegen der einzurichtenden Verschmelzung von Erzeugung und Verteilung der Konzentrationsgrad sogar noch höher als zuvor. 31 Die Präambel des Vertrages legte fest, daß es das Ziel sei, "die Privatisierung der DDR-EVU unter mehrheitlicher Beteiligung der westdeutschen EVU" zu realisieren. (Zit. nach Mez u. a., a.a.O., S. 107.)
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Die Veränderungen gegenüber dem Vertragsentwurf modifizierten dies alles nicht, sondern nur einige Randbedingungen. Statt der umstrittenen Gewährleistungsklausel rur einen "angemessenen" Gewinn gab es nur noch die Klausel, "daß der Geschäftsbesorgungsgesellschaft alle im Rahmen ihrer Geschäftsbesorgung bei rationeller Betriebsruhrung entstehenden Kosten erstattet werden. ,,32 In der Frage der Umweltaltlasten wurde die pauschale Freistellung zurückgenommen und auf das übliche Einzelfall-Antragsverfahren verwiesen. In der Frage der Herstellung angemessener Bilanzrelationen notfalls durch Altschuldenerlaß hatten sich die Konzerne (der VEBA-Vorsitzende Piltz galt unter Insidern als Bilanzspezialist) durchgesetzt und ihr vertragliches Rücktrittsrecht verankert. Da sich die Vertragspartner der kartellrechtsmäßigen Vorbehalte dieses Vertrages voll bewußt waren, verpflichteten sie sich jedoch "zur Ausschöpfung aller Rechtsmittel gegen eventuelle Untersagungsentscheidungen" des Kartellamtes sowie notfalls zur "Stellung eines Antrages auf Erteilung einer Erlaubnis beim Bundesminister rur Wirtschaft"33, d.h. einer Ausnahmeregelung wegen gesamtwirtschaftlicher Vorteile oder überragender Interessen der Allgemeinheit nach § 24 III GWB. Die Linie, aber auch die Interessenlage der bundesdeutschen Konzerne war damit offenbar: Sie wollten den ostdeutschen Energiemarkt unter ihre Kontrolle bringen, aber bei geringstmöglichem wirtschaftlichem Risiko, jedoch größtmöglichem politischem Druck. Schnell stellte sich zudem heraus, daß das anfänglich schwer kalkulierbare Versorgungsrisiko sich zusehends entschärfte, als noch im Jahre 1990 die Industrieproduktion und damit der industrielle Strombedarf drastisch zurückgingen. Auf diese Verminderung des politischen Drucks reagierte das Vertragswerk jedoch schon nicht mehr. Die Vertragslage, deren Ziel es war, die "Privatisierung der DDR-EVU unter mehrheitlicher beteiligung der westdeutschen EVU"34 vorzubereiten, bestand aus zwei Vertragspaketen: 1. Dem Verbundvertrag: Das Konsortium aus R WE, PreussenElektra und Bayernwerke übernahm in einem Verbundvertrag die Vereinigte KraftwerkeAG Peitz (VKAG), die Verbundnetz AG VENAG, die Energieversorgung Nord AG (Kombinat KKW) und die Hauptlastverteilung in Geschäftsbesorgung, und zwar in Form der 35/35/30%-Beteiligung (RWElPrEllBayW) an der neugegründeten Geschäftsbesorgungsgesellschaft mit dem Namen Vereinigten Energiewerke AG VEAG. VK-AG Peitz und Verbundnetz AG sollten so dann fusioniert werden, und an diesem fusionierten Verbund-EVU mit demselben Namen VEAG wollten sich die drei westdeutschen Konzerne mit 75% beteiligen. Von J2 Unterzeichnung des Energievertrages mit der DDR verschoben. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.7.1990. 33 Ebenda. 34 Präambel des Verbundvertrages.
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den restlichen 25% sollten mindestens 10% filr kleinere bundesdeutsche Verbundunternehmen und maximal 15% fUr die Electricite de France (EdF) reserviert werden. Das war gewissermaßen als eurostrategische Komponente des Vertragswerks gedacht. 2. Regionalverträge: Das zweite Vertragspaket galt der Übernahme der 15 regionalen Energieversorgungsunternehmen der DDR, in die sich die früheren Bezirksenergiekombinate verwandelt hatten. Hier kamen nun auch die kleineren westdeutschen Mitbewerber zum Zuge. Im erstgenannten "Verbundvertrag" wurde außerdem festgelegt, daß die Regionalunternehmen "mit der Verbundnetz AG Strom lieferungsverträge mit einer Laufzeit von 20 Jahren über 70% ihres jeweiligen Strombedarfes abschließen. ,,35 Diese zentralistische, die Braunkohleverstromung in Großkraftwerken der VEAG freilich begünstigende Erzeugungsstruktur setzte sich in den Regionalverträgen fort, denn die DDR-Seite verpflichtete sich, diese Bindungsklausel nach unten an die kommunalen EVU's weiterzugeben, soweit diese den Strom nicht durch Eigenerzeugung decken könnten in Anlagen, über die sie zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses schon verfUgten. 36 Entgegen den Regelungen der Durchfilhrungsverordnung zum Kommunalvermögensgesetz sollte sich die DDR-Seite zudem unter Androhung des Vertragsrücktritts verpflichten, daß die Kommunen über ihre Rückübertragungsansprüche hinaus grundsätzlich nur Geschäftsanteile an den regionalen DDR-EVU's erhalten sollten, aber nicht zur kommunalen Eigenerzeugung berechtigt sein sollten. 37 Statt der Einnahmen aus kommunaler Eigenerzeugung sollten die DDR-Kommunen also auf Dauer ganz generell auf die wirtschaftlich viel weniger ergiebige Möglichkeit der Erhebung von Konzessionsabgaben zurückgesetzt werden.
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Verbundvertrag, zit. nach Mez, a.a.O., S. 108.
Die DDR-Kommunen waren aufgefordert, bis spätestens zum Tage des Inkrafttretens der Wirtschafts- und Währungsunion, dem 1.7.1990, Anträge auf Rückübertragung ehemals kommunaler Vermögenswerte zu stellen. Bei Vertragsunterzeichnung war diese Frist bereits abgelaufen. Der entsprechende Passus der Regionalverträge lautete: "Die DDR wird, soweit rechtlich möglich, dafilr sorgen, daß die kommunalen EVU mit dem jeweiligen regionalen DDR-EVU Bedarfsdekkungsverträge mit einer Laufzeit von 20 Jahren abschließen, soweit sie ihren Strombedarf nicht durch Eigenerzeugungsanlgane decken können, über die sie zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vertrages verft1gen, und soweit nicht Energieerzeugungsmöglichkeiten aufgrund regenerativer Energiequellen oder durch wärmegefilhrte Heizkraftwerke geschaffen werden." (§ 15 V Regionalverträge, zit. nach Mez, a.a.O., S. 108.) 36
37 "Die DDR wird daruf hinwirken, daß ( ... ) die Kommunen nach dem Kommunalvermögensgesetz nur Geschäftsanteile an dem regionalen DDR-EVU erhalten. ( ... ) Falls dies nicht erreicht wird, ist das westdeutsche EVU berechtigt, von diesem Vertrag zurückzutreten." (zit. nach Ebenda.)
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3. Die energiewirtschaftlichen Bestimmungen im Einigungsvertrag
Im Einigungsvertrag legte die DDR letztmalig vor dem Beitritt ihrer Länder zum Grundgesetz Modifikationen und fristen auf dem Wege zur Angleichung an das bundes deutsche Rechtssystem fest, bevor sie selbst als Rechtssubjekt unterging. Die frage war daher, ob sie die energiepolitisch entscheidende Kollision ihres Kommunalvermögensgesetzes mit den von ihr unterzeichneten privatrechtlichen Stromverträgen zugunsten des ersteren im Sinne der Mehrheit der Volkskammer noch würde wenden können. Dies geschah nicht. Im Einigungsvertrag wurde die DDR gezwungen, die Bestimmungen ihres Kommunalvermögensgesetzes soweit zu ändern, daß sie mit den Bestimmungen der Stromverträge übereinstimmten. Die privatrechtlichen Verträge erhielten damit nachträglich staatsrechtliche Qualität. Der entscheidende Passus lautete: "Soweit die Summe der Beteiligungen der Gemeinden, Städte und Landkreise 49 vom Hundert des Kapitals einer Kapitalgesellschaft rur die Versorgung mit leitungsgebundenen Energien überschreiten würde, werden diese Beteiligungen anteilig auf diesen Anteil gekürzt. ,,38 Damit war die von den Konzernen überall geforderte Mehrheit bei den Regionalversorgern rechtlich garantiert, und zwar auch im fall jener 146 Kommunen, deren Stadtwerke einst enteignet und den Bezirksenergiekombinaten zugeschlagen worden waren. Rund 130 dieser Kommunen hatten einen Antrag auf Rückübertragung ihrer enteigneten Stadtwerke gestellt und nicht bloß auf eine durch "Beteiligungen" zu restituierende Entschädigung, wie es der Wortlaut des Einigungsvertrages beschrieb. Es war klar, daß diese Anträge auf einen erheblichen Vermögensbestandteil der Regionalversorger, und was noch wichtiger war, auf einen relevanten Teil der regionalen Energiemärkte zielten, den die Treuhandanstalt schon zum Gegenstand von Verkaufsverhandlungen gemacht hatte. Von Insidern wurde das Marktvolumen auf 25 Mrd. DM geschätzt. 39 Ein kommunaler Rückübertragungsanspruch und damit ein wichtiges Element zukünftiger kommunaler politischer Handlungsfähigkeit wurden also eingeschränkt, letztlich um ein privates Monopol nicht zu gefährden. Der Kern des Konflikt um die ostdeutschen Stadtwerke war damit gelegt, denn der Vorrang der privatrechtlichen Stromverträge bedeutete, daß in Ostdeutschland dauerhaft kommunales Sonderrecht gelten sollte, um private Marktmacht abzustützen. So privat war diese Marktmacht jedoch wiederum nicht, denn in diesem energiepolitischen Pokerspiel war es ja nicht ohne Pikanterie, daß z.B. 75% der Aktien der westdeutschen RWE AG von nordrhein38
Anlage II zum Einigungsvertrag, Kap. IV, Abschn III, Zif. 2b).
39
Kommunen klagen gegen Stromvertrag. Ruhr-Nachrichten, 16.10.1992.
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westfiilischen Kommunen gehalten werden. Ein Gutteil der Verbitterung in Ostdeutschland (und das betraf Ostdeutsche wie ihre westdeutschen Berater gleichermaßen) rührte daher, daß hier westdeutsche Kommunen in Ostdeutschland auf Kosten ostdeutscher Kommunen Geschäfte machen wollten. Mehrfach wurden daher Ansätze zu einer rein ostdeutschen Energie-AG erörtert. 40 4. Der Verfassungskonflikt um die Stadtwerke
Der Streit begann mit einern verwaltungsrechtlichen Musterprozeß der Stadt Stendal gegen die Treuhandanstalt, weil letztere den Antrag auf Rückübertragung enteigneten Kommunaleigentums schlichtweg ignoriert und gleichzeitig die Privatisierung des zuständigen Regionalversorgers, das Gebiet der Stadt Stendal mit enthaltend, vorangetrieben hatte. Viele Städte folgten diesem Beispiel und setzten vor den Verwaltungsgerichten eine Prozeßlawine in Gang. Der Konflikt eskalierte, als noch im Jahre 1990 163 Kommunen aus den neuen Bundesländern41 Verfassungsklage gegen die Strom verträge und die sie absichernden Regelungen des Einigungsvertrages einlegten und die Verfassungsbeschwerde angenommen wurde. Begründet wurde die Klage 1. damit, daß die Betriebe und Anlagen zur leitungsgebundenen Energieversorgung schon längst in das Eigentum der Kommunen übergegangen waren, als der Einigungsvertrag ihnen dies wieder auf 49% zurückschneiden wollte; und 2. damit, daß derselbe Einigungsvertrag etwa 150 Ostkommunen, die Stadtwerke in den 50er Jahren besessen hatten, eigenständige Rückübertragungsansprüche aus dem volkseigenen Vermögen einräumte. Hier stand also der Einigungsvertrag im Widerspruch zu sich selbst. Nach Ansicht der Kommunen hatte demnach die Treuhandanstalt in den Stromverträgen den Stromkonzernen ein Verfiigungsrecht übertragen, das ihr gar nicht mehr zustand. Zusätzlich hätte es bei einern Vorrang der Stromverträge vor dem Einigungsvertrag dauerhaft eine unsichtbare Grenze zwischen Ost und West hinsichtlich der Vermögensausstattung der Kommunen in Deutschland gegeben. Darüberhinaus stand jedoch hinter der Verfassungsklage (und den (westdeutschen Beratern im Hintergrund) noch eine andere Debatte. Stadtwerke gelten schon seit längerem in der energiepolitischen Diskussion als eine Möglichkeit, die überkommenen verkrusteten Energieversorgungsstrukturen mit ihren angebotsorientierten und verschwenderischen Quasi-Monopolstrukturen aufzubrechen. Mit Stadtwerken lassen sich dezentralisierte, verbrauchernahe Kraft.0 Vgl. hierzu: Hans-peter Müller / Manfred Wilke: Braunkohlepolitik der Steinkohlegewerkschaft, Berlin 1996, S. 273 f . ten.
• , Die Zahlenangaben variieren deswegen, weil 145 von ihnen denselben Prozeßvertreter hat-
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Wärme-gekoppelte Anlagen realisieren, die sich durch einen besonders hohen thermischen Wirkungsgrad auszeichnen und von daher gewissermaßen als Geheimtips in Energiesparkonzepten gehandelt werden. Mit ihren hohen Wirkungsgraden gelten diese dezentralen Anlagen auch als Widerlegung des Paradigmas der economies of scale, also der Vorstellung, daß preiswertere Energie nur in immer größeren Anlagen hergestellt werden könne. Diese Widerstände haben die großen EVU's nicht zuletzt selbst erzeugt, indem sie sich jahrzehntelang erfolgreich gegen kostendeckende Einspeisegebühren durch Dritte wehrten und die Kommunen in ihrer energiepolitischen Handlungsflihigkeit mittels der langdauernden Konzessionsverträge stark einengten. Im Kern dieses neuen energiepolitischen Paradigmas, das in den USA, aber auch in einigen westeuropäischen Ländern erhebliche Erfolge erbracht hatte, stand die Idee, daß die im bundesdeutschen Energiewirtschaftsgesetz festgeschriebene ineffiziente Angebotslogik ("so billig und sicher wie möglich") durch einen umfassenderen Optimierungskalkül ersetzt werden muß. Nach dem Prinzip des "least-cost-planning" sollten hierbei Investitionen in Energieproduktion wie in Energieerspamis gleichermaßen kalkulatorisch behandelt werden dürfen. ("NEGA-Watt statt MEGA-Watt"). Trotz Sicherstellung der Versorgung könne es somit zu einer bedeutenden Effizienssteigerung des gesamten Energiesystems kommen, weil Effizienzsteigerungen auf der gesamten Kette vom Erzeuger zum Verbraucher prinzipiell gleich behandelt würden mit Produktivitätssteigerungen beim Erzeuger allein. Stadtwerke mit hocheffizienter dezentraler Energieversorgung galten demnach als energiepolitische Antipoden zu den niedrig effizienten verbrauchsstandortfernen Kondensationskraftwerken, die die nicht nutzbare Restenergie in die Luft oder Gewässer abgeben müssen. Dezentrale Energievesorgungsstrukturen galten deshalb auch als Geheimmittel gegen den Treibhauseffekt ohne merkliche Komforteinbußen. Eine zusätzliche Dynamik mag das Aufbegehren der ostdeutschen Kommunen gegen den Stromvertrag auch dadurch erhalten haben, daß im Zeitraum von 1992 bis 1994 in Westdeutschland viele Konzessionsverträge zwischen Kommunen und Regionalversorgern auslaufen sollten und damit gewissermaßen die Chance zu einer synchronen Neuordnung der regionalen Energiemärkte in Deutschland bestand. Außerdem war in einer Musterentscheidung des Kartellsenats des BGH vom 7. Juli 1992 in einem Streit der Stadt Rosenheim gegen die Isar-Amperwerke festgestellt worden, daß spätestens am 31.12.94 Konzessionsverträge unwirksam werden würden, wenn sie bis dahin mindestens 20 Jahre bestanden hätten. Die betreffenden Gemeinden müßten gegeben falls das Recht zurückerhalten, die Stromversorgung zum Zeitwert in eigene Regie zu über-
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nehmen. Zusätzlich zu den 900 eigene Stadtwerke betreibenden Gemeinden schienen über 230 weitere bereit, nunmehr diesen Schritt zu gehen. 42 Gegenüber den hehren ökologischen Prinzipien gab es aber auch ganz schnöde Gründe für die Gemeinden, eine Beschneidung ihrer kommunalen Versorgungsmöglichkeiten zurückzuweisen. Mit dem ihnen zustehenden kommunalen Vermögen wären zahlreiche Kommunen in die Lage gekommen, ihre städtische Stromversorgung bis hinauf zu Größenordnungen von 80-90% (Dresden) selbst zu betreiben und dabei noch gutes Geld zur Quersubventionierung defizitärer kommunaler Dienstleistungen zu verdienen. Oder einfacher gesagt: Beim Stromverkauf aus eigenen Anlagen können die gebeutelten Kommunen richtig Geld machen. 43 Die Klage bestand aus zwei Teilen. Durch eine Kommunalverfassungsbeschwerde sollte geprüft werden, ob die Ausnahmeregelung des Einigungsvertrages mit der Grundgesetzgarantie der kommunalen Selbstverwaltung übereinstimmte; mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung sollte erreicht werden, daß die Privatisierung der ostdeutschen Strom wirtschaft bis zur Entscheidung in der Hauptsache blockiert blieb. Diesem Angriff auf ihre Gebietsmonopole begegneten im Westen wie im Osten die Regionalversorger bzw. die Regionalversorger in Abstimmung mit der Treuhandanstalt mit einer kooperativen Einbindungsstrategie: Durch üppige Zugeständnisse bei den Konzessionsabgaben; im Osten zusätzlich mittels eines "Konsensmodells", wonach "Stadt und EVU mit 'in etwa' gleichen Gewichten an Stadt-werken" beteiligt werden sollten. 44 Diese Deeskalierungsstrategie entsprach einer Grundsatzvereinbarung zwischen den großen Drei, der Treuhandanstalt, den ostdeutschen Städten, dem Deutschen Städtetag und dem Verband kommunaler Unternehmen vom Februar 1991. Das relative Zugeständnis erkauften die umworbenen Gemeinden jedoch mit einer Klausel, die in Zukunft noch Furore machen sollte: Sie hatten sich nämlich im Gegenzug zu verpflichten, daß ihre "Stadtwerke ihren gesamten Strombedarf zu mindestens siebzig Prozent bei dem Regionalunternehmen des Bezirks auf der Grundlage eines Stromlieferungsvertrags mit 20jähriger Laufzeit decken werden. ,,45 Um nicht alle Investitionen zu blockieren, wurde eine Clearingstelle eingerichtet, die den Beginn notwendiger Investitionsmaßnahmen vom Ausgang des Karlsruher Prozesses entkoppeln, die Gründung eigener Stadtwerke erleichtern 42 Gregor Beushausen: Die Kommunen wollen sich selbst versorgen. Die StromKonzessionsverträge laufen aus. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 22.8.1992; ebenso: Karlsruhe kappt Monopol der großen Stromkonzerne. Frankfurter Rundschau, 17.9.1992. 43 Bei Städten über 100000 Einwohner gilt als Faustformel, daß Einnahmen von 150 bis 200 DM pro Einwohner und Jahr erzielt werden können. 44 Fritz Vorholz: Der große Flop. Westdeutsche Stromgiganten haben keine Freude mehr am Geschäft im Osten. Die Zeit 21.6.1991. H Zit. nach Ebenda.
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und zugleich die Zusammenarbeit mit den großen Stromerzeugern aufrecht erhalten sollte. Immer wieder wurde nun jedoch ein Motiv betont, das zum Abschluß der Stromverträge in dieser Form geführt hatte: Deren Ziel sei vor allem gewesen, "bei der Stromerzeugung in den neuen Ländern ostdeutsche Braunkohle zu verwenden, um die Arbeitsplätze im Bergbau zu erhalten."46 Die Stromverträge seien daher nicht gegen die Ausgründung von Stadtwerken gerichtete gewesen, sondern hätten vor allem die Bedeutung der Braunkohle als einzig sofort verfügbarem Energieträger für eine preislich konkurrenzfähige ostdeutsche Energieerzeugung auf einem gesamtdeutschen Energiemarkt im Auge gehabt. Eine ganze Reihe von Kommunen konnte mittels dieser "weichen" Linie zur Zusammenarbeit bewogen werden, u.a. auch, weil sie selbst niemals "stadtwerkefähig" gewesen wären und daher mit der 70%-Klausel leben konnten. Diese Zusammenarbeit war freilich nicht kostenlos zu haben. Vertraglich ließen sich die Großen nämlich zusichern, daß unabhängig vom Ausgang des Karlsruher Rechtsstreits die Investitionen, die sie zur Modernisierung kommunaler Leitungsnetze getätigt hatten, auf jeden Fall ihr Eigentum bleiben würden. Noch ein anderer Umstand trat hinzu. Sobald die anfiingliche VereinigungsEuphorie verflogen war, stellte man nach nämlich fest, daß man sich erheblich verkalkuliert hatte: Die Annahme der Konzerne, schon nach zwei bis drei Jahren (danach sagte man, nach 4 bis 5 Jahren) mit dem ostdeutschen Strom geschäft Gewinne einfahren zu können, erwies sich als überoptimistisch. Mehr und mehr erwies sich die Annahme als realistisch, daß der Stromabsatz in Ostdeutschland wegen des industriellen Einbruchs vielmehr erst weit nach der Jahrtausendwende das Niveau von 1989 wieder erreicht haben würde; zudem war der Rekonstruktionsaufwand erheblich höher als angenommen. Der Vorstandsvorsitzende der Bayernwerke, Holzer, verkündete das ernüchterte Resultat: "Das Engagement des Bayernwerks bei dem ostdeutschen Stromverbundunternehmen Vereinigte Energiewerke AG (VEAG) wird in diesem Jahrhundert keine Rendite abwerfen. ,,47 Als ein entscheidendes Hemmnis hatte man nun den zu DDR-Zeiten ohne Kostenberücksichtigung vorangetriebenen Ausbau der Fernwärmenetze und deren z.T. maroden Zustand ausgemacht und damit ausgerechnet jenen Teil des DDR-Energiesystems, dem von Energie- und Umweltpolitikern überschwenglich Lob gezollt wurde: Dem hohen Versorgungsgrad mit Fernwärme bei der privaten Wohnraumbeheizung.
46 So der Generalbevollmächtigte rur Energie der Treuhandanstalt, Hans-Peter Gundermann, zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.8.1991. 47 Heiner Radzio: Lange Durststrecke durch unrentable Fernwärme. Handelsblatt 23.124.8.1991.
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Erstmals wurde auch ein Tabu zur Disposition gestellt, das bis dahin galt: Nämlich die stillschweigende Annahme, daß die Strompreise in Ost- und Westdeutschland nach kurzer Anpassungszeit nicht mehr voneinander abweichen dürften. Im August 1991 traten neue Irritationen auf. Nach den Kommunen schien es nun auch fUr die Länder denkbar, an die Treuhandanstalt Rückgabeanspräche von ehemaligem Ländervermögen zu stellen. Der Tübinger Rechtswissenschaftier Günter Püttner fand anhand verschollen geglaubter Dokumente heraus, daß es vor der Zerschlagung der Länder in der Sowjetischen Besatzungszone dort ebenfalls regionale Energieversorger gegeben hatte, die jeweils überwiegend bzw. vollständig Ländereigentum gewesen waren: Das Brandenburgisch-Mecklenburgische Elektrizitätswerk, die Märkischen Elektrizitätsswerke, die Thüringischen Elektrizitätswerke und die Aktiengesellschaft Sächsische Werke. 48 Neben den kommunalen Leitungsnetzen wurden hiermit weitere Teile des Stromnetzes unter rechtlichen Vorbehalt gestellt. Die Reaktion der Stromkonzerne ließ nicht lange auf sich warten. Am 1O.September 1991 kündigte der KonsortialfUhrer RWE an: "Wir stellen sofort alle größeren Investitionen in Ostdeutschland zurück, bis das höchstrichterliche Urteil aus Karlsruhe über die Stromverträge vom 22. August 1990 gefallen ist. .. 49 Lediglich die allernotwendigsten Geschäftsbesorgungen zur Aufrechterhaltung der Versorgung sollten fortgefUhrt werden; Sanierungen und Neubauten wurden gestoppt. Diese Entscheidung, die einer politischen Erpressung gleichkam, wurde dadurch erleichtert, daß durch den drastischen Rückgang der Industrieproduktion jederzeit die Sicherheit der Stromversorgung in Ostdeutschland auch ohne Modernisierungsmaßnahmen gewährleistet war, und zwar ohne daß die Konzerne offen vertragsbrüchig wurden. Der Angriff war jedoch viel zentraler. Er zielte nämlich auf die energiepolitisch völlig unklare Lage nach der deutschen Vereinigung. Während die Bundesregierung einerseits den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Ländern vorantreiben wollte und hierzu die Milliardeninvestitionen der Kraftwerksbetreiber als konjunkturelle Initialzündung dringend benötigte 50, stellte dieselbe 48 Über den Fund war in einer Sendung des Fernsehmagazins "Panorama" berichtet worden. Vgl. die tageszeitung, Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, alle 28.8.1991; 49 Stromvertrag/RWE-Chef Gieske über Reaktionen auf die Verfassungsbeschwerde. Handelsblatt 1\.9.199\. 50 Von den zu diesem Zeitpunkt der Treuhandanstalt gebenenen Investitionszusagen potentieller Investoren in Höhe von 67,8 Mrd. DM machten die von der Kraftwerkswirtschaft geplanten 37 Mrd. DM Sanierungsinvestitionen mehr als 50% aus; eine Summe, die die öffentliche Hand keinesfalls zusätzlich hätte autbruingen können. VOn daher war die Politik auf die Investitionszusagen des westdeutschen Stromwirtschaft essentiell angewiesen. (Vgl. West-Stromversorger stellen Milliarden-Investitionen zurück. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.199\.)
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Bundesregierung in Verfolgung ihrer vor der Weltumweltkonferenz in Rio öffentlich gegebenen Verpflichtung zur Reduktion der C02-Emissionen um 25% bis zum Jahre 2005 durch ihren Umweltminister alle C02-emittierenden Energieerzeugungen unter einen Abgabenvorbehalt. Gleichzeitig war durch die bundesdeutsche Energiedebatte jeglicher Ausbau der Kernenergie blockiert. Die Energiekonzerne suchten nun den Befreiungsschlag. Ohne Ausnahme von einer C02-Abgabe und ohne sicheren Absatz des erzeugten Braunkohlestroms sei die Zukunft der Braunkohle als nunmehr wichtigstem heimischem Energieträger insgesamt völlig unsicher. Dann sei auch der die Steinkohleverstromung sichernde Jahrhundertvertrag in Frage gestellt. Die Stromwirtschaft müsse eine Garantie weit über das Jahr 2000 rur die Verstromung der Braunkohle erhalten, und der Bund dürfe die Wettbewerbsfiihigkeit dieses Primärenergieträgers nicht in Frage stellen. Dann könne die Stromwirtschaft entscheiden, ob die geplanten 3000 MW neuer Braunkohlenkraftwerksblöcke gebaut werden und damit die Sanierung der Energieversorgung in den fünf neuen Bundesländern und im übrigen Osteuropa vorankomme, wurde der RWE-Vorstandsvorsitzende Gieske zitiert. 5I "Wir werden uns nicht um jeden Preis im Osten beteiligen."52 Gieske forderte ein neues, auf die gesamtdeutsche Lage eingehendes Energiekonzept und eine Bereinigung der einander blockierenden Teilpolitiken: "Man kann nicht gleichzeitig einseitig national auf einzelne Energieträger Belastungen aufhäufen und mehr Wettbewerb fordern. Man kann sich nicht dem Einsatz von Kernenergie entsagen und gleichzeitig den Ausstoß von Kohlendioxid nachhaltig reduzieren wollen. "53. Er verlangte einen partei- und länderübergreifenden Konsens über die Rolle der einzelnen Energieträger, eine Abstimmung von Energie- und Umweltpolitik und eine deutsche Energiepolitik, die in einen international abgestimmten Ordnungsrahmen eingefügt sei. Der Vorstoß von Gieske machte freilich nur klar, daß die Politik über den Turbulenzen des deutschen Vereinigungsprozesses die überfälligen energiepolitischen Weichenstellungen der alten Bundesrepublik ungeklärt gelassen hatte. Dieser weg war mit milliardenschweren Investitionsruinen gepflastert. Nach dem Schock über die 10 Mrd. DM teuren Investitionsruinen der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf und des Schnellen Brüters in Kalkar 54 wollten die Stromkonzerne ihre milliardenschweren Investitionszusagen in Ostdeutschland keinesfalls dem Risiko eines energiepolitischen Zickzackkurses aussetzen. Die Verkündung des Investitionsstops traf die Politik des wirtschaftlichen Wiederaufbaus an ihrem Nerv. Sie machte freilich s' "Wir stellen vorerst die Investitionen ein." Ebenda. Gieske, zit. nach WestflIlische Rundschau, 11.9.1991.
S2
S3 Gieske, zit. nach: Lothar Noll: Stromversorger in der Zwickmühle. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 11.9.1991. 54
Später kam noch das "Aus" rur den Kugelhaufen-Reaktor Hamm-Uentrop hinzu.
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in der öffentlichen Erklärung eines dominanten energiepolitischen Interessenträgers erstmals deutlich, daß sich die gesamtdeutsch werdende energiepolitische Lage grundsätzlich von der Summe der Politiken beider Teilstaaten unterschied und daß die Stromwirtschaft hiervon ein Bewußtsein zu entwickeln begann.
Die Drohung war freilich zugleich auch der Auftakt zu einem beispiellosen Privatisierungspoker. Denn der Wert der zu privatisierenden VEAG ließ sich aufgrund unüberwindlicher Bewertungsprobleme nicht nach ihrem Vermögensbestand berechnen, sondern nur auf der Grundlage zukünftiger Ertragswerte. Jeder Abstrich an der von der Politik nun geforderten Absatzgarantie rur erzeugten Strom ließ sich daher als Ertragswertminderung darstellen und damit in eine aktuelle Kaufpreisminderung ummünzen. So sehr der energiepolitische Vorstoß schonungslos die energiepolitischen Schwächen der Bundesregierung bloßlegte; er war doch zugleich Teil einer in der Folgezeit virtuos verfolgten Strategie, Ertragswerte und Kaufpreis der VEAG kleinzurechnen. Zwei Wochen später offenbarte sich freilich, daß der Vorstoß von RWE wohl auch den Zweck verfolgt hatte, den Schulterschluß in der Branche zu stärken. Die Hardliner der Branche, voran VEW und Bayernwerk, hätten den politischen "Paukenschlag" verlangt. Nun rurchtete die Branche um ihr politisches Image vor allem wegen des Verdachts, der Vorstoß habe letztlich auch dem Ziel gegolten, die Verfassungsrichter politisch unter Druck zu setzen. Der in der Vergangenheit mehrfach schon durch moderate Töne und spektakuläre energiepolitische Durchbruchsentscheidungen hervorgetretene VEBA-Konzern 55 leitete die Wende zu einem Kurs der Mäßigung ein. Bei dem vorgesehenen Engagement im Osten Deutschlands gehe es um eine "langfristig orientierte Aufbauarbeit und nicht um eine schnelle Mark", wurde der VEBA-Vorstandsvorsitzende Piltz zitiert. 56 Die internen Turbulenzen in der Branche müssen in der Tat erheblich gewesen sein. Wie zur Widerlegung der Investitionsstop-Verkündung teilte der VEAG-Vorstandschef Eitz mit, daß 7 Mrd. Investitionen rur acht BraunkohleKraftwerksblöcke mit insgesamt 4000 MW Leistung schon beschlossen, teilweise schon in Auftrag gegeben wären und an den Neubau-Planungen ohne Unterbrechung weitergearbeitet würde. Auch von Seiten der VEW wurde erklärt, daß die geplanten Investitionen rur Sanierung und Neubau keinesfalls 55 Es war z.B. der VEBA-Konzem, der die politische Durchsetzbarkeit des nuklearen Wiederaufarbeitungskreislaufs in Deutschland erstmals von seiten der großen Stromerzeuger öffentlich in Frage stellte und damit das Ende der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf einleitete; es war ebenfalls der VEBA-Konzem, der erstmals rur einen bundesdeutschen Energieversorger ein Stromsparinvestitionsprogramm rur öffentliche Beleuchtungen mit dem Land Schleswig-Holstein abschloß und damit energiepolitisches Neuland betrat. 56 Zit. nach: Leonhard Spielhofer: Der Haussegen hängt weiter schief. Die Energiewirtschaft streitet um den Stromvertrag und um Investitionsstopps. Stuttgarter Zeitung, 24.9.1991.
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angehalten seien. 57 Am 24. September schließlich erklärte auch RWE-Chef Gieske den von ihm verkündeten Investitionsstop als "bedauerliches Mißverständnis".58 Gieske betonte freilich noch einmal sehr deutlich, daß die geplanten Umweltabgaben auf Kohlendioxid und auf Abflille (und damit auch auf Kraftwerksaschen) die westdeutsche Braunkohle mit 2 Mrd. DM und die ostdeutsche mit 1,5 bis 1,7 Mrd. DM belasten würden. 59 Eine solche Abgabenkombination würde daher der Braunkohleverstromung in Deutschland die wirtschaftliche Basis entziehen. Er forderte daher eine politische Verstromungsgarantie von mindestens 35 Jahren, ohne die eine seriöse Kraftwerksneubauplanung nicht zu realisieren sei. Auf einem kommunalpolitischen Symposium 1991 in Mannheim wurde die Überdramatisierung der Situation allein wegen der Verfassungsklage der ostdeutschen Kommunen wieder zurecht gerückt. 60 Die Tatsachen sprachen eine andere Sprache. In Ostdeutsch land wäre eine auf die Bevölkerung bezogen nur halb so große Stadtwerkedichte zu erwarten gewesen wie in Westdeutschland, selbst wenn alle 164 Kläger tatsächlich eigene Stadtwerke gegründet hätten. Setzte man den gleichen durchschnittlichen Eigenerzeugungsumfang vorausgesetzt wie in den alten Bundesländern (12% der Gesamtstromerzeugung durch kommunale Unternehmen; 7% durch Regionalversorger), dann gab es rur Berurchtungen keinen realistischen Anlaß, denn - so schätzten die Fachleute - es "verbleibe rur die Verbundunternehmen der Löwenanteil von 81 %. Damit werde auch die 'Grundsatzerklärung zur künftigen Rolle von Stadtwerken rur leitungsgebundene Energie' eingehalten. Sie sieht vor, daß die Stadtwerke mindestens 70% ihres Strom bedarfs bei regionalen Unternehmen decken. ,,61 Gleichzeitig sickerten immer wieder Detailinfonnationen durch, die die Behauptung von der zentralen Bedeutung der ostdeutschen Braunkohle rur die Stromerzeugung in Zweifel zogen und stattdessen auf einen strategischen Machtpoker der Energiekonzerne hindeuteten. In Rostock begann das Geschäftsbesorger-Konsortium mit dem Bau eines Großkraftwerks, das mit Importsteinkohle betrieben werden sollte; sodann brach man die Stadt Rostock mit einem Stromkonzessionsvertrag aus der Phalanx der Kläger vor dem Verfassungsgericht heraus, um schließlich auf dem Umweg über eine Tochtergesell57 Kein Investitionsstau durch die Verfassungsklage ostdeutscher Städte. Handelsblatt, 24.9.1991. Ebenso: Ruhr-nachrichten, 25.9.1991. 58 Gieske: es gibt doch keinen Investitionsstopp. Die Welt, 25.9.1991. 59 Gieske: Von Investitionsstop war nie die Rede. Süddeutsche Zeitung, 25.9.1991. 60 Roland Hartung (kaufinännischer Geschäftsfllhrer der Mannheimer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft): Stadtwerke - Chancen oder Risiken flIr die Energieversorgung in den neuen Bundesländern. Referat auf dem Mannheimer Symposium 1991, in: Rheinischer Merkur, 18.10.1991. 61 Ebenda.
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schaft der PreussenElektra die Geschäftsbesorgung und Kapitalanteile der Rostocker Stadtwerke selbst zu übernehmen. 62 Ähnliches geschah am ehemaligen Kernkraftstandort Stendal. Auch hier errichtete dasselbe Konsortium eine Steinkohlekraftwerk, pikanterweise praktisch vor der Haustür jener Kommune, die den Stadtwerke-Streit in Ostdeutschland in Gang gebracht hatte. Auch wurde bekannt, daß die Großunternehmen vertragswilligen Städten und Gemeinden die Unterschrift mit Millionen-Gutschriften zu versüßen bereit waren, wenn sie zugleich in eine Rückdatierung der Verträge einwilligten. 63 Von den rund 7500 ostdeutschen Kommunen hatten demnach bereits mehr als 1000 Konzessionsverträge unterzeichnet. 64 Es gab jedoch auch handfeste politische Erpressungen. Den Städten Neuruppin und Radeberg wurde die Anbindung ihrer neuen Gewerbegebiete ans Stromnetz verweigert, solange sie nicht einen Konzessionsvertrag unterschrieben. 65 Inzwischen brach der tUr bundesrepublikanische Umweltdebatten übliche Gutachterkrieg aus. Ein von der SPD-Bundestagsfraktion in Auftrag gebenenes Rechtsgutachten des Bielefelder Rechtswissenschaftiers Joachim Wieland stellte Verfassungswidrigkeit der Stromvertragsregelungen in zwei Punkten fest: Gemeinden hätten demnach generellen Anspruch darauf, mit eigenen Stadtwerken über die Energieverteilung zu befinden und darüber hinaus nach überwiegender Rechtssprechung auch einen Einflußanspruch auf die Energieerzeugung, was in der starken kommunalen Beteiligung an EVU zum Ausdruck komme. 66 Der Gutachter Günter Püttner kam im Auftrag des Verbandes Kommunaler Unternehmen zum selben Resultat, jedoch mit anderer Begründung: Er bescheinigte den Kommunen einen grundsätzlichen Restitutionsanspruch, der sich weder materiell noch finanziell auf einen 49%igen Gesellschaftsanteil reduzieren lasse. 67 Ein Gutachten des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler kam zum gegenteiligen Ergebnis. Danach wäre es aus Gründen der Versorgungssicherheit nicht erforderlich, Stadtwerken die Stromversorgung zu übertragen, und in der angespannten Finanzlage der ostdeutschen Kommunen darüberhinaus auch nicht ratsam, die knappen Finanzmittel statt in den Aufbau kommunaler Infrastruktur in die äußerst kapitalintensive Errichtung von Stadtwerken zu investieren. "Bei der angespannten Finanzlage der ostdeutschen Kommunen Reinhard Klopfleisch: Rostock. Am Netz des Riesen. Die leit 20.3.1992. Der Klägervertreter hatte einen Betrag zwischen 300 und 500 Millionen DM errechnet. Der Stadt Dresden waren l.B. 32 Mio. DM rückwirkende Konzessionsabgabe geboten worden. (Stromkonzeme unter heftigem Beschuß. Frankfurterr Rundschau, 25.3.1992.) 64 Ebenda. 62 63
Nützlicher Erbe. Der Spiegel 44/1992. Gutachten nicht rechtens. Frankfurter Rundschau, 28.3.1992; Gutachten: Stromregelung ist verfassungswirdig. Der Tagesspiegel, 28.3.1992. 67 Dieter Fockenbrock: Die Kommunen kämpfen gegen eine angebliche "zweite Enteignung". Handelsblatt, 26.1 0.1992. 65
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besteht dort andererseits die Gefahr, daß neugegTÜndete Stadtwerke auf absehbare Zeit nicht angemessen mit Eigenkapital ausgestattet werden können. Dadurch droht die dringende Sanierung der Stromversorgungsanlagen gefiihrdet oder zumindest verzögert zu werden. ,,68 Einem Gutachten des Berliner Kartellund Energierechtiers Wolfgang Harms im Auftrag des Verbandes der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft zufolge wären im Falle eines Klageerfolgs der Kommunen in Karlsruhe langwierige und kostspielige Investitionshindernisse zu erwarten gewesen, weil die ostdeutsche Strom wirtschaft bei Errichtung einer Vielzahl von Stadtwerken zuvor grundlegend hätte umstrukturiert werden müssen, im schlimmsten Fall wäre gar mit einem "Desaster" zu rechnen gewesen. 69 5. Der Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts
Am 27. Oktober 1992 tagte das Bundesverfassungsgericht zu einer auswärtigen Anhörung der Beteiligten in der anhaltinischen Stadt Stendal. Der Ort war riicht ohne symbolische Bedeutung gewählt, hatte doch die Stadt, nicht nur erster Kläger in diesem Musterprozeß, zugleich den Beweis erbracht, daß der Neubau eines städtischen 70 Mio.-Kraftwerkes auch ohne Beteiligung der großen Energiekonzerne möglich ist und trotzdem ohne städtische Kredite oder Bürgschaften auskommt. Zugleich war dies nicht ohne Hintergrund, denn das brandenburgische Wirtschaftsministerium war massiv gegen dieses Vorhaben vorgegangen. Statt einer Landesförderung rur das Projekt schickte man den Stendaler Stadtwerken die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des Subventionsbetruges auf den Hals. 70 In der Sache selbst suchte das Bundesverfassungsgericht überraschenderweise schon in der ersten Sitzung den Weg eines Vergleichs zwischen den Parteien. Das Gericht schlug vor, den Kommunen das Betriebsvermögen einschließlich der Stromversorgungsanlagen auf städtischem Gelände unentgeltlich zu übertragen, wenn die Kommunen im Gegenzug auf ihre Kapitalbeteiligungen an den Regionalversorgern verzichteten. Beiden Seiten wurde eine Erklärungsfrist bis zum 16. November eingeräumt. 71 Am Rande der Verhandlung wurde freilich klar, daß die Konzerne die faktische Machtfrage schon längst zu ihren Gunsten entschieden hatte. Sie konnten nämlich darauf verweisen, daß 97% der ostdeutschen Kommunen mittlerweile in Konzessionsverträge eingewilligt hat68 Volker Stern (Karl-Bräuer-Institut e.V.): Die ostdeutsche Stromversorgung sollte nicht auf Stadtwerke übertragen werden. Handelsblatt 9.4.1992. 69 dpa-Meldung lnw bd wl 191629 Mai 92; ebenso Der Tagesspiegel, 20.5.1992. 70 Frank Matthias Drost: Groß-Stromerzeuger stoßen auf Widerstand. Handelsblatt, 26.1 0.1992. 71 Eine ausfilhrliche Darstellung des Verhandlungsverlaufs und der ausgetauschten Argumente findet sich in: Zeitung filr kommunale Wirtschaft 11/1992
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ten, lediglich 173 auf Verfassungswidrigkeit der Rechtslage klagten. Zahlreiche Kommunen hatten auf auf Öffnungsklauseln in ihren Konzessionsverträgen bestanden. Der Beklagtenvertreter der Bundesregierung, Staatssekretär von Würzen, gab zu erkennen, daß man von Seiten der Bundesregierung die Kollision hatte kommen sehen und "daß er noch während der Verhandlungen um den Stromvertrag von der Regierung zum Nachverhandeln mit den Stromkonzernen losgeschickt worden war - ohne Ergebnis. ,,72 Der Vergleichsvorschlag machte jedoch auch deutlich, daß das Verfassungsgericht sich zu keiner klaren Gewichtsverschiebung zwischen den Kontrahenten entscheiden wollte und daher eine Lösung unterhalb eines Urteils suchte. Aus rechtspolitischen Überlegungen war dies auch unbedingt erforderlich. Denn hätte man den Klägern in einem Urteil konzedieren müssen, daß der Einigungsvertrag tatsächlich verfassungswidrige Klauseln enthält, dann wäre das gesamte Vertragswerk über kurz oder lang auf den Prüfstand gekommen und womöglich die gesamte Rechtsgrundlage des deutschen Vereinigungsprozesses außer Kontrolle geraten. Dem Restitutionsverlangen der Kommunen gab das Gericht mit diesem Teil des Vergleiches gleichwohl statt und schlug der Bundesregierung gleichzeitig vor, den Kommunen bei der Aushandlung angemessener Verträge begleitend beiseite zu stehen. Das Gericht bekräftigte einerseits eine bereits in den Strom verträgen verankerte Klausel, wonach den kommunalen EVU's die Eigenerzeugung und Vermarktung von Strom aus rückübertragenem kommunalem Altvermögen, aus regenerativen Energiequellen oder aus wärmegeführten Heizkraftwerken im Umfang von maximal 30 % des Strombedarfs erlaubt sei. Letztere Klausel bedeutet, daß die Kommunen Strom, der als Koppel- oder Abfallprodukt bei der Wärmeerzeugung entsteht, erzeugen dürfen, wenn sich die Erzeugungskapazitäten am Wärmebedarf und nicht am Stromabsatz orientieren. Andererseits trug das Gericht auch der Interessenlage der Strom konzerne und der industriellen Gemengelage der ostdeutschen Stromerzeugung Rechnung, indem es die Kommunen verpflichtete, jahresdurchschnittlich und auf die neuen Bundesländer bezogen nicht weniger als 70% des kommunalen Strom bedarfs von den Regionalversorgern zu beziehen. Die Selbstbindungsklausel der Kommunen aus ihrer Grundsatzvereinbarung mit den Stromerzeugern vom Frühjahr 1991, die die Braunkohleverstromung stützen sollte, war damit höchstrichterlich sanktioniert worden. Einen Sanktionsmechanismus hierfür schlug das Gericht jedoch nicht vor. Dies sollte sich in Zukunft als die Achillesferse des Vergleichsvorschlags erweisen. Da der Wärmemarkt nämlich ein saisonal sehr schwankender Markt ist, kann hier nur auf der Basis von Durch-
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Hennann-JosefTenhagen: Ostdeutsche gegen Stromkonzeme. die tageszeitung, 28.10.1992.
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schnittsgrößen argumentiert werden, was die Sanktionierung dieser Vertragsklausel erheblich erschwert. Alsbald setzte daher auch über dieser weichen Klausel ein heftiger Streit über die Vertragstreue der Parteien ein. Der Vorschlag des Verfassungsgerichts, fiir den viele gute Gründe sprachen, verlagerte den Machtpoker jedoch auf ein anderes Feld. Erfahrungswerte besagten nämlich, daß Kraft-Wärme-gekoppelte kommunale Anlagen Strom um bis zu 5 Pfennige billiger produzieren können, als Stadtwerke fiir den Bezug von Fremdstrom durch die Stromkonzerne bezahlen müssen. Bei einer Annahme des Vergleichsvorschlages war der Einfluß der Stromunternehmen bis zur Regionalebene hinunter nun zwar sicher, freilich war ein gewisser Marktverlust durch kommunale Eigenerzeugung zu befiirchten, wenn auch quantitativ nur schwer abzuschätzen. Zudem war mit einer Preis konkurrenz zu rechnen. Der Poker verlagerte sich nun auf das Feld der Privatisierungsverhandlungen der Stromkonzerne mit der Bundesregierung bzw. mit der Treuhandanstalt. Beide genannten Imponderabilien ließen sich nämlich sowohl auf den Kaufpreis der VEAG (als der kapitalisierten Ertragserwartung) als auch auf die Frage der Altlastenfmanzierung im Braunkohlenbergbau und den Kaufpreis des Ostdeutschen Braunkohlenbergbaus beziehen. Es war daher kein Zufall, daß der R WEVorstandsvorsitzende Gieske in Reaktion auf den Vergleichsvorschlag "erneut auch ein Junktim zwischen Strom vertrag und Privatisierung der ostdeutschen Braunkohle her(stellte). Ohne klare Abnahmegarantien fiir Braunkohlestrom könne sein Unternehmen nicht die Milliardeninvestitionen fiir die dortigen Gruben und neu zu bauenden Kraftwerke verantworten. ,,73 In der Tat: Die nicht justiziable 70%-Klausel war die offene Flanke des Vergleichsvorschlags. Am 13. November baten alle Prozeßbeteiligten das Gericht um Fristverlängerung bis zum 20. Dezember. Hinhaltender Widerstand freilich kam vor allem von der Unternehmensseite, denn die klagenden Kommunen hatten dem Vergleichsvorschlag bereits zugestimmt. Diese versuchten nun, der anderen Seite die Zustimmung zu erleichtern, indem sie eine Verpflichtungserklärung verabschiedeten, ihren Strom bedarf "mehrheitlich aus Braunkohlenstrom" zu decken. 74 Erstmals wurde auch zum Arbeitsplatzverlust-Argument der Strom konzerne eine seriöse Gegenrechnung präsentiert: Nach einer Schätzung der Fraunhofer-Gesellschaft waren in ostdeutschen Stadtwerken 50000 Dauerarbeitsplätze zu erwarten. 75 Nicht uninteressant war aber auch, daß der Verband Kommunaler Unternehmen (V KU) von der Bundesregierung verlangte, daß
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Stromkompromiß wackelt noch. Der Tagesspiegel, 31.10.1992. Neues Angebot im Strom-Konflikt. Die Welt, 16.11.1992. Ebenda.
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kommunalen Unternehmen zur Stromerzeugung auf Braunkohlebasis ein "nichtdiskriminierender Zugang zu Braunkohle" ermöglicht werden müsse. 76 Am 5. Dezember 1992 wurde dann der Durchbruch erzielt, indem die Unternehmensseite ein konsens fähiges Verhandlungspaket unterbreitete. 77 es ging von dem grundsatz aus: Pacta sunt servanda, d.h. rechtsgültig abgeschlossene Konzessions- und Stadtwerkeverträge wären einzuhalten. Es sollten also, wie im Vergleichs vorschlag des Gerichts vorgesehen, alle klagenden stadtwerkefähigen bzw. -willigen Kommunen, die von den Ländern Genehmigungen nach § 5 Energiewirtschaftsgesetz (Wirtschaftlichkeitsnachweis bei Stadtwerkegründung) bereits erhalten hatten oder dies noch erhalten würden, die örtlichen Stromversorgungsanlagen und die dazugehörigen Grundstücke samt Personal, aber auch dazugehöriger Altlasten kostenlos erhalten. Diese 100 Kommunen sollten völlig frei in ihren Entscheidungen werden, denn alle eventuell bereits abgeschlossenen Konzessionsverträge sollten rückwirkend außer Kraft treten. Dieselbe Folge sollte rur Kommunen gelten, die stadtwerkefähig waren, geklagt hatten, aber Öffnungsklauseln in ihren Konzessionsverträgen untergebracht hatten. Um eine endlose Kette von neuen Vertragsverhandlungen zu vermeiden, sollten alle übrigen Verträge jedoch in Kraft bleiben. Den klagenden Kommunen wurde weiterhin freigestellt, zur Sicherung der städtischen Fernwärmeversorgung in Wärme- und Müllkraftwerken und in Anlagen auf der Grundlage emeuerbarer Energien neben Wärme auch Strom zu erzeugen. Hier war in der Tat sogar die Möglichkeit gegeben, über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren, wie auch bei den kommunalen Wärmekraftwerken, in denen Strom quasi als Abfallprodukt bei der Wärmeerzeugung anfiel. Im Gegenzug sollten sich die stadtwerkefähigen und -willigen Kommunen verpflichten, die Verfassungsbeschwerde zurückzunehmen, auf ihre 49%ige Kapitalminderheitsbeteiligungen an den EVU's zu verzichten Offen blieb bis über den Erklärungstermin hinaus die Frage, wie die Differenz von ca. 2,6 Mrd. DM zwischen dem Wert der Versorgungsanlagen und der 49%-Kapitalbeteiligungen (letztere waren weit weniger wert) ausgeglichen werden sollte. Die Konzerne waren hierzu nicht bereit und wollten die Differenz von den Kommunen erstattet haben. Diese verwiesen ihrerseits auf den Finanzminister bzw. die Treuhandanstalt. 78 Eine Regelung wurde schließlich auch hier 76 Stromstreit: Rasche Einigung verlangt. Süddeutsche Zeitung, 26.11.1992. Über den in der Folgezeit ausgebrochenen Bewertungsstreit bei der wechselseitigen Aufrechnung von kommunalen Versorgungsnetzen und Regionalversorgeranteilen vgl. Zeitung rur kommunale Wirtschaft 12/1992. 77 Einigung im Streit um Stromvertrag in Sicht. Der Tagesspiegel, 8.12.1992; Stromstreit in letzter Minute beigelegt; Der Tagesspiegel, 23.12.1992. 78 Kommunen und Konzerne einigen sich im Stromstreit. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.1992.
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möglich, indem die Konzerne einerseits auf einen Bewertungsausgleich bei den zu übertragenden Vermögensteilen verzichteten, im Gegenzug von den Altschulden und Umweltaltlasten freigestellt wurden, filr die sie bereits Rückstellungen gebildet hatten, und ihrerseits von der Treuhandanstalt aber hinsichtlich von Ausgleichsanspruchen nicht stadtwerkefähiger Kommunen freigestellt werden wollten. Diese Kommunen hätten nämlich darauf verweisen können, daß ihre 49%-Anteile sich nach der Übertragung von Stadtwerkevermögen nun auf ein kleiner gewordenes Gesamtvermögen bezogen und daher ohne ihr Zutun weniger Wert waren. Der Komprorniß in allerletzter Minute sicherte 30000 bis 35000 Arbeitsplätze und machte Investitionen in Höhe von jährlich rund 6 Mrd. DM frei. Die Konzerne nahmen unter dem Strich die Konkurrenz von ca. 120 bis 130 stromproduzierenden Stadtwerken hin. Mit der 70%-Klausel besaß die VEAG im Gegenzug filr ihre Kraftwerksplanungen nun eine verläßliche Kalkulationsgrundlage, die ihrerseits auf dem Weg über langfristige Braunkohleabnahmeverträge die Planungen und Privatisierung der Braunkohleförderer ein gutes Stück voranbringen konnte. Der Stadtwerke-Streit zog sich schließlich nach mehrmaligen Fristverlängerungen durch das Verfassungsgericht bis in den Juli 1993 hin. Als letzte Kommune trat die mecklenburgische Stadt Boizenburg dem Vergleichsabkommen bei. Obwohl nun das grundlegende Problem gelöst war, verschob sich in der Folgezeit der Konflikt auf andere Felder. Die Kommunen stellten nämlich fest, daß die § 5-Anträge nach dem Energiewirtschaftsgesetz von den Ländern in politischer Steuerungsabsicht sehr unterschiedlich und z.T. äußerst restriktiv gehandhabt wurden. Denn die Entscheidungen konnten, wie Z.B. im Falle Thüringens, das zunächst sehr zügig genehmigte, recht drastische Folgen haben. Drei Regionalversorger hatten dort fusionieren müssen, weil ihnen durch die Ausgliederung von 23 Stadtwerken plötzlich rund 50% ihrer Kunden verlorengegangen waren. 79 6. Ausblick
Mit dem Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts und dessen Annahme durch beide Parteien war der Streit entgegen ersten Annahmen jedoch noch nicht be endet. Er wurde vielmehr mit Tricks und Finten weitergefilhrt. Hintergrund war der sich abzeichnende Trend, daß nach Abschluß aller Genehmigungsverfahren die Stadtwerke in mehr als den vom Verfassungsgericht kalkulierten 2400 MW Erzeugungskapazitäten Strom entsprechend den ihnen zugestandenen 30% gemäß der 70:30%-Klausel produzieren würden. Geschätzt 79
Nicht nur ENAG verlor viele Kunden. ThUringer Allgemeine, 6.12.1993.
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wurde inzwischen eine Kapazität von 4000 MW und eine jährlich daraus resultierende angebliche Absatzverringerung von 20 Mio. t Braunkohle. 80 Die Folge war, daß in Brandenburg der Wirtschaftsminister angewiesen wurde, strenge Genehmigungskriterien anzulegen und der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf gar die Kommunen öffentlich aufforderte, auf den Bau eigener Kraftwerke ganz zu verzichten, weil dies gegen die wirtschaftlichen Interessen des Landes gerichtet sei. 81 Für den Außenstehenden war jedenfalls schwer durchschaubar, ob es wirtschaftliche Zwänge oder politische Erpressung war, die die Geschäftsbesorger der ostdeutschen VEAG daraufhin veranlaßte, den geplanten Kraftwerksneubau am Standort Boxberg zeitlich zu strecken. Der Druck der Landespolitik auf die stadtwerkegrUndungswilligen Kommunen mit dem Argument der Rettungs von Arbeitsplätzen in der Braunkohle zeigte jedoch nur umso schonungsloser die politischen Versäumnisse in der Energiepolitik der Länder auf. Die Kommunen sollten reparieren, was die Länder zu regeln verabsäumt hatten. Der Verweis auf den Schutz der Braunkohle war deswegen umso abwegiger, weil der Stromkompromiß mit seiner 30%Klausel explizit davon ausgegangen war, daß die Städte ihre Kraft-Wärmegekoppelten Anlagen vorwiegend mit Erdgas betreiben würden. Von Braunkohle als Energieträger war hier nie die Rede gewesen. Von daher war die behauptete Absatzeinbuße von 20 Mio. teine gezielte Falschbehauptung. Zwei Brandenburgische Städte, Potsdam und Frankfurt/Oder, mußten erfahren, daß die Möglichkeiten des Landes nicht ausreichten, die immensen Kostennachteile des Braunkohlebetriebs gegenüber dem Erdgas auszugleichen. Neben viermal höheren Betriebskosten waren die Investitionen in kohlebefeuerten Anlagen um 60% höher, während die Fernwärmeförderprogramme lediglich eine maximale Förderung von 35% zuließen; außerdem war mit etwa doppelt so langer Bauzeit zu rechnen. So war es keineswegs politische Boshaftigkeit oder gar fehlende Solidarität mit den wirtschaftlichen Erfordernissen des Landes, sondern ein schlichtes Rechenexempel, daß sich die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung im Oktober 1993 rur Gas und gegen Kohle entschied: 9 Pfennig pro erzeugter Kilowattstunde kostete die Gasvariante, 13 Pfennig dagegen die Kohlevariante. Die Gasvariante war also ökonomisch und zugleich ökologisch sinnvoller. Es war daher zu spät, als der Brandenburgische Wirtschaftsminister Hirche in einem Interview Ende 1993 feststellte: "Ich hätte mir eine andere Energielandschaft gewünscht. Unter Verbrauchergesichtspunkten hätte ich es rur optimal gehalten, wenn die Kommunen an den Regionalversorgern beteiligt wären und 80 Ostdeutsche Stromwirtschaft befllrchtet weiteren Rückgang der Braunkohle. Süddeutsche Zeitung, 22.11.1993. 81 Biedenkopf fIIr Verzicht auf stadteigene Kraftwerke. Süddeutsche Zeitung 11.2.1994.
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dort die Mehrheit hätten. "S2 Der Fehler war nur, daß das Land zur Realisierung einer solchen Zielstellung nichts unternommen hatte. Daß die Landesregierung schließlich mit politischer Pression eine Entscheidung des Magistrats der Stadt Potsdam zugunsten der Braunkohle erzwingen wollte, unterstreicht nur diese These und den Geburtsfehler der überhastet ausgearbeiten Stromverträge. Ihrer Interessenlage gemäß hatten die Stromkonzerne den energiepolitisch in der Zukunft immer bedeutender werden Sektor der mittleren und kleinen Energieerzeugung schlichtweg übersehen bzw. souverän verdrängen wollen. Bundes- und Landesenergiepolitiken korrigierten diesen Fehler nicht und wie so oft bei industriestrategischen Entscheidungen in der Bundesrepublik wurden die Lösung einem verbandlichen Interessen-Clearing überlassen. Am Fall Berlin war die Konstellation ineinander verhakter Interessen noch deutlicher zu betrachten. Seit Blockadezeiten verfeuerten die Kraftwerke im Westen der Stadt traditionell teure Ruhrkohle. Der West-Berliner Regionalversorger BEWAG, Tochtergesellschaft der westdeutschen PreussenElektra, war daher Teilnehmer am sog. "Jahrhundertvertrag". Die Folge war: Die WestBerliner Strompreise lagen um rund 20% über denen in der Bundesrepublik. Nach der Vereinigung fusionierte die Bewag mit dem Ost-Berliner Regionalerzeuger Ebag, der Braunkohlekraftwerke betrieb bzw. Braunkohlenstrom aus der Lausitz bezog. Im Angesicht der geplanten Länderfusion wäre es ein regionalwirtschaftlich stabilisierender Schritt gewesen, wenn die BEWAG von Steinkohlenstrom auf Braunkohlenstrom umgestiegen wäre: Man hätte die Strompreise deutlich senken und der ostdeutschen VEAG und mittelbar der Lausitzer Braunkohle ein sicheres Absatzfeld verschaffen können. Der Druck zum Ausscheiden Berlins aus dem "Jahrhundertvertrag" wurde daher immer stärker. s3 Die Situation war jedoch komplizierter. Im potentiellen Erwerberkonsortium der VEAG war zwar die VEBA-Tochter PreussenElektra vertreten. VEBA konnte aber kein Interesse daran haben, über seine West-Berliner Tochter Bewag den Steinkohlemarkt zu verlieren, denn dies hätte zur Unterminierung des Jahrhundertvertrages geführt, hätte die Ruhrkohle AG schwer getroffen und damit deren Hauptaktionär VEBA. Berlin und seine Stromkunden wurden also gezwungen, über den Strompreis die westdeutsche Steinkohle weiterhin hoch zu subventionieren und die regionalwirtschaftlich bedeutsame Braunkohle immer weiter wirtschaftlich abstürzen zu lassen. Da die Stromverträge den großen "Ich hätte mir eine andere Energielandschaft gewünscht". Berliner Morgenpost, 6.12.1993. Dies wurde nicht nur vom Regierenden Bürgermeister mehrfach ins Spiel gebracht (z.B.: Steinkohleeinsatz begrenzen. SiegTech Nr. 8/93, S. 20 f.), sondem auch von den BerlinBrandenburgischen Untemehmensverbänden gefordert. (Positionspapier der Vereinigung der Untemehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V. (UVB): Beitrag der Braunkohle zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Brandenburg/Berlin, in: Senatsverwaltung fllr Stadtentwicklung und Umweltschutz (Hrsg.): Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung. Materialien zum Energiekonzept Berlin, Heft 4, S. 414 ff.) 82 83
15 Eckar! I Roes1er
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Konzernen den Erwerb der VEAG zugesichert hatten, hatte der Marktverkleinerungseffekt rur die VEAG zugleich den nicht unerwünschten Nebeneffekt, deren Kaufpreis weiter zu verringern. Es war schon eine gehörige Portion Chuzpe nötig, als RWE im Oktober 1993 über den Stand und Fortschritte des Umbaus der ostdeutschen Stromversorgung formulierte: "Nach drei Jahren läßt sich das Fazit ziehen, daß die Privatisierung und der Aufbau moderner, flächendeckender Versorgungssysteme in den Energiebereichen am weitesten fortgeschritten sind, wo keine administrativen und politischen Hürden aufgebaut wurden und die Unternehmen von der Stunde Null an ungehindert planen, investieren und arbeiten konnten. Dort aber, wo zur Aufrechterhaltung der Versorgung, aber auch aus Gründen der Arbeitsplatzerhaltung Auflagen, Einsprüche und Rechtsstreitigkeiten einem zügigen Engagement entgegenstanden, hat sich der grundlegende Neuaufbau verzögert. Mittlerweile sind aber die meisten dieser Hindernisse beseitigt. ,,84 In der Folgezeit erwies sich jedoch, daß auch dies immer noch nicht die ganze Wahrheit war. Noch vier Jahre nch diesen Aussagen war der Streit noch immer nicht endgültig beigelegt. 60 Kommunen hatten inzwischen eine Prozeßkostengemeinschaft gegründet, Sie beklagten vor allem die Hinhaltetaktik der EVU's bei der Herausgabe der rur eine Stadtwerkegründung notwendigen Unterlagen. Es tobte weiterhin ein zäher Kleinkrieg um Abgrenzungs- und Bewertungsfragen von Altanlagen und Instandsetzungsmaßnahmen, Personalumfang und Altlasten, wenn die kommunen mit ihrem Anspruch auf Übertragung der Anlagen auf ihrem gebiet zum Zuge gekommen waren. Die Länder verfuhren weiterhin äußerst restriktiv bei den § 5-Genehmigungen. Der Konflikt eskalierte erneut, als betroffene Kommunen beim Bundeskartellamt eine Beschwerde gegen überhöhte Verrechnungspreise (aufgrund marktbeherrschender Stellung) der EVU's rur den von ihnen an die kommunalen Stadtwerke gelieferten Strom einlegten. Der Streitwert war nicht unerheblich: Bei einem um 1,5 Pf/kWh überhöhten Preis hatten die Kommunen allein rur den zeitraum von 1991 bis 1995 einen Schaden von 3.6 Mrd. DM errechnet. Zudem trug diese Differenz entscheidend dazu bei, daß die ostdeutschen Industriestrompreise über den westdeutschen lagen, was sich zunehmend zu einem entscheidenden Standortmangel in Ostdeutschland auswirkte. 8s Zwar gab das Kartellamt der Beschwerde nicht statt, weil die Prüfung keine Verstöße ergab; gleichwohl senkten die den großen Konzernen gehörenden regionalen EVU's darauf die Bezugspreise rur die Kommunen, ein Eingeständnis, daß an den Vorwürfen doch etwas gestimmt RWE (Hrsg.): Die ostdeutsche Energiewirtschaft im Wandel, a.a.O., S. 3. Dieser Umstand wirkte sich besonders deutlich aus, seit es im Jahre 1996 in Westdeutschland zum Wegfall des "Kohlepfennigs" und infolgedessen verbreitet zu Strompreissenkungen kam. 84
8S
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hatte. Die Kommunen gaben jedoch keine Ruhe. Im Mai 1997 scheiterte ein Kompromißversuch unter Vermittlung des Landes Brandenburg, weil der von der VEAG vorgeschlagene Vermittler und Preisprüfer (das brandenburgische Landwirtschaftsministerium) von den Kommunen als zu braunkohlenah eingestuft wurde, ein externer Gutachter von der VEAG aber abgelehnt wurde. Erneut zeigten sich 30 Kommunen entschlossen, gegen die überhöhten Verrechnungspreise gerichtlich zu Felde zu ziehen. Sieben Jahre nach der deutschen Vereinigung lautet daher das Fazit eines Insiders: "Die Privatisierung der ostdeutschen Stromwirtschaft ist lange abgeschlossen. dennoch beherrschen weiterhin gerichtliche Auseinandersetzungen das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den überregionalen und den lokalen Stromerzeugern. Auch sieben jahre nach den ersten Kontroversen über den Stromvertrag sitzen die Konzerne auf der Anklagebank. "86 Zurecht sprachen die Wirtschaftsseiten der Zeitungen mehrfach im Verlauf des Privatisierungsprozesses von "Poker" und "Monopoly". Nirgendwann in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik war so oft und so selbstverständlich von der Begriffskombination "Konzerne" und dem Einsatz wirtschaftlicher Macht, die zuweilen bis an den rand der Erpressung reichte, die Rede. Und es war ein gewiß unverdächtiger Beobachter, wenn auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung von "einem Hauch von Monopoly" sprach. 87
86
Martin Steves: Der endlose Streit um die Ost-Energie. Handelsblatt, 11.9.1997.
87
Kerstin Schwenn: Ein Hauch von Monopoly. Zur Privatisierung der VEAG. FAZ, 14.4.1994.
15*
Jörg Roesler DER EINFLUSS UNTERSCHIEDLICHER PRIV A TISIERUNGSZIELE AUF STABILITÄT UND ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVE OSTDEUTSCHER INDUSTRIEUNTERNEHMEN. VERSUCH EINER TYPISIERUNG FÜR DEN ZEITRAUM 1990 - 1997 1. Einführung: Probleme des Untersuchungsgegenstandes I. Die Bedeutung der Industrie für die neuen Länder. In der DDR hatte der Prozentsatz der in der Industriebeschäftigten an den Berufstätigen l von Anfang an relativ hoch gelegen (27,2%) und war bis Mitte der 70er Jahre weiter angestiegen (auf 38,2% 1975). Seitdem stagnierte dieser Anteil und lag 1989 bei 37,3%.2 Nach 1989 wurde dann im Rahmen der Anpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die Marktwirtschaft ein Strukturwandel vom primären und sekundären zum tertiären Sektor, zum Dienstleistungsgewerbe prognostiziert, der sich dann .auch vollzog - allerdings viel rascher und weitgehender als erwartef. Im Jahre 1995 betrug der Anteil der im verarbeitenden Gewerbe der neuen Länder Beschäftigten nur noch 16 % der Erwerbstätigen, verglichen mit 27% in den alten Ländern. Im gleichen Jahr entfielen auf das verarbeitende Gewerbe nur 13% der im Osten Deutschlands getätigten Anlageinvestitionen. 4 Einige Wirtschafts experten vermerkten in den neuen Ländern ein Industriedefizie, andere sprachen unverblümt von Deindustrialisierung. 6 Es fragt sich unter diesen Umständen, ob eine auf die Industrie bezogene Analyse des Privatisierungsgeschehens seit 1990 überhaupt noch in der Lage ist, 'Ohne K-Bereich. Statistisches Jahrbuch '90 der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1990, S. 125.
2
3 Deutsches Institut rur WirtschaftsforschunglInstitut rur Weltwirtschaft an der Universität KielIInstitut rur Wirtschaftsforschung Halle, Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsfortschritte in Ostdeutschland: Neunter Bericht, Kiel 1993, S. 24. 4 Manfred Wegner, Die deutsche Einigung. Das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40/96, S. 18. S Rüdiger Pohl (Interview), Die wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern, in: Neues Deutschland (ND) vom 10.11.1995.
6 Andreas Büttner, Die verheerende Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland in der Zeit von 1990 - 1994, in: Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar (Hg.), Kolonisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995, S. 127.
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einen wesentlichen Beitrag zur Aufhellung der wirtschaftlichen Entwicklung in den 90er Jahren zu gewährleisten. Das Urteil der Wirtschaftsexperten ist jedoch eindeutig: Die Bedeutung der Industrie rur die ostdeutsche Wirtschaft ist erheblich größer als dies aus ihrem Anteil an der Beschäftigtenzahl oder am Bruttoinlandsprodukt ersichtlich wird. Rüdiger Pohl, der Leiter des Wirtschaftsinstituts Halle, unterstrich in einem Ende 1995 gegebenen Interview die Wichtigkeit des Dienstleistungssektors rur die neuen Länder und fuhr fort: "Allerdings wird sich dieses Dienstleistungswesen nur auf der Basis einer modemen Industrie entwickeln, ein Großteil hängt direkt an der Industrie. Das ostdeutsche Industriedefizit schränkt somit die Entwicklung der Dienstleistungen ein."7 Auch noch anderthalb Jahre später antwortete auf die Frage, wie eine weitere Negativentwicklung im Osten Deutschlands verhindert werden könne, der ehemalige Kanzlerberater und spätere Wirtschaftsbeauftragte der Bundesregierung rur die neuen Länder, Johannes Ludewig dem Interviewer bündig: "Das wichtigste ist die Verstärkung der ostdeutschen Industrie". 8 Wenn der folgende Beitrag sich daher "nur" mit den Folgen der Privatisierung von Industriebetrieben beschäftigt, geht es also nicht um ein Rand- sondern das Kemproblem der ostdeutschen Wirtschaft. Dieser Beitrag ist mikroökonomisch orientiert, d.h. im Mittelpunkt stehen die Betriebe, nicht die Entwicklung der Industriezweige oder -regionen, deren Analyse sich auf makroökonomischen Daten stützt. 9 Die Privatisierung der Betriebe wird untersucht hinsichtlich ihres Einflusses auf die Existenzsicherung der Betriebe und in ihrer Bedeutung rur deren Entwicklungsperspektive. 10
7 S
S.20.
R. Pohl, Die wirtschaftliche Situation. Johannes Ludewig (Interviewter), "lch habe mir Illusionen gemacht", in: Die Zeit 1911997,
9 vgl. dazu u.a. Burkhard Wehner, Das Fiasko im Osten. Auswege aus einer gescheiterten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Marburg 1991; Werner Schulz/Ludger Volmer (Hg.), Entwickeln statt Abwickeln. Wirtschaftspolitische und ökologische Umbau-Konzepte rur die runf neuen Länder, Berlin 1992; Wilhelm HankeI, Die sieben Todsünden der Vereinigung. Wege aus dem Wirtschaftsdesaster, Berlin 1993; Thomas Falkner, Absturz in die Marktwirtschaft. Der schwere Weg durch die ostdeutsche Wirtschaftskrise, München 1994; Bernd Rebe/Franz Peter Lang (Hg.), Die unvollendete Einheit. Bestandsaufnahme und Perspektiven rur die Wirtschaft, Hildesheim 1996. 10 Untersuchungen dieser Art sind relativ seiten. Einer der neuesten wurde vom IFO-Institut rur Wirtschaftsforschung München durchgefilhrt und betrim ausländische Investitionen in Osteuropa (ohne die Ex-DDR). (Hans-Peter LandeslA. 1. Venables, Foreign direct investment in Eastern Europe and the former Sovient Union: results from a survey of investors, in: Salvatore Zecchini (Hg.), Lessons from the Econopmic Transition. central and Eastern Europe in the 1990s, DroderchtIBostonlLondon 1997, S. 555-565.
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23 I
2. Quellenlage. "Über die Vertragseinzelheiten wie Kaufpreis, Investitionsvolumen, Fördermittel sowie künftige Beschäftigtenzahl wurde Stillschweigen vereinbart". Diese Nachricht von der Übernahme eines ostdeutschen Unternehmens durch einen Investor in einer Tageszeitung ll ist typisch rur die Nachrichten über Privatisierungsfalle und offenbart eines der größten Hindernisse rur die Erforschung der Industrieentwicklung nach 1990 aus mikroökonomischer Sicht: Das Geschäftsgeheimnis. Die Wirtschaftsgeschichte der 90er Jahre kann auch in Ostdeutschland nicht mehr auf archivalische Quellen zurückgreifen. Sie muß sich mit dem zufrieden geben, was die Unternehmen an Informationen an die Öffentlichkeit lassen bzw. auf die Nachrichten stützen, die sich die Öffentlichkeit zugänglich machte. Die Analyse stützt sich auf folgende Quellengruppen: 1. Selbstdarstellungen der Unternehmen. Dabei handelt es sich in der Regel um Produkte der PR-Abteilung in Form von Faltblättern, Firmenzeitungen und Produktkatalogen. bas erklärte Ziel ihrer Existenz ist es, rur die Produkte des Betriebes zu werben und das Unternehmen als stabilen Partner im Geschäft hinzustellen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Darstellung der Uüngsten), natürlich erfolgreichen, betrieblichen Entwicklung. Aus dem Zweck dieser Publikationen ergibt sich ihre Tendenz. Für die Analyse sind sie mit Vorsicht zu genießen. 2. Selbstdarstellungen der Treuhandanstalt über ihre Arbeit, d. h. die Privatisierung ehemals volkseigener Unternehmen. Über allgemein gehaltene Werbeschriften l2 , Verkaufskataloge 13 usw. hinaus sind rur die mikroökonomische Analyse von besonderem Interesse die zwischen Mai 1991 und Dezember 1994 erschienenen insgesamt 21 "Treuhand Informationen". Die Berichte über bevorstehende oder vollzogene Verkäufe von Treuhandunternehmen sollten das angeschlagene Image der Treuhandanstalt (THA) in der Öffentlichkeit aufbessern helfen 14 und neue Käufer werben. Auch rur sie gilt, was über die Produkte der PR-Abteilungen der Betriebe gesagt wurde: Ihre Auswertung verlangt eine kritische Sicht.
liDerTagesspiegel (0. T.) vom 8.10.1997. Vgl. z.B. Arbeiten rur die soziale Marktwirtschaft, Berlin o. 1.; Wer auf die Zukunft baut, muß handeln, DüsseldorflDresden 1992. 12
13 Betriebsstätten 11. Ein Ausschnitt von Unternehmen und Betriebsstätten der Treuhandanstalt, Dezember 1993. 14 Vgl. dazu z.B. Rüdiger Liedtlee (Hrsg.), Die Treuhand und die zweite Enteignung der Ostdeutschen, München 1993.
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3. Publikationen von Wirtschaftsjounalisten. Veröffentlichungen zur Privatisierung und Entwicklung einzelner ostdeutscher Betriebe enthalten vor allem die Wirtschaftszeitschriften "Wirtschaftswoche", "Handelsblatt" und "Wirtschaft". JS Von den überregionalen Tageszeitungen informieren vor allem das "Neue Deutschland" und der "Tagesspiegel" in ihrem Wirtschaftsteil über Privatisierung und Betriebsentwicklung in den neuen Ländern. Eine wichtige Quelle rur die Erforschung der Geschichte der ostdeutschen Betriebe seit 1990 sind die beiden von Redakteuren der" Wirtschaft" zusammengestellten Kompendien "Kombinate. Was aus ihnen geworden ist"16 und "Privatisierte. Was aus ihnen wird" .17 Für den Forscher offenbart diese Literatur zwei Probleme: Erstens konzentrieren sich die Journalisten auf eine begrenzte Zahl der Unternehmen, die sowieso relativ häufig behandelt werden. Dabei handelt es sich einmal um die "ganz großen" Unternehmen, z.B. Werke der thüringischen und sächsischen Automobilindustrie bzw. die noch im Aufbau befindliche Mikroelektronikindustrie im Raum Dresden. Reportagen werden ferner bevorzugt über Betriebe veröffentlicht, die dem Leser bekannte Markenprodukte herstellen, vor allem im Nahrungs- und Genußmittelgewerbe. Zweitens sind die Berichte meist stark optimistisch eingefiirbt. Erst durch die Verfolgung der Veröffentlichungen verschiedener Journalisten zu einem Betrieb über mehrere Jahre läßt sich dieser Optimismus als übertrieben oder gerechtfertigt einschätzen. 4. Recherchen und Befragungen des Verfassers. Sie beziehen sich auf ausgewählte Betriebe des Werkzeug- und Textilmaschinenbaus sowie der Textilindustrie. Fast gleichzeitig mit dem Beginn der Treuhandprivatisierung setzte die Literatur über dies "unerhörte Geschehen" ein. Betriebsuntersuchungen zum Privatisierungsprozeß bzw. zur Arbeitsweise der in die Marktwirtschaft überführten Betriebe wurden auch Gegenstand der akademische Forschung. Derartige Veröffentlichungen sind immer noch relativ selten. Aufschlußreiche Beispiele sind die Arbeiten von Mickler\8; Nawroth/Kullmann l9 und Richter/Förster/
IS "Die Wirtschaft" stellte 1995 ihr Erscheinen ein. Zumindest bezüglich der Informationen über die Entwicklung in ostdeutschen Betrieben hinterließ das Ende der Zeitschrift ein betrUbliches Defizit. 16 Wochenzeitung Die Wirtschaft (Hg.), Kombinate. Was aus ihnen geworden ist. Reportagen aus den neuen Ländern. BerlinIMünchen 1993. 17 Wochenzeitung Die Wirtschaft (Hg.), Privatisierte. Was aus ihnen wird. Reportagen aus den neuen Ländern, BerlinIMunchen 1994. 18 Ot/ried Mickler, Chancen und Hemmnisse des industriellen Umbaus in Ostdeutschland am Beispiel der Automobilindustrie, in: B. Rebe/F. P. Lang, Die unvollendete Einheit, S. 225 ·240.
Der Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität
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Lakemann. 20 Einige Buchautoren, die generell die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt oder die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung untersuchten, haben zur Entwicklung einzelner Betriebe als Fallbeispiele publiziert. Dazu gehören vor allem die Veröffentlichungen von Krumrey,21 van der Meer/ Kruss,22 Suhr, 23 ChristlNeubauer,24 Flug,2s Fischer/Hax/Schneider6 und Falkner 7• 11. Privatisierungsvarianten nach der Herkunft der neuen Eigentümer 1. Erwartungen an die Privatisierung.
"Die Marktwirtschaft geht davon aus, daß der Mensch zwar vernunftbegabt, aber auch eigennützig ist und sein Handeln daher planmäßig darauf ausgerichtet, den eigenen Interessen zu dienen und seine persönliche Lage zu verbessern. Eine Stärke der Marktwirtschaft liegt darin, daß sie von 'normalen Menschen' ausgeht und für ihr Funktionieren nicht Personen voraussetzt, die hohe Arbeitsleistungen aus 'Einsicht in die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten' erbringen"28. Letzterer Wirtschaftsgrundsatz habe in der Wirtschaft der DDR zur Ineffektivität geführt. "Dies kann nur geändert werden, wenn die Unternehmen wirtschaftlich selbständig werden, z. B. als Kapitalgesellschaften, und wenn sie im Interesse ihrer privaten Eigentümer geführt werden".29 Diese Überzeugungen sind nach lesbar in den vielen Abhandlungen, die 1990 geschrieben wurden, um den Ostdeutschen zu erklären, warum die Marktwirtschaft sich gegenüber 19 Kerstin Nawrothl Gerhard Kullmann, Die Bedeutung und VerlInderung von sozialen Bindungen in den Gruppenstrukturen der Produktionsbelegschaften in den neuen Bundesländern, Dresden 1992. 2n Jenny RichteriHeike FörsterlUlrich Lakemann, Stalinstadt - EisenhUttenstadt. Von der Utopie zur Gegenwart. Wandel industrieller, regionaler und sozialer Strukturen in Eisenhüttenstadt, Marburg 1997. 21 Henning Krumrey. Aufschwung Ost. Märchen oder Modell, FrankfurtlMain 1992. 22 Horst van der MeeriLothar Kruss (Hg.), Vom Industriestaat zum Entwicklungsland? FrankfurtlMain 1991. 23 Heinz Suhr, Der Treuhandskandal. Wie Ostdeutschland geschlachtet wurde, FrankfurtlMain 1991. 24 Peter Christ/Ralf Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der filnfneuen Llinder, Berlin 1991. 25 Martin Flug, Treuhand-Poker. Die Mechanismen des Ausverkaufs, Berlin 1992. 26 Wolfram Fischer/Herbert HaxlHans Karl Schneider, Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin 1993. 27 Th. Falkner, Absturz.
2. Eckart D. Stratenschulte, Soziale Marktwirtschaft. Was ist das? Berlin 1990, S. 4. 29 Christian Watrin, Soziale Marktwirtschaft - Was heißt das? (Dresdener Kathedralvorträge, H.3), Dresden 1990.
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der Planwirtschaft als überlegen erwiesen hatte. Die soziale Marktwirtschaft, die "bewußt auf dem Egoismus des Menschen aufbaut", setzt aber den privaten Eigentümer voraus. Um die Wirtschaft effektiv zu machen, um den menschlichen Egoismus als Triebkraft nutzen zu können, müsse das Volkseigentum privatisiert werden. Im Prinzip wurde davon ausgegangen, daß eine Form der Privatisierung hinsichtlich der zu erwartenden wirtschaftlichen Effekte so gut wie die andere sei und sich mit vollzogener Privatisierung durch das Eigeninteresse, den Eigennutz der Unternehmer, auch im Osten jener Wirtschaftsaufschwung wiederholen werden, den die Bundesrepublik nach der Währungsreform von 1948 erlebt habe. Der wirtschaftliche Aufschwung wurde in direkter Abhängigkeit vom Tempo der Privatisierung durch die THA gesehen. "Schnelle Privatisierungserfolge" seien die Voraussetzung für die Ingangsetzung eines zweiten Wirtschaftswunders im Osten. 30 2. Die Privatisierungsvarianten. Die Belegschaften ostdeutscher Betriebe sollten bald erfahren, daß die dogmenhistorisch fundierte Zusicherung, mit dem Ersatz des Gemeinnutzprinzips durch das Eigennutzprinzip werde die (Ex-) DDR-Wirtschaft rasch gesunden, wenig wert war. "Auch die soziale Marktwirtschaft jedoch ist nur eine Ordnungsform, keine praktische Lebenshilfe für Einzelfälle", mußte Treuhandchefin Birgit Breuel im November 1992 eingestehen. 31 Die Privatisierungsvarianten, die in Ostdeutsch land im Rahmen der Treuhandaktivitäten ausgedacht wurden, waren nicht dem Lehrbuch entnommen, sondern entsprangen den Vorstellungen der Politiker und der Treuhandmanager. Die tatsächlich realisierten Privatisierungsvarianten entsprangen vielfach dem Kopf der euphorisch als "Investoren" bezeichneten Käufer des Treuhandgutes. Bevor zunächst auf die von der Treuhand eingeschlagenen Wege der Privatisierung eingegangen wird, seien zunächst jedoch noch eine Daten zur Treuhandprivatisierung angeführt. Angaben zum Privatisierungsgeschehen: Von den laut Abschlußbericht der Treuhandanstalt zum 30. 12. 1994 privatisierten 6.546 Industrieunternehmen32 wurden - gemessen an der Beschäftigtenzahl und der Höhe der Investitionszu30 Theodor Waigel, Rede des Bundesministers der Finanzen anläßlich der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 23. Mai 1990 im Deutschen Bundestag, in: Der Staatsvertrag. Grundlage der deutschen Einheit. BerlinIBonn 1990, S. 87. 31 Birgit Breuel, "Der Winter kommt, auch ftlr die Treuhandanstalt". Eine Bilanz aus erster Hand, in: R. Liedkte, Treuhand, S. 87. 32 Es handelt sich um vollständig oder mehrheitlich privatisierte Gesellschaften, ohne Reprivatisierungen und Kommunalisierungen (Treuhandanstalt Informationen (THI) 21/1994, S. 4.)
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sage - bekanntlich 85% an Westdeutsche, 5 % an Ostdeutsche und 10% an Ausländer privatisiert. Gemessen an der Zahl der Gesellschaften gingen nach Treuhandangaben 65,5% der zu privatisierenden Einheiten an westdeutsche, 38 % an ostdeutsche und 5,5 % an ausländische Unternehmen. 33 Am 31. 12. 1994 wurden der Treuhand-Nachfolgegesellschaft "Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben" (BvS) noch ein Nettobestand von 192 zu privatisierenden Unternehmen übergeben. 34 Darunter befanden sich 63 ehemalige Großbetriebe, die in fünf Management-KG'en organisiert waren. 35 Zu den hier zu betrachtenden Unternehmen gehören weiterhin 1.588 reprivatisierte Gesellschaften. 36 Nicht eindeutig in der Statistik der Treuhand erfaßt sind die zahlreichen Privatisierungen durch Ausgründungen. Es dürften 5.900 gewesen sein. Bei den wenigsten von ihnen handelte es sich jedoch um produzierende (Industrie)Unternehmen. 37 Obwohl sich die THA vehement dagegen wehrte 38 , hat es Zurücknahmen und erneute Privatisierungen gegeben, d.h. Unternehmen wurden - oft aufgrund von Protesten der Belegschaften und Bittgängen der im Privatisierungsprozeß machtlosen Länderregierungen 39 - zurückgegeben. Es handelt sich in diesen Fällen also um Zweit- bzw. Drittprivatisierungen. Sie werden im folgenden generell als Mehrfachprivatisierungen gezeichnet. Diese kurzgefaßte Übersicht über das Privatisierungsgeschehen läßt bereits erkennen, daß nicht eine Privatisierung gleich der anderen war. Es läßt sich erahnen, daß je nach der Art der Privatisierung die wirtschaftlichen Aussichten für die neuen Privatunternehmen durchaus unterschiedlich sein würden. Darauf wird nunmehr näher eingegangen.
33 THI 19/1993, S. 9; 21/1994, S. 4.; Am 31. 12.1994 wurde die Nachfolgegesellschaft "Bundesanstalt fiir vereinigungsbedingte Sonderaufgaben" (BvS) gegriindet. '" THI 21/1994, S. 4, 31. 35 THI 1811993, S. 6-8. 16 THI 17/1992, S. 10. 17 "Bei den sogenannten Ausgriindungen handelt es sich um eine spezielle Form der Privatisierung durch die ehemaligen Betriebsteile bzw. Abteilungen des VEB, die nicht zum "Kernbereich" gehörten, einzeln an frOhere Leiter und/oder Mitarbeiter des Unternehmens verkauft wurden . ... ÜberflUssige Fertigungsstufen, eigene Dienstleistungskapazitäten und Sozialeinrichtungen, die fUr den VEB typisch waren, konnten auf diese Weise aus den Unternehmen herausgelöst und leichter privatisiert werden." (Peter Glotz, Sächsische Manager und Unternehmer in der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft, unveröffentlichtes Manuskript, Leipzig 1997, S. 4).
3' So hieß es in den Treuhandanstalt Informationen vom Juli/August 1993 noch einmal kategorisch: "Eine RUcknahme von Unternehmen lehnt die Treuhandanstalt grundsätzlich ab, auch wenn einigen Investoren dies nicht unlieb wäre"(THI 19/1993, S. 5). 19 Vgl. THI 1/1991, S. 11.
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3. Die Auswirkungen der Privatisierungsvarianten auf Stabilität und Entwicklungsperspektive der Unternehmen. Nimmt man die Anzahl der Industriebetriebe zum Maßstab, dann waren ostdeutsche Gründungen auf dem Wege des Management-Buy-Out (MBO) die häufigste Form der Privatisierung durch die Treuhandanstalt. Ihre Gesamtzahl wurde Mitte 1997 mit 2703 angegeben. 40 Ostdeutsche Manager, zum Teil auch Mitarbeiter, haben die Unternehmen, in denen sie bisher schon gearbeitet hatten, käuflich erworben. Das Problem waren die geringen Mittel, die die neuen Eigentümer einbringen konnten. Das Vermögen der Ostdeutschen bezifferte der Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Busch filr 1994 mit 25.000 DM pro Kopf oder 58.100 DM pro Haushalt. Das waren 27% bzw. 29% des durchschnittlichen Vermögens in den alten Bundesländern. 4\ Das eigene Vermögen reichte in der Regel bestenfalls zum Kauf des Betriebes und zur Einleitung von Modernisierungen. Für Durststrecken standen keine Reserven zur Verfligung. Durch das "zurückhaltend-destruktive Verhalten von Banken bei notwendiger Kreditaufnahme" war ein Ausgleich des Vermögensdefizits kaum möglich. 42 Das Ergebnis sind Sanierung und Modernisierung bei Kapitalmangel gewesen, notgedrungener Verzicht auf die Erschließung neuer Märkte und die Knüpfung von arbeitsteiligen Beziehungen zu anderen Kooperationspartnern und oft auch ein unfreiwilliges "Nein" zur Umgestaltung der Fertigung und der Einfilhrung neuer Erzeugnisse. 43 Viele MBO's gehören zu den instabilen Betrieben mit ungewisser Zukunft. Schaut man sich diejenigen an, denen es gelungen es, in der Wirtschaft festen Fuß zu fassen, dann konnten diese Unternehmen oftmals von Sonderbedingungen profitieren. Das betrifft Z.B. eine der erfolgreichsten und auch gefeiertsten MBO's, die Florena Cosmetic GmbH Waldheim-Döbeln. Abgesehen davon, daß sich die drei ehemaligen sozialistischen Leiter nicht scheuten, ihr ganzes Vermögen44 in den Betrieb einzubringen und angesichts der nunmehr marktwirtschaftlichen Geschäftsbedingungen ein hohes Maß an Lernfahigkeit bewiesen, profitierten sie davon, daß sie weiterhin Lohnveredlung filr ein west40 Management Buy-Out plus Management Buy-In (MB I) in 3.033 Fällen. Der Anteil der MBls betrug nach Angaben der Treuhand 10% dieser Privatisierungsfltlle. (Margaret HeckeI, Absurdes Thema - Manager aus Ost- und Westdeutschland ergänzen sich zu erfolgreichen Teams, in: WirtschaftsWoche 3/1994, S. 12; DT v. 27. 8. 1997). 4\ Ulrich Busch, Vennögensdifferenzierung und Disparität der Lebensverhältnisse im vereinigten Deutschland, in: Berliner Debatte INITIAL 5/1996, S. 116-117. 42 P. Glotz, Sächsische Manager, S. 3. 43 Vgl. Andreas Hoffmann, Wenn Kollegen zu Unternehmern werden, in: DT v. 23.8. 1997; Die Wirtschaft 35/1993, S. 10. 44 "Um den Kaufpreis des Unternehmens zu finanzieren, haben sich die drei Geschäftsfilhrer 'mit Haus und Hof verschuldet', denn an eigener Barschaft hatten sie nicht viel einzubringen." (Axel Gloger, Alter Kern mit neuem Drumherum, in: Privatisierte, S. 541).
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deutsches Unternehmen betreiben durften. Ihr Partner in der Gestattungsproduktion der 80er Jahre war die Beiersdorf AG in Hamburg gewesen, der NiveaProduzent. Die Produktion rur die Beiersdorf AG lief weiter, als der Absatz rur Ostprodukte 1990/91 generell ein Tief erreichte. Mit ,,8x4" und "Limara" wurde und wird ein bedeutender Teil der Kapazitäten des MBO in Dresden ausgelastet. 45 Die Haltung der Beiersdorf AG, die auch auf dem Gebiet des Marketing die Florena GmbH unterstützte, bezeichnete der Wirtschaftsjounalist Dietmar H. Lamparter in der "Zeit" als "eine Rarität in der deutschen Unternehmens geschichte".46 Ebenfalls überwiegend kleine Unternehmen gingen im Falle der Reprivatisierung auf einem zweiten Weg der Liquidation des Volkseigentums überwiegend an Ostdeutsche. Es handelte sich um DDR-Betriebe, die bis 1972 privat oder halbstaatlich geleitet wurden. Sie waren in einer "Umwandlungsaktion" gegen Entschädigung enteignet worden. 47 Auf den ersten Blick ist die Situation der reprivatisierten Unternehmen günstiger als die der MBOs, denn der Betrieb mußte nicht erst noch gekauft werden. Doch ähnlich den MBO bestand und besteht auch rur das restituierte Unternehmen die Hauptschwierigkeit im Kapitalmangel. Die alten und neuen Eigentümer bzw. deren Erben waren aufgrund von Kapitalmangel häufig gezwungen, ihre Firmen in Beteiligungsgesellschaften unzuwandeln oder Betriebsteile zu veräußern, um Mittel rur unbedingt erforderliche Investitionen zu erhalten. Vorteile gegenüber den MBOs ergaben sich rur die Reprivatisierten eher durch die Verrugbarkeit nutzbarer lokaler Netze, Rückgriffe auf traditionelle Erzeugnisse und bekannte Firmennamen. 48 So hatte der 1990 wieder in seine Eigentumsrechte eingesetzte Besitzer einer "Schnapsfabrik" mit 65 Beschäftigten, der Schilkin GmbH & Co. KG Berlin, Sergej Appolonowitsch Schilkin, moderne Verpackungs- und Etikettiermaschinen anschaffen müssen. In der Abrullung wurde, um wettbewerbsfähig zu sein, eine komplett neue Anlage mit höherer Leistung installiert. Drei weitere Produktionslinien waren vollständig zu modernisieren. Zur Verbesserung der Hygiene bedingungen waren die Fußböden, Decken und Wände zu sanieren. Die Aufwendungen beliefen sich bis 1995 auf 12 Millionen DM. 49 Sie haben sich offensichtlich gelohnt. Von 1991 bis 1994 stieg der Absatz von 54.000 auf 118. 000 Hektoliter. Der Bruttoumsatz erreichte 90 Millionen DM. 50
.~ Marcel Braumann, Aufschwung Ost selbstgemacht: Florena, in ND vom 15. 6. 1994. 46
Dietmar H Lamparter, Creme filr den Osten, in: Die Zeit 2/1994, S. 19.
Vgl. Jörg Roesler, Zwischen Plan und Markt Die Wirtschaftsreform 1963- 1970 in der DDR, Freiburg i. Br.lBerlin 1970, S. 102-109. 48 P. Glotz, Sächsische Manager, S. 4. 47
49 50
Claudia Schreyer, Wässerchen filr den Zaren, in: Privatisierte, S. 415. Wolfgang Mulke, Schilkin hat die Regale erobert, in: Berliner Zeitung (BZ) vom 6. 7. 1995.
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Zumindest im Durchschnitt bessere Aussichten, bei gesunder Kapitalgrundlage die ersten schwierigen Jahre nach dem Start zu überstehen, hatten diejenigen Betriebe, die von westdeutschen Unternehmen übernommen wurden. Der Löwenanteil ging an mittelständische Unternehmen, die die Finanzkraft, die erheblichen Modernisierungsinvestitionen aufzubringen, eher besaßen als die an Belegschaftsmitglieder privatisierten oder die restitutierten Treuhandunternehmen. Ein typische Beispiel ist die Halberstädter Würstchen und Konservenfabrik GmbH (halko). Das zu DDR-Zeiten renommierte Unternehmen, wurde im April 1992 vom Kaufinann und Metzgermeister Ulrich Nitsch aus Lehrte bei Hannover erworben. Er investierte in einen modemen Maschinenpark rur die Fleischzerlegung, die Verbesserung der Kältetechnik und die Elektroinstallation bis 1994 exakt 1,85 Mill DM. Das rekonstruierte Unternehmen steigerte bis 1996 seinen Umsatz von 30 auf 50 Mill DM . Mit den Halberstädter Würstchen hat es einen Marktanteil von 10 Prozent in Deutschland und liegt damit auf Platz Zwei. 51 Eine Zwischenstellung zwischen den (Re)-Privatisierungen an Ostdeutsche und die Übernahmen von Treuhandunternehmen durch Westdeutsche stellen die Management-Buy-Ins (MB I) dar. In diesen Fällen kaufte sich ein externer, meist westdeutscher Partner in das Unternehmen ein. Der Partner von außen wurde in der Regel wegen seines Kapitalbeitrages, aber auch wegen des Knowhows in Managmentfragen eine Bereicherung filr die übrigen, auf dem Wege des MBO zu Eigentümern gewordenen, Partner. Die Zahl der MBIs blieb angesichts der geschilderten günstigen Konstellation, Osterfahrung mit Westwissen und -finanzen zu verbinden, mit ca. 300 Fällen doch relativ unbedeutend. Das wirtschaftliche Gewicht der MBIs ist noch geringer, da vor allem Klein- und Mittelbetriebe diesen Weg der Privatisierung gingen. 52 Das wohl bekannteste Beispiel eines MBI ist die Sektkellerei Rotkäppchen GmbH in Freyburg/Unstrut. Bei dem im März 1993 privatisierten Unternehmen kauften sich neben filnf leitenden Mitarbeitern des Betriebes auch Harald Eckes und zwei weitere Privatpersonen der Familie Eckes ein, die Eigentümer der (1996) neuntgrößten deutsche Sektfabrik Eckes sind. 53 Die neuen Eigentümer haben bis 1997 über 30 Millionen DM in Modernisierung und Neubauten gesteckt. Mit über 30 Millionen Flaschen füllte die Freyburger Sektkellerei, die im Osten mit einem Absatzanteil von 30% eindeutig Marktfuhrer war, 1996 doppelt soviel Flaschen ab wie im Wendejahr 1989. 54 II Wo die Würstchen aus der Dose erfunden wurden, in: Die Wirtschaft 3/94, S. 31; DT vom 26.6.1997. l2 P. Glotz, Sächsische Manager, S. 3. l3 THl, 18/19933, S. 24; WirtschaftsWoche 1-2/1994, S. 4l. l4 Lothar Heinke, Mit rotem Kopfzur schwarzen Null, in: DT v. 16.2.1997.
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Ähnliche Aussichten auf eine Entwicklung mit Perspektive wie der Verkauf an westdeutsche bot der Verkauf an ausländische Unternehmer. Gemessen an der Anzahl der Privatisierungen führten Anfang 1994 nach einer Statistik der THA die Investoren aus der Schweiz vor Großbritannien, Österreich, Frankreich und den Niederlanden den Reigen der ausländischen Käufer an, gemessen an den Investitions- und Beschäftigungszusagen die Schweiz. Relativ viel Investoren kamen auch aus Kanada, den USA und den Niederlanden. 55 Zu den ausländischen Käufern gehörten aber auch Exoten wie die Firma Poly Products aus dem Sultanat Oman, die im Juni 1992 den Liegen-, Sessel-, und Matratzenhersteller Lisema GmbH aus dem sächsischen Frankenberg erstand oder die russische Sokolniki AG aus Serpuchow bei Moskau, die die Vereinigten Zellstoffwerke Pirna GmbH i. L. zur Produktion russischer Spezialpapiere in Pirna/Sa. für den symbolischen Preis von 1 DM erwarb und 200 Mill DM Investzusagen mit Kohleexporten bezahlte. 56 In der Treuhandstatistik je nach dem Sitz des headquarters entweder als (West)Deutsche oder Ausländer gezählt sind Investoren einer anderen Gruppe von Privatunternehmen, die sich in den neuen Bundesländern einkauften - die multinationalen Firmen. Bezüglich der Aussichten der von diesen in Ostdeutschland neu erworbenen Unternehmen auf eine stabile Entwicklung und gesicherte Perspektive befinden sich diese Betriebe wegen der Finanzkraft der Muttergesellschaft zweifellos in einer günstigen Lage. So wurde Z.B. die Warnowwerft in Rostock im Oktober 1992 vom aus Norwegen gebürtigen Multi Kvaerner übernommen, der über mehr als 60 Betriebe verfügt und dem neben 12 Werften auch Reedereien, Öl-, Ingenieur- und Baugesellschaften angehören. Die Konzernzentrale ließ 84 alte Gebäude der Warnowwerft wegreißen. So wurde Platz geschaffen für das neue 320 Meter lange Trockendock, auf dem Schiffe mit einer Tragfähigkeit bis zu 180.000 Tonnen auf Kiel gelegt werden können. Bis zur Fertigstellung des Kernstücks der modemen Kompaktwerft werden 555 Millionen DM ausgegeben sein. 57 Doch Sicherheit kommt nicht nur durch die Millioneninvestitionen von Kvaerner. Der Multi brachtet als größter Schiffbauer Europas alles mit, was für die Umstrukturierung der Werft notwendig war: "Know-how für den Bau von allen nur erdenklichen Spezialschiffen, weltweit gute Einkaufsmöglichkeiten durch die Konzerngröße sowie international hervorragende Marktkontake zu Maklern, Reedern und Lieferanten. Durch
55 56
THI 20/1994, S. 16. THI 17/1992, S. 21.
57 THI 12/1992, S. 18; lngeborg Vesper, Bald liegen 180.000 Tonner auf Dock, in: Die Wirtschaft 26/1994, S. 10; Thomas Wüpper, Fehlschläge kann sich Kvaemer an der Wamow nicht leisten, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 6.11.1993. ; ND vom 20.1. 1995.
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die umfangreichen Erfahrungen im Schiffbau ist zudem die Kooperation mit anderen Kvaerner-Werften möglich. ,,58 Die breite Palette der Herkunft der neuen Eigner ostdeutscher Industrieunternehmen macht deutlich, daß vielfach schon durch die Zugehörigkeit des Käufers zu unterschiedlichen Gruppen von Investoren wesentliche Vorentscheidungen für die Stabilität und Zukunftsperspektive der verkauften Unternehmen fielen. Von gleichen Startchancen durch Privatisierung konnte keine Rede sein. Wenig relevant dürfte es gewesen sein, ob ein Betrieb relativ rasch - also schon 1990/91 - oder erst 1994 und später privatisiert wurde. Untersuchungen dieser Art stehen zwar noch aus, aber der im folgenden vorgenommene Blick auf die Motive des Aufkaufs ostdeutscher Unternehmen bestärkt die Auffassung, daß Erfolgs- bzw. Mißerfolgsaussichten kaum durch die Geschwindigkeit der Privatisierung des Unternehmens, sondern vielmehr durch die spezifischen Eigenschaften des Käufers prädestiniert wurden. /II. Privatisierungsmotive der Treuhand und der neuen Eigentümer
1. Die Privatisierungsvorgaben der Treuhand. Wohl wissend, daß man nicht alles den "Wettbewerbern" als potentiellen Käufern und Investoren überlassen dürfe, hatte die Treuhandanstalt einen Verhaltenskodex und Zielstellungen für die Privatisierung entwickelt. Die THA verlangte vom Käufer die Modernisierung der Anlagen, die Ausweitung der (seit 1990 stark geschrumpften) Produktion im Ergebnis von Investitionen und Beschäftigungzusicherungen für die Kernbelegschaft. Mit einiger Verspätung 59 wurde ein System von Pönalen gegen jene Betriebe entwickelt, die ihre Zusagen nicht zu halten gewillt waren. 60 Das Sanktionssystem erwies sich als unzureichend, da die Betriebe sich mit Hinweis auf die ungünstige Konjunkturlage 1992/93 machte Westdeutschland die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte durch - und der Drohung, bei zusätzlichen Belastungen die Investition bzw. Produktion ganz einzustellen, von Zahlungsverpflichtungen freimachen konnten. 61 Hinderlich für die Wirksamkeit der Sanktionen war auch, daß die THA nur in Ausnahmefiillen bereit war, einmal privatisierte Betriebe wieder zurückzunehmen. Karin Gehrke, In WarnemUnde wird die Werft der Zukunft gebaut, in: Privatisierte, S. 274. Handelsblatt vom 9./10.7.1993. 60 Hans-Ulrich Küpper/Robert Mayr, Vertragsgestaltung und Vertragsmanagement der Treuhandanstalt, in: W. Fischer u. a., Treuhandanstalt, S. 315-316, 321-323. 61 Nach dem Stand vom Mai 1993 waren zudem nur 40% der Arbeitsplatzzusagen der Käufer pönalisiert. Ähnliches galt filr Investitionen. ( Vgl. Blickpunkt Treuhandanstalt. Auftrag, Tätigkeit, Folgen, Wiedergutmachung, BerlinIBonn 1994, S. 126-128). 58
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Im Unterschied zu den von der Treuhand propagierten Privatisierungszielen waren die wirklichen Motive der Käufer von Unternehmen nicht bekannt. Es lag aber z.T. auf der Hand, daß der Käufer nicht daran dachte, sich an die Treuhandziele zu halten. Das wurde oftmals von den an der schnellen Privatisierung interessierten Treuhandmitarbeitern geflissentlich übersehen. 62 In anderen Fällen ließen sich die tatsächlichen Kaufmotive erst rekonstruieren, nachdem das Unternehmen in Schwierigkeiten geraten war. Im folgenden wird eine Typisierung der am häufigsten vorkommenden tatsächlichen Kaufmotive vorgenommen, unterteilt nach ihrer Passfähigkeit in das vorgegebene Treuhandkonzept. 2. Die Kaufmotive der neuen Eigentümer.
Eines der Kaufmotive war die Ausweitung der Kapazität des Stammunternehmens. Oft geschah das mit dem speziellen Zweck der Belieferung des dazugewonnenen ostdeutschen Marktes. Ein typisches Beispiel war die Übernahme der Radeberger Exportbrauerei durch die zum Oetker-Konzern gehörende Binding-Gruppe im August 1992. Bereits 1993 erzeugte das rekonstruierte Unternehmen 880.000 Hektoliter des schon zu DDR-Zeiten begehrten Markenbieres. Damit war Radeberg im Osten Bier-Marktfiihrer vor Hasseröder und Lübzer Bier. 63 Wenn es auch die erste Position bis 1997 an Hasseröder abgeben mußte,6\ bleibt der Erfolg dieser Privatisierung doch unbestritten. Ein zweites, nicht ganz so weit verbreitetes Motiv für den Aufkauf ehemaliger VEB war die qualitative Erweiterung des Produktionssortiments des Unternehmens. Ein typisches Beispiel war der Kauf des (kräftig abgespeckten) ehemaligen Stamm betriebes des Fritz-Heckert-Werkzeugmaschinenbaukombinats in Chemnitz durch die Traub-AG aus dem baden-württembergischen Reichenbach. Traub hatte sich schon vor der Wende entschlossen, sein auf Drehen spezialisiertes Unternehmensprofil durch einen Hersteller des Bereichs Fräsen zu ergänzen. Ende 1993 fiel die Wahl des Unternehmens auf die Heckert Chemnitz Werkzeugmaschinen GmbH. Das Unternehmen wurde als Produktionsstandort verschiedener Drehmaschinen-Programme sowie als das Profitcenter einer zentralen mechanischen Fertigung für das Traub-Untemehmen vorgesehen. 65 Im Unterschied zu den beiden bisher genannten Privatisierungsmotiven war das folgende Kaufmotiv - die Schaffung von Modernisierungsbeispielen für die "alten" Konzernbetriebe - nicht sofort offensichtlich. Erst als die alten Werkhallen abgerissen waren und die rekonstruierten bzw. neuen Werke zu produzieren begannen, wurde ihre Funktion deutlich. Diese trifft in hohem Maße für 62
Blickpunkt, S. 104.
61
Ebenda, S. 99; BZ vom 10. 6. 1994.
64
ND vom 6.8. 1997.
6S
THI 20/1994, S. 8; Simon Klein, Ein gesunder Kern ist geblieben, in: Privatisierte, S. 43.
16 Eckart I Roesler
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die Opel AWE PKW GmbH Eisenach von General Motors und die Sächsische Automobil GmbH in Mosel des VW-Konzerns zu. "Diese neuen Fabriken", schreibt Mickler, "haben nicht nur radikal mit den alten staatssozialistischen Produktionsmustern gebrochen, sondern sie sind, die Stufen flexibler Automatisierung als der dominanten westdeutschen Rationalisierungsstrategie der 80er Jahre gleichsam überspringend, vom westdeutschen Management gezielt nach dem Paradigma der Schlanken Produktion gestaltet worden. Sie wurden von vornherein als Modellfabriken konzipiert und werden mit großem publizistischen Aufwand als Vorbilder effizienter Fertigung rur die in Westdeutschland recht schwerflillig in Gang kommende Reorganisation der großen Autofabriken gehandelt. "66 Leicht von Anfang an nachzuvollziehen war dagegen das Motiv einiger westdeutscher und ausländischer Unternehmen, sich in der DDR Brückenköpfe nach Osteuropa zu schaffen. Allgemein bekannt war in westdeutschen Wirtschaftskreisen, daß die DDR der wichtigste Außenhandelspartner der Sowjetunion im Rahmen des RGW war. Nach Berechnungen des Instituts rur Angewandte Wirtschaftsforschung, Berlin, betrug der Anteil des Osthandels am Gesamthandel der DDR in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zwischen 51 % und 56%.67 In einzelnen Industriebetrieben lag der Prozentsatz der SW- Exporte 68 weit höher. Als diese Unternehmen von der THA zur Privatisierung angeboten wurden, lag es rur die Käufer nahe, sich über den Erwerb der ostexportintensiven Betriebe den Zugang zu den sowjetischen Märkten zu verschaffen. Ein Beispiel ist die Übernahme des größten ostdeutschen PoleurithanProduzenten in Schwarzheide durch die BASF bereits zum 1.1 0.1990. Es waren die Ostmärkte, die den raschen Kauf der BASF Schwarzheide GmbH bewirkten. Doch die Rechnung ging nicht auf. Bereits zwei Monate nach dem Erwerb des Unternehmens lief die Zusage der Bundesregierung, den transferablen Rubel, der in den RGW-Ländern eingenommen wurde, zu einem günstigen Kurs in DM umzutauschen, aus. Die im Osten erwarteten zahlungsfähigen Käufer von Polyurethan blieben aus. 69 Ähnlich erging es Siemens. Die Firma glaubte sich mit dem mit dem Kauf des VEB Numerik Karl-Marx-Stadt einen wichtigen Brückenkopf in den Osten geschaffen zu haben. Zwar hatte der Alleinhersteller mikroelektronischer SteueO. Mickler, Chancen und Hemmnisse, S. 226. Wirtschaftsreport. Daten und Fakten zur wirtschaftlichen Lage Ostdeutschlands, Berlin 1990, S.265. 66
67
6. SW = sozialistische Welt. Exportgebiet in der offiziellen DDR-Bezeichnung filr die Staatshandeisländer. Für Länder, mit denen der Handel auf der Basis von Devisen durchgefilhrt wurde, war das Kürzel NSW (nicht sozialistische Welt) gebräuchlich. Das NSW umfaßte die westlichen Industrieländer und die Entwicklungsländer. 6. Thomas Biskupek, Flucht nach vom, in: Privatisierte, S. 51.
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rungen in der DDR "nur" einen Exportanteil von 40% in den Osten. Aber durch die langjährige Belieferung aller sowjetischen Taktstraßen der Automobilindustrie besaß das Unternehmen in der Sowjetunion eine strategisches Exportfeld. 70 Siemens machte es sich einfach: Auf die Schaltschränke der Numerik GmbH Karl-Marx-StadtiChemnitz wurde das Siemens-Label geklebt und ab ging die Lieferung in den Osten. Aber am 31.12.1990 war es mit dem schnellen Geschäft und mit dem Brückenkopf in den Osten Schluß. Erwiesen sich die Brückenkopfe aus der (Ex-)DDR nach Osteuropa rasch als Flop und brachten die so motivierten Käufe für die unter diesem Zeichen eingekauften ostdeutschen Betriebe ein großes Maß an Unsicherheit, so erwies sich eine andere Brückenkopfidee als dauerhaft und für die zum Zweck ihrer Errichtung aufgekauften Betriebe als günstig. Es handelt sich um die Schaffung von Brückenköpfen nach Deutschland bzw. in die Europäische Union von außerhalb. Die Unternehmen, die diesen Schritt unternahmen, flillten eine strategische Entscheidung. Sie hatten nicht in erster Linie das Ziel, mit den erstandenen Betrieben rasch Profit zu machen. Die Brückenkopf-Stratregie gab den unter diesem Ziel erworbenen Betrieben mehr Zeit und mehr Rekonstruktionsmittel als bei manchen anderen Arten von Aufkäufen üblich. Ein Beispiel für eine derartige "strategische Übernahme" war der Kauf der Wamowerft durch das multinationale Kvaerner-Unternehmen. "Wir sind weltweit vertreten, aber bislang nicht im Zentrum Europas", erläuterte der Leiter der Kvaerner Wamow Werft GmbH die Konzernstrategie. "Wir brauchten einfach eine strategisch wichtige Stellung in der Mitte Europas, deshalb haben wir die Wamow Werft gekauft."71 Eine der jüngsten Brückenköpfe ausländischer Konzerne in den neuen Bundesländern entstand mit der Übernahme des ehemaligen Starnmbetriebes des "Fortschritt" Landmaschinenkombinates in NeustadtISa. durch den USamerikanischen Hersteller von Bau- und Landmaschinen Case Corporation im September 1997 im Ergebnis einer Mehrfachprivatisierung. Das Unternehmen betrachtet den Kauf als eine "strategische Übernahme", um seine Präsenz in Europa auszubauen. Es verfügt mit dem Aufkauf der nunmehrigen Case Erntemaschinen GmbH über acht Produktionsstätten in Europa, vor allem durch Zukäufe in den letzten Jahren. So erwarb das Unternehmen im August 1996 die Steyr Landmaschinen, einen österreichischen Traktoren-Hersteller und im Juni 1997 die Gern Sprayer Ltd, einen britischen Produzenten von landwirtschaftlichen Spritzen. Case will in Europa zukünftig die komplette Linie von Landma-
'0 Betriebsarchiv Numerik GmbH, Produktionsstatistik, BI. 20. 71
16*
K. Gehrke, In WarnemUnde, S. 273.
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schinen anbieten, und dabei soll die Neustädter Erwerbung eine wichtige Rolle spielen. 72 Gleich zwei ausländische Konzerne sahen in der Mitteldeutschen Baunkohle AG (Mibrag), für die sich bis 1992, anders als für das Lausitzer Schwesteruntemehmen Laubag, kein bundesdeutsches Unternehmen interessiert hatte 73 , den Brückenkopf nach Deutschland bzw. die Europäische Union: Die Power Gen Birmingham, das zweitgrößte britische Energieunternehmen und die amerikanische NRG Energy, eine 100 prozentige Tochter der Northern State Power Company, die zu den 25 größten Energieversorgern in den USA zählt." Die fast ein Jahr andauernden Exklusivverhandlungen der Treuhand mit diesen beiden Interessenten setzten die deutschen Verstromer unter Hochspannung. Denn plötzlich stießen ausländische Energiekonzerne auf einen Markt, auf dem die deutschen Unternehmen bisher unter sich sind," kommentierte die Wirtschaftsjournalistin Ute Semkat 1994 die Aktivitäten der beiden ausländischen Unternehmen. 74 Ein auf den ersten Blick wenig "geschäftsmäßiges" Motiv für den Aufkauf von ostdeutschen Unternehmen im Rahmen der Treuhandprivatisierung war das Bestreben, einem traditionsreichen Unternehmen sein Profil zu erhalten. Als Käufer mit diesem Motive in Frage kamen natürlich in erster Linie Personen in Frage, die dieses Unternehmen, bevor es in einen VEB umgewandelt worden war, entweder selbst besessen hatten oder aus der Familie der früheren Besitzer stammten. Das Motiv war deshalb am ehesten bei Restitutionen anzutreffen. So war es auch im Falle der Schilkin GmbH & Co. KG. "Der heute 80jährige Seniorchef Sergej Schilkin weiß bis heute nicht recht, welcher Teufel ihn geritten hat", berichtete ein Reporter im Jahre 1995 über die Firma und ihren Chef. "Fast zehn Jahre nach seiner Pensionierung wurde der Gründer der Spirituosenfabrik 1990 bei der Treuhandanstalt vorstellig. Der gebürtige Russe wollte seine 1972 enteignete Familienfirma zurückerhalten und in die Marktwirtschaft herüberretten. ,,75 Ganz gezielt dagegen hat sich bereits im Mai 1990, noch unter der letzten DDR-Regierung, der Amerikaner John H. Noble, um sein Erbe, das nach 1945 verstaatlicht worden war, bemüht. Er war der Sohn von Charles A. Noble, einem Deutschamerikaner, der 1938 in seine Heimat zurückgekommen war, die Kamera-Werkstätten in der Niedersedlitzer Straße in Dresden erworben und die auch zu DDR-Zeiten noch geschätzte "Practica" entwickelt hatte. Der Sohn 72
1997.
Lathar Brunsch, Ein leicht rosa gefhrbtes Jahr, in: Kombinate, S. 219-220; DT vom 8. 10.
71 THI 16/1992, S. 21; THI 17/1992, S. 17. 7. Ute Semkat, Vom Schmuddelimage befreit, in: Privatisierte, S. 341-342. 75
W Mulke, Schilkin.
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begann 1991 in dem wieder familieneigenen Gebäude in der Niedersedlitzer Straße, wo das foto-optische Kombinat Pentacon seine Forschungs- und Entwicklungsabteilung untergebracht hatte, mit der Firma Kamera Werke Noble GmbH Dresden zu produzieren. Im Jahre 1992, dem Jahr der offiziellen Restitution, entwickelte er eine neue Kamera, die Noblex Pro 061150, die seitdem mit Erfolg verkauft wird. 76 Nicht so unmittelbar wie bei Schilkin oder bei den Nobles waren die Beziehungen zwischen altem und neuem Chef im Falle der Restitution der Wernesgrüner Brauerei AG. Die nach Hasseröder und Radeberger Bier drittgrößte ostdeutsche Brauerei gehörte bis 1972 mehrheitlich (zu 51 %) der Familie Männel. Die übrigen Anteile waren "normal" zu privatisieren, d.h. wurden westdeutschen Brauereien angeboten, von denen die Brau und Brunnen AG Dortmund einen begehrlichen Blick auf die Wernesgrüner Produktionsstätte warf. Brau und Brunnen wollten in Wernesgrün neben dem Markenbier auch Massensorten brauen. Das war für Christian Wolf, Textilkaufmann und Ururenkel des Gründers, Anlaß, die Familienmitglieder auf die Realisierung ihres Restitutionsanspruches einzuschwören. "Aus einem Hahn sollte unser gutes Wernesgrüner und aus dem anderen Billigbier fließen - das wäre nie und nimmer gutgegangen. Die hätten uns in vier Wochen die Marke kaputtgemacht." Es gab einen langen Streit mit der Brau und Brunnen AG um die begehrte Marke, bevor die THA den Restitituionsansprüchen der Männel-Erben im Juni 1994 gegenüber dem nordhein-westflilischen Brauereikonzern den Vorzug gab. 77 Bei den fünf bisher aufgeführten Privatisierungsgründen handelt es sich durchweg um honorige Motive im Sinne der Ziele der Treuhandanstalt. Eigennutz geht aber nicht nur empfohlene, angeordnete oder erlaubte Wege. Das mußte die THA bald erkennen. Im Januar 1991 sah sich die THA gezwungen, eine Stabsstelle "Besondere Aufgaben" unter dem Wirtschaftsstaatsanwalt Dr. Hans Richter einzusetzen. In einem Interview vom Oktober 1992 berichtete er aus seiner Tätigkeit. "Die schwierigsten Fälle sind eben nicht 'Langfinger', die mal eben in die Kasse greifen. Es sind kriminelle Berater oder Investoren, die mit Geschäftsführern unserer Unternehmen durch Gründung einer Vielzahl von Tochtergesellschaften im In- und Ausland, durch schwer bewertbare Technologie-Transferverträge, Beraterverträge, Franchise- und Leasingverträge u. ä. das Firmenvermögen aushöhlen, Kapital für den Erwerb der Unternehmen aus ihr selbst ansammeln und noch InvestitionsfOrderungen für die zu erwerbende Un-
16 Friedrich von Schleinitz, Ein Amerikaner in Dresden, in: Die Wirtschaft 5/1993, S. 16; Siegfried Tamm, Positive Kapazitätsprobleme, in: Privatisierte, S. 461-463. 11 Peter Krinich, Der WernesgrUn-Erbe trank frUher nur Orangensaft, in: BZ vom 10.6. 1994; Die Wirtschaft 25/94, S. 10; Ralf Hübner, Auf dem Weg zu einer nationalen Marke, in: DT vom 20. 10. 1996.
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ternehmung fordern.,,7B Nach der Anzahl der Fälle war die häufigste Betrugsart (Anteil 20%) die "Untreue durch Aushöhlungsverhandlungen, Gründungsschwindel" .79 Wie diese Art der Betriebsausplünderung funktionieren konnte, dafiir sei das Beispiel der MetalIguß AG FinsterwaldelBrandenburg vorgestellt. Der neue Eigentümer hatte die Produkte von MetalIguß über eine Gesellschaft vertrieben, die ihm ebenfalls gehörte. Diese Firma verkaufte die Produktion des Metaligußwerks allerdings unter ihrem Marktwert, schrieb fiir ihre Leistungen jedoch hohe Rechnungen aus. Als Folge rutschten die Bilanzen von MetalIguß in den Keller, während die Profite der Vertriebsfirma in die Höhe schnellten. 1995 kam es zum Konkurs. Bereits seit 1993 hatten die Mitarbeiter der MetalIguß AG auf viele Lohnleistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichtet. Nach dem Konkurs des Unternehmens hatten die ehemaligen Mitarbeiter - im Unterschied zur bayrischen Hypobank, deren Forderungen von 4,5 Million Mark durch Sicherheiten auf Grund und Boden weitgehend abgedeckt waren - kaum Aussicht, wenigstens noch ihren ausstehenden Lohnanteil zu erhalten. Bo Nur ein Prozent der vom Wirtschaftsstaatsanwalt in der THA aufgedeckten Fälle fielen unter die Kategorie "Mißbrauch im Subventionsbereich". Wie das im Frühjahr 1996 bekannt gewordene Beispiel der Bremer Vulkan Verbund AG zeigt, kam diesem (im Sinne der Treuhandmotive) unredlichen Verhalten, wenn man den Umfang des Betruges in DM mißt, anteilmäßig größere Bedeutung zu. Die Muttergesellschaft hatte 1993 ca. 136 Mill. DM, 1994 sogar 536 Mill. DM und 1995 nochmals 192,1 Mill DM vertragswidrig von ihren Töchtern, den von ihr übernommenen Werften in Stralsund (Volkswerft Stralsund), Rostock (Neptun Werft) und Wismar (MTW-Schiffswerft) abgezweigt und für die Stützung leistungsschwacher Betriebe des Vulkanverbundes in Westdeutschland verbraucht. BI Wegen der Größe der Summe berichteten über den Subventionsmißbrauch des Vulkanverbandes fast alle Zeitungen. Die "kleinen" Fische gingen dagegen fast kommentarlos über die Bühne. Es bedurfte des in dem von Arbeitslosigkeit geschüttelten Ostdeutschland bemerkenswerten Schrittes einer Protest-Selbstkündigung der 52 Beschäftigten der Döbelner Möbelwerk GmbH, um auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß von den 2,7 Millionen DM, die die Mitte 1994 für eine DM an den nordrhein-westfälischen Unternehmer Reinhold Bart78 THI 16/1992, S. 5. 7. Stand vom 31. 7. 1992 ;THI16/1992, S. 5. 80 ND vom 18.12.1995. 81 Ostdeutsche Vulkan-Werften vor der Verstaatlichung, in: BZ vom 25.3.1996; Claudia Schreyer, Wir wollen unsere Millionen zurOck, in: ND vom 28.3. 1996; Wolfgang Rex, Ob CDU oder SPD - alle tanzen mit auf dem Vulkan, in: ND vom 23. 4. 1996.
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ling verkaufte Produktionsstätte von der Treuhand als Anschubfinanzierung erhalten hatte, laut Aussagen des Betriebsrates bis Ende 1995 "nicht eine Mark" in den Betrieb geflossen war. 82 Weitere Motive rur den Erwerb von Treuhandbetrieben entsprachen zwar nicht den Vorstellungen der THA, zählten aber auch nicht zu den 10 von der Treuhandanstalt registrierten Gruppen von kriminellen Delikten. Diese Motive passen andererseits teilweise sehr gut, teilweise aber überhaupt nicht in die Lehrbuchvorstellungen von unternehmerischer Tätigkeit und Tüchtigkeit. Nicht einmal der nach der Wende viel zitierte Joseph Alois Schumpeter, der den "dynamischen Unternehmer" in den Mittelpunkt seiner wirtschaftswissenschaftlichen Theorien stellte,83 hatte sich träumen lassen, daß einmal ein wesentliches Motiv rur die Gründung eines Industrieunternehmens die Angst vor der drohenden Arbeitslosigkeit sein würde. Tatsächlich aber ist die Furcht vor dem Arbeitsplatzverlust eine wesentliche Triebkraft gewesen, durch ein Management-Buy-Out aus der Klasse der Arbeitnehmer in die Klasse der Arbeitgeber zu wechseln. 84 Der Wettbewerb wird in allen Lehrbüchern über die Marktwirtschaft ob seiner belebenden und effizienzsteigernden Wirtschaft gepriesen. Dabei wird in der Regel übersehen, daß Konkurrenz sich nicht im "lauteren Wettbewerb" erschöpft. Am Beispiel verschiedener Treuhandprivatisierungen läßt sich erkennen, daß das Konkurrenzmotiv recht ambivalente Ergebnisse zum Ergebnis haben kann. Ein Beispiel rur die Verhinderung von Konkurrenz durch Aufkauf eines potentiellen (und potenten) Wettbewerbes bietet die Privatisierungsgeschichte des Akkordeonherstellers Harmona GmbH KlingenthalNogtland. Mit Matthias Hohner gehörten drei der vier Gesellschaften des 1992 privatisierten Unternehmens früher zur Führungsmannschaft des Harmona-Konkurrenten Hohner AG im schwäbischen Trossingen. Die Gesellschafter erhielten den größten Akordeonhersteller der DDR ftlr nur 630.000 DM. Die Belegschaftsmitglieder hatten rur ein MBO der Treuhand mehr geboten. Allein der Wert der Maschinen und Anlagen des Klingenthaler Unternehmens belief sich nach Angaben des Nach82 83
1912.
ND vom 19. 1. 1996. Vgl. Joseph Alois Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, MUnchenlLeipzig
84 "Eine Untersuchung im Auftrag des bundeswirtschaftsministeriums ... ergab, daß bei den meisten MBOs der Wunsch nach Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes und der Arbeitsplätze der Mitarbeiter im Vordergrund steht und nicht so sehr das Ziel der unternehmerischen Selbständigkeit" ( Jürgen Müller/Georg Merdianl Donat von Müller, Strukturelle Auswirkungen der Privatisierung durch die Treuhandanstalt, in: Wolfram Fischer u.a. Treuhandanstalt, S. 397-398) Vgl. auch: Hans Dietrich, Selbständige in den neuen Bundesländern. Strukturen und Mobilitätsprozesse, in: Rainer Geißler (Hg.), Sozialer Umbruch in Ostdeutschland, Opladen 1993, S. 215.
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richtenmagazins "Der Spiegel" auf 30 Millionen DM. Zusätzlich bewilligte die THA den neuen Eigentümern ein Sanierungszuschuß von 2,4 Mill DM, nachdem die Gesellschafter für 102 Mitarbeiter eine Beschäftigungsgarantie gegeben hatte. Die Harmona GmbH geriet im Mai 1995 in Liquiditätsschwierigkeiten. Bis Oktober reduzierte sich die Zahl der Mitarbeiter auf 59. Das sächsische Wirtschaftsministerium sprach von einer "gescheiterten Privatisierung". Mit dem Niedergang der Klingenthaler Akkordeonfabrik stiegen, welch ein Zufall, die Chance des Werkes in Trossingen wieder. Im Oktober 1995 schrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung, "das veraltete und unrentable Werk" in der Trossinger Innenstadt habe endlich ersetzt werden können. Die Käufer der Harmona GmbH von 1992 hatten sich aber bereits im Frühjahr 1995 aus dem vogtländischen Musikwinkel verabschiedet. Die (Erst) Privatisierung hatte offensichtlich ihren Zweck erfüllt. 85 Ging es im Falle der Harmona GmbH um den Aufkauf eines Wettbewerbers, der als MBO der Trossinger Hohner AG auf dem Weltmarkt durchaus hätte Schwierigkeiten bereiten können, so stand für das Zeiss Unternehmen diese Variante zunächst nicht zur Debatte. Dazu war die im Juli 1990 aus dem ehemaligen Zeiss-Kombinat gebildete Jenoptik Carl Zeiss Jena GmbH mit damals 30.000 Beschäftigten viel zu groß. Hoffnungen der Jenenser, daß ihre frühere Ausgründung, die nunmehrige "Mutter" Carl Zeiss Oberkochen in BadenWürttemberg den Jenaer Stamm betrieb übernehmen würde, erfüllten sich zunächst nicht. In Oberkochen wurde die Jenaer Produktionsstätte eher als störend empfunden. Nur die Furcht, daß das Unternehmen an die japanischen Konkurrenten verkauft werden könnte, ließ Zeiss West einwilligen, jene Bereiche des ehemaligen Kombinats in Jena, die Parallelproduktionen zum Oberkochener "Stammgeschäft" waren, also Mikroskope, Fernrohre, Teleskope, Planetarien, medizinisch-optische Geräte, industrielle Meßtechnik und Instrumente zur Erdvermessung, zu übernehmen. Kaufen brauchte es seinen Anteil an der neugebildeten Zeiss Jena GmbH für die übernommenen 51 % sowieso nicht. Der "Rest" des ehemaligen Kombinats mit Produktionen von Feldstechern, Leiterplatten, Rationalisierungstechnik u. mehr, kurz jene Produktionen, die nicht zum "Stammgeschäft" von Oberkochen gehörten und dem schwäbischen Unternehmen auch keine Konkurrenz sein konnten, verblieben als Jenoptik GmbH zunächst in den Händen des Landes Thüringen. Die Leitung dieses Unternehmens übernahm der ehemaligen baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth. 86 Im Falle der Harmona GmbH bzw. des ehemaligen Zeiss-Kombinates hatten die westdeutschen Firmen mit gleichem Produktionsprofil ihre potentiellen 85
ND vom 9.10.1995, ND vom 31. 10.1995.
Wolfgang Bohn, Das erste High-Tech-Val1ey der Geschichte, in: Kombinate, S. 175-177; Die Welt vom 9. 3. 1991; Frankfurter Al1gemeine Zeitung (FAZ) vom 14. Juni 1991. 86
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Konkurrenten sofort bzw. mit beträchtlicher Verzögerung erkannt und durch den Kauf der Unternehmen verhindert, daß der Wettbewerber ihnen gefährlich werden konnte. Im Falle der Foron Hausgeräte GmbH Niederschmiedeberg hatten sich die westdeutschen Unternehmen nicht träumen lassen, daß ihnen aus dem Stammbetrieb des größten DDR-Haushaltsgerätekombinates ein Konkurrent auf dem Waschgerätesektor entstehen könnte. Die Niederschmiedeberger entwickelten mit Hilfe der Umweltorganisation Greenpeace in wenigen Monaten den weltweit ersten FCKW- und FKW-freien sowie recylebaren Kühlschrank. Das verblüffte die filhrenden westdeutschen Firmen auf dem Waschgerätesektor, AEG, Bosch, Bauknecht, Elektrolux, Liebherr, Miele und Siemens, die die Foron GmbH, die zudem von der THA schon fast fallengelassen worden war, nicht Ernst genommen hatten. Siemens und Bosch hatten direkte Angebote der Treuhand an sie, Foron zu übernehmen, dankend abgelehnt. Nun aber wachten sie auf. Sie "chlorreichen Sieben" organisierten eine gemeinsame Flugblattaktion und verschickten an die 17.000 Kühlschrankhändler Informationen über den neuen Kühlschrank der Foron GmbH mit diskriminierenden Vorwürfen. So sollte das benutzte Kühlgemisch brennbar und der Energieverbrauch um 40 Prozent höher sein als bei "normalen" Kühlschränken. Beide Vorwürfe hielten einer Überprüfung nicht stand. 87 Die "chlorreichen Sieben" verfUgten aber über einen zweiten Pfeil im Köcher. Sie hatten sich seit Jahren auf den Austausch des chlorhaitigen FCKW durch FKW vorbereitet. Jetzt verstärkten sie ihre Entwicklungen. "Wir hofften auf drei Jahre Vorsprung", sagte das Mitglied der Geschäftsleitung von Foron, Siegfried Schlottig, im Oktober 1995. Aber es blieb den Niederschmiedebergern nur ein Jahr. Dann waren auch Bosch, Siemens und die anderen soweit. Die neuen FCKW und FKW freien Kühlschränken mit den vertrauten Marken erschienen auf dem Markt 88 Aber es ging nicht nur um fairen Wettbewerb. Schließlich war Foron, als es den neuen Kühlschrank herausbrachte, noch ein Treuhandunternehmen. "Die Altkonzerne nutzte jede Möglichkeit, den Konkurrenten aus dem Osten auszuschalten. Weitere Versuche der Privatisierung schlugen fehl. Investmentbanken investierten nicht eine müde Mark. Gespräche mit Samsung wurden von Siemens torpediert. Der türkische Konzern Koc sprang ohne Angabe von Gründen
Klaus Morgenstern, Einer allein gegen die "chlorreichen Sieben", in: Privatisierte, S. 264. Th. Falkner, Absturz, S. 185-191; Marcel Baumann, Siegt die Qualität Ober die KonzemInteressen? in: ND vom 24.6. 1994; 87 RB
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ab."S9 Schließlich warf der niederländische Fahrrad- und Haushaltsgerätehersteller Atag für die Foron GmbH den Rettungsanker. 90 3. Der Einfluß der Kaufmotivation auf Stabilität und wirtschaftliche Aussichten der Betriebe. Wenn wir die Kaufmotive nach ihrem Einfluß auf die Stabilität und Entwicklungsperspektive der privatisierten Betreibe beurteilen, ergibt sich folgende Skala: Die schlechtesten Aussichten hatten jene ehemaligen VEB, die zum Zweck der Ausplünderung und des Subventionsbetrugs von privaten "Investoren" übernommen wurden. Keine guten Aussichten hatten diejenigen Betriebe, die zur Verhinderung von Konkurrenz aufgekauft wurden. Zur gleichen Gruppe gehört auch das Kaufmotiv der Flucht vor dem drohenden Arbeitsplatzverlust. Keiner der häufig interviewten Geschäftsführer der wirklich erfolgreichen MBO hat die Flucht vor der Arbeitslosigkeit als ursprüngliches Motiv seines Wechsels vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber angegeben. Charakteristisch ist die Bemerkung von Fritz Hellfritzseh, einem der drei Florena-Manager, der, gefragt, warum er Unternehmer wurde, antwortete: "Nicht als Arbeitsplatzsicherung, das wäre nämlich ein ungenügendes Motiv".91 Zu den Unternehmen, die keine guten Aussichten hatten, gehörten auch die Brückenköpfe aus der Ex- DDR in den Osten. Der Zusammenbruch der Ostmärkte stellte die neuen Besitzer vor die Frage, ob sie unter den geänderten Umständen für den übernommenen Betrieb ein ganz neUeS Konzept entwickeln oder auf die weitere Existenz des Unternehmens verzichten sollten. Bei der Numerik GmbH führte der Verlust der Ostmärkte zu langem Siechtum. Siemens, 1990 noch stark an einer gemeinsamen Fertigung von mikroelektronischen Steuerungen für Werkzeugmaschinen interessiert, behielt von dem einstigen Ausrüster für elektrotechnische und elektronische Geräte schließlich nur die Starkstromtechnik (Fabrikation von Schaltungen, die Ursprungsproduktion des ehemaligen Starkstromanlagenbaubetriebes und späteren Produzenten mikroelektronischer Steuerungen). Die Forschung zu mikroelektronischen Steuerungen wurde nach Erlangen/Bayern verlagert. Das Unternehmen dümpelte als Kiremun GmbH (Numerik von hinten gelesen) bis 1997 vor sich hin und befindet sich in der Gesamtvollstreckung, dem ostdeutschen Bankrott. 92
8. Rosi Blaschke, Foron nicht eingefroren, in: ND vom 18. 10. 1996; Vgl. auch: Steigt türkischer Konzern ein? in: Die Wirtschaft 29/95, S. 8. "" ND vom 22.7.1996. 91 ND vom 15.6. 1994. 92 Jürgen Kreher, Über 20 Jahre Fertigung von Kartenbaugruppen, in: Kontakt, 11/1990, S. 2; Interview von Hans Brand, ehemaliger technischer Direktor des VEB Numerik durch den Autor
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Anders erging es der BASF Schwarzheide GmbH,als sich das Hauptprodukt des Chemiebetriebes, Poleurethan, nicht mehr in Osteuropa absetzen ließ. Das war aber nur darauf zurückzufUhren, daß man sich im BASF Headquarters in Ludwigshafen entschloß, die fUr das italienische Cesan Maderno vorgesehene Styrodur-Produktion nach Ostdeutschland zu verlagern und auf die geplante Errichtung einer Lackfabrik in Würzburg zu verzichten, um beide Produktionen am günstiger gelegenen Standort in der Lausitz aufzubauen. 93 Gute Aussichten hatten diejenigen privatisierten Unternehmen, bei denen es den Käufern in erster Linie um die Produktion, z.B. um die Steigerung der Erzeugung fUr die neu gewonnen Märkte ging, wie im Falle der Brauereien von Radeberg und Wernesgrün, aber auch wie im Falle des Textilpoduzenten Schießer. Die Schießer AG aus Radolfzell am Bodensee kaufte drei Betriebe des einstigen DDR-Kombinats Trikotex in Wittgensdorf, Niederfrohna und Oberlichtenau auf. Das baden-württembergische Unternehmen investierte 50 Millionen DM damit die hinzugekommenen Produktions stätten auf dem hart umkämpften Textilmarkt mithalten konnten. Aber bei reiner Kapazitätsausweitung verblieb in diesem Falle wie generell bei Privatisierung zum Zweck ausschließlicher Produktionsausweitung noch ein beträchtliches Moment der Unsicherheit. Schließlich läßt sich das Sortiment der Schießer Sachsen AG auch im benachbarten Tschechien herstellen, wo die Löhne fUr Näherinnen nur einen Bruchteil des Verdienstes der sächsischen Texilarbeiterinnen betragen und die Produktivität bereits 1995 fast 90% der Schießer-Norm erreichte. 94 Konnte die Privatisierungsentscheidung zum Zwecke einer Produktionsausweitung eine relativ kurzfristig getroffene Entscheidung nach Analyse der Konjunkturlage sein, so liegt im Falle der Erweiterung des Produktionssortimens in der Regel eine strategische Unternehmensentscheidung vor. Ein gutes Beispiel dafUr war die Privatisierung der Malimo-Maschinenbau GmbH. Im Dezember 1992 übernahm ein weltweit agierendes mittelständisches Unternehmen aus Hessen, die Karl Mayer Textilmaschinenfabrik GmbH Obertshausen das Chemnitzer Unternehmen mit dem Ziel, durch die Konzentration des neuen Zweigbetriebes "auf die Entwicklung von Maschinen fUr die Herstellung technischer Textilien und von Maschinen fUr die lose Faservliesverarbeitung", mit anderen Worten, durch die Konzentration auf die Nähwirktechnik des DDRErfinders Mauersberger9s, eine eigenständige Produktionsgruppe innerhalb der vom 7. 10. 1992; Auskunft von Professor Arnim Rußig, ehemaliger Leiter des Forschungszentrum fIlr Werkzeugmaschinen, Karl-Marx-Stadt, gegenüber dem Autor vom 17. 10.1997. 93 Th. Biskupek, Flucht nach vom. S. 51-52. 94 Manfred Schulze, Die neuen Maschen aus Sachsen, in: Privatisierte, S 85- 90; ders., Schnel1e Eingreiftruppe legt zu, in: Die Wirtschaft 27/1995, S. 8; ND vom 6. 12. 1993. 95 Vgl. Jörg Roesler, Mauersbergers Malimo. Legenden und Tatsachen um eine originäre DDR-Innovation (hefte zur ddr-geschichte 48), Berlin 1997.
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Karl-Mayer-Gruppierung aufzumachen. Von 1996 bis 1997 wurde für das in der Chemnitzer Innenstadt beengte Unternehmen "auf der grünen Wiese" ein Produktions- und Finnengebäude für 35 Mill DM errichtet. 96 Beste Aussichten aber hatten diejenigen ostdeutschen Betriebe, die dazu ausersehen wurden, Modernisierungsbeispiele innerhalb eines meist international agierenden Konzerns zu werden. Die Stabilität dieser Unternehmen ist deshalb so groß, weil der Konzern selbst dann, wenn er vorübergehend in Schwierigkeiten gerät, seine Zugpferde zwar zügeln, aber nicht opfern wird. Ein gutes Beispiel bietet die Autbaugeschichte der Sächsischen Automobil GmbH Mosel (SAB). In den Krisenjahren der deutschen Automobilindustrie 1992/93 forderte der im VW-Aufsichtsrat sitzende niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder, daß Investitionen in Ostdeutschland nicht zu Lasten von Arbeitsplätzen in den alten Ländern gehen dürften. Schröder, unterstützt vom Betriebsratschef des Gesamtunternehmens, sorgte sich speziell um die niedersächsischen VW-Standorte Wolfsburg und Emden. Der Aufsichtsrat von VW reagierte und beschloß die Streckung und Kürzung der Investitionen in Sachsen. Das öffentlich verkündete große Ziel, Kapazitäten zu schaffen, die 6 800 Personen Arbeit geben würde, wurde zurückgenommen. 97 Mitte 1996 waren in der SAB 2.300 VWler beschäftigt, Mitte 19973.000, im Herbst 1997 3.800. 98 Die Kürzungen waren schmerzlich, aber an die Aufgabe "eines unserer produktivsten Standorte" wurde nie gedacht. Schließlich wird der Volkswagen in Mosel in 20 Stunden gebaut, anderswo bei VW in Deutschland werden dazu 30 stunden benötigt. 99 Volkswagenchef Ferdinand Piech drückte die Bedeutung des Modernisierungsbeispiels Mosel filr den Gesamtkonzern gegenüber der Leipziger Volkszeitung im April 1997 volkstümlich aus: "VW Sachsen ist unser geliebtes Kind, und wir tun alles, damit es weiter wächst". 100. Ebenfalls beste Aussichten auf eine stabile und perspektivische Entwicklung haben die Brückenköpfe von außen nach Deutschland oder in die Europäische Union. Wie im Falle der Modernisierungsbeispiele waren die Aufkäufe das Ergebnis einer strategischen Entscheidung. Anders aber als im Falle der Modernisierungsbeispiele war es jedoch nicht der technologische Höchststand der rekonstruierten Unternehmen, der die Mutterkonzerne auch in Zeiten der kon96 Finnenportrllt der Malimo Maschinenbau GmbH Chemnitz, Chemnitz 1996, S. 1-2; 60 Jahre Karl Mayer, in: kettenwirk-praxis 2/97, S. 5-6; Malimo Maschinenbau GmbH, Chemmitz - Produktionsbeginn am neuen Standort (Presseinfonnation), Juli 1997. 97 H. v. d. Meer/L. Kruss, Vom Industriestaat, S. 79; 0. Mich/er, Chancen und Hemmnisse, S.226. 93 DT vom 18. 10. 1997. 99 0. Mich/er, Chancen und Hemmnisse, S. 226. 100 U/rich Milde. VW Sachsen ist Piechs "geliebtes Kind", in: Leipziger Volkszeitung vom 11.4.1997.
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junkturellen Flaute weiter am neuen Standort festhalten ließ, sondern das Bewußtsein, nunmehr auf dem deutschen Markt einen "Fuß in der Tür" zu haben und damit bessere Chancen für zukünftige Auseinandersetzungen mit den einheimischen Wettbewerbern. Einer dieser Fälle ist die EKO Stahl AG. Der einstige Stammbetrieb des Bandstahlkombinats lOI fand lange keinen Interessenten. Nachdem die deutschen Stahlkonzerne ihr Desinteresse am Stahlstandort an der Oder bekundet hatten, das Stahlwerk aber aus politischen Gründen überleben mußte, kamen bei der THA nunmehr auch ausländische Investoren, im Falle des EKO die italienischen Konzerne Riva und Arvedi, als neue Besitzer in Frage. Anteiliger Besitzer des Werkes (mit 60% der Aktien) wurde schließlich ab Januar 1995 der belgische Stahlkocher Cockerill Sambre. 102 Das Unternehmen verpflichtete sich zum Bau eines Warm walzwerkes, das die zu DDR-Zeiten belassene" technologische Lücke"103 des Eisen- und Stahlstandortes schließen sollte. Das noch fehlende Werk wurde mit einem Aufwand von 671 Millionen DM bis Mitte 1997 errichtet. Weitere Modernisierungsmaßnahmen wurden eingeleitet. Ob die EKO Stahl AG bis 1999 wie geplant rentabel arbeitet, ist angesichts der schwelenden Stahlkrise noch ungewiß. Dessen ungeachtet hat Cockerill Sambre bereits 1997 sein Interesse an den übrigen 40% der Aktien, die der Treuhand-Nachfolgerin BvS gehören, bekundet und damit unterstrichen, daß die belgische "Mutter" das ostdeutsche Eisenhüttenkombinat Ost als "integrierten Bestandteil ihrer zukunftsorientierten Unternehmensstrategie betrachtet", wie es EKO-Sprecher Behrendt im Juli 1997 ausdrückte. 104 IV Schlußfolgerungen: Treuhandanstalt, Betriebe und Belegschaften in der Privatisierungsphase 1. Kritik von Treuhandentscheidungen aus der Sicht der Privatisierungserfahrungen.
Die Treuhand ist viel und heftig kritisiert worden. 105 Sie wurde aber auch gelobt, weil sie "das Unmögliche gewagt hatte,,:06 Im Zusammenhang dieses
101 Zur Entwicklung der ostdeutschen Stahlindustrie vgl. Karl Eckart, Die wirtschaftspolitische Bedeutung der Schwarzmetallurgie (= Eisen- und Stahlindustrie) in der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall der DDR, Berlin 1996, S. 567580. 102 J. Richter u.a., Stalinstadt, S. 109-113. 103 Jörg Roesler "Eisen rur den Frieden". Das EisenhUttenkombinat Ost in der Wirtschaft der DDR, in Rosemarie Beier (Hg.), Aufbau West- Aufbau Ost. Die Planstlldte Wolfsburg und EisenhUttenstadt in der Nachkriegszeit, Berlin 1997, S. 155-156. 104 ND vom 19.7.1997.
lOS Vgl . u.a. Christa Luft, Treuhandreport. Werden, Wachsen und Vergehen einer deutschen Behörde, Berlinl Weimar 1992; dies., Die Lust am Eigentum. Auf den Spuren der deutschen Treu-
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Beitrages soll es nicht um grundsätzliche oder gar pauschale Bewertungen der Tätigkeit der THA gehen, sondern um eine kritische Wertung der Treuhandarbeit aus der Sicht der geschilderten Privatisierungserfahrungen. Diese Kritik setzt an drei Punkten an. Sie betrifft erstens die Behandlung des ManagementBuy-Outs. Diese Privatisierungsart hatte die Leitung der Treuhand zunächst ignoriert. In den ersten Monaten der Verkaufstätigkeit der Treuhand wurden ostdeutsche Bewerber zumeist abgewimmelt. Die Florena-Manager haben das zur Genüge erfahren. Von der Abgabe des ersten Unternehmenskonzeptes im November 1990 veranlaßten die Banken, daß sich Hübner, Hellfritzsch und Haferkorn gleich mehrfach von der Gauck-Behörde durchchecken lassen mußten\07 Die drei Florena-Manager erfuhren, daß es von seiten der Treuhand für Ostdeutsche keine Sonderkonditionen geben würde, ungeachtet ihres "systembedingt" geringeren Vermögens im Vergleich zu westdeutschen Bietern. l08 Die formale Gleichbehandlung der MBO mit kapitalkräftigen westdeutschen Unternehmen war eine folgenschwere Entscheidung, da sie viel zu den unter MB Os verbreiteten Erscheinungen mangelnder Wettbewerbsflihigkeit, erzwungener Genügsamkeit und mangelnder wirtschaftlicher Stabilität beitrug. Eine zweite Kritik betrifft die Bevorzugung westdeutscher gegenüber ausländischen Investoren. Vom rein ökonomischen Gesichtspunkt wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn nicht die Aussichten vieler Unternehmen auf eine stabile und perspektivische Entwicklung dadurch zunichte gemacht worden wären. Besonders gegenüber ausländischen Multis, die sich durch den Erwerb von Betrieben in den neuen Bundesländern ein Standbein in Deutschland bzw. der Europäischen Union zuzulegen gedachten, hat sich die Treuhand fast ein Jahr lang äußerst reserviert behandelt, wie z.B. gegenüber amerikanische Unternehmen Bonnewel Pacific und dem dänische Stromversorger Elsam Projekt. \09 Von den bis Ende April 1991 verkauften 1600 Unternehmen der Treuhand gingen nur 64 an Käufer aus den übrigen Ländern der Europäischen Gemeinschaft, der Schweiz, den USA und Japan. IIO Die neue Treuhandpräsidenten, Frau Breuel, versprach im Mai 1991 größere Chancengleichheit für ausländische Aufkäufer durch aktives Marketing der Treuhand im Ausland. Dieses Versprechen wurde in der Folgezeit auch eingehalten. ll1 Ungeachtet dessen kamen hand, Zürich 1996, S. 92-177; Blickpunkt Treuhandanstalt. Auftrag, Tätigkeit, Folgen, Wiedergutmachung, BerlinJBonn 1994; H Suhr, Treuhandskandal; M Flug, Treuhand-Poker. 106 So der Untertitel des Buches W Fischer u.a., Treuhandanstalt. 107 D. H Lamparter, Creme rur den Osten. 108 Jörg Roesler, Die Treuhandanstalt: Wirtschafts imperium oder Politikinstrument? in: R. Liedtke, Die Treuhand, S. 47. 109 Der Morgen vom 24.4. 1991. 110 FAZ vom 24.5. 1991.
111 "Dazu gehörte ein internationales Kontaktnetz mit eigenen Stützpunkten in Übersee (New York, Tokio) und hochrangigen Treuhandbeauftragten in vielen Ländern (z.B. in Frankreich,
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die ausländischen Investoren, solange die THA existierte, erstaunlich wenig zum Zuge. Erst im Laufe der BvS-Privatisierung der Management-KG'en und der Mehrfachprivatisierung an die Treuhand zurückgegebener Unternehmen hatten die Ausländer deutlich größere Chancen. Ein dritter Kritikpunkt ist das hohe Tempo, in dem privatisiert wurde. Die THA setzte die ihr von der Bundesregierung gemachten politischen Vorgaben l12 in ein materielles Anreizsystem für ihr Management um, das nicht die Solidität der Verkäufe, sondern die Anzahl der Privatisierungen prämierte. Gleichzeitig wurden die Treuhandmanager gegen die Verkaufsrisiken strafrechtlich abgesichert. ll3 Es fallt nicht schwer zu erkennen, daß intensivere Recherchen von Seiten der Treuhandanstalt die wahren Motive mancher "Investoren" hätte erkennen lassen können. Der Löwenanteil der Fälle von Ausplünderung und Subventionsbetrug sowie Konkurrenzverhinderung durch Schwächung der aufgekauften Unternehmen hätte auf diese Weise verhindert, der Zusammenbruch eines erheblichen Teils der durch diese Motivationen geschädigten Unternehmen vermieden werden können. 2. Erkenntnisse zum Verhältnis von betrieblicher Leistungsfahigkeit vor 1989 und wirtschaftlichen Aussichten der Betriebe und Branchen nach der Privatisierung. Nach einer zum Zeitpunkt der Währungsunion weit verbreiteten Formel waren etwa 30 % der ehemaligen DDR-Betriebe wettbewerbsfahig und in der Lage, die Anpassungsprobleme aus eigener Kraft zu lösen, weitere 40% seien auf den westlichen Märkten nicht konkurrenzfahig, teilweise jedoch sanierbar. Weitere 30% der ostdeutschen Betriebe seien in ihrer Existenz gefahrdet. 114 Der Wahrheitsgehalt dieser Prognose soll hier nicht überprüft sondern darauf hingewiesen werden, daß die Prognose von einer engen Beziehung zwischen dem zu DDR-Zeiten erreichten Stand der Modernisierung bzw. Überalterung der Industrieanlagen und ihren Chancen, unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu überleben, ausging. Auch als sich der Anteil der überlebensfahigen Betriebe - kaum einer übrigens ohne aufwendige Sanierung - viel kleiner erwiesen hatte, als im Sommer 1990 geglaubt, spielte die Auffassung eine Rolle, die Italien, Großbritannien und Österreich), die die Akquisition von Investoren maßgeblich unterstützten". (Birgit Breuel, Treuhandanstalt: Bilanz und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43-4411994, S. 16). "2 Vgl. J Roesler, Die Treuhandanstalt, S. 52-53. 113 Jörg Roesler, Reform Imposed from Above: The Economic Transition in East Germany 1990-1994, Centre for International Studies, University ofToronto, Forschungsbericht 5/1995, S. 11; Blickpunkt, S. 151-156. 114 Hannsjörg F. Buck, Von der staatlichen Kommandowirtschaft der DDR zur Sozialen Marktwirtschaft des vereinten Deutschland. Sozialistische Hypotheken, Transformationsprobleme, Aufschwungchancen (schriftenreihe HochschulelWirtschaft H. 8), Düsseldorf 1991, S. 53.
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Privatisierungschancen der einzelnen ehemaligen VEB hingen davon ab, in welchem Maße ihre Produktionsanlagen am Ende der DDR modem bzw. marode waren. Diese Auffassung hält in der Argumentation kaum stand, wenn die Privatisierungsarten und -motive berücksichtigt werden. Der Stand der vorhandenen betrieblichen Technik spielte bei westlichen Aufkäufern nur eine geringe Rolle. Anders war das allerdings, wenn die Käufer in der ehemaligen DDR beheimatet waren. Denn rur die kapitalschwachen Ostmanager, die sich auf das Wagnis einer MBO-Privatisierung einließen, war es nicht unwichtig, ob sie, wie die ehemaligen sozialistischen Leiter der Florena Cosmetic GmbH einen modernisierten oder einen vernachlässigten Betrieb übernahmen. Von der Kapazitätsseite war der Anteil der Privatisierungen dieser Art aber sehr gering (10%). Angesichts der 90 Prozent der Kapazitäten, die an westdeutsche und ausländische Investoren gingen, entschieden die Privatisierungsmotive weit mehr über Überlebenschancen und Sterbeflille der Betriebe als der Zustand ihrer Ausrüstungen. Beim Konkurrenzmotiv konnte die gute Ausstattung der Ostbetriebe sogar ein Argument sein, die Chancen des aufgekauften Unternehmens in der Marktwirtschaft zu minimieren. Wenn bei den Aufkaufmotiven der 1990 vorgefundene Zustand des Betriebsstandortes eine Rolle spielte, dann ging nicht um das vor Ort vorhanden materielle, sondern das geistige Potential - sprich die Fähigkeiten, Fertigkeiten und die Arbeitsmotivation der Belegschaften der ehemaligen VEB. Charakteristisch ist die Entscheidung von Opel (General Motors), das geplanten ostdeutsche Automobilwerk des Konzerns in Eisenach, an der Produktionsstätte des" Wartburg" anzusiedeln. Das neue Werk wurde "auf der grünen Wiese" erbaut, das alte komplett abgerissen. Was General Motors nach Eisenach zog, waren die Arbeitskräfte des Wartburgwerkes. Dank der erheblich höheren Produktivität der neuen Produktionsanlagen benötigte Opel nur noch 2.000 der fast 10.000 im Wartburgwerk beschäftigten Arbeitskräfte. Der Konzern konnte sich unter 9.500 Arbeitern die besten aussuchen und mit ihnen in der Opel A WE Pkw Gmbh Eisenach das Experiment "Schlanke Produktion" starten. Ergebnis: "An den Montagebändern arbeiten auch Ingenieure und Meister von einst".lIs Die multinationalen Konzerne Siemens und Advanced Micro Devices entschieden sich rur umfangreiche Investitionen im Raum Dresden u. a. wegen der am ehemaligen Standort des Robotron-Kombinats vorhandenen, im Umgang mit der Mikroeleketronik erfahrenen Arbeitskräfte und wegen der auf die Elektronik ausgerichteten universitären Strukturen. "Wir sind nach Dresden gekommen, weil wir hier die Menschen finden, mit denen wir unsere Träume von Fortschritt IIS Gabriele Oertel, Der Blitz schlug unter der Wartburg ein, in: ND vom 15. 9. 1994; vgl. auch: Peter Stebner. Schlanke Produktion, in: Neue Zeit vom 14. 10. 1992; Helmut Badekow, Opel AG: "Eisenach bleibt Automobilstadt" in: Horizont 42/1992, S. 114.
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und Erfolg verwirklichen können", verkündete etwas blumig der AMDVizepräsident beim ersten Spatenstich zur zukünftigen Fabrik von Mikroprozessoren, der Advanced Micro Devices Dresden. 116 Ein dem ersten verwandtes Argument über Zusammenhänge der früheren Industriestruktur der DDR mit den Erfolgsaussichten der einzelnen ostdeutschen Betriebe in der Transformationszeit betrim die Branchen. Überwiegend wurde rur die DDR eine "altindustrielle", d.h. veraltete Industriestruktur und generell ein Zurückbleiben in der Produktivität gegenüber der Industrie der Bundesrepublik festgestellt. Zweige wie die Textilindustrie und das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe seien im Vergleich zur Bundesrepublik aufgebläht gewesen, während der Stahl- , Maschinen- und Fahrzeugbau ebenso wie die Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik unterproportional entwickelt gewesen seien. Im Nahrungs- und Genußmittelgewerbe wie auch bei der Industrie der Steine und Erden habe die Produktivität besonders deutlich unter dem westdeutschen Niveau gelegen. Verglichen mit dem DDR- Durchschnitt hätte der Stahl-, Maschinen- und Fahrzeugbau relativ gut abgeschnitten. ll7 Daraus resultiere, daß Z.B. die Textilindustrie stärker vom der Konfrontation mit dem Weltmarkt betroffen sei als etwa der Maschinenbau. Die Tatsachen sprachen jedoch eine andere Sprache. Die absolut veraltete Zuckerindustrie l18 war die erste, die durch die Treuhand vollständig verkauft wurde 1l9 und heute, nach einigen Jahren der Investition und Konzentration, zu den modernsten Europas gehört. 120 In der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, von der das Deutsche Institut rur Wirtschaftsforschung noch im August 1990 gemeint hatte, sie sei "rur die Marktwirtschaft schlecht gerüstet" 12 1 erwiesen sich die Lebensmittelbetriebe rur die Käufer attraktiver 122 als die Unternehmen des Maschinenbaus. Spielten in der Zuckerindustrie die EU-Quoten ein Rolle, so waren es in der Lebensmittelindustrie die Handelsmarken. Die Wernesgrüner und Radeberger Brauereien waren deshalb so begehrt, weil sie die in der DDR beliebtesten Markenbiere herstellten. Dasselbe galt rur Halberstädter WürstVgl. DT 25. 10. 1996. Bundesministeriumfür innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1987, Bonn 1987, S. 349, 392, Vgl. auch mit dem Stand von 1989: Klaus von Dohnanyi, Das Deutsche Wagnis, München 1990, S. 67-76. 118 Im Jahre 1987 wurde vom Deutschen Institut filr Wirtschaftsforschung eingeschätzt: "Die Vorkriegsproduktion wird wegen der Anflilligkeit der alten Maschinen nicht erreicht" (Bundesministerium, Materialien, S. 389). 119 Vgl. Klaus-Dieter Schmidtl Uwe Siegmund, Strategien der Privatisierung, in: W. Fischer u.a., Treuhandanstalt, S. 233-234. 120 Willi Müller, Im "verflixten siebenten Jahr", in : Einblicke. Aktuelles aus der Konrad Adenauer Stiftung 5197, S. 14. 121 Zitiert in: K. v. Dohnanyi, Das Deutsche Wagnis, S. 74. 116 117
122
THI 511991, S. 3.
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chen. Rotkäppchen und Florena konnten sich unter anderem deshalb halten, weil jeder DDR-Bürger sie kennen und die meisten Bewohner der neuen Bundesländer sich nach einer relativ kurzen Zeit der Abstinenz an sie wieder erinnern konnten. 123 Zu den relativ rasch verkauften Branchen gehörte auch die Industrie der Steine und Erden. In diesem Falle war es die relative ürtsgebundenheit der Produktion, von Steinbrüchen über Ziegeleien bis Zementwerken, die die Investoren bald zugreifen ließ. 124 Aus der Sicht der Einteilung in "alte" und "neue" Branchen und der Vorstellung, daß die DDR-Betriebe nach der Währungsunion um so bessere Chancen haben würden, je eher sie in Proportion und Produktivitätsniveau dem bundes deutschen Muster angepaßt waren, erscheint der tatsächliche Privatisierungsverlauf kaum erklärbar. Die Tatsache, daß Betriebe "alter" Branchen oftmals bessere Überlebenschancen hatte, als die der "neuen" weist auf die Brüchigkeit der These hin, daß modeme DDR-Betriebe in der Marktwirtschaft eine größere Überlebenschance hatten als marode. Der immer wieder behauptete Zusammenhang zwischen Ausrüstungsstand der Unternehmen vor 1989 und Entwicklungschancen nach 1990 wurde weiterhin dadurch in Frage gestellt, daß ein wesentliches, wenn auch von den Investoren nicht gern oder nur zögernd zugegebenen Motiv rur den Kauf von Betrieben und seinen Umbau der Umfang der vom Bund oder Ländern gebotenen direkten und/oder indirekten Subventionen war. 125 Subventionen in Milliardenhöhe waren es, die Zeiss überkochen erlaubten, sich vom ehemaligen Stammbetrieb von Zeiss Jena Abteilungen einzuverleiben, deren Produktion und Absatz es zu kontrollieren wünschte l26 oder Dow Chemical nach Bitterfeld brachten. 127 Wo Vgl. Rainer Gries, "Aus dem Osten. Daher gut!", in: Das Parlament 4-511994, S. 17. Vgl. THI 2/1991, S. 7; Die größten von der Treuhand verkauften Betriebe, in: FAZ vom 3. 9. 1991. 123
124
\2S So erhielt z.B. Siemens rur seine Zusage des Baus einer Chipfabrik in Dresden allein 800 Mill. DM direkte Invstitionszuschuß bzw. Investitionszulage, ferner bezahlte der Freistaat Sachsen die Qualifzierung der zukünftigen Chipwerker (34 Mill DM). Der Staat Sachsen gab das 20 ha große Grundstück, das er zu sanieren versprach, rur 70% des Verkehrswertes ab. Das Bundesforschungsministerium versprach die Bezahlung der Hälfte einer 600 Millionen Mark teuren Pilotanlage rur die flexible Chipfertigung und der Bund gewährte Siemens rur die bis 1996 erstellten Bauten und angeschaffien Maschinen eine 50prozentige Sonderabschreibung.(Margaret Hecke/, Ideale Ergänzung, in: WirtschaftsWoche 36/94, S. 48-49).
126 "Die auf 3,6 Milliarden DM veranschlagten Kosten rur das Konzept (der Teilung von Zeiss Jena in ein Zeiss Oberkochen gehörendes Unternehmen und die Jenoptik GmbH - J. R.) übernehmen mit 2,74 Milliarden DM die Treuhand und mit 0,86 Milliarden DM das Land Thüringen." (FAZ vom 26.6.1991) 127 Die Treuhandnachfolgerin BvS versprach dem amerikanischen Chemiegiganten Dow Chemical innerhalb von runf Jahren zur Umstrukturierung der Buna-Werke 3,4 Mrd. DM beizusteuern. Dow Chemical beteiligt sich nach eigenen Angaben mit I Mrd. DM. Nicht eingerechnet sind indirekte Subventionen, die Dow Chemical durch besonders günstige Strom- und Dampfpreise
Der Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität
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derartig großzügige Zusagen ausblieben, z.B. in Frankfurt/Oder, dem ältesten Standort der Halbleiterproduktion in der DDR, 128 nutzen auch die Existenz eines weiterhin florierenden Forschungsinstituts 129 und einer erfahrenen Facharbeiterund Ingenieurschaft nichts. Der Nachfolger des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder, das Unternehmen System Microeletronik Innovation (SMI), stand auch noch 1997 vor dem Ruin. 130 3. Zu den Auswirkungen der Privatisierungsvarianten auf die betroffenen Belegschaften. Die Selektion der ehemaligen VEB erfolgte angeblich durch den Markt. Mit dieser allgemeinen Begründung wurden die zahlreichen Pleiten ostdeutscher Betriebe als "natürlich" hingestellt, Resultat letztlich der geringen Wettbewerbsfahigkeit der Kombinate und Kombinatsbetriebe, der planwirtschaftlichen "Dinosaurier" in der Marktwirtschaft. Für die Belegschaften der ehemaligen VEB wurde das Überleben wie auch das Ende der Betriebe jedoch stets konkret erfahren. Wie sie es erlebten, wurde die Entwicklung des Betriebes - oder das Ende jeder Entwicklung - weniger durch anonyme Marktkräfte als durch Institutionen und Personen herbeigeführt. Die Treuhand hat laut Abschlußstatistik bis zum 30.12.1994 157 Betriebe liquidiert. Etwas mehr als 3.500 Betriebe befanden sich zu diesem Zeitpunkt als Liquidationen "in Bearbeitung" 131 Der Treuhandselektion der ehemaligen VEB folgte die private Selektion der "Mütter", die sich von ihren im Osten erworbenen Töchtern verabschiedeten - Kugelfischer tat das von allen acht 1991 erworbenen ostdeutschen Unternehmen. Schließlich selektierten die Banken durch eine rigorose Kreditzurückhaltung die MBO. Die schrumpfenden Belegschaften lernten ihre neuen Besitzer und die von ihnen eingesetzten Manager genauer zu beobachten. Oftmals waren es die Betriebsräte, die vor unlauteren Machenschaften, vor sträflicher Vernachlässigung warnten. Vielfach kam aber erst im Nachhinein heraus, ab wann wer in der Betriebsleitung auf eine (betrügerische?)Liquidation des Unternehmens zugesteuert war. Den (entlassenen) Belegschaften war bewußt, daß weder die beachtliche Leistungsfahigkeit ihres in den 80er Jahren mit westlichen Maschinen und Know-how ausgerüsteten Betriebes zu DDR-Zeiten noch ihre großen Anstrengungen in den Treuhandbetrieben oder privatisierten Unternehmen in der einstreichen wird. (Ralf Neubauer, Viel Geld filr wenig Jobs, in: Die Zeit 4//1995, S.4I: Die Zeit 42/1997, S. 26). 128 Vgl. Maschen - Maschinen - Mikroelektronik. Zur Geschichte des VEB Halbleiterwerk Frankfurt (Oder), Teil I. Von der Gründung bis zum Jahre 1963, Frankfurt/Oder 1978. 129 Claus-Dieter Steyer, "Vom Ehrgeiz als Ossi gepackt" in : DT vom 7. I. 1997. \30 BI
17*
Thorsten Metzner, SMI zwischen Hoffen und Bangen, in DT vom 12.2. 1997. THI 21/1994, S. 4.
260
Jörg Roesler
Nachwendezeit zwangsläufig dazu führten, daß ihr Betrieb überlebte. "Leistung lohnt sich wieder" hatten die Plakate zu den Märzwahlen 1990 versprochen und die meisten DDR-Bürger hatten daran geglaubt. In der Praxis ihrer Betriebe konnten sie das nicht unbedingt nachvollziehen. Die Entlassung, die Stillegung, der Bankrott hingen selten von ihrer eigenen oder der gesamten Belegschaft Einsatz oder ihrer Bereitschaft zum Einkommensverzicht ab. Kein Wunder, daß die als Grundlage einer Leistungsgesellschaft bewunderte Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik rasch an Glanz einbüßte. Seit der Währungsunion ist die Wertschätzung der Marktwirtschaft rückläufig - das zeigen alle Umfragen. 1990 gaben 77 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung an, eine gute Meinung von der Marktwirtschaft zu haben. Zwei Jahre später waren es noch knapp 50 Prozent. Mitte 1995 beurteilten sie noch knapp ein Drittel positiv.1 32 Als das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut seine im Juni 1990, also vor Beginn der Tätigkeit der Treuhand als "Privatisierungsanstalt" ,133 den Ostdeutschen gestellte Frage, was man sich beim Wort "Kapitalismus" denken könne, im Dezember 1995 wiederholte, stellten die Meinungsforscher fest, daß die Bejahung positiv belegter Begriffe wie "Unternehmungsgeist", "Tüchtigkeit", "Fortschritt", "Erfolgreich" und "Gerechtigkeit" deutlich zurückgegangen waren, während die Zustimmung zu negativ belegten Begriffen wie "Ausbeutung" und "Wirtschaftskrisen" deutlich stieg. Auf die Frage, was schädlich für die Einheit gewesen sei stimmten im Dezember 1995 der Vorgabe "Wie die Treuhand die Privatisierung der Ostbetriebe durchgeführt hat" 83 Prozent der Ostdeutschen zu. Das war unter fünf vorgegebenen Aussagen diejenige, die am meisten Zustimmung fand. 134 Wiederholt ist dieser Meinungswandel als "Ostalgie" gedeutet worden, die um so mehr zunehme, je weiter sich die Wirklichkeit von jenem überwundenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem entferne. Am Beispiel der Treuhandprivatisierung läßt sich durchaus schlußfolgern, daß auch und vielleicht sogar vorrangig neue, nach 1989 gewonnene Erfahrungen zur zunehmenden Distanz gegenüber der Marktwirtschaft unter der ostdeutschen Bevölkerung beigetragen haben. 13S
132 Detle! Pollack, Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13/1997, S. 6.
ll1 Zu den anfänglichen Zielen der Treuhandanstalt vor dem Juni 1990, der sogenannten UrTreuhand, vgl. Wolfram FischerlHarm Schröter, Die Entstehung der Treuhandanstalt, in: W Fischer u.a., S. 17-32.
m Elisabeth Noelle-Neumann, Die deutsche Einheit gelingt - aber wann? in: FAZ vom 8. 12. 1996. Parallel dazu stieg bei der Frage, was man sich unter Sozialismus vorstelle, die Nennung der positiv belegten Vorgaben und ging die Nennung negativ belegter Vorgaben zurück. 115 Diese sogenannte Kompensationsthese vertritt besonders Pollack (D. Pollack, Das Bedürfnis, S. 9-14).
Der Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität
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V Das Erbe unterschiedlicher Privatisierungswege ? Ostdeutschland zwischen Hochtechnologie- und MezzogiornoejJekten Die Privatisierung war das Ergebnis von Tausenden von Einzelprozessen von - wie wir sahen - sehr unterschiedlichem Charakter und vorgenommen unter stark divergierenden Zielstellungen. Wir würden sie die Privatisierungsvorgänge in der Summe auf Ostdeutsch land auswirken? Diese Frage ist bereits 1990 aufgeworfen und seitdem immer wieder gestellt worden. Zwei Extreme wurden für die ostdeutsche Wirtschaft vorausgesagt: In den neuen Länder würde Deutschlands Hochtechnologiegebiet entstehen, vermuteten die einen. Die ehemalige DDR würde das Mezzogiorno Deutschlands werden, befürchteten die anderen. 136 Diese Frage läßt sich nicht auf der Grundlage der hier vorgestellten Privatisierungstalle klären. Dazu wäre die Analyse einer viel größeren Anzahl von Betrieben nötig, als die knapp 60, die diesem Beitrag zugrunde liegen und von denen einige detailliert nur dargestellt werden konnten oder die 140 Fälle, die von Autoren des Verlags die Wirtschaft im Jahre 1994 beschrieben wurden. 137 Außerdem wäre noch die Frage der Repräsentanz eindeutiger zu klären als das hier möglich war. Wohl aber läßt sich - gerade wenn wir die extremen Hoffnungen und Befürchtungen zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen machen - feststellen, welche Privatisierungswege in Richtung des High Tech- bzw. des Mezzogiornoeffektes tendieren. Unter den Privatisierungsarten sind zweifellos die Privatisierung an multinationale Firmen am ehesten "hochtechnologieverdächtig", während die ostdeutschen Gründungen auf dem Wege des MBO mit ihrer geringen Eigenkapitaldecke und Insovenzanfälligkeit deutliche "Mezzogiornotendenzen" zeigen. Eine noch eindeutigere Zuordnung zu der einen oder anderen Tendenz erlaubt die von uns vorgenommene Aufteilung der Privatisierungsaktivitäten nach den Motiven der Käufer. Die Schaffung von Modernisierungsbeispielen ist gewissermaßen eine High-Tech-Variante per se. Aber auch die Schaffung von Brükkenköpfen in die EU oder nach Deutschland kann zur Verstärkung der Hochtechnologietendenz beitragen, während Betriebskäufe, die zur Ausplünderung der übernommenen Unternehmen oder zur Abschöpfung von Subventionsmitteln führten, genauso Mezzogiornotendenzen f6rdern wie die verschiedenen Methoden der Verhinderung der Konkurrenz der ostdeutschen Unternehmen und Betriebsgründungen Einheimischer, deren vor allem der Versuch zugrunde lag, der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Die Unterschiedlichkeit der 136 Ausfilhrlicher dazu: Jörg Roesler, Zwischen High-Tech und Mezzogiomo. Ostdeutschlands ungewisse Zukunft, in: Utopie kreativ 43/1997, S. 34-41. 137 Vgl. Privatisierte, S. 16
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Privatisierungsmotive und -arten spricht dafür, daß in der ostdeutschen Industrie beide Tendenzen Gelegenheit zur Ausprägung bekommen haben. Eine regionale Häufung von "positiven" Privatisierungsvarianten und -motiven kann zur Herausbildung von regionalen High-Tech-Standorten führen, die nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial fortgeschritten sind. In diesem Zusammenhang wird oft der Raum Dresden genannt. Die Voraussagen rur einen Hochtechnologiestandort Dresden knüpfen sich vor allem an zwei Unternehmen: Simec und AMD. Das auf dem Gelände des ehemaligen Zentrums Mikroelektronik Dresden (ZMD) Ende 1993 aus der Taufe gehobene Siemens Microelectronics Center (Simec) produzierte im Geschäftsjahr 1995/96 bereits die erste 2 Millionen Stück hochintegrierte Schaltkreise. Im Jahre 1997 wurde die Produktion von 64 Megabit-Speichern nach Dresden transferiert. Das gleiche galt für die 256 Megabit--Technologie. Diese Technologie bildet die Basis rur die Herstellung von I-Gigabit-Speichern, deren Entwicklung Siemens gemeinsam mit IBM in East Fishkill (USA) betreibt. In der "modernsten Chipfabrik Europas" soll parallel dazu eine eigen Entwicklung laufen. \38 Nach Siemens stieg der in Kalifornien beheimatete amerikanische Halbleiterhersteller AMD ins Mikroelektronikgeschäft ein. Der Spatenstich für die neuen Gebäude der AMD Saxony Manufacturing GmbH erfolgte im Oktober 1996. Im Jahre 1999 soll mit der Produktion der K6-Prozessoren begonnen werden, die AMD 1997 auf den Markt gebracht hat. Doch in Dresden soll mehr geleistet werden als ein Beitrag zur Ausdehnung der AMD-eigenen Basis für Mikroprozessoren. In Dresden ist vor allem die Fertigung des Mikroprozessors der nächsten Generation, K7, geplant. Mit dem Bau der Dresdener Fabrik wird AMD über die Kapazität verfügen, 30 Prozent des Weltmarktes zu bedienen. \39 Schon 1995 lag die Unterbeschäftigungsquote in Dresden deutlich (24 Prozentpunkte) unter dem Durchschnitt der neuen Länder (100 %), der Bruttojahreslohn der sozial versicherungspflichtigen Beschäftigen pro Kopf dagegen 3 % darüber. Bezüglich der Ausstattung mit moderner Infrastruktur lag Dresden mit 138 % deutlich über dem ostdeutschen Durchschnitt. 140 Kein Wunder also, wenn John Noble, der Chef der in Dresden beheimateten Kamerawerke, meinte, in Dresden würden Blütenträume eines industriell hochentwickelte Ostdeutschland reifen. Die Region könne "zu einem der blühend131 Vgl. Bernd Schlütter, Milliarden rur die Mikroelektronik, in: Die Wirtschaft 3/1994, S. 15; Maren Martell, Chip, chip hurra in Sachsens Metropole, in: BZ vom 10.8. 1995; DT vom 4. 10. 1996. 139 Margaret Heckel, Ideale Ergänzung, in: WirtschaftsWoche 3611994, S. 48-49; Ralf Hübner, Die Sachsen sollen Intel das Fürchten lehren, in: DT vom 24. 10. 1996; DT vom 30. 9. 1997. 140 Ulrich HeiiemanniHermann Rappen, Sieben Jahre deutsche Einheit: Rückblick und Perspektiven in fiskalischer Sicht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41/1997, S. 44.
Der Einfluß unterschiedlicher Privatisierungsziele auf Stabilität
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sten Teile der Welt gemacht werden." Was rur Dresden gelte, stimme auch rur Sachsen, rugte er hinzu. 141 Das ist allerdings schon fraglich, denn weiteren HighTech Standorten wie dem VW-Werk in Mosel stehen große Gebiete Sachsens wie die Oberlausitz und das Erzgebirge gegenüber, die durch Deindustrialisierung und Rekordwerte der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. 142 Das Nebeneinander von Hochtechnologieinseln und Mezzogiornoregionen scheint vorprogrammiert: in Sachsen wie in den übrigen neuen Bundesländern. Ob sich HansJoachim Veens im Herbst 1997 geäußerter Wunsch, "daß eines Tages die modernen Industrieregionen des Ostens einen beträchtlichen Beitrag zum Länderfmanzausgleich rur alte Industrieregionen im Westen leisten werden"143 erfilllt bzw. sich die schon 1992 geäußerte Prognose des Wirtschaftsjounalisten Henning Krumrey rur das Jahr 2010 "im Osten gibt's nur High-Tech"144 erfilllen wird, scheint angesichts der bis 1997 ungebrochenen Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft zu einer unausgewogenen Mischung von High-Tech- und Mezzogiomotendenzen sehr fraglich.
141 Vgl. Willi Müller, Im "verflixten siebenten Jahr", in: Einblicke. Aktuelles aus der KonradAdenauer-Stiftung 5/1997, S. 14. 142 Vgl. den Beitrag von Hartmut Kowalke in diesem Band. 143 Hans-Joachim Veen, Innere Einheit - aber wo liegt sie? in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41/1997, S. 26. 144 H Krumrey, Aufschwung Ost, S. 211,
Spiridon Paraskewopoulos GAB ES EINE ALTERNATIVE ZUM PRAKTIZIERTEN DEUTSCHEN WIEDERVEREINIGUNGSPROZESS? Das Entwicklungsbild der wichtigsten makroökonomischen Größen der Bunderepublik Deutschland hat sich in den Jahren nach der Wiedervereinigung (1991-1996), wie die statistischen Zahlen eindeutig belegen, wesentlich verschlechtert (siehe folgende Tabelle). 1. Die Entwicklung einiger ausgewählter Wirtschaftsdaten vor und nach der Wiedervereinigung 1985 -1990
1991 - 1996
BSP
3,6v.H.
1,2 v.H. durchschnittliche Wachstumsrate
Abhängige Beschäftigung
20,8
22,9
30,8
30,9 Millionen
2,3
1,9
2,6
4,0 Millionen
169,8
240,9
306,8
262,7 Mrd. DM
Arbeitslose Ausrüstungsinvestitionen (durchschnittliche Wachstumsrate ) Exporte (durchschnittliche Wachstumsrate )
8,4v.H. 537,2
642,8
665,9
3,3 V.H.
durchschnittlicher Aussenhandelssaldo
109,8
Staatsverschuldung
760,2 1.053,5
(durchschnittliche Wachstumsrate )
-2,4 v.H.
6,4v.H.
784,3 Mrd. DM 3,0 V.H.
62,5 1.173,9
Mrd. DM
2.133,2 Mrd. DM 13,6 v.H.
Quellen: Zahlen der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Ausgabe 1997. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln; die entsprechenden Monatsberichte der deutschen Bundesbank.
266
Spiridon Paraskewopoulos
Aus den genannten Fakten ergibt sich die Frage, ob diese negative Entwicklung primär mit dem Wiedervereinigungsprozeß Deutschlands zusammenhängt. Eine ausfilhrIiche Betrachtung dieser Daten zeigt, daß die eindeutige Verschlechterung der ökonomischen Situation Deutschlands unmittelbar mit dem Wiedervereinigungsprozeß zusammenhängen kann, aber nicht muß. Zunächst scheint die Vorstellung plausibel zu sein, daß die heutige Wachstumsschwäche der gesamtdeutschen Wirtschaft hauptsächlich Folge der enonnen Lasten sein könnte, die mit den Bemühungen zur Sanierung der Wirtschaft der neuen Bundesländer verbunden sind (bisher über eine Billion DM). Die Niveauunterschiede in der Wirtschaftsstruktur zwischen den ehemaligen beiden deutschen Staaten waren zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung so gravierend, daß möglicherweise die Leistungskraft Westdeutschlands bei der Finanzierung der totalen Um organisation und des Wiederaufbaus der neuen Bundesländer überfordert wurde. Selbst dann, wenn man diese Auffassung teilen sollte, zeigt meines Erachtens eine kritische Betrachtung der bisherigen ordnungs- und prozeßpolitischen Entscheidungen, daß der praktizierte politökonomische Weg der Wiedervereinigung Deutschlands in seiner Gesamtheit keine andere ernsthafte gangbare Alternative hatte. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die einzelnen wirtschaftspolitischen Detailentscheidungen im Zusammenhang mit dem vollzogenen Transfonnationsprozeß in vielen Bereichen der neuen Bundesländer auch anders hätten verlaufen können. 11.
Aus makro- und mikroökonomischer Sicht war zunächst voraussehbar, daß die mit der Wiedervereinigung notwendigerweise auch vollzogene Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten eine schwerwiegende wirtschaftliche Anpassungskrise in den neuen Bundesländern verursachen würde. Die plötzliche Öffnung der Weltmärkte filr die ostdeutschen Betriebe machte sofort folgende maßgebenden Hauptursachen filr ihre mangelhafte Leistungsflihigkeit sichtbar: - die hohen Kosten des veralteten Sachkapitals - das mangelhafte betriebswirtschaftliche Wissen - die personelle Überbesetzung der Betriebe - die aus der Sicht des Kunden unzureichende Qualität der ostdeutschen Produkte. Der Ordnungs- und Prozeßpolitik kann man, wenn überhaupt, nur marginale, insbesondere im Zusammenhang mit der Eigentumsfrage, Fehlentscheidungen
Gab es eine Alternative zum deutschen Wiedervereinigungsprozeß?
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vorwerfen. Es darf aber dabei nicht übersehen werden, daß die Hauptursachen der Investitionsträgheit in den neuen Bundesländern eher in den nachhaltig wirkenden Strukturen des ehemaligen administrativen Wirtschaftssystems liegen. Die durch die nahezu totale Verstaatlichung des Produktionsmitteleigentums in der vierzigjährigen kommunistischen Herrschaft und durch die Funktionsweise der Zentralverwaltungswirtschaft verursachte Vernichtung des mittelständischen Unternehmertums hat die Möglichkeiten der Entstehung unternehmerischer Initiativen systematisch verhindert. Diese müssten jetzt langsam wieder aufgebaut werden. Würde man aus ordnungs- und prozeßpolitischer Sicht den bisherigen siebenjährigen Verlauf des Transformationsprozesses Ostdeutschlands zu bewerten versuchen, dann müßte man m.E. zu dem Ergebnis kommen, daß wegen der unvermeidlichen politischen, ökonomischen und sozialpolitischen Zwänge kein grundsätzlich anderer gangb arer Weg als der bereits praktizierte möglich gewesen wäre. Für die neuen Bundesländer hatte dieser Weg allerdings die totale Reorganisation des bis dahin zentral geleiteten Wirtschaftssystems in ein dezentral geleitetes zur Folge mit allen seinen zunächst negativen ökonomischen und sozialen Konsequenzen für die Wirtschaftsstruktur und vor allem für die betroffenen Menschen. Die für die Erhaltung der politischen, ökonomischen und sozialen Stabilität Gesamtdeutschlands erforderlich gewordenen hohen Tranfers, die seit 1990 von den alten an die neuen Bundesländern fließen, haben sichtbar zweierlei bewirkt: Man hat erstens nicht nur eine soziale Abfederung erreicht, sondern man hat auch eine Massenbewegung von Osten nach Westen mit allen ihren wirtschaftlich und sozialpolitisch destabilisierenden Folgen verhindert. Zweitens ermöglicht man damit in Ostdeutschland einen zwar langsamen, aber notwendigen Aufbau einer Wirtschaftsstruktur, die, immer mehr sichtbar zunehmend, den heutigen Bedingungen des Weltmarktes entspricht. Diese wachsende Wirtschaftsstruktur relativiert permanent auf der anderen Seite die angesprochenen negativen Folgen, die aus der notwendigen Umstrukturierung des alten Wirtschaftssystems zwangsweise entstanden. Die finanziellen Lasten und Folgen der Wiedervereinigung haben insoweit zu den heutigen Wachstumsschwächen der gesamtdeutschen Wirtschaft geführt, wie diese im engen Zusammenhang mit dem Transformationsprozeß der ostdeutschen Wirtschaft stehen. Der infolge der Globalisierung der Weltmärkte erforderliche Strukturwandel auch der westdeutschen Wirschaft wurde und wird möglicherweise durch die Lasten der Wiedervereinigung verzögert. Die finanzpolitischen Handlungsspielräume, die erforderlich sind, um den strukturellen Anpassungsprozeß zu beschleunigen, könnten teilweise durch die noch notwendigen öffentlichen Transfers an die neuen Bundesländer eingeengt werden. Insofern könnte der Wiedervereinigungsprozeß mitverantwortlich rur die Wachstumsschwäche der deut-
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schen Wirtschaft sein. Eine solche Schlußfolgerung wäre allerdings nur dann richtig, wenn tatsächlich nachgewiesen werden könnte, daß die Globalisierung der Weltwirtschaft den Wirtschaftsstandort Deutschland so abgewertet hätte, daß dadurch ein intensiver und möglicherweise volkswirtschaftlich kostspieliger ordnungspolitischer und struktureller Anpassungsbedarf notwendig wäre, der erhebliche finanzielle Mittel erfordern würde. Gerade diese Frage wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Vereinfachend kann man diese Kontroverse in zwei gegensätzlichen Grundpositionen darstellen: Während die eine Position behauptet und zu begründen versucht, daß die Globalisierung der Weltmärkte die bisherige Standortstärke Deutschlands positiv beeinflusse, versucht die andere, genau das Gegenteil nachzuweisen. Bevor man auf die wirtschaftstheoretischen und -politischen Begründungen beider Positionen kurz eingeht, wird zunächst der Sachverhalt der Standortproblematik präzisiert. III.
Seit Ende der 80er Jahre macht sich eine positive quantitative und qualitative Veränderung (Intensivierung) der internationalen Arbeitsteilung bemerkbar. Diese Entwicklung der Öffnung der Weltmärkte ist zum einen auf die Fortschritte beim Abbau internationaler Handelsbarrieren zurückzuführen, die durch das Vordringen marktwirtschaftlicher Ordnungsbedingungen auch in den ehemaligen sowjetischen Wirtschaftsraum ermöglicht wurden. Zum anderen bewirken die Informations- und Telekommunikationstechnologien weltweit einen rasanten Wandel der Produktionssektoren und der Investitionsmöglichkeiten, der die bisherige Praxis und die Strukturen des Welthandels total verändert (vgl. Barthel 1997, S. 182). Für die deutsche Wirtschaft entstehen dadurch nicht nur neue Herausforderungen und eine Verstärkung des ohnehin bestehenden weltwirtschaftlichen Wettbewerbsdrucks, sondern es öffnen sich zugleich für die Unternehmer günstigere Wirtschaftsräume mit rentableren Investitionsmöglichkeiten, so daß der Druck der bisherigen hohen Produktionskosten im Inland und insbesondere der Lohnkosten immer intensiver spürbar wird. Vorausgesetzt, diese Interpretation stimmt, würden bei Liberalisierung der Weltmärkte die im internationalen Vergleich zu hohen Lohnkosten den Wirtschaftsstandort eines Landes massiv abwerten, denn zu hohe Lohnkosten führen dazu, daß es sich für eine Anzahl von Produkten nicht mehr lohnt, diese im Inland herzustellen, mit der längerfristigen Konsequenz, daß zunehmend Produktivkapital an rentablere Standorte (Niedriglohnländer) abwandert. Gerade diese These von den negativen Wirkungen dieses Ausmaßes der hohen Löhne auf den Wirtschaftsstandort ist in der aktuellen wirtschaftspolitischen
Gab es eine Alternative zum deutschen Wiedervereinigungsprozeß?
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Diskussion in Deutschland umstritten. Die Gegner weisen, wie oben erwähnt, darauf hin, daß mit den hohen Löhnen Standortvorteile verbunden sind, während die Befürworter Standortnachteile sehen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist allerdings, ob man so monokausal mit dem Lohnargument die Standortattraktivität für ausländische Investitionen in eine Volkswirtschaft begründen kann. Die darüber kontrovers geführte wirtschaftspolitische Diskussion ist ein Beweis dafür, daß dies möglicherweise nicht so gesehen werden kann. In dieser inzwischen lebhaft geflihrten Auseinandersetzung werden eine Reihe von Faktoren angeführt, die die Qualität und die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes eines Industrielandes bestimmen sollen. Es wird unter anderem zwischen ökonomischen und administrativen (bürokratischen) Einflußfaktoren unterschieden, von welchen die Entscheidungen für die Wahl eines Wirtschaftsstandortes abhängen. Bei den ökonomischen Faktoren unterscheidet man zwischen solchen mit kurzfristigen und denjenigen mit langfristigen wirtschaftlichen Wirkungen. Zu den kurzfristigen Wirkungen werden die flinf Faktoren: Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts, Leistungsbilanzsaldo, Inflationsrate, Arbeitslosenquote, Wachstumsrate des Untemehmenseinkommens und Wachstumsrate der Lohneinkommen gezählt, die das Bundeswirtschaftsministerium als Ziele der Wirtschaftspolitik verwendet. Als langfristige ökonomische Einflußfaktoren werden die Entwicklung der Inlandsnachfrage, das Humankapital und die Steuer last angeführt. Die administrative Attraktivität wird vom herrschenden sozialen Konsens in der Gesellschaft und vom sozialen Klima beeinflußt, Indikatoren also, die die politische und wirtschaftliche Stabilität eines Landes bestimmen (vgl. Albach 1992, S. 8 ff). Aus dieser Aufzählung wird offensichtlich, daß die Attraktivität eines Standortes von der Wirkung einer Reihe einzel- und gesamtwirtschaftlicher Bestimmungsfaktoren abhängt. Nur die Analyse und die daraus gewonnenen Erkenntnisse über den Wirkungszusammenhang solcher relevanten Faktoren können ein fundiertes Urteil über die Standortattraktivität eines Landes ermöglichen. Demnach kann das momentane Phänomen der stagnierenden Auslandsinvestitionen in Deutschland nicht monokausal mit dem Zu-hohe-Löhne-Argument erklärt werden. Zu hohe Löhne können unter bestimmten Bedingungen auch ein Indikator für eine hohe Attraktivität eines industrialisierten Landes sein. Hoch ausgebildetes und hoch spezialisiertes Humankapital kann beispielsweise bestimmend für die Attraktivität eines Standortes sein. Ist dies der Fall, dann bedeutet das, daß das Humankapital seinen Preis hat, und die hohen Löhne sind die Folge davon. Mit anderen Worten, hohe Löhne in einem Industrieland könnten ein attraktiver Indikator für ausländische Investitionen sein.
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Albaeh, der in diesem Sinne argumentiert, zitiert in diesem Zusammenhang Robert Bosch, der Folgendes gesagt haben soll: "lch bezahle keine hohen Löhne, weil ich reich bin, sondern ich bin reich, weil ich hohe Löhne bezahle" (Albach 1992, S. 13). Diese Argumentation scheint auch von den tatsächlichen statistischen Zahlen in der Bundesrepublik Deutschland bestätigt zu werden. Der industrielle Bruttolohn je Stunde in Westdeutschland ist mit ca. 44 DM der höchste in der Welt. Da zugleich die durchschnittliche Wertschöpfung je Arbeitsstunde ca. 62 DM beträgt, müßte die Rechnung aufgehen. Ein Indiz dafilr sind die hohen und dauerhaften Exportüberschüsse Deutschlands. Die Exportüberschüsse scheinen wiederum ein Beweis dafilr zu sein, daß die Lohnstückkosten (der Quotient aus Lohn- und Gehaltssumme je Beschäftigtem und Produktionsergebnis je Beschäftigtem), verglichen mit denjenigen der wichtigsten Konkurrenzländern Deutschlands, relativ niedrig sind. Nach DIW Rechnungen erhöhten sich die Lohnstückkosten in Westdeutschland in der Periode 19701994 um 94 v.H. und in den wichtigsten Konkurrenzländern (USA, Japan, Großbritannien und Frankreich um 270 v.H.) (vgl. DIW-Wochenbericht 1995/38, S. 656). Diese Lohnstückkostenvorteile bekräftigen das Argument, daß Deutschland nach wie vor eine der stärksten Exportnationen der Welt ist, und damit würde die Problematik des Standortes erheblich relativiert. Daher kann es filr die Berurworter dieser These kein Problem einer mangelnder Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland geben. "Der Standardfall der Standortdebatte: 'zu hohe Löhne - zu viel Abwanderung an Kapital' ist im gesamtwirtschaftlichen Rahmen schon von vornherein nicht plausibeL." (Flassbeck 1995, S.704). Wer so argumentiert, kontern die anderen, " ... übersieht zum einen, daß die deutsche Volkswirtschaft bereits seit Jahren permanent internationale Marktanteile verliert: Mit der vorübergehenden Ausnahme des Jahres 1994 sind die deutschen Exporte in der jüngeren Vergangenheit stets langsamer gestiegen als das Volumen der ausländischen Märkte. Wer so argumentiert, der übersieht jedoch zum anderen auch, daß die heutigen Exporte das Ergebnis früherer Anstrengungen sind. Keineswegs sind sie ein Beweis dafilr, daß die heimischen Bedingungen weiterhin so sind, daß auch in der Zukunft Exporterfolge möglich sind" (Barthel 1997, S.184). Ähnlich argumentiert der Sachverständigenrat, der die Bedrohung des Standortes primär nicht in der Entwicklung der Gütermärkte, sondern in der der Investitionen sieht. Würde die Investitionsdynamik nicht ausreichen, um die Arbeitsplätze, die durch den Strukturwandel verlorengehen, zu ersetzen, dann würden sich entsprechend dieser Argumentation die Standortbedingungen einer Volkswirtschaft verschlechtern (vgl. Jahresgutachten 1995, S. 11). Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre ein Beweis dafür, daß " ... Deutschland als Investiti-
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ons- und Produktions standort augenscheinlich und deutlich an Attraktivität verliert ... "(Barthel 1997, S. 189). Die gegenwärtig abnehmenden Ausrüstungs- und die direkten Auslandsinvestitionen scheinen diese These zu bestätigen. Für diese negative Entwicklung werden im Rahmen dieser Argumentation eine Reihe hauptsächlich ordnungspolitischer Faktoren verantwortlich gemacht. Vor allem werden Verfehlungen und Übertreibungen in der Finanz- und Steuerpolitik, in der Sozial- und Tarifpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik angemahnt (vgl. eben da, S. 190 ff). Die hohe Staatsquote, die durch die zusätzlichen finanziellen Lasten der Wiedervereinigung 50 v.H. des Bruttoinlandsprodukts inzwischen überschritten hat, beeinträchtige mit den damit verbundenen hohen Abgaben nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, sondern auch die Kaufkraft der Arbeitnehmer. Die bisherige Tarifpolitik führte infolge der Durchsetzung überpropotionaler Anhebungen der untersten Tarifgruppen zu einer Disanalogie des KostenErtrag-Verhältnisses der nichtqualifizierten Arbeitskräfte mit der Folge, daß diese Gruppe übermäßig stark von der Arbeitslosigkeit betroffen ist. Die Politik der Arbeitszeitverkürzung fUhrte dazu, daß man durchschnittlich in Großbritannien 22 Tage, in den Vereinigten Staaten von Amerika 40 und in Japan 49 Tage mehr im Jahr arbeitet als in Deutschland. Die damit verbundene Verminderung des Auslastungsgrades auch der sachlichen Produktionsfaktoren erhöhte die Produktionskosten und beeinträchtigte die Wettbewerbsflihigkeit. Auch die fUr die Unternehmer restriktiven und kostspieligen Kündigungsregelungen mindern nicht nur die internatonale Wettbewerbsflihigkeit der Unternehmer, sondern verstärken auch die Arbeitslosigkeit. Die kostenträchtigen Genehmingungsverfahren bei Investitonsvorhaben, die in Deutschland auch aufgrund der strengen Regelungen im Umweltbereich gelten, verhindern Innovationen und damit den Wert des Standorts (eben da S.197). Hinzu kommen die sozialpolitischen Maßnahmen, die als Ausgabenbelastungen immer stärker als Wettbewerbs- und Standortnachteile durchschlagen. Dies bekommen dann die Arbeitnehmer anhand ihres stagnierenden Lohnes oder als Arbeitslosigkeit zu spüren. Insbesondere das hohe Niveau der Arbeitsstückkosten erschwert nicht nur den Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern erhöht sie weiter und macht damit höhere Beiträge für die Sozialversicherungen notwendig. Eine solche Entwicklung setzt schließlich eine Beitrags- und Arbeitskostenerhöhungsspirale in Gang, die immer mehr dazu fUhrt, daß deutsche Investitionen ausländische Standorte bevorzugen und ausländische Investitionen deutsche Standorte meiden. Eine Reform der Sozialen Marktwirtschaft ist daher dringend notwendig. Diese Notwendigkeit resultiert einerseits vorwiegend aus der relativen Abnahme der Leistungsflihigkeit der Volkswirtschaft sowie andererseits aus der ständig
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wachsenden Anspruchsmentalität der verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft, die gemeinsam das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft verletzt haben, nämlich die Freiheit der Akteure auf dem Markt als eine wichtige Voraussetzung rur die Leistungsfähigkeit des gesamten Systems mit einem möglichst breiten konsensfähigen sozialen Ausgleich zu verbinden. Wie sieht diese Verletzung im Detail aus? Die sozialpolitischen Aktivitäten des Staates, vor allem Aufwendungen rur die Sicherung im Alter und gegen Krankheit, fiir die Pflegeversicherung, rur die Absicherung gegen die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit (Arbeitslosengeld, -hilfe, Sozialhilfe) kosten über eine Billionen DM im Jahr (ca. 33% des BIP). Zur Sozialpolitik gehört noch die riesige Zahl an Regulierungen, die in gesetzlicher oder trarifvertraglicher Art sowie in Gestalt von Verboten, Geboten und Auflagen vorgenommen werden. Diese reglementieren die Arbeitsbedingungen, erhöhen damit direkt oder indirekt die Arbeitskosten und beschränken zugleich die Flexibilität der Unternehmen, indem sie deren Handlungsmöglichkeiten einengen (vgl. Frankfurter Institut 1996, S. 9 f). Der von der Mehrheit der Bevölkerung gewollte Sozialstaat kann allerdings seiner sozialen Verantwortung auf Dauer nur dann gerecht werden, wenn die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems so weit gewährleistet ist, daß es sich in Konkurrenz mit anderen Volkswirtschaften behaupten kann. Nur dann ist die Finanzierbarkeit des Systems der sozialen Sicherung auf Dauer möglich. Gerade die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des deutschen Wirtschaftssystems, die zur Zeit aus mehreren Gründen gefährdet ist, verlangt nach notwendigen Reformen. Obwohl sich die Sozialquote (Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) in den letzten zweiundzwanzig Jahren nicht verändert hat (seit 1975 ca. 33%), und obwohl der Finanzierungsanteil der Unternehmen leicht (von 31,3% 1970 auf 30,4% 1994) und der des Staates relativ stark (von 44,6% 1970 auf38,0% 1994) abgenommen haben, wird es trotzdem permanent schwieriger, die Finanzierungslast der Sozialausgaben in der erreichten Höhe zu tragen, zum aI auch der Finanzierungsanteil der privaten Haushalte permanent zunimmt (von 23,2 % 1970 auf 30,8% 1994). Die Leistungsträger beginnen, die ursprünglich im Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft an sich konsensfähige staatlich vorgenommene Umverteilung zugunsten der Leistungsschwachen und Bedürftigen in diesem Umfang nicht mehr zu akzeptieren. Die Bürger spüren, was bereits im Rahmen der Bürokratie- und der ökonomischen Theorie der Politik vermutet wird, daß auch die durch demokratische Prozesse legitimierten "Staatsdiener" nicht so sehr die Wohlfahrt der von ihnen repräsentierten Staatsbürger als Zielgröße ihres HandeIns ansehen, sondern in erster Linie die eigene Wohlfahrt und allgemein die der Politiker, der Parteien, der Interessenverbände etc. "Das Wohl der Staatsbürger bildet allenfalls eine strategische Variable oder
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Restriktion bei der Verfolgung der Eigeninteressen der Träger staatlicher Politik" (Pfähler 1986, S. 92). Politische Entscheidungsträger sehen in der Regel für sich als Vorteil an, sich starke Interessengruppen durch Vergabe von finanziellen Zuwendungen zu sichern, um dadurch ihr Wählerpotential zu erweitern (vgl. Laaserl Stehn 1995, S.23). Im Rahmen dieser Strategie werden finanzielle Mittel umverteilt, die für die Begünstigten und für die gewährenden Politiker hohe Vorteile erbringen, bei den Benachteiligten (Trägem) dagegen werden die Nachteile in der Regel mangels Information nicht signifikant genug erkannt. Die ständige Erweiterung des Kreises der Begünstigten ruhrt aber - als Folge des parteipolitischen Wettbewerbs - schließlich zu solchen Fehlentwicklungen, daß einerseits die Nichtbedürftigen, die aber gut organisiert sind, immer mehr davon profitieren, aber andererseits den tatsächlich Bedürftigen nicht geholfen wird. Das Ergebnis ist, daß die Leistungsträger und die wirklich Bedürftigen mit der vorgenommenen Umverteilung permanent unzufrieden sind, ein Sachverhalt, der zur Destabilisierung des gesamten gesellschaftlichen Systems fUhren kann. Eine ständige negative Wechselwirkung der Umverteilung mit den Anforderungen an die Leistungsflihigkeit des gesamten Systems ist offensichtlich. Verantwortlich rur diese Entwicklung ist eindeutig die Politik, und deshalb liegt hier in erster Linie Politikversagen vor. Die Abschwächung der Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems und damit auch die Abschwächung der Finanzierungsmöglichkeiten der Sozialsicherungssysteme resultieren auch aus den negativen demographischen Veränderungen in der Struktur der deutschen Bevölkerung. Bei der Annahme einer leicht ansteigenden Lebenserwartung und gleichbleibenden Nettozuwanderung, rechnet man damit, daß die Zahl der in Deutschland lebenden Personen von 1991 bis zum Jahr 2030 um mehr als 10 Millionen ab- und die Zahl der Personen im Alter von 60 und mehr Jahren um 8 Millionen zunehmen wird (vgl. Sommer 1992, S. 217 ff). Mit ähnlicher oder stärkerer Abnahme (ca. 15 Mio. Menschen) der gesamten Bevölkerung rur das Jahr 2030 rechnen auch andere Autoren (vgl. Buttler 1993a, S. 445). Die gesamtwirtschaftlichen Folgen eines dauerhaften Bevölkerungsrückgangs sind zwar kurzfristig rur einige Problembereiche wie den Wohnungs- und Arbeitsmarkt positiv zu bewerten, da die Bevölkerungsabnahme dort vorübergehend gewisse Entlastungseffekte bringt. Längerfristig jedoch wird sie aus mehreren Gründen die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft negativ tangieren. Geht man davon aus, daß die Höhe der Arbeitsproduktivität der maßgebende Faktor rur die Bestimmung der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist, dann ergibt sich im Zusammenhang mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung die Frage nach den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Höhe der Arbeitsproduktivität.
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Wie aus der Wachstumstheorie bekannt ist, hängt die Höhe der Arbeitsproduktivität in einer Volkswirtschaft von der Kapitalintensität, vom technischen Fortschritt und von der Quantität und Qualität des Humankapitals ab. Da die Qualität des Humankapitals unter anderem auch vom Durchschnittsalter der Bevölkerung abhängt, ist zu erwarten, daß sich ein zunehmendes Durchschnittsalter negativ auf die Arbeitsproduktivität auswirken wird. Abnehmende Gesamtbevölkerung und zunehmendes Durchschnittsalter verändern nämlich nicht nur die Rahmenbedingungen für die Investitionsentscheidungen der Unternehmer (abnehmende Absatzmöglichkeiten), sondern verringern tendenziell auch die Inventions- und Innovationsmöglichkeiten, " ... da zu erwarten ist, daß die Zahl potentieller Unternehmensbegabungen mit der Gesamtzahl der Bevölkerung abnimmt bzw. durch die Überalterung die Dynamik und Qualifikation der Unternehmer sinkt" (Knappe/Burger/Funk 1994, S. 129). Weiter ist zu erwarten, daß bei einer in der Gesamtzahl abnehmenden und alternden Bevölkerung die Anpassungsflihigkeit der Arbeitskräfte an die neuen technologischen Bedingungen auch abnehmen wird, da immer mehr Menschen aufgrund ihres Alters und ihrer Qualifikation den neuen Arbeitsbedingungen nicht mehr gewachsen sein werden. Daher ist nicht auszuschließen, daß es parallel eine Arbeitslosigkeit von wenig qualifizierten Arbeitskräften, aber Arbeitnehmermangel für anspruchsvolle Arbeitsplätze geben wird. Daraus folgt, daß dadurch die Spielräume für Wirtschaftswachstum ständig enger werden (vgl. ebenda). Diese hier kurz beschriebene demographische Entwicklung und ihre wirtschaftlichen Folgen tangieren auch, und zwar unmittelbar in einer doppelten Weise die Finanzierungsspielräume der sozialen Sicherungssysteme. Zum einen wird der Umverteilungsbedarf von der aktiven Bevölkerung (Erwerbsbevölkerung) zu den nicht mehr Erwerbstätigen (Rentnern) aufgrund der beschriebenen Veränderung der demographischen Struktur steigen. Zum anderen wird der Umverteilungsbedarf zusätzlich durch die Abnahme des Wirtschaftswachstums erhöht. All dies kann letzIich auch das demokratische politische System destabilisieren, da die ältere Bevölkerung die jüngere per Mehrheitsentscheidungen zu immer mehr Umverteilung zugunsten der älteren zwingen könnte. Ausweichen in die informelle Wirtschaft (Schattensektor) oder/und sogar Auswanderung der Jüngeren könnten dann die Folge sein (vgl.Buttler 1993a, S. 450).
IV. Die hier aufgezählten Beeinträchtigungen werden hauptsächlich als Ursachen für die momentane Abschwächung der Wachstumsdynamik, für die hohe Arbeitslosigkeit und für die Abwertung des Standortes Deutschland aufgeführt. Mit Ausnahme der Verschärfung der Staatsverschuldung hängt nach dieser
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Argumentation allerdings keine der erwähnten Ursachen unmittelbar mit der Wiedervereinigung Deutschlands zusammen. Insofern ist die oben gestellte Frage, ob die Abschwächung der wirtschaftlichen Wachstumsdynamik Deutschlands seit 1991 hauptsächlich mit der Wiedervereinigung zusammenhängt, zu verneinen. Nach Auffassung Albachs könnte die deutsche Wirtschaft ihre Wachstumsdynamik wiedererlangen, wenn es gelänge, die Unternehmensbesteuerung und die Genehmungsverfahren für den Bau und die Inbetriebnahme von Industrieanlagen zu reformieren (Albach 1992, S.25). Das hochqualifizierte Humankapital in Verbindung mit den hohen Löhnen gilt fur die Vertreter der Standortstärke Deutschlands eher als ein positives Kriterium für die deutsche Standortattraktivität.
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IS"
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Hans-Joachim Bürkner PROBLEME DER REGIONALENTWICKLUNG IM NIEDERSÄCHSISCHEN ZONENRANDGEBIET VOR UND NACH DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG J. Einleitung
Die Wirtschaftsentwicklung und die ökonomischen Umgestaltungsprobleme in Ostdeutsch land sind in den vergangenen Jahren zum beherrschenden Thema der Diskussion über die Folgen der deutschen Einheit geworden. In regionaler Hinsicht haben besonders die peripheren Gebiete entlang der polnischen und tschechischen Grenze neue Aufmerksamkeit erhalten, beispielsweise durch die Einrichtung von Euroregionen und die Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen den Ländern Brandenburg und Sachsen und ihren östlichen Nachbarn!. Weniger beachtet wurden die Folgen der Öffnung der innerdeutschen Grenze für das ehemalige Zonenrandgebiet der alten Bundesländer. Hatte man bis kurz vor der politischen Wende von staatlicher und kommunaler Seite aus noch erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Folgen der Peripheriesituation und der anhaltenden Strukturschwächen dieser Region zu dämpfen, so ließen derartige Bemühungen nach der Wende schnell nach. Es entstand der Eindruck, als habe das Zonenrandgebiet nicht nur geographisch, sondern auch ökonomisch in die "Mitte Deutschlands" zurückgefunden und an Stärke gewonnen 2 • I Siehe dazu die Beiträge in: Schamp, E. W. (Hrsg.): Neue grenzüberschreitende Regionen im östlichen Mitteleuropa. 10. Frankfurter Wirtschaftsgeographisches Symposium (4.15. Februar 1994). FrankfurtlM. 1995 (Frankfurter Wirtschafts- und Sozialgeographische Schriften, 67); Institut fUr Länderkunde Leipzig (Hrsg.): Regionen an deutschen Grenzen. Leipzig 1995 (Beiträge zur Regionalen Geographie, 38); Bürkner, H.-J., H. Kowalke (Hrsg.): Geographische Grenzraumforschung im Wandel. Potsdam 1996 (Praxis Kultur- und Sozialgeographie, 15); Eckart, K., H. Kowalke (Hrsg.): Die Euroregionen im Osten Deutschlands. Berlin 1997 (Schriftenreihe der Gesellschaft fUr Deutschlandforschung, 55).
2 Wild, T., P. Jones: From Peripherality to New Centrality? Transformation ofGermany's Zonenrandgebiet. In: Geography, 78. 1993. H. 3. S. 281-294; Jones, P. N., T. Wild: Opening the Frontier: Recent Spatial Impacts in the Former Inner-German Border Zone. In: Regional Studies, 28. 1994. H. 3. S. 259-273; Kagermeier, A.: Versorgungsbeziehungen über die ehemalige innerdeutsche Grenze. Dargestellt anhand eines regionalen Fallbeispieles aus SüdthüringenlObertTanken. In: Institut fUr Länderkunde Leipzig (Hrsg.): Regionen an deutschen Grenzen. Leipzig 1995. S. 32-50 (Beiträge zur Regionalen Geographie, 38).
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Am Beispiel des ehemaligen Zonenrandgebiets in Niedersachsen soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, inwiefern dieser Eindruck der Realität entspricht, d. h. in weIcher Hinsicht sich die ökonomische Peripherie lage seit der Wende verändert hat. Ausgangspunkt ist hierbei die Annahme, daß das Zonenrandgebiet bereits geraume Zeit vor der Wende in grundlegende ökonomische Umstrukturierungsprozesse einbezogen gewesen war, die im weitesten Sinne als Folgen der Globalisierung und der europäischen Binnenintegration angesehen werden können. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit die beobachtbaren Veränderungen eindeutig auf die Grenzöffnung zurückgeführt werden können oder inwieweit es sich dabei auf der anderen Seite möglicherweise um die Folgen von globalen Umstrukturierungsprozessen handelt, die das Zonenrandgebiet ohnehin betroffen hätten, unter den gewandelten Bedingungen (z. B. veränderter Arbeitsmärkte, einer neuen Faktormobilität über die ehemalige Grenze hinweg) aber eine neue, regionalspezifische Dynamik entfaltet haben.
2. Das Zonenrandgebiet vor der deutsch-deutschen Vereinigung 2.1 Das Zonenrandgebiet als politische Gebietskategorie Der Zonenrand als Gebietskategorie war das Ergebnis raumordnungspolitischer Zielsetzungen, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" (GRW) formuliert worden waren. Durch die Grenzziehung waren nicht nur wichtige Verkehrsverbindungen, sondern auch die ehemals engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost- und Westdeutsch land unterbrochen worden. Der Verlust von Absatzmärkten, das schlechte Image des Zonenrandes und die Abwanderung von Kapital und Arbeitskräften in den Westen und Süden der Bundesrepublik förderten Entwicklungsengpässe, die zur wirtschaftlichen Verödung des Zonenrandgebiets zu führen drohten 3 . Vereinzelte Fördermaßnahmen in den 60er Jahren (z. B. im Rahmen des Raumordnungsgesetzes ) wurden im Jahr 1971 durch das Gesetz zur Förderung des Zonenrandgebietes (Zonenrandförderungsgesetz) abgelöst, das die Gebietsgrenzen definierte und die Vorrangstellung des Zonenrandgebiets in der Wirtschaftsförderung vor anderen Räumen festschrieb 4 • Trotz der im wesentlichen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen 5 ist die Definition des Zonenrandgebiets unabhängig von den herrschenden Wirtschafts.1 Ritter, G., J. Hajdu: Die deutsch-deutsche Grenze. Analyse ihrer räumlichen Auswirkungen und der raumwirksamen Staatstätigkeit in den Grenzgebieten. Köln 1982. S. 83 Ir (Geostudien. 7).
, Ziegler. A.: Regionale Strukturpolitik. Zonenrandlbrderung - ein Wegweiser? Diss. Köln 1992. S. 8 (WSI-Studien zur Wirtschafts- und Sozial forschung. 68). j Boesler. K.-A.: Das Zonenrandgebiet. Eine Einfuhrung in die aktuellen Probleme seiner Struktur und Entwicklung. In: Geographische Rundschau. 37. 1985. H. 8. S. 384.
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strukturen vorgenommen worden. Sie ist zudem staatspolitisch motiviert gewesen, da sie im Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes als ein mögliches Instrument der Wiedervereinigung angesehen wurde. Beispielsweise sollte eine reibungslose Kommunikation mit den ostdeutschen Regionen nach der Vereinigung ermöglicht werden 6 . Das Zonenrandgebiet stellte daher, unter wirtschaftsstrukturellen oder raumplanerischen Aspekten betrachtet, kein homogenes Gebiet dar7• Eine zentrale Kritik an der Zonenrandförderung ging denn auch dahin, daß die strukturelle Heterogenität des Gebiets eine spezielle Förderung als fraglich erscheinen lasse. Die Förderung nehme nicht auf die unterschiedlichen Grade der negativen Auswirkungen der Grenzziehung Bezug. Zudem würden strukturschwache Räume, die außerhalb des Zonenrandgebiets gelegen waren und ebenfalls unter den negativen Auswirkungen der Grenzziehung zu leiden hatten, tendenziell benachteiligt8 . Das niedersächsische Zonenrandgebiet (s. Abb. 1) spiegelt auf relativ kleinem Raum die angesprochene wirtschaftsstrukturelle Heterogenität wider. Das Spektrum reicht von ländlich-peripheren Räumen (Landkreise Uelzen, LüchowDannenberg), Bergbauregionen (Helmstedt), ausgesprochenen Verwaltungs-, Handels- und Dienstleistungsstandorten (Göttingen, Hildesheim) bis hin zu altindustrialisierten Regionen mit Verdichtungsansätzen (Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter, Goslar). Innerhalb der Großregion Braunschweig befindet sich die größte Industriekonzentration des Zonenrandgebiets. Trotz einer Reihe von Gemeinsamkeiten der Entwicklung der Teilregionen zeigen sich z. T. sehr unterschiedliche Bewältigungskapazitäten in bezug auf die negativen Folgen der Grenzziehung.
" Berg, W.: ZonenrandfOrderung. Verfassungs- und gemeinschaftsrechtliche Grundlagen und Perspektiven. Berlin 1989. S. 140 ff. (Schriften zum Öffentlichen Recht, 572). 7
Berg: ZonenrandfOrderung ... , S. 38.
• Ziegler: Regionale Strukturpolitik ... , S. 165 f.
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Abbildung I Zum Zonenrandgebiet zählende Landreise Niedersachsens
o
D
50 km
Zonenrandgebiet im Sinne des Zonenrandförderungsgesetzes, Stand 1988
Kartograph ie: H. Krahe
2.2 Strukturprobleme der Regionalwirtschaft Gemeinsames Kennzeichen der Entwicklung seit Beginn der 50er Jahre war der Fortbestand von besonderen Strukturproblemen, die eine Wirtschaftsentwicklung, wie sie in den industrieHen Kemräumen der Bundesrepublik Deutschland stattfand, weitgehend verhinderten. In Deutschland folgte die Regionalentwicklung bis in die 80er Jahre hinein der fordistischen Produktionslogik und der von ihr erzeugten räumlichen Arbeitsteilung. Die Konzentration ökonomischer Innovationspotentiale und der Macht- und Entscheidungsstrukturen in den Industriekernregionen der Bundesrepublik Deutschland wies den altindustrialisierten Regionen sowie den ländlichen Räumen eine periphere RoHe innerhalb der Gesamtwirtschaft zu. Im FaHe des Zonenrandgebiets wurde diese RoHe durch erhebliche Infrastrukturdefizite infolge der Grenzziehung verstärkt und zementiert. Unzureichende Einrichtungen rur den Nah- und Fernverkehr, eine unterdurchschnittliche Versorgung mit
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Kommunikationseinrichtungen, fehlende Entsorgungseinrichtungen etc. stellten erhebliche Standortnachteile dar9 , die zu einem Investitionsdefizit entlang der Grenze führten. Größere Investitionen waren überwiegend erst nach Beginn der Zonenrandförderung in den 70er Jahren zu verzeichnen. Sie konzentrierten sich auf die Einführung der aus den Zentren ausgelagerten "Auslaufmodelle" der fordistischen Produktion mit geringer Entwicklungsdynamik, den sogenannten verlängerten Werkbänken. Die Ansiedlung von Zweigbetrieben von Großunternehmen, häufig mit Sitz in den Industriekernregionen außerhalb Niedersachsens, brachte den betroffenen Regionen zwar Arbeitsplätze, lieferte ihnen aber kaum innovative Impulse lO • Darüber hinaus wurden diese Regionen von den Zentren gezielt als "Entsorgungsräume" für politisch umstrittene Industrieabfallprodukte sowie als Standorte sog. sperriger Infrastruktur genutzt". Das bekannteste Beispiel bildet das Zwischen- und Endlager für Abfallprodukte der Kernenergiewirtschaft in Gorleben. Im niedersächsischen Zonenrandgebiet ist die angesprochene Kombination von altindustrialisierten Regionen mit Innovationsdefiziten und peripheren ländlichen Gebieten in geradezu idealtypischer Weise vertreten. Die Regionen Braunschweig, Salzgitter, Helmstedt, Goslar und Gifhorn waren vor der politischen Wende von erheblichen Strukturproblemen gekennzeichnet'2. Die dominanten Branchen der Metallerzeugung und -verarbeitung, der Nahrungs- und Genußmittelindustrie und der Elektroindustrie wiesen eine mittel- bis großbetriebliche Basis auf, waren häufig von Entscheidungen in den Unternehmenszentralen außerhalb der Region abhängig und konnten nur ein geringes Innovationspotential entfalten. Zudem reagierten sie äußerst empfindlich auf nationale Konjunkturschwankungen, die in überproportionalem Ausmaß auf die regionalen Arbeitsmärkte durchschlugen. Als besonders krisenanfallig galten monostrukturierte Regionen wie z. B. die von der Stahlindustrie geprägte Region Salzgitter I3 . Eine Ausnahme stellt das Volkswagenwerk mit der Zentrale in Wolfsburg und Niederlassungen in Salzgitter-Beddingen und Kassel-Altenbauna dar. Seit den 50er Jahren zählte es zu den führenden Unternehmen einer der Schlüsselin, Sander, H. J.: Das Zonenrandgebiet. Köln 1988. S. 13 ff. (Problemräume Europas, 4). 10 Blöcker, A., K. Lompe: Ansätze zur Regionalisierung der Wirtschafts- und Strukturpolitik in Niedersachsen. In: Ziegler, A., H. Gabriel, R. Hoffmann (Hrsg.): Regionalisierung der Strukturpolitik. Marburg 1995. S. 56 f. " Haversath, 1.-8.: Deutschland - der Norden. I. Aufl. Braunschweig 1997. S. 114 (Das Geographische Seminar). 12 Becher, G.: Regionale Strukturprobleme und ihre Folgen: Das Beispiel Südostniedersachsen. Band 2: Wirtschaftsstrukturprobleme in Südostniedersachsen. Braunschweig 1987. IJ Becher: Regionale Strukturprobleme ... , S. 111.
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dustrien im Nachkriegsdeutschland, das in diesem Teil des Zonenrandgebiets für ein erhebliches Wachstum sorgte und die allgemeinen Abwanderungstendenzen der Bevölkerung aus diesem peripheren Raum abschwächte '4 Die monostrukturelle Ausrichtung der Region Wolfsburg auf die Automobilindustrie wirkte sich im Hinblick auf die Arbeitsmarktentwicklung kaum negativ aus, da das VW-Werk trotz zeitweise erheblicher Konjunkturschwankungen einen stabilen Beschäftigungssockel garantierte. In der Automobilindustrie hat sich seit Mitte der 80er Jahre unter dem Einfluß von G1obalisierungsptozessen, insbesondere der Verschärfung der internationalen Konkurrenz, dem technologischen Innovationstempo und zunehmenden Kostenersparniszwängen ein erheblicher Strukturwandel vollzogen, der in der fortlaufenden Modernisierung der Produktionsstätten in Wolfsburg und Salzgitter seinen Ausdruck fand. Neue Produktionskonzepte wie die Verringerung der Fertigungs- und Dienstleistungstiefe, insbesondere die Aufnahme der just-in-time-Fertigung, und die - im Vergleich zur Automobilindustrie im süddeutschen Raum allerdings moderate - Ausweitung von Zulieferernetzwerken l5 haben ambivalente Folgen gehabt. Einerseits hat die Automobilindustrie in der Region teilweise ihre Innovationsfahigkeit unter Beweis gestellt und zur Standortsicherung beigetragen, andererseits hat derselbe Prozeß aber auch auf dem Arbeitsmarkt - zusätzlich zu den regulären Konjunkturschwankungen - für eine schubweise Freisetzung von Arbeitskräften geführt, und zwar hauptsächlich aufgrund von Rationalisierungsprozessen und ProduktionsausdUnnungen. In regionalstruktureller Hinsicht stellt Wolfsburg somit eine Technologieinsel dar, deren EntwiCklung vom Rest des Zonenrandgebiets weitgehend abgekoppelt ist und jeweils gesondert bewertet werden muß. Gleichzeitig mit dem Niedergang der Altindustrien vollzog sich in den 80er Jahren eine punktuelle Integration von fortgeschrittenen Technologiebranchen in die regionale Wirtschaftsstruktur, die als Bestandteile postfordistischer Produktionsmodelle angesprochen werden können und veränderte Standortanforderungen stellen. So sind im Raum SUdostniedersachsen die Anfange einer Biotechnologielandschaft entstanden, die sich in den 90er Jahren zu kleineren regionalen Produktionsclustern mit internen Netzwerkstrukturen verdichtet haben '6 . Auch in der Elektro- und ElektronikindustrIe, die schwerpunktmäßig im Raum Hannover vertreten ist, hat es punktuell Gründungen von High-Tech-
14 Voppel, G.: Industrie im Zonenrandgebiet. Veränderung des Standortgefilges unter Einfluß der Zonengrenze. In: Geographische Rundschau, 37. 1985. H. 8. S. 390. IS Lompe, K., A. Blöcker, B. Lux, O. Syring: Regionalisierung als Innovationsstrategie. Die VW-Region auf dem Weg von der Automobil- zur Verkehrskompetenzregion. Berlin 1996. S. 96. 1(. Motzenbäcker, S.: Regionale und globale Verflechtungen der biotechnologischen Industrie SUdniedersachsens. Potsdam 1997 (Praxis Kultur- und Sozialgeographie, 18).
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Unternehmen (z. B. in den Regionen Braunschweig und Göttingen) gegeben 17, an die große politische Hoffnungen auf eine künftige Innovationsfahigkeit der Regionalwirtschaft geknüpft wurden. Charakteristisch fur viele der neuen Unternehmen in diesen Branchen ist, daß sie intensive Forschul1gs- und Entwicklungsaktivitäten unterhalten, eine Flexibilisierung der Produktion anstreben und regional wie auch überregional vermehrt Kooperationsstrukturen herstellen. Trotz vielversprechender Entwicklungsansätze kam es jedoch bereits zu Beginn der 90er Jahre zu spektakulären Betriebsstillegungen, z. B. des Computerherstellers Commodore in Braunschweig l8 • Die Region blieb auch hier hinter der allgemeinen Entwicklung zurück. Standortvorteile besitzen in diesem Bereich lediglich die Universitätsstandorte (Göttingen, Braunschweig). Sie konnten allerdings häufig nur mit Hilfe einer massiven öffentlichen Förderung des Technologietransfers (z. B. in Form von Gründer- und Technologiezentren in Braunschweig, Hildesheim und Clausthal-Zellerfeld) realisiert werden l9 • Forschungs- und entwicklungsintensive Branchen wie Luft- und Raumfahrt, Medizin, Pharmazie, Biotechnologie, Meß- und Regeltechnik etc. treten daher im Zonenrandgebiet lediglich im Einzugsbereich der Oberzentren Göttingen und Braunschweig sowie in der Nähe einzelner Großindustriestandorte (Wolfsburg) auf. Als weitere wichtige Strukturkomponenten des niedersächsischen Zonenrandgebiets sind die Landwirtschaft und der Fremdenverkehr zu nennen. Seit den 70er Jahren hat aufgrund des gezielten Einsatzes der Z:onenrandförderung eine beachtliche Entwicklung des Tourismussektors in den ländlich geprägten Teilregionen stattgefunden, vor allem in der Lüneburger Heide und im Harz20 . Hier ist eine z. T. sehr dichte Infrastruktur entstanden, die sowohl auf den Naherholungs- als auch auf den Ferientourismus abgestellt ist. Sie bietet der Bevölkerung eine der wenigen verläßlichen Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der spärlich vertretenen Industrie, des Handwerks und der Landwirtschaft. Von der fortschreitenden industriellen Entwicklung des Bundesgebiets blieben diese Regionen jedoch weiterhin weitgehend abgeschnitten.
17 Decker, c.: High-Tech-Industrie im regionalen Vergleich. Eine Untersuchung der technologieintensiven Elektroindustrie in Niedersachsen. Berlin 1990 (Beiträge zur angewandten Wirtschatlsforschung, 20); Sander, H. J.: Das Zonenrandgebiet..., S. 39. ,. Lompe et al.: Regionalisierung ... , S. 97 f.
19 Stern berg, R.: Wirtschafts- und Technologieförderung. In: Jung, H.-U., L. Schätzl (Hrsg.): Atlas zur Wirtschaftsgeographie von Niedersachsen. Hannover 1993. S. 234. 20 Ritter/Hajdu: Die deutsch-deutsche Grenze .... S. 229 ff.
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Hans-Joachim Bürkner 2.3 Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsentwicklung
Bereits in den späten 40er und frühen 50er Jahren wurde das Zonenrandgebiet in Niedersachsen vor besondere Anpassungsprobleme gestellt, da der Zustrom von Vertriebenen und Flüchtlingen rur erhebliche Arbeitsmarktbelastungen sorgte. Diese konnten mit dem Aufbau des VW-Werks in Wolfsburg und der Salzgitter AG sowie dem allgemeinen industriellen Aufschwung in den 50er und 60er Jahren weitgehend gemildert werden. Jedoch stellte sich bereits früh heraus, daß nicht nur die südostniedersächsische Kernregion, sondern auch die angrenzenden ländlichen Regionen auf Dauer kaum ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten rur eine wachsende Bevölkerung boten. Es kam daher zu altersselektiven Abwanderungen 21 , die bis in die 80er Jahre hinein anhielten. Die Folgen des Entwicklungsgeflilles zu den anderen Regionen Niedersachsens, aber auch - in stärkerem Maße noch - zum Süden der Bundesrepublik äußerten sich vor allem in hohen Arbeitslosenzahlen. Das Arbeitslosigkeitsniveau lag seit dem Ende der Hochkonjunkturperiode der 60er Jahre ausnahmslos über dem Bundesdurchschnitt. Besonders in konjunkturellen Tiefphasen nahmen die Abwanderungstendenzen der Erwerbsbevölkerung aus dem niedersächsischen Zonenrandgebiet regelmäßig zu. Dies gilt insbesondere rur die ländlichen Regionen (Lüneburg, Uelzen, Lüchow-Dannenberg) und die wachstumsschwachen Regionen Südniedersachsens mit kleinindustrieller Struktur (Northeim, Goslar, Osterode) und Fremdenverkehrswirtschaft (Harz). Auch die Schrumpfung der Altindustrien (z. B. des Braunkohlebergbaus im Landkreis Helmstedt oder der Stahlerzeugung und Metallverarbeitung in Salzgitter) sorgte rur starke Arbeitsplatzverluste und entsprechende Arbeitsmarktprobleme. Beschäftigungseffekte sind lediglich im Zusammenhang mit jüngeren Tertiarisierungsprozessen in den Großstädten des Zonenrandgebiets zu verzeichnen, die im Einklang mit gesamtdeutschen Trends erfolgten. So verringerte sich in der Stadt Braunschweig im Zeitraum von 1961 bis 1984 bei sinkender Gesamtbeschäftigung der Anteil der Arbeitsstätten im sekundären Sektor von 50 % auf 33 %, während der Anteil des tertiären Sektors auf 67 % stieg22 • Die Zahl der neuen Arbeitsplätze im expandierenden Handels- und Dienstleistungssektor reichte jedoch nicht aus, um den Beschäftigungsruckgang in der Industrie zu kompensieren. .
21
RitterlHajdu: Die deutsch-deutsche Grenze ... , S. 116 f.
Meibeyer, W., K.-W. Ohnesorge: Braunschweig - eine Stadt im Wandel. In: Geographische Rundschau, 38. 1986. H. 5. S. 237. 22
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3. Das Zonenrandgebiet nach der Vereinigung Deutschlands
3.1 Entwicklung der Regionalwirtschaft unter dem Vorzeichen der Grenzbeseitigung Mit der Grenzöffnung setzte in Niedersachsen kurzfristig eine stünnische Wirtschaftsentwicklung ein, die rur weite Teile des gesamten Zonenrandgebiets nach der Wende charakteristisch ist, aber einige markante Besonderheiten aufweist. Sie läßt sich grob in zwei Phasen unterteilen: Erste Phase: Vereinigungsboom
In fast allen Wirtschaftsbereichen war in Niedersachsen nach der Wende ein sprunghafter Wachstums- und Aktivitätsschub zu verzeichnen, rur den in der Öffentlichkeit der Begriff "Vereinigungsboom" geprägt worden ist. Ein starker Beschäftigungszuwachs (s. Abb. 2) machte sich noch in der Rezession 1992/93 positiv bemerkbar und muß somit eindeutig zu den Folgen der Grenzöffnung gerechnet werden: Der Beschäftigungsrückgang 1992/93 fiel in Niedersachsen niedriger aus als im gesamten Bundesgebief3 • Das Zonenrandgebiet profitierte von der Grenzöffnung nicht ganz so stark wie andere Regionen innerhalb Niedersachsens, konnte jedoch vor allem im Handwerk, dem Handel und dem Fremdenverkehr deutliche Zuwächse verzeichnen. In räumlicher Hinsicht waren besondere Wachstumsimpulse in denjenigen Regionen zu verzeichnen, die unmittelbar an den neuen Verkehrsachsen in OstWest-Richtung gelegen waren, das heißt entlang der Achse Hannover-Berlin, im Raum Lüneburg/Uelzen/Lüchow-Dannenberg, im Harz bzw. Harzvorland sowie im Raum Göttingen-Northeim (Abb. 3)24.
2l Jung, H.-U., K.-J. Hentschel: Regionalbericht 1992/1993/1994. Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen Niedersachsens und den angrenzenden Hansestädten. Hannover 1994. S. 36.
24
S. auch Jung/Hentschel, a. a. 0
Hans-Joachim Bürkner
286
Abbildung 2 Sozialversicherungspßichtig Beschäftigte im niedersächsischen Zonenrandgebiet, Niedersachsen und dem Bundesgebiet (West) 1985-1996 Uew. 30.9.) 118 116 114 112 110 108 106 104 102 100 1985
1987
1989
- - Bundesgebiet (West) Index 1985
=100
1991
1993
1995
Jahr
--+- Niedersachsen ---....,... nds. Zonenrandgebiet Quelle: AmHiche Nachrichten der BundesanstaH rur Arbeit
Abbildung 3 Sozialversicherungspßichtig Beschäftigte im niedersächsischen Zonenrandgebiet 1985-1996 Uew. 30.9.) 135.-------~---------------------------, 130r-------------------------~~~---fi
125
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Arbeitsamtsbezir1< _ Braunschweig -Goslar _Göttingen _Helmstedt -Hildesheim --Lüneburg -Uelzen
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1985
1987
Index 1985
= 100
1989
1991
1993
1995
Quelle: AmHiche Nachrichten der BundesanstaH rur Arbeit
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
287
Bemerkenswert ist vor allem eine starke Zunahme der Umsätze und der Beschäftigung im Einzelhandel der grenznahen Gemeinden unmittelbar nach Grenzöffnung, die zum Ziel von Einkaufspendlern aus den angrenzenden Regionen Sachsen-Anhalts und Thüringens wurden (Abb. 4). In den Landkreisen Lüchow-Dannenberg, Helmstedt, Goslar, Osterode und Göttingen war eine erhebliche Ausweitung der Einzelhandelsaktivitäten zu verzeichnen 25 •
Abbildung 4 Entwicklung der Beschäftigung im Groß- und Einzelhandel in den Arbeitsamtsbezirken des Zonenrandgebiets 1989-1993 Üew. 30.9.) 135.----------------------------------, 130~--------------------~------~~~
125~--------------~~--~~~~--~
120
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Arbeitsamtsbezirk ........ Niedersachsen insg. _ Braunschweig _Goslar _Göttingen --Helmstedt _Hildesheim _Lüneburg -+--Uelzen
100~~-----L--------L--------L------~
1989
1990
Index: 1989 = 100
1991
1992
1993 Jahr
Quelle: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt fur Arbeit
Besonders die größeren grenznahen Gemeinden wurden von der neuen Nachfrage, die von den Neuen Bundesländern ausging, in erheblichem Maße begünstigt. Allerdings mußte dieser Vorteil - besonders in den ersten Jahren nach der Vereinigung - mit Nachteilen erkauft werden, z. B. mit zusätzlichen Belastungen im Infrastrukturbereich. Hierzu zählen in erster Linie ein erhöhter Mangel an Wohnraum, verstärkte Belastungen der Verkehrsinfrastruktur und die Zunahme der finanziellen Belastungen der Kommunen durch öffentliche Investitionsausgaben 26 . Dennoch blieb die Beschäftigungs- und Umsatzzunahme im Handel insgesamt hinter der stark beschleunigten Entwicklung im restlichen Niedersachsen zurück, da dort der Großhandelsbereich mit enormen Wachstumsraten aufwar-
25
JunglHentschel: Regionalbericht...1994, S. 58.
Offer, M.: Das Zonenrandgebiet nach der deutschen Einigung - wirtschaftliche Entwicklung und regionalpolitische Implikationen. Mainz 1991. S. 259 (Studien des Forschungsinstituts fur Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, 45). 26
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Hans-Joachim Bürkner
ten konnte 27 • Die nachholenden Konsumaktivitäten der ostdeutschen Grenzbevölkerung hielten zumindest solange an, wie eine ausreichende Versorgung mit Konsumgütern in den Zentren des östlichen Zonenrandgebietes noch nicht sichergestellt war. Seit 1992 ist hier jedoch ein Rückgang zu beobachten. Immerhin ist trotz der kurzfristigen Nachfrageschwankung im Handelssektor eine Stabilisierung auf erhöhtem Niveau möglich gewesen. Auch die nach der politischen Wende anspringende Baukonjunktur erfaßte vor allem das Zonenrandgebiet, wo sich zunächst die hohe Nachfrage aus den Neuen Bundesländern nach Bau- und Ausbauleistungen sowie Baustoffen bemerkbar machte28 • Im Fremdenverkehr und im Bereich der persönlichen Dienstleistungen ist nach der Wende in Niedersachsen ebenfalls ein überdurchschnittliches Wachstum eingetreten, das im Zonenrandgebiet besonders hoch ausgefallen isf9 • Die Unternehmen des Produzierenden Gewerbes reagierten auf die Grenzöffnung vor allem, indem sie das erweiterte Arbeitskräfteangebot in Anspruch nahmen und in Bereichen mit geringen Qualifikationsanforderungen Produktionserweiterungen einfUhrten. Allerdings erreichte das Wachstum hier bei weitem nicht das Ausmaß des Handels und der Dienstleistungen. Zweite Phase: "Rückkehr" der alten Strukturschwäche
In der zweiten Phase, deren Beginn 1992 anzusetzen ist und die bis heute anhält, kam es zu einem Rückgang des Beschäftigungswachstums und zu einem allgemeinen Abklingen der Boomsymptome. Sowohl im Handel als auch in fast allen Dienstleistungs- und Industriebranchen verlangsamte sich das Wachstum bzw. mündete in eine Stagnation. Im Handel zeigte sich ein starker Nachfragerückgang seitens der Bevölkerung Ostdeutschlands, nachdem die ersten "nachholenden" Konsumgüterkäufe nach der Grenzöffnung getätigt waren und eine ausreichende Handels- und Dienstleistungsinfrastruktur in den ostdeutschen Kommunen im grenznahen Bereich aufgebaut worden war. Der Boom im Handwerk wurde in dem Maße abgeschwächt, wie die neu gegründeten ostdeutschen Unternehmen, vor allem entlang der ehemaligen Zonengrenze, zu einer ernsthaften Konkurrenz fUr die niedersächsischen Betriebe heranwuchsen. So konnten Unternehmen des Bau- und Bauhilfsgewerbes in Sachsen-Anhalt oder Nordthüringen aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus ihre Leistungen zu wesentlich günstigeren Bedingungen anbieten als die niedersächsische Konkurrenz, und zwar bei annähernd gleichem Leistungsumfang. Vor 27 28
29
Jung/Hentschel: Regionalbericht...I994, S. 56. Jung/Hentschel: Regionalbericht... I 994, S. 51. Jung/Hentschel: Regionalbericht...1994, S. 54, 71.
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
289
allem in Südniedersachsen entwickelte sich eine starke Nachfrage nach Leistungen des Bauhandwerks aus Nord- und Westthüringen. In der Industrie machte sich die alte Strukturschwäche, die durch den Boom überdeckt worden war, wieder bemerkbar: Zum einen setzte sich der Niedergang der Altindustrien, vor allem der Metallerzeugung und -verarbeitung und des Maschinenbaus, fort. Betroffen waren vor allem die Standorte Braunschweig und Salzgitter. Zum anderen machte sich der Konjunktureinbruch 1992/93 im Straßenfahrzeugbau im Volkswagenwerk Wolfsburg in hohem Maße bemerkbar, nachdem die gestiegene Nachfrage nach Automobilen zur Zeit der Wende für einen kurzfristigen Aufwärtstrend gesorgt hatte 30 • Lediglich die strukturschwachen ländlichen Regionen (Uelzen, LüchowDannenberg) konnten von dem Vereinigungsboom teilweise stärker profitieren (s. Abb. 3). Das überdurchschnittlich hohe Beschäftigungsniveau konnte hier wegen der anhaltenden Konjunktur im Baugewerbe und im Dienstleistungsbereich auch nach 1992 noch ausgebaut bzw. gehalten werden. 3.2 Arbeitsmarkt-, Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Zonenrandgebiet spiegelt die genannten zwei Phasen noch deutlicher wider als die Beschäftigtenzahlen, relativiert jedoch zugleich den positiven Gesamteindruck, der sich aus der Betrachtung der Beschäftigungsentwicklung ergibt.. Der Vergleich der Arbeitslosenquoten des Zonenrandgebiets, des gesamten Landesarbeitsamtsbezirks Niedersachsen und des Bundesgebiets (West) für die Jahre 1985 bis 1996 (Abb. 5) läßt zunächst den Vereinigungsboom in allen drei Gebietseinheiten ab ca. 1989 sehr gut erkennen. Charakteristisch für das Zonenrandgebiet ist der flachere Kurvenverlauf als im Gesamtgebiet Niedersachsens; der Aufschwung wirkte sich nur in geringerem Maße positiv auf den regionalen Arbeitsmarkt aus. Der Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit in allen drei Gebietskategorien ab 1992 markiert zunächst den nationalen Konjunktureinbruch. Auffallig ist jedoch wiederum, daß der Arbeitsmarkt des Zonenrandgebiets auf die verschlechterten Konjunkturbedingungen wesentlich anfalliger reagierte als derjenige Niedersachsens insgesamt.
.10
JunglHentschel: Regionalbericht...1994, S. 54.
19 Eckarl I Roesler
Hans-Joachim Bürkner
290
Abbildung 5 Entwicklung der Arbeitslosenquoten im Zonenrandgebiet, in Niedersachsen und im Bundesgebiet 1985-1996 (jew. 30.9.) % 14 13 12 11 10 9 8 7 6
1985
1987
- - Bundesgebiet West
1989 -
1991 Niedersaehsen
1993
1995
Jahr
- - . - Zonenrandgebiet
Quelle: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit
Zum relativ hohen Arbeitslosigkeitsniveau im grenznahen Raum hat der Umstand beigetragen, daß die Grenzöffuung in Niedersachsen von Zuwanderungen nach Südostniedersachsen begleitet war, die das regionale Erwerbspersonenpotential vergrößerten. Es handelte sich dabei um drei unterschiedliche Wanderungsbewegungen: I. die Binnenwanderung von Arbeitskräften aus den Neuen Bundesländern in die größeren Städte in der Nähe der ehemaligen Zonengrenze, 2. die Pendelwanderung der grenznahen Bevölkerung in die erreichbaren Großstädte des Zonenrandgebiets; betroffen waren hier vor allem Wolfsburg, Braunschweig und Salzgitter, 3. Fernwanderungen von Aussiedlern aus dem osteuropäischen Raum, die die im Raum Wolfsburg-Braunschweig-Salzgitter bestehenden Aussiedlerkonzentrationen verstärkten. Obwohl die Wachstumsraten der durchweg positiven Wanderungssalden hier nicht über dem Bundesdurchschnitt lagen J 1, ist der Kontrast zur vorherigen Bevölkerungsstagnation bzw. -abnahme vor Öffuung der innerdeutschen Grenze bemerkenswert.
31 Jung, H.-V., K.-J. Hentsehel: Regionalberieht Wirtsehaftsraum Brausehweig/Salzgitter/ Wolfsburg. Hannover 1996. S. 11
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
291
Alle drei Prozesse stellten in der ersten Phase nach der Grenzöffnung positive Faktoren der Wirtschaftsentwicklung dar, da sie spezifische Personalengpässe im Vereinigungsboom zu beseitigen halfen und zur Verjüngung des Arbeitskräftereservoirs beitrugen. In der zweiten Phase nahmen jedoch die Arbeitsmarktprobleme aufgrund des allgemeinen Beschäftigungsrückgangs zu; die Arbeitslosenzahlen stiegen deutlich an und mit ihnen auch die Probleme der Zuwandernden, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Besonders die Langzeitarbeitslosigkeit nahm aufgrund der neuen Arbeitskräfte-Konkurrenzen zu 32 • Folgerichtig kam es seit 1995 zu einem Nachlassen des Zuwanderungstrends. Vor allem in den Großstädten ist eine erhöhte Arbeitsmarktdynamik zu verzeichnen. Beschäftigungszuwachs und -abbau fuhren zu wesentlich stärkeren Fluktuationen auf den Arbeitsmärkten als vor der Vereinigung, da sich die Folgen der Grenzöffnung und der gesamtwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen gegenseitig verstärken.
Abbildung 6 Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den Arbeitsamtsbezirken des niedersächsischen Zonenrandgebiets 1985-1996 Üew. 30.9.) %
18 16 Arbeitsamtsbezirk _ Braunschweig _Goslar _Göttingen --Helmstedt _Hildesheim --Luneburg --Uelzen
14 12 10 8
1987
1989
1991
1993
1995
Jahr
QuellEr Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit
Wie in Abb. 6 zu erkennen ist, sorgte der Vereinigungsboom in fast allen Arbeitsamtsbezirken des Zonenrandgebiets fur einen gleichförmigen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Demgegenüber entwickelte sich der Anstieg der Arbeitslosenquoten in der 2. Phase ab .1992 disparitär. Die Verdichtungsräume Helmstedt (mit Wolfsburg als wichtigster Teilregion) und Göttingen, die am stärksten von 32
19·
Jung/Hentschel: Regionalbericht...1996, S. 69.
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Hans-Joachim Bürkner
Beschäftigtenverlusten wie auch von Zuwanderung betroffen waren 33 , zählen zu den Regionen mit der stärksten Zunahme der Arbeitslosenzahlen. Verstärkt wurde die Arbeitslosigkeit auch in Regionen, die einem Strukturwandel ausgesetzt waren, der mit einem zunehmenden Beschäftigungsabbau verbunden war. Beispielsweise kam es in der Textil- und Bekleidungsindustrie im Raum Goslar zu Produktionsverlagerungen in Richtung üstmitteleuropa. Auch die Arbeitsmarktregion Braunschweig zählt aufgrund des anhaltenden Beschäftigungsabbaus in den strukturbestimmenden wachstumsdefizitären Industriebranchen (Eisen- und Metallerzeugung, Maschinenbau, Elektrotechnik) weiterhin zu den arbeitsmarktpo litischen Problemregionen 34 • Die Arbeitsmärkte der ländlichen Räume (Uelzen und Lüneburg) haben sich überraschenderweise in der zweiten Phase nach der Grenzöffnung nicht so negativ entwickelt, wie dies aufgrund der Strukturschwäche zu erwarten war. Hier machte sich vermutlich die allgemein expansive Entwicklung im Einzelhandel, im Dienstleistungsbereich und im Baugewerbe bemerkbar. Allerdings sind deutliche intraregionale Disparitäten zu verzeichnen. So nimmt das Arbeitslosigkeitsniveau mit wachsender Nähe zur ehemaligen Zonengrenze teilweise erheblich zu, während die industriellen Regionalzentren (z. B Lüneburg) mit einer relativen Beschäftigungsstabilität aufwarten können 35 • 3.3 Ökonomische Restrukturierung unter dem Vorzeichen von G lobalisierungsprozessen Die Beobachtung, daß die alten Strukturprobleme wiedergekehrt sind, provoziert die Frage nach Art und Umfang von solchen regionalen Restrukturierungsprozessen, die nicht als Folge der Grenzöffnung angesehen werden können, sondern auf den globalen Strukturwandel der Regionalökonomien zurückzuführen sind, der seit Ende der 80er Jahre eine allgemeine Beschleunigung erfahren hat. Aufgrund der großen Abhängigkeit der Region von der Automobilindustrie läßt sich ein starker Einfluß von ökonomischen Globalisierungsprozessen auf die Region vermuten. In der Tat läßt sich die Entwicklung des Volkswagenkonzerns in den 90er Jahren als eine Phase der verstärkten Anpassung an Globalisierungserfordemis31 Schrader, M.: Bevölkerung und Haushalte. In: Jung, H.-U., L. Schätzl (Hrsg.): Atlas zur Wirtschaftsgeographie von Niedersachsen. Hannover 1993. S. 56 ff. ,. JunglHentschel: Regionalbericht. .. 1996, S. 33, 66 f.
" Wagner, J.: Arbeitsplatzdynamik, Technologieintensität und Betriebsgrößenstruktur in der Industrie Lüneburgs - Empirische Untersuchungen mit Betriebsdaten für den Zeitraum 1978-1994. In: Wagner, J., T. Wein (Hrsg.): Der Wirtschaftsraum Lüneburg - Chancen und Perspektiven. Lüneburg 1996. S. 29-58 (Arbeitsberichte des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg, 161).
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
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se beschreiben. Der Konzern begegnete dem gewachsenen globalen Konkurrenzdruck durch eine Strategie der forcierten Produktdiversifizierung, der Durchsetzung von "schlanken" Produktionskonzepten, einer im wesentlichen technikzentrierten Innovationsstrategie36 und des Ausbaus von flexibel agierenden Zulieferernetzwerken. Diese Strategie ging mit einem kontinuierlichen Abbau der Beschäftigung einher, der zusätzlich zu den konjunkturbedingten Schwankungen des Beschäftigungsstandes fUr die erwähnten erhöhten Arbeitslosenzahlen sorgte. Obwohl die Flexibilisierung von großindustriellen Produktionsstrukturen und die Bildung von kleinteiligen Netzwerken allgemein als Vorbedingung einer neuen Regionalisierung, d. h. einer stärkeren regionalen Verankerung der Produktion (z. B. in sog. ProduktionscIustern) gesehen wird 37 , konnten in Südostniedersachsen bislang kaum nennenswerte Regionalorientierungen unter Zulieferbetrieben festgestellt werden 38 • Deren Standortentscheidungen (z. B. im Zusammenhang mit dem Aus- und Umbau von Zulieferernetzen) und somit die Entscheidung über die weitere Beschäftigungsentwicklung werden tendenziell von den technologischen Entwicklungsstrategien der Konzernzentralen (hier: des Volkswagenwerkes) gesteuert, in deren Rahmen die kurzfristige Herstellung und Auflösung von Kooperationsbeziehungen und die Koordination von Produktionsverlagerungen eine große Rolle spielt. Auf lange Sicht dürfte sich dies destabilisierend auf die ohnehin prekäre Beschäftigungssituation auswirken. Ein weiterer wichtiger ökonomischer Restrukturierungsprozeß besteht in der zunehmenden Kooperationstätigkeit der in der Region ansässigen Unternehmen mit neu entstandenen und restrukturierten Unternehmen in den Neuen Bundesländern. Zudem wurden von Unternehmen mit Sitz innerhalb des ehemaligen Zonenrandgebiets vermehrt Filialen gegründet, deren Standorte überwiegend in den angrenzenden Landkreisen der Neuen Bundesländer gewählt wurden J9 . Dieses Phänomen betraf in der ersten Phase vor allem den Handel 40 , nachfol16
BlöckerlLompe: Ansätze ... , S. 57.
Siehe dazu die Übersichten über den Forschungsstand zum Zusammenhang der Entstehung von Unternehmens netzwerken, kreativen Milieus und Regionalentwicklung bei: FromholdEisebith, M.: Das "kreative Milieu" als Motor regionalwirtschaftlicher Entwicklung. In: Geographische Zeitschrift, 83. 1995. H. 1. S. 30-47; Krätke, S.: Globalisierung und Regionalisierung. In: Geographische Zeitschrift, 83. 1995. H. 4. S. 207-221; Sternberg, R.: Regional Growth Theories and High-Tech Regions. In: International Journal of Urban and Regional Research, 20. 1996. S. 518-538. J8 Blöcker/Lompe: Ansätze ... , S. 74. J7
39 S. Heller, W.: West-Unternehmen im Grenzgebiet Nordthüringens. Zur räumlichen Ausbreitung von Betriebsgründungen durch Investoren aus den alten Bundesländern nach der politischen Wende (1989-1992) in den Landkreisen Heiligenstadt, Worbis und Nordhausen. In: Mäusbacher, R., P. Sedlacek (Hrsg.): Freistaat Thüringen. Beiträge zur Landesforschung und Landesentwicklung. Jena 1993. S. 93-112 (Jenaer Geographische Schriften, 1). 40 Offer: Das Zonenrandgebiet..., S. 253.
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Hans-Joachim Bürkner
gend aber auch das ProduZierende Gewerbe. Hinzu kamen in der zweiten Entwicklungsphase zunehmende Produktionsverlagerungen in weiter entfernt gelegene Regionen Ostdeutschlands und Ostmitteleuropas, über deren Umfang allerdings keine verläßlichen Daten vorliegen. Darüber hinaus setzte sich die krisenhafte Entwicklung des Bergbaus und der Metallerzeugung und -verarbeitung fort, die bereits vor der Vereinigung begonnen hatte. Die weiterhin betriebene Zweigwerkswirtschaft stellt einen regionalen Risikofaktor dar, der zur laufenden konjunkturbedingten Schließung von Filialbetrieben durch auswärtige Mutterunternehmen und die Konzentration auf "wettbewerbsflihige" Standorte führt. Hinzu kommt die notorische Innovations~ schwäche der niedersächsischen ·Industrieunternehmen aufgrund von geringer Forschungs- und Entwicklungstätigkeit und mangelnder Vernetzung mit wissenschaftlich-technischer Infrastruktur41 • Beide Phänomene sind von der Grenzöffnung weitgehend unberührt geblieben und der Anpassung an globale Wettbewerbsbedingungen geschuldet. Sie erfahren unter den Bedingungen einer veränderten Regionalpolitik und generell nachlasserider staatlicher Förderungstätigkeit42 jedoch eine Verstärkung ihres Risikopotentials, insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigungssituation und die Entwicklung des regionalen Arbeitsmarkts. Insgesamt gesehen haben sich die globalen Trends der Beschleunigung von Kapitalflüssen und des flexibleren Einsatzes der Produktionsfaktoren nicht nur auf groß-, sondern auch auf klein- und mittelbetrieblicher Basis in Südostniedersachsen strukturverändernd ausgewirkt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Elemente der alten Strukturschwäche, insbesondere die geringe Innovationsflihigkeit der Regionalwirtschaft,erhalten geblieben sind und die weitere Integration in die internationale Arbeitsteilung erheblich beeinflussen. So hat sich unter anderem das Defizit an Hochtechnologiebranchen auch in den 90er Jahren nicht verringert. Lag der Spitzentechnologiebereich in Niedersachsen bereits im Jahr 1987 (Anteil von 4,5 % an allen Branchen) weiterhin erheblich unter dem Bundesdurchschnitt (8, I %)43, so hat sich dieses Verhältnis seitdem kaum verändert. 3.4 Regiohalisierte Strukturpolitik: neue Wege aus alten Gefahren? Die niedersächsische Landesregierung· hat seit Beginn der 90er Jahre versucht, den möglichen negativen Globalisierungsfolgen mit einer Politik der 41
42
Blöcker/Lompe: Ansätze ... , S. 57. Siehe dazu das folgende Kapitel.
43 Jung, H.-U.: Produzierendes Gewerbe. In: Jung, H.-U., L. Schätzl (Hrsg.): Atlas zur Wirtschaftsgeographie von Niedersachsen. Hannover 1993. S. 132.
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
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Regionalisierung ZU begegnen. Hierbei sollte vor allem der Umstand genutzt werden, daß Globalisierung und Regionalisierung in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen können: Die regionale Ebene wird durch Globalisierungsprozesse aufgewertet, da die Regionen als virtuelle ökonomische Akteure in Konkurrenz zueinander treten und die Bedingungen der Verwertung globalen Kapitals beeinflussen können 44 • Unter der Bezeichnung "Regionalisierte Strukturpolitik" wird daher das Ziel verfolgt, die Regionen in ihrer neuen Rolle als Wettbewerbsteilnehmer im europäischen Rahmen zu stärken, die Vernetzung von regionalen Akteuren zu fOrdern und zugleich innovative Entwicklungsansätze selektiv zu fördern 45 • Neue Dialogformen und Verfahren der Konsensfindung zwischen politischen, ökonomischen und anderen Akteuren (z. B. Regionalkonferenzen) sollen dazu beitragen, unverwechselbare Standortprofile und Spezialisierungsvorteile einzelner Regionen zu schaffen. Als Zwischenziele auf dem Weg zu dem genannten Hauptziel werden zusätzlich angestrebt: eine Stärkung der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Regionen, die Mobilisierung und Bündelung regionaler Potentiale und die "Sicherung und Weiterentwicklung ökologisch und sozial gestalteter Lebensbedingungen und -räume"46. Angesichts der geringen Fördermöglichkeiten, die nach der deutschen Vereinigung für die Region Südostniedersachsen existieren, mag es auf den ersten Blick so scheinen, als habe das Land Niedersachsen mit dieser Politik die Flucht nach vom angetreten. Die schrittweise Reduzierung und schließliche Einstellung der ZonenrandfOrderung zu Beginn der 90er Jahre hatte zuvor empfindliche Finanzierungslücken für die Kommunen und Landkreise hinterlassen, die nur partiell über alternative Fördermöglichkeiten, z. B. im Rahmen der Strukturpolitik der Europäischen Union oder der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"47, verringert werden konnten. Angesichts steigender Haushaltsdefizite und begrenzter eigener Fördermittel besteht rur das Land in der neuen Regionalisierung die Chance, nicht nur Handlungskompetenzen, sondern auch finanzielle Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten an die Regionen abzugeben und so zu einer kostengünstigen Bewältigung gegenwärtiger und künftiger Umbrüche zu gelangen. Allerdings wäre es eine verkürzte Sicht der Dinge, wollte man ausschließlich die - sicherlich nicht von der Hand zu weisenden - fiskalpolitischen Vorteile der Regionalisierung betonen. Angesichts der negativen Erfahrungen mit dem in der Zonenrandförderung praktizierten Gießkannenprinzip (d. h. der weitgehend ~4
Lompe et al.: Regionalisierung ... , S. 38.
~s
BlöckerlLompe: Ansätze ... , S. 59 f.
~6
Lompe et al.: Regionalisierung ... , S. 68.
47
JunglHentschel: Regionalbericht...1996, S. 5 f.
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Hans-Joachim Bürkner
strukturblinden Flächenförderung) in der Vergangenheit und ihren geringen Auswirkungen in bezug auf die Verringerung regionaler Disparitäten besteht vermehrter Handlungsbedarf zur Lösung der alten Strukturdefizite der Region. Hier eröffnet die regionalisierte Strukturpolitik neue Handlungsoptionen, die vor allem auf die Auflösung der traditionellen Monostrukturen gerichtet sind. Diesbezügliche Perspektiven setzen beispielsweise bei einer Um orientierung der Region Südostniedersachsen zu einer "Verkehrskompetenzregion" an, um die Dominanz der Automobilherstellung zu schwächen und die Entwicklung einer diversifizierten Produktionslandschaft zu fördern - eine Strategie, für die nach Ansicht ihrer Befürworter durch die "günstige Konzentration verschiedener Verkehrsmittelproduzenten sowie entsprechende Forschungs- und Entwicklungskapazitäten" bereits ausreichende Anknüpfungspunkte geschaffen worden sind 48 • Inwieweit derartige Handlungsoptionen, die bislang vor allem von Akteuren auf überregionaler Ebene (quasi "von oben") entworfen worden sind, von den lokalen Akteuren als ihr eigenes Anliegen begriffen werden und dann auch noch in die erforderlichen konzertierten Aktionen auf der regionalen Ebene überführt werden können, ist derzeit jedoch völlig ungewiß.
4. Resümee Der Übergang des niedersächsischen Zonenrandgebiets von einem geschützten Wirtschaftsraum zu einem gesamtdeutschen und europäischen Konkurrenzraum vollzieht sich unter widersprüchlichen Vorzeichen. Zum einen hat die Grenzöffnung zu einer Belebung der ökonomischen Aktivitäten in der traditionell krisenanfälligen Region geführt; zum anderen hat sich gezeigt, daß gesamtökonomische Krisen die Regionalwirtschaft nach wie vor in überproportionalem Maße tangieren und negative Auswirkungen auf die Arbeitsmarktentwicklung zeitigen. Zudem haben ökonomische Globalisierungsprozesse zu einer Restrukturierung der Region geführt, die die negativen Folgen der anhaltenden Strukturschwäche weiter akzentuiert hat. Unter den Bedingungen des Wandels der Regionalökonomien hin zur Öffnung gegenüber verschärften, gesamteuropäisch und global definierten Konkurrenzsituationen stellen die nach der Wende kaum veränderten Strukturdefizite sowie das anhaltend langsame Innovationstempo eine schwere Hypothek dar. Aus diesem Befund die Annahme abzuleiten, daß der Vereinigungsboom lediglich ein kurzzeitig aufloderndes Strohfeuer gewesen sei, wäre zum jetzigen Zeitpunkt allerdings verfrüht. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß besonders an derzeit begünstigten Standorten (z. B. in der Nähe der neuen Ost-WestVerkehrsachsen) längerfristig wirksame Wachstumsimpulse und Anstöße für "" Blöcker/Lompe: Ansätze ... , S. 77.
Probleme der Regionalentwicklung im niedersächsischen Zonenrandgebiet
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eine Modemisierung der Wirtschafts struktur gegeben worden sind. Für die Mehrzahl der Teilregionen kann jedoch gesagt werden, daß der Boom kaum zur Lösung der alten Strukturprobleme beigetragen hat. Zeitweise sind diese Probleme geradezu von den vordergründigen Wachstumserscheinungen verdeckt worden. Hier sind aufgrund der weitgehend ausbleibenden staatlichen Förderung und der vorerst ungewissen Erfolgschancen der neuen Regionalisierungsstrategien rur die Zukunft eher schmerzhafte Anpassungprozesse an gewandelte globale Wettbewerbsbedingungen zu erwarten.
Helmut Jenkis WOHNUNGS WIRTSCHAFT UND WOHNUNGSWIRTSCHAFTSPOLITIK - SOZIALÖKONOMISCHE GRUNDLAGEN Neben Ernährung und Bekleidung gehört die Behausung - die Wohnung - zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Dieses Grundbedürfnis wird unterschiedlich definiert und interpretiert. Am deutlichsten kam die unterschiedliche gesellschaftspolitische Bewertung des Wohnens während der Teilung Deutschlands zum Ausdruck: In der ehemaligen DDR wurde das Wohnen als gesellschaftlicher Konsumakt angesehen, in der Bundesrepublik Deutschland hingegen als ein Teil der sozialen (Wohnungs-) Marktwirtschaft. Hierbei geht es um die Grundsatzfrage, ob das Gut Wohnung bzw. das Wohnen als ein Wirtschaftsoder als ein Sozialgut angesehen wird. Bevor diese Frage beantwortet wird, sollen einige Besonderheiten der Wohnungswirtschaft skizziert werden, denn daraus werden die Sonderstellung der Wohnungswirtschaft und die Sozialgut-These abgeleitet. I. Die Besonderheiten der Wohnungswirtschaft
Häufig wird nicht einwandfrei zwischen der Bau- und der Wohnungswirtschaft unterschieden: Die Bauwirtschaft gehört zum produzierenden Gewerbe, das Wohnungen, Industrie-, Gewerbe- oder Verwaltungsgebäude im Auftrage des Bauherren errichtet. Die Bauwirtschaft ist Teil der Bereitschaftsindustrie, da sie auf die Aufträge der Bauherren - öffentliche Hand, Private, Wirtschaft - warten muß; denn sie kann nicht auf Vorrat produzieren. Die Bauwirtschaft nimmt auf Grund ihrer Arbeitsintensität in der Gesarhtwirtschaft eine bedeutende Stellung ein, sie ist aber auftrags- und damit konjunkturabhängig. Dagegen ist die Wohnungswirtschaft ein Dienstleistungszweig, der Grund und Boden, Kapital und Bauleistungen beschafft, um Wohnungen errichten zu lassen. Wenn Eigentumsmaßnahmen - Eigenheime und Eigentumswohnungen - errichtet werden, dann handelt es sich um Durchlaufbesitz, werden dagegen Mietwohnungen gebaut, dann verbleiben diese im Dauerbesitz des Bauherren. Als Bauherr wird derjenige bezeichnet, der das sogenannte Bauherrenrisiko trägt, d.h., das Finanzierungs-, Kosten- und Fertigstellungsrisiko zu übernehmen hat. Bauherren, die vornehm-
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Helmut Jenkis
lich oder ausschließlich Eigentumsmaßnahmen errichten, sind Umsatzunternehmen, diejenigen, die Mietwohnungen bauen lassen, sind Bestandsunternehmen. Die Umsatzunternehmen sind konjunkturanfällig, die Bestandsunternehmen unterliegen lediglich hinsichtlich ihres Wohnungsbestandes dem Vennietungsrisiko und damit konjunkturellen Einflüssen. In begrenztem Umfang hat sich ein Mischsystem zwischen Bau- und Wohnungsunternehmen herausgebildet. Ein weiteres Charakteristikum der Wohnungswirtschaft besteht darin, daß es eine Vielzahl von Bauherren mit sehr unterschiedlichen Motiven rur ihre Investitionsentscheidungen gibt: Der Einzelbauherr wird nur ein- oder zweimal in seinem Leben ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung bauen bzw.kaufen, um seine Wohnbedürfnisse zu befriedigen, er ist ein Selbstversorger. Ein Bauträger als Umsatzunternehmen baut Wohnungen rur den Markt, die fertiggestellten Einheiten sollen gewinnbringend abgesetzt werden. Dagegen hat eine Wohnungsbaugenossenschaft den Auftrag, seine Mitglieder dauerhaft zu günstigen Konditionen mit Wohnraum zu versorgen. Dieser Versorgungsauftrag kann darin bestehen, daß Mietwohnungen errichtet und vennietet werden, er kann aber auch darin bestehen, daß Eigentumsmaßnahmen an die Genossenschaftsmitglieder veräußert werden. Bei den Wohnungsbaugesellschaften kommt es darauf an, wer die Kapitaleigner sind und welche unternehmerischen Ziele diese verfolgen. Gesellschaften im Eigentum der Kommunen werden andere Ziele als industrieverbundene oder kirchliche Wohnungsunternehmen zu realisieren versuchen. Es liegt nicht nur eine Vielzahl von Bauherren vor, es sind auch sehr unterschiedliche Motive für deren (Investitons-) Entscheidungen vorhanden. Diese unterschiedliche Motivlage wird noch durch die staatlichen Einflüsse wie Subventionen, steuerliche Vergünstigungen usw. beeinflußt, so daß sich im Zeitablauf Änderungen ergeben. Der Wohnungsmarkt weist Besonderheiten auf, die auf den meisten Konsumgütennärkten nicht anzutreffen sind: Das Gut Wohnung ist eine Immobilie, d.h., sie ist nicht beweglich. Dieses hat zur Folge, daß die Standortgebundenheit der Wohnungen Anpassungen an regionale oder konjunkturelle Veränderungen unmöglich machen. Dieses erhöht die Risiken der wohnungswirtschaftlichen Investitionen, zumal Wohnungen eine Nutzungsdauer von bis zu 100 Jahren haben. Der Wohnungsmarkt ist nicht nur ,starr', sondern auch dadurch gekennzeichnet, daß auf ihn wesentliche Merkmale des Marktmodells nicht zutreffen (Marktunvollkommenheit): Es liegt keine Homogenität des Gutes Wohnung vor, da sowohl bei den Anbietern als auch bei den Nachfragern sachliche, räumliche, zeitliche und persönliche Präferenzen vorhanden sind. Auch die für einen vollkommenen Markt erforderliche Offenheit ist nicht gegeben, da der Marktzutritt nicht nur vom Bebauungsplan, sondern auch von der kommunalen Baugenehmigung abhängt, und schließlich handelt es sich nicht um einen offe-
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
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nen, sondern um einen gelenkten bzw. regulierten Markt, da Z.B. Kündigungsschutz besteht und die Mieterhöhungen begrenzt sind. Von besonderer Bedeutung sind die räumlichen und persönlichen Präferenzen, d.h., daß insbesondere die Nachfrager subjektive Wertvorstellungen über ihre Wohnwünsche haben. Die Marktunvollkommenheit besteht darüber hinaus auch darin, daß die regionalen Wohnungsmärkte zusätzlich durch die Eigentumsformen - Mietwohnungen und Eigentumsobjekten - und die staatlichen Subventionen - sozialer, steuerbegünstigter und freifinanzierter Wohnungsbau - segmentiert werden. Um die Funktionsfiihigkeit des Wohnungsmarktes zu verbessern, fordern liberale Ökonomen, daß die reglementierenden Einflüsse des Staates reduziert werden, sozialorientierte Ökonomen sehen in der Wohnung mehr als ein ,gewöhnliches' Konsumgut und vertreten daher die Ansicht, daß Regulierungen und Interventionen unerläßlich seien; denn das Wohnen ist mehr als ein Dach über dem Kopf. Die skizzierten Marktunvollkommenheiten des Gutes fUhren zu der Frage, ob es überhaupt einen funktionierenden Wohnungsmarkt gibt: Es gibt keinen Wohnungsmarkt fUr die gesamte Bundesrepublik Deutschland, wie es z.B. einen Kapitalmarkt gibt, sondern es bestehen zahlreiche Regionalmärkte, auf denen wiederum zwischen den Eigentumsobjekten (Eigenheimen und Eigentumswohnungen) und den Mietwohnungen - hier wiederum zwischen den sozial-, steuerbegünstigten und freifinanzierten Wohnungen - unterschieden wird. Daher sind generelle Aussagen über die Verkaufs- oder über die Mietpreise nicht möglich, nicht einmal in einer Stadt, da es auch hier punktuelle Lageunterschiede gibt. Trotz dieser Marktunvollkommenheiten sind Marktprozesse wirksam. Es handelt sich aber nicht um einen vollkommenen, sondern um einen funktionsflihigen Wettbewerb (workable competition, von John M. Clark entwickelt) der innerhalb von zyklischen Bewegungen abläuft: Aufgrund der kriegs- und nachkriegs bedingten Ereignisse - Zerstörungen und Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen - war die Wohnungswirtschaft bis etwa 1966/67 aus den Konjunkturzyklen aus sozialpolitischen Gründen herausgenommen worden. Seitdem unterliegt auch dieser Wirtschaftszweig zyklischen Bewegungen. Die wohnungswirtschaftlichen Konjunkturzyklen entsprechen in etwa dem Juglar-Zyklus von 7 bis 11 Jahren (benannt nach Clement Juglar, 1819-1905). In Phasen des Hochschwungs und der Wohnungsverknappung steigen die Verkaufs- und Mietpreise, die Vermieter suchen sich ,gute' Mieter aus, in Phasen des Abschwungs sinken die Preise und die Vermieter sind auch bereit, ,schwache' Mieter zu akzeptieren. Da die Mietverhältnisse über Jahre oder Jahrzehnte bestehen, ergeben sich nur langfristige Veränderungen. Auch hierin liegt ein Unterschied zu den Konsumgütermärkten vor. Die Besonderheiten der Wohnungswirtschaft - zu erwähnen sind noch die lange Produktionsdauer, die hohe Kapitalintensität und die Zinsempfindlichkeit
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der langfristigen Investitonen - fUhren zu der These von der Sonderstellung des Gutes Wohnung, aus der wiederum die Frage abgeleitet wird, ob das Gut Wohnung ein Wirtschafts- oder ein Sozialgut ist. 2. Die Wohnung - ein Wirtschafts- oder ein Sozialgut?
Nicht nur fUr die Bürger (Konsumenten) , sondern auch fUr den Staat ist von entscheidender Bedeutung, ob das Gut Wohnung als Wirtschafts- oder als Sozialgut betrachtet wird. 2.1 Begriffliche Abgrenzung Die beiden Begriffe Wirtschafts- und Sozialgut werden wie folgt abgegrenzt: 1. Wirtschaftsgut: Der Konsument - insbesondere der Mieter - hat den vollen Mietpreis zu bezahlen. Die staatlichen Interventionen beschränken sich im wesentlichen auf den Rechtsschutz, z.B. Kauf bricht nicht Miete (§ 571 BGB). Im übrigen hat der Eigentümer freies VerfUgungsrecht, und es besteht Vertragsfreiheit.
2. Sozialgut: Aus sozialpolitischen Gründen erfolgen hoheitliche Eingriffe, die das freie VerfUgungsrecht des Eigentümers bzw. Vermieters einschränken und damit dem Mieter - unabhängig von den Marktgegebenheiten - Schutz gewähren, d.h., daß die Mieter Kündigungsschutz erhalten und eine nicht kostendeckende Miete entrichten.
Die These vom Wirtschaftsgut wird insbesondere von (liberalen) Ökonomen vertreten, die darauf verweisen, daß in der ehemaligen DDR und in allen sozialistischen Ländern die Wohnungswirtschaft bewußt aus dem Marktprozeß herausgenommen wurde, mit dem Ergebnis, daß nach ,der Wiedervereinigung ein großer Substanzverzehr - Verfall der Gebäude - festgestellt wurde, da die Eigentümer auf Grund der nicht kostendeckenden Mieten Instandhaltungen und Modernisierungen nicht finanzieren konnten und der Staat. nicht in der Lage war, die hierfUr erforderlichen Subventionen aufzubringen. Die Sozialgut-These wird von Sozial- oder Familienpolitikern vertreten, die darauf hinweisen, daß es sich bei der Wohnung um den Lebensmittelpunkt und nicht um ein beliebiges Konsumgut - wie z.B. einen Kühlschrank oder ein Auto - handelt. Bei dem Versuch, der Wohnung sowohl eine ökonomische als auch eine soziale Funktion zuzuweisen entsteht die Problematik der Abgrenzung, d.h., in welchem Umfang die eine oder die andere These gelten und fUr welchen Personenkreis es mehr oder weniger Wirtschafts- oder Sozialgut sein soll. Bei der ,sowohl-alsauch-These' handelt es sich um eine pseudo-normative Leerformel und ist als solche abzulehnen, da sie nicht konkretisierbar ist.
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2.2 Phasen der Wohnungswirtschaftspolitik In Ennangelung einer rechtlichen Abgrenzung soll historisch geklärt werden, welche Positionen der Staat in der Vergangenheit eingenommen hat und welche Ergebnisse die Wohnungswirtschaftspolitik in den verschiedenen Phasen zeitigte: Wenn von einer ökonomisch, sozial und hygienisch unbefriedigenden Wohnungswirtschaftspolitik gesprochen wird, dann wird in der Regel auf die marktwirtschaftliche (kapitalistische) Ordnung der Wohnungswirtschaft im 19. Jahrhundert - bis zum Ersten Weltkrieg - verwiesen. Als Beispiel für eine verfehlte Baupolitik mit den negativen Folgen der Hinterhöfe, der mangelnden Belichtung und Besonnung sowie der Überbelegung der kleinen und teuren Wohnungen wird Berlin angeführt. Bei dieser berechtigten Kritik an einer ausschließlich marktwirtschaftlich orientierten Wohnungswirtschaftspoltik wird aber übersehen, daß seit dem Dreißigjährigen Krieg bis zur Französischen Revolution der Staat eine aktive Gewerbe- und Ansiedlungspolitik betrieb sowie Städte gründete und erweiterte: Wie nach 1945 war die Wirtschafts- und damit auch die Wohnungswirtschaftspoltik nach dem Dreißigjährigen Krieg auf den Wiederaufbau gerichtet. Repräsentativ für die wohnungswirtschaftlichen Förderungsmaßnahmen können die Bestimmungen der Edikte des Großen Kurfürsten von 1667, die Edikte Friedrich Wilhelm 1. von 1722 und die Friedrich des Großen angesehen werden. Durch die Edikte wurde z.B. bestimmt, daß bebau bare Grundstücke enteignet werden konnten, daß der Staat Baugrundstücke zum Ackerwert oder in Erbpacht zu mäßigem Zins bereitstellte, daß Baumaterialien (wie nach 1945) unentgeltlich zur Verfügung standen, daß er ferner Baukostenzuschüsse gewährte und schließlich sogar Steuerbefreiungen einräumte. Diese unvollständige Aufzählung belegt, daß vor über 200 Jahren nahezu das vollständige Instrumentarium einer aktiven staatlichen Wohnungsbauförderung entwickelt worden war und praktiziert wurde. Mit der Französischen Revolution fand diese aktive staatliche Wohnungswirtschaftspolitik ihr Ende, da einmal die Finanzmittel fehlten und zum anderen - und das war entscheidend - mit der Französischen Revolution das liberale Rechts- und Wirtschafts denken einsetzte: Die Aufgaben des Staates wurden auf die polizeiliche Sicherheit reduziert, im Wirtschaftsleben wurde jede staatliche Intervention als schädlich angesehen. Für die Wohnungswirtschaft hatte dieses zur Folge, daß es - bis auf die Arbeitgeberfunktion des Staates - keine aktive Wohnungswirtschaftspolitik mehr gab. Diese ausschließlich marktorientierte Politik wurde auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgt, als Deutschland in die Phase der Industriealisierung, der Bevölkerungsvennehrung und der Verstädterung trat. Gerade in diesem Stadium hätte es einer aktiven
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Wohnungswirtschaftspolitik bedurft, um ökonomische, technische, soziale und hygienische Fehlentwicklungen zu venneiden. Wenn von einem Versagen der staatlichen Wohnungswirtschaftspolitik gesprochen und der marktwirtschaftliche (kapitalistische) Wohnungsbau kritisiert wird, dann ist es in etwa der Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Allerdings ist auch nicht zu verkennen, daß in diesem Zeitraum die wohnungswirtschaftliche Marktwirtschaft trotz aller berechtigten Kritik zu einer quantitativen und qualitativen Verbesserung der Wohnraumversorgung beigetragen hat. 2.3 Der Übergang zur aktiven Wohnungswirtschaftspolitik Ansätze für eine Korrektur der marktwirtschaftlichen Wohnungs- und Städtebaupolitik wurden in Preußen bereits vor der Jahrhundertwende auf kommunaler Ebene erkennbar: So das Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874 und das Fluchtliniengesetz vom 2. Juli 1875. Durch die sogenannte ,Lex Adickes' (benannt nach dem Frankfurter Oberbürgenneister Franz Adickes, 1846-1915) wurde mit dem ,Gesetz, betreffend die Umlegung von Grundstücken in Frankfurt a.M. vom 28. Juli 1902' die Möglichkeit der zwangsweisen Umlegung von Grundstücken geschaffen. Mit dem Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 wurde die Besteuerung der Grundstücke nach dem gemeinen Wert eingeführt. Trotz dieser Regelungen handelte es sich noch nicht um eine aktive Wohnungswirtschaftspolitik. Bis zum Ersten Weltkrieg dominierte die liberale (Wohnungs-) Wirtschaftspolitik. SO Z.B. ging das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene BGB (Bürgerliche Gesetzbuch) von der Grundvorstellung der Vertragsfreiheit aus, die staatliche Einflüsse ausschloß, d.h., daß eine soziale Ausgestaltung des Mietrechts noch nicht vorhanden war. Die Staats intervention setzte mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein, wobei man zwischen der zeitlich begrenzten (kriegsbedingten) Notlagenintervention und den (dauerhaften) ordnungspolitischen Maßnahmen unterscheiden muß. In der ersten Phase handelte es sich um eine Notlagenintervention, aus der nach 1919 und zu Beginn der zwanziger Jahre das System der Wohnungszwangswirtschajt entwickelt wurde, das in seiner vollständigen Fonn die folgenden Komponenten enthält:
1. Mietpreiskontrolle: Unabhängig von den Selbstkosten der Anbieter bzw. dem Markt- (Knappheits-) preis wird ein Mietenstopp, die Mietenkontrolle oder eine Mietpreisbindung verordnet und vom Staat zwangsweise durchgesetzt. 2. Wohnraumbewirtschajtung: Diese beinhaltet die Einschränkung oder die Beseitigung der freien Vertragsbegründung zwischen den Vertragsparteien, denn der gesamte Wohnraum ist erfaßt und wird durch die Wohnungsämter
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zugewiesen, auf Grund der Zuweisung ist der Mietvertrag abzuschließen. Die freie Wohnraumwahl ist ausgeschlossen. 3. Mieterschutz: Durch Rechtsvorschriften wird die rechtliche und damit auch die wirtschaftliche bzw. soziale Position des Mieters gegenüber dem Eigentümer (Vermieter) gestärkt, d.h., das freie Kündigungsrecht eingeschränkt.
Eine derartige Wohnungszwangswirtschaft bezieht sich auf den Wohnungsbestand. Insbesondere die Mietpreiskontrolle fUhrt dazu, daß dieser Bestand der zu etwa 98% die Wohnungsnachfrage befriedigt - unrentabel wird, so daß weder Reparaturen noch Neubauten von den Hauseigentümem finanziert werden können. Eine sozial orientierte Bestandspolitik hat zur Folge, daß der Staat den Wohnungsneubau subventionieren muß, dieses erfolgte in der sogenannten ,Hauszinssteuer-Ara ': Durch die Hyper-Inflation zu Beginn der zwanziger Jahre und die Währungsreform im Herbst 1923 wurden nicht nur die Geldvermögen, sondern auch die Schulden (Hypotheken) vernichtet, dagegen blieb das Realvermögen - die Wohnungen - erhalten. Um diesen Währungsgewinn abzuschöpfen, mußten die Hauseigentümer eine Gebäudeentschuldungssteuer zahlen, die in Preußen ,Hauszinssteuer' genannt wurde. Aus diesem Steueraufkommen wurde der Wohnungsneubau finanziert, d.h. zu günstigen Konditionen Öffentliche Mittel bereitgestellt. Das System der Objektförderung (Kapitalsubvention) ist noch in der Gegenwart vorhanden, aber umstritten. Mit dieser Doppelstrategie - einerseits sozialorientierte Bestandspolitik und andererseits Förderung des Neubaus durch die Kapitalsubvention - wurde die aktive staatliche Wohnungswirtschaftspolitik begründet. 2.4 Die Wohnungswirtschaftspolitik zwischen Auflockerung und Zwangseingriffen Nicht nur das Gut Wohnung, sondern auch die staatlichen Eingriffe - die zwischen Auflockerung und Verstärkung der Zwangswirtschaft schwankten haben eine lange Lebensdauer: Gegen Ende der zwanziger Jahre (Beginn der Weltwirtschaftskrise) wurden die zwangswirtschaftlichen Eingriffe gelockert, um dann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre - Aufrüstung und Vierjahresplan - wieder verstärkt zu werden. Während des Zweiten Weltkrieges wurde auf Grund der Kriegszerstörungen eine nahezu vollständige Wohnungszwangswirtschaft eingeflihrt. Sie erreichte ihren Höhepunkt durch das Kontrollratsgesetz Nr. 18 vom 8. März 1946, durch das eine vollständige Erfassung des gesamten Wohnungsbestandes erfolgte, da neben den kriegsbedingten Zerstörungen Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen untergebracht werden mußten. Im Durchschnitt wurden nur 10-12 qm Wohnfläche je Kopf zugewiesen, gegenwärtig (Ende 1996) konsu20 Eckart I Roesler
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miert man in Westdeutschland rund 38 qm und in Ostdeutschland knapp 30 qm Wohnfläche je Einwohner. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland rückte die Beseitigung der Wohnungsnot in den Vordergrund der Innenpolitik: Bereits am 24. April 1950 wurde das Erste Wohnungsbaugesetz (1. WoBauG) einstimmig verabschiedet, das die im Prinzip noch heute gültige Dreiteilung einruhrte 1. Öffentlich geförderter sozialer Wohnungsbau: Dieser schloß an die Hauszinsteuer-Äre der zwanziger Jahre an, d.h., daß die öffentliche Hand zinsgünstige Mittel (Kapitalsubvention) bereitstellte, um einmal den privaten Kapitalmarkt zu ergänzen und zum anderen, um die Kapitalkosten zu senken. Dieser soziale Wohnungsbau war und ist rur bestimmte (untere) Einkommensbezieher bestimmt, da die Mietenbildung staatlichen Reglementierungen (Kostenmiete) unterliegt. 2. Steuerbegünstigter Wohnungsbau: Es werden keine direkten, sondern nur indirekte Subventionen in der Form von Steuer- und Gebührenbefreiungen gewährt, z.B. befristete Befreiung von der Grundsteuer. Idealtypisch betrachtet waren diese Wohnungen rur die mittleren Einkommensbezieher vorgesehen. Diese Subventionsform hat in der Zwischenzeit zahlreiche Änderungen erfahren. 3. Freijinanzierter Wohnungsbau: Hierrur werden weder direkte noch indirekte staatliche Fördermittel bereitgestellt, daher unterliegt er auch nicht der speziellen staatlichen Mietpreisbildung. Der soziale Wohnungsbau schloß an die Hauszinsteuer-Ära - Objektförderung im Wege der Kapitalsubvention - an. Der Vorteil dieser Förderungstechnik ist, daß auf Grund der Hergabe zinsgünstiger öffentlicher Mittel langfristig die Mieten niedrig gehalten werden und hierdurch die öffentliche Hand (Kommune) ein Belegungsrecht erhält, Nachteil dagegen ist, daß insbesondere in der Phase des Wirtschaftswachstums die Einkommen steigen und die ursprünglich einkommensmäßig berechtigten Mieter aus dieser Berechtigung herauswachsen und zu Fehlbelegern werden. Dieses relativ starre Subventionssystem ist sozial unbefriedigend, weil gleichzeitig insbesondere junge Familien mit niedrigem Einkommen keine Sozialwohnungen erhalten, da diese von den Fehlbelegern blockiert werden. Durch die nachträgliche Verzinsung der zinsgünstigen öffentlichen Mitteln, die Fehlbelegungsabgabe und die degressive AufwandsfOrderung - die öffentlichen Mitteln werden stufenartig abgebaut und die Mieten spiegelbildlich erhöht - hat man versucht, das starre Förderungssystem aufzulockern. Das Zweite Wohnungsbaugesetz (11. WoBauG) vom 27. Juni 1956 hat die Dreiteilung beibehalten, aber das Schwergewicht auf die Bildung von Einzel-
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wohneigentum gelegt. Nach zahlreichen Änderungen soll es entweder durch ein Drittes Wohnungsbaugesetz oder durch ein Wohngesetzbuch ersetzt werden. In das noch gültige II.WoBauG wurden die vereinbarte Förderung - zwischen dem Bauherren und der Kommune - sowie die einkommensorientierte Förderung eingerugt. Als letzter (aber noch umstrittener) Schritt ist die vollkommene Abschaffung des sozialen Wohnungsbaues, der Kostenmiete sowie der Belegungsbindung vorgesehen. Wenn diese Pläne realisiert werden sollten, dann würden sich die Mieten an der ortsüblichen Vergleichsmiete orientieren, an die Stelle der Belegungsbindung würde der kommunale Ankauf von Belegungsrechten treten und die Objektförderung würde durch das Wohngeld - die Subjektförderung - abgelöst werden. Neben den beiden Wohnungsbaugesetzen gibt es eine umfangreiche Gesetzgebung, die sich einerseits mit der Neugestaltung der aus der Kriegs- und Nachkriegszeit stammenden Wohnungszwangswirtschaft befaßte und andererseits den Versuch unternahm, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen eine soziale Absicherung des Wohnens zu erreichen. Erste Ansätze zur Auflockerung der Wohnungszwangswirtschaji erfolgten bereits in den runfziger Jahren, den entscheidenden Schritt unternahm der CDUAbgeordnete Paul Lücke mit dem nach ihm benannten ,Lücke-Plan':Ziel dieses Planes war, die Wohnungswirtschaft schrittweise in die soziale Marktwirtschaft einzugliedern und sie damit von den aus den zwanziger Jahren stammenden Fesseln der Zwangswirtschaft zu befreien. Dieser Plan mündete in das nicht unumstrittene ,Gesetz zum Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Mietrecht' vom 23. Juni 1960 ein. Allein die Bezeichnung dieses Gesetzes macht deutlich, daß es darum ging, ein Gleichgewicht zwischen dem ökonomischen und sozialen Aspekt zu finden: Die Investitionen in der Wohnungswirtschaft sollten wieder rentabel werden, was zur Folge haben mußte, daß die Mieten steigen. Um aber die steigenden Mieten sozial verträglich zu gestalten, wurde der Kündigungsschutz neu gefaßt und finanziell eine Absicherung durch das Wohngeld - die Subjektförderung - vorgenommen. Die Meinungen über diese ,Lücke-Gesetzgebung' gingen auseinander, den einen ging sie zu weit, den anderen nicht weit genug. Abgesehen davon, daß die in diesem Gesetz vorgesehenen Schritte zur Überruhrung in die soziale Wohnungsmarktwirtschaft verzögert wurden, erfolgte nach zehn Jahren eine ordnungspolitische Kehrtwende: Anfang der siebziger Jahre lief die westdeutsche Wirtschaft auf vollen Touren, die Inflationsrate stieg und es erfolgte die Flucht in die Sachwerte (,Betongold'). Um den Mietpreisauftrieb zu bremsen, trat nach lebhafter Kontroverse am 4. November 1971 das ,Gesetz zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen' und am 25. November 1971 das ,Gesetz über den Kündigungsschutz rur Mietverhältnisse 20'
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über Wohnraum' in Kraft. Bemerkenswert ist, daß das (Erste) Wohnraumkündigungsschutzgesetz eine ausgesprochene Notlagengesetzgebung war, da es bis zum 31. Dezember 1974 befristet wurde, d.h., daß sich bis dahin der Wohnungsmarkt beruhigt bzw. normalisiert haben würde. Trotz der Kritik aus der Wissenschaft und aus der wohnungswirtschaftlichen Praxis wurde - gegen nur eine Stimme - am 17. Oktober 1974 das Zweite Wohnraumkündigungsschutzgesetz verabschiedet. Aus dem temporären (Notlagen-) Gesetz wurde nunmehr ein Dauerrecht, das Teile der ,Lücke-Gesetzgebung' korrigierte, d.h., das soziale Mietrecht wurde schrittweise zu einer dauerhaften Regelung des BGB weiterentwickelt. Diese Fortentwicklung wurde einmal aus Art. 14 GG (,Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. ') und aus Art. 20 GG (,Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat'.) abgeleitet. Zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums im allgemeinen und zum sozialen Wohn- und Mietrecht im besonderen hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt geurteilt. Das BVG hat darauf hingewiesen, daß der erweiterte Kündigungsschutz und die Begrenzung der Mieterhöhungen Ausfluß des Sozialstaatsprinzips seien und in berechtigterweise die freie VerfUgbarkeit der Hauseigentümer einschränken. Das höchste deutsche Gericht hat sich um eine Güterabwägung zwischen den (sozialen) Belangen des Mieters und den (ökonomischen) Interessen des Vermieters bemüht. Sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei den höchstrichterlichen Entscheidungen ist aber zu berücksichtigen, daß diese den Mieter - den glücklichen Besitzer einer Wohnung -, nicht aber die Wohnungssuchenden schützen. Im Gegenteil, ein überzogener Mieterschutz kann zu einem Attentismus bei den Investoren fUhren, so daß weder in den Bestand noch in den Neubau investiert wird. Es handelt sich stets um eine Gratwanderung zwischen der sozialen Absicherung der Mieter und den ökonomischen Interessen der Hauseigentümer. Mit Beschluß vom 26. Mai 1993 hat das Bundesverfassungsgericht im ersten Leitsatz festgestellt: ,Das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. I Satz 1 GG'. Damit hat das BVG den Mieter mit dem Sacheigentümer, dem Hausbesitzer gleichgestellt. Diese Feststellung des BVG hat lebhafte Kritik hervorgerufen. 2.5 Die ökonomischen Grenzen des Sozialgutes Wohnung Sowohl der historische als auch der juristische Überblick haben deutlich gemacht, daß im Zeitablauf die Auffassungen darüber, ob und in welchem Ausmaße die Wohnung ein Wirtschafts- bzw. Sozialgut ist, sehr unterschiedlich waren und auch noch sind. Hierbei wurden und werden in der Regel die wirtschaftlichen Sachzwänge bei der Gesetzgebung und den höchstrichterlichen Entscheidungen außer Acht gelassen, da nicht zwischen den Kosten und den
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Preisen unterschieden wird. Der Gesetzgeber und die Gerichte können in der Marktwirtschaft nur die Preise, nicht aber die Kosten beeinflussen. Hieraus leiten sich die ökonomischen Grenzen rur das Sozialgut Wohnung ab: 1. Gut Wohnung: Es handelt sich um die technische Einheit, die -unabhängig vom Gesellschafts- und Wirtschaftssystem - stets ein Wirtschaftsgut ist; denn es müssen die Kosten bezahlt werden, d.h. die Grundstücks- und Erschließungskosten, die Bau- und Kapitalkosten sowie die Bewirtschaftungskosten wie die Heizung, die Beleuchtung, das Wasser, die Straßenreinigung, die Müllabfuhr, die Versicherungen usw. Unabhängig vom sozialen Status des Eigenheimers oder Mieters fallen diese Kosten an, denn es gibt weder einen sozialen Maurerlohn noch sozialgestaffelte Müllabfuhrgebühren. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung hat der Staat keinen unmittelbaren Einfluß auf die Kosten und die auf den Märkten sich bildenden Preise; auch die Kommunen unterliegen einem Kostendruck und streben mit ihren Gebühren eine Kostendeckung an.
2. Das Wohnen: Auf Grund von politischen (normativen) Entscheidungen kann die Nutzung des Gutes Wohnung rur bestimmte Bevölkerungs- oder Einkommensgruppen zu einem Sozialgut erklärt werden, d.h., daß der Preis unabhängig von den Marktgegebenheiten festgelegt wird. Das soziale Element einer solchen Entscheidung liegt darin, daß die Mieter nicht den vollen Kosten- oder Knappheitspreis, sondern nur einen niedrigeren Mietpreis zu entrichten haben. Diese Preisfixierung ruhrt zu Mindereinnahmen und zu Verlusten bei den Vermietern, die unter diesen Bedingungen weder in den Neubau noch in den Bestand investieren werden. Hierdurch tritt eine Verknappung sowie eine Verschlechterung des Wohnungsangebotes ein. Um derartige negative Entwicklungen zu vermeiden, muß der Staat - der diese normative Festlegung vorgenommen hat - die Differenzen zwischen dem sozialen Mietpreis einerseits und dem Kosten- oder Marktpreis andererseits subventioneren. Die Verrugbarkeit öffentlicher Mittel setzt die Grenzen, d.h., die Subventionsfähigkeit der öffentlichen Hände bestimmt, in welchem Umfang das Wohnen rur bestimmte Bevölkerungskreise zum Sozialgut erklärt werden kann. Mit dieser Unterscheidung zwischen dem (technischen) Gut Wohung und seiner sozialorientierten Nutzung sowie der sich daraus zwingend ergebenden Subventionierung wird die pseudo-normative Leerformel finanziell ausgerullt und damit eine reale Größe. Je geringer die verrugbaren öffentlichen Mittel sind, desto kleiner ist die Zahl der Haushalte, die in den Genuß einer sozialorientierten Nutzung des Wirtschaftsgutes Wohnung kommen können. Unabhängig davon wird in der Regel übersehen, daß eine derartige ,soziale' Wohnungspolitik lediglich die Mieter begünstigt, die bereits eine Wohnung haben und diejenigen benachteiligt - z.B. die nachrückende Generation -, die eine Wohnung suchen.
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In allen sozialistischen Ländern - auch in der ehemaligen DDR - hat man aus ideologischen Gründen diesen Kausalzusammenhang negiert, mit dem Ergebnis, daß der Wohnungsbestand in hohem Maße Verschleißerscheinungen aufweist. Aber auch in den westlichen Demokratien besteht in der Politik die Tendenz, das Wohnen fUr möglichst große Bevölkerungskreise zum Sozialgut zu erklären, ohne zugleich bereit und in der Lage zu sein, die erforderlichen Subventionsmittel bereitzustellen. Es handelt sich dann um eine Politik, die kurzfristig die Vermieter und potentiellen Investoren, mittel- und langfristig die Mieter schädigt. Beleg hierfUr ist der Zustand der ostdeutschen Wohnungswirtschaft, die nach der Wiedervereinigurig ,repariert' werden muß. 3. Das Schwabe 'sehe Gesetz und die Lütge 'sehe Regel
Die Miete - bei den Eigenheimern und den eigengenutzten Eigentumswohnungen spricht man von der Belastung - spielt eine doppelte Rolle: Für den Vermieter werden über die Miete die Investitionskosten - insbesondere die Kapitalkosten - erwirtschaftet, für den Mieter bedeutet sie einen konstanten und wesentlichen Teil der Haushaltsausgaben. Während der Vermieter in der Regel über die Kostendeckung hinausgehend eine Verzinsung seines eingesetzten Eigenkapitals erzielen will, ist der Mieter an einer niedrigen finanziellen Belastung interessiert. Allerdings werden die Mieter unterschiedlich durch die Wohnkosten belastet. In diesem Zusammenhang sind das Schwabe'sche Gesetz und die Lütge'sche Regel zu nennen. 3.1 Das Schwabe'sche Gesetz Die Einkommensabhängigkeit der Deckung verschiedener Arten von Bedarfen gehört zu den am frühesten empirisch untersuchten Erscheinungen. So hat der Statistiker Ernst Engel (1821-1896, nicht zu verwechseln mit Friedrich Engels) 1857 festgestellt, daß bei steigendem Einkommen die Nahrungsmittelausgaben eines Haushaltes weniger stark zunehmen als das Einkommen. Die Gültigkeit dieses partiellen Bedürfnissättigungsgesetzes konnte so regelmäßig nachgewiesen werden, daß es nahe lag, die Entwicklung des Einkommens bzw. der gesamten Haushaltsausgaben zu untersuchen. Dieses hat für das Gut Wohnung der Statistiker Hermann Schwabe unternommen: Die 1867 in Berlin durchgefUhrten Erhebungen hat Schwabe ausgewertet: Es handelte sich um Erhebungen unter den Staats- und Kommunal-Beamten, deren Einkommen unter bzw. über 1.000,- Taler lag. Die Einkommen dieser Gehaltsgruppen wurden in Beziehung zur Miete gesetzt. Aus beiden Tabellen geht hervor, daß mit zunehmendem Einkommen der prozentuale Anteil der Ausgaben für die Miete sinkt. Schwabe faßte das Ergebnis seiner statistischen Auswertungen wie folgt
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zusammen: ,Je änner Jemand ist, desto größer ist die Summe, welche er im Verhältnis zu seinem Einkommen rur Wohnung verausgaben muß'. Diese Aussage ist in die Literatur als das Schwabe'sche Gesetz eingegangen. Häufig werden die Feststellungen von Engel und Schwabe zum ,Engel-/Schwabe'schen Gesetz' zusammengefaßt. Als Schwabe dieses ,Gesetz' aufstellte - es handelt sich aber nur um eine unstrenge Erfahrungsregel -, herrschte die entgegengesetzte Auffassung: So war Engel der Ansicht, daß der Mietaufwand rur die unteren, mittleren und oberen Einkommen (Klassen) die gleiche Quote = 12% beansprucht. Der Nationalökonom Wilhelm Roseher vertrat sogar die Meinung, daß mit der Höhe des Einkommens auch die Ausgaben rur die Wohnung, die Bedienung und die Geselligkeit zunehmen. Die Arbeiten von Schwabe gaben die Anregung zu einer Reihe weiterer Untersuchungen. Rudolf Eberstadt bestätigte das Schwabe'sche Gesetz, während Ludwig Pohle darauf aufmerksam machte, daß das Ansteigen des relativen Anteils des Mietaufwandes keineswegs beunruhigend sei, da gleichzeitig eine (qualitative) Verbesserung der Wohn verhältnisse eintrete. Pohle relativierte das Schwabe'sche Gesetz, indem er ferner darauf hinwies, daß auf der mittleren Einkommensstufe der Anteil, der auf die Miete entfalle, längere Zeit ziemlich konstant bleibe oder sogar steige. Arthur Spiethoff bemerkte, daß die Beziehungen zwischen Einkommen und Miete nicht isoliert betrachtet werden können, sondern auch die übrigen Haushaltsausgaben - so der Alkoholkonsum und der Tabakverbrauch - einbezogen werden müßten. Bei einer derart erweiterten Betrachtung müßten die Klagen über zu hohe Mieten verstummen, und es ließen sich manche Wohnungs- und Mietprobleme lösen. Mit diesen Hinweisen wird deutlich, daß das Schwabe'sche Gesetz nicht nur eine historische Bedeutung hat, sondern auch die Frage nach der tragbaren Miete enthält; denn: Wird ein bestimmter prozentualer Anteil der Mietausgaben am Einkommen nicht mehr als tragbar angesehen, dann ist der Staat aufgerufen, durch Subventionen den Mietanteil auf ein sozial vertretbares Maß zu senken. 3.2. Lütge: Der sozialbedingte Wohnaufwand Der Nationalökonom Friedrich Lütge (1901-1968) weist darauf hin, daß der Anteil, den der Einzelne rur die Wohnung ausgibt, nicht nur in den einzelnen Ländern, sondern auch im Zeitablauf unterschiedlich ist. Es handelt sich nicht um ein Naturgesetz, vielmehr werden die Lebensgewohnheiten durch das Klima, die Sitte und die (Wohn-) Kultur mitbestimmt; selbst innerhalb eines Volkes bestehen Unterschiede. Das von Lütge entwickelte ,Gesetz des sozialbe-
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dingten Wohnaufwandes' (Lütge'sche Regel) basiert auf der folgenden Unterscheidung: 1. Mietausgaben: Diese bilden nur einen Teil des gesamten Wohnaufwandes. Modem würden wir zwischen der Kalt- und Wannmiete unterscheiden; unter ,Mietausgaben ' würde man gegenwärtig die Kaltmiete verstehen.
2. Gesamter Wohnaufwand: In diesen Begriff werden neben der Kaltmiete auch die Aufwendungen für die Einrichtung, die Instandhaltung sowie für die Heizung und Beleuchtung einbezogen. Dieser Begriff ist somit umfassender als der der Wannmiete.
Lütge hat aus der Erhebung des Statistischen Reichsamtes 1927/28 die folgende Auswertung vorgenommen: Er hat für die Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte die Ausgaben für die Wohnungsmiete, für die Einrichtung, die Instandhaltung sowie für die Beleuchtung und Heizung den einzelnen Einkommensstufen gegenübergestellt und schließlich den gesamten Wohnaufwand - jeweils in absoluten und relativen Werten - ennittelt. Bei diesem Vergleich zwischen den sozialen Schichten und deren Einkommen ist er zu den folgenden Ergebnissen gelangt:
Tabelle 1 Mietausgaben und gesamter Wohnaufwand (1927/28) (Durchschnittlich, in Prozent des Einkommens) Berufsgruppe (soziale Schicht) Landarbeiter
Mietausgaben 6,16
Gesamter WohnAufwand 15,0
Städtische Arbeiter
10,0
17,5
Angestellte
11,5
20,5
Beamte
12,0
22,1
Diese nach der Einkommenshöhe vorgenommene Gruppierung führt zu den folgenden Ergebnissen: Der städtische Arbeiter gibt mehr als der Landarbeiter, der Angestellte mehr als der städtische Arbeiter und schließlich der Beamte mehr als der Angestellte sowohl an reiner Miete als auch für den gesamten Wohnaufwand aus. Es besteht somit ein deutliches soziales Gefälle hinsichtlich des Wohnaufwandes, so daß man dem Schwabe' sehen Gesetz das ,Gesetz des sozialbedingten Wohnaufwandes' gegenüberstellen kann. Aber auch dieses ,Gesetz' - so merkt Lütge an - gilt nicht bedingungslos und unbeschränkt. Daher erscheint es zweckmäßig, von der ,Lütge'schen Regel' zu sprechen.
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3.3 Empirische Daten zu den Mietausgaben und dem Wohnaufwand Das Schwabe' sehe Gesetz basiert auf Daten von vor rund 125, die Lütge'sche Regel auf solchen von vor rund 70 Jahren. Es erhebt sich die Frage, ob diese unsteten Erfahrungsregeln auch noch in der Gegenwart gelten. Eine Auswertung der statistischen Daten für den Zeitraum 1983 - 1992 hat zu den folgenden Ergebnissen geführt, wobei zwischen den drei vom Statistischen Bundesamt gebildeten Haushaltstypen unterschieden wird: (1) Haushaltstyp J: Geringes Einkommen, 2-Personen-Haushalte von Rentnern und Sozialhilfeempflingern. Überwiegend handelt es sich um ältere Ehepaare, deren Einkommen 1991 zwischen DM 1550,-- und DM 2200,-- pro Monat lag.
(2) Haushaltstyp 2: Mittleres Einkommen, 4-Personen-Haushalte von Angestellten und Arbeitern, d.h., ein Ehepaar mit 2 Kindern, davon 1 unter 15 Jahren. 1991 lag das monatliche Bruttoeinkommen zwischen DM 3351,-- und DM 4900,--. (3) Haushaltstyp 3: Höheres Einkommen, 4-Personen-Haushalte von Beamten und Angestellten, d.h., einem Haushalt mit 2 Kindern, ein Ehepartner ist Beamter oder Angestellter und Hauptverdiener. Das monatliche Bruttoeinkommen lag zwischen DM 5750,-- und DM 7800,-- (1991).
Für diese drei Haushaltstypen sollen für den Zeitraum 1983 - 1992 die Mietausgaben bzw. der Wohnaufwand dem Haushaltseinkommen gegenübergestellt werden, um zu prüfen, ob auch in der Gegenwart das Schwabe' sehe Gesetz bzw. die Lütge'sche Regel noch gelten. Eine Auswertung dieser Zeitreihen ergibt für die drei Haushaltstypen die folgenden Ergebnisse (früheres Bundesgebiet): (1) Mietausgaben, einschl. Energie: a) Haushaltstyp I: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 32,6%(1983) und 35,4% (1991), er ist nahezu konstant gestiegen. Die reinen Mietausgaben (ohne Energie) erhöhten sich von 23,2% (1983) auf 27,5% (1992). b) Haushaltstyp 2: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 24,0% (1983) und 26,9% (1985 und 1990), er ist gleichfalls nahezu konstant gestiegen. Die reinen Mietausgaben (ohne Energie) erhöhten sich von 17,3% (1983) auf21,6% (1990). c) Haushaltstyp 3: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 21,5% (1983) und 24,9% (1985), er ist gleichfalls nahezu konstant gestiegen.
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Die reinen Mietausgaben (ohne Energie) erhöhten sich von 16,1% (1983) auf 19,8% (1989). (2) Möbel und Haushaltsgeräte filr die Haushaltsfilhrung: a) Haushaltstyp 1: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 5,5% (1991) und 7,7% (1987), filr die Möbel (ohne Haushaltsgeräte) lagen die Schwankungen zwischen 0,6% (1991) und 1,6% (1987). Die Schwankungen sind relativ stark. b) Haushaltstyp 2: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 9,2% (1983) und 7,0% (1985), filr die Möbel (ohne Haushaltsgeräte) lagen die Schwankungen zwischen 1,8% (1985) und 3,4% (1983). Auch bei diesem Haushaltstyp sind die Schwankungen relativ stark. c) Haushaltstyp 3: Der Anteil dieser Ausgaben schwankte zwischen 6,8% (l985) und 8,6% {I 988), filr die Möbel (ohne Haushaltsgeräte) lagen die Schwankungen zwischen 2,4% (1986) und 3,1% (1989). Diese Schwankungen fallen niedriger als bei den beiden anderen Haushaltstypen aus. Diese Ergebnisse bestätigen im Prinzip sowohl das Schwabe' sehe Gesetz als auch die Lütge'sche Regel; denn: Der Rentnerhaushalt (Haushaltstyp 1) wendet rund ein Drittel seines Einkommens filr die Miete auf, der Arbeitnehmerhaushalt (Haushaltstyp 2) rund 25% und der Beamtenhaushalt (Haushaltstyp 3) etwas weniger als 25% Geweils einseh!. Energie). Auch wenn die Energiekosten ausgeklammert werden, bleibt diese Rangfolge bestehen. Damit wird das Schwabe' sehe Gesetz bestätigt. Auch die Lütge'sche Regel hat noch Gültigkeit, auch wenn diese Anteile nicht ganz so eindeutig sind: Der Rentnerhaushalt gibt knapp 7% filr die Möbel und die Haushaltsgeräte aus, der Arbeiterhaushalt etwa 8% und der Beamtenhaushalt knapp 8%. Es ist bemerkenswert, daß bis in die Gegenwart hinein diese beiden unsteten Erfahrungsregeln im Prinzip noch gültig sind, obgleich durch die staatliche Wohnungsbauförderung eine Nivellierung eingetreten sein dürfte. In jüngster Zeit sind Schritte zur einkommensorientierten Miete eingeleitet worden. Danach sollen gesetzlich festgelegte Haushalte nur einen bestimmten Anteil (Prozentsatz) ihres Einkommens filr das Wohnen als Miete ausgeben. Wenn sich diese Förderungstechnik in vollem Umfang durchsetzt, wird eine weitere Einebnung der Wohnkostenbelastung eintreten. 4. Die vorgelagerten Märkte
Bei der sozialpolitisch orientierten Intervention des Staates ist zwischen dem Wohnungsmarkt und den ihm vorgelagerten Märkten zu unterscheiden, wobei
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zum Teil Überschneidungen vorliegen. Dem Wohnungsmarkt sind der Boden-, Bau- und Kapitalmarkt vorgeschaltet. Wenn der Staat diese Märkte entsprechend seiner Zielsetzungen beeinflussen kann, dann beeinflußt er auch zugleich den Wohnungsmarkt; umgekehrt, wenn dieses nicht oder nur sehr begrenzt möglich ist, dann kann die Intervention nur auf dem Wohnungsmarkt erfolgen, wobei wiederum zwischen der Objek- und der Subjektförderung zu unterscheiden ist, die durch steuerliche Maßnahmen ergänzt werden können. Zuerst soll auf die vorgelagerten Märkte eingegangen werden. 4.1 Der Bodenmarkt Der Bodenmarkt ist ein wesentlicher Bestandteil der Wohnungswirtschaft und der Wohnungswirtschaftspolitik, da der Grund und Boden nicht ein Hilfsmittel, sondern die entscheidende Voraussetzung für den Wohnungsbau ist. Der Grund und Boden ist zwar Bestandteil des privaten Eigentumsrechts, aber dessen Nutzung (Bebauung) ist von zahlreichen öffentlich-rechtlichen Normen abhängig; denn die Ausweisung und die Erschließung von Baugelände unterliegt der politischen Entscheidung und ist erst danach den Marktprozessen unterworfen. Kurz gefaßt bedeutet dieses, daß Wohnungsneubau - dieses gilt zum Teil auch für Erweiterungen - nur auf der Grundlage von politischen Entscheidungen möglich ist. Das Gut ,Boden' ist von Besonderheiten geprägt: Der Boden ist - von Eindeichungen abgesehen - unvermehrbar, Nutzungsänderungen sind nur begrenzt möglich, die Immobilität verhindert, daß er auf Märkte ,transportiert' werden kann, wo er besonders intensiv nachgefragt wird, der Boden ist hinsichtlich seiner Lage, Größe und Qualität ein heterogenes Gut, von Ausnahmen abgesehen unterliegt er keiner Wertminderung, sondern erflihrt mit dem Zeitablauf eine Wertsteigerung, jedes Grundstück kann nur einer Nutzung zugeführt werden. Um die knappe Resssource Boden effizient zu nutzen, kann dieses einmal durch den Markt- und Preismechanismus, zum anderen durch die staatliche Intervention - politische Preisfestsetzung und Nutzungssteuerung - erfolgen. In der (alten) Bundesrepublik hatte man sich letztlich für das marktwirtschaftliche, in der ehemaligen DDR für das planwirtschaftliche System entschieden. Die Frage nach der Verfügbarkeit von Bauland beinhaltet die Frage nach der Bodennutzung, d.h., ob vorhandener Grund und Boden auf Grund politischer Entscheidungen in Bauland umgewidmet und erschlossen werden kann. Wie aus Tab. 2 ersichtlich, werden nur 11,5% des gesamten Bundesgebietes als Siedlungs- und Verkehrsfläche genutzt (Baulandbericht 1993, S.2). Der statistische Begriff ,Siedlungs- und Verkehrsfläche' ist nicht mit einer totalen Versiegelung der Landschaft gleichzusetzen; denn darunter fallen nicht
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nur die Gebäudeflächen, sondern auch die Frei- und Verkehrsflächen und nicht zuletzt die Erholungsflächen wie die innergemeindlichen Grün- und Parkanlagen. Somit kann man davon ausgehen, daß etwa 90% der Grundfläche der Bundesrepublik Deutschland noch unbebaut ist. In dieser globalen Aussage kommt allerdings nicht zum Ausdruck, daß es regionale Unterschiede hinsichtlich der Inanspruchnahme der Fläche rur Wohnen und Wirtschaft bestehen. Im Zeitraum 1981-1985 belief sich die tägliche Flächeninanspruchnahme auf 114 ha, im Zeitraum 1985-1989 hingegen nur auf 87 ha, da der Wohnungsneubau in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erheblich zurückging. Tabelle 2 Bodennutzung im Bundesgebiet (1993) Nutzungsart
Alte Länder Insgesamt 1 000 ha
Neue Länder
Anteil a.d. Insgesamt Gesamtfl. 1000 ha
%
Bundesgebiet insgesamt
Anteil a.d. Insgesamt Gesamtfl. 1000 ha
%
Anteil a.d. Gesamtfl.
%
3045
12,2
1074
9,9
4 119
13 335
53,7
6 171
57,0
19526
54,7
7401
29,8
2983
27,5
10384
29,1
Wasserfläche
450
1,8
314
2,9
764
2,1
Sonst. Flächen
610
2,5
291
2,7
901
2,5
24862
100,0
10 833
100,0
35695
100,0
Siedlungs- und Verkehrsfläche Landwirtschaftsfläche Waldfläche
Gesamtfläche
1l,5
Daten ergeben sich filr die neuen Länder als Restgröße: von der Wirtschaftsfläche werden abgezogen: Land- und forstwirtschaftliche Nutzfläche, Wasserfläche und sonstige Flächen (Korbweidenanlagen, Ödland, Unland, Abbauland) Quelle:Bundesministerium filr Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Baulandbericht 1993, Bonn, Oktober 1993, S. 2
Ein Problem stellt die Preisbildung für Grund und Boden dar (Abb. 1).In der Regel kann man davon ausgehen, daß insbesonders in inflationären Phasen die Bodenpreissteigerungen über der Entwicklung des Lebenshaltungskostenindex liegen. In Ballungsbieten, die zugleich auch Siedlungsgebiete sind, sind die Baubodenpreise nicht nur hoch, sondern sie steigen häufig noch schneller, so daß diese Preisentwicklung den Wohnungsbau behindert.
317
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
Abbildung 1 Entwicklung der Baulandpreise in den westlichen Bundesländern (1980 -1992) 200
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Verfügbares Einkommen Baulandpreise Preisindex rur Wohngebäude Lebenshaltungskosten Basisjahr 1915, auf 1980 "" 100 um8erechnet Quelle: Bundesministerium fUrRaumordnung, Bauwesen und Stldtebau: Raumordnung.sbericht 1993, Bonn, Mirz 1994, S. 189
Sowohl in der Wohnungswirtschaft als auch in der Politik wird beklagt, daß die Bodenpreise nicht nur zu hoch sind, sondern auch zu schnell steigen. Aus der vorstehenden Tabelle geht aber hervor, daß zwar der Index rur baureifes Land stärker als der Lebenshaltungskostenindex stieg, aber unter der Entwicklung des verfilgbaren Einkommens lag. Auch diese globale Aussage muß relativiert werden, weil die Bodenpreisentwicklung in den einzelnen Regionen insbesondere in den Ballungszentren - sehr unterschiedlich verlief und auch in Zukunft verlaufen wird. So z.B. liegen die Bodenpreise in München, Stuttgart, Wiesbaden und nach der Wiedervereinigung in Berlin und Dresden über dem Durchschnitt anderer Städte. Allerdings wird der Einfluß der Grundstücks- und Bodenpreise auf die Gesamtherstellungskosten im normal verdichteten Mietwohnungsbau überschätzt, denn der Anteil beträgt nur 10-15% der Gesamtkosten. Bei Ein- oder Zweifamilienhäusern (Villen) kann er 50 oder sogar mehr Prozent betragen, Eine Preisdämpfung kann nur durch eine umfassende kommunale Baulandausweisung und Erschließung erfolgen.
318
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Der Bodenmarkt ist ein sehr empfindlicher, der Wohnungswirtschaft vorgelagerter Markt, der nicht nur politischen Einflüssen unterliegt, sondern auch sehr emotional und kritisch betrachtet wird. Zunehmend wird aber die ökonomische Betrachtungsweise durch die ökologische, den Bodenschutz überlagert. 4.2 Der Baumarkt Die Bauwirtschaft bzw. der Baumarkt ist ein weiterer, der Wohnungswirtschaft vorgelagerter Markt, denn - wie eingangs dargelegt - beschafft ein Bauträger als Dienstleistungsunternehmen Grund und Boden, Bauleistungen und langfristiges Kapital, um (Miet-) Wohnungen errichten zu lassen. Das Bauhauptgewerbe umfaßte 1995 rund 105.000 Betriebe mit rund 2,1 Mill Beschäftigten, davon rund 83.000 Betriebe und über 1,4 Mill. Beschäftigte in Westdeutschland. Da im Ausbaugewerbe nur Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten statistisch erfaßt wurden und dieser Bereich stark kleinbetrieblich strukturiert ist, sind rur 1995 rund 20.500 Betriebe mit etwa 550.000 Beschäftigten hinzuzurechnen. Der Anteil der Baubeschäftigten an allen Erwerbstätigen lag in Deutschland mit 6% (1995) an der Untergrenze. Die Bedeutung der Bauwirtschaft rur die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird daran deutlich, daß der reale Wertschöpfungsanteil des Baugewerbes am Bruttoinlandsprodukt 7% betrug (in Preisen von 1991). Wie in den meisten anderen Industrieländern ist mit fortschreitender Entwicklung der Volkswirtschaft ein fallender Bauanteil zu verzeichnen, der von deutlichen Strukturverschiebungen der Baubetriebe begleitet wird. Im westdeutschen Bauhauptgewerbe hat sich die von jeher ausgeprägt kleinbetriebliche Strukur in den letzten 15 Jahren weiter verfestigt: Der Anteil mit 1-9 Beschäftigten stieg von 52% (1980) auf 62% im Jahre 1994, der mit 10-19 Beschäftigten ging im gleichen Zeitraum von 22% auf 21 % zurück, der mit 20-49 Beschäftigten sank von 15% auf 11 % und schließlich ging der Anteil der Großbetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten von 9% auf 6% zurück Geweils 1980 bzw. 1994). Ein Vergleich mit der Struktur der ostdeutschen Baubetriebe ist deshalb problematisch, weil die DDR-Statistiken nicht mit den westdeutschen vergleichbar sind. Unabhängig davon liegen in Ostdeutschland die Beschäftigtenzahlen höher, da in der ehemaligen DDR die Großbetriebe mit mehr als 250 Beschäftigten dominierten. Zwar hat sich im Zuge der Privatisierung die Zahl der Großbetriebe und deren Beschäftigten drastisch verringert, jedoch sind die daraus hervorgegangenen Betriebe immer noch deutlich größer als die westdeutschen. Im Vergleich zur Industrie dominieren in der Bauwirtschaft die Kleinbetriebe, die vornehmlich auf örtlicher oder regionaler Ebene tätig sind. Dieses hat
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
319
zur Folge, daß keine Kostendegression durch große Serien erzielt werden kann. Aber selbst bauwirtschaftliche Großbetriebe können diese nicht erreichen, da einmal die Bauunternehmen auf die Erteilung eines Auftrages warten müssen und zum anderen jedes Bauvorhaben individuell gestaltet ist. Dennoch ist es dem Bauhauptgewerbe gelungen, im Zeitraum 1980-1994 die Produktivität um 41 % zu steigern; diese Steigerungsrate lag nur 1% unter der des verarbeitenden Gewerbes. Trotz dieses Produktivitätszuwachses wird sowohl von der Politik als auch von den (potentiellen) Bauherren beklagt, daß in Deutschland im Vergleich zum Ausland - in diesem Zusammenhang werden als Beispiel die Niederlande genannt - zu teuer gebaut wird und daß daher insbesondere die jüngeren Haushalte - die sogenannten ,Schwellenhaushalte' - sich den Wunsch nach einem Eigenheim nicht erfilllen können. Neben der Produktionsstruktur spielen aber auch die staatlichen Bauvorschriften und nicht zuletzt die Qualitätswünsche der Bauherren eine erhebliche Rolle, d.h., daß z.B. die am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Wärmeschutzverordnung zu einer Baukostenverteuerung von 2-5% ftlhrt. Die von der Bauwirtschaft und den Bauherren ausgehenden Bemühungen um ein kostengünstiges Bauen werden durch staatliche Eingriffe - die Grunderwerbssteuer wurde ab 1. Januar 1997 von 2% auf 3,5% erhöht - kompensiert. Der der Wohnungswirtschaft vorgelagerte Baumarkt ist komplex und kompliziert: Er ist nicht mit der industriellen Massenproduktion zu vergleichen, er ist in sehr starkem Maße reglementierten Einflüssen unterworfen und nicht zuletzt sind die (qualitativen) Wünsche und Vorstellungen sehr individuell, so daß die immer wieder geforderten Kostensenkungen nur begrenzt möglich sind. Der Staat kann in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nur begrenzt eingreifen. Selbst wenn es ihm gelingt, Anreize ftlr Kostensenkungen zu schaffen, werden diese durch verstärkte ökologische Anforderungen aufgehoben. Es handelt sich somit um ein zweischneidiges staatliches Instrumentarium. 4.3 Der Kapitalmarkt Für eine sozialorientierte Wohnungswirtschaftspolitik ist der Kapitalmarkt von besonderer Bedeutung, weil die Konditionen der langfristigen Finanzierung die Miete bzw. die Belastung ftlr den Eigenheimer entscheidend beeinflussen: Wenn die Miete gleich 100% gesetzt wird, dann entfallen etwa 75-80% - in Hochzinsphasen sogar mehr als 80% - auf die Kapitalkosten. Da eine soziale Wohnungswirtschaftspolitik in erster Linie eine Mieten-(Preis-) politik ist, müßte somit hier die staatliche Intervention erfolgen. Das Gut Wohnung ist ein langfristiges Gebrauchsgut, das daher auch mit langfristigen Mitteln finanziert werden sollte. Die typische Tilgungs- (Amortisations-) hypothek hat eine Laufzeit von rund 30 Jahren, eine Bausparhypothek
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läuft etwa 12 Jahre. Die kongruente Finanzierung fUhrt dazu, daß während der gesamten Laufzeit des Darlehens die Zinsen zum entscheidenden Belastungsfaktor werden. Bei der Bewertung der Finanzierungskosten ist die Refinanzierung - die Mittelbeschaffung - von entscheidender Bedeutung: Die Realkreditinstitute müssen auf dem Kapitalmarkt Sparkapital ,einkaufen' . Die Sparer werden aber nur dann ihre Spargelder zur VerfUgung stellen, wenn ihnen eine entsprechende Verzinsung gewährt wird. Man kann von der Regel ausgehen, daß je langfristiger die Geldanlage erfolgt, desto höher muß der Zinssatz sein, sofern keine inverse Zinsstruktur vorliegt. Die Hypothekenbanken beschaffen sich ihre Finanzierungsmittel in der Regel durch die Ausgabe von Pfandbriefen, die langfristig zum Beispiel für 10 oder mehr Jahre - dem Sparer einen festen Zinssatz garantieren. Wenn zum Beispiel der Pfandbrief einen Zinssatz von 7% hat und die Laufzeit 10 Jahre beträgt, dann kann das Realkreditinstitut nicht eine Hypothek zu 5% und fUr 30 Jahre gewähren. Die Kongruenzprinzipien erfordern, daß der Hypothekennehmer (Bauherr) mehr als 7% Zinsen zahlen muß und die Laufzeit des Darlehens in der Regel nicht 10 Jahre überschreitet. Die Zinsspanne (Zinsmarge ) beträgt bei Hypothekenbanken zwischen 0,5-1,0 oder 1,25% zuzüglich eines Disagios von etwa 2-3%. Es besteht ein unterschiedlicher Erwartungshorizont: Der Sparer erwartet für seine langfristige Spareinlage einen möglichst hohen Zins, der Hypothekennehmer - der mit dem Sparer identisch sein kann wünscht sich hingegen eine zinsgünstige Hypothek. Letztlich bestimmt die Refinanzierung, d.h. das Passivgeschäft (zuzüglich der Zinsmarge) die Konditionen des Aktivgeschäfts. Da die Kapitalkosten einen bestimmenden Einfluß auf die Miete ausüben, ist es naheliegend, daß der Staat Einfluß auf den Kapitalmarkt nimmt, um die Zinsen und damit die Kapitalkosten zu senken. In der Tat hat man mit dem Ersten Kapitalmarktförderungsgesetz vom 15. Dezember 1952 den sogenannten Sozialpfandbrief eingeführt, d.h., daß die Zinserträge aus öffentlichen Anleihen und derjenigen Schuldverschreibungen, deren Erlöse zu 90% für die Finanzierung im sozialen Wohnungsbau bestimmt waren, von allen Steuern auf das Einkommen befreit, während die übrigen Schuldverschreibungen mit einer Kuponsteuer von 30% belegt wurden. Diese steuerliche Begünstigung fUhrte dazu, daß insbesondere hohe Einkommensbezieher Sozialpfandbriefe kauften - daher auch ,Millionärs-Pfandbrief genannt -, so daß erhebliche private Mittel dem Wohnungsbau zuflossen. Der Nachteil bestand darin, daß eine Kapitalmarktspaltung eintrat und daher mit der Großen Steuerreform vom 16. Dezember 1954 das Kapitalmarktförderungsgesetz aufgehoben wurde. Durch das Steueränderungsgesetz 1992 wurde die bis dahin noch geltende steuerliche Vorzugsregelung mit Beginn des Jahres 1992 gestrichen. Die wiederholt gemachten Vorschläge, wieder einen modifizierten Sozialpfandbrief einzuführen, haben keine Chancen.
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
321
Im Gegenteil: Die europäsiche Integration und die internationale Verflechtung der Märkte, auch und gerade der Geld- und Kapitalmärkte, führen dazu, daß die nationale Notenbankpolitik der Deutschen Bundesbank verstärkt Rücksicht auf die weltweiten ökonomischen Rahmenbedingungen nehmen muß. Mit dem Übergang zur Europäischen Währungsunion und zur Europäischen Zentralbank ist jede Möglichkeit einer nationalen Kapitalmarktpolitik und damit einer wie auch immer gearteten Begünstigung der Wohnungsbaufinanzierung beendet. Der Kapitalmarkt als dem Wohnungsmarkt vorgelagerter Markt scheidet als Interventionsinstrument aus. 5. Instrumente der Wohnungswirtschaftspolitik
Wie dargelegt, ist das Gut Wohnung stets ein Wirtschaftsgut, dagegen kann unter sozialnormativen Gesichtspunkten das Wohnen - die Nutzung des Gutes Wohnung - ein Sozialgut sein. Auch bei Außerachtiassung dieses Aspektes ist der Staat bzw. die Gesellschaft an einer regulierten Ordnung interessiert, weil z.B. der Städtebau, das Verkehrswesen, die Umweltproblematik und die Sozialbeziehungen innerhalb der Siedlungsgebiete nicht ausschließlich den Marktkräften überlassen werden können. Die liberale Periode bis zum Ersten Weltkrieg ist Beleg dafür, daß die städtebaulichen, hygienischen und sozialen Ergebnisse nicht den Vorstellungen eines demokratischen und sozialen Bundesstaates (so Art. 20 GG) entsprechen. Staatliche Interventionen sind somit unerläßlich. Hierbei sind aber zwei Ansatzpunkte zu unterscheiden: 1. Notlagen-Intervention: In Phasen einer akuten Notlage - z.B nach dem Ersten und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg - sind staatliche Eingriffe erforderlich, um den knappen Wohnraum nach sozialnormativen Gesichtspunkten zu verteilen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine Bestandsund nicht um eine Neubaupolitik, es ist eine Verteilungspolitik. 2. Ordnungspolitische Interventionen: Diese Form der Intervention erfolgt unabhängig von der Versorgungslage, d.h., daß der sozialpolitische Aspekt des Wohnens in den Vordergrund tritt, da dem Marktmechanismus ein sozialverträglicher Ausgleich nicht zugetraut wird. Diese Form der Intervention erfolgt sowohl im Bestand als auch im Neubau. Es ist die umfassende und zugleich modeme Form der aktiven staatlichen Wohnungswirtschaftspolitik.
Wie bereits dargelegt, unterlag die aktive staatliche Wohnungswirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert zahlreichen Änderungen, wobei je nach Standort des Betrachters oder Kritikers diese Eingriffe und Korrekturen zu schwach oder zu stark waren, so daß diese Interventionen einer ständigen Kritik unterliegen.
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5.1 Systematik wohnungspolitischer Instrumente Nach dem Ersten Weltkrieg ist der Staat zur aktiven staatlichen Wohnungspolitik übergegangen, d.h., daß die Eingriffe in den Wohnungsbestand - insbesondere die Mietenbindung und die Wohnraumbewirtschaftung - durch die Neubauförderung ergänzt wurden. Sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Objektförderung als Instrument eingesetzt, weil durch die Inflationen bzw. die sich daran anschließenden Währungsreformen von 1923 und 1948 das Privatkapital vernichtet wurde. Die Objektförderung in der Form der zinsverbilligten bzw. zinslosen öffentlichen Mittel - die Kapitalsubvention - wird dann eingesetzt, weil entweder kein Privatkapital vorhanden oder das vorhandene Kapital zu teuer ist, so daß die Mieten sozial nicht tragbar sind. Schrittweise wurde dieses Instrument durch weitere ergänzt bzw. ersetzt. Die folgende Systematik (S. 324) gibt einen Überblick über die Vielzahl der wohnungspolitischen Instrumente, die im Zeitablauf zahlreiche Änderungen erfahren haben und zudem von Bundesland zu Bundesland mit unterschiedlicher Intensität eingesetzt wurden bzw. werden. Aus dieser Systematik geht auch hervor, daß die drei genannten vorgelagerten Märkte nicht zum wohnungspolitischen Instrumentarium gehören. 5.2 Objektförderung versus Subjektförderung Aus der Vielzahl der Förderungsinstrumente soll lediglich auf die Kontroverse zwischen der Objekt- und Subjektförderung eingegangen werden, weil diese beiden Instrumente von besonderer Bedeutung sind. Die in der Hauszinssteuer-Ära entwickelte Kapitalsubvention wurde in das Erste und in das Zweite WoBauG (Wohnungsbaugesetz) von 1950 bzw. 1956 übernommen. Diesem Instrument haften Vor- und Nachteile an: (1) Vorteile der Objektförderung: Das fehlende oder teure Privatkapital wird durch öffentliche Mittel ersetzt. Da sie niedrig verzinslich oder sogar zinslos sind, wird die Miete gesenkt und damit sozial tragbar gestaltet. Mit der Hergabe dieser Mittel wird in der Regel eine Belegungsbindung zu Gunsten der Kommunen eingeräumt, so daß Problemhaushalte mit Wohnraum versorgt werden können. Diese Mittel werden als Darlehen gegeben, so daß zumindest die Tilgungsraten und eine mögliche nachträgliche Verzinsung zu Einnahmen bei der öffentlichen Hand führen. Die Darlehensvergabe kann gesteuert werden, so daß eine (regionale) Strukturpolitik möglich ist. Die Bauherren haben die Sicherheit, daß die Darlehen langfristig zur Verfilgung stehen, hierdurch werden ihre Investitionsentscheidungen positiv beeinflußt.
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324
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(2) Nachteile der Objektförderung: Den genannten Vorteilen stehen eine Reihe von Nachteilen gegenüber, so daß Kritik an diesem Instrument geübt wird. Zu den Nachteilen gehört, daß die staatliche Subvention nicht auf die bedürftigen Bürger, sondern auf das Objekt abgestellt ist; es werden nicht Haushalte, sondern ,Mauem' gefördert. Die Zinslosigkeit gilt langfristig und ist somit rur den Bauherren positiv, ruhrt aber in Perioden des Wirtschafts- und Einkommenswachstums dazu, daß die ursprünglich einkommensschwachen Haushalte aus der Förderungswürdigkeit herauswachsen. Diese Fehlsubventionierung (oder Fehlbelegung von Sozialwohnungen) begünstigt einkommensstärkere Haushalte, während gleichzeitig jüngere und einkommensschwache Haushalte keine Sozialwohnung erhalten. Die Fehlförderung von Sozialwohnungen ruhrt zur Verschwendung von öffentlichen Mitteln und ist sozial- bzw. wohnungspolitisch ungerecht. In den runfziger Jahren dominierten die Vorteile. Auf Grund der wachsenden Einkommen nahmen die Fehlbelegungen zu und man suchte nach Korrekturen. Innerhalb des Systems der Kapitalsubvention wurden bzw. werden drei Korrekturformen angewandt: (1) Degressive Aufwandsförderung: Die öffentlichen zinslosen Darlehen wurden nicht mehr fUr die volle Laufzeit, sondern fUr einen begrenzten Zeitraum - zum Beispiel rur 12 Jahre - gegeben und in bestimmten Intervallen zum Beispiel in dreimal 4 Jahren - reduziert: In den ersten vier Jahren betrug die Förderung DM 5,10 je qm WohnflächelMonat, in der zweiten Periode von 4 Jahren DM 3,40, in der dritten Periode DM 1,70 und nach 12 Jahren war diese Förderung ausgelaufen. Unter konstanten Bedingungen erhöhte sich die Miete spiegelbildlich. Da man davon ausging, daß die Einkommen sich erhöhten, wurden die Degressionsstufen als sozial verträglich angesehen. Probleme entstanden, als in den siebziger und achtziger Jahren die Einkommen stagnierten. Die degressive Aufwandsförderung kann als Aufwendungszuschuß oder als Aufwendungsdarlehen gewährt werden: Beim (verlorenen) Zu schuß läuft die Subventionierung mit der letzten Stufe aus, beim Darlehen ist dieses nach einer Karenzzeit von etwa drei oder vier Jahren zu verzinsen und zu tilgen, so daß weitere Mieterhöhungen eintreten.
(2) Verzinsungsregelung: Ursprünglich wurden die öffentlichen Mittel in der Regel zinslos (mit 1% p.a. Tilgung) gewährt. Um die Fehlbelegung von Sozialwohnungen zu korrigieren, wurde mit der Ergänzung des Wohnungsbindungsgesetzes (Gesetz zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen) vom 24. August 1965 die nachträgliche Verzinsung der öffentlichen Mittel zugelassen. Hiervon haben die Länder in unterschiedlichem Umfang Gebrauch gemacht.
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(3) Fehlbelegungsabgabe: Mit dem Gesetz über den Abbau der Fehlsubventionierung im Wohnungswesen vom 22. Dezember 1981 wurde die Fehlbelegungsabgabe eingeftlhrt, d.h., daß Mieter von Sozialwohungen dann eine Ausgleichsabgabe zu entrichten haben, wenn die zulässigen Einkommensgrenzen um mehr als 20% überschritten werden. Diese bundesrechtliche Regelung ist durch landesrechtliche Bestimmungen ausgeftlllt worden.
Sämtlichen Korrektunnaßnahmen haften Vor- und Nachteile an: Die degressive AufwandsfOrderung unterstellt Einkommenswachstum; die nachträgliche Verzinsung der öffentlichen Mittel ist einfach (,Rasenmäherprinzip') , trifft aber auch Mieter, deren Einkommen nicht gestiegen ist, die dann Wohngeld beantragen können; die Fehlbelegungsabgabe ist sozial treffsicher, verursacht aber Verwaltungskosten und ftlhrt zur Einkommensschnüffelei. Kritiker der Objektförderung haben auf diese Unzulänglichkeiten der Korrektunnaßnahmen hingewiesen, die entweder administrativ oder sozial unbefriedigend sind. Daher haben sie gefordert, die im Prinzip aus den zwanziger Jahren stammende Kapitalsubvention durch die Subjektförderung - das Wohngeld - abzulösen; an die Stelle der Förderung der ,Mauern' (des Objektes) sollte die der Mieter treten. Gesetzliche Grundlage ist das Zweite Wohngeldgesetz vom 14. Dezember 1970 in der Neufassung vom 1. Februar 1993. Der Vorteil der Subjektförderung besteht darin, daß antrags- und förderungsberechtigt nicht der Bauherr, sondern der Mieter ist. Durch die Kapitalsubvention wird ein ganzes Objekt gefOrdert und mit sozial gleichgestellten Mietern belegt, was zu einer Stigmatisierung führen kann. Bei der Subjektförderung ist es auch dem Vennieter nicht erkennbar, ob und in welchem Umfang sein Mieter Wohngeld erhält; hierdurch erfolgt eine nach außen nicht erkennbare soziale Durchmischung der Wohnanlagen. Der entscheidende Vorteil liegt aber darin, daß keine Fehlsubventionierung erfolgen kann; denn das Wohngeld erhalten nur diejenigen Bürger, die auf Grund eines sehr detaillierten Antrages ihre Förderungsberechtigung nachweisen. Da das Wohngeld in der Regel für ein Jahr bewilligt wird, ist eine ständige Anpassung der Höhe dieser Leistungen an die Familien- und Einkommensverhältnisse möglich. Diesen Vorteilen stehen aber auch erhebliche Nachteile gegenüber: Neben der ,Einkommensschnüffelei' entsteht zusätzliche Verwaltungsarbeit, deren Kosten sich auf etwa 5% der Wohngeldleistungen belaufen. Es wird vennutet, daß eine große Zahl von wohngeldberechtigten Haushalten ihre Ansprüche nicht geltend machen, obgleich es sich beim Wohngeld nicht um Leistungen der Fürsorge handelt. Der entscheidende Nachteil besteht aber darin, daß es sich um (verlorene) Zuschüsse handelt, während bei der Kapitalsubvention - insbesondere dann, wenn sie nachträglich verzinst wird - Rückflüsse vorliegen und damit die öffentlichen Haushalte entlastet werden.
326
Helmut Jenkis
Die Wohngeldausgaben sind von rund 148 Milt. DM im Jahre 1965 aufrund 6,9 Mrd. DM Mitte der neunziger Jahre gestiegen, die je zur Hälfte auf den Bund und die Länder entfallen. Je stärker die Mieten steigen, die Löhne und Gehälter stagnieren oder die Arbeitslosigkeit zunimmt, desto höher liegen die Wohngeldleistungen. Da aber die öffentlichen Haushalte insbesondere nach der Wiedervereinigung unter sehr hohen Defiziten leiden - die Staatsverschuldung hat bedenkliche Ausmaße angenommen -, besteht die Gefahr, daß die Anpassungen der Wohngeldleistungen an die sich ändernden Einkommens- und Mietpreise nicht oder zu spät erfolgen. Dieses fuhrt zu sozialen Problemen bei den Mietern und zu Unsicherheiten bei den Vermietern bzw. Bauherren. Es ist daher umstritten, ob und in welchem Ausmaß das Wohngeld die Investitionen begünstigt. Bei der Kontroverse Objekt- versus Subjektförderung werden häufig einseitig die Nachteile der Kapitalsubvention den Vorteilen des Wohngeldes gegenübergestellt. Beiden Systemen haften Vor- und Nachteile an, je nach der Betonung der einen oder anderen Zielsetzung gelangt man zu unterschiedlichen Ergebnissen: Aus fiskalischer Sicht muß man der Kapitalsubvention den Vorzug geben, da Rückflüsse vorliegen; aus sozialpolitischer Sicht ist das Wohngeld zu bevorzugen, da es sozial treffsicherer ist. In der Förderungspraxis hat sich daher ein Mischsystem herausgebildet. 5.3 Die einkommensorientierte Förderung Neben den genannten Korrektursystemen wurde durch das Wohnungsbauänderungsgesetz 1988 die sogenannte vereinbarte Förderung (§ 88d 11. WoBauG) eingefilhrt, d.h., daß die Fördermodalitäen zwischen dem öffentlichen Darlehens- und Zuschußgeber einerseits und dem Bauherren (Investor) andererseits vereinbart werden. Diese Fördermethode unterscheidet sich gegenüber der traditionellen Objektförderung u.a. dadurch, daß die so finanzierten Wohnungen keiner gesetzlichen Preisbindung unterliegen, die Mietzinsregelungen und die Belegungsrechte vertraglich geregelt werden. Der Bund hat es den Ländern überlassen, dieses System entsprechend den örtlichen Marktverhältnissen auszugestalten. Von diesem Instrument haben die Länder unterschiedlich Gebrauch gemacht. Mit dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 vom 6. Juni 1994 wurde mit § 88e II.WoBauG die einkommensorientierte Förderung und die einkommensabhängige Miete eingefiihrt, die zum Ziel haben, die aus der HauszinssteuerÄra stammende Objektförderung abzulösen. Das neue Fördermodell besteht aus den folgenden Komponenten:
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
327
(1) Grundförderung: Diese wird gewährt, um den Unterschied zwischen der vom Investor (Bauherren) am freien Markt erzielbaren Miete und der festzulegenden Miete - die am unteren Rand der ortsüblichen Miete liegen soll und dynamisiert wird - zu überbrücken. Zugleich wird mit dieser Grundförderung eine Belegungsbindung zu Gunsten der öffentlichen Hand (Kommune) ,eingekauft' .
(2) Zusatzförderung: Diese wird auf die individuellen Einkommensverhältnisse der Mieter abgestellt und soll rur etwa 15 Jahre die Differenz zwischen der festzulegenden Miete und der individuell tragbaren Miete abdecken. Sie muß in regelmäßigen Abständen an die aktuelle Einkommenslage des Mieters angepaßt werden. (3) Wohngeld: Wenn die Voraussetzungen erfiillt werden, wird zusätzlich das Wohngeld gewährt.
Dieses Instrument der staatlichen Wohnungsbauförderung verbindet Elemente der Objekt- und der Subjektfördrung und ist zugleich dynamisch, so daß das Problem der Fehillirderung nicht mehr entstehen kann. Der Preis hierfiir aber ist, daß die Mieter ihre Familien- und Einkommensverhältnisse offen legen müssen und daß erhebliche Verwaltungskosten entstehen. Überblickt man das gesamte Instrumentarium, dann stellt man fest, daß die öffentliche Hand faktisch keinen Einfluß auf die drei vorgelagerten Märkte hat. Lediglich die Kommunen können zügig Bauland ausweisen und erschließen. Dagegen sind Korrekturen auf dem Bau- und Kapitalmarkt nicht möglich. Um aber das kostensparende Bauen zu realisieren, könnte der Staat seine baurechtlichen Anforderungen senken, dieser Tendenz stehen aber die ökologischen Forderungen entgegen. Es verbleibt somit nur noch der Eingriff in die Wohnungswirtschaft, wobei man zwischen den Interventionen in den Wohnungsbestand und in den Neubau unterscheiden muß. Nahezu sämtliche Fördermaßnahmen aber sind in einer dynamischen Wirtschaft problematisch. Auch in Zukunft wird Kritik an der staatlichen Subventionierung des Gutes Wohnung und/oder des Wohnens geben, insbesondere dann, wenn die Staatsverschuldung bzw. die Steuerreform den fmanziellen Spielraum einengt. Trotz aller Problematik wird es auch weiterhin eine soziale Wohnungswirtschaftspolitik geben. Allerdings muß sich diese an den ökonomischen Rahmenbedingungen orientieren. 6. Die Überführung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft in die soziale Marktwirtschaft
Mit der Teilung Deutschlands haben sich nicht nur zwei politische, sondern auch zwei Sozial- und Wirtschafts systeme entwickelt. Dieses gilt auch und gerade fiir die Wohnungswirtschaft. Nach der Wiedervereinigung ist auch in diesem Sektor ein langwieriger und schwieriger Transformationsprozeß einge-
328
Helmut Jenkis
leitet worden. Die Probleme dieser Anpassungen sind nur dann verständlich, wenn man die ideologischen und faktischen Grundlagen der marxistischen Wohnungswirtschaftspolitik kennt. 6.1 Elemente der sozialistischen Wohnungspolitik in der ehemaligen DDR Der geistige Vater der sozialistischen (marxistischen) Wohnungswirtschaftspolitik ist Friedrich Engels (1820-1895), der 1872/73 die kleine, aber ideologisch wichtige Schrift ,Zur Wohnungsfrage' herausgab. Die entscheidende These, die bis in die Gegenwart immer wieder zitiert wurde, lautet, ... nicht die Lösung der Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage, sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage, d.h. durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich.' Die kapitalistische Produktionsweise ist durch das Eigentum an den Produktionsmitteln gekennzeichnet, wozu auch und gerade der Grund und Boden gehört. Das bedeutet, daß die Wohnungsfrage erst dann gelöst werden kann, wenn der Grund und Boden vergesellschaftet (verstaatlicht) ist. Bei einem Vergleich zwischen den beiden Teilen Deutschlands bedeutete dieses, daß nur in der ehemaligen DDR, nicht aber in der Bundesrepublik, sowohl die soziale als auch die Wohnungsfrage gelöst werden konnte. Ludwig Penig (seinerzeit Professor an der Akademie rur Staats-und Rechtswissenschaft der DDR in Potsdam-Babelsberg) hat in seinem Buch ,Der komplexe Wohnungsbau als staatliche Aufgabe' (Ost-Berlin 1973,5. 12 f.) in treffender Weise die Charakteristika der sozialistischen Wohnungswirtschaft wie folgt gekennzeichnet: "In der Tat, die sozialistische Gesellschaft bringt im Bereich der Wohnungsversorgung neue spezifische Aneignungsformen hervor. Die Merkmale darur sind: - Die Wohnung ist Bestandteil des zu Vorzugsbedingungen zur Verrugung gestellten gesellschaftlichen Konsumtionsfonds; das heißt, den größten Teil der Kosten rur den Bau und die Unterhaltung der Wohnungen übernimmt der sozialistische Staat. - Die Entwicklung des zu Vorzugsbedingungen bereitzustellenden gesellschaftlichen Konsumtionsfonds engt die Sphäre der Ware-Geld-Beziehungen bei der Endverteilung ein. Das bedeutet, rur die Verteilung und Bewirtschaftung der Wohnungen sind in erster Linie soziale Gesichtspunkte entscheidend. Die Wohnungsnutzung ist zu wesentlichen Teilen - wenn auch unterschiedlich in Altund Neubauten - eine Sozialleistung des sozialistischen Staates.
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
329
- Die Wohnungsnutzung hat im Sozialismus den Charakter, ein ganz gewöhnliches Warengeschäft zu sein, verloren. Die Miete ist nicht mehr nur ein äquivalentes Entgelt rur die Wohnungsnutzung, sondern ein wesentlicher Beitrag des Mieters für die Unterhaltung des gesellschaftlichen Wohnungsfonds. Daraus entstehen für den Mieter große Verpflichtungen, zur Instandhaltung und pfleglichen Behandlung der Wohnung beizutragen. Regelmäßige Mietzahlung und sorgfältige Nutzung der Wohnung sind deshalb Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. Sie dürfen nicht auf ein bloßes finanzielles Verpflichtungsgeschäft reduziert werden. Mietzahlung im Sozialismus ist keine Privatangelegenheit, sondern gesellschaftliche Verpflichtung .. .' . Auf dieser Grundlage wird eine immer vollkommenere Bedürfnisbefriedigung im Wohnbereich möglich'. Dieses Konzept der sozialistischen Wohnungswirtschaftspolitik fand in der DDR-Gesetzgebung ihre Entsprechung: Im Gegensatz zum Bonner Grundgesetz bestimmt die DDR-Verfassung vom 6. April 1968 - in der Fassung vom 7. Oktober 1974 - in Art. 37,: (1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch die Förderung des Wohnungsbaus, die Werterhaltung vorhandenen Wohnraumes und die öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraumes zu verwirklichen. (2) Es besteht Rechtsschutz bei Kündigungen. (3) Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung.' Nahezu wortgleich sind diese Bestimmungen in das ZGB (Zivilgesetzbuch) in § 94 übernommen worden. Sowohl aus den Thesen von Penig als auch aus den gesetzlichen Bestimmungen geht hervor, daß es in der ehemaligen DDR keinen wie auch immer gearteten Wohnungsmarkt gab, da die Wohnungswirtschaft aus den Geld-WareBeziehungen herausgenommen war, so daß eine ,öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraumes' erfolgte. Das bedeutete, daß der gesamte Wohnungsbestand der staatlichen Lenkung unterlag. Folglich war der gesamte Wohnungsbestand erfaßt, der Wohnraum konnte nicht privat gesucht und gemietet werden, sondern wurde von den zuständigen örtlichen Behörden zugewiesen. Hierzu hieß es in § 99 ZGB: ,Voraussetzung rur die Begründung eines Mietverhältnisses ist die Zuweisung des Wohnraums durch das zuständige Organ. Auf der Grundlage der Zuweisung sind Vermieter und Mieter verpflichtet, einen Mietvertrag abzuschließen.' Die technischen Einzelheiten der Wohnungszuweisung enthielten die Wohnraum lenkungs-Verordnungen. Diese zwangsund planwirtschaftlichen Regelungen machen den Unterschied zur marktwirtschaftlichen Ordnung in der Bundesrepublik deutlich.
330
Helmut Jenkis
Ein weiteres Element der sozialistischen Wohnungswirtschaftspolitik war die Mietenpolitik: Hierzu bestimmte § 103 ZGB: (1) Der Mietpreis ist entsprechend den Rechtsvorschriften oder den auf ihrer Grundlage ergangenen staatlichen Festlegungen zwischen Mieter und Vermieter zu vereinbaren.' Es lag somit keine freie Mietpreisbildung oder eine Kostenmiete vor, vielmehr wurden die Mieten staatlich fixiert. Gemäß der ,Verordnung über die Festsetzung von Mietpreisen in volkseigenen und genossenschaftlichen Neubauwohnungen' vom 19. November 1981 betrugen die Mieten mit Wirkung ab 1. Dezember 1981: Hauptstadt der DDR (Ost-Berlin) 1,--M bis 1,25 M, in den Bezirken 0,80 M bis 0,90 M und für die Zentralheizung 0,40 M je qm WohnflächelMonat. Da diese Mieten nicht kostendeckend waren, mußte entweder der Staat Subventionen gewähren oder es wurden die notwendigen Investitionen der Bestandserhaltung unterlassen mit dem Ergebnis, daß ein Substanzverzehr eintrat. Nach der Wiedervereinigung ist diese verfehlte Wohnungswirtschaftspolitik offenkundig geworden, d.h., daß es zwei bis drei Jahrzehnte dauern wird, bis der ostdeutsche Wohnungsbestand qualitativ den Standard Westdeutschlands erreicht haben wird. 6.2 Daten zur Wohnungswirtschaft in der ehemaligen DDR Bei einem Systemvergleich zwischen der ost- und westdeutschen Wohnungswirtschaft kann es sich einmal um quantitative und zum anderen um qualitative Merkmale handeln. Voraussetzung ist, daß vergleichbare Daten vorliegen. Diese Voraussetzung ist nicht bzw. nur begrenzt gegeben, da einmal unterschiedliche Erhebungsstichtage vorhanden sind, die Merkmale verschieden erfaßt wurden und schließlich in der ehemaligen DDR die statistischen Werte aus politischen Gründen ,geschönt' wurden. Am 30. September 1995 wurde in den neuen Bundesländern eine Gebäude- und Wohnungszählung (GWZ '95) durchgeführt. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse vermitteln einen genaueren Einblick in die Gegebenheiten der ostdeutschen Wohnungswirtschaft. Dennoch soll zum Teil auf die alten DDR-Statistiken zurückgegriffen werden, obgleich diese mit einer gewissen Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen sind. Gemäß Art. 9 der DDR-Verfassung, (beruht) die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln.' Gemäß Art. 10 der DDR-Verfassung bestand das sozialistische Eigentum aus dem gesamtgesellschaftlichen Volkseigentum, dem genossenschaftlichen Gemeineigentum werktätiger Kollektive sowie dem Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger. Das persönliche Eigentum diente lediglich der Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger (so Art. 11 DDR-Verfassung). Ausgehend von dieser ideologischen Grundlage wurden die Eigentumsverhältnisse in der Wohnungswirtschaft schrittweise
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
331
umgestaltet, d.h., das Privateigentum zurückgedrängt und der Anteil des kollektiven Eigentums erhöht. Die Tab. 3, die 1990 veröffentlicht wurde, gibt Auskunft über die Eigentumsformen und den Gebäudetyp: Tabelle 3 Wohnungsbestand nach Eigentumsformen und Gebäudetyp (1989) Zahl d. Wohnungen bzw. Anteil nach Eigentumsformen und Gebäudetyp Mehrfamilienhäuser Ein-/ZweiFamilienhäuser DDR insgesamt
Staatliches Eigentum in% in
Privates Eigenturn In in%
GenossenschaftLiches Eigentum In% In
1000
Gesamtbestand in
1000
1000
1000
in%
2580
37
1 160
17
970
14
4710
67
310
4
70
1
1910
27
2290
33
2890
41
1230
18
2880
41
7000
100
Bemerkenswert ist, daß zwar im Zeitraum 1971 bis 1989 der Anteil des privaten Wohneigentums von 62,1% auf 41,2% zurückgegangen ist - gleichzeitig ist der staatliche und genossenschaftliche Anteil gestiegen -, aber selbst 1989 noch der westdeutschen Eigentumsquote entsprach. Bei einer Bewertung muß man allerdings zwischen dem juristischen und dem faktischen (ökonomischen) Eigentum unterscheiden: Auf Grund der auf der Basis 1936 gestoppten Miete und der Wohnraumbewirtschaftung handelte es sich in wirtschaftlicher Hinsicht um ein ausgehöhltes oder sogar faktisch um ein enteignetes Eigentum; denn dem juristischen Eigentümer oblagen alle Pflichten, die er aber aus den gestoppten Mieten nicht bezahlen konnte. Aus diesem Grunde haben geflüchtete DDR-Bürger oder deren Erben häufig ihre Rechtsansprüche - insbesondere an Mietwohnungen - ausgeschlagen, was sich nach der Wiedervereinigung als nachteilig erwies. Aus Tab. 4 (S. 333) können die Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands entnommen werden. Nimmt man die Zahl der WE (Wohnungseinheiten) je 1.000 Einwohner, dann bestand 1987 (Westdeutschland) bzw. 1989 (Ostdeutschland) mit 430 bzw. 426 WE kein wesentlicher Unterschied. Hinsichtlich der Wohnfläche je Einwohner (West = 35 m2, Ost = 28 m2) sowie hinsichtlich der Wohnungsgrößen (West = 86 m2, Ost = 65 m2) bestanden aber erhebliche Diffe~enzen. Zieht man weitere Qualitätsmerkmale wie das Baualter und die Ausstattung der Wohnungen als Kriterien heran, dann werden diese Unterschiede noch deutlicher.
Helmut Jenkis
332
Tabelle 4 Wohnungsbestand in beiden deutschen Gebieten in ausgewählten Jahren DDR
Bundesrepublik Deutschland Wohnungsbest. u. -ausstattung, Wohnungsversorgung Wohnungsbest. Insgesamt8 davon Wohngebäude. Bewohnte Wohneinheiten nach Baujahrgängen: bis 1918 1919 bis 1948 (BRD) bzw. 1945 DDR nach 1948 bzw. nach 1945 nach Ausstattung mit: Zentral- bzw. Sammelheizung lO BadIDusche Innentoilette Wasseransch!. 11 Wohnfläche insgesamt davon: Wohngebäude Wohnfläche je Wohnung Wohnfläche je Einwohner Wohnungen je 1000E. 12
Angabein
1968 1
19782
19823
19874
1970/ 71 5
1980/ 81 6
1989 7
1000
19624
23770
24900
26280
6057
6562
7002
1000
19083
23050
24100
25775
5971
6541
--
1000
18789
22380
23350
24971
5847
6235
--
vH
32
22
--
18
57
44
40 9
vH vH
17
15
33
12
vH
51
63
67
vH
53
64
vH vH vH Mil!. m2 Mil!. m2
68 79 99
--
--
--
22
20
18 9
70
21
36
42 9
70
75
II
36
47
86 92 100
90 --
95 98 100
39 39 82
68 60 94
82 76 96
1395
--
--
2250
351
414
453
1360
1850
1980
2210
--
412
--
m2
71
80
82
86
58
63
65
m2
23
31
33
35
20
24
28
Anzahl
330
388
404
430
355
393
426
--
I)Gebäude- und Wohnungszählung, Oktober 1968.-2) I%-Wohnungsstichprobe, April 1978. 3) Mikrozensus-Zusatzerhebung. April 1982. - 4) Gebäude- und Wohnungszählung vom 25. Mai 1987. - 5) Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung, Januar 1971.- 6) Desgleichen, Dezember 1981. - 7) Jahresende 1989. - 8) Bundesrepublik: Wohnungen in Gebäuden, ohne die von ausländischen Streitkräften gemieteten Wohnungen: DDR: 1971 einschließlich, 1981 jedoch ohne
333
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
zweckentfremdete und von Ausländern belegte Wohnungen. - a)1986. - 10) Bundesrepublik: einschließlich Fernheizung und Etagenheizungenjedoch ohne Einzelofenheizung mit Nachtstrom, Gas oder Öl; DDR: einschließlich Fernheizung, einschließlich Einzelofenheizung mit Strom, Öl oder Gas. - 11) Anschluß an das öffentliche Versorgungsnetz oder eigene Wasserversorgung auf dem Grundstück mit Zapfstelle im Gebäude bzw. in der Wohnung. - 12) Bezogen auf die Wohn bevölkerung insgesamt (einschließlich Anstaltsbevölkerung).
Die ehemalige Bauakademie der DDR hat eine Klassifizierung des Bauzustandes des Wohnungsbestandes in vier Zustandsstufen vorgenommen. Aus der folgenden Tabelle geht hervor, daß 1986 = 4% des Wohnungsbestandes nicht mehr nutzbar waren und weitere 26% schwerwiegende Schäden aufwiesen. Sofern nicht seit 1986 grundlegende Sanierungen vorgenommen wurden, dürfte der Substanzverfall progressiv fortgeschritten sein. Tabelle 5 Baualter und Bauzustand des DDR-Wohnungsbestandes (1981 und 1986) Jahr Durchschnittsalter in Jahren Baualtersgruppen Nach 1945 1919 - 1945 1900 - 1918 vor 1900 Bauzustand Zustandsstufen I 1 2 3 4 I
1981 1986 60 58 Anteil in Prozent 36 42 18 20 13 12 31 28 Anteil in Prozent 35 47 16 2
32 46 4 4
Amtliche Klassifizierung des Bauzustandes:
I= 2= 3= 4=
gut erhalten; geringe Schäden (Verschleiß: 6-25 v.H.); schwerwiegende Schäden (Verschleiß: 26-50 v.H.); nicht mehr nutzbar.
Quelle: Angaben der Bauakademie der DDR.
Auf Grund der bereits genannten GWZ '95 liegen neuere Daten vor, die zugleich einen Einblick in die Struktur der ostdeutschen Wohnungswirtschaft geben (Winter 1996, S. 777 - 783). Die ostdeutsche Wohnungswirtschaft weist die folgende Struktur auf (Tab. 6):
Helmut Jenkis
334
Tabelle 6 Strukturdaten über Gebäude und Wohneinheiten (1995)
Gegenstand der Nachweisung
Gebäude mit Wohnraum Wohngebäude l - bewohnt - völlig leerstehend Wohngebäude nur mit 1 oder 2 Freizeitwohneinheiten Wohnheime filr Senioren Wohnheime rur Studierende Wohnheime rur andere PersonenGruppen Sonstige Gebäude mit Wohnraum Bewohnte Unterkünfte Insgesamt
Insgesamt
2599396 2519939 2433762 86177 11677
Darin: Wohne inWohnungen heiten 7 149888 7060963 6952314 6897559 6752647 6708286 199667 189273 12351 12054
272 541 643
7294 30198 16256
4645 14012 7794
66324 4013 2603409
131 475 4810 7154698
124899 X 7060963
lOhne Wohnheime, ohne Wohngebäude nur mit 1 oder 2 Ferien-lFreizeitwohneinheiten
Aus diesen Strukturdaten geht hervor, daß filr die Wohnraumversorgung rund 7.150.000 WE zur Verfilgung standen; bei 7.061.000 WE handelte es sich um Wohnungen, die auch über eine Küche bzw. Kochnische verfUgten, die restlichen knapp 94.000 WE befanden sich in Wohnheimen ohne Kochmöglichkeit. Allerdings war dieser Wohnungsbestand in den neuen Bundesländern unterschiedlich verteilt (Tab. 7):
335
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
Tabelle 7 Wohnungen und ausgewählte Durchschnittswerte 1995 nach Ländern NachWeisung
Wohnungen insgesamt Wohnungen je 1000 Einwohner Durchschnittliche Fläche der Wohnungen in m 2 Wohnfläche je Einwohner in m 2 Durchschnittliche Zahl der Räume
Neue Länder und BerlinOst
BerIinOst
MeckBranden lenSachsen Sachburgburg senVorpom Anhalt mern
Thüringen
6885960
643315
1074193
751823
2131986
1214774
1069872
444
494
423
412
466
442
427
69,6
63,6
72,3
69,6
66,9
71,4
73,6
30,9
31,4
30,6
28,6
31,2
31,6
31,4
4,0
3,5
4,1
4,0
4,0
4,1
4,2
'Bezogen nur auf Wohnungen in Wohngebäuden, ohne Ferien-lFreizeitwohnungen, ohne Wohnungen in Wohnheimen Quelle: Gebäude- und Wohnstättenzählung
Bemerkenswert ist, daß in den neuen Bundesländern Geweils einschließlich Berlin-Ost) 444 WE je 1.000 Einwohner vorhanden waren (in Berlin-Ost sogar 494 WE) und die durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner 30,9 m2 1995 betrug, in Westdeutschland beträgt sie rund 38 m2 • Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands werden aus Tabelle 8 ersichtlich.
Helmut Jenkis
336
Tabelle 8 Struktur des Wohnungsbestandes im Vergleich
Gegenstand der Nachweisung An des Gebäudes Gebäude mit Wohnraum Wohngebäude bewohnt völlig leerstehend Wohngebäude nur mit 1 oder 2 Freizeitwohneinheiten Wohnheime Sonstige Gebäude mit Wohnraum Wohnungen in Wohngebäuden insgesamtNutzungsan: vom Eigentümer bewohnt vom Eigentümer zu Wohnzwecken vermietet Leerstehend Fläche von ... bis unter ... m' unter 40 40 - 60 60 - 80 80 - 100 100 - 120 120 und mehr Räume (Wohnräume einschI. KOche) 1 Raum 2 Räume 3 Räume 4 Räume 5 und mehr Räume Ausstattung Innerhalb der Wohnung Bad/Dusche und WC, mit Sammelheizung Innerhalb der Wohnung Bad/Dusche und WC, ohne Sammelheizung Bad/Dusche außerhalb der Wohnung oder nicht vorhanden; WC innerhalb der Wohnung Bad/Dusche innerhalb, WC außerhalb der Wohnung Trockentoilette; innerhalb der Wohnung ohne Bad/Dusche und WC
Gebäude- und Wohnungszählung 1995
1%-Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993'
Neue Länder und BerIinOst
Früheres Bundesgebiet
Anzahl
I
Gebäudeund Wohnungszäh1ung 1987 Neue Früheres Länder und BundesBerlin-Ost gebiet
%
%
7060963 6897559 6708286 189273 12054
100 97,7 95,0 2,7 0,2
100 97,3 96,5 0,8
100 97,6 95,8 1,7
/
/
100 97,2 96,6 0,6 0,3
26451 124899
0,4 1,8
0,8 1,9
0,1 2,3
0,6 1,9
6885960
100
100
100
100
1868493 4561185
27,1 66,2
40,4 56,7
24,4 69,4
38,8 59,5
456282
6,6
2,9
6,1
1,7
628292 2314185 2021609 911 815 525539 484520
9,1 33,6 29,4 13,2 7,6 7,0
5,0 17,7 25,7 19,0 12,6 20,0
8,5 33,4 30,0 13,2 7,5 7,5
6,1 18,6 26,1 18,9 12,1 18,2
81769 494961 1831816 25486324 1931090
1,2 7,2 26,6 37,0 28,0
2,0 5,9 21,4 31,0 39,7
1,9 6,3 26,6 38,2 26,9
2,2 5,7 21,1 29,6 41,4
4242372
61,6
81,7
54,1
73,7
1481 730
21,5
15,8
29,8
21,9
245125
3,6
1,1
3,5
3,0
141034
2,0
0,8
5,2
0,6
775699
11,3
0,5
7,4
0,8
337
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik Baujahr: von ... bis . . errichtet bis 1900 1901 - 1918 1919-1948 1949 - 1968 1969 - 1981 (GWZ '87: 1969 und später) 1982 - 1987 1988 - 1990 (GWS '93: 1988 und später) 1991 - 1993 1994 und später
18,3 11,5 21,0 16,0 18,6 9,9 4,7
10,0 7,8 12,3 39,2 30,8
49,8 50,9
33,4 66,6
48,7 51.3
59,6
73,3
50,4
67,5
458437 2326262
6,7 33,8
9,4 17,3
6,8 42,9
7,8 24,6
Gas Elektrizität Heizöl Briketts, Braunkohle, Koks, Steinkohle Holz oder sonstiges
I 893379 2093380 362448 874 179 2755641 I 194389
27,5 30,4 5,3 12,7 40,0 17,3
7,6 52,9 11,5 54,2 5,7 4,4
26,6 20,9 5,7 8,9 46,7 11,5
9,3 28,8 8,3 43,6 11,0
Bauweise des Gebäudes Traditionelle Bauweise Montagebauweise
4758550 2127410
69,1 30,9
I I
I I
I I
27,6 5,7
I I
I I
I I
2,1 2,4 1,4 1,7 2,8 2,3
I I I I I I
I I I I I I
I I I I I I
Eigentümer oder Erbbauberechtigte bzw. Verfügungs- oder Nutzungsberechtigte sind natürliche Personen 3235959 47,0 81,0 juristische Personen 3650001 53,0 19,0
41,0 59,0
80,0 20,0
Zahl der Wohnungen I und 2 Wohnungen 3 und mehr Wohnungen Uberwiegende Nutzungsart Sammelheizung (Fern-, Block-, Zentralheizung) Etagenheizung Einzel- oder Mehrraumöfen
1455449 709089 1318587 1058618 I 182966 616073 267271 111 241 166666
21.1 10,3 19,1
2357328 4528632
34,2 65,8
4101261
Energieart (Mehrfachnennung möglich) Femwäl11le
Erhaltungszustand des Gebäudesl von Bauteilen Gebäude ohne Schäden 1902766 Gebäude mit schwachen Schäden an 392282 mindestens einem Bauteil und zwar schwere Schäden amian ... (Mehrfachnennung möglich) Sockel 146988 den Außenwänden 165872 der Treppenanlage 98442 der Dachkonstruktion 119761 der DachdeckungiDachentwässerung 192327 den Schornsteinen 160633
1),4
17,2 8,9 3,9 1,6 2,4
8,5 7.4 12,8 36.2 23,5 6,9 4,7
-
-
-
-
-
IBei Art des Gebäudes und Nutzungsart: Wohneinheiten Ohne Ferien-lFreizeitwohnungen, ohne Wohnungen in Wohnheimen
2
Ohne auf die Einzelheiten dieses Strukturvergleiches einzugehen, kann man generell feststellen, daß der westdeutsche Wohnungsbestand hinsichtlich der Baujahre jünger und hinsichtlich der Wohnfläche größer ist, außerdem weist er eine bessere Ausstattung auf. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß seit der Wiedervereinigung umfangreiche Bestandsinvestitionen - Instandhaltung, Modemisierung und Sanierung - erfolgten und durch die Abwanderung die Bevöl22 Eck.r! I Roesler
338
Helmut Jenkis
kerungszahl sank, so daß statistisch die Zahl der WE je 1.000 Einwohner zunahm. Der Angleichungsprozeß ist noch keineswegs beendet. 6.3 Die Überfilhrung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft in die soziale Marktwirtschaft Wir haben gesehen, daß auf der Grundlage der marxistischen Ideologie eine sozialistische Wohnungswirtschaftspolitik entwickelt wurde, die Ludwig Penig treffend beschrieben hat. In Westdeutschland - der Bundesrepublik Deutschland - hat man einen Mittelweg zwischen der Wohnung als Wirtschaftsgut und dem Wohnen als Sozialgut filr bestimmte Bevölkerungskreise gesucht. Ob dieser Balanceakt immer gelungen ist, unterliegt der subjektiven oder politischen Bewertung. Entscheidend ist der unterschiedliche ,philosophische' Ansatz: In der ehemaligen DDR hat man systematisch eine Sozialisierung der Produktionsmittel angestrebt und damit auch des Grund und Bodens sowie des (Miet-) Wohnungsbestandes, in Westdeutschland haben alle Parteien die Politik der privaten Vermögensbildung gerade in der Wohnungswirtschaft - allerdings mit verschiedenen Instrumenten - verfolgt. Im Einigungsvertrag (EV) vom 31. August 1990 (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands) wird gemäß Art. 22 EV zwischen dem Finanzvermögen und dem Wohnungsvermögen unterschieden: Das Finanzvermögen wird auf den Bund, die Länder und die Kommunen verteilt, dagegen geht das Wohnungsvermögen gemäß Art. 22 Abs. 4 EV 'mit Wirksam werden des Beitritts mit gleichzeitiger Übernahme der anteiligen Schulden in das Eigentum der Kommunen über. Die Kommunen überführen ihren Wohnungsbestand unter Berücksichtigung sozialer Belange schrittweise in eine marktwirtschaftliche Wohnungswirtschaft. Dabei soll die Privatisierung auch zur Bildung individuellen Wohneigentums beschleunigt durchgefilhrt werden. Der Art. 22 Abs. 4 EV regelt nicht nur die rechtliche Seite, sondern ist zugleich Programm für die künftige Behandlung der volkseigenen Wohnungsbestände. Die Gemeinsame Erklärung (Anlage 1II zum EV) ist gleichfalls filr die Wohnungswirtschaft von Bedeutung: In Ziff. 1 wird festgestellt, daß Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 nicht mehr rückgängig gemacht werden können; trotz Urteile des Bundesverfassungsgerichtes bleibt diese Bestimmung umstritten. In Ziff. 3 wird das Prinzip Rückgabe vor Erstattung aufgestellt; denn: 'Enteignetes Grundvermögen wird grundsätzlich .... den ehemaligen Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben'. Von der Rückgabe (Restitution) sind zwei Komplexe ausgenommen: Einmal, wenn die Rückgabe der Grundstücke und Gebäude auf Grund ihrer derzeitigen Nutzung bzw. Zweckbestimmung von der Natur der
339
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
Sache her nicht mehr möglich ist, zum anderen, wenn Bürger der ehemaligen DDR Eigentum oder dingliche Nutzungsrechte an Immobilien in redlicher Weise erworben haben. Über diese Bestimmungen des Einigungsvertrages ist eine umfangreiche ,Vereinigungs-Gesetzgebung' entstanden, die auch und gerade die Wohnungswirtschaft betrifft. Es ist eine komplizierte Materie, die Anlaß zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten gegeben hat und bei den Beteiligten Emotionen hervorruft. Bei der kursorischen Beschreibung des qualitativen Standards der ostdeutschen Wohnungswirtschaft ist bereits deutlich geworden, daß dieser auf Grund der Kriegseinflüsse, aber in noch stärkerem Maße auf Grund der ideologisch bestimmten Wohnungswirtschaftspolitik im allgemeinen und der Mietenpolitik im besonderen einen Substanzverzehr erfahren hat, der ganz offensichtlich ist. Jede Schätzung über den Baubedarf in den neuen Bundesländern ist sehr problematisch; denn es kommt auf den derzeitigen Bauzustand, auf den angestrebten (Modernisierungs-) Zustand an und schließlich, wann die Modernisierung bzw. Sanierung vorgenommen werden soll. Im Auftrag des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie hat das IfO-Institut rur Wirtschaftsforschung in München bereits 1992 ein Gutachten erstattet, um unter bestimmten Prämissen den künftigen Baubedarf rur den Zeitraum 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 2005 zu ermitteln. Das IfO-Institut hat zwischen dem Erhaltungs- und dem Erweiterungsbedarf rur die einzelnen Teilbereiche unterschieden. Wie aus Tab. 9 hervorgeht, weist der Teilbereich Wohnen den größten Baubedarf aus: Tabelle 9 Baubedarf in den neuen Bundesländern (1991 bis 2005)1) Erhaltungsbedarf Erweiterungsbedarf gesamter Baubedarf % Mrd.DM % Mrd.DM %
Teilbereich Mrd.DM Wohnen 618 Überregionaler 114 Verkehr Regionaler Verkehr 134 Umweltschutz 56 267 Wirtschaft Energie 50 Wasser \3 Kommunikation 10 Sozio-kulturelle Infrastruktur Sonstiges Summe 1
22*
in Preisen von 1990
43 8
357 93
38 10
975 207
41 9
9 4 19 4
7 12 20 2
8 7 20 3
4 4
196 174 462 66 21 50 168
2 100
50 2369
2 100
128
9
62 118 195 16 8 40 40
34 1424
2 100
16 945
I I
I
I
2 7
340
Helmut Jenkis
Das IfO-Institut prognostiziert, daß - bei konstanten Preisen - ein Baubedarf und damit ein Investitionsvolumen von 2.400 Mrd. oder 2,4 Billionen DM vorhanden sei, davon entfallen 41% = 975 Mrd. DM auf die Wohnungswirtschaft, gefolgt von der Wirtschaft mit nur 20%. Die Modernisierung und Sanierung des Wohnungsbestandes bedeutet für den Hauseigentümer Investitionen, für den Mieter Wohnwertverbesserungen und Mieterhöhungen. Unabhängig von diesen qualitativ bedingten Mieterhöhungen mußte das gesamte Mietensystem, das auf dem Niveau von 1936 eingefroren war, angepaßt werden. Die Mietenanpassung erfolgte in mehreren Schritten: (l) Erste Grundmietenverordnung: Mit der Ersten Grundrnietenverordnung vom 17. Juni 1991 wurden mit Wirkung ab 1. Oktober 1991 die Mieten um DM 1,- je qm WohnflächelMonat erhöht, in bestimmten Fällen erfolgten Zu- und Abschläge.
(2) Zweite Grundmietenverordnung: Die Zweite Grundrnietenverordnung vom 27. Juli 1992 ist wesentlich komplizierter, da bei der Mieterhöhung auf Grund von Zu- und Abschlägen die (qualitative) Ausstattung berücksichtigt wurde: Die Mieterhöhung belief sich auf DM 1,20 je qm WohnflächelMonat, sie wurde um DM 0,30 bzw. und um weitere DM 0,15 gekürzt, wenn kein Bad und keine Innen-WC vorhanden war. Ab 1. Januar 1993 wurde die Miete um DM 0,90 und ab 1. Januar 1994 um weitere DM 0,60 erhöht. Wiesen die Gebäude wesentliche Schäden an den Hausfluren oder Treppenräumen, den Elektro-, Gas- oder Wasserinstallationen auf, dann ermäßigte sich der Erhöhungsbetrag von DM 1,20 um DM 0,30.
Zugleich mit der Ersten Grundrnietenverordnung wurde die BetriebskostenUmlageverordnung (Verordnung über die Umlage von Betriebskosten auf die Mieter) verabschiedet. Allerdings wurde die Umlage der Kosten für die Heizung und Warmwasserversorgung auf DM 2.50 je qm WohnflächelMonat begrenzt. Diese Umlage der verbrauchsabhängigen Kosten - in Westdeutsch land eine gängige Praxis - war für die Mieter in Ostdeutschland vollkommen neu, da es in der ehemaligen DDR derartige Belastungen für die Mieter nicht gab. Ein weiterer Schritt zur Angleichung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft an die Regeln der sozialen Marktwirtschaft erfolgte durch das Mietenüberleitungsgesetz (MÜG), das am 1. Juli 1995 in Kraft trat. Ziel dieses Gesetzes ist, daß die Mieten weiter angehoben werden können und schließlich ab 1. Januar 1998 der Übergang zum Vergleichsmietensystem - wie in Westdeutsch land erfolgen soll. Am 1. August 1995 kann die Miete um 15% und am 1. Januar 1997 um weitere 5% erhöht werden. Es geIten wiederum Sonderregelungen hinsichtlich der Modernisierungsumlage, der Beschaffenheitszuschläge und der Neuvertragsrnieten.
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
341
Die Tab. 10 (S. 343) macht die Schritte der Mietenanhebungen deutlich. Bei der Bewertung dieser Angleichungsschritte sind nicht nur die betriebswirtschaftlichen, sondern auch die sozialpsychologischen Aspekte zu berücksichtigen; denn die Mieter kannten seit 1936 faktisch keine Mieterhöhungen. Um diese Mietenerhöhungen sozialverträglich zu gestalten, wurde das westdeutsche Wohngeldgesetz durch das Wohngeldsondergesetz (Gesetz über Sondervorschriften fUr vereinfachte Gewährung von Wohngeld in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiete) vom 20. Juni 1991 ergänzt: Das sogenannte, Wohngeld-Ost' ist umfassender als das in Westdeutschland, da auch die Kosten fUr die Wärme und das Warmwasser wohngeldfiihig sind. Ursprünglich war dieses Gesetz bis Ende 1995 begrenzt, es wurde bis Ende 1996 verlängert und schließlich trat fUr 1997 und 1998 ein "Wohngeldüberleitungs- gesetz' am 1. Janaur 1997 in Kraft. Sofern nicht erneut diese Regelungen in gleicher oder in abgeänderter Form verlängert werden, gilt auch in den neuen Bundesländern das (west-) deutsche Bundesrecht. Ein weiteres Problem der ostdeutschen Wohnungswirtschaft stellten die Schulden aus der DDR-Zeit dar, diese Problematik wurde durch das Altschuldenhiljegesetz gelöst: Vor der Vereinigung beliefen sich die Schulden der Wohnungswirtschaft auf rund 75 Mrd. Ost-Mark, nach der Umstellung im Rahmen der Währungsunion auf rund 36 Mrd. DM (West-Mark) . Da der Einigungsvertrag hierzu keine Regelung vorsah, wurde bis Ende 1993 ein Moratorium verfUgt, d.h., die bis dahin nicht gezahlten Zinsen und Tilgungen wurden den (umgestellten) Schulden zugeschlagen, so daß diese auf rund 51 Mrd. DM anwuchsen. Juristisch war und ist umstritten, ob die der ostdeutschen Wohnungswirtschaft gewährten DDR-Kredite Schulden im Sinne des BGB sind. Um einen langjährigen Rechtsstreit zu vermeiden - dieser hätte die Investitionen verhindert und damit auch Arbeitsplätze vernichtet -, wurden mit dem Altschuldenhilfegesetz die folgenden Regelungen getroffen: (1) Teilentlastung: Auf Grund des Altschuldenhilfegesetzes werden auf Antrag des Wohnungsunternehmens die DDR-Schulden bis auf DM 150,- je qm Wohn fläche gekappt, d.h., zu Lasten des Erblastentilgungsfonds übernimmt letztlich der Bund rund 27,5 bis 28 Mrd. DM. Mit diesem Antrag auf Teilentlastung erkennt das Wohnungsunternehmen die verbleibenden Schulden an, so daß künftige Rechtsstreitigkeiten vermieden werden. (2) Zinshilje: Auf Antrag wird dem Wohnungsunternehmen fUr die auf die Altverbindlichkeiten zu zahlenden Zinsen fUr die Zeit vom I. Januar 1994 bis 30. Juni 1995 in voller Höhe eine Zinshilfe gewährt. Diese Zinshilfe beläuft sich auf etwa 7 Mrd. DM.
Helmut Jenkis
342
Tabelle 10 Überführungsschritte für die preisgebundenen Wohnungen Teilweise sind Pauschalen und Durchschnittsbetrage eingetragen. 1m Einzelfall sind Abweichungen nach unten und oben möglich
Ein-Familienhaus modernisiert und instandgesetzt DMlm 2
Nonnale Altwohnung, mit Zentralheizung, ohne erhebliche Schaden nicht modernisiert DMlm 2 1,1,-
Modernisierte und instandgesetzte Altwohnung DMlm 2
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Einfachste Altwohnung, ohne Zentralheizung und Bad, nicht modernisiert DMlm 2
1,1,Alte DDR-Miete 1,1,1,I. Grundmietenverordnung 1,1.10.1991 0,15 0,15 Bad oder Zentralheizung 0,15 0,15 0,15 Ab 100 000 Einwohner 0,15 0,15 nur Außen-WC 0,15 Wohnung nicht abgeschlossen - 0,15 Betriebskosten-Umlageverordnung - 0,10 - 0,55 - 0,55 - 0,55 1.10.1991 2 1,20 2. Grundmietenverordnung 1,20 1,20 1,20 1.1.1993 kein Bad -0,30 kein Innen-WC -0,15 Ein-Familienhaus 0,30 0,30 Beschaffenheitszuschllge ftIr Dach (0.30) 0,30 0,30 0,30 ... ftIr Fenster (0,30) 0,30 0,30 0,30 ... ftIr Fassade (0,30) 0,30 0,30 Beschaffenheitszuschllge 1.1.1994 ftIr Hausflurrrreppenhaus (0,30) 0,30 0,30 0,30 ftIr Hausinstallation (0,30) 0,30 0,30 0,30 Modernisierungszuschllge 1,15 1,15 Freiwillige Instandsetzungskosten (0,60) (0,60) Miete insgesamt (ohne 2,50 -4,00 4,45 5,60 - 6,20 5,60 - 6,20 Nebenkosten) Nebenkosten kalt 1,60 1,24 1,60 1,60 1,81 HeizkostenlZentralheizung, 1,20 1,81 1,81 Wannwasser, Einzelöfen' Mietbelastung insgesamt 7,86 4,94 - 6,44 9,01 - 9,61 9,01 - 9,61 Ab I. Juli 1985: Vergleichsmiete Ost mr Altwohnungen Miete insgesamt ohne Nebenkosten 12,50 - 4,00 15,12 J 6,27 - 6,87 16,49 - 7,09 Mietbelastung insgesamt mit 8,53 4,94 - 6,84 9,68 - 10,28 9,90 - 10,50 Nebenkosten Ab I. Januar 1997: Vergleichsmiete Ost mr Altwobnungen 16,49 - 7,09 Miete insgesamt ohne Nebenkosten 12,50 - 4,60 15,34 16,71-7,31 Durchschmnswert 2 Pauschale gcmaJI Betriebskostenumlageverordnung , Durchschninswcrt laut Institut rur Stadtforschung und Strukturpolitik (IFS) • Geschatzt , Preisspannen abhlngig von Umschlag der Bescha/fenheilSZuschllge und freiwillig gelMllcn MielerhOhungen wegen Instandsetzung , Durchschninswert laUI IFS, deullich hOhere Heizkosten in fembcheizten Wohnungen, durchschnittlich 2,27 DM, Spitzcnwerte bis 4DM und mehr möglich
-
(3) Privatisierungspjlicht: Als ,Gegenleistung' für die Teilentlastung haben die Wohnungsuntemehmen in der Zeit vom 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 2003 (Privatisierungen seit dem 3. Oktober 1990 sind anzurechnen) mindestens
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
343
15% des Wohnungsbestandes zu privatisieren und zu veräußern; dabei sind die Mieter zur Bildung individuellen Wohneigentums vorrangig zu berücksichtigen. (4) Erläsabfohrung: Aus der Veräußerung hat das Wohnungsunternehmen Erlösanteile an den Erblastentilgungsfonds abzufiihren. Die Erlösabfiihrung ist progressiv gestaffelt und betrug Z.B. bis Ende 1994 = 20%, steigt bis Ende 1997 auf 60% und ab 1Januar 2001 auf 90%.
Es dürfte Konsens darüber bestehen, daß im Interesse der Wohnungswirtschaft und des Arbeitsmarktes eine Teilentiastung notwendig war und daß den Wohnungsunternehmen eine Privatisierungspflicht auferlegt wurde. Es stellte sich aber heraus, daß die Mieter in den neuen Bundesländern auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit und der begrenzten Kaufkraft finanziell nicht in der Lage oder auch nicht Willens sind, ihre bisher gemieteten Wohnungen zu kaufen, hinzu kommt, daß sich die großen Plattenbaukomplexe fiir eine mieternahe Privatisierung nicht eignen. Von den von den Wohnungsunternehmen zu privatisierenden rund 330.000 WE konnten bis Ende 1995 insgesamt 117.200 WE (rund 35%) veräußert werden, allerdings wurden nur etwa 35.500 WE an die Mieter verkauft; 1995 wurden insgesamt 53.336 WE veräußert, davon 12.611 WE an die Mieter. Um dennoch das gesteckte Ziel im Prinzip zu erreichen, wurde nicht nur die Erlösabfiihrung auf maximal 55 % reduziert, sondern es wurden als Privatisierung das Zwischenerwerbermodell und die Neugründung von eigentumsorientierten Wohnungsgenossenschaften zugelassen (Schreiben des BMBau, Bundesministerium fiir Raumordnung, Bauwesen und Städtebau vom 18. Mai 1995): Beim Zwischenerwerbermodell handelt es sich darum, daß nicht die Mieter, sondern ein Erwerber - Z.B. eine Gesellschaft - eine größere Anzahl von Wohnungen kauft, diese bewirtschaftet und später mindestens ein Drittel vorrangig an die Mieter veräußert. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß entweder neue Wohnungsgenossenschaften gegründet oder aber aus den bestehenden diese abgespalten werden, die die zu privatisierenden Wohnungen übernehmen. Das Genossenschaftsmodell muß von der Alt-Genossenschaft dann akzeptiert werden, wenn mehr als die Hälfte eines Wohnobjektes dieses verlangt. Das BMBau hat sogar die Absicht, dieses Genosenschaftsmodell auf sämtliche Wohnungsbaugenossenschaften im gesamten Bundesgebiet zu übertragen, wogegen sich diese aber wehren, weil die Gefahr besteht, daß die finanzkräftigen Genossenschaftsmitglieder die guten Wohnobjekte aus den AltGenossenschaften herauslösen. Zahlreiche wohnungswirtschaftliche Probleme des Transformationsprozeßes sind seit der Wiedervereinigung gelöst, andere müssen noch bewältigt werden. Das gilt insbesondere fiir die Instandsetzung, Modernisierung und Sanierung des abgewirtschafteten Wohnungsbestandes. Dieses wird mindestens ein weite-
344
Helmut Jenkis
res Jahrzehnt erfordern, wobei die Vorstellungen zwischen den Vermietern und den Mietern sowie die Auffassungen darüber, ob und inwieweit die Wohnung bzw. das Wohnen ein Wirtschafts- oder ein Sozial gut ist, zu divergierenden Auffassungen fUhren dürften. 7. Der Versorgungsgrad
Neben der Ernährung und Bekleidung gehört die Wohnung zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Während die beiden zuerst genannten Grundbedürfnisse kein wirtschaftliches und soziales Problem darstellen, ist der wohnungsmäßige Versorgungsgrad keineswegs frei von Meinungsverschiedenheiten. Von den Konsumenten (Mietern) wird kritisiert, daß das Wohnen zu teuer und daher sozial nicht tragbar ist, von Investoren (Vermietern) wird darauf hingewiesen, daß die staatlichen Reglementierungen eine angemessene Verwertung der Investition nicht zulassen. Hinzu kommt, daß es konjunkturelle Schwankungen gibt, d.h., daß Phasen der Angebotsverknappung solche der Leerstände folgen. Liegt ein Mangel vor, dann steigen die Mieten, sind Leerstände vorhanden, dann entstehen Mietausfälle. Bei der Beurteilung und der Bewertung der jeweiligen (örtlichen) Marktlage spielen nicht nur die objektiven Faktoren, sondern auch die subjektiven Präferenzen eine entscheidende Rolle. Es kommt auf das jeweilige VorVerständnis des Betrachters an, wie der wohnungswirtschaftliche Versorgungsgrad beurteilt wird. An die Stelle einer mehr oder minder subjektiv gefärbten Bewertung sollen einige Daten den Versorgungsgrad skizzieren. 7.1 Die Ausgangslage nach 1945 Bis Kriegsende lag eine einheitliche (Kriegs-) Wirtschaftsordnung vor. Bereits Mitte der dreißiger Jahre war eine Rückkehr zur Wohnungszwangswirtschaft erkennbar, die unter den Kriegseinflüssen verschärft wurde. Mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 18 vom 8. März 1948 wurde in allen vier Besatzungszonen eine totale Wohnungszwangswirtschaft eingeführt. Nach der Gründung der Bundesrepublik bzw. der DDR drifteten ordnungspolitisch beide Teile Deutschlands auseinander: In der Bundesrepublik wurde - wie dargelegt schrittweise der Übergang zur sozialen Wohnungsmarkt angestrebt, in der ehemaligen DDR hat man sich aus ideologischen Gründen für eine sozialistische und damit fUr eine planwirtschaftliche Lösung entschieden. Abgesehen von der divergierenden ordnungspolitischen Entwicklung waren auch unterschiedliche Fakten vorhanden:
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
345
Auf Grund der Kriegshandlungen waren in Ostdeutschland nur etwa 10%, in Westdeutschland hingegen knapp 20% des Wohnungsbestandes von 1939 zerstört. Hinzu kam, daß zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene, aber auch Bürger die ehemalige sowjetische Besatzungszone verließen und nach Westdeutschland gingen. Der westdeutsche Wohnungsmarkt wurde durch die freiwilligen bzw. erzwungenen Wanderungsbewegungen belastet und der ostdeutsche entlastet. Die Tab. II macht die unterschiedliche Ausgangslage deutlich. Tabelle 11 Wohndichte (Personen je Normal- und Notwohnung) in ausgewählten Jahren Jahr 1939 1950 1958
DDR
DDR 3,35 3,70 3,28
Ost-Berlin
Insgesamt
2,79 2,90 2,42
3,28 3,63 3,21
Bundesgebiet 3,70 4,72 3,58
Bundesrepublik WestInsgesamt Berlin 2,84 3,63 3,07 4,61 2,69 3,63
Für die Nachkriegszeit ist die Datenlage unsicher, das gilt nicht nur für den Ost-/Westvergleich, sondern auch tUr Westdeutschland. Trotz dieser Vorbehalte kann man für die Bundesrepublik feststellen, daß sich im Zeitraum 1950 bis 1978 der Versorgungsgrad wesentlich verbesserte (Abb. 2) (S. 347). Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich in Westdeutschland die Belegungsdichte halbiert, d.h., daß sowohl die Zahl der Personen je Wohnung als auch die je Raum wesentlich zurückging; der Rückgang war in den Flüchtlingsaufnahmeländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern besonders stark, da eine Umsiedlung stattfand. Leider ist ein Vergleich mit Ostdeutsch land nicht möglich (Jenkis 1976, S. 12ft). 7.2 Der Versorgungsrad im West-Ost-Vergleich In beiden deutschen Staaten wurde - allerdings in unterschiedlichen Ordnungssystemen - der Versuch unternommen, die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges zu überwinden. In Westdeutsch land hat sich die Zahl der Wohnungen von 8, I Mil!. im Jahre 1945 auf 26,8 Mill. WE 1990 erhöht (Abb. 3), gleichzeitig nahm aber auch die Bevölkerung von 43,6 Mil!. (1945) auf63,7 Mil!. (1990) zu; 1945 kam auf 5,4 Einwohner nur eine WE, 1990 waren es 2,3.
346
Helmut Jenkis
Abbildung 2 Wohnungsbelegung in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1978)
o,
I
100 km
Personen pro Wohnung
(BRD gesamt)
~~ o8lll o ..-
0
Q)
~ ~ ~ ~
Saarland: keine Daten für 1950 - - Staatsgrenzen
-
-
Ländergrenzen
Kartographie: H. Krähe
Quelle: Bestand an Wohngebäuden und Wohnungen am Jahresende 1978, tn: Wirtschaft und Sta1istlk, Heft 8, 1979, S, 574
347
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschafts{lolitik
Abbildung 3 Wohnungsbestand in der Bundesrepublik (1974-1994) in Mio. 90 I 80 70
I
I
I
I
I
I I
30 20
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I
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I
I
I
I
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I
I I
I
I i
I
1974'75 '76 '77 '78 '79 '80 '81 '82 '83 '84 '85 '86 '87 '88 '89 '90 '91 '92 '93 '94
L
____________________
- - - - -
~zm~l~d~~W~O~hn_u_n_g_en __________________. Bevölkerung 1
Anm.: Ab 1987 neue Basis der Fortschreibung, ab 1988 ohne Wohnheime, ab 1991 Deutschland insgesamt.
Diese quantitative Verbesserung der Wohnungsversorgung wurde durch eine qualitative Komponente ergänzt, hierzu gehören die sanitären Einrichtungen, aber auch die Heizungs- und Fenstersysteme, in jüngster Zeit ist die Beachtung ökologischer Anforderungen (so die Wärmeschutzverordnung oder die Trennung des Hausmülls) hinzugekommen. Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern hat es nicht unerhebliche Schwankungen der jährlichen Neubaurate gegeben (Abb. 4). In beiden deutschen Staaten wurden große Anstrengungen unternommen, die kriegs- und nachkriegsbedingte Wohnungsnot zu überwinden, wobei zwischen der Entwicklung in West- und in Ost-Deutschland zu unterscheiden ist:
.
I1
Helmut Jenkis
348
Abbildung 4 Fertiggestellte Wohnungen in 1.000 800
I
700
I
I
Irr[7
600 500 400 300 200
100
o
/
/
-1949
1!
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'59
'64
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---1--- -- - -'54
~
i
I
'79
-
V
J
/
I
-- - - I
'84
'89
'94
Früheres Bundesgebiet Neue Länder und Berlin-Ost
Anm.: 1994: Vorläufiges Ergebnis Quelle: Schewe, P.: Zur Entwicklung des Wohnungsbaus in Deutschland in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. In: Wirtschaft und Statistik, Heft 5, 1995, S. 531.
In West-Deutschland war 1966/67 die erste "milde" Rezession zu verzeichnen. Nach einem stürmischen Bauboom mit inflationärer Preisentwicklung Anfang der 70er Jahre - 1974 wurden 714.000 WE fertiggestellt - brach 1973/74 dieser Boom zusammen, der große Leerstände und rur die Investoren Verluste verursachte. Ab 1980 war eine "neue" Wohnungsnot zu verzeichnen, dem ab 1982/83 erneut ein Wohnungsleerstand folgte; das Neubauvolumen erreichte 1988 mit 209.000 den Tiefstpunkt der Nachkriegszeit. Auf Grund der ökonomischen Entwicklung und insbesondere der Bevölkerungszuwanderungen - Aussiedler, Flüchtlinge - sowie der staatlichen Fördermaßnahmen stieg die Zahl der Wohnungsfertigstellungen, aber seit 1996/97 zeichnen sich wiederum Leerstände mit stagnierenden oder sogar sinkenden Mieten bzw. Verkaufspreisen ab. Die Fertigstellungen gingen in West-Deutschland von 505.000 WE (1994) auf 393.000 WE (1997) zurück, rur 1998 wird ein Fertigstellungsvolumen von nur noch 370.000 WE erwartet. Das Neubauvolumen wird in erster Linie vom Eigenheim- und Eigentumswohnungsbau, nicht vom Mietwohnungsbau getragen.
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
349
Ein erneuter Aufschwung hängt von der gesamtwirtschaftlichen sowie von der demographischen Entwicklung ab. Die Entwicklung in Ost-Deuschland ist anders verlaufen: Auch in der ehemaligen DDR hat es Schwankungen gegeben, wobei zu berücksichtigen ist, daß - im Gegensatz zur Bundesrepublik - in dem Fertigstellungsvolumen auch die Modernisierungen enthalten waren. Des weiteren ist zu beachten, daß die statistischen Daten "geschönt" waren, d. h., zu hoch ausgewiesen wurden; in dem zuletzt herausgegebenen DDR-Statistischen Jahrbuch 1990 erfolgte eine Korrektur. Das Fertigstellungsvolumen (einsch!. Um- und Ausbau) ging von 120.500 WE (1981) auf 104.700 WE (1988) zurück und erreichte 1990 nur noch ein Volumen von 62.500 WE. 1996 wurden 143.000 WE fertiggestellt und für 1998 wird ein Volumen von 160.000 WE erwartet; Träger dieser Entwicklung sind die Eigenheime und Eigentumswohnungen. Während in WestDeutschland konjunkturelle Schwankungen - mit einer gewissen Regelmäßigkeit - zu verzeichnen sind, dominieren in den neuen Bundesländern strukturelle, d. h., Anpassungsprobleme, die zum Teil eine Folge der DDR-Wirtschafts- und Wohnungspolitik sind. Diese Strukturprobleme wurden durch das Fördergebietsgesetz (Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbeträge im Fördergebiet) vom 24. Juni 1991 (verlängert bis Ende 1996) verstärkt: Um privates Kapital in die neuen Bundesländer zu lenken, gewährte der Staat Sonderabschreibungen von 50% innerhalb von fiinf Jahren zuzüglich der Regelabschreibungen von 2% p. a. Diese steuerlichen Vorteile fiihrten zu Fehlinvestitionen, die sich in Leerständen und in sinkenden Mieten bzw. Verkaufspreisen manifestieren. Insbesondere in Regionen, in denen eine De-Industrialisierung erfolgte, wird es zu längerfristigen Anpassungsprozessen und zum Teil sogar zu Abrissen kommen. Das auf der 10. Tagung der SED am 2. Oktober 1973 beschlossene "Wohnungsbauprogramm der Deutschen Demokratischen Republik fiir die Jahre 1976 bis 1990" - die Wohnungsfrage bis zum Jahre 1990 zu lösen - ist nicht realisiert worden, obgleich nicht zu verkennen ist, daß erhebliche Anstrengungen unternommen wurden. Allerdings ist die ehemalige DDR auch daran gescheitert, daß ihre Sozial- (Wohnungs-) politik die ökonomischen Grenzen nicht respektiert hat und Wohnung bzw. das Wohnen zum Sozialgut erklärte. Eine Bewertung des wohnungswirtschaftlichen Versorgungsgrades ist außerordentlich problematisch: Geht man von der Situation bei Kriegsende oder des Jahres 1950 aus - damals standen pro Kopf nur etwa 10 - 12 m2 Wohnfläche zur Verfiigung -, dann ist der derzeitige Flächenkonsum von rund 38 m2 im Westen und rund 30 m2 im Osten als sehr gut zu bezeichnen. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich allerdings große Unterschiede. So zum Beispiel konsumieren die Eigenheimer in der Regel mehr Wohnfläche als die Mieter. Trotz dieser Einschränkungen wird man aber feststellen können, daß
350
Helmut Jenkis
Deutschland - insbesondere nach den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges - im Vergleich zu allen westeuropäischen Ländern sowohl quantitativ als auch qualitativ einen über dem Durchschnitt liegenden Versorgungsgrad aufweist. Dieses im großen und ganzen positive Ergebnis schließt jedoch nicht aus, daß es auch in Zukunft Probleme geben wird.
Literatur Akademie rur Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.): Sozialistische Wohnungspolitik, Ost-Beriin 1977 Albrecht, G. (Herausg.) : Handwörterbuch des Wohnungswesens, Jena 1930 Blumenroth, u.: Deutsche Wohnungspolitik seit der Reichsgrlindung - Darstellung und kritische Würdigung, Beiträge zum Siedlungs- und Wohnungswesen und zur Raumplanung, Bd. 25, Münster 19785 Bundesministerium rur Wohnungswesen und Städtebau (Hrsg.): Beiträge zu den Grundlagen eines Wohnungswirtschaftsgesetzes, Schriftenreihe des Bundesministeriums rur Wohnungswesen und Städtebau, Bd. 24, Hamburg 1967 Dyong, H.lArenz, W. (Herausg.) : Vorschriften im Miet- und Wohnungsbaurecht, 20. Aufl., Hamburg 1997 Eekhoff, J: Wohnungs- und Bodenmarkt, Tübingen 1987 Eekhoff: Wohnungspolitik, Tübingen 1993 Expertenkommission Wohnungspolitik: Wohnungspolitik auf dem Prlifstand, im Auftrag der Bundesregierung, Bonn, 16. Oktober 1994 Expertenkommission Wohnungspolitik: Wohnungspolitik rur die neuen Länder, im Auftrag der Bundesregierung, Bonn, 15. Oktober 1994 GEWOS Institut rur Stadt-, Regional- und Wohnforschung (Bearbeiter): Wohnungspolitik seit dem 2. Weltkrieg, Schriftenreihe ,Forschung' des Bundesministeriums rur Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Heft-Nr. 482, 0.0. ,0.1. (Bonn, etwa 1990/1991) Häring, D.: Zur Geschichte und Wirkung staatlicher Interventionen im Wohnungssektor -Gesellschaftliche und sozialpolitische Aspekte der Wohnungspolitik in Deutschland, Hamburg 1974 Institut Wohnen und Umwelt (Hrsg.) : Wohnungspolitik am Ende?, Opladen 1981
Wohnungswirtschaft und Wohnungswirtschaftspolitik
351
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352
Helmut Jenkis
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Zimmermann, c.: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik -Die Reforrnbewegung in Deutschland 1845-1914, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 30, Göttingen 1991
Jürgen Schulz BEVÖLKERUNGS ENTWICKLUNG UND SIEDLUNGSSTRUKTURELLE KONSEQUENZEN IN THÜRINGEN SEIT 1990 1. Einleitende Bemerkungen zum Bundesland Thüringen
Thüringen hat sich als historischer und einheitlicher Landschaftsbegriff über viele Jahrhunderte bis zur Gegenwart erhalten, obwohl es durch die Vielzahl der Kleinstaaten in der Historie ein klassisches Beispiel politisch-staatlicher Zersplitterung darstellte. Nach der LandesgTÜndung 1920 wurde Thüringen mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 seiner Eigenständigkeit beraubt. Die ersten Nachkriegs-Landtagswahlen fanden in Thüringen im Oktober 1946 statt. Im Zuge der Gebietsreform 1952 wurden die drei Bezirke Erfurt, Suhl und Gera gebildet und die alten Länderstrukturen aufgelöst. Damit wurde eine der Zentralplanwirtschaft entsprechende Verwaltungsstruktur durchgesetzt. Die Grenzen in den Randgebieten zu den benachbarten Bezirken wurden begradigt. Den Kreis Altenburg gliederte man dem sächsischen Bezirk Leipzig an und teilte ihn in die Kreise Altenburg und Schmölln. Es entstanden 32 verkleinerte Land- und vier Stadtkreise, später filnf Stadtkreise (Suhl 12.05.1967). Mit dem Jahr 1952 wurde somit die 1920 begonnene eigenständige Thüringer Landesentwicklung nach 1933 zum zweiten Male unterbrochen. Gemäß Ländereinfiihrungsgesetz vom 22. Juli 1990 wurde durch Zusammenlegung der drei Thüringer Bezirke zuzüglich der Kreise Altenburg, Artern und Schmölln am 3. Oktober 1990 das Land Thüringen als föderaler Teil der Bundesrepublik Deutschland gebildet (35 Land- und 5 Stadtkreise). Die bestehende Kreiseinteilung blieb bis Mitte 1994 erhalten. Per 01.07.1994 wurde gemäß Thüringer Neugliederungsgesetz (ThürNGG, Gesetz- und Verordnungsblatt 24/1993) das Land in 17 Landkreise und 5 kreisfreie Städte eingeteilt. Am 14. Oktober 1990 wurde der erste Thüringer Landtag gewählt. Thüringen befindet sich seitdem im Prozeß des Auf- und Ausbaus funktionierender förderaler Strukturen, wie dem Thüringer Rechtssystem, der öffentlichen Verwaltung und einer umweltverträglichen Wirtschaft. Am 10. Januar 1991 bestätigte der
23 Eckart I Roesler
354
Jürgen Schulz
Thüringer Landtag Erfurt als Landeshauptstadt. Am 25. Oktober 1993 erfolgte auf der Wartburg die Verabschiedung der Verfassung des Freistaates Thüringen. Thüringen nimmt mit rund 4,5% der Fläche und 3,1% der Bevölkerung unter den 16 Bundesländern derzeit jeweils den 11. Rang ein. 2. Raum- und siedlungsprägende Prozesse in Thüringen seit 1990
Mit der politischen Wende 1989/1990 entstand auch rur die Raum- und Siedlungsentwicklung in Thüringen eine völlig neue Situation. Die gewonnene Planungshoheit versetzte die Gemeinden in die Lage, vielfllltige mit Bauvorhaben verbundene Interessen in eigene Regie nehmen zu können. Ab 1990 wurden eine Vielzahl an Flächennutzungs-, Bebauungs- sowie Vorhaben- und Erschließungsplänen erstellt, die die restriktive Siedlungsplanung vor 1989 ablösten. Anfangs gelangten vornehmlich Bauvorhaben im Außenbereich zur Genehmigung, da in den Städten oftmals ungeklärte Eigentumsverhältnisse die Planungen erschwerten und verzögerten. So konnten in kurzer Zeit Erschließungs- und Neubaumaßnahmen rur den großflächigen Einzelhandel und das Gewerbe begonnen werden. Etwa ab 1993 wuchs die Beantragung von Wohnbau flächen überproportional gegenüber der Beantragung von Sonderbau- und Gewerbeflächen. Bevorzugte Standorte rur alle Planungen waren das Umland der großen Städte Thüringens und verkehrsgünstig gelegene Gemeinden an der Thüringer Städtereihe von Eisenach bis Altenburg. 2.1 Ausgewählte demographische Grundlinien Die oben skizzierte Siedlungsentwicklung in Thüringen vollzog sich unter den demographischen Bedingungen einer landesweit sinkenden Bevölkerungszahl (1989 bis 1995 um 6,3%). Diese wurde vor allem von starken selektiven Wanderungsverlusten (Altersgruppen unter 18 und 18 - 25 Jahre!) in die alten Bundesländer in den ersten Jahren nach der politischen Wende und einer extrem fallenden Geburtenrate bei annähernd konstanter Sterberate verursacht (vgl. Abb. 1). Bei längerem Anhalten dieser Tendenzen drohen eine relativ starke Überalterung der Bevölkerung und Nachwuchsprobleme bei qualifiziertem Personal rur die Wirtschaft Thüringens. Demographische Grundlinien der Entwicklung in Thüringen im Vergleich zu den Nachbarländern werden aus Tab. 2.1 deutlich: Wie in Thüringen nimmt die Bevölkerungszahl seit 1989 auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt ab, während sie in Bayern, Hessen und Niedersachsen deutlich zunimmt.
Bevölkerungsentwicklung und siedlungsstrukturelle Konsequenzen
355
Abbildung 1 Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Thüringen (1989-1995) 13
12 10
--
-- - ------ ----~
~
8 6
I\.
--- - --- 1------ ---
"'--
I
4
-
2
o 1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
Geborene/l.000 Einwohner Gcstorbcne/l.000 Einwohner
Der Anteil der Kinder und Jugendlichen ging im selben Zeitraum in den drei neuen Bundesländern erheblich zurück (in Thüringen um 2,7 %). Während in diesen drei neuen Bundesländern 1989 im Vergleich zum Bundesdurchschnitt noch deutlich mehr Personen dieser Altersgruppe lebten, gleicht sich dieser Anteil seitdem immer mehr an. Entgegengesetzt verhält sich seit 1989 die Entwicklung des Anteils der Personen über 60 Jahre. Während dieser Anteil in den drei alten Bundesländern nur geringfilgig zunahm, stieg er in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt deutlich an (in Thüringen um 2,2%). Dennoch lag in Thüringen 1995 der Anteil der unter 20-jährigen deutlich über, der Anteil der über 60-jährigen leicht unter dem Bundesdurchschnitt. Dabei beeinflußten vor allem die selektiven Wanderungsverluste in die alten Bundesländer und der drastische Geburtenrückgang die demographische Entwicklung der letzten Jahre. Im Gegensatz zu den alten Bundesländern Bayern, Hessen und Niedersachsen verschlechterte sich die Altersstruktur der Bevölkerung in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt deutlich.
23*
356
Jürgen Schulz
Tabelle 1 Vergleich der Bevölkerung Thüringens mit der seiner Nachbarländer 1989 Bevölkerung
Bevölkerungs-
Anteil der unter
Anteil der über
(Mio. Ew.)
Dichte (Ew./km2) 20-jährigen (%)
60-jährigen (%)
Land
1989
1995
1989
1995
1989
1995
1989
1995
Bayern
11,22
11,99
159
170
21,4
21,6
20,5
20,6
Hessen
5,66
6,01
268
285
20,8
20,5
20,9
21,1
Niedersachsen
7,24
7,78
153
164
21,3
21,7
21,4
21,5
Sachsen
4,90
4,57
267
248
24,2
21,8
20,9
22,8
SachsenAnhalt
2,97
2,74
145
134
24,9
22,3
19,0
21,4
Thüringen
2,68
2,50
165
155
25,6
22,9
18,5
20,7
Deutschland
79,07
81,82
222
229
21,8
21,5
20,3
21,0
Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen
Abb. 2 regionalisiert die Ausprägung der Abwanderung von Thüringen in die alten Bundesländer 1989 - 1994 und die Bevölkerungsentwicklung nach Kreisen von 1989 - 1995. Alle Landkreise und kreisfreien Städte weisen gegenüber 1989 sowohl einen kumulativen Bevölkerungsrückgang als auch einen kumulativen Wanderungsverlust in die alten Bundesländer auf, wobei Bevölkerungsrückgang und Abwanderung in die alten Länder räumlich differenziert sind. Besonders hoch sind der kumulative Bevölkerungsrückgang und der kumulative Wanderungsverlust in den kreisfreien Städten Erfurt und Gera sowie in den altindustriell geprägten Landkreisen Altenburger Land, Greiz und SaalfeldRudolstadt. Eine relativ günstige Bevölkerungsentwicklung verzeichnen die Landkreise an der ehemaligen innerdeutschen Grenze (Eichsfeld, Hildburghausen und Sonneberg). Hier gibt es weniger Wanderungsverluste, da insbesondere die Pendelentfernungen zu in den alten Bundesländern gelegenen Arbeitsplätzen vergleichsweise geringer sind und damit Abwanderungen vermieden werden. Auch die Stadt Weimar und der sie umgebende Kreis Weimarer Land weisen eine vergleichsweise geringe Bevölkerungsabnahme auf. Die geringe Bevölkerungsabnahme des Umlandkreises Weimarer Land ist hauptsächlich aufWande-
Bevölkerungsentwicklung und siedlungsstrukturelle Konsequenzen
357
rungsgewinne innerhalb Thüringens zurückzuruhren, die auch aus der attraktiven Lage zu Jena und Erfurt resultieren (Stadt-Umland-Wanderungen). Abbildung 2 Ausprägung der Abwanderung in die alten Bundesländer (1989 bis 1994) nach Kreisen
o 2000 4000 6000 Keine Daten tür 1995
30 km
- - Landesgrenze
- - Kreisgrenzen Kartographie' H Krlllle. H NICht
Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik
Die Städte Weimar und Erfurt beginnen 1994 erstmals Einwohner aus den alten Bundesländern zu gewinnen, was sicher einerseits auf vergleichsweise interessante Tätigkeitsfelder in diesen Städten, andererseits auf die seit 1990 gesunkene Aufnahmefahigkeit des Arbeitsmarktes in den alten Bundesländern zurückzuruhren ist. Abb. 3 veranschaulicht die Entwicklung des Wanderungsgeschehens der kreisfreien Städte Thüringens seit 1990 mit den alten Bundesländern. Die Städte Weimar und Erfurt weisen erstmals rur 1994 einen prozentualen Wanderungsgewinnanteil an der jeweiligen (Vorjahres-)Einwohnerzahl von +0,21% und
Jürgen Schulz
358
+0,04% auf, während die beiden Städte 1990 noch Wanderungsverlustanteile von -2,09% und -2,76% bei der Einwohnerzahl auswiesen. Für Wanderungsgewinne kann teilweise eine gewisse Rückwanderungstendenz früherer Übersiedler in die alten Bundesländer verantwortlich gemacht werden (vgl. Raumordnungsbericht Bonn 1993).
Abbildung 3 Entwicklung des Wanderungsverlustes der kreisfreien Städte Thüringens mit den alten Bundesländern (1990-1994)
0,50 0,00 -0,50 -1,00 -1,50 -2,00 -2,50 -3,00
~ Stadt
Erfurt
-.- Stadt Gera ~StadtJena
-A-Stadt Suhl _Stadt Weimar
-3,50 -4,00 +----+---+---+--~ 1990 1991 1992 1993 1994
In den anderen kreisfreien Städten und den Thüringer Landkreisen normalisierten sich bis 1992 die relativ starken Abwanderungsverlustanteile, verblieben aber bis 1994 knapp unter der Nullgrenze.
Bevölkerungsentwicklung und siedlungsstruktureBe Konsequenzen
359
2.2 Räumliche und siedlungsstrukturelle Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung Von 1989- I 992 war ein landesweiter, relativ hoher Bevölkerungsverlust mit abnehmender Tendenz zu registrieren, der insbesondere von einem hohen Wanderungsveriust und dem rapiden Abfall der Geburtenrate verursacht wurde. Die Verdichtungsräume, die Räume mit Verdichtungstendenzen und die höheren zentralen Orte waren davon besonders betroffen, weniger dagegen die Gemeinden ohne oder mit niedrigem Zentralortstatus. Lediglich in einzelnen ländlichen Gemeinden war ein geringer Bevölkerungszuwachs zu beobachten. Abbildung 4 Bevölkerungsentwicklung in Thüringen 1992 bis 1995 nach Gemeinden IOCCOO und
Einwohner
m~nr
30m
31.12.1991
JOCOO