Die Wirksamkeit systemischer Beratung: Erhöht Erziehungs- und Familienberatung die Bindungssicherheit von verhaltensauffälligen Kindern? [1 ed.] 9783737009836, 9783847109839


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Die Wirksamkeit systemischer Beratung: Erhöht Erziehungs- und Familienberatung die Bindungssicherheit von verhaltensauffälligen Kindern? [1 ed.]
 9783737009836, 9783847109839

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Mathias Berg

Die Wirksamkeit systemischer Beratung Erhöht Erziehungs- und Familienberatung die Bindungssicherheit von verhaltensauffälligen Kindern?

Mit 19 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Studie wurde gefçrdert von der Deutschen Gesellschaft fþr Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. (DGSF) und dem Diçzesan-Caritasverband fþr das Erzbistum Kçln e.V. (DiCV). Angenommen als Dissertation mit dem Titel »Auswirkungen von systemischer Beratung und Therapie in einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle auf die Bindungssicherheit verhaltensauffÐlliger Kinder im Grundschulalter« an der FakultÐt II der UniversitÐt Siegen.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Adobe Stock: atira, Farbspiel (#30859236) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0983-6

Inhalt

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Erziehungs- und Familienberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Adressaten und Beratungsanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Profil, Angebote und Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Systemische Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Bindungstheoretisch fundierte Interventionsmöglichkeiten in der systemischen Beratung und Therapie . . . . . . . . . 2.5 Fachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Evaluations- und Beratungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Zentrale Ergebnisse bisheriger Untersuchungen . . . . . . 2.6.2 Angrenzende Beratungsforschung . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Kerpen . . . . . 3 Bindungstheorie und -forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bindung und Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Das Bindungsverhaltenssystem und korrespondierende Verhaltenssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Phasen der Bindungsentwicklung in der frühen Kindheit 3.1.3 Das Konzept der Internalen Arbeitsmodelle (IAM) . . . . 3.2 Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das Konzept der Feinfühligkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität im Kleinkindalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Organisierte Bindungsklassifikationen . . . . . . . 3.2.2.2 Desorganisierte Bindungsklassifikation . . . . . . 3.2.3 Kontinuität und Diskontinuität von Bindung . . . . . . .

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6

Inhalt

3.3 Bindung im Vorschul- und Grundschulalter . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Bindungsstrategien im Vorschul- und Grundschulalter . . . 3.3.2 Erhebungsmethoden zur Bindung im Vorschul- und Grundschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Das Geschichtenergänzungsverfahren zu Bindung (GEV-B) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Der gegenwärtige Forschungsstand zum GEV-B . . . 3.4 Bindung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Erhebungsverfahren zur Bindung im Erwachsenenalter . . 3.4.2 Bindungsrepräsentationen im Erwachsenenalter . . . . . . 3.5 Bindung und Verhaltensauffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Erscheinungsformen und Genese von Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Bindung als Schutz- und Risikofaktor . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Unsichere Bindung und spezifische kindliche Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Bindung und Erziehungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Elterliches Erziehungsverhalten in der pädagogischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Erziehungsverhalten im Zusammenhang mit Bindung und Verhaltensauffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Bindung und Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Die Bedeutung der Bindungstheorie für die Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Veränderung von Bindungsmerkmalen im Verlauf und nach einer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen . . . . . . . . . 3.9 Fragestellung und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Forschungskontext und -design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Eingesetzte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Anmeldebogen/Soziodemografie . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Intelligenzdiagnostik: Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Bindungsdiagnostik im Grundschul- und Erwachsenenalter 4.4.4 Verhaltensauffälligkeit und Kompetenzen im Kindesalter : Child Behavior Checklist (CBCL/6-18R) . . . . . . . . . . .

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7

Inhalt

4.4.5 Elterliches Erziehungsverhalten: Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionaire für Grundschulkinder (DEAPQ-EL-GS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.6 Evaluationsfragebögen zur Erziehungsberatung (EB-EVA) . . 4.4.7 Übersicht der eingesetzten Verfahren . . . . . . . . . . . . . 4.5 Interventionskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Statistische Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Prozessdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ergebnisse der Bindungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Bindungsrepräsentationen der Kinder (GEV-B) . . . . . . . . 5.3.2 Bindungssicherheitswerte der Kinder (GEV-B) . . . . . . . . 5.3.3 Bindungsrepräsentationen der Mütter (AAP) . . . . . . . . . 5.4 Ergebnisse der Child Behavior Checklist . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Ergebnisse des Elternfragebogens über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL/6–18R) . . . . . . . . . . . 5.4.2 Ergebnisse des Lehrerfragebogens über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R) . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Veränderungen zu den einzelnen Messzeitpunkten im Eltern- und Lehrerfragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Ergebnisse zum Erziehungsverhalten der Mütter (DEAPQ-EL-GS) . 5.5.1 Erziehungsverhalten und mütterliche Bindungsrepräsentationen (AAP) . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Erziehungsverhalten und kindliche Bindungsrepräsentationen (GEV-B) . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Ergebnisse der Evaluationsfragebögen zur Erziehungsberatung (EB-EVA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zu den Auswirkungen von systemischer Beratung und Therapie 6.1.1 Bindungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Verhaltensauffälligkeiten und Kompetenzen . . . . . . . . . 6.1.3 Erziehungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zur Verteilung der Bindungsrepräsentationen und Unterschiede im mütterlichen Erziehungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Evaluation von Erziehungs- und Familienberatung . . . . . . 6.4 Limitationen und Verwertungszusammenhang . . . . . . . . . .

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Inhalt

6.5 Implikationen für die Praxis und Forschung der Erziehungs- und Familienberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Informationsmaterial und Fragebçgen, welche innerhalb der Studie entwickelt und eingesetzt wurden, sind verfegbar unter : http://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/berg_systemische_beratung (unter Downloads) Passwort: aAyIJHDD1k

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Einleitung

In der Grundschulzeit haben viele Familien mit neuen, meist gestiegenen Anforderungen in ihrem alltäglichen Leben zu tun. In Erziehungs- und Familienberatungsstellen1 bildet sich dies in einer bereits seit Jahrzehnten hohen Inanspruchnahme von Beratung in jener Altersspanne ab. Hintergrund für diese Anmeldungen sind häufig Verhaltensweisen von Kindern, die von Lehrern oder Eltern als auffällig beschrieben werden (vgl. Menne, 2017). Es kommt evtl. zu Schwierigkeiten mit anderen Schülerinnen, zu Problemen bei der Einhaltung von Klassenregeln oder mit dem Sozialverhalten in Unterricht und Schule ganz allgemein. Eltern berichten davon, dass ihre Kinder zu Hause nicht auf sie hören würden, es häufig zu heftigem Geschwisterstreit käme, bis dahin, dass ihr Kind übermäßig aggressiv, impulsiv oder auch zurückgezogen und ängstlich wäre, dass er oder sie sich nicht konzentrieren könne und nun die Eltern selbst auch immer häufiger streiten würden, weil man nur schwerlich zurecht käme mit dem (Problem-)Verhalten des Kindes. Wirft man einen Blick auf die Entwicklung eines Kindes in der Grundschulzeit, so kann man von einer bedeutsamen Lebensphase ausgehen, die meist auch die Elternschaft betrifft. Der Übergang von der Kindertagesbetreuung in die Schule wird dabei mancherorts von Erwachsenen mit Floskeln wie »jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt« oder »nun beginnt der Ernst des Lebens« begleitet. Das Neue, das Großwerden, wird in dieser Weise sprachlich speziell markiert. Innerhalb der Primarstufe entwickeln sich Kinder immer mehr zur Selbstständigkeit und sind in der Regel dennoch stark von ihrem Elternhaus abhängig und in ihrer Familie gebunden. Dabei müssen sie veränderte äußere Anforderungen bewältigen, wie einen regelmäßigen und pünktlichen Schulbesuch oder einen festgelegten Vormittagsrhythmus. Grundschulkinder lernen, zunächst mit Hilfe von Erwachsenen, ihre Schulsachen zu organisieren, und 1 Im Weiteren wird abwechselnd von Erziehungsberatung oder von Familienberatung gesprochen. Ebenso von Erziehungsberatungsstelle oder von Familienberatungsstelle. Die Begriffe werden weitgehend synonym verwendet.

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Einleitung

auch nachmittags ist die Schule durch Hausaufgaben für sie deutlich spürbar. Daneben wird auch die Beziehungsebene tangiert. Ein Kind muss seinen Platz in einer neuen sozialen Umgebung finden. Es knüpft neue Kontakte zu gleichaltrigen und zu älteren Kindern, baut Beziehungen zu Lehrerinnen auf, es entwickelt neue und pflegt alte Freundschaften. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Schulkind verändert sich fortwährend. Für das Kind werden die Erwartungen der Eltern jetzt deutlicher spürbar (vgl. Alt, 2007). Es scheint augenfällig zu sein, dass diese vielfältigen Veränderungen auch die Bindungsentwicklung tangieren. So braucht ein Kind im Grundschulalter meist weniger Körperkontakt, um seine Bindungsbedürfnisse zu beruhigen. Zunehmend übernehmen Kinder auch selbst aktiver die Steuerung der Eltern-Kind-Beziehung. Eltern sehen sich in einer anderen Verantwortung als noch in der Kleinkindphase ihres Kindes (Gloger-Tippelt & König, 2016). Dies wird später noch ausführlicher dargelegt (vgl. Kap. 3.3). In der internationalen Bindungsforschung findet diese sensible Zeitspanne immer mehr Beachtung. Konzentrierten sich zahlreiche Forschergruppen in der Anfangszeit »nur« auf die Erforschung der Bindung im Kleinkindalter, stehen seit vielen Jahren Methoden und Konzepte zur Verfügung, die Bindung auch in der mittleren Kindheit zu einer empirisch erfassbaren Größe werden lassen (vgl. Kerns & Richardson, 2005). In zunehmendem Maße wurde Bindung auch in der klinischen Forschung, vor allem bezüglich der Entwicklung von psychischen Auffälligkeiten, aber auch in der Therapie von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen rezipiert. Denn repräsentative Studien wie die vom Robert Koch-Institut durchgeführte Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) weisen Kinder im Grundschulalter mit rund 23 % als größte Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten aus (KiGGS Welle 1; Hölling, Schlack, Petermann, Ravens-Sieberer & Mauz, 2014). Obwohl Bowlby (1988/2014) davon ausging, dass die Bindungssicherheit durch kritische Lebensereignisse wie dramatische Verlusterfahrungen, aber auch durch heilsame Prozesse wie Psychotherapie beeinflusst werden kann, wurde Bindung als Outcome erst recht spät in der klinischen Forschung betrachtet. Bis heute existieren nur wenige Studien, welche die Veränderung von Bindungsmerkmalen nach einer Therapie messen. Zudem weisen die allerwenigsten ein robustes Studiendesign auf, welches einer evidenzbasierten klinischen Forschung genügen würde. Für Kinder im Grundschulalter fehlen Hinweise auf die Wirkung von therapeutischen Interventionen auf deren Bindung fast vollständig. Während in der Psychotherapieforschung bereits Forschungsbemühungen unternommen wurden, sind allgemeine Wirknachweise bzw. Outcome-Studien in der Beratungsforschung, auch jenseits einer Bindungsforschung, Mangelware. Dies gilt auch für das Arbeitsfeld der Erziehungs- und Familienberatung,

Einleitung

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obwohl gerade diese Leistung im Kontext der Jugendhilfe häufiger beforscht wurde (vgl. Macsenaere, Hiller & Fischer, 2010; Vossler, 2012). Auswirkungen von Erziehungsberatung wurden dabei überwiegend in Form von katamnestischen Forschungsdesigns erhoben und haben Bindung als Outcomevariable noch überhaupt nicht rezipiert (vgl. Kap. 2.6). Dabei kann, je nach Betrachtungsweise, die Familienberatung als besonders prädestiniert für die Stärkung von Eltern-Kind-Bindungen angesehen werden. Oder anders ausgedrückt: Erziehungsberatung beschäftigt sich explizit wie implizit mit Bindungsthematiken von Kindern, denn ihre beraterischen wie therapeutischen Leistungen richten ihren Fokus immer darauf, förderliche Bedingungen (wieder) herzustellen, damit das Wohlergehen und die Entwicklung von Kindern gesichert sind. Auch in der Forschung zur systemischen Therapie, die mittlerweile auf einer breiten Datenlage fußt, stellen Studien, die Auswirkungen auf die Bindungssicherheit von Kindern messen, ein Desiderat dar. Systemische Therapie und Beratung gehören in der Kinder- und Jugendhilfe allgemein und besonders in der Erziehungsberatung zu den beliebtesten Interventionsmethoden (vgl. Ritscher, 2008; Zander & Knorr, 2003). Auch mutmaßlich deshalb, weil systemische Familienberatung weniger auf ein eingeengtes, präsentiertes Problem abzielt, sondern vielmehr auf das »Dazwischen«, auf die familiären Beziehungsstrukturen, die aufrechterhaltenden Bedingungen eines Problems sowie auf die Zeiten, in denen das Problemverhalten nicht auftaucht, bzw. auf die Stärken und Potentiale des Kindes und seiner Familie. Systemische Therapie und Beratung berücksichtigen insofern verschiedene Beschreibungen eines Problems oder Beratungsanliegens. Denn in der Praxis wird von den betroffenen Kindern selbst ihr eigenes Verhalten nur in den seltensten Fällen als auffällig oder gar als das eigentliche, beratungs- bzw. therapiebedürftige Problem angesehen. Anliegen von Kindern sind meist komplexer, weisen auf neue Bedeutungszusammenhänge und Beziehungshintergründe hin, während manche Eltern in der Erziehungsberatung zunächst und hauptsächlich an einer Symptomreduzierung interessiert sind. Dies ist vom Standpunkt der empirischen Wirksamkeitsforschung ein interessanter Aspekt: Systemische Beratungs- und Therapiekonzepte tun sich aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Positionen und damit zusammenhängend den Schlussfolgerungen aus verschiedenen Systemtheorien wie der Synergetik (Haken & Schiepek, 2010) schwer damit, Forschungen, die auf linearkausale Modellvorstellungen zurückgreifen, in ihren Aussagen als gültig zu erachten (vgl. auch Ochs & Schweitzer, 2012). Dies teilen systemische Perspektiven mit entwicklungspsychopathologischen Konzeptionen, die unter anderem davon ausgehen, dass völlig verschiedene Entwicklungspfade bei jungen Menschen zum gleichen Ergebnis führen können (Äquifinalität), z. B. in externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten münden. Gleichzeitig können sehr

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Einleitung

ähnliche Entwicklungswege, die Kinder und Jugendliche durchlaufen, später auf unterschiedliche Entwicklungsergebnisse hinauslaufen (Multifinalität) (Sroufe, 1997). Dessen zum Trotz sind auch systemische Beratung und Therapie darauf angewiesen, die Auswirkungen ihrer Interventionen detaillierter zu bestimmen und Veränderungen ihrer Klientinnen und Patienten messbar wahrzunehmen (vgl. Schiepek, 2012). Die vorliegende Arbeit greift die ausgelegten Themenstränge auf und möchte hinsichtlich der Untersuchung der Auswirkungen von systemischer Familienberatung auf die Bindungssicherheit von Kindern im Grundschulalter dazu beitragen, eine Forschungslücke zu schließen. Ob sich systemische Beratung und systemische Therapie, die sich in der Praxis einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle methodisch und konzeptionell kaum voneinander trennen lassen (vgl. Kap. 2.4.1), dabei überhaupt auf die Bindungsrepräsentation von Kindern auswirken, ist noch nicht belegt. Um somit potentielle weitere Variablen in den Blick zu nehmen, untersucht die Studie darüber hinaus Unterschiede in der Verhaltensauffälligkeit und in den Kompetenzen der Kinder sowie im Erziehungsverhalten der Mutter vor und nach der Familienberatung. Erziehungsverhalten, obwohl es einen wesentlichen Teil der elterlichen Aufgaben beschreibt, wurde bislang ebenso wenig wie Bindung systematisch in der Erziehungsberatung untersucht. Die Erziehungsdimension im Rahmen dieser Studie bildet damit einen weiteren wichtigen Einflussfaktor auf die kindliche Entwicklung im Grundschulalter ab, der zwar bis zu einem gewissen Grad mit Bindungssicherheit zusammenhängt, letztlich aber eine eigenständige Variable des Elternverhaltens darstellt. Zuletzt strebt die Untersuchung an, mit einem Evaluationsfragebogen von Müttern wie Kindern generelle Einschätzungen zum Ausmaß des Problems, zur familiären Kommunikation, zum Familienklima und zur Zufriedenheit mit der Beratung zu bekommen. Die einbezogenen Aspekte rekurrieren dabei auch auf die Erwartungen an eine mehrperspektivische Interventionsforschung, wie sie im Feld der Erziehungsberatung dringend notwendig erscheint. Die Erfassung von Auffälligkeiten und Kompetenzen folgt der klinischen Forschung und erlaubt damit bis zu einem gewissen Punkt, Ergebnisse von Interventionen in der psychosozialen Beratung mit denen der Psychotherapie zu vergleichen. Gleichermaßen berücksichtigt die Studie über die Bindungsdimension Veränderungen in der psychischen Sicherheit der Kinder, die wiederum mit elterlichen Fürsorgeverhaltensweisen in Verbindung stehen. Erziehungsverhalten als Outcomevariable weist darüber hinaus auf eine mögliche Veränderung beim Elternteil hin, die sich wiederum auf die Verhaltensauffälligkeit des Kindes auswirken kann und umgekehrt. Um diese empirischen Absichten theoretisch zu plausibilisieren und fachlich einzubetten, beginnt die Arbeit notwendigerweise mit einer Definition des Ar-

Einleitung

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beitskontextes der Erziehungs- und Familienberatung (Kap. 2). In diesem Kapitel finden sich darüber hinaus Ausführungen zur systemischen Beratung und Therapie als spezifische Variante der Ausgestaltung des Angebots der Familienberatung wieder. Die Auseinandersetzung mit der bindungstheoretischen Literatur und den anfänglichen Postulaten der Entwickler der Theorie beginnt in Kapitel 3. Neben den grundlegenden Erkenntnissen aus der Bindungsforschung, auf denen alle weiteren Untersuchungen aufbauen, werden hier besonders der aktuelle Wissensstand zur Bindungsentwicklung im Vorschul- und Grundschulalter sowie zur Bindung im Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten, elterlichem Erziehungsverhalten und Psychotherapieforschung referiert. Die Fragestellungen und Hypothesen bilden den Abschluss der theoretischen Abhandlung und leiten zur empirischen Untersuchung (Kap. 4) über, deren Ergebnisse in Kapitel 5 ausführlich dargelegt werden. Eine explorativ und praxisnah angelegte Forschungsarbeit wie diese ist auch Ausdruck dessen, wie präsent die interdisziplinäre Bindungsforschung bereits in einem multiprofessionellen Praxisfeld wie der Erziehungs- und Familienberatung ist. Da diese Arbeit in und aus der Praxis der Beratung entstanden ist, verfolgt sie stets das Ansinnen, rückbezüglich für diese Praxis neue Erkenntnisse zu produzieren. Das letzte Kapitel diskutiert somit die empirischen Befunde, benennt die Begrenzungen der Studie und endet mit Schlussfolgerungen und Implikationen für die Beratungspraxis. Meinen Dank möchte ich insbesondere den Familien, Eltern, vor allem Müttern und Kindern aussprechen, die an der vorliegenden Studie teilgenommen haben. Ohne ihre Offenheit und Mitwirkung, wäre ein Forschungsprojekt wie dieses niemals möglich gewesen. Weiterhin bedanke ich mich herzlich bei den vielen Menschen, die diese Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt haben und zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Namentlich möchte ich hier nur Dipl.Psych. Edith Thelen als ehemalige Leiterin der Beratungsstelle in Kerpen sowie meinen Doktorvater Prof. Dr. Rüdiger Kißgen erwähnen. Bei meiner eigenen Familie bedanke ich mich vor allem für ihre Geduld und das Vertrauen, über den ganzen Promotionszeitraum hinweg. Nicht zuletzt danke ich der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) sowie dem Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (DiCV) für die finanzielle Förderung der vorliegenden Studie. Ein Hinweis zur gendergerechten Sprache: In dieser Arbeit werden weibliche und männliche Geschlechtsformen abwechselnd und in wahlloser Abfolge gebraucht. So wird z. B. an einer Stelle von Beraterinnen, an anderer Stelle von Beratern gesprochen. Eine Wertung ist damit jeweils nicht verbunden. Gemeint sind immer sämtliche Geschlechter. Sollte, aus welchen Gründen auch immer, ein bestimmtes Geschlecht gemeint sein, wird an geeigneter Stelle speziell darauf hingewiesen.

2

Erziehungs- und Familienberatung

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen in Deutschland mehr als 1000 Erziehungs- und Familienberatungsstellen (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung [BKE], 2012). Erziehungsberatung in ihrer institutionalisierten Form blickt dabei auf eine über 100-jährige Geschichte zurück, von ärztlich-psychoanalytischen Gründungsjahren bis zur ihrer heutigen Ausgestaltung im Kanon der Hilfen zur Erziehung im Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII). Vergleicht man Erziehungs- und Familienberatung mit anderen erzieherischen Hilfen, so fällt schnell ins Auge, dass sie in einigen Punkten Besonderheiten aufweist. So befindet sich Erziehungsberatung, mehr als jede andere Jugendhilfeleistung, im Spannungsfeld von sozialpädagogischer Hilfe und psychotherapeutischer Behandlung (Menne, 2015). Ihre Multidisziplinarität ist gesetzlich verankert, sie wird beständig, meist jedoch abseits der anderen Hilfen, in fachwissenschaftlichen Diskursen rezipiert und immer wieder empirisch beforscht (vgl. Hörmann & Körner, 2008; Menne, 2017; Rietmann & Sawatzki, 2018a). Dieses Kapitel soll zum einen den Rahmen aufspannen, in dem sich Erziehungsberatung in Deutschland bewegt, zum anderen detailliert auf Methoden und Handeln der Fachkräfte schauen und einen Blick über die Grenzen der engeren Erziehungsberatung hinaus auf das Feld der Beratungsforschung werfen. In dieser Weise werden in den ersten drei Abschnitten die historische Entwicklung (Kap. 2.1), die derzeitigen rechtlichen Grundlagen (Kap. 2.2) und die Adressaten und Beratungsanlässe (Kap. 2.3) referiert. In Kapitel 2.4 werden dann die Angebote und Leistungen der Erziehungsberatung genauer betrachtet. Neben einer allgemeintypischen Beschreibung werden hier insbesondere systemische und bindungsorientierte Ansätze in Therapie und Beratung berücksichtigt. Im darauffolgenden Kapitel 2.5 werden die Fachkräfte näher beleuchtet, bevor in Kapitel 2.6 die Ergebnisse bisheriger Evaluationen in der Erziehungsund Familienberatung sowie die Beratungsforschung dargestellt werden. Im letzten Teilabschnitt (Kap. 2.7) wird ein Blick auf die Kennzahlen und Spezifika der Familienberatungsstelle im nordrhein-westfälischen Kerpen geworfen, in welcher die später detailliert geschilderte Untersuchung durchgeführt wurde.

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2.1

Erziehungs- und Familienberatung

Historische Entwicklung

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, so ist die derzeitige Erziehungs- und Familienberatung in ihren Grundzügen noch deutlich mit ihrer langjährigen Geschichte verwoben. Die ersten Institutionen, die als Vorläufer der heutigen Erziehungs- und Familienberatungsstellen gelten können, wurden sowohl von Medizinern als auch von der Jugendfürsorge initiiert (vgl. Menne, 2017; Presting, 1991). Im Jahr 1903 wurde in Hamburg eine »heilpädagogische Beratungsstelle«, 1906 in Berlin eine »Medico-pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztliche Behandlung« und 1916 in Frankfurt eine »Jugendsichtungsstelle« eröffnet. Infolge des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes von 1922, welches die »Beratung in Angelegenheiten der Jugendlichen« vorsah, folgten weitere Beratungsstellen im Zuge der Einrichtung von Jugendämtern in größeren deutschen Städten (Presting, 1991). Über die Funktion und Konzeption dieser ersten Erziehungsberatungsstellen ist wenig bekannt. Anzunehmen ist jedoch, dass sie insbesondere durch die damals vorherrschende Psychoanalyse und die damit veränderten Konzepte von Kindheit und Jugend geprägt waren (Hundsalz, 2003). Beispielhaft wurden im Wien der späten 1920er Jahre unter Beteiligung von Alfred Adler und August Aichhorn in allen 22 Stadtbezirken Wiens »Erziehungsberatungsstellen« eingerichtet, von denen sich auch der heute noch gebräuchliche Name für die Institution herleitet. Bereits 1928 sollen 42 Erziehungsberatungsstellen in Deutschland bestanden haben. Diese existierten auch nach 1933 noch weiter, wurden jedoch zunehmend für die Zwecke des Nationalsozialismus instrumentalisiert (Kadauke-List, 1989). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erziehungs- und Familienberatung in Deutschland dank US-amerikanischer Stiftungsmittel wieder aufgebaut. Interessanterweise hatte es in den USA, parallel zur Etablierung erster Beratungsstellen in Deutschland, die Entwicklung ähnlicher Einrichtungen gegeben. So wird im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts von der Gründung einer »heilpädagogischen Beratungsstelle zur Unterstützung von Jugendgerichten« in Chicago gesprochen (Stutte, 1963). Dieser Einrichtungstyp, der seit 1934 allgemein als Child Guidance Clinic bezeichnet wurde, wies sich durch einen hohen Grad an Professionalisierung und ein multidisziplinäres Team aus Psychiatern, Psychologen und psychiatrisch ausgebildeten Fürsorgern aus, die auf Grundlage psychoanalytischer Theorien sozialtherapeutisch arbeiteten (Persting, 1991). In West-Deutschland wurde durch eine Novellierung des Jugendwohlfahrtgesetzes zwischen 1953 und 1961 »Beratung in Fragen zur Erziehung« zur Aufgabe der Jugendämter und verpflichtete diese zur Einrichtung entsprechender Beratungsstellen. Neue Erziehungsberatungsstellen mit multidisziplinären Teams wurden nach dem Vorbild der US-amerikanischen Child Guidance Clinics vor allem in Großstädten eingerichtet und zwischen den 1950er

Historische Entwicklung

17

Jahren (96 Beratungsstellen) und 1980er Jahren (800 Beratungsstellen) massiv ausgebaut (ebd.). Die 1973 von den Senatoren und Ministern der westdeutschen Bundesländer erlassenen »Grundsätze für die einheitliche Gestaltung der Richtlinien der Länder für die Förderung von Erziehungsberatungsstellen« enthielten bereits detaillierte Angaben über personelle Ausstattung, Lage, Arbeitsweise und Finanzierung von institutioneller Erziehungs- und Familienberatung, die auch heute in Teilen noch Gültigkeit besitzen (vgl. Spittler & Specht, 1984). Wurde in den Wiederaufbaujahren das Fachteam vor allem aus den Professionen Arzt, Psychologe und Fürsorger gebildet, so wurde 1973 konkretisiert, dass das Team der Erziehungsberatung aus mindestens drei hauptamtlichen Fachkräften mit den Qualifikationen »Diplompsychologe, ggf. mit therapeutischer Zusatzausbildung, […] Arzt mit Facharztanerkennung für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder mit therapeutischer Zusatzausbildung, […] staatlich anerkannter Sozialarbeiter, möglichst mit heilpädagogischer oder gleichwertiger Zusatzausbildung, […] Psychagoge2 oder staatlich anerkannter Sozialpädagoge, möglichst mit heilpädagogischer oder gleichwertiger Zusatzausbildung, […] oder Heilpädagoge« (Die für die Jugendhilfe zuständigen Senatoren und Minister der Länder zitiert nach BKE, 2009a, S. 410) bestehen sollte. Eine vergleichbare Entwicklung gab es in der damaligen DDR nicht. Beratungsstellen mit ähnlichem Auftrag gab es dort vereinzelt an Polikliniken oder in kirchlicher Trägerschaft, so dass Erziehungsberatungsstellen nach dem westlichen Muster erst nach dem deutsch-deutschen Zusammenschluss mit Verabschiedung des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) ab 1990 geschaffen wurden (vgl. Hundsalz, 1995). Angesichts dessen konstatiert Menne (2017), dass Erziehungsberatung in Deutschland sich, aus historischer Perspektive betrachtet, aus zwei Quellen speist: »…aus der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen und aus den Erfahrungen der Psychotherapie und Psychiatrie« (S. 7). Jugendhilfe und Psychotherapie können insofern auch ein Jahrhundert später noch als Eckpfeiler der Erziehungs- und Familienberatung verstanden werden, wobei diese mit Einführung des KJHG ausdrücklich als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe benannt wurde. Dieser aktuelle rechtliche Rahmen, an dem Beratungsstellen ihre Angebotsstruktur ausrichten, soll im Folgenden skizziert werden.

2 Heute: analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut.

18

Erziehungs- und Familienberatung

2.2

Rechtliche Grundlagen

Erziehungsberatung ist im vierten Abschnitt des SGB VIII im Zusammenhang mit anderen Hilfeformen als Hilfe zur Erziehung zu finden. Dort heißt es: »Erziehungsberatungsstellen und andere Beratungsdienste und -einrichtungen sollen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen. Dabei sollen Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind« (§ 28 SGB VIII).

Aus diesem Wortlaut leitet die Erziehungsberatung ihr fachliches Selbstverständnis zur Diagnostik und Behandlung von Problemen von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern ab. Geht es doch im Weiteren nicht ausschließlich um die Klärung, sondern ausdrücklich um die Bewältigung von Problemen und der zugrunde liegenden Faktoren. Damit sind psychosoziale, beraterisch-therapeutische Maßnahmen bereits angeklungen. Aufgrund dessen ist im nächsten Satz des Gesetzestextes die multidisziplinäre Ausrichtung des Fachteams der Erziehungsberatung explizit benannt und auch, dass über den Grundberuf hinaus weitere Kompetenzen erworben werden müssen. Wie Menne (2017) festhält, macht die Formulierung »methodische Ansätze« dabei deutlich, dass nicht allein (psycho-)therapeutische Arbeitsweisen gemeint sind, sondern ebenso pädagogische und gemeinwesensbezogene (vgl. Wiesner, 1995). Mit der ausdrücklichen Benennung der Erziehungsberatung im KJHG geht auch ein Rechtsanspruch auf Beratung (§ 1 SGB VIII) sowie ein Vertrauensschutz der Adressaten einher (§ 65 SGB VIII). Die §§ 17 [Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung] und 18 SGB VIII [Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts] gelten dabei ebenso wie § 28 SGB VIII als Rechtsgrundlage für die Einzelfallberatung von Eltern(-teilen) in der Erziehungsberatung. Weiterhin ist für die Erziehungsberatung der einleitende § 27 SGB VIII [Hilfe zur Erziehung] nicht nur angesichts des Anspruchs auf Hilfe relevant, macht dieser Paragraph indessen auch Angaben zur professionellen Ausgestaltung der Hilfe. So heißt es dort im dritten Absatz: »Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen« (§ 27 Abs. 3 S. 1 SGB VIII). Neben dem zuvor Dargestellten, legitimiert dieser Satz in besonderem Maße den Einsatz (psycho-) therapeutischer Methoden in der Erziehungs- und Familienberatung sowie in den weiteren erzieherischen Hilfen (§§ 29 bis 35 SGB VIII). Obwohl in der Erziehungsberatung auch approbierte psychotherapeutische Fachkräfte beschäftigt sind, können therapeu-

Rechtliche Grundlagen

19

tische Leistungen in diesem Arbeitsbereich zumindest gesetzlich klar von einer heilkundlichen psychotherapeutischen Behandlung im Rahmen des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) abgegrenzt werden. Dazu schreibt der Gesetzgeber : »Zur Ausübung von Psychotherapie gehören nicht psychologische Tätigkeiten, die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben« (§ 1 Abs. 3 S. 2 PsychThG). Inhaltlich konkretisiert wird die Anwendung psychotherapeutischer Methoden in Erziehungs- und Familienberatungsstellen durch eine gemeinsame Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, in der es heißt: »Nicht jede Verwendung einer psychotherapeutischen Intervention erfolgt mit dem Ziel der Krankenbehandlung. Vielmehr kann das Instrumentarium psychotherapeutischer Interventionen […] auch zu anderen Zwecken eingesetzt werden. [….] Erziehungsberatung orientiert ihre Praxis – dem Auftrag der Jugendhilfe gemäß – am Wohl des Kindes und der Erziehungsfähigkeit der Eltern« (BKE & BPtK, 2008, S. 4).

Weitere rechtliche Grundlagen sind im Zusammenhang mit dem Kindeswohl zu nennen. So ergibt sich aus § 8a SGB VIII für die Erziehungsberatung wie für die gesamte Jugendhilfe ein Schutzauftrag bei drohender Kindeswohlgefährdung, der in hohem Maße von den Fachkräften wahrgenommen wird (BKE, 2012, S. 42). Neben diesen pädagogischen und therapeutischen Leistungen zählen zum weiteren Aufgabenbereich von Beratungsstellen auch einzelfallübergreifende Tätigkeiten wie präventive Angebote und Vernetzungsaktivitäten (§ 16 SGB VIII) sowie spezielle diagnostische Einschätzungen auf der Grundlage von § 35a SGB VIII. Tabelle 1 listet die wichtigsten Gesetze im Hinblick auf die Erziehungs- und Familienberatung nochmals übersichtlich auf. Neben dieser bundeseinheitlichen Gesetzgebung gibt es in einigen Bundesländern gesonderte Förderrichtlinien und Anordnungen, die Einfluss auf die Gestaltung von Erziehungs- und Familienberatung nehmen. In NordrheinWestfalen gibt es in diesem Sinne die »Richtlinien über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Familienberatungsstellen« und die »Regeln des fachlichen Könnens für die Arbeit der Familienberatungsstellen in NRW« (Runderlass des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport vom 17. 02. 2014), die für die Erziehungs- und Familienberatungsstellen verbindlich sind.

20

Erziehungs- und Familienberatung

Tabelle 1: Gesetzesgrundlagen der Erziehungs- und Familienberatung Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe §§ 1 – 10 SGB VIII Erstes Kapitel – Allgemeine Vorschriften insbesondere § 1 SGB VIII Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe § 2 SGB VIII Aufgaben der Jugendhilfe § 8 SGB VIII Beteiligung von Kindern und Jugendlichen § 8a SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung § 8b SGB VIII Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen § 16 SGB VIII Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie § 17 SGB VIII Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung § 18 SGB VIII Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts § 27 SGB VIII Hilfe zur Erziehung § 28 SGB VIII Erziehungsberatung § 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche § 36 SGB VIII Mitwirkung, Hilfeplan § 36a SGB VIII Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung § 41 SGB VIII Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung § 65 SGB VIII Besonderer Vertrauensschutz in der persönlichen und erzieherischen Hilfe § 80 SGB VIII Jugendhilfeplanung Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz § 1 KKG Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung § 2 KKG Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung § 3 KKG Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz § 4 KKG Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit § 156 FamFG Hinwirken auf Einvernehmen Strafgesetzbuch § 203 StGB Verletzung von Privatgeheimnissen

Die Orientierungslinien, was Erziehungs- und Familienberatungsstellen tun sollen, wozu sie beauftragt sind, scheinen demnach formal-juristisch ausreichend geregelt zu sein. Konkreter wird die Ausgestaltung der Arbeit in der Erziehungsberatung jedoch von den Adressatinnen und deren Problemanliegen

Adressaten und Beratungsanlässe

21

definiert. Im nächsten Abschnitt soll daher ein Schlaglicht auf Klientel und Anlässe für die Beratung geworfen werden.

2.3

Adressaten und Beratungsanlässe

Eine Erziehungsberatungsstelle steht zunächst jeder ratsuchenden Person offen. Ihre Inanspruchnahme verlangt nicht nach einem vorherigen Einbezug des Jungendamtes, wie dies bei anderen Hilfen zur Erziehung (§§ 29 bis 35 SGB VIII) der Fall ist. Obwohl laut § 27 SGB VIII lediglich Personensorgeberechtigte einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung haben, besteht für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige bis maximal 27 Jahre ebenso die Möglichkeit, sich Hilfe suchend an eine Familienberatungsstelle zu wenden. Das Angebot der Erziehungs- und Familienberatungsstellen richtet sich insofern hauptsächlich an alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie deren Bezugspersonen wie leibliche Eltern, Stiefeltern, Adoptiv- und Pflegeeltern (Körner & Hensen, 2008). Ebenso zählen pädagogische Fachkräfte wie Erzieherinnen, Lehrerinnen oder Jugendgruppenleiter zu den Adressaten. Weitere wichtige Personen, die ebenfalls mit der Erziehung eines Kindes in Verbindung stehen können, wie Geschwister, Großeltern, Paten oder Freunde des jungen Menschen (Peers) können sich ebenso an Beratungsstellen wenden. Die Leistungen der Erziehungs- und Familienberatung nehmen dabei immer das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) zum Ausgangspunkt. Obwohl das Schwergewicht der Tätigkeiten in Beratungsstellen auf der direkten Arbeit mit den Klientinnen liegt, können auch Schulen und Familienzentren bzw. Kindertageseinrichtungen, Familienbildungsstätten und andere Kinder- und Jugendeinrichtungen im Zuge von präventiven Tätigkeiten (§ 16 SGB VIII) zu Adressaten von Erziehungsberatungsstellen werden. Da in weiten Teilen Deutschlands in Kommunen je 50.000 Einwohner eine Beratungsstelle eingerichtet wurde, kann Erziehungsberatung heute weitgehend kommunal bzw. lokal oder regional arbeiten (Menne, 2017). Ein Blick auf die jährlichen statistischen Erhebungen im Feld zeigt, dass die Altersgruppe der 6 bis unter 12 Jahre alten Kinder deutlich mehr als ein Drittel der Adressaten in der Erziehungs- und Familienberatung ausmachen (vgl. Tab. 2). Jungen sind in diesem Altersspektrum überrepräsentiert. Dies geht konform mit den Zahlen der Vorjahre (vgl. Menne, 2014). Junge Menschen werden hierbei als Hilfeempfänger bezeichnet, unabhängig davon, ob mit ihnen direkt oder nur mit ihren Bezugspersonen (i. d. R. die Eltern) gearbeitet wurde.

22

Erziehungs- und Familienberatung

Tabelle 2: Alter der Hilfeempfänger in der Erziehungsberatung im Jahr 2015 – absolut und nach Geschlecht m

relativ (%)

w

relativ (%)

Unter drei Jahre

Altersbereich

absolut relativ (%) 29.235

9.6

15.697

9.6

13.538

9.5

3 bis unter 6 Jahre 6 bis unter 9 Jahre 9 bis unter 12 Jahre 12 bis unter 15 Jahre

53.525 61.900 54.663 48.150

17.5 20.2 17.9 15.7

30.206 35.755 31.081 23.837

18.5 21.9 19.1 14.6

23.319 26.145 23.582 24.313

16.3 18.3 16.5 17.0

15 bis unter 18 Jahre 18 bis unter 21 Jahre

39.241 13.812

12.8 4.5

17.656 6.436

10.8 4.0

21.585 7.376

15.1 5.2

21 bis unter 27 Jahre 5.396 1.8 2.475 1.5 Insgesamt 305.922 100 163.143 100 Eigene Darstellung (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017)

2.921 142.779

2.1 100

Im Jahr 2015 wurden 305.922 Beratungen neu begonnen, wovon rund 55 % vorrangig mit den Eltern, 33 % vorrangig mit Eltern und Kind (Familie) und nur 12 % vorrangig mit dem jungen Menschen alleine durchgeführt wurden (Statistisches Bundesamt, 2017). Abhängig vom Alter des Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen veränderten sich diese Relationen entsprechend. Wurden im frühen Grundschulalter noch mehr als 60 % der Beratungsgespräche nur mit den Eltern bzw. einem Elternteil durchgeführt, waren es im späten Grundschulalter noch knapp 50 % (ebd.). Mit ansteigendem Lebensalter, so legen die Statistiken nahe, werden junge Menschen kontinuierlich mehr in die Beratung miteinbezogen. Im Jahr 2015 lebten rund 43 % der beratenen Eltern zusammen, 38 % lebten alleine ohne Partner und 16 % lebten in einer neuen Partnerschaft. Entsprechend dieser Zahlen wurde Erziehungs- und Familienberatung häufig in Angelegenheiten von Trennung und Scheidung der Eltern in Anspruch genommen (vgl. Tab. 3). In der amtlichen Bundesstatistik werden dabei einzelne Beratungsanlässe nicht differenziert, sondern in Gruppen ausgewiesen, so dass Trennung und Scheidung in der Gruppe »Belastungen des jungen Menschen durch familiäre Konflikte« subsummiert wurde. Dementsprechend verteilten sich Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in mehrere Gruppen und sind vor allem bei »Entwicklungsauffälligkeiten«, »Auffälligkeiten im sozialen Verhalten« sowie in der Angabe »Schulische/berufliche Probleme des jungen Menschen« zu finden. Zusammengenommen machten die drei oben genannten Gruppen 196.872 (64 %) der Beratungsanlässe im Jahr 2015 aus. Wie auch in der Gesamtstatistik waren für diese Kategorien die Anmeldungen mit Kindern im Grundschulalter im Jahr 2015 am zahlreichsten (ebd.).

23

Adressaten und Beratungsanlässe

Tabelle 3: Anlässe und Gründe zur Inanspruchnahme von Erziehungsberatung im Jahr 2015 Gründe für die Beratung (Mehrfachnennungen möglich)

absolut

relativ (%)

Belastungen des jungen Menschen durch familiäre Konflikte (z. B. Partnerkonflikte, Trennung und Scheidung, Umgangs-/ Sorgerechtsstreitigkeiten etc.)

149.293

48.8

Entwicklungsauffälligkeiten/ seelische Probleme des jungen Menschen (z. B. Entwicklungsrückstand, Ängste, Zwänge, selbst verletzendes Verhalten, suizidale Tendenzen etc.) Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern/ Personensorgeberechtigten (z. B. Erziehungsunsicherheit, pädagogische Überforderung, unangemessene Verwöhnung etc.)

85.460

27.9

66.529

21.8

Belastungen des jungen Menschen durch Problemlagen der Eltern (z. B. psychische Erkrankung, Suchtverhalten, geistige oder seelische Behinderung etc.) Auffälligkeiten im sozialen Verhalten des jungen Menschen (z. B. Gehemmtheit, Isolation, Geschwisterrivalität, Weglaufen, Aggressivität, Drogen-/ Alkoholkonsum, Delinquenz etc.)

58.576

19.2

57.087

18.7

Schulische/ berufliche Probleme des jungen Menschen (z. B. Schwierigkeiten mit Leistungsanforderungen, Konzentrationsprobleme (ADHS), schulvermeidendes Verhalten etc.) Gefährdung des Kindeswohls (z. B. Vernachlässigung, körperliche, psychische, sexuelle Gewalt in der Familie etc.)

54.325

17.8

12.210

4.0

Unzureichende Förderung/ Betreuung/ Versorgung 5.942 des jungen Menschen in der Familie (z. B. soziale, gesundheitliche, wirtschaftliche Probleme etc.) Unversorgtheit des jungen Menschen 2.465 (z. B. Ausfall der Bezugspersonen wegen Krankheit, stationärer Unterbringung, Inhaftierung, Tod; unbegleitet eingereiste Minderjährige) Eigene Darstellung (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017)

1.9

0.8

Für die Beantwortung der Beratungsanliegen und Hilfebedarfe, die sich hinter diesen Anlässen verbergen, halten Erziehungs- und Familienberatungsstellen eine breite Angebotspalette bereit, die im folgenden Kapitel aufgefächert werden soll.

24

2.4

Erziehungs- und Familienberatung

Profil, Angebote und Leistungen

Erziehungs- und Familienberatung gestaltet ihr Angebot stets entlang der weiter oben beschriebenen Richtlinien und Gesetzte sowie an den Bedarfen ihrer Adressatinnen. Dabei sieht sie sich immer in Abhängigkeit von regionalen Gegebenheiten wie der vorherrschenden Sozialstruktur, lokalen Problemdefinitionen, Festlegungen in der Jugendhilfeplanung, Arbeitsteilung zwischen verschiedenen psychosozialen Einrichtungen und den vorhandenen Ressourcen (Vossler & Seckinger, 2018, S. 172). Diese Rahmenbedingungen und trägerspezifischen Schwerpunkte definieren letztlich das inhaltliche Profil der jeweiligen Beratungsstelle mit ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern und Leistungen. Obwohl das Aufgabenspektrum örtlich variiert, gelten allgemein Beratung, Therapie, Information und Prävention als traditionelle und zentrale Angebotsbereiche der Erziehungsberatung (Specht, 1993). Zudem beruhen die Leistungen von Erziehungsberatungsstellen auf den Prinzipien der Niederschwelligkeit, Freiwilligkeit, Gebührenfreiheit, Wahlfreiheit, des Vertrauensschutzes und der fachlichen Unabhängigkeit (Menne, 2017, S. 20ff.). Erste Unterscheidungsmerkmale von Erziehungsberatungsstellen sind gelegentlich an der institutionellen Namensgebung zu erahnen. So wird im Feld von »Erziehungsberatungsstellen«, »Familienberatungsstellen«, einer Kombination von beiden Bezeichnungen oder von »(Psychologischen) Beratungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche« gesprochen. Seltener finden sich Bezeichnungen wie »Jugend- oder Elternberatungsdienst«. Vor allem in konfessioneller Trägerschaft (z. B. katholische oder evangelische Kirche bzw. Wohlfahrtsverbände) wird Erziehungs- und Familienberatung andernorts mit ähnlichen Beratungsdiensten wie der Ehe-, Familien- und Lebensberatung zu einer integrierten Beratungsstelle zusammengelegt, was ebenso bei Schwangeren(konflikt)beratung und Frühen Hilfen der Fall sein kann. Im Folgenden wird, wie auch bereits zuvor, vom Aufgabenbereich einer klassischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle ausgegangen, die hauptsächlich nach § 28 SGB VIII arbeitet. Das Leistungsspektrum einer solchen Beratungsstelle lässt sich in drei zentrale Bereiche differenzieren (Hundsalz, 2007, S. 981): 1. einen beraterisch-therapeutischen, 2. einen präventiv-informierenden sowie 3. einen vernetzend-kooperativen Aufgabenbereich. Beraterisch-therapeutischer Aufgabenbereich Beratung und Therapie können als Kernbereiche einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle beschrieben werden. Hundsalz (2007) geht davon aus, dass durchschnittlich 75 % der gesamten Arbeitskapazität in der Erziehungsberatung für diese Bereiche zur Verfügung stehen. Dazu gehören alle Angebote

Profil, Angebote und Leistungen

25

der Einzelfallarbeit mit den zuvor genannten Adressatinnen, insbesondere bei Erziehungsfragen und Erziehungsschwierigkeiten, seelischen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsproblemen, körperlichen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen, familialen Krisen sowie Trennung und Scheidung (Menne, 2017, S. 60ff.). Auch Gruppenprogramme (z. B. Verhaltenstrainings für Kinder und Jugendliche) können in diesen Bereich fallen. Körner und Hensen (2008) unterteilen diesen Sektor nochmals in drei inhaltliche Schwerpunktbereiche: (1) Diagnostik, (2) Beratung und (3) Psychotherapie. Zum ersten Punkt zählen sie Intelligenz- und Leistungstests, Testungen bei Lese- und Rechtschreibschwäche und Dyskalkulie sowie grundsätzlich Anamnese, Exploration und Verhaltensbeobachtung (ebd., S. 11). Scheuerer-Englisch et al. (2008) geben einen bespielhaften Überblick zur Nutzung psychologischer Testdiagnostik in der Erziehungsberatung. Der Bereich Beratung umfasst verschiedenste Möglichkeiten der beraterischen Unterstützung. Körner und Hensen (2008) nennen unter anderem das Aufzeigen erzieherischer Möglichkeiten, die Mediation bei familialen oder partnerschaftlichen Konflikten oder die Vermittlung anderer Hilfsangebote (ebd., S. 11). In Anlehnung an Vossler (2003) und Hundsalz (2007) ist Beratung im Feld der Erziehungs- und Familienberatung grundsätzlich gekennzeichnet durch: – Personenbezogenheit: Gemeint ist die persönliche Beziehung zwischen Ratsuchendem und Berater, die zu Einsichten und Verhaltensänderungen führt. Der Klient selbst wird dabei zum Gegenstand der Beratung. – Offenheit bzgl. der Adressaten: Erziehungsberatung bietet Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen, ohne dass dazu eine Krankheitsdefinition wie bei einer Psychotherapie notwendig wäre. – Familieneinbezug: Da sämtliche Anlässe, eine Beratungsstelle aufzusuchen, auch den Kontext der Familie betreffen (vor allem Erziehungs-, Beziehungsund Entwicklungsprobleme), wird in Beratungsstellen häufig die Familie des Ratsuchenden bzw. des angemeldeten Kindes miteinbezogen. – Alltagsorientierung: Erziehungsberatung thematisiert sowohl das intrapsychische Geschehen der Ratsuchenden als auch die äußere Welt mit Kontextfaktoren und -bedingungen sowie konkreten Lebensumständen. – Kind im Mittelpunkt: Die Beratungsleistungen in der Erziehungsberatung können nur in Anspruch genommen werden, wenn es betroffene Kinder im Alltag der Ratsuchenden gibt. Das Wohl des Kindes ist dabei Ausgangspunkt jeglicher psychosozialer Intervention in der Beratung. – Konzeptionelle Offenheit in der Erziehungsberatung: Beratungs- und Therapieansätze bedürfen nicht wie in der Gesundheitsversorgung einheitlicher (Psychotherapie-)Richtlinien. So kommen unterschiedliche Beratungsformen und -verfahren zum Einsatz.

26

Erziehungs- und Familienberatung

Auch wenn das Beratungsangebot weitgehend in einer sogenannten »KommStruktur« organisiert ist, kann Erziehungsberatung im Einzelfall auch als zugehendes Angebot realisiert werden (vgl. Krist, 2006). Weiterhin ist die Onlineberatung als mittlerweile etablierte Interventionsmöglichkeit in diesem Arbeitsbereich hervorzuheben (vgl. BKE, 2012; Thiery, 2012). Der psychotherapeutische Bereich umfasst nach Körner und Hensen (2008) neben Kinderund Spieltherapie die unterschiedlichen Psychotherapieverfahren, die Kriz (2008) als zentrale therapeutische Grundorientierungen der Erziehungsberatung versteht: die psychodynamische (d. h. analytische und tiefenpsychologische) Perspektive, die behaviorale bzw. verhaltenstherapeutische Perspektive, die humanistische Perspektive sowie die systemisch-familientherapeutische Perspektive (ebd., S. 110ff.). Wie bereits im Kapitel 2.2 aufgezeigt, hat Psychotherapie in der Erziehungsberatung dabei einen anderen Charakter als im gesundheitlich-psychotherapeutischen Versorgungssystem. Grundsätzlich fällt es in der Familienberatung schwer, Diagnostik, Beratung und (Psycho-)Therapie losgelöst voneinander zu betrachten. Sowohl die Nutzung diagnostischer Methoden als auch (psycho-)therapeutischer (ggfls. auch kunst-, musik- oder bewegungstherapeutischer) Techniken geschieht gewissermaßen eingebettet in psychosozial beraterisches Handeln (vgl. BKE, 2012; Menne, 2017; Vossler, 2003). Infolgedessen spricht der Bundesverband von einer beraterisch-therapeutischen Fachkraft (vgl. BKE, 2009b). Gleichsam werden in der vorliegenden Arbeit, die Begrifflichkeiten Beratung und Therapie in diesem Arbeitsfeld nicht getrennt voneinander betrachtet und benutzt. Der Begriff »Beratung« meint hier ebenso die Anwendung psychotherapeutischer Methoden, wie der Begriff »Therapie« die Nutzung beraterischer Mittel impliziert (vgl. Exkurs). Bedeutsame statistische Kennzahlen der letzten Jahre zum beraterisch-therapeutischen Angebot der Erziehungsberatung können bei Menne (2017) eingesehen werden. Im Hinblick auf das Thema der Arbeit und einen späteren Vergleich der durchgeführten systemischen Familienberatung sollen nur zwei Bereiche herausgehoben werden: die Beratungsintensität und -dauer sowie die Art der Beendigung der Beratung. Mit Blick auf die bundesweit beendeten Beratungen im Jahr 2015 wird deutlich, dass Erziehungsberatung durchschnittlich 11 Beratungskontakte pro Fall veranschlagte (Statistisches Bundesamt, 2017). 52 % der Beratungen konnten innerhalb der ersten fünf Termine beendet werden, 21 % dauerten sechs bis 10 Termine, 15 % veranschlagten 11 bis 20 Termine und weitere 12 % benötigten 21 und mehr Beratungsgespräche. Beratungssettings mit Eltern und Kind(ern) gemeinsam benötigten im Durchschnitt mehr Termine (12) als Settings, in denen überwiegend nur mit den Eltern bzw. einem Elternteil gearbeitet wurde (neun Termine) (ebd.). Durchschnittlich dauerten Erziehungsberatungen fünf Monate, wobei 44 % aller Beratungen

Profil, Angebote und Leistungen

27

zwischen einem und drei Monaten benötigen. In nur sehr wenigen Fällen währten Beratungen zwischen ein und zwei Jahren (8 %) oder sogar über zwei Jahre hinaus (3 %). Ziemlich genau drei Viertel der Beratungen (75 %) wurden aufgrund der Erreichung der Beratungsziele beendet. Zu anderen Gründen für ein Ende der Beratung zählten: Gemeinsame Beendigung (Klient(en) und Berater) abweichend von den Beratungszielen (15 %), Beendigung durch den/die Klienten abweichend von den Beratungszielen (14 %) sowie sonstige Gründe (10 %) (ebd.). Die Zahlen deuten darauf hin, dass die Leistungen der Erziehungs- und Familienberatung häufig als kurzfristige Hilfe in einem Zeitraum von nur wenigen Monaten von den Adressatinnen in Anspruch genommen werden. Andererseits zeigt sich im beschriebenen Beratungsprofil trotz der Bezugnahme auf das soziale Umfeld und den Alltag der Ratsuchenden eine starke Ausrichtung an psychotherapeutisch orientierten Verfahren und Methoden. Dies hält auch die Jugendhilfe-Effekte-Studie fest, die vor mehr als 15 Jahren sämtliche erzieherischen Hilfen untersuchte: »Das Angebot an Hilfen ist eher klinisch und weniger pädagogisch orientiert« (Schmidt et al., 2002, S. 542). Einer der prominentesten therapeutischen Ansätze in der Erziehungs- und Familienberatung ist diesbezüglich die Systemische Therapie. Da dieser Ansatz von besonderer Relevanz für die Intervention im Rahmen der vorliegenden Studie (vgl. Kap. 4.5) ist, soll er weiter unten in einem separaten Kapitel kurz skizziert werden (vgl. Kap. 2.4.1). In einem darauffolgenden Abschnitt sollen darüber hinaus aus der Bindungstheorie abgeleitete Möglichkeiten der beraterisch-therapeutischen Intervention aufgeführt werden (vgl. Kap. 2.4.2), da diese ebenfalls für die später berichtete Studie von Belang sind. Zuvor werden jedoch die Angebotsbereiche der Erziehungsberatungsstellen komplettiert und zunächst präventiv-informierende und sodann vernetzend-kooperative Aufgaben vorgestellt. Exkurs: Zur Unterscheidung von Beratung und Psychotherapie Beratung (couseling) kann nach Nestmann und Sickendiek (2018) als eine spezifische Form der Kommunikation beschrieben werden, bei der eine Person der anderen Person (bzw. Gruppen oder Organisationen) dabei behilflich ist, Anforderungen und Belastungen des Alltags oder schwierigere Probleme und Krisen zu bewältigen (S. 110). Formalisierte Beratung, die sich als eigenständige Hilfeform begreift, beruft sich dabei auf unterschiedliche Beratungstheorien und wissenschaftliche Bezüge, je nach Aufgaben- und Lebensbereich, in dem die Leistung stattfindet. Neben klinisch-psychologischen Ansätzen finden sich in der sozialen Beratung vor allem Theorien aus der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit wieder, die mit Begriffen wie Lebenswelt und Alltag, System und

28

Erziehungs- und Familienberatung

Kontext, Ressourcen und soziale Netzwerke, Bildung und Reflexivität, Diversität, soziale Konstruktion und Narration verbunden sind (ebd., S. 113). Grundsätzlich kann Beratung präventive, akut problembewältigende und rehabilitative, wieder normalisierende Aufgaben erfüllen (S. 110). Die Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern (psychosoziale Beratung) ist dabei stark beeinflusst von psychotherapeutischen Erklärungs- und Handlungsmodellen. Ableger unterschiedlicher Theoriemodelle wie psychodynamische Beratung, verhaltensorientierte Beratung oder systemische Beratung wurden und werden dabei innerhalb der psychosozialen Beratung bedeutsam (vgl. Stimmer & Ansen, 2016). Besonderen Stellenwert hatte die klientenzentrierte Gesprächsführung3 (Rogers, 1976), deren Prinzipien bis heute in Deutschland, aber auch international zur Basis nahezu jeder professionellen, psychosozialen Beratungsausbildung zählen (vgl. ebd.; Mearns, Thorne & McLeod, 2016). So scheint es nicht verwunderlich, dass verschiedene Autoren psychosoziale Beratung und Psychotherapie historisch und systematisch eng miteinander verknüpft sehen (Großmaß, 2007; Nestmann, 2002). Zugleich gibt es mehr oder weniger deutliche Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden Interventionsformen. Nestmann (2002) ordnet die vorherrschenden Diskussionsstränge und plädiert dafür, »dass Beratung und Psychotherapie zwei theoretisch wie empirisch differenzierbare Wissenschaftsund Praxisbereiche darstellen […] mit […] eigenständigen konzeptionellen Zugängen und methodischen Orientierungen und damit auch eigenständigen professionellen Selbstverständnissen und Profilen, aber dass auf allen Dimensionen erhebliche Überlappungen, Ähnlichkeiten und Kongruenzen feststellbar sind« (S. 403). Den vorherrschenden gesetzlichen Rahmen weitgehend ungeachtet, sollen im Folgenden fünf Abgrenzungskriterien formuliert werden (vgl. Großmaß, 2007; Nestmann, 2002; Widulle, 2012). 1. Beratung geht nicht wie Psychotherapie vom Störungs- oder Krankheitskonzept aus. Daher hat Beratung es nicht mit Heilung, Linderung und Krankheitsbewältigung zu tun, sondern mit Krisen und Krisenbewältigung, ggfls. mit Neuorientierung. Psychosoziale Beratung behandelt Probleme und Schwierigkeiten ihrer Klienten als Konflikte in spezifischen Lebenssituationen und -phasen. 2. Beratung akzentuiert den lebensweltlichen Kontext, in dem die Konflikte ihrer Adressaten entstehen und bearbeitet werden können. Der Kontextbezug ist im Allgemeinen daher eher hoch. Psychotherapie hebt 3 Heute: personzentrierte Beratung.

Profil, Angebote und Leistungen

sich dagegen häufig gezielt vom Alltag ab, schafft einen besonderen Raum für Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderung ihrer Patienten. Der Kontextbezug ist eher niedrig, da das Individuum mit seinen Defiziten und Ressourcen fokussiert wird. 3. Formalisierte psychosoziale Beratungen beziehen sich in der Regel auf einen Aspekt gesellschaftlichen Lebens, wie z. B. Erziehung, Familie, Ehe, Interkulturalität, Frauengleichstellung, Alkohol/Drogen oder Studium. Das Beratungsangebot ist insofern diesen gesellschaftlichen Teilbereichen zugeordnet, während Psychotherapie sich ausschließlich im Bereich der Gesundheits- bzw. Krankenversorgung abspielt und aus dieser Perspektive unterschiedliche Lebensaspekte tangiert. 4. Psychosoziale Beratung zeichnet sich eher dadurch aus, dass sie kurzund mittelfristig in Anspruch genommen wird und in der Regel niedrigschwellig agiert. Die Dauer von Psychotherapien variiert stark, wird im ambulanten Setting im Vergleich zur Beratung jedoch meist länger beansprucht. Durch eventuelle Wartezeiten, Genehmigungsverfahren der Krankenkassen bzw. entsprechende Entgelte sind die Zugangsschwellen meist um ein Vielfaches höher als in der Beratung. 5. Beratung ist ein multidisziplinäres Geschehen, welches hinsichtlich seiner Ausübung, Zugangswege und Ausbildung in Deutschland nicht formell geregelt ist. Eine Berufsethik ist nicht durchgängig vorhanden. Psychotherapie in Deutschland bezieht sein Wissen hingegen vor allem aus medizinischen sowie psychologischen Disziplinen. Die Ausbildung zur Psychotherapeutin ist konkret festgelegt, die Ausübung gesetzlich geregelt und es bestehen über Berufsordnungen und -verbände entsprechende ethische Richtlinien. Die grundsätzliche Differenz bei partiellen theoretischen und methodischen Gemeinsamkeiten zwischen Beratung und Psychotherapie kann so in vielfältiger Weise zu einem Verhältnis der Aufgabentrennung sowie der Kooperation führen (vgl. Nestmann, 2002). Insofern sehen Nestmann und Sickendiek (2018), ebenso wie andere Autoren, es als nicht zulässig an, Beratung als »Therapie für weniger schwerwiegende Störungen« oder »Menschen mit ausreichender Problemdistanz« herabzusetzen (vgl. auch Galuske, 2013; Hoff & Zwicker-Pelzer, 2015). Beratung und Psychotherapie bedürfen zwar keiner Gleichsetzung, sind aber prinzipiell gleichwertig.

29

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Erziehungs- und Familienberatung

Präventiv-informierender Aufgabenbereich »Angebote in den Bereichen Prävention und Information sind in der Regel einzelfallübergreifend angelegt und werden in unterschiedlicher Form sowohl für Eltern als auch für Kinder und Jugendliche vorgehalten« (Vossler & Seckinger, 2018, S. 173). Ausgangspunkt präventiver Tätigkeiten der Erziehungsund Familienberatung ist in der Regel § 16 SGB VIII. Mit Prävention ist im Arbeitsfeld die Verhinderung und Manifestierung sozialer und psychischer Problemlagen bzw. die Stärkung sozialer Ressourcen der Adressaten gemeint (vgl. Kirst, 2006). Beispiele dafür können Angebote zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern oder Informationsangebote in Schule und Kindertagesstätte sein. Je nach regionaler Ausrichtung und Tätigkeitsprofil einer Beratungsstelle gehören insofern Multiplikatorenangebote (z. B. Fallsupervisionen für Lehrer und Erzieherinnen), Öffentlichkeitsarbeit (z. B. Vorträge im Rahmen der kommunalen Jugendarbeit), Gruppenarbeit mit Eltern (z. B. fachliche Begleitung offener Elterntreffs in Kindertagesstätten, Elternabende in Schulen, Gruppenangebote für Alleinerziehende) oder Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen (z. B. Suchtpräventionsgruppen, Training sozialer Kompetenzen, Jungen- bzw. Mädchengruppen) zum üblichen Aufgabenspektrum. Im Vergleich mit den meist einzelfallbezogenen beraterisch-therapeutischen Angeboten machen präventive und informierende Tätigkeiten eher einen kleineren Teil der gesamten Arbeitskapazität einer Erziehungsberatungsstelle aus. Hundsalz (2007) beruft sich auf ältere Angaben der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung und nimmt an, dass präventive Aufgaben gemeinsam mit Vernetzungsaktivitäten durchschnittlich 25 % der Leistungen in einer Beratungsstelle betragen. Vernetzend-kooperativer Aufgabenbereich Präventive Angebote der Familienberatung entstehen nicht zuletzt aus Vernetzungsbemühungen und Kooperation mit anderen Akteuren im sozialen Feld einer Kommune oder eines Kreises. Erziehungsberatungsstellen, an der Schnittstelle unterschiedlicher Systeme angesiedelt, sind dabei prädestiniert, mit Institutionen im Bereich Schule, in der frühkindlichen Bildung und Betreuung, dem Gesundheitswesen und dem medizinisch-psychiatrischen System, der offenen Jugendarbeit und anderen sozialen Vereinigungen wie Kirche oder Selbsthilfeinitiativen zu kooperieren. Rietmann und Hillenbrand (2008) sehen interinstitutionelle Kooperation dabei als notwendiges Handlungsprinzip für die Erziehungsberatung. Sie beteiligt sich an der allgemeinen Jugendhilfeplanung, ist repräsentiert in relevanten Gremien und Arbeitszusammenschlüssen und wirkt politisch für die Belange ihrer Adressatinnen (vgl. Menne, 2017). Das Jugendamt, spezieller der Allgemeine Soziale Dienst, stellt gemeinhin den größten Kooperationspartner für die Erziehungs- und Familienberatung dar.

Profil, Angebote und Leistungen

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Weiterhin zählen Schulen und Kindertagesstätten zu den häufigsten Netzwerkpartnern von Beratungsstellen, aber auch medizinische Einrichtungen wie psychiatrische Kliniken, Kinderärzte oder sozialpädiatrische Zentren gehören zum Netzwerk von Erziehungsberatungsstellen (vgl. BKE, 2014). In jüngerer Zeit nehmen darüber hinaus Kooperationen mit Familiengerichten und den damit im Zusammenhang stehenden Fachkräften (Verfahrenspfleger, Umgangspfleger, Rechtsanwälte) zu (vgl. Weber, Alberstötter & Schilling, 2013). Nicht zuletzt nehmen Fachkräfte der Erziehungsberatung innerhalb ihrer Tätigkeit fachdienstliche Aufgaben im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe wahr (vgl. BKE, 2009b). Dies kann unter anderem die Mitwirkung bei der individuellen Hilfeplanung oder Gefährdungseinschätzungen und Beratungen bei befürchteter Kindeswohlgefährdung sein (ebd.). Resümierend lässt sich bis hierher festhalten, dass die Erziehungsberatung eine im Wesentlichen einzelfallorientierte, (psycho-)therapeutisch geprägte Hilfe zur Erziehung ist, die für sich in Anspruch nimmt, niederschwellig, präventiv, bisweilen sozialräumlich und im Zentrum der Kinder- und Jugendhilfe zu agieren. Kritisch betrachtet können andererseits die vorhandene »Komm-Struktur«, bei der sich Klienten erstens telefonisch anmelden und zweitens zur Beratungsstelle hinkommen müssen, sowie die Wartezeit auf einen Beratungstermin Schwellen darstellen, die eine gewisse Selektion der Adressatinnen bewirkt (vgl. Belardi et al., 2011). Die bereits zitierte Jugendhilfe-Effekte-Studie kommt für die Erziehungsberatung zu dem Schluss: »Die Klientel zeichnet sich durch ein niedriges Alter, mittelschwere Probleme von Kindern (darunter viele internalisierende Störungen wie Ängste, Depression, Rückzugsverhalten) und ihren Familien, die gleichzeitig weniger benachteiligt und eine günstigere Entwicklungsprognose, tendenziell auch ein günstigeres Umfeld aufweisen, aus« (Schmidt et al., 2002, S. 542).

Obschon Familienberatungsstellen, diesem Umstand Rechnung tragend, z. B. anmelde- und voraussetzungsfreie offene Sprechstunden eingerichtet haben, hängt ihnen bisweilen das Etikett einer Mittelschichtsorientierung an (vgl. Kirst, 2006; Esser & Zimmer, 2006). Als eine weitere Facette wird ebenso die psychotherapeutische Ausrichtung der Beratungsleistung an sich kritisch diskutiert und in Frage gestellt, inwiefern Erziehungs- und Familienberatung primär an individueller Verhaltensänderung interessiert ist und die sozialen Verhältnisse ihrer Adressaten im Rahmen der Hilfe vernachlässigt (Rietmann & Sawatzki, 2018b). Ein interessanter Aspekt, insbesondere deshalb, weil systemische Beratungsansätze sich anschicken, explizit den Kontext eines Individuums bzw. eines (Familien-)Systems zu berücksichtigen.

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Erziehungs- und Familienberatung

2.4.1 Systemische Beratung und Therapie Systemische Beratung und Therapie bezeichnet eine Interventionsform, die menschliche Probleme und psychische Auffälligkeiten kontextuell versteht als Wechselwirkungen und Rückkopplungsprozesse in komplexen sozialen Systemen (vgl. Ludewig, 2000). Entsprechend kann der systemische Ansatz als Förderung von Selbstorganisationsprozessen verstanden werden (Rufer & Schiepek, 2014), der bestehende Muster im Denken, Fühlen, Handeln, insbesondere in der Kommunikation und Beziehung mit relevanten Anderen versucht zu »perturbieren« (Maturana & Varela, 1987, S. 27), um Neues in einem System (z. B. Familiensystem) anzuregen. Systemische Therapie geht in ihren Wurzeln auf die Familientherapie zurück und wird auch heute noch teilweise als »systemische Familientherapie« bezeichnet4. Ludewig betont allerdings, dass die systemische Therapie und Beratung sich »…als theoriegeleitete Praxis [definiert], die keine Anforderungen an das Setting stellt, sondern in unterschiedlichen Settings Anwendung findet. Anders als die ursprüngliche Familientherapie, die in der Familie die ›Störung‹ verortet und dementsprechend die Familie als Setting wählt, fokussiert die Systemische Therapie auf die psychischen und/ oder sozialen Systeme, die das zu behandelnde Problem erzeugen und aufrechterhalten« (2000, S. 451).

Systemische Therapie und Beratung werden häufig in einem Begriffspaar gemeinsam verwendet (vgl. z. B. von Schlippe & Schweitzer, 2012; Levold & Wirsching, 2014). Dieser Ansatz bietet, unter anderem aufgrund seiner klinischen Theorie sowie seiner transdisziplinären Bezüge, vergleichsweise weniger Abgrenzungspotential zwischen diesen Termini als andere Therapieverfahren wie beispielsweise die Psychoanalyse oder die Verhaltenstherapie. In jüngerer Vergangenheit, insbesondere im Zuge der empirischen Nachweise zur Wirksamkeit systemischer Psychotherapie bei einer Reihe von klinischen Störungsbildern und der damit erfolgten wissenschaftlichen Anerkennung im Jahr 2008 (vgl. von Sydow, Beher, Retzlaff & Schweitzer, 2007), gibt es auch im systemischen Ansatz diesbezüglich vereinzelt Anzeichen von Differenzierung (von Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 31; Schwing & Fryszer, 2013, S. 12ff.). Da es für den Bereich der Erziehungs- und Familienberatung durchweg passend erscheint, von systemischer Therapie und Beratung zu sprechen (vgl. Loth, 2014), soll die Bezeichnung in dieser Arbeit beibehalten werden. »Die Grenzen sind fließend, so wie die Problemlagen der Rat suchenden Menschen ebenfalls zwi4 Im angloamerikanischen Raum hat sich der Begriff Familientherapie (family therapy, family systems therapy) erhalten und schließt neuere »systemisch-konstruktivistische« und »narrative« Therapieansätze mit ein.

Profil, Angebote und Leistungen

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schen klinischen und nichtklinischen Bereichen changieren« (von Schlippe, 2003, S. 30). Grundsätzlich wird in systemischer Perspektive ein Problem oder ein Symptom nicht als etwas gesehen, was jemand, z. B. ein Kind, hat, sondern als ein Geschehen, an dem viele verschiedene miteinander interagierende Menschen beteiligt sind. In einem konstruktivistischen Sinne (vgl. Simon, 1997; Watzlawick, 1981) wird Wirklichkeit als das Ergebnis sozialer Konstruktion verstanden. In der Folge sind Kommunikation und die von Menschen erzählten Geschichten für die Beratung und Therapie von hervorgehobener Bedeutung, da sie die erfahrene Wirklichkeit gleichsam erschaffen und determinieren. Probleme und Auffälligkeiten müssen insofern im Kontext ihrer erzeugenden und aufrechterhaltenden Bedingungen betrachtet werden – sogenannte problemdeterminierte Systeme (vgl. Ludewig, 1990). Ebenso wird der Berater bzw. Therapeut nicht als außenstehender Behandler betrachtet, sondern als Teil des Beratungssystems und zeitweilig als Teil des Kommunikationssystems z. B. einer Familie. In der Konsequenz haben diese theoretischen Positionen und Haltungen mannigfaltige Auswirkungen auf den systemisch orientierten Beratungsund Therapieprozess: – Diagnostik innerhalb der systemischen Therapie begreift sich als Prozessdiagnostik und ist mehr an den Beziehungen des Klienten und den Auswirkungen dieser Beziehungen interessiert als an der Identifizierung von psychischen Störungen bzw. auffälligem Verhalten. Ressourcen und Stärken werden dabei als ebenso wichtig erachtet wie Probleme und Schwierigkeiten, in manchen lösungsorientierten Varianten systemischer Therapie und Beratung sogar als noch bedeutsamer (vgl. Levold, 2014). – Da systemische Therapeuten und Berater aus erkenntnistheoretischen Vorbehalten – zu Recht oder zu Unrecht – bezweifeln, ob es überhaupt möglich ist, Menschen planvoll zu beeinflussen, besteht die Kunst der Therapie darin, einen Kontext zu schaffen, der zu Veränderungen einlädt und Entwicklungsschritte begünstigt. Es geht weniger darum, direktiv zu verändern oder passende Trainingsmaßnahmen durchzuführen (Retzlaff, 2008). – Da Probleme zwar gelegentlich vom jeweiligen System (z. B. einer Schulklasse oder von Eltern) nur einer Person zugeschrieben werden, wird diese Person (z. B. ein Kind) als Symptomträger bezeichnet. Systemische Therapie und Beratung bezieht jedoch relevante Systemmitglieder (z. B. Peers oder Familienmitglieder) in die Intervention mit ein und behandelt bei einer Vielzahl von Anlässen mehr als nur einen Symptomträger gleichzeitig (ebd.). – In der systemischen Therapie und Beratung gilt der Klient bzw. das Klientensystem auch bei schwerwiegenden psychiatrischen oder sozialen Problemen als Experte seiner selbst. Die Arbeitsbeziehung ist von Gleichrangigkeit, Wertschätzung und Kooperation geprägt.

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Erziehungs- und Familienberatung

Statt einseitiger Ursache-Wirkungsbetrachtungen von Krankheitsprozessen (z. B. eine bestimmte Familiendynamik erzeugt ein bestimmtes klinisches Symptom bzw. ein bestimmtes klinisches Symptom erzeugt eine bestimmte Familiendynamik) oder Beziehungsprozessen (z. B. die überbehütenden Eltern erschweren die Ablösung ihres Kindes bzw. das unselbstständige Kind erschwert es den Eltern, loszulassen) werden konsequent Wechselbeziehungen (in Verhalten und Wahrnehmung) zwischen zwei und mehr Menschen, ihren Symptomen sowie ihrer weiteren Umwelt zum Gegenstand des Verstehens und der Veränderung gemacht (von Sydow et al., 2007, S. 15). Als Referenz werden moderne Systemtheorien herangezogen, die das Verständnis der Funktionsweisen komplexer bio-psycho-sozialer Systeme ermöglichen (vgl. Luhmann, 1984; Maturana & Varela, 1987; Strunk & Schiepek, 2014). In der Konsequenz wurden methodische Vorgehensweisen und Interventionsansätze entwickelt, welche die systemische Therapie und Beratung bis heute prägen (vgl. von Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 223ff.). Arist von Schlippe benennt damit zusammenhängend zwei Elemente als Grundlage zur Anwendung systemischer Methoden: (1) Prozesssteuerung und (2) Auftragsorientierung (2003, S. 35ff.). (1) Unter ersterem wird in der systemischen Beratung der Prozess des sich Einlassens und Ankoppelns (»Joining«) an ein anderes System verstanden. Prozesssteuerung wird hinsichtlich der systemischen Theorie exakter als »Prozessbeisteuerung« (Loth, 1998) beschrieben, da Gesprächsinhalte zunächst vom (Klienten-)system definiert werden und der Berater bzw. Therapeut dafür im Gespräch einen Rahmen bietet, der die bestmögliche Bearbeitung der Inhalte erlaubt. Berater und Klient(en) steuern insofern gemeinsam, wobei – ganz im Sinne der Metapher – der Berater jedoch bemüht ist, hinsichtlich eines förderlichen therapeutischen Prozesses beizusteuern. Die beiden zentralen Funktionen dafür im Prozess heißen »Erzeugung von Metastabilität und Sicherheit« und »Erzeugung von Instabilität« (von Schlippe, 2003, S. 37). Beide stehen in einem Spannungsfeld zueinander und ermöglichen durch verschiedene Handlungsweisen des Beraters bzw. Therapeuten die Etablierung bzw. Aufrechterhaltung einer konstruktiven Hilfebeziehung (vgl. Abb. 1). So ist aus systemischer Perspektive weder die einseitige Betonung von Sicherheit und emotional stützender Beratung noch die bloße Erzeugung von Instabilität ohne tragfähige Beziehung und affektive Rahmung vertretbar. Hilfreiche Beratung und Therapie erfordert eine spezifische Anpassung an das jeweilige System (vgl. Hildenbrand & WelterEnderlin, 1998; Levold, 1998).

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Profil, Angebote und Leistungen Joining, »Small Talk«, Kontaktaufbau, »Rapport«

Wertschätzung, Ressourcenund Lösungsorientierung

Affektabstimmung (»affektive Rahmung«)

Klarer äußerer Rahmen (Zeit, Raum, Kontrakt), klare Gesprächsführung

Empathie, einfühlendes Verstehen, Feinfühligkeit

Erzeugung von Metastabilität: ein Rahmen von Sicherheit, eine sichere Basis

Herstellen und Aufrechterhalten einer konstruktiven Beratungsbeziehung Erzeugung von Instabilität: innerhalb dieses Rahmens ein Spannungsbogen von Interesse, Neugier und Aufregung

Zirkuläres/ hypothetisches Fragen, Lösungsfragen, Skulpturarbeit, Dekonstruktion (»Querdenken«)

Schlusskommentar, Kontexterweiterung, Reframing (nicht ohne Empathie!), Musterunterbrechung, »mach etwas andres«, oder auch No-ChangeIntervention usw.

Thema fokussieren (ggf. »hidden agenda«); Unterschiede verdeutlichen (»Wer mehr, wer weniger?«)

Konfrontation, Metakommunikation, Tabus ansprechen, Reflektierendes Team

Abbildung 1: Prozesssteuerung in der systemischen Beratung und Therapie (modifiziert nach von Schlippe, 2003, S. 38)

(2) Auftragsorientierung betont im Verhältnis zur Prozesssteuerung die Notwendigkeit, das beraterisch-therapeutische Handeln an den Anliegen, Zielen und Aufträgen der Adressaten auszurichten. Gelegentlich wurde in der systemisch orientierten Literatur auch von Kundenorientierung gesprochen (vgl. Schweitzer, 1995). Dabei sieht sich die Beraterin in der Regel einer Vielzahl von Aufträgen und Erwartungen von anwesenden wie abwesenden Systemmitgliedern ausgesetzt, die sich auf den Beratungsprozess verschiedentlich auswirken können. Zum Fundament systemischer Therapie und Beratung gehört dementsprechend eine dezidierte Auftragsklärung, wobei generell zwischen Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt unterschieden wird (vgl. Loth, 1998; von Schlippe & Schweitzer, 2012). Systemische Ansätze sind heute ausgesprochen heterogen. Sie stützen sich dabei mehrheitlich auf die oben skizzierten theoretischen Fundamente und Entwicklungen, integrieren jedoch auch pragmatisch Theorien und Praktiken aus anderen Wissensgebieten und Therapieschulen (vgl. Levold, 2014). Auch die unterschiedlichen Kontexte, in denen systemische Therapie und Beratung heute eine Rolle spielen, sind vielfältig (vgl. Levold & Wirsching, 2014, S. 421ff.). Aus der Familientherapie kommend hat systemische Therapie und Beratung in der

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Erziehungs- und Familienberatung

Folge vielfältige Ansätze entwickelt, um mit Kindern zu kooperieren und Problemkonstellationen, die sich um kindliche Verhaltensauffälligkeiten ranken, zu begegnen. Einige davon sollen beispielhaft im Weiteren Erwähnung finden. Systemische Beratung und Therapie bei Verhaltensauffälligkeiten von Kindern Für die Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen gelten die gleichen Grundprinzipen wie für die Intervention mit Erwachsenen, schließlich sind beide Subsysteme in systemischen Verfahren häufig in Familiensettings gemeinsam anwesend (vgl. Retzlaff, 2002; Retzlaff & von Sydow, 2015). Dennoch ist systemische Therapie mit Kindern im Kontext ihrer Familien oder in der Einzelarbeit zuweilen anders, wie von Schlippe und Schweitzer feststellen (2012, S. 373). Dies betrifft zunächst die Kontaktaufnahme, die generelle Kommunikation und den Umgang mit der Auftragslage – demnach den gesamten Beziehungsaufbau. So brauchen Kinder im Allgemeinen häufig mehr kindgerechte Informationen und Sicherheit zum Rahmen und den »Spielregeln« in einem Beratungsgespräch. Sie sind dabei generell angemessen in die Auftragsklärung zu involvieren, z. B. brauchen sie zuweilen Unterstützung, um ihre Anliegen und Interessen einzubringen. Kommunikation und Interaktion mit Kindern ist meist spielerischer, kreativer und handlungsorientierter als mit Erwachsenen und systemische Gesprächstechniken (z. B. zirkuläres Fragen; vgl. Simon & Resch-Simon, 2016) müssen alters- und entwicklungsangemessen angepasst werden. Spezielle oder adaptierte systemische Methoden für Kinder und Jugendliche finden sich mittlerweile in vielen themenspezifischen Publikationen (vgl. Caby, F. & Caby, A., 2017; Caby, A. & Caby, F., 2017; Furman, 2005; Hanswille, 2016; Retzlaff, 2008, 2013; Rotthaus, 2001; Steiner & Berg, 2016; Vogt & Burr, 2009) und überschneiden sich dabei mit Methoden anderer therapeutischer Verfahren. Werden Kinder in der Erziehungs- und Familienberatung als Symptomträger angemeldet, empfiehlt es sich, wie auch in der systemischen Therapie mit Kindern ganz allgemein, in flexiblen Settings zu arbeiten (vgl. Rotthaus, 2001). Möglich sind insofern Sitzungen mit der ganzen Familie, einzelnen Elternteilen, den Eltern gemeinsam, dem Kind alleine, mit seinen Geschwistern oder in anderen Konstellationen mit außerfamiliären Bezugspersonen. »In der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie wird angestrebt, das Therapiesystem so zu erweitern, dass es mindestens einen Verantwortungsträger einschließt« (Retzlaff & von Sydow, 2015, S. 298). Für den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten von Kindern finden sich im deutschsprachigen systemischen Feld nur wenige vorgefertigte Programme oder spezifische Konzepte.5 Vielmehr 5 Anders ist die Lage im angloamerikanischen Sprachraum zu bewerten, wo mehrere systemisch-integrative Behandlungsprogramme zu spezifischen Störungsbildern vorliegen (vgl. Retzlaff & von Sydow, 2015).

Profil, Angebote und Leistungen

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wird auch hier versucht, die jeweilige Problematik unter Einbezug biologischer und entwicklungspsychologischer Aspekte in ihrem historischen wie aktuellen Kontext zu betrachten, so dass daraus die Hypothese einer Funktionalität abgeleitet werden kann (vgl. Schleiffer, 2013; Trapmann & Rotthaus, 2013). Die Intervention kann insofern als systemtypisch unterschiedlich bezeichnet werden, wobei sich für bestimmte Auffälligkeiten und Symptome bereits Vorgehensweisen etabliert haben (vgl. Hanswille, 2016, S. 235ff.; Korittko, 2017; Ratzke & Zander, 2003; Rotthaus, 2015, 2016; Schweitzer & von Schlippe, 2006; Spitczok von Brisinski, 2017; van Lawick & Visser, 2017). Die Wirksamkeit von systemischer Psychotherapie konnte mittlerweile bei einer Vielzahl von klinischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter nachgewiesen werden, so unter anderem bei Depressionen und Suizidalität, Essstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Drogenkonsumstörungen sowie Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). (vgl. Retzlaff, von Sydow, Beher, Haun & Schweitzer, 2013; von Sydow, Retzlaff, Beher, Haun & Schweitzer, 2013). Für die Erziehungs- und Familienberatung bedeutet dies, dass mit dem systemischen Ansatz ein evidenzbasiertes, störungsspezifisch wirksames Verfahren angewandt wird, um Verhaltensauffälligkeiten im Kontext von Familie zu bearbeiten. Da, wie bereits erörtert wurde, systemische Beratung und Therapie in einer Familienberatungsstelle in aller Regel nicht primär auf die Auffälligkeit abzielt, sondern auf die familialen Beziehungen, soll im nachfolgenden Kapitel ein weiterer Aspekt der beraterisch-therapeutischen Arbeit betrachtet werden, der für die Intervention im Rahmen der Studie dieser Arbeit (vgl. Kap. 4.5) von Bedeutung ist.

2.4.2 Bindungstheoretisch fundierte Interventionsmöglichkeiten in der systemischen Beratung und Therapie Die Bindungstheorie, wie sie von John Bowlby (1969/2006) postuliert wurde, soll in einem späteren Kapitel dieser Arbeit ausführlich vorgestellt werden (vgl. Kap. 3). In diesem Abschnitt sollen hingegen basale Schlussfolgerungen aus Bindungstheorie und -forschung für die Beratung und Therapie zusammengestellt werden, da diese die systemische Intervention in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen aufgrund des Forschungsdesigns durchdringen. Bindungstheoretische Bezüge finden sich mittlerweile zahlreich in den hauptsächlichen Strömungen der Psychotherapie (vgl. Strauß & Schauenburg, 2017). Dass diese Erkenntnisse aus der Bindungsforschung auch für die Beratung, Pädagogik und die Kinder- und Jugendhilfe von Bedeutung sind, kann dabei heute nicht mehr bezweifelt werden (vgl. Brisch & Hellbrügge, 2009;

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Erziehungs- und Familienberatung

Kißgen & Heinen, 2010, 2011; König, 2018; Jungmann & Reichenbach, 2013; Suess, Scheuer-Englisch & Pfeifer, 2001; Scheuerer-Englisch, Suess & Pfeifer, 2003; Trost, 2014; Zimmermann & Spangler, 2017). Für die in der Erziehungsund Familienberatung dominierende systemische Ausrichtung finden sich im deutschsprachigen Raum wie auch international bereits zahlreiche Publikationen, die systemisch-familientherapeutisches Denken und Bindungstheorie miteinander in Zusammenhang bringen (vgl. Brassard & Johnson, 2016; Dallos & Vetere, 2009, 2014; Diamond & Levy, 2010; Diamond, Diamond & Levy, 2014; Liddle & Schwartz, 2002; Marvin, 2003; Mikulincer, Florian, Cowan, P. & Cowan, C., 2002; Scheuerer-Englisch, 1993, 1995; Stierlin, 1995; Trost, 2018; von Sydow, 2002, 2008, 2015, 2017). In einer neueren Untersuchung im angloamerikanischen Sprachraum, die 275 empirische familientherapeutische Studien hinsichtlich ihrer Referenztheorie auswertete, kam die Bindungstheorie auf Platz zwei hinter den Systemtheorien (vgl. Chen, Hughes & Austin, 2017). In der deutschsprachigen Aus- und Weiterbildung von systemischen Beratern und Therapeuten sowie in der systemisch orientierten Forschung spielt die Bindungstheorie dagegen eine bislang untergeordnete Rolle (Levold & Osthoff, 2014; Schweitzer & Ochs, 2014). In den bedeutsamen deutschsprachigen Lehrbüchern der systemischen Therapie und Beratung hat die Bindungstheorie dagegen mittlerweile Eingang gefunden, insbesondere in den theoretischen Grundlagen systemisch-integrativer Konzepte sowie mit konkretem Anwendungsbezug bei ausgewiesen emotions- und bindungsorientierten Methoden (vgl. Levold & Wirsching, 2014; von Schlippe & Schweitzer, 2012). Für die systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen halten Retzlaff und von Sydow (2015) fest: »In theoretischer Hinsicht orientiert sich die ST [Systemische Therapie; Anm. d. Verf.] an System- und Kommunikationstheorien, der Mehrgenerationsperspektive, der Bindungstheorie, dem biopsychosozialem Modell und dem gemäßigten Konstruktivismus« (S. 295).

Letztlich weisen aus der Bindungstheorie abgeleitete beraterisch-therapeutische Interventionsmöglichkeiten und systemische Beratung und Therapie eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden auf, welche durch von Sydow (2008, 2017) herausgearbeitet und in einem pragmatischen Integrationsversuch dargestellt worden sind. Als zentral ist dabei zu bewerten, dass beide Ansätze interpersonelle Beziehungen thematisieren und aus deren Interdependenz Probleme und Auffälligkeiten versuchen zu erklären. Problematisches Verhalten wird dabei sowohl aus bindungstheoretischer Sicht wie auch aus systemischer Perspektive als Anpassungsleistung an einen bestimmten (Beziehungs-)Kontext gewürdigt. König (2018) betont daneben, dass für die therapeutische Arbeit und psychologische Beratung das Bild der sicheren Basis und das des sicheren

Profil, Angebote und Leistungen

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Hafens grundlegend sind; auch für die Beziehung Beraterin/Therapeutin – Klientin/Patientin (vgl. für die systemische Beratung auch Abb. 1 in Kap. 2.4.1). Damit spricht sie direkt wie indirekt auch die Ergebnisse der Psychotherapieforschung von Grawe und Kollegen sowie Wampold et al. an, in denen sich zeigte, dass die besten Therapieergebnisse mit Therapeutinneneigenschaften wie Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, einfühlendes, verständnisvolles und wertschätzendes Verhalten zusammenhängen (vgl. Grawe, Donati & Bernauer, 2001; Wampold, Imel & Flückiger, 2018). Diese Erkenntnisse wiederum korrespondieren mit Bowlbys grundlegenden bindungsrelevanten Prinzipen für eine Psychotherapie (vgl. Bowlby, 1988/2014), die sich in fünf wesentliche therapeutische Aufgaben unterteilen lassen (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 54): »1. Die Therapeutin steht als sichere Basis für die Selbstexploration zur Verfügung. 2. Die Therapeutin regt zur Reflexion über Bindungsrepräsentationen in gegenwärtigen wichtigen Beziehungen an. 3. Die therapeutische Beziehung wird vor dem Hintergrund der Selbst- und Elternrepräsentanzen des Klienten reflektiert. 4. Die Entstehungsgeschichte des aktuellen Problemverhaltens des Patienten wird auf der Grundlage der Bindungsrepräsentationen exploriert. 5. Etablierte Innere Arbeitsmodelle sollen daraufhin geprüft werden, ob sie für die gegenwärtige Realität des Klienten angemessen sind.«

Lilith König (2018), selbst systemische Therapeutin und Beraterin, bezieht die Aussagen Bowlbys konsequent auf die Arbeit mit Kindern und ihren Eltern und formuliert einen bindungsorientierten Leitfaden für die Therapie mit Kindern, wie er auch für die beraterisch-therapeutische Intervention in der Familienberatung von Relevanz ist: »1. Lernen und Veränderungen durch Therapie brauchen eine sichere Basis und einen sicheren Hafen im Kontext einer Beziehung. 2. Die Bindungsqualität, die offen für Veränderungen ist, spielt eine zentrale Rolle im Entwicklungsverlauf des Kindes. 3. Beobachtungen von Eltern-Kind-Interaktionen werden gemeinsam mit den Eltern ressourcenorientiert und wertschätzend reflektiert. 4. Dauerhafte Veränderungen werden eher über Beziehungskompetenzen als über Verhaltenstraining erzielt« (ebd., S. 94).

Diese Prinzipien, die notwendigerweise altersabhängig angepasst werden müssen, lassen sich gut in eine systemisch orientierte Familienberatung integrieren und bergen darüber hinaus eine Fülle von Interventionsmöglichkeiten. So kann es in vielen Fällen hilfreich sein, in der Anfangsphase einer Beratung oder Therapie beim Joining zu berücksichtigen, dass möglicherweise bisher etablierte Bindungsverhaltensmuster reproduziert werden. Insbesondere Kinder mit unsicherer Bindung benötigen dann einen angemessenen, vertrauens-

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Erziehungs- und Familienberatung

vollen Beziehungsaufbau, der sich auch auf das ganze (Familien-)System ausweiten kann. Scheuerer-Englisch macht dabei konkrete Vorschläge für die Erziehungs- und Familienberatung, wie mit unterschiedlichen Bindungsmustern und elterlichen Fürsorgemodellen umgegangen werden kann (vgl. ScheuererEnglisch, 2007). Weiterhin gibt es hinsichtlich der Reflexion von Eltern-KindInteraktionen oder auch bindungsrelevanten Spielsequenzen von Kindern bereits Ansätze, mit etablierten Methoden der Bindungsforschung mit Eltern und Familien zu arbeiten (vgl. Erickson & Egeland, 2014; Gloger-Tippelt, Ziegenhain, Künster & Izat, 2014; Powell, Cooper, Hoffman & Marvin, 2015; Ziegenhain, Fries, Bütow & Derksen, 2006). Für das Grundschulalter erweist sich dabei insbesondere das Interventionsmodell von Gloger-Tippelt et al. (2014) als vielversprechende Möglichkeit, ressourcen- und bindungsorientiert mit den Eltern innerhalb einer Familienberatung das Verhalten des vorgestellten Kindes zu reflektieren. Grundlegend bedeutet dies, dass das diagnostisch eingesetzte Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (vgl. Kap. 3.3.2.2) genutzt werden kann, um mit den Eltern neue Möglichkeiten zu finden, das kindliche Problemverhalten zu interpretieren. Idealerweise gelingt es der Beraterin dabei, über einen systemisch-ressourcenorientierten Zugang die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig positiv zu beeinflussen. Nach Scheuerer-Englisch (2012) wäre die Perspektive indessen, die Bindungssicherheit des Kindes zu erhöhen, um diesem auf diese Weise mehr Bewältigungsmöglichkeiten (im Sinne eines Resilienzfaktors) für zukünftige Herausforderungen zu vermitteln. »Das Ziel dieser Interventionen ist immer gleichzeitig Bindungsförderung und Veränderung von Bindungsmodellen« (Scheuerer-Englisch, 2017, S. 43).

2.5

Fachkräfte

Das vorherrschende systemisch-familientherapeutische Profil der Erziehungsberatungsstellen in Deutschland lässt sich in großen Teilen auch an der beraterisch-therapeutischen Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte ablesen. Bevor dieser Aspekt jedoch vertieft wird, sei noch einmal auf das bereits erwähnte multiprofessionelle Fachteam der Erziehungs- und Familienberatung hingewiesen (vgl. Kap. 2.1). Diese gesetzlich geforderte Multiprofessionalität drückt sich sowohl in den Grundprofessionen als auch in den additiven Zusatzqualifikationen der Mitarbeiter aus. Im Rahmen der unterschiedlichen Richtlinien der Bundesländer sind dabei nach wie vor die bereits zitierten Grundsätze von 1973 (vgl. BKE, 2009a) gültig, die für eine Mindestbesetzung des Fachteams eine Diplom-Psychologin, einen staatlich anerkannten Sozialarbeiter oder Sozialpädagogin, eine pädagogisch-therapeutische Fachkraft und einer Verwaltungskraft/Sekretariat vorsa-

Fachkräfte

41

hen (vgl. Menne, 2017). Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung geht jedoch heute davon aus, dass mindestens fünf Fachkräfte mit akademischen Qualifikationen in Psychologie, Soziale Arbeit, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Erziehungswissenschaft und eine andere beraterisch-therapeutische Fachkraft (z. B. Heilpädagogik, Logopädie, Ehe- und Lebensberatung, Musikpädagogik oder Rehabilitationspädagogik sowie Psychologische Psychotherapie) benötigt werden (BKE, 2009b, 2016). Ähnliche Berufsgruppen benennt auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter für das Team einer Erziehungsberatungsstelle (BAGLJAe, 2005, S. 21). Die reale gesamtdeutsche Situation der Erziehungsberatung wurde zuletzt 2010 statistisch erfasst und zeigt, dass die Psychologinnen mit rund 40 %, die größte Berufsgruppe darstellen (BKE, 2010a). Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen machten zusammengenommen mit etwas mehr als 39 % die zweitgrößte Profession aus vor Erziehungswissenschaftlerinnen und DiplomPädagogen (9 %) sowie Heilpädagoginnen (5 %) (ebd.). Andere Berufsgruppen wie Soziologen, Lehrerinnen, Ärzte oder Theologinnen machten nur einen geringen Prozentsatz der Mitarbeiter in Beratungsstellen aus. Insgesamt arbeiteten zum Erhebungszeitpunkt 5419 Fachkräfte in Erziehungsberatungsstellen (ebd.). Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung definiert für jede der Fachrichtungen, einschließlich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, ein spezifisches Profil sowie Mindestvoraussetzungen für die Aufgabenwahrnehmung im Team der Beratungsstelle (BKE, 2009b, 2016). Allen Professionen gemeinsam ist die Beratung und Therapie von Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und Familien als Regelaufgabe. Die dafür ebenfalls bereits 1973 geforderten therapeutischen Zusatzqualifikationen (BKE, 2009a, S. 410) werden gegenwärtig folgendermaßen konkretisiert: »Neu einzustellende Fachkräfte müssen heute daher eine beraterisch-therapeutische Qualifizierung in einer der folgenden Methoden[:] Familientherapie/Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse bzw. tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, Gesprächspsychotherapie (Personenzentrierte Psychotherapie), Gestalttherapie, Psychodrama […] absolvieren« (BKE, 2009b, S. 25).

Zudem sollen im Fachteam spezifische Qualifizierungen wie Kinderschutz, Familienmediation, interkulturelle Kompetenz oder Beratung für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern repräsentiert sein (BKE, 2016). Im Zuge der statistischen Erfassung der Grundprofessionen wurden auch die beraterisch-therapeutischen Zusatzqualifikationen in der Erziehungs- und Familienberatung erhoben. Die Beratungsfachkräfte verfügen über insgesamt 7547 Zusatzqualifikationen, wobei familientherapeutische bzw. systemische Ausbildungen mit Abstand an der Spitze liegen (insgesamt 38 %) (vgl. Abb. 2). Jede Fachkraft hatte im Durchschnitt 1,4 Zusatzqualifikationen absolviert.

42

Erziehungs- und Familienberatung

Beraterisch-therapeutische Zusatzqualifikationen (in %) 40 35 30 25 20 15 10 5 0

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3

Abbildung 2: Beraterisch-therapeutische Zusatzqualifikationen von Fachkräften in der Erziehungsberatung 2010; Anmerkung: Erziehungs- und Familienberatung BKE/ Intergrierte Familienorientierte Beratung EZI (6 %) sind dreijährige systemisch-integrative Beraterweiterbildung und werden in dieser Darstellung zur Familientherapie/ systemischen Therapie (32 %) addiert. Eigene Darstellung. (Quelle: BKE, 2010b)

Die hohe Anzahl der systemisch-familientherapeutischen Aus- und Weiterbildungen belegt dabei nochmals die Relevanz dieses Ansatzes für das Arbeitsfeld. Angesichts der familienunterstützenden Ausrichtung der Erziehungsberatung verwundern diese Zahlen andererseits nicht. Obwohl auch andere Ansätze in Familienberatungsstellen von Bedeutung sind, kann, ob der Präsenz der systemischen Therapie und Beratung, nochmals nach der fachlich geforderten Multiprofessionalität gefragt werden. So präsentiert sich ein Bild der Erziehungs- und Familienberatung, das insbesondere auf die Fachrichtungen der Psychologie und Sozialen Arbeit zugeschnitten zu sein scheint und dabei ein systemtherapeutisches Paradigma nutzt, um die Anliegen ihrer Adressatinnen zu bearbeiten. Im nächsten Kapitel wird nun die Aufmerksamkeit auf die Evaluation in der Erziehungsberatung gelenkt. Dabei werden am Rande auch Bezüge zur Wirksamkeitsforschung in der Beratung und Beratungswissenschaft über das Arbeitsfeld hinaus hergestellt.

Evaluations- und Beratungsforschung

2.6

43

Evaluations- und Beratungsforschung

Auf den ersten Blick wirkt Erziehungs- und Familienberatung, insbesondere im Vergleich mit anderen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, als ein häufig beforschtes und gut evaluiertes Arbeitsfeld. So trug Heekerens (1997) bereits vor mehr als 20 Jahren 12 Studien zusammen, welche die Wirksamkeit von Erziehungsberatung evaluieren. Der Nachteil dieser Studien ist, dass es sich dabei um katamnestische Untersuchungen handelte, die hauptsächlich Aussagen über die Zufriedenheit der Adressaten zuließen. Daher konstatiert Roesler noch 2017: »Obwohl dieses System der EB [Erziehungsberatung; Anm. d. Verf.] in Deutschland bestens etabliert ist und eine flächendeckende Versorgung gewährleistet, muss der Forschungsstand zur Wirksamkeit dieses Angebots als unbefriedigend bezeichnet werden« (S. 220).

Bevor sich die Arbeit dieser Einschätzung weiter nähert und einen Überblick über die empirischen Studien in der Erziehungsberatung gibt, soll in der gebotenen Kürze auf den Begriff und die Arten von Evaluationsforschung eingegangen werden. Evaluation bedeutet wörtlich übersetzt Bewertung und bezieht sich auf einen Prozess zur Beurteilung eines Produkts, Prozesses oder Programms (Gollwitzer & Jäger, 2014). In der Evaluationsforschung kommen sozialwissenschaftliche Methoden und zuvor festgelegte Regeln bzw. Kriterien zur Bewertung des Gegenstandes zur Anwendung. Die unterschiedlichen Arten von Evaluationen können anhand der Rahmenbedingungen, der Evaluationsmodelle, der Ausrichtung der Evaluation, dem Zeitpunkt der Evaluation, den Durchführungsmodi und Formen der Metaevaluation unterschieden werden (vgl. zur Übersicht ebd., S. 27ff.). Die Studien im Arbeitsfeld der Erziehungs- und Familienberatung können überwiegend als Evaluationsforschung bezeichnet werden. Dabei handelt es sich durchweg um Evaluationen im Feld, die sich stark an der Praxis orientieren. In der Qualitätsdiskussion der Erziehungsberatung wird dabei zwischen Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität unterschieden (vgl. Menne, 2017). Bei den publizierten Studien handelt es sich meist um Prozess- und/oder Ergebnisevaluationen, die weiterhin darin differenziert werden können, ob sie intern (Selbstevaluation) oder extern (Fremdevaluation) durchgeführt wurden. Zumeist wird dabei eine Stichprobe gewählt, die der Grundgesamtheit der Adressatinnen der Erziehungsberatung möglichst entspricht (alle Klienten in einem bestimmten Zeitraum werden befragt) und entsprechend dem eklektischen Vorgehen und der Multidisziplinarität von Beratung wird dabei kein spezieller Beratungsansatz (wie z. B. systemische Beratung) untersucht, sondern das Ergebnis der Beratungsleistung an sich. Da sich die vorliegende Arbeit mit der Wirkung von Familienberatung auseinandersetzt,

44

Erziehungs- und Familienberatung

soll in den folgenden Ausführungen der Schwerpunkt auf dieser »Outcome«orientierten Variante der Evaluations- und Beratungsforschung liegen. Heekerens (1998) beschreibt in seiner Übersichtsarbeit zwei Arten von Wirksamkeit, die in Interventionsforschungsstudien untersucht werden: efficacy und effectivness. Ersteres meint die Untersuchung der Wirkung von Beratung und Therapie unter Laborbedingungen, letzteres Forschung unter realen Praxisbedingungen. Anders als in der Psychotherapieforschung (vgl. Lambert, 2013), in welcher Kontrollgruppendesigns als beste Möglichkeit gelten, die Wirksamkeit (efficacy) einer Therapie zu messen, stützen sich die bisherigen Erkenntnisse in der Beratungsforschung auf Studien, die praxisnah im Feld durchgeführt worden sind (effectivness-Studien) (vgl. Arnold, Macsenaere & Hiller, 2018; Vossler, 2012). Methodisch anspruchsvolle Wirksamkeitsforschung ist, so Vossler (2012), in der Erziehungs- und Familienberatung Mangelware. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass Ergebnisevaluationen im Feld mit methodischen Herausforderungen konfrontiert sind, die wie folgt zusammengefasst werden können (vgl. ebd., S. 256ff.): 1. Heterogenität des Forschungsgegenstandes. Im Vergleich zur Psychotherapieforschung, welche mit abgegrenzten Störungsbildern (z. B. Soziale Phobie), teilweise standardisierten, schulenspezifischen Therapieansätzen und einheitlichen Settings arbeitet, hat die Familienberatung es mit heterogenen Problemlagen der Klientinnen, eklektisch genutzten Beratungsmethoden und -techniken und häufig wechselnden Settings (Einpersonen- und Mehrpersonensettings) zu tun. 2. Definition und Messung des Beratungserfolges. Das Bewertungskriterium für eine erfolgreiche Beratung kann unterschiedlich festgelegt werden. So geht es in der Beratung neben einer Symptom- oder Problemveränderung häufig auch um die Zufriedenheit der Klienten. Die Messung des Outcomes ist zudem abhängig von der Art der Messung und dem Zeitpunkt der Erhebung (z. B. retrospektive vs. prospektive Erfassung). 3. Einfluss von Kontextvariablen und externen Faktoren. Ebenso wie für die ambulante Psychotherapieforschung gilt für die Beratungsforschung, dass der Verlauf und das Ergebnis immer in starkem Maße von Kontextfaktoren (z. B. institutionelle Rahmenbedingungen), Veränderungen in der Familie und dem sozialen Umfeld (z. B. Trennung und Scheidung) sowie anderen Einflussfaktoren (z. B. kindliche Entwicklungs- und Reifungsprozesse) abhängig sind, die nur schwerlich kontrolliert werden können.

45

Evaluations- und Beratungsforschung

Tabelle 4 baut auf den Übersichten von Vossler (2006) und Roesler (2017) auf und zeigt die bedeutsamsten Evaluationsstudien in der Erziehungs- und Familienberatung mit ihrem Studiendesign, der untersuchten Stichprobe und dem hauptsächlichen Erhebungsinstrument.6 Tabelle 4: Übersicht der Evaluationsstudien zur Wirksamkeit von Erziehungsberatung (in Anlehnung an Vossler, 2006 und Roesler, 2017) Autoren (Jahr)

Studiendesign

Stichprobe

Erhebungsmethode

Sakofski & Kämmerer (1986)

Retrospektive Befragung (FE), 1 bis 2 Jahre nach BE

N = 70 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Straus, Höfer & Gmür (1988)

Retrospektive Befragung (FE), 3 Monate bis 3 Jahre nach BE Retrospektive Befragung (SE), 9 Monate bis 2 Jahre nach BE

N = 105 (83 Eltern, 22 Kinder, uP)

Halbstrukturierte Interviews

N = 186 (Eltern, uP)

Telefoninterviews

Retrospektive Befragung (SE), direkt nach dem EG Retrospektive Befragung (FE), nach 3. Sitzung und BE

N = 45 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Zürn, Bosselmann, Arend & LieblWachsmuth (1990) Frey (1991) Kaisen (1992)

N = 111 Fragebögen (selbst (Eltern, uP) entwickelt) (N = 40, Berater) Fragebogen (selbst entwickelt)

Naumann & Beck Retrospektive (1994) Befragung (FE), mind. 1 Jahr nach BE Lenz (1994) Retrospektive Befragung (SE), mind. 1 Jahr nach BE

N = 69 (Eltern, uP) (N = 64, Berater) N = 93 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Jakob (1996)

Retrospektive Befragung (SE), 1 bis 2 Jahre nach BE Retrospektive Befragung (SE), bis max. 1 Jahr nach BE

N = 35 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

N = 560 (uP)

Fragebogen (selbst entwickelt)

Retrospektive Befragung (SE), unmittelbar nach BE

N = 443 (Eltern und Jugendliche, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Lang, HerathSchugsties & Kilius (1997) Nitsch (1997)

6 Ältere Beispiele für zahlreiche kleinere oder unveröffentlichte Untersuchungen im Arbeitsfeld vgl. z. B. Oetker-Funk (1998) oder Lindner (2004).

46

Erziehungs- und Familienberatung

((Fortsetzung)) Autoren (Jahr)

Studiendesign

Stichprobe

Erhebungsmethode

Meyle (1998)

Retrospektive Befragung (FE), 1 bis 2 Jahre nach BE

N = 34 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Lenz (2001)

Befragung (FE) während der Beratung und nach BE Quasi-Experiment (FE), Befragung zu vier Messzeitpunkten (zu Beginn, während, unmittelbar nach der Beratung und 1 Jahr nach BE)

N = 100 (Kinder, uP) (N = 40, Berater) N = 44 (Eltern und Kinder, psychosoziale Auffälligkeiten der Kinder)

Leitfadeninterviews

Retrospektive Befragung (FE), 2 bis 3 Jahre nach BE (Interviews bis zu 4 Jahre nach BE)

N = 108 (Eltern, Jugendliche und Berater, uP)

Schmidt et al. (2002) (JugendhilfeEffekte-Studie)

Vossler (2003)

Mehrere Instrumente: Fragebögen (selbst entwickelt/ validiert und standardisierte Inventare) Mehrere Instrumente: Fragebögen (selbst entwickelt/ validiert), Interviews mit Jugendlichen Telefoninterviews

Schulz & Schmidt Retrospektive (2004) Befragung (FE), 8 Monate bis 1,5 Jahre nach BE

N = 70 (Eltern, uP)

Reissmann & Jakob (2007)

Retrospektive Befragung (SE), 6 Monate nach BE Retrospektive Befragung (FE) zu zwei Messzeitpunkten (unmittelbar nach der Beratung und 6 Monate nach BE)

N = 28 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

N = 353 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

Retrospektive Befragung (FE), 6 Monate bis 1,5 Jahre nach BE Retrospektive Befragung (FE), mind. 6 Monate nach BE

N = 172 (Eltern, uP)

Fragebögen (selbst entwickelt)

N=8 (Eltern, uP)

Halbstrukturierte Interviews

Menne (2008) (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung) Svoboda (2011)

Steins & Zingsem (2015)

47

Evaluations- und Beratungsforschung

((Fortsetzung)) Autoren (Jahr)

Studiendesign

Stichprobe

Erhebungsmethode

Roesler (2017)

Retrospektive Befragung (FE), unmittelbar nach BE (Berater : zu Beginn und unmittelbar nach BE

N = 270 (Eltern und Berater, uP)

Mehrere Instrumente: Fragebögen (selbst entwickelt und standardisierte Inventare), Interviews mit Eltern

Prospektive Befragung N = 5585 (Eltern) Fragebögen (selbst (FE) zu drei N = 1019 entwickelt/ validiert) Messzeitpunkten (zu (Jugendliche) Beginn, während, N = 5826 unmittelbar nach der (Berater) Beratung) uP BE=Beratungsende; EG=Erstgespräch; FE=Fremdevaluation; SE=Selbstevaluation; uP= unterschiedliche Problematiken Arnold, Macsenaere & Hiller (2018) (Wir.EB Studie)

Die Auflistung der Untersuchungen zeigt zum einen die Fülle, aber auch die Problembereiche der Studienlage zum Outcome im Bereich Erziehungsberatung auf. Bis auf wenige Ausnahmen können die Defizite der bisherigen Studien folgendermaßen zusammengefasst werden: – In der überwiegenden Mehrzahl handelte es sich um katamnestische Untersuchungsdesigns. Eine Messung der Auswirkungen von Familienberatung erfolgte in diesen Studien nur retrospektiv. – Als Erhebungsmethoden kamen in der Mehrzahl der Studien selbst entwickelte Fragebögen zum Einsatz. Der Vorteil, dieses Instrument auf die individuellen Bedarfe genau anpassen zu können, steht dem Nachteil gegenüber, der sich durch die meist unzureichenden Gütekriterien des nicht standardisierten Instruments ergibt. Weiterhin wird eine Vergleichbarkeit mit anderen Studien, z. B. aus der Psychotherapieforschung, aber auch eine Vergleichbarkeit im Bereich Erziehungsberatung limitiert. – Ein anderer Aspekt der Erhebungsmethode bezieht sich auf die Nutzung entweder quantitativer Befragungen oder qualitativer Interviews, anstatt mit einem multimodalen Vorgehen unterschiedliche Aspekte des Beratungsergebnisses zu erfassen. – Ebenso kann die mangelnde Multiperspektivität als kritisch erachtet werden. Die meisten der gelisteten Studien betrachteten Wirkung und Erfolg nur aus einer Perspektive, der der Eltern. Kinder und Beraterinnen wurden meist überhaupt nicht in die Evaluation eingebunden (vgl. Lenz, 2001). – Anzumerken wäre ebenso, dass Studien, die in interner Evaluation durchgeführt werden, immer einem Risiko der fehlenden Unparteilichkeit ausge-

48

Erziehungs- und Familienberatung

setzt sind, da Mitarbeiter meist daran interessiert sind, dass ihre eigene Leistung wirkungsvoll ist.

2.6.1 Zentrale Ergebnisse bisheriger Untersuchungen Trotz dieser und anderer nachteiliger Faktoren der bisherigen Studien zur Erziehungsberatung vergleicht Vossler (2012, S. 259ff.) die Ergebnisse von 12 Katamnesen und kommt zu folgender Zusammenfassung: – Die Zufriedenheit der Klientinnen mit der Beratung war in allen Studien hoch, in einigen sogar sehr hoch. Über die einbezogenen Studien hinweg waren durchschnittlich 80 % der Eltern überwiegend oder vollständig zufrieden mit der Beratung. Zudem waren in diesen Studien 90 % der Befragten zufrieden mit ihrer Beziehung zur Beraterin und 80 % bis 95 % fühlten sich von ihrem Berater verstanden und akzeptiert. In der Studie von Roesler (2017) wurden bei 270 Klienten sogar Zufriedenheitswerte von mehr als 98 % erreicht (Angaben: überwiegend oder immer zufrieden). – Hinsichtlich der Verbesserung der Symptome berichteten 68 % der Klientinnen von teilweisen oder vollständigen Besserungen. – Häufiger wurden emotionale Entlastungs- und Unterstützungseffekte durch die Beratungsgespräche angegeben. Durchschnittlich 81 % (aus fünf Katamnesen, in denen danach gefragt wurde) der Klienten berichteten dies als positiven Effekt. – Bei 85 % der Ratsuchenden bewirkte Erziehungs- und Familienberatung eine veränderte Problemsicht in der Weise, dass die Symptome und Schwierigkeiten nicht mehr isoliert gesehen, sondern im Kontext der familiären Beziehungen verstanden werden konnten (vgl. Roesler, 2017). – Ebenfalls schien die Beratung eine positive Auswirkung auf das Familienklima und die Beziehungen untereinander zu haben. So berichteten durchschnittlich 64 % der Klientinnen (aus sieben retrospektiven Studien) über positive Veränderungen in diesem Bereich. Negative Äußerungen (bei 19 bis 34 % der Klientinnen) wurden für folgende Bereiche angegeben (vgl. Roesler, 2017, S. 222): – Enttäuschung über die Veränderungsmöglichkeiten im Rahmen der Beratung, – unzureichende Alltagsnähe der Beratungen, – zeitliche Rahmenbedingungen wie Wartezeit, Häufigkeit oder Dauer der Gespräche sowie – zu wenig konkrete Vorschläge und Unterstützungshilfen bei der Problemlösung.

Evaluations- und Beratungsforschung

49

In der weiteren Debatte um die Wirksamkeit der Erziehungsberatung steht dabei immer wieder das von Vossler (2006) so benannte »Diskrepanzphänomen« im Fokus. Damit weist er auf eine Unstimmigkeit hin, die sich in einigen Studien zeigt: Klientinnen waren auch dann mit der Beratung zufrieden, wenn ihre Probleme nur teilweise oder auch wenig gelöst wurden. Ebenso gab es zuweilen stark unterschiedliche Erfolgseinschätzungen von Beratern und Adressaten (Kaisen, 1992; Vossler, 2003). Roesler (2017) kommt zum Schluss, dass eine veränderte Sicht auf die Probleme, eine emotionale Entlastung in der Beratung und der daraus entstehende neue Umgang mit den Schwierigkeiten das eigentliche Beratungsergebnis darstellen. Auch wenn bei über 50 % der Klientenfamilien die Anfangsproblematik weiterhin auftreten würde, also nicht überwiegend oder vollständig gebessert sei, scheint die Beratung für die Adressaten dennoch ein Erfolg gewesen zu sein (vgl. ebd.). Aus professioneller Sicht hält Roesler (2017) allerdings dagegen: »Nach wie vor ist es durchaus möglich, dass die hohen Zufriedenheitswerte dem Umstand geschuldet sind, dass Klienten aufgrund der positiven Beziehung, die sie zum Berater haben – und die ja auch empirisch bestätigt ist –, diesem durch eine negative Bewertung nicht schaden wollen. Auch mag es tatsächlich der Fall sein, dass die Eltern mit der Beratung zufrieden sind und sich möglicherweise sogar der Umgang mit den Kindern verändert. Wenn sich dies aber nicht in einer Reduzierung der Symptombelastung der Kinder niederschlägt, dann wäre das Ziel von Erziehungsberatung sicher nicht erreicht; über diesen letzten Umstand weiß man empirisch allerdings bislang zu wenig« (ebd., S. 228ff.).

Dies wirft ein Schlaglicht auf die beiden umfangreichsten Forschungsstudien in der Erziehungs- und Familienberatung, die schon mehrfach zitierte JugendhilfeEffekte-Studie (JES; vgl. Schmidt et al., 2002) und die Studie zur Wirkungsevaluation in der Erziehungsberatung (Wir.EB; vgl. Arnold et al., 2018). Da diese Studien auch Aussagen zu Effekten bezüglich der Probleme der Kinder/Jugendlichen beinhalten, sollen beide mit ihren zentralen Ergebnissen gesondert vorgestellt werden. Ergebnisse von JES und Wir.EB In der multizentrischen JES-Studie wurde neben vier anderen Bereichen der Hilfen zur Erziehung auch Erziehungsberatung anhand von 44 Familien mit Kindern zwischen 4,5 und 13 Jahren erhoben. Die Studie zielte insbesondere darauf ab, die Hilfearten hinsichtlich Prozess- und Outcomevariablen miteinander zu vergleichen. Im Fokus standen vor allem die Auffälligkeiten der Kinder, ihre Fähigkeit, alterstypische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, und die Einschätzung der familiären Belastung. Unter anderem wurden die Auffälligkeiten der Kinder mit dem Elternfragebogen der Child Behavior Checklist (Achenbach, 1991; Döpfner, Plück & Kinnen, 2014) gemessen, so dass ein

50

Erziehungs- und Familienberatung

elaboriertes und weit verbreitetes klinisches Instrument vorlag. Für alle Bereiche konnten von Beginn der Beratung bis zum Abschluss signifikante Verbesserungen festgestellt werden. Hinsichtlich der Auswirkungen im psychosozialen Funktionsniveau sowie bei der klinischen Auffälligkeit der Kinder konnte Erziehungsberatung allerdings nur durchschnittliche Effekte erzielen. Überdurchschnittliche Effekte konnte JES jedoch für die Erziehungsberatung im Wirkungsbereich des familiären Umfelds des Kindes belegen. Als Limitationen können der geringe Stichprobenumfang sowie die mangelnde Repräsentativität der Studie (alle Klienten wurden, für die Erziehungsberatung unüblich, über ein Hilfeplanverfahren im Jugendamt rekrutiert) angeführt werden (vgl. Vossler, 2012). Wir.EB war im Vergleich zu JES vor allem auf ein repräsentatives Studiendesign im Feld der Familienberatung angelegt. Die bundesweite Studie, die in 88 Erziehungsberatungsstellen durchgeführt wurde, zielt dabei in erster Linie darauf ab, ein valides Evaluationsinstrument zu entwickeln, das für den Einsatz in Beratungsstellen tauglich ist. Die entwickelten Fragebögen orientieren sich nicht an einem klinischen Modell, sondern am sozialwissenschaftlichen Capability Approach (Befähigungsansatz) (vgl. Mührel, Niemeyer & Werner, 2017) und wurden in unterschiedlichen Ausführungen für Eltern, Kinder über zehn Jahre und für Berater zu mindestens zwei Messzeitpunkten (Prä-Post-Design) angewandt (vgl. Arnold & Macsenare, 2018). Wie bei anderen Studien der Erziehungsberatung lag auch bei Wir.EB mit rund 90 % eine sehr hohe Klientenzufriedenheit vor. Weiterhin konnte die Studie hochsignifikante Veränderungswirkungen verbunden mit sehr hohen Effektstärken, insbesondere bei den intendierten Wirkungen, also von den Klienten als veränderungsbedürftigen Bereichen, ermitteln. »Auf den Punkt gebracht zeigen die zentralen Ergebnisse zur Wirksamkeit bzw. Effektivität, dass Erziehungsberatung erhebliche Verbesserungen im familiären Zusammenleben der ratsuchenden Menschen bewirkt und neben einer Förderung der Erziehungskompetenz insbesondere dazu beiträgt, dass sowohl Eltern, als auch junge Menschen (JM) besser mit belastenden Situationen umgehen können« (Arnold et al., 2018, S. 96).

Obschon es sich für das Arbeitsfeld um eine repräsentative und wichtige Studie handelt, können auch hier Beschränkungen festgemacht werden. Methodisch war Wir.EB eine reine Fragebogenstudie, die andere Erhebungsmethoden nicht berücksichtigte. Ebenso wurden jüngere Kinder nicht angemessen berücksichtigt, da für sie keine Version des Fragebogens vorlag. Zudem sei die sozialwissenschaftlich-theoretische Fundierung des Erhebungsinstruments angesprochen. Einerseits etabliert diese nicht-klinische Orientierung Erziehungsberatung passend in einem breiten sozial- und erziehungswissenschaft-

Evaluations- und Beratungsforschung

51

lichen Diskurs (vgl. Bauer & Weinhardt, 2014; Gieseke & Nittel, 2016), andererseits damit divergent zu ihrem eigenen psychotherapienahen Handeln und dem Habitus ihrer Fachkräfte. Vergleiche von beraterisch-therapeutischen Interventionen mit Kindern in der Familienberatung und therapeutischen Interventionen in der Kinderpsychotherapie werden auf diese Art erschwert.

2.6.2 Angrenzende Beratungsforschung Nationale wie internationale Beratungsforschung erscheint im Allgemeinen mal mehr, mal weniger psychotherapienah. Auffällig dabei ist, dass der BeratungsOutcome bzw. die Wirksamkeit beraterischer Interventionen im nationalen beratungswissenschaftlichen Diskurs eher randständig oder überhaupt nicht behandelt wird (vgl. Dewe, 2018; Heiner, 2007; Hoff & Zwicker-Pelzer, 2015; Möller & Hausinger, 2009; Schrödter, 2007). McLeod (2013) zeigt in seinem Aufsatz die vielfältigen Möglichkeiten und Ziele auf, denen sich eine Beratungsforschung widmen kann und sollte. Mit Blick auf US-amerikanische couseling-Studien wird offenbar, dass dortzulande Beratung vor allem in therapeutischer Tradition zu stehen scheint (vgl. Erford, 2014). Outcome Research ist daher in den USA weit tiefer in einer deutlich stärker konturierten Profession verankert, wie z. B. einschlägige Periodika7 belegen. Eine aktuelle Metaanalyse von Erford et al. zeigt, dass psychosoziale Beratung sich durchaus auch mit den Auswirkungen ihrer Interventionen auf klinische Probleme wie Verhaltensstörungen von Jugendlichen beschäftigt (Erford, Bardhoshi, Ross, Gunther & Duncan, 2017). Für den deutschen Sprachraum markieren beispielsweise die Studie von Sperth, Hofmann & Holm-Hadulla (2013) oder die Übersicht von Vossler (2014) die Nähe zum therapeutischen Forschungsbereich. Trotz vieler Verbindungslinien, die im Arbeitsfeld der Erziehungsberatung stark sein mögen, plädiert Engel (2003) dafür, dass Beratungsforschung und Therapieforschung als eigenständige Handlungsfelder diskutiert werden. Speziell benennt er in diesem Zusammenhang die Unterschiede zwischen Heilungsund Hilfediskurs, in die Psychotherapie und Beratung eingebunden sind (vgl. Kap. 2.4). In diesem Sinne konstatieren auch die Autoren und Unterzeichner der »zweiten Frankfurter Erklärung zur Beratung«, Beratungsforschung könne keine Therapieforschung sein (Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie [DGVT], 2013). So gehe es in der Beratungsforschung nicht als Outcome-Kriterium allein darum, die höhere Effizienz von Beratungsangeboten im Sinne eines »In-Schach-Haltens« sozialer Probleme nachzuweisen (ebd., S. 1839). 7 vgl. z. B. Counseling Outcome Research and Evaluation oder Measurement and Evaluation in Counseling and Development (beide Routledge Verlag).

52

Erziehungs- und Familienberatung

Betont wird demgegenüber eine Pluralität von Forschungsansätzen, insbesondere explorative Studien und eine empirische Fundierung der Theoriebildung. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich das vermeintliche Spannungsfeld, welches um die klaren Differenzierungslinien zwischen Beratung und Therapie herrscht, besonders deutlich und in einer Vielzahl von Facetten im Thema Evaluationsforschung zeigt. Interessanterweise sind bislang noch keine einzelnen Beratungsansätze (z. B. systemisch vs. verhaltensorientiert) in der Erziehungsberatung untersucht worden. Ebenso hat die Bindungstheorie und -forschung, die in der Psychotherapieforschung eine immer bedeutendere Rolle spielt (vgl. Strauß & Schwark, 2007; vgl. Kap. 3.7), jenseits konzeptioneller Überlegungen, wie in Kapitel 2.4.2 angeführt, noch keine Berücksichtigung in der Beratungsforschung erfahren. Lediglich Zimmermann und ScheuererEnglisch (2013) untersuchten auffällige Kinder zwischen acht und 12 Jahren, aus Erziehungsberatungsstellen und aus kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, und verglichen diese mit einer unbelasteten Kontrollgruppe. Im Ergebnis zeigten die Kinder, die in einer Beratungsstelle angemeldet waren, eine signifikant unsicherere Bindung als die Kinder der Kontrollgruppe. Studien zur Veränderung von Bindungsmaßen nach psychosozialer Beratung liegen bislang nicht vor. Hierfür sei auf ein späteres Kapitel verwiesen, das sich dieser Thematik nochmals eingehend widmet (vgl. Kap. 3.7.2). Bevor nun im dritten Abschnitt die Bindungstheorie erläutert und weiter vertieft wird, soll abschließend ein kurzer Blick auf den Durchführungsort der empirischen Studie geworfen und somit Aufschluss über die lokalen Rahmenbedingungen gegeben werden.

2.7

Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Kerpen

Die Stadt Kerpen liegt weniger als zehn Kilometer westlich von Köln in Nordrhein-Westfalen im sogenannten rheinischen Braunkohlerevier. Sie ist mit etwas mehr als 67.000 Einwohnern die größte Stadt des Rhein-Erft-Kreises und blickt mittlerweile auf eine mehr als eintausend jährige Geschichte zurück (vgl. Kolpingstadt Kerpen, 2017a). Die Bevölkerung Kerpens wurde lange Jahre durch den Braunkohletagebau geprägt. In der Stadt haben sich nach und nach einige Unternehmen angesiedelt und die Einwohnerzahl steigt seit Jahren kontinuierlich an. Der Ausländeranteil lag 2014 bei 11.7 %. 47 % der Bevölkerung Kerpens bekannte sich im gleichen Jahr zur römisch-katholischen Konfession mit sinkender Tendenz (vgl. Kolpingstadt Kerpen, 2015). Seit etwa zehn Jahren steigt hingegen die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten in Kerpen wieder an, so dass die Arbeitslosenquote 2016 bei 7.9 % lag (vgl. Kolpingstadt Kerpen, 2017b). In der Stadt befanden sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Arbeit

Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Kerpen

53

36 Kindertagesstätten, 11 Grundschulen, zwei Hauptschulen, zwei Realschulen, eine Gesamtschule, ein Gymnasium sowie zwei Berufsschulen und eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle besteht auf Kerpener Stadtgebiet seit 1969; zunächst bis Juni 2017 im Kerpener Stadtteil Horrem, seit dem 01. 07. 2017 in der Kölner Straße 15 im Zentrum Kerpens. Die Beratungsstelle ist dort zusammen mit anderen sozialen Diensten und Einrichtungen, jedoch mit eigenen separaten Räumlichkeiten im »Haus der Familie« untergebracht. Die Verkehrsanbindung ist durch eine Bushaltestelle unmittelbar vor dem Gebäude gesichert und auch der alte Standort der Familienberatung in der Mittelstraße 1 war verkehrstechnisch gut erreichbar. Die Institution wird durch den Caritasverband für den Rhein-Erft-Kreis e.V. getragen und arbeitet von Beginn an als Erziehungsberatungsstelle (§ 28 SGB VIII) mit wechselnden Bezeichnungen (»Psychologischer Beratungsdienst«, Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche«, »Familienberatungsstelle«) für die Bürgerinnen in Kerpen. Sie wird finanziert durch die Stadt Kerpen, das Erzbistum Köln und das Bundesland Nordrhein-Westfalen, wobei die Kommune den größten finanziellen Anteil zur Verfügung stellt. Im Zeitraum der Entstehung dieser Arbeit hielt die Beratungsstelle 8,15 Stellen für Beratungsfachkräfte (inkl. Leitung) und 1,25 Stellen für das Sekretariat vor, die sich auf folgende Professionen und Mitarbeiter verteilten: – Zwei Diplom-Psychologinnen (davon eine Leitung), – zwei Diplom-Sozialpädagoginnen, – zwei Diplom-Sozialarbeiterinnen, – vier Diplom-Heilpädagoginnen, – eine pädagogisch-therapeutische Fachkraft für Migration sowie – zwei Sekretärinnen/Teamassistentinnen. Im Team der Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen verfügt jede Fachkraft über eine oder mehrere Zusatzqualifikationen in einem beraterischtherapeutischen Verfahren. Vertreten sind mehrjährige zertifizierte, curriculare Aus- und Weiterbildungen vor allem in systemischer Therapie und Beratung, personenzentrierter Psychotherapie und Beratung sowie tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Weitere Verfahren wie Supervision, Hypnotherapie oder Traumatherapie ergänzen die beraterisch-therapeutischen Kompetenzen des Teams. Drei Mitarbeiter sind weiterhin als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen approbiert. Die Zahl der bearbeiteten Beratungsfälle betrug in den vier Jahren von 2014 bis 2017 durchschnittlich 922 Fälle. Die überwiegende Zahl der Klienten waren Eltern, die sich auf eigene Initiative bei der Beratungsstelle anmeldeten (40 %), gefolgt von Eltern, die eine Anregung aus der Schule ihres Kindes erhielten (24 %). Ein Familienberatungsprozess dauerte

54

Erziehungs- und Familienberatung

2017 bei fast einem Drittel der Fälle sechs bis acht Monate (31 %) (vgl. Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen 2018a). Zu den Qualitätsmerkmalen der Erziehungsberatungsstelle in Kerpen zählen (vgl. Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen, 2018b): – Die Kostenfreiheit, die Freiwilligkeit und auf Wunsch die Anonymität der Beratung. Alle Mitarbeiter, insbesondere die Beratungsfachkräfte, unterliegen der gesetzlichen Schweigepflicht. – Sowohl Beratung als auch die einzelnen Prozesse in der Arbeit werden zum Wohl des Kindes eingesetzt. – Die Niederschwelligkeit des Angebots für Familien und deren einzelne Mitglieder sowie pädagogische Fachkräfte in der Stadt Kerpen wird gewährleistet. Beratung soll auch kurzfristig und ohne Hürden zur Verfügung stehen. Dazu hält die Familienberatungsstelle vor: – Erstgesprächstermine werden immer innerhalb von vier Wochen vergeben. Es gibt eine wöchentliche offene Sprechstunde, um kurze Wartezeiten zu gewährleisten. – Jugendliche Selbstanmelder bekommen einen Erstgesprächstermin innerhalb von 48 Stunden an Werktagen. – Die Beratung findet in der Beratungsstelle, vor Ort in den einzelnen Institutionen (z. B. in Schule oder Kindertagesstätte) oder als Online-Beratung statt. – Die Beratungsstelle ist leicht erreichbar, liegt zentral und ist an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Die Erreichbarkeit ist ebenso telefonisch und per E-Mail gewährleistet. – Die Beratungsstelle verfügt über ansprechende Räumlichkeiten mit mehreren Beratungs- und Therapieräumen, Spieltherapiezimmern, einem Gruppenraum, Sekretariat, Wartezimmer und einer Bibliothek. – Die Arbeit wird bei Bedarf geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Im Einzelfall wird insbesondere bei Jugendlichen geprüft, ob ein Mann oder eine Frau besser als Beratungsfachkraft geeignet ist. – Die Beratungsstelle hat eine christliche, katholische Orientierung und gibt damit den Klienten die Gewissheit, dass jeder Mensch gleichermaßen wertgeschätzt und beraten wird. Die Beratung ist nicht abhängig von Religion, Weltanschauung, Herkunft und sexueller Orientierung. Damit schließt der zweite Abschnitt und verlässt den engeren Bereich der Erziehungs- und Familienberatung. Das nächste Kapitel, welches ebenso grundlegend für die empirische Studie dieser Arbeit ist, widmet sich der Bindungstheorie und -forschung.

3

Bindungstheorie und -forschung

In diesem Kapitel sollen die Bindungstheorie und die von ihr ausgehende Bindungsforschung mit ihren für diese Arbeit bedeutsamsten Merkmalen beschrieben werden. Daher soll zunächst ein Überblick über die grundsätzlichen Annahmen und Postulate der Bindungstheorie gegeben werden (Kap. 3.1), bevor im darauffolgenden Kapitel grundlegende Befunde der Bindungsforschung zusammengestellt werden (Kap. 3.2). Da diese Arbeit sich besonders mit der Altersspanne von sechs- bis zehnjährigen Kindern beschäftigt, wird im anschließenden Teilabschnitt Bindung und Bindungsforschung im Vorschulund Grundschulalter näher beleuchtet (Kap. 3.3), bevor sodann ausgewählte Bindungsaspekte des Erwachsenenalters referiert werden (Kap. 3.4). Die folgenden drei Kapitel streifen zentrale Themen, die Bindung auf Problemstellungen und Interessengebieten der Familienberatung und -therapie beziehen. Zunächst wird ein Blick auf Verhaltensauffälligkeiten von Kindern aus einer entwicklungspsychopathologischen und bindungstheoretischen Perspektive geworfen (Kap. 3.5). Im Anschluss werden einzelne Gesichtspunkte elterlichen Erziehungsverhaltens angeführt und insbesondere ihr Zusammenhang mit Bindung und Verhaltensauffälligkeit dargelegt (Kap. 3.6). Das letzte dieser drei Kapitel beschäftigt sich, auch in Ermangelung entsprechender Untersuchungen in der Beratungsforschung, mit der Studienlage zu Bindung in der Psychotherapieforschung (Kap. 3.7). Hier werden Hinweise angeführt, die dafür sprechen, dass Bindungsmerkmale sich nach einer therapeutischen Intervention bei Patienten/Klientinnen verändern können. Kapitel 3.8 fasst die wesentlichen Inhalte der beiden Grundlagenkapitel zur Erziehungs- und Familienberatung und zur Bindungstheorie und -forschung nochmals zusammen, bevor in Kapitel 3.9 dann die daraus abgeleiteten Forschungsfragen und Hypothesen angeführt werden, welche für die empirische Untersuchung leitend waren.

56

Bindungstheorie und -forschung

3.1

Bindung und Bindungstheorie

Die Konzeptualisierung des evolutionsbiologisch angelegten Bedürfnisses nach Bindung (attachment) geht auf den britischen Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907–1990) zurück, der in seiner dreibändigen Abhandlung »Bindung und Verlust« (attachment and loss) (Bowlby, 1969/2006, 1973/2006, 1980/2006) die Grundpfeiler der Bindungstheorie darlegte. Bindung ist demnach eine spezifische Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern bzw. Bezugspersonen, die es hinreichend konstant betreuen. Im Vergleich zu anderen Beziehungen bietet die Bindungsbeziehung dem Kind in besonderer Weise Sicherheit und Schutz, damit es sich neugierig und erkundend seiner Umwelt zuwenden kann (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012). Bereits früh in seiner professionellen Karriere, weit vor der Veröffentlichung von »Bindung und Verlust«, beschäftigte sich Bowlby praktisch und konzeptionell mit verhaltensgestörten Kindern. Dabei erkannte er unter anderem, dass eine Notwendigkeit bestand, ebenso mit den Müttern dieser Kinder zu arbeiten, da deren eigene Belastungen sich in deren Erziehungskompetenz niederschlugen (vgl. Julius, Gasteiger-Klicpera & Kißgen, 2009). In seinem Bericht an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1951 stellte er fest, dass Kinder, deren emotionale und kognitive Bedürfnisse kaum Beachtung finden und die anhaltend von ihrer Hauptbindungsperson getrennt sind, ein beträchtliches Entwicklungsrisiko aufweisen, wenn sich kein adäquater Ersatz für diese Bindungsperson findet (Bowlby, 1951). Eine der ersten publizierten Verwendungen des Bindungsbegriffs findet sich in Bowlbys Artikel »The nature of the child’s tie to his mother« (1958), in dem er damit das reziproke Verhältnis zwischen Mutter und Kind beschreibt. Hier lässt sich auch deutlich eine divergierende Auffassung im Verhältnis zur damaligen Psychoanalyse konstatieren, indem er nicht die physiologische Triebbefriedigung als vorrangig vor dem Bedürfnis nach Nähe sah. Heute ist die Bindungstheorie zu einem empirisch gut belegten und umfassenden Konzept für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen angewachsen (Bowlby, 1995). Vor allem die empirischen Studien, die Mary D. Salter Ainsworth in ihrer Zeit als Mitarbeiterin in Bowlbys Forschungsgruppe vorlegte (Ainsworth & Wittig, 1969; Ainsworth, 1973), konnten erstmals die Bindungstheorie empirisch fundieren und führten zur Bindungsforschung, wie sie heute vor allem innerhalb der akademischen Forschung Anwendung findet. In Anlehnung an Ainsworth, Blehar, Waters und Wall (1978) definieren Gloger-Tippelt und König (2016) Bindung wie folgt: »Der Begriff der Bindung bezeichnet in der Bindungstheorie das spezifische emotionale Band, das sich zwischen zwei Personen, insbesondere zwischen Kleinkindern und

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ihren hauptsächlichen Fürsorgepersonen, in der Regel den Eltern, entwickelt. Dieses Gefühlsband zwischen Mutter und Kind oder Vater und Kind ist jeweils einzigartig und von besonderer Qualität, es wird durch die Beziehung organisiert und verbindet beide Partner über längere Zeit und unabhängig von ihrem Aufenthaltsort« (S. 22). [Hervorh. i. O.]

König (2018) betont, dass das emotionale Band (attachment bond) in der Bindungstheorie als ein überdauerndes stabiles Merkmal einer Person verstanden wird. Insofern geht es bei Bindung nicht vorrangig um eine gefühlsmäßige Verbundenheit (affectional bond), welche auch in anderen nahen Beziehungen gegeben sein kann, die nicht als Bindungsbeziehungen verstanden werden. Kennzeichen einer Bindungsbeziehung ist hingegen, dass es eine unumkehrbare Rollenverteilung gibt, die der Bindungsperson die Aufgabe zuschreibt, als »sichere Basis« (secure base) und »sicherer Hafen« (save haven) zur Verfügung zu stehen (ebd.). Damit sind spezifische Funktionen der Bindungsbeziehung beschrieben, die der Emotionsregulation (insbesondere Angstminderung) einer Person dienen und damit letztlich der Beruhigung des Bindungsverhaltenssystems. Ein Kind baut dabei, in zeitlich nur ungefähr voneinander abgegrenzten Phasen, ein emotionales Band bzw. eine Bindung zu einer Bezugsperson auf (primäre Bindungsperson), auf die sich in der Folge sein Bindungsverhalten richtet. Eltern-Kind-Beziehungen umfassen in der Regel sowohl Aspekte der emotionalen Verbundenheit (affectional bond), da sich Eltern und Kind lieben und eng miteinander verbunden sind, als auch den Aspekt des emotionalen Bandes (attachment bond), da Mutter und Vater in der Folge zu den maßgeblichen Bindungspersonen werden, die ihrem Kind versuchen Schutz und Sicherheit in bindungsrelevanten Situationen zu bieten. Kinder bauen jedoch auch ohne eine gefühlsmäßige Verbundenheit ein emotionales Band zu Personen auf, mit denen sie häufiger soziale Interaktionen haben, die größer und stärker erscheinen, selbst wenn solche Eltern ihrem Kind nur unzureichend Sicherheit vermitteln oder es gar misshandeln (vgl. König, 2018). Insofern kann die Bindungstheorie als eine Entwicklungstheorie bezeichnet werden, die sich sowohl mit der normalen bzw. gesunden als auch mit der abweichenden bzw. pathologischen Entwicklung von Menschen beschäftigt. Uneinigkeit besteht darüber, welchen Organisationsprinzipien Bindungsbeziehungen, die zu verschiedenen Bindungspersonen aufgebaut werden, unterliegen. So ging Bowlby nach Revision seiner Monotrophiehypothese8 davon aus, dass Kinder ihre Bindung in einer Art Hierarchie organisieren, in der sie eine primäre Bindungsfigur anderen, untergeordneten Bindungspersonen gegenüber bevorzugen. Andere Forscher stellten davon abweichend eine andere Hy8 Diese Hypothese ging anfänglich davon aus, dass sich ein Kind an nur eine Person, die Mutter bzw. einen Mutterersatz, binden kann (vgl. Bowlby, 1958).

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pothese auf, die sie Extensionshypothese nannten, und empirisch zu untermauern versuchten (vgl. Tavecchio und van IJzendoorn, 1987). Nach dieser Annahme werden mehrere Bindungspersonen nebeneinander in Form eines Netzwerkes organisiert, so dass zu diesen Bezugspersonen gleichbleibende Bindungsbeziehungen bestünden und eine temporäre Abwesenheit wichtiger Personen von einem Kind besser ausgeglichen werden könnte. Innerhalb dieses Konzepts wird zum einen die Vorstellung vertreten, dass einzelne Bindungsbeziehungen (z. B. zur Mutter einerseits und zum Vater andererseits) sich gegenseitig nicht beeinflussen, das heißt, unabhängig voneinander unterschiedliche Entwicklungsresultate vorhersagen (Howes, Matheson, & Hamilton, 1994). Zum anderen existiert das Konzept der Integration der unterschiedlichen Bindungsbeziehungen zu einem generalisierten inneren Arbeitsmodell von Bindung (van IJzendoorn, Sagi, & Lambermon, 1992). Dieses würde dann aus den vielfältigen Bindungserfahrungen zu den Eltern wie auch zu relevanten Anderen bestehen, die dann kumuliert die zukünftige Bindungsrepräsentation vorhersagen (vgl. Cassidy, 2016). Bevor die drei folgenden Unterkapitel einzelne Teilbereiche der Bindungstheorie hervorheben, sollen für diesen Abschnitt abschließend fünf Postulate angeführt werden, welche die zentralen Annahmen Bowlbys übersichtlich zusammenfassen (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012, S. 70): 1. Kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge ist für die seelische Gesundheit des sich entwickelnden Kindes von hervorgehobener Bedeutung. 2. Eine Bindung zu mindestens einer, als stärker und weiser empfundenen, meist erwachsenen Person aufzubauen, ist eine biologische Notwendigkeit, da diese Schutz und Versorgung gewährleisten kann. Das Verhaltenssystem, das der Bindung dient, existiert gleichrangig zu anderen Verhaltenssystemen, die z. B. der Ernährung oder der Sexualität dienen. 3. Bei Angst wird das Bindungsverhaltenssystem aktiviert, das dann dafür sorgt, dass die Nähe der Bindungsperson aufgesucht wird. Gleichzeitig wird das Explorationsverhaltenssystem deaktiviert und Erkundungs- und Spielverhalten hören auf. Bei Wohlbefinden kann das Bindungsverhaltenssystem deaktiviert werden und Exploration ist wieder möglich. 4. Individuelle Unterschiede in Qualitäten von Bindungen können hinsichtlich des Ausmaßes differenziert werden, in welchem sie das Gefühl psychischer Sicherheit vermitteln. 5. Entsprechend den Erkenntnissen der kognitiven Psychologie erklärt die Bindungstheorie, wie früh erlebte Bindungserfahrungen geistig verarbeitet und zu inneren Modellvorstellungen9 von sich und anderen werden. 9 Vgl. hierzu auch das aus der Sozialpsychologie stammende Konstrukt des Schemas (vgl. Markus, 1977; Smith & Queller, 2003).

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3.1.1 Das Bindungsverhaltenssystem und korrespondierende Verhaltenssysteme Die Bindungstheorie basiert auf der Idee biologisch begründeter Verhaltenssysteme. Damit werden evolutionär erworbene Regulationsmechanismen beschreiben, die dazu dienen, einen bestimmten Zustand zu erreichen bzw. aufrechtzuerhalten (vgl. König, 2018). Als Beispiel dafür soll das Unwohlsein eines Säuglings herangezogen werden. Indem er dies durch Schreien signalisiert, erreicht er beispielsweise, dass seine Mutter ihn auf den Arm nimmt oder füttert. Wenn er sich dann wieder wohlfühlt, kann er das Schreien beenden. Dabei lernt ein Kind mit der Zeit, seine Bindungsverhaltensweisen situations- und kontextspezifisch anzupassen. Wie bereits angeklungen, unterscheidet die Bindungstheorie zwischen Bindung, Bindungsbeziehung und Bindungsverhalten. Als Bindungsverhalten kann dabei jegliches Verhalten bezeichnet werden, das das Ziel verfolgt (emotionale) Nähe zur Bindungsperson zu erlangen oder aufrechtzuerhalten, um ein Gefühl von Sicherheit (wieder) zu gewinnen (vgl. Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012). Dies kann wie im Beispiel des Säuglings durch Schreien, Vokalisieren, Weinen oder Lächeln geschehen, um den Kontakt zur Bindungsperson herzustellen. Ein Kind im Krabbel- oder Krippenalter könnte hingegen dasselbe Ziel dadurch erreichen, dass es selber Nähe zu seiner Bindungsperson herstellt. Das Bindungsverhaltenssystem Bindungsverhaltensweisen werden nach Bowlby (1969/2006) über das Bindungsverhaltenssystem gesteuert. Damit solche Verhaltensweisen ausgelöst oder intensiviert werden, muss das Bindungsverhaltenssystem aktiviert sein. Dies kann grundsätzlich durch Faktoren passieren, die im Kind liegen, wie z. B. Krankheit, Müdigkeit, Hunger oder Schmerz, sowie durch Faktoren der Umgebung bedingt sein, wie z. B. durch das Vorhandensein bedrohlicher Stimuli wie fremde Personen, die Abwesenheit oder ein Entfernen der Bezugsperson oder auch eine Zurückweisung durch sie. Gemeinsam ist diesen Ereignissen, dass sie für das Kind mit Gefahr oder Stress in Zusammenhang stehen. Dabei definieren natürlich nicht die Verhaltensweisen alleine, dass es sich um Bindungsverhalten handelt. Allein vor dem Hintergrund der Funktion kann das Verhalten eines Kindes beurteilt werden. Das primäre Ziel von Bindungsverhaltensweisen besteht in einer Befriedigung der Bindungsbedürfnisse, was meint, Schutz und Sicherheit sowie Unterstützung bei der Regulation von Gefühlen zu erhalten.

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Bindungstheorie und -forschung

Das Explorationsverhaltenssystem Komplementär zum Bindungsverhaltenssystem postuliert Bowlby ein Explorationsverhaltenssystem (ebd.). Dieses Verhaltenssystem ist aktiviert bei geringem Sicherheitsbedarf, emotionaler Stabilität und weitgehendem Wohlbefinden – dann, wenn das Bindungsverhaltenssystem nicht aktiviert ist. Wie bereits in Bowlbys zentralen Postulaten angeklungen, verhält sich das Explorationsverhaltenssystem insofern antithetisch zum Bindungsverhaltenssystem. Explorationsverhalten basiert auf Neugier, dem menschlichen Drang, Wissen zu erlangen und sich als selbstwirksam zu erleben (vgl. König, 2018). Bowlby hatte dabei insbesondere das Spielverhalten von Kindern und deren Verhaltensweisen, die Umwelt zu erkunden, im Blick, da es aus ethologischer Perspektive insofern einen Vorteil mit sich bringt, mehr über die Welt und deren Funktionsweise zu erfahren. Wenn Kinder Explorationsverhalten praktizieren, befindet sich das Bindungsverhaltenssystem gewissermaßen im Standby-Modus. Spielt ein Kind beispielsweise mit Spielsachen in einem Raum und entfernt sich seine Bindungsperson zu weit von ihm, wird das Bindungsverhaltenssystem das Explorationsverhaltenssystem abschalten und das Kind wird Bindungsverhalten praktizieren. Beide Systeme stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander. Nach Ansicht von Ainsworth (1967) versuchen die meisten Kinder, diese beiden Systeme möglichst in Balance zu halten und dabei sowohl die Umgebung als auch die Verfügbarkeit der Bindungsperson mit ihren möglichen Verhaltensweisen im Blick zu behalten, um variabel auf spezifische Situationen reagieren zu können. Insofern kann geschlussfolgert werden, dass sichere Bindung in diesem Sinne und zu einem gewissen Teil Exploration fördert. Ein geängstigtes oder trauriges Kind, welches Schmerzen oder anderen Bedrohungen ausgesetzt ist, wird in der Regel nicht seine Umgebung erkunden. Ein aktiviertes Bindungsverhaltenssystem beim Kind führt vielmehr zu der Aktivierung eines anderen Verhaltenssystems bei der Bezugsperson: des Pflege- oder Fürsorgeverhaltenssystems. Das Fürsorgeverhaltenssystem Bindung und Exploration sind nur schwerlich ohne ein Fürsorgesystem (caregiving) auf Seiten der Bindungs-/Fürsorgeperson denkbar. Von Bowlby (1969/ 2006) ebenfalls als biologisch verankertes Verhaltenssystem angenommen, ist das Fürsorgesystem darauf ausgerichtet, auf Kommunikationssignale des Kindes zu reagieren, sowohl in Beziehung zu dessen Bindungsverhalten als auch zu dessen Explorationsverhalten (Feeney & Woodhouse, 2016). Fürsorge orientiert sich dabei immer am Kind und seinen Bedürfnissen im spezifischen Kontext. Es kann bei der Bezugsperson ausgelöst werden durch Verhaltensweisen des Kindes, durch evolutionär erworbene Verhaltensmuster oder durch Umweltfaktoren, die das Kind in irgendeiner Form bedrohen oder gefährden könnten. Da

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Fürsorgeverhalten jedoch durch verschiedene Faktoren, wie z. B. den emotionalen Zustand der Bindungsperson, deren eigene früheren Bindungs- und Explorationserfahrungen (insofern deren inneres Arbeitsmodell von Bindung) und deren familiär und kulturell erworbenen Erziehungseinstellungen und -werte beeinflusst wird, kann das Fürsorgesystem auch unabhängig vom Kind aktiviert werden. Denkbar wäre dies, wenn die Fürsorgeperson einen entsprechenden Bedarf beim Kind antizipiert, unabhängig davon, ob er objektiv gegeben ist oder nicht. Während in der Säuglingszeit intuitive Pflegeverhaltensweisen überwiegen (Papousˇek, H. & Papousˇek, M., 1987), wird mit zunehmendem Alter des Kindes flexibles Fürsorgeverhalten erforderlich, welches von den Bezugspersonen verlangt, sich darauf einzustellen, wann welche Art der Unterstützung nötig ist und wie kindliches Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit gestärkt werden können. Die grundlegenden und bereits genannten Funktionen der Fürsorge aus Sicht der Bindungstheorie sind die sichere Basis und der sichere Hafen. Im Rahmen der obigen Ausführungen kann eine sichere Basis demnach als notwendige Aufgabe für Eltern verstanden werden, ihr Kind dabei zu unterstützen, die Welt zu erkunden (Exploration). Gleichzeitig sind diese jedoch ein sicherer Hafen für ein Kind, wenn es Bindungsbedürfnisse anzeigt und wieder zu den Eltern zurückkehrt. »Wesentlich ist dabei, dass ein Kind die Gewissheit hat, jederzeit mit seinen Bindungsbedürfnissen willkommen zu sein, akzeptiert und verstanden zu werden. Dies schließt körperliche wie auch die emotionale Versorgung und Unterstützung genauso ein wie das Autonomiebestreben und die Förderung der Exploration« (Bowlby 1988/ 2014, S. 11).

3.1.2 Phasen der Bindungsentwicklung in der frühen Kindheit Die Bindungstheorie geht nunmehr davon aus, dass das emotionale Band sich im Verlaufe des ersten Lebensjahres im emotionalen Austausch und der Kommunikation zwischen Kind und hauptsächlicher Betreuungsperson entwickelt. Heutige Erkenntnisse und Beobachtungen stützen dabei Bowlbys These (vgl. Pauen, 2015). Frühe kindliche Bindungen entwickeln sich dabei typischerweise sich in vier aufeinanderfolgenden Phasen (Bowlby, 1969/2006): 1. In der Phase der unspezifischen sozialen Reaktionen (Vorbindungsphase), die etwa die ersten zwei bis drei Lebensmonate umfasst, zeigen sich bereits Bindungsverhaltensweisen wie Weinen, Schreien oder Anklammern. Diese sind jedoch noch nicht spezifisch an ausgewählte Personen gerichtet. 2. In der Phase der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft (Phase des Bindungsbeginns), die sich etwa bis zum Alter von sechs Monaten erstreckt,

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orientiert sich der Säugling zunehmend zu vertrauten Personen hin. Von einer Bindung wird hier noch nicht ausgegangen. 3. In der Phase des aktiven und ausgeprägten Bindungsverhaltens (Phase der eindeutigen Bindung), die etwa mit sechs bis sieben Monaten beginnt und etwa bis in das dritte Lebensjahr reicht, wird das Kind zunehmend differenzierter und wählerischer im Umgang mit Personen. Es strebt an, Nähe zu seiner primären Bezugsperson aufrechtzuerhalten und nutzt sie als »sichere Basis« für seine Erkundungen. Es zeigt bei einer Trennung von der Bindungsperson Unbehagen und lässt sich leichter, gegebenenfalls nur von ihr trösten. Fremden begegnet das Kind eher mit Zurückhaltung und Vorsicht. 4. Die differenzierte Entwicklung einer reziproken Beziehung beginnt aus bindungstheoretischer Sicht etwa ab dem dritten Lebensjahr, die von Bowlby als Phase der zielkorrigierten Partnerschaft bezeichnet wurde (Bowlby, 1969/ 2006). Aufgrund der kognitiven Entwicklung des Kindes kann es seine Bezugsperson nun immer besser mit ihren eigenen Zielen, Motiven und Wünschen wahrnehmen und gegebenenfalls zielkorrigierend darauf einwirken. In dieser Phase entstehen erste innere Arbeitsmodelle von Bindung, welche dem Kind ermöglichen, das (erwartete) Verhalten der Bindungsperson in die eigene Verhaltenssteuerung mit einzubeziehen. Da die Konzeption dieser verallgemeinerten mentalen Modelle der Bindungsbeziehungen für das weitere Verständnis der Bindungstheorie grundlegend ist, sollen sie im nächsten Unterkapitel näher betrachtet werden. An die weitere Bindungsentwicklung vom Vorschul- bis ins Schulalter wird hingegen zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit (vgl. Kap. 3.3) angeknüpft.

3.1.3 Das Konzept der Internalen Arbeitsmodelle (IAM) Es war eine zentrale Annahme von John Bowlby (1969/2006), dass Menschen bereits ab einem sehr frühen Kindesalter ihre Erfahrungen mit ihren Bindungspersonen verinnerlichen und in einer gewissen Weise mental repräsentieren. Diese inneren Arbeitsmodelle von Bindung (IAM) (internal working models of attachment) beinhalten zum einen bewusstes und unbewusstes Wissen über die Verfügbarkeit von Bindungspersonen, »…verbunden mit Erwartungen an deren Verhalten in bindungsrelevanten Situationen, und zum anderen über eigene Selbstwert- und Kompetenzeinschätzungen bzw. Wissen und Vorstellungen über eigene Handlungsmöglichkeiten« (Spangler & Reiner, 2017, S. 27ff.). IAM enthalten kognitive wie auch emotionale Komponenten. Sie können als aktive Konstruktion verstanden werden, die sich im Laufe der Entwicklung eines Kindes, z. B. durch neue Bindungserfahrungen, weiter ausformt.

Bindung und Bindungstheorie

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Die beiden Vorstellungen, dass IAM zum einen das eigene Selbst repräsentieren und auf der anderen Seite die Repräsentation relevanter Bindungspersonen darstellen, bedingen sich gegenseitig (vgl. Bowlby, 1973/2006). Denn wenn eine Bindungsperson fürsorglich und feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kleinkindes eingeht, wird sie als emotional verfügbar wahrgenommen. Das Kind erlebt sich als beachtens- und liebenswert, später auch als selbstwirksam, da auf seine kommunizierten Bedürfnisse eingegangen wurde, woraus hohes Selbstwertgefühl resultiert. Umgekehrt führt überwiegende Zurückweisung und Ablehnung durch eine Bindungsperson beim Kind zu frustrierenden Erlebnissen, die dazu führen, dass es sich möglicherweise als nicht erwünscht wahrnimmt. Ein Modell einer nicht zuverlässig vorhersagbaren Welt entsteht beim Kind, welches mit seinen weiteren Reaktionen gegenüber seinen Bindungspersonen diese zunehmend verunsichert, so dass seine emotionalen Bedürfnisse weiter unbefriedigt bleiben. Die Organisation der IAM erfolgt, je nach Altersstufe, auf unterschiedlichen Ebenen (Bretherton & Munholland, 2016). Als Konsequenz daraus muss Bindung in unterschiedlichen Lebensaltern unterschiedlich verstanden und operationalisiert werden. Ist Bindungsverhalten im Neugeborenenalter eher auf einer Reflexebene organisiert, kann dieses bei einjährigen Kindern bereits als prozedural organisiertes Wissen über Bindung in der spezifischen Bindungsbeziehung zu deren Bezugsperson beobachtet werden. Mit der Entwicklung von höheren Repräsentationen durch Sprache und symbolisches Denken sowie durch fortgeschrittene sozial-emotionale wie kognitive Entwicklung, können die IAM ab einem Alter von etwa vier Jahren genereller, also beziehungsübergreifend organisiert werden (Gloger-Tippelt & König, 2016). In der Bindungstheorie geht man davon aus, dass IAM mit unterschiedlichen Bindungsmustern korrespondieren. Beim Kind entstehen demnach implizite Erwartungen bezüglich der Bezugsperson, die unmittelbar mit der eigenen Verhaltensstrategie verknüpft sind. Sie beeinflussen nicht nur das emotionale Erleben (und in der Folge das Verhalten) in einer bindungsrelevanten Situation, sondern auch das Denken und die Sprachmuster (Main, Kaplan & Cassidy, 1985). Bei Kindern ab der mittleren Kindheit, bei Jugendlichen und Erwachsenen bedient sich die Bindungsforschung daher vermehrt projektiver Verfahren oder Verfahren auf symbolischer Ebene bis hin zu rein sprachgebundenen Instrumentarien, um die innere Repräsentation von Bindung valide zu erfassen. In diesem Alter spricht die Bindungstheorie und -forschung daher von Bindungsrepräsentationen und meint damit generalisierte innere Arbeitsmodelle von Bindung, die sich sprachlich-begrifflich in den dafür entwickelten Erhebungsverfahren abbilden (Gloger-Tippelt & König, 2016). Darauf soll in Kapitel 3.3.2 nochmals näher eingegangen werden.

64

3.2

Bindungstheorie und -forschung

Bindungsforschung

Die Bindungsforschung beschreibt die empirische Untersuchung der von John Bowlby postulierten Bindungstheorie. In diesem Zusammenhang war die Entwicklungspsychologin Mary D. Salter Ainsworth (1931–1999) die erste, die mit ihren empirischen Studien und den daraus resultierenden Ergebnissen die Bindungstheorie experimentell nachweisen konnte (vgl. Ainsworth & Wittig, 1969; Ainsworth, 1973). In der einflussreichen Baltimore-Studie wurden durch Ainsworth und ihre Mitarbeiter detaillierte Beobachtungen von Interaktionen zwischen Müttern und ihren Kindern vorgenommen (Ainsworth et al., 1978). Von den untersuchten Faktoren Akzeptanz, Kooperation, Verfügbarkeit und Feinfühligkeit stellte sich letztere als besonders bedeutungsvoll für die Bindungsentwicklung heraus. In den nachfolgenden Kapiteln sollen sowohl das Feinfühligkeitskonzept als auch die unterschiedlichen Bindungsqualitäten näher vorgestellt werden.

3.2.1 Das Konzept der Feinfühligkeit Feinfühligkeit ist innerhalb der Bindungstheorie definiert als Fähigkeit, die Signale und Bedürfnisse eines Kindes 1. wahrzunehmen, 2. richtig zu interpretieren sowie 3. prompt und 4. angemessen darauf zu reagieren (Ainsworth, 1974/2011). Eine Bezugsperson kann für ein Kind demnach als feinfühlig gelten, wenn sie im ersten Schritt die Bindungssignale des Kindes wahrnimmt und im zweiten Schritt diese auch richtig interpretiert. Werden von der Bindungsperson z. B. kindliche Signale übersehen oder fehlinterpretiert, kann dies eine feinfühlige Reaktion verhindern, da in den folgenden zwei Schritten auf die Signale zeitnah und angemessen reagiert werden sollte. Um dies zuverlässig einschätzen zu können, wurde von Ainsworth die Feinfühligkeitsskala (sensitivity scale) (Ainsworth & Wittig, 1969) entwickelt, ein Instrument, das die Feinfühligkeit der Eltern auf einer Ratingskala von 1–9 empirisch messbar macht. Alle vier Schritte, insbesondere jedoch die Promptheit und die angemessene Reaktion, hängen dabei vom Entwicklungsalter des Kindes ab, so dass ein älteres Kind bereits allein aufgrund der zunehmenden Gedächtnisleistung dazu in der Lage sein sollte, zeitlich spätere Reaktionen seitens der Bezugspersonen in Verbindung mit seinem eignen Verhalten zu bringen (Lengning & Lüpschen, 2012). Andere Autoren wie Patricia Crittenden (Claussen & Crittenden, 2000; Crit-

Bindungsforschung

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tenden, 2005) weisen verstärkt auf den dyadischen Charakter von Feinfühligkeit hin. Hier wird Feinfühligkeit vorzugsweise nicht über das Verhalten der Bezugsperson, sondern über zusätzliche kindliche Charakteristika, wie z. B. Temperament, definiert. Zudem wird der kulturelle Kontext beachtet, in dem die Mutter-Kind-Beziehung stattfindet. Deutlich hervorgehoben wird bei Crittenden demnach die Interpersonalität von Feinfühligkeit im Vergleich mit der ursprünglichen Definition von Ainsworth. Der Zusammenhang von Bindung im Kindesalter und elterlicher Feinfühligkeit wurde in einer Vielzahl von Studien untersucht (vgl. Ainsworth et al., 1978; Braungart-Rieker, Garwood, Powers & Wang, 2001; De Wolff & van IJzendoorn, 1997; Grossmann, K., Grossmann, K.E., Spangler, Suess & Unzer, 1985). Insgesamt konnte Feinfühligkeit als wichtiger Prädiktor für die Entwicklung von Bindungsunterschieden bestätigt werden. Die Studien weisen dabei jedoch eine große Heterogenität auf. Van IJzendoorn (1995) z. B. kritisierte, dass Feinfühligkeit häufig zu global erfasst werde und wenig Konsens bestehe, welcher Kontext der Interaktion zwischen Mutter und Kind zur Auswertung herangezogen werde. So stellten De Wolff & van IJzendoorn (1997) dann auch in ihrer Metaanalyse fest, dass Feinfühligkeit kindliche Bindung zwar vorhersagt, ein statistischer Zusammenhang jedoch nur moderat besteht. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass es weitere elterliche Verhaltensweisen und Dispositionen gibt, die Einfluss auf die Bindung eines Kindes, insbesondere auch auf die Bindungsdesorganisation haben (vgl. Owen & Cox, 1997), Feinfühligkeit jedoch, wenn differenziert erfasst, eine bedeutsame Komponente darstellt (Meins et al., 2012; Spangler & Reiner, 2017).

3.2.2 Individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität im Kleinkindalter Eine besondere Stärke der Bindungstheorie besteht darin, dass sie neben den normativen Entwicklungen auch die Entstehung differenzieller, interindividuell unterschiedlicher Bindungsqualitäten im Kindesalter zum Gegenstand hat. Da die Bindungs- und Interaktionserfahrungen von Menschen sehr unterschiedlich ausfallen, bilden sich schon in frühster Kindheit unterschiedliche Bindungsqualitäten heraus. Diese wurden zum ersten Mal in Hinblick auf Bindungssicherheit in der »Fremden Situation« (strange situation) von Ainsworth et al. (1978) beschrieben. In dieser speziell konzipierten Laborsituation werden das Kind und seine Bindungsperson systematisch acht unterschiedlichen Episoden, insbesondere Trennung und Wiedervereinigung sowie der Konfrontation mit einer fremden Person, ausgesetzt. Durch diese unterschiedlichen Stressoren wird das Bindungsverhaltenssystem des Kindes in der Folge aktiviert, was erlaubt, sein Verhalten im Hinblick auf Trennungsangst, Explorationsbereitschaft,

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die Reaktion auf eine fremde Person sowie die Reaktion auf die Rückkehr der Bindungsperson zu beobachten. Die Fremde Situation wird üblicherweise mit Kindern zwischen dem 11. und maximal 20. Lebensmonat in einem fremden Untersuchungszimmer durchgeführt und videografiert (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012, S. 141). »Die Bindungssicherheit äußert sich in der Art der Strategien, die ein Kind zur NäheDistanz-Regulierung verwendet, insbesondere in der Fähigkeit, bei Aktivierung des Bindungssystems der Bezugsperson die emotionale Stabilität wiederzuerlangen und eine Deaktivierung des Bindungssystems zu erreichen« (Spangler & Reiner, 2017, S. 29).

Durch standardisierte Auswertung in der Videoanalyse lassen sich nach Ainsworth et al. (1978) drei Bindungsqualitäten unterscheiden, die sich wiederum in einzelne Subgruppen unterteilen lassen. Gemeinsam ist diesen drei Bindungsmustern, dass sie als organisierte Verhaltensstrategie des Kindes verstanden werden können, ihre Bezugsperson zur Emotionsregulation zu nutzen. Demgegenüber wurde von Mary Main und Judith Solomon (1986, 1990) etwas später eine weitere Klassifikation eingeführt, die als Desorganisation von Bindung bezeichnet wurde. 3.2.2.1 Organisierte Bindungsklassifikationen Sichere Bindung (B) Kinder, die in der Fremden Situation bindungssicheres Verhalten (secure) zeigen, drücken ihre Gefühle offen aus. Sie haben innerhalb des ersten Lebensjahres die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungssignale von ihrer hauptsächlichen Bezugsperson wahrgenommen wurden, dass diese überwiegend stimmig interpretiert wurden und dass angemessen und prompt darauf reagiert wurde (vgl. Kißgen, 2009a). Sicher gebundene Kinder zeigen deutliches Explorationsverhalten bei Anwesenheit ihrer Bezugsperson und drücken in Folge der Trennung ihren Kummer aus, zeigen, dass sie ihre Bindungsperson vermissen. Bei der Wiedervereinigung nehmen sie aktiv mit ihrer Bezugsperson Kontakt auf, z. B. indem sie bei ihr Nähe und Körperkontakt suchen. Mit Hilfe der Bindungsperson gelingt es diesen Kindern, ihre negativen Gefühle zu regulieren und zurück zu emotionaler Stabilität zu finden. Unsicher-vermeidende Bindung (A) Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung (avoidant) zu ihrer Bezugsperson zeigen in Stresssituationen wie der Trennung in der Fremden Situation kein offenes Bindungsverhalten. Von einer Außenperspektive betrachtet wirken sie kaum betroffen und versuchen, in einer Vielzahl der Fälle ihr Explorati-

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onsverhalten aufrecht zu erhalten. Sie haben in ihrem bisherigen Leben die Erfahrung gemacht, dass ihre hauptsächliche Bezugsperson nicht feinfühlig auf ihre Bindungsbedürfnisse reagiert hat, diese vielleicht nicht wahrgenommen oder auch falsch interpretiert hat. Das Vermeiden der offen gezeigten Gefühle dient diesen Kindern offenbar als Schutz- und Abwehrmaßnahme. So können sie Enttäuschungen vermeiden, die unweigerlich entstehen, wenn ihre Bindungsperson nicht oder unangemessen reagiert. Allerdings stellt dieses Verhalten unsicher-vermeidend gebundene Kinder vor die überfordernde Aufgabe, ihr Bindungsverhaltenssystem alleine zu beruhigen. Diese Kinder zeigen in spezifischen Episoden der Fremden Situation mehr Interesse für die fremde Person als für die eigentliche Bindungsperson und reagieren bei deren Rückkehr eher mit Ablehnung (vgl. Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012). Unsicher-ambivalente Bindung (C) Unsicher-ambivalent gebundene Kinder (ambivalent) wirken in der Fremden Situation ängstlich, können sich nur schwer von ihrer Bezugsperson lösen und zeigen darüber hinaus widersprüchliche Verhaltensweisen. Kinder mit diesem Bindungsmuster können kaum vorhersagen, wie ihre Bezugsperson auf ihre Bindungssignale reagieren wird. Ihre bisherigen Erfahrungen speisen sich sowohl aus feinfühligen Reaktionen ihrer Bindungspersonen als auch aus nicht feinfühligen Reaktionen. Ihr hauptsächliches Bestreben ist es daher, ununterbrochen den Kontakt zu ihrer hauptsächlichen Bindungsperson aufrecht zu erhalten, um nicht abhängig von deren Reaktionen zu sein, sondern selbst Nähe und Distanz kontrollieren zu können. Diese immense Herausforderung erlaubt es den Kindern nicht oder nur im geringen Maße, in der Fremden Situation zu explorieren. Nach Trennungen zeigen sie sehr großes Stresserleben, das nicht selten in heftigem Weinen endet sowie dem Wunsch nach Nähe zur Bindungsperson. Andererseits reagieren Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung auf ihre Bezugsperson dann mit ärgerlicher Zurückweisung und Protest und lassen sich nur schwer beruhigen. Sie können die Nähe zu ihrer Bezugsperson nicht nutzen, um ihr Bindungsverhaltenssystem zu deaktivieren und sich emotional wieder zu stabilisieren (ebd.). Mittlerweile kann die internationale Bindungsforschung auf zahlreiche Untersuchungen, insbesondere mittels der Fremden Situation zur Klassifikation der unterschiedlichen Bindungsmuster zurückblicken (vgl. Main, Hesse & Kaplan, 2005; Sroufe, Egeland, Carlson & Collins, 2005; Grossmann, K. & Grossmann, K. E., 2012). So wurde unter anderem die Angemessenheit der unterschiedlichen Bindungsqualitäten bezüglich der Funktion des Bindungsverhaltenssystems durch psychobiologische Studien validiert. Spangler und Schieche (1998) konnten ebenso wie andere Forschergruppen Hinweise auf die soziale Pufferfunktion von sicherer Bindung finden. Einer der wesentlichen Befunde

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war, dass es bei ängstlichen und gehemmten Kindern nur dann zu einem Cortisolanstieg kam, wenn bei stressinduzierenden Anforderungssituationen keine sichere Bindung beim Kind gegeben war (vgl. Gunnar, Broderson, Nachmias, Buss & Rigatuso, 1996). Ebenso konnte bei unsicher und desorganisiert klassifizierten Kindern die emotionale Belastung mittels Herzfrequenzparametern und Nebennierenrindenaktivität (Cortisolanstieg) im Vergleich zu sicher klassifizierten Kindern nachgewiesen werden (Spangler & Grossmann, K.E., 1993). In einer Metaanalyse von van IJzendoorn und Kroonenberg (1988) wurden 32 Studien auf die Prävalenz der drei organisierten Bindungsmuster hin, gemessen mit der Fremden Situation, untersucht. Es zeigte sich, dass im Durchschnitt 65 % aller untersuchten Kinder in den ersten beiden Lebensjahren sicher gebunden sind, 21 % wiesen eine unsicher-vermeidende Bindung auf und 14 % wurden unsicher-ambivalent klassifiziert. Für den deutschen Sprachraum konnte eine Analyse von elf Studien, die mittels der Fremden Situation Bindungsmuster erhoben hatten, zeigen, dass hier von einer Verteilung 44,9 % sicher gebundenen, 27,7 % unsicher-vermeidend gebundenen, 6,9 % unsicherambivalent gebundenen sowie 19,9 % desorgansierten/desorientierten Kindern auszugehen ist (vgl. Gloger-Tippelt, Vetter & Rauh, 2000).

3.2.2.2 Desorganisierte Bindungsklassifikation Bindungsdesorganisation (D) Obschon sich die Klassifizierung der Bindungsmuster in drei hauptsächliche Kategorien, B, A und C, in der Forschung als gültig und brauchbar erwies, konnte einige der in der Fremden Situation untersuchten Kinder keine dieser organisierten Bindungsverhaltensweisen zugeordnet werden. Diese Kinder zeichneten sich dadurch aus, dass bei ihnen kein durchgängiges Bindungsmuster festgestellt werden konnte, sie unterbrochenes, ungerichtetes, unvollständiges und/oder desorientiertes Verhalten zeitgen. Manche Kinder zeigten auch sich widersprechende Verhaltensweisen, in denen Verwirrung oder Furcht vor den Bezugspersonen zum Ausdruck kam. Wieder andere erstarrten in Bewegungen (freezing) oder nahmen dissoziative Zustände an, die von außen betrachtet der induzierten Situation nicht angemessen erschienen. Die Gruppe dieser Kinder wurde von Main und Solomon (1986) erstmals als desorganisiert/ desorientiert (disorganized/disoriented) beschrieben. Sie gilt als hoch unsichere Bindung (Gloger-Tippelt & König, 2016). Kinder, die desorganisiert klassifiziert werden, blicken häufig auf eine traumatisierende Vergangenheit zurück, in der sie von ihren Bezugspersonen vernachlässigt, misshandelt oder auch sexuell missbraucht wurden. Auch ist es möglich, dass extrem widersprüchlich auf Bindungsbedürfnisse des Kindes reagiert wurde, ohne dass die Bezugsperson

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psychisch oder physisch übergriffig wurde, dass z. B. die affektive Kommunikation so versstörend war oder ist, dass dem Kind nicht ein Mindestmaß an Geborgenheit und emotionaler Regulierung geboten werden konnte (LyonsRuth & Jacobvitz 2016; Main & Hesse, 1990). Nicht selten liegen in diesen Fällen unverarbeitete Traumatisierungen bzw. eine psychische Störung bei der Bezugsperson vor. Wird das Bindungsverhaltenssystem bei einem Kind mit desorganisierter Bindung aktiviert, so entsteht die paradoxe Situation, dass sich das Kind zur Regulation seiner inneren Spannung nicht an seine Bezugsperson wenden kann, da von dieser keine Sicherheit ausgeht, sondern diese gleichzeitig angstbesetzt ist. Die Situation bleibt dadurch für das Kind zunächst unlösbar, was sich in einem Zusammenbruch jeglicher Bindungsstrategien zeigt und zu den oben erwähnten Verhaltensweisen führt. Bindungsdesorganisation wird noch nicht als Psychopathologie betrachtet, weist jedoch auf einen deutlichen Risikofaktor für eine gesunde seelische Entwicklung im Kindesalter hin (H8derv#ri-Heller, 2011, S. 67). Dies konnte bislang in einer Vielzahl von klinischen Studien bestätigt werden (vgl. z. B. Carlson, 1998; Lyons-Ruth & Block, 1996; Lyons-Ruth, Easterbrooks & Cibelli, 1997). In diesen klinischen Stichproben ist der Anteil der desorganisiert klassifizierten Kinder darüber hinaus deutlich höher als bei unbelasteten Personen. In Studien mit Risikofaktoren wie Misshandlung und schwerer Depression der Mutter waren 80–90 % der Kinder desorganisiert (Lyons-Ruth, Wolfe & Lyubchik, 2000; Toth, Rogosch, Manly & Cichetti, 2006), in Stichproben mit ADHS oder Scheidung der Eltern immerhin mehr als 30 % (Franke, Kißgen, Krischer & Sevecke, 2017; Gloger-Tippelt, Kappler & König, 2010). Bedeutsam ist, dass die Kategorie der desorganisierten Bindung sich im Unterschied zu den Kategorien von Ainsworth und Mitarbeitern (1978) nicht auf die Qualität der Sicherheit von Bindung bezieht, sondern auf die Qualität der Organisation von Bindung (Spangler & Reiner, 2017). Desorganisierte Verhaltensweisen können daher auch in allen drei organisierten Bindungsmustern auftreten und werden als Zusatzklassifikation, zusätzlich zum Hauptbindungsmuster B, A, oder C, vergeben (Main, 2016). Für diese Arbeit ist die Bindungsdesorganisation von besonderer Bedeutung, da sie, wie beschreiben, einen generellen Risikofaktor für unangepasstes Verhalten und eine negative sozialemotionale Entwicklung darstellt und daher besonders im Fokus einer Erziehungs- und Familienberatung, die sich mit Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter befasst, steht (vgl. Kap. 3.5.3). Gerade weil Bindungsmuster keine klinischen Diagnosen oder Indikatoren für Psychopathologie darstellen (von Klitzing, 2009), sondern eher als adaptive Leistungen innerhalb des Interaktionsgeflechts zwischen Kind und Bezugsperson verstanden werden können, ragt die Bindungsdesorganisation insofern heraus. Die Situation von bindungsdesorganisierten Kindern zu erkennen und in Beratung

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und Therapie prompt und angemessen darauf zu reagieren, wäre dann ein Versuch, Bindung positiv zu beeinflussen und maladaptivem Verhalten entgegenzuwirken (vgl. Kap. 3.7.2).

3.2.3 Kontinuität und Diskontinuität von Bindung Für die Bindungsforschung kann es als ein zentrales Anliegen bezeichnet werden, mehr über die Stabilität von Bindung sowie über die Faktoren herauszufinden, die im Laufe der Entwicklung zu unterschiedlichen Bindungsstrategien führen. Bowlby (1969/2006) postulierte, dass Bindungsmuster unter relativ konstanten Lebensbedingungen stabil bleiben und sich zu äquivalenten Bindungsrepräsentationen im Erwachsenenalter entwickeln. Die Bindungstheorie sagt dabei eine grundsätzliche Plastizität von Bindung voraus, bei der IAM in frühen Lebensjahren leichter veränderbar sind als in höherem Alter. Bei einschneidenden Veränderungen wie Tod, Gewalt, Trennung oder traumatischen Erlebnissen können sich Bindungsmuster modifizieren, was auch bedeutet, dass es zu Veränderungen von sicherer zu unsicherer Bindung kommen kann. Auf der anderen Seite kann z. B. die Entstehung einer neuen, verlässlichen und Sicherheit bietenden Beziehung im Leben eines Kindes eine unsichere Bindung in eine sichere transformieren. Diese zunächst theoretisch begründete generelle Stabilität bei anhaltender Plastizität von Bindung wurde in etlichen Forschungen empirisch untersucht. Zunächst sind dabei die Langzeituntersuchungen, insbesondere aus den USA und Deutschland, hervorzuheben (vgl. Sroufe et al. , 2005; Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012). In der Untersuchung von Normalstichproben gingen die Forscher daher von im Wesentlichen übereinstimmenden Klassifikationen im frühen Kindesalter und im jungen Erwachsenenalter aus. Während amerikanische Studien diese Hypothese bestätigen konnten (Waters, Merrick, Treboux, Crowell & Albersheim, 2000), waren die Ergebnisse der deutschen Untersuchungen anders gelagert. Eine grundsätzliche Kontinuität von Bindung ließ sich dabei nicht feststellen (Zimmermann, Becker-Stoll, Grossmann, K., Grossmann K.E. , Scheuerer-Englisch & Wartner, 2000). Einschränkend merkten Spangler und Zimmermann (1999) jedoch an, dass in allen Studien kritische Lebensereignisse mitbedacht werden müssten und bereits ab dem späten Kindesalter ein Wechsel der Erhebungsebene vom Bindungsverhalten zur Bindungsrepräsentation stattfinde. So konnten auch in der Regensburger-Längsschnittstudie Stabilitäten gefunden werden, jedoch nur auf der jeweils gleichen Erhebungsebene. Nach anhaltender Diskussion zu Fragen der Stabilität und Diskontinuität von Bindung im Lebenslauf konnten neuere, repräsentativ angelegte Studien mit gemischten Populationen, das heißt, sowohl Mittel-

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schichtsgruppen als auch ärmere, mit größeren Risiken behaftete Personen, deutliche Befunde liefern: Vom Kleinkindalter bis ins junge Erwachsenenalter konnte keine Kontinuität von Bindungssicherheit bzw. Bindungsklassifikationen gefunden werden (Fearon, Shmueli-Goetz, Viding, Fonagy & Plomin, 2014; Groh et al., 2014; van Ryzin, Carlson & Sroufe, 2011). Relative Stabilitäten finden sich jedoch in Untersuchungen immer wieder in kurzen Zeitintervallen, wie z. B. vom Bindungsverhalten im Kleinkindalter bis zur Bindungsrepräsentation mit drei Jahren (Bretherton, Ridgeway & Cassidy, 1990) oder bis zum Alter von fünf und sechs Jahren (Gloger-Tippelt, Gomille, König & Vetter, 2002; Main & Cassidy, 1988) sowie bei stabilen äußeren wie innerfamiliären Verhältnissen (vgl. Fraley, 2002). Transmission von Bindung Neben kritischen Lebensereignissen und anderen Risikofaktoren, die zu unsicherer Bindung führten, konnten mehrere Studien zeigen, dass durch die Bindungsrepräsentation der Elternperson das Bindungsmuster des Kindes vorhergesagt werden konnte. Diese generationale »Übertragung« von Bindung wurde mit dem Begriff Transmission von Bindung beschrieben. In einer einflussreichen Metaanalyse von van IJzendoorn (1995) wurde die Übereinstimmung von 70 % zwischen elterlicher Bindungsrepräsentation und kindlicher Bindungsqualität in der Fremden Situation gefunden. Am stärksten war dabei die Vorhersagekraft für die sichere Bindung (82 %). Eine weitere, 95 Studien umfassende Metaanalyse in jüngerer Zeit konnte die Befunde von 1995 im Wesentlichen replizieren (Verhage et al., 2015). Ging man zunächst davon aus, dass die Bindungssicherheit der Eltern auch ihre Feinfühligkeit bestimme und (un)sichere Bindung hauptsächlich auf diesem Wege dem Kind vermittelt würde, zeigten die weiteren Ergebnisse, dass die Sensivität nur etwa ein Viertel der Varianz zwischen Bindungsrepräsentation der Mutter und Bindungsmuster des Kindes erklärt (van IJzendoorn, 1995; vgl. Kap. 3.2.1). Weitere Wirkfaktoren einer transgenerationalen Übertragung werden immer wieder diskutiert. So konnten Fonagy und Kollegen zeigen, dass die Mentalisierungsfähigkeit der Eltern eine wichtige Rolle spielen könnte (Fonagy, Steele, M., Steele, H., Moran & Higgitt, 1991). In einer anderen Veröffentlichung weisen Steele H., Steele, M. und Fonagy (1996) darauf hin, dass neben der elterlichen Bindungsrepräsentation eigenständige Einflüsse von kontextuellen Faktoren wie Erfahrung in der Kindererziehung, soziale Unterstützung, Qualität der Paarbeziehung, Psychopathologie oder Persönlichkeit zusätzliche Varianz der kindlichen Bindungsqualitäten erklärt. Die dennoch vorhandene Bedeutung von feinfühligem Elternverhalten wird von der Studie des National Institute of Child Health and Human Development (NICHD Early Child Care Research Network, 1997) gestützt, die sowohl die Feinfühligkeit der Mutter als auch ihre psychische Kon-

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stitution als signifikanten Faktor für die Bindungssicherheit der Kinder ausmachen konnte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kontinuität von Bindung abhängig ist von der untersuchten Zeitpanne, den verwendeten Messinstrumenten und den beeinflussenden Faktoren im Leben einer Person. Auch wenn einige Studien überwiegend Diskontinuität und wieder andere relative Stabilität finden konnten, sollte von einfachen Erklärungsmodellen für die Entstehung individueller Unterschiede in der Bindungssicherheit, ihre weitere Entwicklung und ihre Konsequenzen Abstand genommen werden. Stabilität und Veränderung von Bindung scheint demnach multifaktoriell. Das legen auch die Untersuchungen zur transgenerationalen Weitergabe von Bindungsmodellen nahe. Es kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass der elterliche Einfluss auf die Bindungsorganisation und -sicherheit des Kindes hoch ist und, wie von Steele et al. (1996) beschrieben, sich in weit mehr als der Qualität der Fürsorge ausdrückt (vgl. auch Kißgen, 2009b). Im nächsten Kapitel werden Aspekte der Bindungsentwicklung im Vorschulund Grundschulalter thematisiert. Speziell die Phase des Schuleintritts und die daran anknüpfende Zeitspanne, die typischerweise mit der Ausbildung einer körperlichen Leistungs- und sozialen Kompetenz einhergeht, ist für diese Arbeit von hervorgehobener Bedeutsamkeit.

3.3

Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

Auf dem Weg von den ersten beiden Lebensjahren bis zum Kindergarten- und Vorschulalter erleben Kinder enorme Entwicklungsfortschritte. Sie sind motorisch viel geschickter und beweglicher, haben soziale, kognitive und sprachliche Fortschritte gemacht und in der Regel ein Netz sozialer Beziehungen aufgebaut. Meilensteine der kognitiven Entwicklung in dieser Altersspanne finden sich vor allem in den Bereichen des begrifflichen Denkens, in mathematischen Fähigkeiten und in verbesserten Gedächtnisleistungen (Gloger-Tippelt & König, 2016). Der Entwicklungsweg führt von einer interaktiven Verhaltensregulation zwischen dem sehr jungen Kind und seiner Bindungsperson zu einer eigenständig gesteuerten internalen Gefühls- und Verhaltensregulation im Vorschulalter (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012, S. 267). Diese wird zunehmend durch die IAM organisiert, die sich in der weiteren Entwicklung verfestigen. Eine sehr bedeutsame Fähigkeit, auch im Hinblick auf Bindung, besteht ab dem Alter von ungefähr vier Jahren: Kinder können besser die Wünsche und Absichten anderer Personen verstehen sowie deren Überzeugungen erkennen. Man spricht dabei von einer »Theory of Mind«, die es den Heranwachsenden erlaubt, Handlungen von Personen zu erklären und Vorher-

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sagen über deren Verhalten zu machen (Heinrichs & Lohhaus, 2011). Aufgrund dieser fortschreitenden Fähigkeiten und der damit einhergehenden Autonomieentwicklung verändert sich das Bindungsverhalten im Vorschulalter deutlich. Die vierte Phase der Bindungsentwicklung, die der »zielkorrigierten Partnerschaft«, welche etwa mit fünf bis sechs Jahren ganz erreicht ist, bildet die Ausgangslage der weiteren Überlegungen. Ab diesem Alter wird innerhalb der Bindungsforschung mehrheitlich eine Konsolidierung der Repräsentation von Erfahrungen mit den Bindungspersonen angenommen (vgl. Kerns & Brumariu, 2016; Bretherton & Munholland, 2016). Gloger-Tippelt und König (2016, S. 43ff.) beschreiben für das Vorschul- und Grundschulalter prägnant einige charakteristische Veränderungen, die insbesondere die Organisation von Bindung betreffen. 1. »Das Bindungsverhaltenssystem wird zunehmend von höheren kognitiv-affektiven Prozessen gesteuert, die den allgemeinen Entwicklungsfortschritt ausmachen« (ebd., S. 44). Das heißt, dass es für ein Kind mit steigendem Alter leichter möglich ist, sein Bindungsverhalten zu planen und zu kontrollieren. Auch werden die eigenen Verhaltensweisen sowie die Verhaltensweisen der Bindungspersonen abstrakter mental repräsentiert, so dass sich ein Wissen über unterschiedliche Bindungsbeziehungen aufbauen kann. 2. »Die mentalen Repräsentationen der Bindungserfahrungen im Inneren Arbeitsmodell unterliegen im Laufe der Entwicklung einem Prozess der Generalisierung« (ebd., S. 44). Diese These beruft sich vor allem auf Bowlbys Vorstellung, dass Bindungsqualitäten im Laufe des Lebens zu einem Merkmal der Person werden und eher generalisiert werden, statt spezifische Beziehungen zu markieren (Bowlby, 1988/2014). Dabei werden in der Bindungsforschung zwei theoretische Modelle der Verallgemeinerung kindlicher Bindungsmuster unterschieden: Die Revisions- und die Prototypperspektive (Fraley, 2002). Die erste geht davon aus, dass die IAM, die sich in der frühen Kindheit bilden, überarbeitet und korrigiert werden, wenn die späteren Erfahrungen nicht zu den bereits gebildeten Erwartungsmustern passen. In gleichbleibender Umgebung und den Erwartungsmustern entsprechenden Erfahrungen, bleiben die IAM stabil. Die Prototypperspektive geht, wie der Namen schon sagt, von einem Prototypen aus, der aus einem System von nichtsprachlichen Repräsentationen und Verhaltensstrategien sowie Regeln der Informationsverarbeitung besteht. Dieser Prototyp bleibt im Laufe der Entwicklung gleich, auch wenn die weiteren Erfahrungen nicht zu den Erwartungen passen. Er wirkt sich allerdings aus auf die Bewertung der gemachten Erfahrungen. Eine vielbeachtete Perspektive ist weiterhin, dass trotz der angenommenen Generalisierung ein gleichzeitiges Bestehen mehrerer beziehungsspezifischer Arbeitsmodelle angenommen wird (vgl. Bretherton & Munholland, 2016;

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Bindungstheorie und -forschung

Chen, Boucher & Tapias, 2006; Collins & Read, 1994). Dafür sprechen auch Befunde von Furman und Simon (2004), die in der späten Adoleszenz noch personenspezifische Bindungsmuster nachweisen konnten. »Über die zugrunde liegenden Prozesse bei einer Integration der personenspezifischen Bindungen in ein generalisiertes Bindungsmodell liegen noch keine empirischen Studien vor« (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 48). »Es zeichnet sich ein eindeutiger Trend zur Abnahme von Bindungsverhalten mit direktem Körperkontakt ab, dieses wird weniger und seltener gezeigt« (ebd., S. 45). Bei Stress und Belastung ist es für Kinder im Vorschul- und Schulalter wichtig, dass ihre Bindungsperson vor allem emotional verfügbar ist. Dies muss nicht zwangsläufig durch räumliche Nähe geschehen, vielmehr können Verhaltensweisen von Bezugspersonen auch über die Distanz durch Blicke und Gesten wirken. Ein älteres Kind ist ebenso dazu in der Lage, längere Trennungen auszuhalten, und andere Ereignisse als eine Fremde Situation wirken auf es ängstigend oder belastend, wie z. B. Träume, verletzter Stolz oder Schuldgefühle. »Das Bindungsverhaltenssystem und die entsprechenden Bindungsrepräsentationen werden immer differenzierter und vielfältiger« (ebd., S. 45). Damit ist gemeint, dass sich mit zunehmendem Alter neben den primären Bindungspersonen wie Mutter und Vater weitere Fürsorgepersonen als Bindungspersonen etablieren können. Dies können z. B. Tagesmütter, Erzieherinnen, Großeltern, Stiefelternteile, Lehrerinnen oder Trainer sein. In der Regel werden solche Bindungen erst aufgebaut, wenn die ersten Bindungen zu den engsten Bezugspersonen bereits bestehen (Howes & Spieker, 2016). »Im Verlaufe der Entwicklung übernehmen die Kinder selbst aktiver die Steuerung der Eltern-Kind-Beziehung« (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 44). Dies kann als eines der zentralen Merkmale der Phase der zielkorrigierten Partnerschaft angesehen werden. Durch ihre wachsenden sozialen und kognitiven Kompetenzen sind Grundschulkinder in der Lage, selbst die Initiative zum Kontakt und zur Aufrechterhaltung von Bindung zu ergreifen. Gleichsam nimmt bei den Bezugspersonen die Verantwortung dafür ab. »In der späten Kindheit und im Jugendalter kommen neben den primären Bindungspersonen auch die frühen Paarbeziehungen als Bindungsbeziehung in Frage« (ebd., S. 44). Diese Umorientierung zu anderen Beziehungspersonen gilt zwar noch nicht im frühen Grundschulalter, jedoch werden hier bereits die Grundlagen dafür gelegt. Bereits mit Beginn der Pubertät können neben den primären Fürsorgepersonen andere enge Beziehungen zu Peers entstanden sein, die dann später zunehmend als sichere Basis dienen können. Gleichzeitig konnten Kerns und Kollegen jedoch zeigen, dass selbst für elfund zwölfjährige Kinder die Eltern in bindungsrelevanten Situationen die

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wichtigsten Bindungspersonen bleiben, weit vor engen Freundschaftsbeziehungen (Kerns, Tomich & Kim, 2006; Seibert & Kerns, 2009).

3.3.1 Bindungsstrategien im Vorschul- und Grundschulalter In Kapitel 3.2.2 wurden bereits die unterschiedlichen Bindungsmuster vorgestellt, wie sie anhand der Fremden Situation klassifiziert werden können. Im Unterschied zum Kleinkindalter und zur frühen Kindheit sprechen Gloger-Tippelt und König (2016) im Vorschul- und Grundschulalter nicht mehr von Bindungsqualitäten, sondern von Bindungsstrategien, wenn die organisierten Bindungsklassifikationen gemeint sind. Damit soll eine Anpassung an die erfahrene Fürsorge und das Verhalten der Personen in engen Beziehungen ausgedrückt werden. (ebd., S. 30). Analog zu den Bezeichnungen sichere Bindung (B), unsicher-vermeidende Bindung (A), unsicher-ambivalente Bindung (C) und desorganisierte Bindung (D) in der Verhaltensbeobachtung handelt es sich bei den folgenden Beschreibungen jedoch um kindliche Bindungsrepräsentationen, die in dieser Altersspanne insbesondere mit projektiven Verfahren und Interviews erhoben werden können (vgl. Kap. 3.3.2). Abbildung 3 zeigt die drei organisierten Bindungsstrategien schematisch auf einer Dimension der Aufmerksamkeitsorientierung und Emotionsregulierung. Ganz links wäre die prototypische Regulierung der Gefühle mittels der unsicher-vermeidenden Bindungsstrategie als Deaktivierung unangenehmer Emotionen zu verstehen, die Aufmerksamkeit richtet sich beim Kind eher auf die Sachumwelt. Ganz rechts wäre die Emotionsregulierung als Gefühlsmaximierung zu verstehen. Die Bindungsbedürfnisse wären nicht beruhigt, die Aufmerksamkeitsorientierung richtet sicher stark auf die Personenumwelt aus (Gloger-Tippelt & König, 2016). Sichere Bindungsstrategie (B) Bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter kann eine sichere Bindungsstrategie über die mentale Repräsentation von Bindung nachgewiesen werden. In Narrativen und im Phantasiespiel zeigen diese Kinder klare Vorstellungen von fürsorglichen Erwachsenen. Diese sind als Bindungspersonen repräsentiert, indem sie Gefahren beseitigen und bei Schmerzen oder Angst trösten und schützen. Ebenso wie Kinder in der frühen Kindheit drücken sie ihre Gefühle und Bedürfnisse direkt aus und können über unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen mit ihren Bindungspersonen verhandeln. Auf der Verhaltensebene vermögen sie es, negative Gefühle und Belastungen beziehungsorientiert zu bewältigen, das heißt, sich Hilfe bei Bezugspersonen zu holen, die sie als größer, klüger und stärker wahrnehmen. Sie nutzen ihre Fähigkeit der Perspektivübernahme, um sensibel dafür zu sein, dass ihre Bindungspersonen auch

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Bindungstheorie und -forschung

Bindungspersonen nicht verfügbar, zurückweisend Sachumwelt

Bindungspersonen akzeptierend, bieten Sicherheit und Nähe Orientierung

Bindungspersonen inkonsistent, unberechenbar Personenumwelt

flexibel

unsichervermeidend

Deaktivierung

sicher

Emotionsregulierung

unsicherambivalent

Maximierung

ausbalanciert Unterdrückung von negativen Gefühlen, Kränkungen, Angst

Emotionale Offenheit für positive und negative Gefühle

Gefühlsüberflutung, Hilflosigkeit, Ärger, Abhängigkeit

Abbildung 3: Organisierte Bindungsstrategien auf einer Dimension der Aufmerksamkeitsorientierung und Emotionsregulierung (modifiziert nach Gloger-Tippelt, 2016, S. 96)

eigene Bedürfnislagen haben, und fühlen sich dadurch weder verlassen noch zurückgewiesen (Marvin, 1977). Sie sind in der Lage, eine situationsangemessene, balancierte Nähe-Distanz-Regulation herzustellen. Unsicher-vermeidende Bindungsstrategie (A) In den Bindungsrepräsentationen von unsicher-vermeidend gebundenen Grundschulkindern finden sich kaum negative Gefühle wie Angst, Ärger, Schmerz oder Traurigkeit. Diese Kinder haben es verstanden, ihre bindungsbezogenen Gefühle zu leugnen oder zu unterdrücken, insbesondere in belastenden Situationen. Auf der Verhaltensebene erlaubt ihnen dies, mit ihren hauptsächlichen Bindungspersonen in Kontakt zu bleiben, da sie diese nicht emotional involvieren wollen. Die eigenen (Bindungs-)Bedürfnisse werden demnach zurückgestellt, weil die Bedürfnisse des Gegenübers antizipiert werden und es so zu adaptivem Verhalten kommt (Main, 1981). Im Vergleich mit Kleinkindern im zweiten Lebensjahr wendet sich das ältere Kind demnach nicht körperlich von seiner Bezugsperson ab, vielmehr distanziert es sich psychisch, wirkt emotional unbeteiligt. Auf der Repräsentationsebene sind die Narrative eher schematisch-funktional, der emotionale Ausdruck ist flach und die Aufmerksamkeit verlagert sich auf Objekte in der Umgebung wie Spielsachen und Ähnliches.

Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

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Unsicher-ambivalente Bindungsstrategie (C) Analog zur unsicher-ambivalenten Bindung im Kleinkindalter zeigen Vorschulund Grundschulkinder mit der entsprechenden Bindungsstrategie offen ihren Ärger und ihre Verzweiflung. Allerdings weniger, indem sie ihre Bezugsperson wegstoßen, sondern indem sie ihren Ärger indirekt in Form von Provokationen ausdrücken, um so deren Aufmerksamkeit permanent zu erhalten. Andererseits werden Hilflosigkeit und übertriebene Versorgungswünsche vom Kind signalisiert, so dass die Bindungsperson dauerhaft auf dessen Emotionen ausgerichtet ist und kaum Raum für Autonomieentwicklung bleibt (Crittenden, 1999). Auf der Repräsentationsebene zeigt das Kind eine Dramatisierung seiner Bedürftigkeit in Spielszenen und Narrativen. Erwachsene Bindungspersonen sind als unzuverlässig repräsentiert, so dass die (Bindungs-)Bedürfnisse des Kindes nie in zufriedenstellender Weise erfüllt werden. Diese Kinder stellen handelnde Figuren in projektiven Verfahren der Bindungsdiagnostik als selbstunsicher und wenig kompetent dar. Bindungsthemen können nicht gelöst werden, das Bindungssystem kann sich nicht oder nur unzureichend beruhigen. Bindungsdesorganisation (D) Der kindliche Erfahrungshintergrund der Bindungsdesorganisation kann in einer krankhaft gestörten Versorgungsstruktur, in unverarbeiteten Traumata oder Verlusten der Bindungsperson bestehen (vgl. Granqvist et al., 2017; Teti, 1999). Im Vorschul- und Grundschulalter zeigt sich Bindungsdesorganisation auf der Verhaltensebene in vielfältiger Weise. Im Vergleich zu den drei organisierten Bindungsstrategien stehen diesen Kindern keine adaptiven Verhaltensweisen zur Verfügung, die ihnen Kontakt zu ihren Bindungspersonen oder anderweitige Regulation ihrer Emotionen ermöglicht. Im Vorschulalter zeigt sich häufig ein kontrollierendes Verhalten mit Rollenumkehr, das sich entweder in einem überangepasst-fürsorglichen oder einem aggressiv-strafenden Verhalten ausprägt. Beide Möglichkeiten führen nicht zu einer Emotionsregulation, sondern gefährden das Kind noch zusätzlich (Main & Cassidy, 1988). Auch wenn es so scheint, als würde damit auf der Verhaltensebene eine Strategie bei den Kindern vorliegen, so bleibt die Bindung auf der Repräsentationsebene desorganisiert, da bindungsrelevante Kognitionen und Emotionen unintegriert auftreten. Bei bindungsdesorganisierten Kindern in diesem Alter finden sich abrupte Themenwechsel, extrem negative, chaotische oder bizarre Ereignisse, Gewaltszenen, schwere Verletzungen und Tod in den Narrativen. Aufgrund von dargestellten Sequenzen von Furcht ohne Lösung kann auf Desorganisation geschlossen werden. Andere Kinder erscheinen in der Untersuchungssituation zudem auf der Verhaltensebene plötzlich blockiert und wie erstarrt (GlogerTippelt & König, 2016). Je nach Erhebungsverfahren ist es auch im Vorschulund Grundschulalter möglich, Bindungsdesorganisation als Zusatzklassifika-

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tion neben einer organisierten Bindung (B, A, C) zu erfassen. Da das Konzept von desorganisierter Bindung in dieser Altersspanne bezogen auf die Verhaltens- und Repräsentationsebene sehr heterogen erscheint, wurde es in unterschiedlichen Verfahren der Bindungsforschung unterschiedlich umgesetzt, was im nächsten Kapitel veranschaulicht wird.

3.3.2 Erhebungsmethoden zur Bindung im Vorschul- und Grundschulalter In der mittleren Kindheit, damit ist im Vorangegangenen wie im Folgenden die Altersspanne zwischen vier und zehn Jahren gemeint, erleben Kinder, wie bereits angesprochen, viele Entwicklungsfortschritte, die auch die Organisation und Speicherung von Bindungserfahrungen betreffen. Daher scheint es evident, dass in dieser großen Zeitspanne unterschiedliche Methoden eingesetzt werden, um unterschiedliche Aspekte des Bindungskonstrukts zu erfassen. Man kann diese nach Gloger-Tippelt (2008) grob in – Beobachtungsverfahren, – Projektive Verfahren und – Interviewverfahren einteilen. Allen Erhebungsmethoden ist gemeinsam, dass sie unterschiedliche Muster und Eigenschaften von Bindungsorganisation und Bindungssicherheit in angemessener Weise versuchen zu erfassen. Als äußerst bedeutsam ist dabei der bereits erwähnte Wechsel von der Ebene der Verhaltensbeobachtung und -interpretation hin zur Untersuchung der IAM über die Erhebung der Bindungsrepräsentation. Beobachtungsverfahren erlauben jeweils einen bindungsdiagnostischen Blick auf Muster der dyadischen Beziehung, die im spezifischen Fall untersucht wird. Projektive und Interviewverfahren geben Einblick in die verinnerlichten Bindungserfahrungen der Person und wie diese mental repräsentiert werden. Einige Verfahren untersuchen dabei personenspezifische Bindungsrepräsentationen und andere, wie das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEVB) (Gloger-Tippelt & König, 2016), welches auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung verwendet wurde, erheben eine generalisierte Repräsentation von Bindung im Kindesalter. Beobachtungsverfahren werden in der Regel nur bis ins fünfte Lebensjahr angewandt und nutzen die bereits in der Fremden Situation erfolgreich verwandten Trennungen und Wiedervereinigungen zwischen einem Kind und seiner Bindungsperson als Erhebungsmöglichkeit. Dabei wurden Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre drei unterschiedliche Ansätze entwickelt, die anhand unterschiedlich langer Trennungsepisoden und unterschiedlicher Auswertungsmodalitäten differenziert werden können (vgl. Tab. 5). Ebenso kann im Kindergar-

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ten- und Vorschulalter auf eine Beobachtungssituation zurückgegriffen werden, die von Waters (1995) entwickelt und als Attachment Q-Sort in der Literatur beschrieben wurde. Dabei wird allerdings nicht Verhalten wie in der Fremden Situation im Laborsetting gefilmt, sondern das Kind wird in seinem natürlichen Umfeld zu Hause beobachtet und die Beobachtungen anschließend mit einer Methode zum Sortieren von 90 Aussagen (Q-set) ausgewertet. Da bei diesem Verfahren keine Trennung von der Bezugsperson induziert wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf das »sichere Basis«-Verhalten des Kindes. Eine detaillierte Übersicht zu diesen Verfahren wie auch zu den nachfolgend aufgeführten Methoden findet sich unter anderem bei Solomon und George (2016). Etwa ab acht Jahren, vor allem jedoch in der späten Kindheit bis in die Pubertät hinein werden in der Bindungsforschung Interviewverfahren verwendet, um über den sprachlichen Ausdruck Zugang zu den Inneren Arbeitsmodellen von Bindung zu erhalten. Ähnlich wie beim Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview) (George, Kaplan & Main, 2016), werden die Kinder nach bindungsrelevanten Erfahrungen gefragt (vgl. Kap. 3.4). Für die Auswertung ist neben anderen Skalen die Kohärenz zwischen der semantischen Beschreibung und den eingebrachten episodenhaften Beispielen von Belang (vgl. Gloger-Tippelt, 2008). Während das Child Attachment Interview (CAI) (Target, Fonagy & Shmueli-Goetz, 2003) zur Bindungsklassifizierung bereits eine Mischung aus Kategorien im Erwachsenen- und im Kindesalter anbietet, nutzt das Bindungsinterview für die Späte Kindheit (BISK) (Zimmermann & Scheuerer-Englisch, 2000, 2003) in seiner letzten Überarbeitung (Zimmermann & Scheurer-Englisch, 2013) die Vierfach-Typisierung analog zur Fremden Situation (vgl. Kap. 3.3.1). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Interviewverfahren erst in Frage kommen, wenn bei Kindern das erforderliche Reflexionsvermögen und das sprachliche Vokabular ausgebildet sind. Ebenso wird für die Durchführung ein gewisses Maß an Beteiligung und Daueraufmerksamkeit benötigt, weshalb diese Methoden im Vorschul- und frühen Schulalter noch nicht in Frage kommen (Gloger-Tippelt & König, 2016). Die Gruppe der projektiven Bindungserhebungsverfahren teilt sich in zwei methodische Zugänge: (1) die Interpretation von bindungsthematischen Bildern und (2) die Weiterführung von Geschichten durch Sprache und Spiel. Beide Erhebungsmethoden zielen darauf ab, relevante Teile der Bindungsrepräsentation des Kindes abzubilden. Zu den erstgenannten Verfahren zählt der Separation Anxiety Test (SAT) (Hansburg, 1972; Klagsbrun & Bowlby, 1976), der über ein Set von sechs Trennungsbildern versucht, das Bindungssystem des Kindes zu aktivieren. Über die Fragen, wie sich der Junge / das Mädchen auf dem Bild fühlt und was der Junge / das Mädchen macht, werden Informationen über das Bewältigungsverhalten und die Gefühlsregulation gewonnen. Der SAT existiert in verschiedenen Versionen mit unterschiedlichen Auswertungsmodalitäten. Eine

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prominente und häufiger eingesetzte Version stammt von Kaplan (1987), die eine mit der Fremden Situation vergleichbare vierfache Klassifikation vorsieht und von Jacobson und Ziegenhain (1997) ins Deutsche übertragen wurde. Methoden, die zur Gruppe der Puppenspiel- oder Geschichtenergänzungsverfahren zählen, gehen auf die von Bretherton & Ridgeway (1990) entwickelte Attachment Story Completion Task (ASCT) und die Forschungen mit der MacArthur Story Stem Battery (MSSB) (Bretherton, Oppenheim, Buchsbaum, Emde & the MacArthur Narrative Working Group, 2003) zurück, an deren Aufbau und Geschichten sich alle späteren Verfahren anlehnen. Voraussetzung für einen projektiven Gehalt der Spielnarrative ist das sogenannte Als-Ob-Spiel, das bereits schon bei zweijährigen Kindern in einfachen Formen beobachtet werden kann. Ab dem dritten Lebensjahr zeigen sich komplexere Formen des Als-ObSpiels, bei denen Kinder Interaktionen mit Figuren spielen und diesen Gefühle und Absichten zuschreiben (Gloger-Tippelt & König, 2016). Ab diesem Alter, und noch deutlicher bei älteren Kindern, finden sich in den Spielnarrativen auch geordnete Ereignisrepräsentationen von Alltagsroutinen wie zu Bett gehen, frühstücken etc. wieder (vgl. Bretherton & Munholland, 2016). In den IAM werden »Beziehungs-Skripts« für unterschiedliche Erlebnisse mit Personen angelegt, die dem Kind helfen, seine innere Welt zu ordnen und vorhersehbarer zu gestalten (ebd.). In der ASCTmachen sich Bretherton und Kolleginnen (1990) dies zu Nutze, indem sie fünf Kerngeschichten entwerfen, die das Bindungssystem des Kindes sukzessive stärker aktivieren sollen. Dabei wird von einer Untersucherin der Anfang einer Geschichte mit Puppenfiguren gespielt und das Kind wird am Höhepunkt der Geschichte aufgefordert, diese zu Ende zu erzählen bzw. zu spielen. Aus den Geschichtenergänzungen kann auf die vorherrschende Bindungsrepräsentation des Kindes geschlossen werden. Die ASCT ist seit einigen Jahren auch in deutscher Sprache zugänglich (Bretherton, Suess, Golby & Oppenheim, 2001; Bretherton & Kißgen, 2009). Das GEV-B, welches wesentlich auf der ASCT basiert, soll im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden. Vergleichbare Puppenspielverfahren anderer Forschergruppen unterscheiden sich sowohl in den Geschichteninhalten, der Durchführung und der Auswertung. So erhebt die Manchester Child Attachment Story Task (MCAST) (Green, Stanley, Smith & Goldwyn, 2000) z. B. differenzierte Bindungsrepräsentationen für väterliche und mütterliche Bindungsfiguren (vgl. Neubert, 2016). Tabelle 5 gibt einen Überblick über die meistgenutzten Erhebungsverfahren im Vorschul- und Grundschulalter. Abschließend ist zu Bindungsrepräsentationen, die aus Spielverfahren gewonnen werden, zu sagen, dass diese zwar auf erlebten Erfahrungen beruhen, jedoch durch individuelle Interpretation dieser Erfahrungen, durch Regulation von Emotionen und durch Abwehrprozesse verzerrt werden können oder von Fantasien und Wünschen des Kindes beeinflusst werden. Daher ist es evident,

81

Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

dass die Repräsentation nicht ausschließlich die tatsächlichen Erfahrungen des Kindes widerspiegelt (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 82). Tabelle 5: Erhebungsverfahren zur Bindung im Vorschul- und Grundschulalter Alter

Methode

Ebene der Erfassung

Zugangsweise

1–5 Jahre

Attachment Q-Sort (AQS; Waters, 1995).

Verhaltensebene

Beobachtungsverfahren

2,5–6 Jahre

Modifikationen der Fremden Situation (strange situation) – Preschool Attachment Classification System (PACS; Cassidy & Marvin with the MacArthur Attachment Working Group, 1992). – Preschool Assessment of Attachment (PAA; Crittenden, 1994). – Main-Cassidy Attachment Classification System (Main & Cassidy, 1988). Puppenspiel- und Geschichtenergänzungsverfahren (doll play and story stem measures) – Attachment Story Completion Task (ASCT; Bretherton & Ridgeway, 1990). – ASCT Q-Sort Classification System (ASCT Q-Sort; Miljkovitch, Pierrehumbert, Karmaniola & Halfon, 2003). – Attachment Doll Play Assesment (ADPA; George & Solomon, 1990/2000). – Manchester Child Attachment Story Task (MCAST; Green et al., 2000). – Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung/ German Attachment Story Completion Procedure (GEV-B/ GASCP; Gloger-Tippelt et al., 2002; Gloger-Tippelt & König, 2009) – Attachment Doll-Play Interview for preschoolers (DPI; Oppenheim, 1997) – Story Stem Assessment Profile (SSAP; Hodges, Steele, Hillman, & Henderson, 2003) – The Child Attachment and Play

Verhaltensebene

Beobachtungsverfahren

Repräsentationsebene

Projektive Verfahren

3,5–8,5 Jahre / 11,5 Jahre (unter leichten Modifikationen)

82

Bindungstheorie und -forschung

((Fortsetzung)) Alter

Methode

Ebene der Erfassung

Zugangsweise

Repräsentationsebene

Projektive Verfahren

Repräsentationsebene

Interviewverfahren

Assessment (CAPA; Farnfield, 2016) 4–7 Jahre / Adoleszenz (unter leichten Modifikationen) 8–14 Jahre

Bildkarten Verfahren (picture response measures) – Separation Anxiety Test (SAT; Klagsbrun & Bowlby, 1976) – SAT Kaplan Classification System (SAT; Kaplan, 1987) Interviewverfahren – Child Attachment Interview (CAI; Target et al., 2003) – Bindungsinterview für die Späte Kindheit/ Late Childhood Attachment Interview (BISK/ LCAI; Zimmermann & Scheuerer-Englisch, 2000, 2003) – Friends and Family Interview (FFI; Steele, H. & Steele M., 2005)

3.3.2.1 Das Geschichtenergänzungsverfahren zu Bindung (GEV-B) Das GEV-B ist ein standardisiertes Verfahren der Bindungsforschung, das von Gloger-Tippelt und König (2000, 2009, 2016) als eine deutsche Adaption der ASCT (Bretherton & Ridgeway, 1990) an der Universität Düsseldorf entwickelt wurde. »Die Methode geht zurück auf eine Forschungstradition, die aus der Erzählstruktur von (gespielten) Geschichten, d. h. aus der Organisation von kindlichen Erfahrungen in narrativer Form, einen Zugang zur inneren Welt des Kindes gewinnt« (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 81).

Bis auf kleinere Abweichungen unterscheiden sich ASCT und GEV-B in Konzeption und Aufbau nur wenig voneinander (Gloger-Tippelt, 2003, S. 196). Wesentliche Unterschiede bestehen dagegen bei der Auswertung der gespielten Geschichten, für die Gloger-Tippelt und König ein detailliertes Auswertungssystem vorgelegt und auf Gütekriterien hin überprüft haben (König, 2002; Gloger-Tippelt & Kappler, 2016). Die grundsätzliche Annahme beim GEV-B wie bei anderen Geschichtenergänzungsverfahren auch besteht darin, dass die Geschichtenanfänge selbst dazu dienen, das Bindungssystem des Kindes zu aktivieren. Sie sind hinreichend standardisiert und werden dem Kind immer in der gleichen Abfolge präsentiert.

Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

83

Es handelt sich dabei um fünf Kerngeschichten (Geschichten zwei bis sechs) mit bindungsrelevanten Themen, die durch eine Aufwärm- und eine Abschlussgeschichte gerahmt werden. Die Abfolge der Geschichten mit ihrem jeweiligen Bindungsthema lautet (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 100): 1. Geburtstagsfest (Thema: Vertraut machen mit den Figuren und dem Ablauf der Geschichtenerzählung; Aufwärmgeschichte) 2. Verschütteter Saft (Thema: Missgeschick des Kindes, Eltern als Bindungsfiguren in einer möglichen Autoritätsrolle) 3. Verletztes Knie (Thema: Schmerz als Auslöser für Bindungs- und Fürsorgeverhalten) 4. Monster im Kinderzimmer (Thema: Angst als Auslöser für Bindungs- und Fürsorgeverhalten) 5. Trennung von den Eltern (Thema: Trennungsangst und ihre Bewältigung) 6. Wiedersehen mit den Eltern (Thema: Bindungsverhalten bei Wiederkehr der Eltern) 7. Familienausflug (Thema: Entspanntes Ende; Abschlussgeschichte) Betrachtet man nur die Kerngeschichten, so kann gesagt werden, dass die ersten drei Geschichten eher das Verhalten der Bindungsperson im Sinne der Feinfühligkeit thematisieren, während in den letzten beiden Geschichten das Bindungsverhalten analog zur Fremden Situation angesprochen wird (König, 2002, S. 32). Die Untersuchung soll mit einem entspannten Ende abgeschlossen werden, welches in der Abschlussgeschichte suggeriert wird. In allen Geschichten treten als Ereignisrepräsentationen Alltagsroutinen wie zu Bett gehen und frühstücken auf. Die Themen Missgeschick, Verletzung/Schmerz, Angst und Trennung sind dabei Kindern im Alter ab drei Jahren allgemein vertraut, so dass sie am Höhepunkt der gespielten Geschichte vom Untersucher aufgefordert werden, ein »Als-Ob-Spiel« mit dem vorhandenen Symbolmaterial zu praktizieren. Die Abfolge der Geschichten ist so gewählt, dass das Thema Bindung an Intensität zunimmt und daher häufig seine stärkste Ausprägung bei der Trennung- und Wiedersehensgeschichte findet. Als Spiel- und Symbolmaterial dienen beim GEV-B kleine Puppen und Requisiten wie sie aus Puppenhäusern für Kinder bekannt sind. Es können allerdings auch DuploS-, PlaymobilS- oder entsprechend andere Figuren in Puppenhausgröße verwendet werden (GlogerTippelt & König, 2016). Die Familie besteht im Verfahren standardisiert aus Figuren für Mutter, Vater, Mädchen, Junge und einer Großmutterfigur. Die Hauptfigur hat immer das Geschlecht des untersuchten Kindes und wird mit einem vorgegebenen Namen eingeführt. Der Aufbau der Kerngeschichten im

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Bindungstheorie und -forschung

GEV-B folgt folgenden Prinzipien, die bereits Bretherton und Kollegen (1990) für ihre Geschichtenergänzungen definierten: 1. Eine Anfangssituation mit einigen Hintergrundinformationen. 2. Eine Problemsituation für den Protagonisten. 3. Der Versuch einer Problemlösung/Umgang mit dem Problem durch den Protagonisten. 4. Der Erfolg oder Misserfolg beim Versuch der Problembewältigung. Nachdem die Untersucherin die Figuren eingeführt und die jeweilige Geschichtenerzählung begonnen hat, bleibt sie beim Spiel des Kindes sodann in einer Beobachterrolle. Sie lässt das Kind frei gewähren. Nach jeder gespielten Geschichte werden zwei Fragen an das Kind gerichtet, nämlich, wie es der Identifikationsfigur jetzt geht und was diese denkt.

Bindungssicherheit (dimensional)

wird bestimmt mithilfe von

Kodierung anhand der Videoanalyse orientiert sich an

Kodier- und Zuordnungsregeln daraus resultiert

Bindungssicherheitswert (4 – 0) für jede Geschichte sowie ein globaler Bindungssicherheitswert

Bindungsklassifikation (kategorial)

wird bestimmt mithilfe von

Diagnostische Notizen aus der Durchführung / Videoanalyse orientiert sich an

Bindungstheorie / Schematische Orientierungshilfe daraus resultiert

Hinweise auf Bindungsstrategie in jeder Geschichte (B, A, C, D) sowie eine Bindungsklassifikation

Abbildung 4: Dimensionen von Bindung bei der Auswertung des GEV-B (modifiziert nach Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 109)

Die Auswertung des GEV-B Die Durchführung des Verfahrens mit dem Kind geschieht an einem Tisch und wird vollständig per Video aufgezeichnet. Die anschließende Auswertung verläuft in mehreren Schritten und teilt sich in zwei unterschiedliche Arten von Kategorien: (1) geschichtenspezifische Kodierungen, die letztlich zu einem geschich-

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Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

tenübergreifenden Score gerechnet werden, und (2) qualitative Kategorien, die anhand von diagnostischen Notizen, bestehend aus einer Transkription und Analyse der Spielhandlungen, mittels einer schematischen Orientierungshilfe einer Klassifikation zugeführt werden. Abbildung 4 zeigt die beiden Dimensionen der Auswertung des GEV-B und skizziert die einzelnen Auswertungsschritte. Die Bindungssicherheit des Kindes wird anhand von allgemeinen und geschichtenspezifischen Kodierungen ermittelt. Jede der fünf Kerngeschichten wird bei der Auswertung mit einem Wert von 4 (sehr sicher), 3 (sicher), 2 (unsicher), 1 (sehr unsicher) oder 0 (hoch unsicher) versehen, der angibt, in welchem Ausmaß das Kind seine Eltern als sichere Basis innerlich repräsentiert hat und sich somit sicher fühlt. Durch Errechnung des arithmetischen Mittels der fünf Bindungssicherheitswerte ergibt sich ein geschichtenübergreifender globaler Bindungssicherheitswert für das untersuchte Kind (Gloger-Tippelt & König, 2016).

Geschichtenanfang: Missgeschick, Verletzung, Angst, Trennung, Wiedersehen

Bindungsthema akzeptiert, angesprochen Nein

Übergehen, Vermeiden, Ungeschehen machen

Blockierung, Erstarrung Ja

Nein

Thematisierung von Schmerz, Angst, Trennung, Wiedersehen

Handlung/Lösung

Ja

Gewalt, Tod, Chaos, Bizarres

Nein

Ja

Alltagsroutinen, Deaktivierung: sofort essen, schlafen

kompetente Erwachsene, vertrauensvolle Interaktion, aktive Begrüßung

A

B

Ja, aber auch

Gefahr, Gewalt, Drama, Widerspruch

C

ohne Bezug zum Kontext

D

Abbildung 5: Schematische Orientierungshilfe zur Identifizierung der Bindungsstrategien im GEV-B (nach Gloger-Tippelt, 2007; Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 134)

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Bindungstheorie und -forschung

Mit der Dimension der Bindungsklassifikation wird ausgedrückt, mit welcher Bindungsstrategie das untersuchte Kind seine Emotionen in Belastungssituationen reguliert. Die Identifizierung einer vorherrschenden Bindungsstrategie bzw. der Desorganisation erfolgt anhand einer sowohl theoriegeleiteten als auch empirisch erarbeiteten Orientierungshilfe (vgl. Abb. 5). Zur Güte des Verfahrens liegen mittlerweile zahlreiche Hinweise vor (vgl. Gloger-Tippelt & Kappler, 2016; Gloger-Tippelt & König, 2016). Dabei ist das GEV-B für einen Altersbereich von fünf bis acht Jahren validiert. Ergebnisse zur Reliabilität des GEV-B aus fünf Stichproben belegen eine Interrater-Reliabilität von 87 %. Die konvergente Validität konnte anhand von Studien mittels der Fremden Situation für das Vorschulalter (PACS; Cassidy & Marvin et al., 1992) und des CAI (Target et al., 2003) belegt werden (Gloger-Tippelt, König, Zweyer & Lahl, 2007). Zudem konnten Hinweise für eine Transmission von Bindung gefunden werden, indem mütterliche Bindungsrepräsentationen mit dem Adult Attachment Interview erfasst wurden (Gloger-Tippelt, 1999).

3.3.2.2 Der gegenwärtige Forschungsstand zum GEV-B Im deutschen Sprachraum wurden bislang die bedeutendsten Forschungsaktivitäten mit dem Geschichtenergänzungsverfahren von der Arbeitsgruppe um Gabriele Gloger-Tippelt und Lilith König getätigt (Gloger-Tippelt et al., 2002, 2007; König, Gloger-Tippelt & Zweyer, 2007; Paulus, Becker, Scheub & König, 2016; Zellmer, 2008). Daneben wurde in jüngerer Zeit das GEV-B auch von anderen Forschern in empirischen Studien angewandt (Günther, 2012; Kummetat, 2007; Richartz, Krapf & Hoffmann, 2013; Schlitz et al. 2013, Schwarz, 2015; Franke et al., 2017). Eine Übersicht ist bei Gloger-Tippelt und Kappler (2016) zu finden, die in einer Mehrebenenanalyse von 22 Studien mit dem Geschichtenergänzungsverfahren, darunter auch fremdsprachige Studien, nachweisen konnten, dass bei Kindern zwischen 4,5 und 8,5 Jahren sowohl Geschlechtsunterschiede als auch Unterschiede abhängig vom Alter des Kindes in den Bindungsklassifikationen bestehen. Bei jüngeren Kindern wurden dabei häufiger unsichere Bindungsstrategien gefunden. Mit steigendem Alter steigt in diesen Studien auch die Bindungssicherheit der Kinder. Ebenso wurde berichtet, dass Jungen mehr desorganisierte Bindungsrepräsentationen aufweisen als Mädchen, deren Bindungsrepräsentationen signifikant sicherer sind. Die Befunde differenzieren zudem unter dem Gefährdungsaspekt der Kinder (risk/norisk). Im Ergebnis finden sich deutlich mehr desorganisierte Klassifikationen in Risikostichproben verglichen mit unbelasteten Stichproben. Da diese Daten auch für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind, werden sie in Tabelle 6 detaillierter dargestellt.

Bindung im Vorschul- und Grundschulalter

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Tabelle 6: Bindungsklassifikationen von 4,5–8,5 Jahre alten Kindern erhoben mit dem GEV-B in einer zusammenfassenden Analyse (pooled analysis) von 22 Studien (nach Gloger-Tippelt & Kappler, 2016, S. 581)

sicher (B) unsicher-vermeidend (A) unsicher-ambivalent (C) desorganisiert (D)

no-risk (N = 642) 36.6 % 36.8 % 15 % 11.7 %

risk (N = 245) 25.3 % 33.5 % 8.6 % 32.7 %

Ersichtlich ist, dass in Risikostichproben die unsicher-vermeidende Bindungsstrategie am häufigsten in den untersuchten, überwiegend deutschen Stichproben gefunden wurde. Auch in unbelasteten Gruppen zeigt sich eine annähernde Gleichverteilung der sicheren und unsicher-vermeidenden Klassifikationen. Mögliche Gründe für diesen Unterschied zu weltweiten Erhebungen mit der Fremden Situation diskutieren Gloger-Tippelt und Kappler (2016) in einer möglichen Besonderheit deutscher oder europäischer Stichproben, weisen jedoch vor allem verstärkt auf den Methodenwechsel im Vergleich zum Kleinkindalter sowie den Unterschied zwischen der Verhaltens- und Repräsentationsebene hin. Mit Blick auf internationale Studien mit dem ASCT und daran angelehnten Geschichtenergänzungsverfahren zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen sicheren, unsicheren und desorgansierten Klassifikationen eine große Spannweite aufweist. Nicht zuletzt könnte dies an unterschiedlichen Durchführungs- und Auswertungsmodalitäten der Puppenspiele liegen (ebd.). In den untersuchten Studien finden sich einige Forschergruppen, die auch ältere Kinder (neun- und zehnjährige) mit dem GEV-B untersuchten (z. B. Richartz et al., 2013). Ebenso konnte Schwarz (2015) in seiner Studie zur Bindungsrepräsentation bei fünf- bis elfjährigen Jungen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Störung des Sozialverhaltens nachweisen, dass das GEV-B auch bei vielen älteren Kinder gut einsetzbar ist. Mit leichten Modifikationen wurde ebenso das ASCT, z. B. in einer israelischen Studie mit Schulkindern, für einen höheren Altersbereich erfolgreich erprobt (Granot & Mayseless, 2001). Validierungsstudien für neun- bis elfjährige Kinder stehen allerdings noch aus. Im folgenden Kapitel wird über die Bindungsforschung im Erwachsenenalter berichtet. Unter Nichtberücksichtigung der Adoleszenz und des Jugendalters schließt sich damit der Kreis zu den Elternpersonen, die Kinder im Grundschulalter betreuen und in der Regel als Bindungsfiguren zur Verfügung stehen.

88

3.4

Bindungstheorie und -forschung

Bindung im Erwachsenenalter

Die Erforschung von Bindung im Erwachsenenalter erfolgte vergleichsweise deutlich später als die Bindung im frühen Kindesalter. Obwohl Bowlby und Ainsworth stets die Wichtigkeit des Bindungssystems im gesamten Lebenslauf betonten (vgl. Ainsworth, 1991; Bowlby, 1988/2014), war es unter anderem die Arbeitsgruppe um Mary Main, die für diesen Altersbereich empirische Pionierarbeit leistete (vgl. George, Kaplan & Main, 1984; Main, Kaplan & Cassidy, 1985). Wie bereits für das mittlere Kindesalter konstituiert, spiegeln sich Bindungserfahrungen im Erwachsenenalter als mentale Repräsentanzen wider und werden versucht, vor allem über die Sprache erfassbar zu machen. Zwei miteinander verbundene Forschungsbereiche lassen sich erkennen: Bindung als Partnerschaftsbeziehung zu anderen Erwachsenen (Hazan & Shaver, 1987) und Bindung als individueller state of mind with respect to attachment, was GlogerTippelt (2016) mit »mentaler Verarbeitungszustand von Bindungserfahrungen« übersetzt. Letzteres hängt stark mit der Entwicklung des Adult Attachment Interviews (AAI) zusammen, welches heute als Referenz zur Erfassung der Bindungsrepräsentation im Erwachsenenalter bezeichnet werden kann (vgl. George, Kaplan & Main, 1984, 1985, 1996; Gloger-Tippelt, 2016). Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit ist das Erwachsenenalter insofern von Bedeutung, da die Intervention in der Familienberatung neben dem vorgestellten Kind mindestens einen erwachsenen Elternteil betrifft. Als wichtige Bindungsperson für das Kind ist dabei insbesondere das Elternverhalten von großer Bedeutung (vgl. Kap. 3.5). Auch aufgrund der beschriebenen Transmission von Bindung (vgl. Kap. 3.2.3) wird nun im Folgenden ein Schlaglicht auf das AAI geworfen, da aus ihm die Bindungsklassifikationen resultieren, die auch für das Adult Attachment Projective (AAP) relevant sind. Auf das AAP wird dabei ausführlicher eingegangen, da es in der später vorgestellten Studie als Inventar angewandt wurde.

3.4.1 Erhebungsverfahren zur Bindung im Erwachsenenalter Die zentrale Erhebungsmethode im Erwachsenenalter, das AAI, kann nun bereits auf eine mehr als 30-jährige Geschichte zurückblicken (Hesse, 2016). In diesem Zeitraum haben sich neben dem ursprünglichen, immer wieder aktualisierten Kodier- und Klassifikationssystem der Autoren (vgl. Main & Goldwyn, 1984; Main, Goldwyn & Hesse, 2003) weitere Auswertungssysteme etabliert (Fonagy et al., 1991; Kobak, 1993). Wesentlich für das halbstrukturierte klinische Interview ist die Absicht, die frühen Erfahrungen des Probanden mit den Bezugspersonen in seiner Herkunftsfamilie zu erheben und die Einschätzung

Bindung im Erwachsenenalter

89

der Bedeutung dieser Erfahrungen aus aktueller heutiger Sicht zu erfragen. Das AAI unterscheidet sich von anderen biografischen Leitfadeninterviews dahingehend, dass die vorgesehene Reihenfolge der Fragen und Nachfragen strikt eingehalten werden muss, der interviewten Person andererseits sehr viel Freiraum für ausführliche Erfahrungsberichte eingeräumt wird. Das Interview besteht aus 23 Fragen (ohne die spezifischen Nachfragen) und wurde 2001 erstmals in einer detaillierten Fassung in deutscher Sprache publiziert (George, Kaplan & Main, 2016). Die zentrale Herausforderung bei der Beantwortung dieser Fragen besteht darin, in konstruktiver Art und Weise über bindungsrelevante Beziehungen und Erfahrungen, vor allem aus der Kindheit, aber auch im Leben grundsätzlich, zu reflektieren, während man gleichzeitig in kooperativer und kohärenter Form ein Gespräch mit dem Interviewer aufrecht erhalten muss (Main, Hesse & Goldwyn, 2008). Wesentlich für die Auswertung des AAI ist die Frage danach, welche Bedeutung die interviewte Person ihren Kindheitserfahrungen zumisst und wie sie sich das Verhalten ihrer Bezugspersonen heute erklärt. Das Interview soll den mentalen Verarbeitungszustand von Bindungserfahrungen erfassen. Es bewertet die sprachliche Darstellung der Bindungserlebnisse sowie anhand eines Interviewtranskripts die Kohärenz und Stringenz der mitgeteilten Lebensgeschichte. Anschließend wird anhand einer festgelegten Kodier- und Auswertungsprozedur die vorherrschende Bindungsrepräsentation bestimmt (vgl. Main et al., 2003). Die Durchführung des AAI dauert zwischen einer und anderthalb Stunden. Die Bindungsklassifikationen, die im Zuge des AAIs für das Jugendlichen- und Erwachsenenalter eingeführt wurden, werden im Kapitel 3.4.2 näher beschrieben.

Adult Attachment Projective (AAP) Das AAP (in der Literatur auch: Adult Attachment Projective Picture System; George, West & Pettem, 1997; George & West, 2001, 2012) wurde entwickelt, um neben dem »goldenen Standard«, dem AAI, ein ökonomischeres Instrument zur Erfassung der Bindungsrepräsentation bei Erwachsenen zur Verfügung zu haben, das vergleichbare Ergebnisse zu liefern vermag (Buchheim, George, Juen & West, 2016, S. 357). Das AAP ist ein projektives Verfahren, welches aus acht Bildtafeln mit schwarz-weißen Umrisszeichnungen besteht, die nur so viele Details wie nötig enthalten, um auf das dargestellte Ereignis schließen zu können. Das Bilderset beginnt mit einem neutralen Stimulus (Aufwärmbild), auf das sieben bindungsrelevante Szenen folgen: 1. Ein Mädchen steht in einem Zimmer und schaut aus einem Fenster (Kind am Fenster). 2. Ein erwachsener Mann und eine erwachsene Frau stehen sich gegenüber, am Boden sieht man Gepäck (Abreise).

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Bindungstheorie und -forschung

3. Eine jugendliche Person sitzt alleine auf einer Bank, hat ihre Beine angewinkelt und ihren Kopf in die verschränkten Arme gelegt (Bank). 4. Ein Kind sitzt im Bett, hat seine Arme in Richtung der am Fußende des Bettes sitzenden Frau ausgestreckt (Bett). 5. Eine ältere Frau und ein Kind beobachten durch ein Fenster einen Krankenwagen und zwei Sanitäter, die eine Trage in den Händen halten (Krankenwagen). 6. Ein Mann steht an einem Grabstein (Friedhof). 7. Ein Kind ist in einer angedeuteten Ecke zu sehen, es hält seinen Kopf zur Seite geneigt und streckt seine Arme mit angewinkelten Händen und geöffneten Handflächen von sich (Kind in der Ecke). Die Reihenfolge ist bei der Durchführung strikt einzuhalten, da durch die Abfolge der Bilder das Bindungssystem des Probanden graduell aktiviert werden soll. Während der Bildbetrachtung soll von der Probandin eine Geschichte dazu erzählt werden, was auf dem Bild passiert, was zu der dargestellten Szene geführt haben könnte, was die Personen denken oder fühlen und was als Nächstes passieren wird. Nicht benannte Aspekte werden nochmals vom Untersucher nachgefragt. Bei der Durchführung des AAP werden demnach Vorgehensweisen projektiver und halbstrukturierter Interviews kombiniert (George, West & Kißgen, 2009). »Das AAP fragt also, anders als das AAI, nicht nach persönlichen Erfahrungen, sondern danach, wie die Person mit bindungsrelevanten Themen umgeht« (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012, S. 582) [Hervorh. d. Verf.]. Die AAP-Narrative werden wörtlich transkribiert und nach festgelegten Kriterien, die von den Autoren als Marker bezeichnet werden, ausgewertet. Der Prozess der Analyse und Beurteilung gliedert sich in die Abschnitte: Inhalt der erzählten Geschichte, Qualität des Diskurses und Abwehrprozesse in den Narrativen (George & West, 2012). Das AAP hat sich bezüglich der psychometrischen Gütekriterien als zuverlässiges und valides Untersuchungsinstrument im Erwachsenenalter erwiesen. Die Interrater-Reliabilität zeigte in einer großen Studie bei vier Gruppen (sicher, distanziert, verstrickt, unverarbeitet) eine Übereinstimmung von 90 %. Die Test-Retest Reliabilität betrug 84 % bei einer Vierfach-Klassifikation (ebd.). Die konvergente Validität wurde mit dem AAI überprüft. Es wurden 90 % Übereinstimmungen bezüglich der Vierfach-Klassifikation und 97 % für sichere vs. unsichere Bindungsrepräsentationen gefunden (Zweifach-Klassifikation). Cyr und Kollegen verglichen mütterliche Bindungsrepräsentationen, erhoben mit dem AAP, und Bindungsmuster von fünfjährigen Kindern, erhoben mit der PACS (Cassidy & Marvin et al., 1992), und konnten zeigen, dass diese signifikant miteinander korrespondierten (Cyr, B8liveau & Moss, 2003). Mittlerweile liegen auch für deutschsprachige Studien zufriedenstellende Daten zur Reliabilität und

Bindung im Erwachsenenalter

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konvergenten Validität mit dem AAI vor. Dies sowohl in unbelasteten als auch in klinischen Stichproben (vgl. Buchheim & George, 2012; Buchheim, Gander & Juen, 2014). In einer neueren Studie von Karen Jones-Mason und Kollegen (2015) an 101 jungen Erwachsenen konnten diese Übereinstimmungen zwischen AAP und AAI jedoch nicht bestätigt werden. Die Autoren der Studie plädieren daher dafür, die verschiedenen Facetten, die mit beiden unterschiedlichen Instrumenten erhoben werden, bei zukünftigen Forschungen genauer zu betrachten (Jones-Mason, Allen, Hamilton & Weiss, 2015). Andere Verfahren, die beanspruchen, die Bindung im Erwachsenenalter zu erheben, werden in Rahmen dieser Arbeit nicht thematisiert, da sie nicht von Belang sind und teilweise mit anderen Auswertungsklassifikationen operieren. Für eine Darstellung dieser Verfahren sei auf Kirchmann, Singh und Strauß (2017) sowie von Sydow (2016) verwiesen.

3.4.2 Bindungsrepräsentationen im Erwachsenenalter In den Forschungsarbeiten der Arbeitsgruppe um Mary Main mit dem AAI wurden analog zu den Bindungsqualitäten in der frühen Kindheit vier Hauptgruppen unterschieden. Diese Bindungsklassifikationen werden entsprechend auch im AAP angewendet. Es handelt sich dabei um drei organisierte Bindungsrepräsentationen oder Bindungsmodelle (sicher, distanziert, verstrickt) und eine desorganisierte Bindungsrepräsentation, die mittlerweile als unverarbeiteter Bindungsstatus bezeichnet wird (vgl. Gloger-Tippelt, 2016). Wie auch im Vorschul- und Grundschalter gilt für die Bindungsdiagnostik im Erwachsenenalter : »Bei der Klassifikation der Qualität einer Bindungsrepräsentation geht es um die Wertschätzung von Bindungen als Quelle der Sicherheit, um ihre relativ ›objektive‹ Bewertung, einschließlich der negativen Aspekte, um den offenen Umgang mit den Bindungsgefühlen Angst, Ärger und Trauer und um das Erkennen der Bedingungen und Situationen, in denen diese Gefühle auftreten. Darüber hinaus wird beurteilt, über welche Möglichkeiten man verfügt, die mit der Herausforderung verbundenen Gefühle durch konstruktive Lösungen zu überwinden« (Grossmann, K. & Grossmann, K.E., 2012, S. 582).

Im Folgenden werden wie in den Abschnitten zuvor (vgl. Kap. 3.2.2 und Kap. 3.3.1) zunächst die organisierten Bindungsklassifikationen und dann die desorganisierte Klassifikation, der unverarbeitete Bindungsstatus, behandelt.

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Bindungstheorie und -forschung

Sicher-autonome Bindungsrepräsentation (F) Narrative im AAP von sicher-autonom (free autonomous) klassifizierten Erwachsenen enthalten Personen, die auf eine internalisierte sichere Basis zurückgreifen können. Dies zeigt sich unter anderem in Geschichten, in denen in real existierende Bindungsbeziehungen Freude oder Trost erlebt werden können, oder in den fiktiven Geschichten, in denen Protagonisten eine klar umrissene Identität haben und eine kohärente Diskursqualität erkennbar ist (vgl. George et al., 2009). Im AAI zeigen Probanden einen guten Zugang zu ihren Kindheitserfahrungen und eine ausgeprägte Erinnerung daran. Unabhängig davon, ob dies positive oder schmerzvolle Erfahrungen waren, können Personen mit sicher-autonomer Bindungsrepräsentation frei und gut reflektiert darüber berichten und vermitteln so ein kohärentes Bild ihrer frühkindlichen Erinnerungen. Unsicher-distanzierte Bindungsrepräsentation (Ds) Auffälligstes Merkmal einer unsicher-distanzierten Bindungsrepräsentation (dismissing) im AAP ist die »Deaktivierung« als Abwehrmechanismus. Sie dient dazu, bindungsrelevante Inhalte auf den vorgelegten Bildtafeln zu neutralisieren oder zu minimieren. Weitere Indizien sind funktionale Beziehungen der Personen in den Narrativen und die Abstinenz von persönlichen Erfahrungsinhalten. Im AAI äußern Erwachsene nur wenige oder vage bindungsrelevante Erinnerungen an ihre Kindheit. Häufig finden sich Idealisierungen der Beziehung zu den eigenen Eltern. Bindungsrelevante Anteile werden wenig bedeutend berichtet und wie auch im AAP schildern Menschen mit unsicher-distanzierter Klassifikation eher ihre eigene Leistung ohne Zuhilfenahme einer real existierenden Bezugsperson oder stellen Personen als disziplinierte, angepasste Menschen dar, die keine Unterstützung von anderen benötigen (ebd.). Unsicher-verstrickte Bindungsrepräsentation (E) Personen die im AAP eine unsicher-verstrickte, vielfach auch unsicher-präokkupierte Bindungsrepräsentation genannt (enmeshed, preoccupied), aufweisen, zeichnen typischerweise keine klaren Identitäten in ihren Geschichten, machen vage Angaben und der Protagonist wird häufig als handlungsunfähig dargestellt. Als hauptsächlicher Abwehrprozess kann die »Kognitive Abtrennung« gesehen werden, die sich z. B. in nicht zu Ende erzählten Geschichten oder zwei parallel verlaufenden konkurrierenden Erzählsträngen zeigen kann (Buchheim et al., 2016). Im AAI zeigen sich die berichteten Erfahrungen der Erwachsenen inkohärent, sehr ausschweifend und widersprüchlich. Ereignisse aus der Kindheit werden sehr emotional, oft ängstlich oder ärgerlich berichtet. Die Verstrickung zeigt sich außerdem in einer sehr geringen Distanz zu den Bindungsfiguren sowie einer Überbewertung der negativen Erfahrungen (Behringer, 2017).

Bindung im Erwachsenenalter

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Unverarbeiteter Bindungsstatus (U) Ein unverarbeiteter Bindungsstatus (unresolved) wird im AAP klassifiziert, wenn die Person nicht dazu in der Lage ist, bedrohliche Inhalte, wie Gefahr, Misshandlung und Ähnliches zu integrieren oder abzuwenden bzw. eine Lösung dafür zu finden. Bezüglich der Abwehrdimension wird sodann ein »Abgetrenntes System« identifiziert, das vom Individuum nicht integriert oder reorganisiert werden konnte (George et al., 2009). Einer unverarbeiteten Bindung liegen nicht selten ungelöste traumatisierende (Beziehungs-)Erfahrungen zugrunde. Charakteristisch für das AAI ist ein hoher Grad an verbaler und gedanklicher Inkohärenz beim Erwachsenen, so dass bei Schilderungen des Affekterlebens häufig inhaltlich logische Brüche vorkommen. In den Anamnesen von Menschen mit unverarbeitetem Bindungsstatus zeigt sich häufig, dass diese aus »Risikofamilien« stammen und Missbrauch, Misshandlung, extreme Verluste oder Verwahrlosung erlebt haben (Hauser, 2016). Im Gegensatz zum AAI erlaubt das AAP, keine organisierte Bindungsrepräsentation (F, Ds, E) zusätzlich zum desorganisierten Status (U) zu klassifizieren. Ebenso verzichtet das AAP auf einen nicht klassifizierbaren Bindungsstatus (CC) (cannot classify), der im AAI vorhanden ist und darauf hinweist, dass keine eindeutige Zuordnung zu den beiden unsicheren Bindungsrepräsentationen »distanziert« und »verstrickt« möglich ist oder es aber zu abrupten Wechseln unterschiedlicher Repräsentationsmodelle im Interview kommt und keine vorherrschende Organisation einer Bindungsrepräsentation zu erkennen ist. Die Kategorie CC wird von den meisten Forschergruppen dem desorganisierten Bindungsstatus zugerechnet (ebd.). Da es für das AAP bislang noch keine Metaanalysen zur Verteilung der Bindungsrepräsentationen gibt, sollen hier als Anhaltspunkt die Forschungen zum AAI herangezogen werden (Bakermans-Kranenburg & van IJzendoorn, 2009). Dort findet sich in unbelasteten Stichproben ein Anteil von 50 % sicher-autonomer Bindungsrepräsentationen und 16 % mit unverarbeitetem Bindungsstatus (vgl. Tab. 7). In klinischen Stichproben herrscht ein beinahe umgekehrtes Verhältnis mit nur 21 % sicheren Repräsentationen und 43 % unverarbeiteten Bindungen. Aus den bisherigen größeren Studien mit dem AAP lässt sich mit der gebotenen Vorsicht interpretieren, dass die Verhältnisse nicht vollkommen mit denen des AAI übereinstimmen. So fanden sich in klinisch unbelasteten Stichproben nur rund 8 bis 30 % sichere Bindungsrepräsentationen mit dem AAP, dafür war in diesen Studien das Verhältnis der unsicher-distanzierten und der unverarbeiteten Repräsentationen höher (vgl. Delvecchio, Pazzalgi, Di Risio, Chessa & Mazzeschi, 2013; Fitzke, Buchheim & Juen, 2013; Jones-Mason et al., 2015; Mazzeschi, Pazzalgi, Laghezza, Radi, Battistina & De Feo, 2014; van Ecke, Chope & Emmelkamp, 2005). Somit scheint das AAP sensibler für die Interpretation unsicherer Bindungsrepräsentationen zu sein. Dabei wurde dem Instrument eine speziell hervorstechende Trauma-Sensitivität aufgrund seiner

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Bindungstheorie und -forschung

Auswertungsprinzipien hinsichtlich »Abgetrennter Systeme« bereits von George und West (2012) mit in die Wiege gelegt. Tabelle 7: Prozentuale Verteilungen der Bindungskategorien im AAI in Normalstichproben (N = 7781) und klinischen Stichproben mit verschiedenen Störungsbildern (N = 1854) (nach Bakermans-Kranenburg & van IJzendoorn, 2009)

sicher-autonom (F) unsicher-distanziert (Ds) unsicher-verstrickt (E) unverarbeitet (U / CC)

3.5

Normalstichpr. (N = 7781) 50 % 24 % 9% 16 %

Klinische Stichpr. (N = 1854) 21 % 23 % 13 % 43 %

Bindung und Verhaltensauffälligkeit

Problematisches Verhalten in der Kindheit ist assoziiert mit einer Beeinträchtigung für das individuelle Wohlbefinden eines Kindes sowie darüber hinaus für sein soziales Umfeld, insbesondere für die elterlichen und familialen Beziehungen (Barkmann, 2004). Dass es Zusammenhänge gibt zwischen den Bindungsstrategien und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern im Vorschulund Schulalter, gilt im wissenschaftlichen Diskurs als unbestritten. Bereits vor Jahrzehnten wurden in zahlreichen Studien Hinweise dafür gefunden und bestätigt (vgl. Gloger-Tippelt et al., 2007; Lyons-Ruth, Alpern & Repacholi, 1993; Moss, Parent, Gosselin, Rousseau & St-Laurent, 1996; Solomon, George & de Jong, 1995; Speltz, Greenberg & DeKlyen, 1990). Bevor dies jedoch im Weiteren detaillierter erörtert wird, soll der Begriff der Verhaltensauffälligkeit näher definiert werden, da er für die vorliegende Arbeit zentral ist. Danach wird die Bedeutung von Bindung als Schutz- und Risikofaktor in diesem Zusammenhang referiert, bevor neuere Forschungsergebnisse zu unsicherer und desorganisierter Bindung und spezifischen psychischen Auffälligkeiten rezipiert werden.

3.5.1 Erscheinungsformen und Genese von Verhaltensauffälligkeiten Der Terminus Verhaltensauffälligkeit bezeichnet noch keine psychiatrische Diagnose, sondern kann als nicht ganz trennscharfe Sammelbezeichnung verstanden werden (vgl. Steinhausen, 2006). Die Begrifflichkeiten der Verhaltensauffälligkeiten, Verhaltensstörungen und Verhaltensprobleme werden dabei in der Literatur weitgehenden synonym gebraucht und finden sowohl im klini-

Bindung und Verhaltensauffälligkeit

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schen als auch besonders im pädagogischen Bereich Anwendung (vgl. Myschker & Stein, 2014). Zur weiteren Definition des Gegenstandes ist es aus systemisch-konstruktivistischer Sicht zunächst notwendig zu beachten, dass die Kategorisierung »verhaltensauffällig« von einer Beobachterin getroffen wird, die ein bestimmtes Verhalten eines Kindes wahrnimmt und es folglich als auffällig bewertet (Trapmann & Rotthaus, 2013). Verhaltensauffälligkeit ist insofern keine Entität an sich. Mit Fröhlich-Gildhoff (2013) kann dann die Frage gestellt werden, ob es sich bei der Unterscheidung auffällig versus unauffällig um ein Kontinuum mit zwei Polen handelt oder ob es eine klare qualitative Entscheidung zwischen auffälligem Verhalten einerseits und unauffälligem Verhalten andererseits gibt. Der Bezugspunkt für letzteres wäre eine wie auch immer geartete Norm, nach der sich die Beobachterin (bzw. der Diagnostiker) richtet. Dabei lassen sich unterschiedliche Normen finden, nach denen auffälliges Verhalten definiert wird (ebd.): 1. Soziale Normen (werden durch die jeweilige Bezugsgruppe wie Familie oder Schulklasse definiert). 2. Statistische Normen (beschreiben die Auftretenshäufigkeit von bestimmten Verhaltensweisen oder Merkmalen). 3. Funktionale Norm (beschreibt Normalität anhand der Erfüllung bestimmter Anforderungen und Funktionen). 4. Ideale Norm (beschreibt Normalität ausgehend von der Erfüllung von Merkmalen und Kennzeichen der Vollkommenheit). 5. Subjektive Norm (bezeichnet eine individuelle, selbstgesetzte Normalität, die sämtliche anderen Normen abdecken kann). Jede Norm ist somit eine mehr oder weniger empirisch gestützte Übereinkunft zwischen Menschen, die demnach gesellschaftlich-sozialen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Ein Blick auf den historischen Kontext von Verhaltensstörungen und psychischen Auffälligkeiten als auch auf unterschiedliche Kulturen in unterschiedlichen Ländern macht dies offenbar (ebd.). Um letztlich die Bedeutung des Abweichens von einer festgelegten Norm zu definieren, genügt es daher nicht, etwaige (psychische) Symptome zu definieren. Üblicherweise werden mehrere Kriterien zeitgleich betrachtet, um ein differenzierteres Bild der Verhaltensauffälligkeit abzubilden. Ein auch für die Kinder- und Jugendhilfe relevantes Beispiel eines Kriterienkatalogs zur Einschätzung von der Norm abweichenden Verhaltens ist bei Harnach (2011) zu finden. Sie benennt hauptsächlich folgende Differenzierungen: 1. Alter und Geschlecht (kindliches Verhalten ist immer im Bezug zum jeweiligen Alter und Entwicklungsstand sowie geschlechtsspezifisch zu betrachten).

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Bindungstheorie und -forschung

2. Dauer des Verhaltens (legt je nach zeitlichem Auftreten des kindlichen Verhaltens fest, ob das Abweichen von der Norm als Auffälligkeit bzw. Störung verstanden werden kann). 3. Gegenwärtige Lebensumstände (betrachtet besondere Belastungen wie Trennung der Eltern oder Wohnortwechsel im Kontext des kindlichen Verhaltens). 4. Soziokulturelle Zugehörigkeit (reflektiert kindliches Verhalten vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit einer sozialen Schicht und einer ethnischen Gruppe). 5. Art und Vielfalt der Symptome (betrachtet die Anzahl und die Beschaffenheit der problematischen kindlichen Verhaltensweisen). 6. Häufigkeit und Intensität von Symptomen; Situationsabhängigkeit (setzt das kindliche Verhalten in Bezug zu den Lebensbereichen, die davon beeinträchtigt werden und wie stark diese betroffen sind). 7. Veränderung im Verhalten des Kindes (fragt danach, wie ungewöhnlich das als problematisch bewertete Verhalten bzw. wie abrupt die Verhaltensveränderung beim jeweiligen Kind ist). Diese kategoriale Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten grenzt Phänomene mehr oder weniger klar voneinander und von psychischer bzw. psychosozialer Normalität ab und beschreibt in der Folge unterscheidbare Störungstypen. Klassifikationssysteme wie das fünfte Kapitel der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) (vgl. Dilling, Mombour & Schmidt, 2015) oder das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) (vgl. American Psychiatric Association, 2018) bilden dann unterschiedliche psychische und Verhaltensstörungen ab, die vor allem im psychiatrischen und klinisch-psychologischen Feld Anwendung finden. Ebenso kann Verhaltensauffälligkeit entlang eines Kontinuums beschrieben werden. Diesem dimensionalen Ansatz zur Diagnostik von psychischer Auffälligkeit und Verhaltensstörungen liegen empirisch gewonnene Dimensionen zugrunde (Döpfner et al., 2014). Eines der international am weitesten verbreiteten Systeme zur evidenzbasierten multimodalen Diagnostik stammt von Thomas M. Achenbach. Die Child Behavior Checklist (Achenbach, 1991; Döpfner et al., 2014) als das sicherlich bekannteste Instrument dieser dimensionalen Diagnostik kindlicher Verhaltensauffälligkeiten und Kompetenzen bildet dabei Probleme in acht Dimensionen ab: 1. Ängstlich/depressiv 2. Rückzüglich/depressiv 3. Körperliche Beschwerden

Internalisierende Auffälligkeiten

Bindung und Verhaltensauffälligkeit

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4. Soziale Probleme 5. Denk-, (Schlaf-) & repetitive Probleme Gemischte Auffälligkeiten 6. Aufmerksamkeitsprobleme 7. Regelverletzendes Verhalten Externalisierende Auffälligkeiten 8. Aggressives Verhalten Verhaltensauffälligkeiten von Kindern können demnach darin unterschieden werden, ob sie sich in externalisierenden Symptomen, also eher nach außen, gegen die Umwelt richten und sich z. B. in Form von Aggressivität ausdrücken, oder in internalisierenden Verhaltensweisen, die eher nach innen gerichtet sind und sich in Symptomen wie Zurückgezogenheit oder Ängstlichkeit zeigen. Die Entstehung von Verhaltensstörungen wird in der Entwicklungswissenschaft als eine Entwicklungsabweichung betrachtet. Dabei bestimmt das Wechselspiel zwischen internalen und Umweltereignissen, welcher Entwicklungspfad eingeschlagen wird. Auffälligkeiten sind demnach nicht einfach Normabweichungen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben, sondern eine Folge charakteristischer Entwicklungsphasen (vgl. Courchesne, Townsend & Chase, 1995). Da abweichender Entwicklung, genau wie normaler Entwicklung, Selbstorganisationsprozesse zugrunde liegen, kann diese nur bedingt vorhergesagt und nicht anhand einer Kausalkette bewiesen werden (vgl. auch Schleiffer, 2009). Bestimmte Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten können in dieser Weise am ehesten als »Extremvarianten der normalen Variabilität« verstanden werden (Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004, S. 301). Sowohl Entwicklungspfadmodelle (z. B. Sroufe, 1997) als auch das allgemeine Bio-Psycho-Soziale Modell stehen mit dieser Erklärung zur Genese von Verhaltensproblemen im Einklang (vgl. Heinrich & Lohaus, 2011). Aufgrund seiner Relevanz für die weiteren Kapitel soll ein integratives Bio-Psycho-Soziales Modell hier in zusammengefasster Form wiedergegeben werden. Das Bio-Psycho-Soziale Modell Das Wesen dieses Modells besteht darin, dass jeder Mensch mit biologisch determinierten Anlagen auf die Welt kommt und diese dann im Wechselspiel mit sozialen Faktoren eine innerpsychische Struktur, das »Selbst«, ausbilden (vgl. Abb. 6). Gemachte Erfahrungen werden demnach zu einem Kern der Persönlichkeit verinnerlicht, der wiederum bewusst oder unbewusst mit seiner Umwelt in Kontakt tritt, wo es erneut zu einer reziproken Beeinflussung kommt. Diese drei aufeinander bezogenen Elemente, (1) biologische (Ausgangs-) Bedingungen, (2) soziale Situationen und Erfahrungen und (3) innerpsychische Struktur haben sich in Psychologie, Pädagogik und Medizin weitgehend zur Erklärung

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Bindungstheorie und -forschung

menschlicher Verhaltensweisen durchgesetzt und sollen im Folgenden kurz dargestellt werden (Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse & Tinius, 2017). (1) Als zentrale Aspekte der »biologischen Ausgangbedingungen« sind dabei vor allem das allgemeine Aktivitätsniveau und individuelle Reizschwellen, welche unter Temperament subsummiert werden können, zu nennen. Dabei konnten Forschungen belegen, dass bereits in der Schwangerschaft das Erleben der Mutter, wie z. B. Stresssymptome, eine Auswirkung auf den Fötus hat (Hüther & Krens, 2011). Ergebnisse der Epigenetik zeigen zudem auf, dass die Aktivierung bzw. Deaktivierung von bestimmten Merkmalen innerhalb der Genexpression durch die soziale Umwelt beeinflusst wird (vgl. Bauer, J., 2014; Petermann et al., 2004). (2) Das Element »soziale Situation und Erfahrungen« kann in eben jene Aspekte, »biografische Erfahrungen« und »Aktualsituation«, unterschieden werden, unter denen weitere Punkte aufzuführen sind. Biografische Erfahrungen umfassen die Bindungsqualität und -sicherheit, das elterliche Erziehungsverhalten bzw. den Erziehungsstil und die soziale Unterstützung. Mit letzterem ist eine Interaktion zwischen zwei oder mehreren Menschen gemeint, bei der es darum geht, einen Problemzustand oder ein Leiden zu beheben bzw. zu mindern (Knoll & Schwarzer, 2005). Die Aktualsituation umfasst die Teilhabemöglichkeiten des Kindes, die Bedingungen der Institution, in deren Rahmen es betreut und gebildet wird, sowie aktuelle soziale Unterstützungsprozesse und Bindungsbeziehungen (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al., 2017). (3) Die »innerpsychische Struktur« besteht nach Fröhlich-Gildhoff und Kolleginnen aus mindestens sechs Faktoren (ebd.). Diese umfassen die IAM bzw. eine innere Repräsentation von Bindungserfahrungen, die Unterstützung kindlicher Emotionsregulation und Affektabstimmung, den Aufbau emotionaler und kognitiver Perspektivübernahme im Sinne einer Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, Gergely, Jurist & Target, 2004), das Erleben von Kontrolle und Selbstwirksamkeit (Bandura, 1997), den Aufbau kognitiver Schemata und allgemeiner Problemlösekompetenzen und den Aufbau sozialer Kompetenz, worunter Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern verstanden werden, die den sozialen Umgang mit anderen zu strukturieren, zu erleichtern und zu steuern vermögen. Die Relevanz dieses integrativen Modells zur Erklärung von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten wird durch die Einführung der Bewältigungsperspektive (coping) (vgl. Lazarus, 1999) ersichtlich. Dafür wird konstatiert, dass der junge Mensch im Laufe seiner Entwicklung auf Anforderungen trifft, wie z. B. kritische Lebensereignisse oder spezifische Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst, 1972). Diese resultieren zumeist aus biologischen Faktoren (z. B. motorische

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Bindung und Verhaltensauffälligkeit Soziale Situation/Erfahrungen

Biologische Ausgangsbedingungen Vererbung (Aktivitätsniveau, Reizschwellen etc.) Schwangerschaftserfahrungen (Ernährung, Stress etc.) Geburtssituation

Biografische Erfahrungen Bindungssicherheit Erziehungsverhalten/-stil soziale Unterstützung

Aktualsituation Teilhabemöglichkeiten Institutionen soziale Unterstützung Bindungsbeziehungen

Innerpsychische Struktur (Selbst) Internales Arbeitsmodell von Bindung (IAM) Selbststeuerung/-regulation Selbst- und Fremdwahrnehmung/ Perspektivübernahme Selbstwirksamkeitserwartungen/ Selbstwert Problemlösefähigkeiten soziale Kompetenzen

Abbildung 6: Allgemeines Bio-Psycho-Soziales Modell (modifiziert nach Fröhlich-Gildhoff et al., 2017)

Entwicklung), gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen (z. B. Schuleintritt), individuellen Zielsetzungen (z. B. etwas zu erreichen) und Lebensereignissen (z. B. Geburt von Geschwistern).10 Die Art und Weise der Beantwortung bzw. Bewältigung dieser Anforderungen durch das Individuum ist jeweils abhängig von seiner bisherigen Entwicklungsgeschichte, demnach dem Zusammenspiel von biologischen (Ausgangs-)Bedingungen, sozialen Erfahrungen und seiner bisher entwickelten innerpsychischen Struktur. Grundsätzlich kann die Bewältigung dann entwicklungseinschränkend oder entwicklungsförderlich verlaufen. »Probleme entstehen dann, wenn sich Entwicklungsaufgaben stellen, die mit den vorhandenen Bewältigungsressourcen nicht adäquat gelöst werden können« (Heinrich & Lohaus, 2011, S. 31). Die Folgen unzureichender Bewältigung von Anforderungen können auch den Umgang mit nachfolgenden Entwicklungsaufgaben beeinträchtigen, so dass es zu ungünstigen Entwicklungskonsequenzen und in der Folge unter anderem zu Verhaltensproblemen bei Kindern kommen kann. Umgekehrt können angemessen bewältigte Anforderungen z. B. das Selbstwirksamkeitserleben des Kindes erhöhen und sich för10 Grossmann, K. & Grossmann, K.E. (2012) stellen in einem schematischen Aufbau z. B. spezielle bindungsbezogene Entwicklungsaufgaben dar, die Menschen von der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter durchlaufen (S. 656).

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Bindungstheorie und -forschung

derlich auf die weitere Entwicklung auswirken. Insofern vermögen Bewältigungs- und Entwicklungsaufgabenmodelle, integriert in eine bio-psycho-soziale Perspektive, individuelle Entwicklungspfade von Heranwachsenden zu erklären. Auch Bowlby selbst nahm für problematische bzw. abweichende Entwicklungsverläufe ein auf Bindung ausgerichtetes Entwicklungspfadmodell an, welches bereits Überlegungen zu Schutz- und Risikofaktoren mit sich führte (Bowlby, 1988/2014, S. 6). Die Bedeutung solcher Schutz- und Risikofaktoren für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen wird heute allgemein als sehr hoch eingeschätzt. Protektive Faktoren, welche die Kinder dabei unterstützen können, Anforderungen zu begegnen und Risiken abzumildern, können in soziale und personale Ressourcen unterschieden werden (vgl. Heinrich & Lohaus, 2011). Soziale Ressourcen bezeichnen ferner aus der sozialen Umwelt von Kindern bereitgestellte Ressourcen, wie z. B. emotionale Unterstützung durch ein Familienmitglied oder Hilfe bei einem Problem durch die Schule. Personale Ressourcen sind individuelle, dem Kind innewohnende bzw. aus seiner bisherigen Entwicklung erworbene Kompetenzen und Stärken, die in einer Anforderungssituation wirksam werden, um diese zu bewältigen (ebd.). Auch risikoerhöhende Bedingungen können unterschieden werden in personale bzw. kindbezogene Faktoren (Vulnerabilitätsfaktoren) und Risikofaktoren der Umgebung, wie z. B. ein niedriger sozioökonomischer Status oder aktuelle familiäre Belastungen. Da Bindung selbst als ein bedeutsamer Schutz- und Risikofaktor im Zusammenhang mit kindlichem Verhalten und Verhaltensauffälligkeit gesehen werden kann, soll das folgende Kapitel dies genauer herausstellen.

3.5.2 Bindung als Schutz- und Risikofaktor An mehreren Stellen der vorliegenden Arbeit wurde bereits auf den generellen Schutzfaktor einer sicheren Bindung für ein psychisch gesundes Aufwachsen bzw. das Risiko dessen bei einer (hoch)unsicheren Bindung hingewiesen (vgl. Kap. 3.2.2.2 und Kap. 3.2.3). An dieser Stelle sollen wesentliche Forschungsergebnisse dazu referiert werden. So fasst z. B. Luthar in ihrer umfassenden Analyse zur Resilienzforschung zusammen, dass Resilienz grundlegend auf sozialen Beziehungen beruht (Luthar, 2006, S. 780). Eine stabile, verlässliche, wertschätzende, emotional warme Beziehung zu mindestens einer erwachsenen Bindungsperson hat sich nicht nur in der Resilienz- und Bindungsforschung, sondern auch in der Psychotherapieforschung als wesentlicher Schutzfaktor herausgestellt, der am stärksten zu einer sozial-emotional gesunden Entwicklung beiträgt und viele Risikofaktoren abzupuffern vermag (vgl. Fröhlich-

Bindung und Verhaltensauffälligkeit

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Gildhoff & Rönnau-Böse, 2015; Grawe et al., 2001; Sroufe et al., 2005). Die unterschiedlichen Bindungsmuster in den ersten Lebensjahren können dabei auch als bezugspersonenspezifische, interaktive Emotionsregulationsmuster verstanden werden, die unterschiedlich effektiv die Belastungen des Kindes innerhalb der Bindungsbeziehung verändern können (Zimmermann, 2007). Positive frühe Bindungserfahrungen können insofern Auswirkungen auf die angemessene Verarbeitung sozialer Informationen haben, das spätere Selbstwirksamkeitserleben beeinflussen und somit zur natürlichen Autonomieentwicklung beitragen (Berlin, Cassidy & Appleyard, 2008; Sroufe, 2016; Thompson, 2016). Allgemein steht eine sichere Bindung im zweiten Lebensjahr mit der Fähigkeit in Verbindung, im Alter von sechs Jahren Emotionen zu interpretieren, (Steele, M., Steele, H. & Johansson, 2002) und gilt darüber hinaus als Prädiktor für Empathie und soziale Kompetenz im Grundschulalter (Sroufe, Egeland & Carlson, 1999). Schieche und Spangler (2005) konnten darüber hinaus belegen, dass sichere Bindung sich positiv auf die Inanspruchnahme von sozialer Unterstützung beim Kind auswirkt, wenn die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten nicht ausreichen. In den längsschnittlichen Untersuchungen von Grossmann und Großmann (2012) konnten weitere bedeutsame Befunde zur frühen Bindungsqualität nachgewiesen werden wie positive Auswirkungen auf den Aufbau von Problemlösekompetenz, bei der Gestaltung von außerfamiliären Beziehungen und bei der Gewissensbildung (vgl. Kochanska, Aksan, Knaack & Rhines, 2004). Bindungssicherheit geht insbesondere mit einer besseren Emotionsregulation und mit geringerem Auftreten sowohl von internalisierendem als auch von externalisierendem Problemverhalten einher (Spangler & Reiner, 2017). Unsichere Bindungsqualitäten sind zwar zunächst adaptiv als beste Möglichkeit der Interaktion zwischen Kind und primärer Bezugsperson zu verstehen, dennoch konnte eine Reihe von Entwicklungsrisiken gefunden werden, die mit unsicheren und desorganisierten Bindungen in Verbindung stehen. So zeigten unsicher gebundene zehnjährige Kinder in einer Untersuchung geringere soziale Kompetenzen und höhere Abhängigkeit in Beziehungen (Urban, Carlson, Egeland & Sroufe, 1991). Scheuerer-Englisch (1989) fand im gleichen Altersspektrum, dass bindungsunsichere Kinder weniger gut im Gleichaltrigensystem integriert sind. Sie haben weniger Freunde und mehr Probleme mit anderen Kindern als sicher gebundene Kinder. Weitere Befunde aus dem Grundschulkontext zeigen auf, dass unsicher gebundene Kinder, insbesondere Jungen, als weniger sympathisch und aggressiver von ihren Lehrern und Mitschülern wahrgenommen werden. Sie zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und weniger Kompetenzen als die sicher gebundenen Kinder (Cohn, 1990; Granot & Mayseless, 2001). Auch innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung tragen unsicher klassifizierte Kinder deutlich intensivere und aggressivere Konflikte mit

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Bindungstheorie und -forschung

ihrer Bindungsperson aus als sicher gebundene Kinder (Zimmermann, Mohr & Spangler, 2009). Unsicher-vermeidende Bindungsstrategien haben dabei den Nachteil, dass Kinder ihre Gefühle seltener frei äußern können, was in der Folge dazu führt, dass diese negative Emotionen nur eingeschränkt wahrnehmen und kommunizieren können. Dies führt in belastenden Situationen zu maladaptiven Verhaltens- und Copingstrategien, die zunächst darauf abzielen, Bewältigung alleine zu vollbringen. Das Einbeziehen einer Hilfe von außen, soziale Unterstützung und flexible Problemlösefähigkeiten sind dabei eher eingeschränkt (vgl. Zimmermann, Meier, Winter & Grossmann, K.E., 2001). Unsicher-ambivalente Bindungsstrategien bedeuten für Kinder in der Entwicklung, durch eine ständige Maximierung ihrer Emotionen Schwierigkeiten damit, eine adaptive Beurteilungs- und Bewertungsfunktion diesbezüglich aufzubauen (Cassidy & Berlin, 1994). Unsichere Bindungsklassifikationen sind vor allem in Risikopopulationen überrepräsentiert, doch auch in weniger risikobehafteten Stichproben hängt Bindungsunsicherheit mit Verhaltensproblemen zusammen, wie Allen und Kollegen für das Jugendalter zeigen konnten (Allen, Porter, McFarland, McElhaney & Marsh, 2007). Generell kann jedoch gesagt werden, dass organisierte unsichere Bindungen zwar ungünstigere Voraussetzungen als sichere Bindungen zur Bewältigung schwieriger Lebensereignisse bieten, sich ein direkter Zusammenhang von Bindungsunsicherheit und Verhaltensproblemen in den meisten nicht-klinischen Studien bislang aber nicht nachweisen ließ (Bates, Bayles, Bennett, Ridge & Brown, 1991; Fagot & Kavanough, 1990; Lewis, Feiring, McGuffog & Jaskir, 1984). Unsicherer Bindung kommt eher die Funktion eines Moderator- oder Mediatoreffekts zu bzw. es kann davon ausgegangen werden, dass unsichere Bindung mit anderen Risikofaktoren wie elterliche Belastungen, z. B. durch negative Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte (Gewalt, Vernachlässigung), schwieriges kindliches Temperament oder einem niedrigen sozioökonomischen Status kumuliert und in der Folge zu Auffälligkeiten führt (vgl. DeKlyen & Greenberg, 2016). Die größte Nähe zu psychischen Auffälligkeiten stellt die Bindungsdesorganisation dar. Insbesondere zu externalisierenden Verhaltensproblemen konnten in zahlreichen Studien bedeutsame Zusammenhänge gefunden werden (vgl. Fearon, Bakermans-Kranenburg, van IJzendoorn, Lapsley & Roisman, 2010; Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2016). Generell ist desorganisierte Bindung, wie bereits in Kapitel 3.2.2.2 aufgezeigt, mit Stress- und Angstreaktionen im frühen Kindesalter verbunden. Damit stellt Bindungsdesorganisation selbst einen Risikofaktor dar, der sich in vielfältiger Weise auf die sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes auswirken kann (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 37). Im nächsten Abschnitt soll daher unsichere und insbesondere desorganisierte Bindung im Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten betrachtet werden.

Bindung und Verhaltensauffälligkeit

103

3.5.3 Unsichere Bindung und spezifische kindliche Verhaltensauffälligkeiten Im Rahmen der klinischen Beschäftigung mit Bindung und Verhaltensproblemen wurden mehrere Theorien entwickelt, ob und wie Bindungsunsicherheit sich auf die Entwicklung spezifischer Auffälligkeiten auswirkt. Ein Ansatz ist dabei, die Differenzierung von internalisierenden und externalisierenden Symptomen in Verbindung mit den beiden unsicheren Bindungsstrategien zu bringen (vgl. Carlson & Sroufe, 1995; DeKlyen & Greenberg, 2016). Externalisierende Probleme werden dabei häufiger, aber nicht ausschließlich, mit einer unsicher-vermeidenden Bindung in Zusammenhang gebracht. Dies kann insofern theoretisch begründet werden, da unsicher-vermeidend gebundene Kinder prototypisch eine unfeinfühlige, wenig empathische, mitunter autoritäre Fürsorge erlebt haben, die bei ihnen zu einer weitgehenden Vermeidung von belastenden Emotionen führt, welche aber nicht aufrechterhalten werden kann und in aggressivem oder dissozialem Verhalten mündet (Rubin, Hymel, Mills & Rose-Krasnor, 1991). Auf der anderen Seite wird unsicher-ambivalente Bindung konzeptuell mit internalisierenden Problemen wie übertriebener Ängstlichkeit oder sozialer Rückzüglichkeit verbunden. Dies vor allem, weil unsicher-ambivalent klassifizierte Kinder eine nur schwach ausgebildete Emotionsregulation besitzen und auf Stressoren häufig ängstlich oder ärgerlich-hilflos reagierten. Brumariu und Kerns (2010a) sehen zudem eine maladaptive Informationsverarbeitung sowie einen beeinträchtigten Selbstwert als charakteristisch für eine Kombination von ambivalenter Bindung und internalisierenden Symptomen. Andere Autoren nehmen an, dass sowohl unsicher-vermeidende als auch unsicher-ambivalente Bindungsstrategien zu dissozialem Verhalten und damit eher externalisierenden Problemen führen (Mikulincer & Shaver, 2011). Eindeutige Ergebnisse zum, wie auch immer gearteten, Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Verhaltensauffälligkeit und psychischen Problemen lassen sich bislang durch die Forschung nicht belegen (DeKlyen & Greenberg, 2016). Weitgehende Übereinstimmung gibt es hinsichtlich sogenannter hochunsicherer Bindung, wenn in Studien zwischen organisierter und desorganisierter Bindung unterschieden wurde. In der bereits erwähnten Studie von Granot & Mayseless (2001) und der Metaanalyse von Fearon et al. (2010) konnte bei Kindern in der mittleren Kindheit insbesondere auf Zusammenhänge zwischen der Bindungsdesorganisation und externalisierenden Verhaltensproblemen hingewiesen werden. In einer weiteren Studie mit einem Geschichtenergänzungsverfahren mit Vorschulkindern konnte eine desorganisierte Klassifikation externalisierende Probleme zwei Jahre später moderat vorhersagen (Roskam, Meunier, Stievenart & Noel, 2013). Demgegenüber wiesen Brumariu und Kerns (2010b), ebenfalls mit einem Geschichtenergänzungsverfahren, nach, dass Desorganisation mit internalisierenden Problemen wie sozialer Angst,

104

Bindungstheorie und -forschung

Schulphobie und somatischen Symptomen einhergeht. In einer frankokanadischen Studie mit fünf- bis siebenjährigen Kindern, die mit einer Trennung- und Wiedervereinigungssituation untersucht wurden, hatten desorganisiert klassifizierte Kinder die deutlich höchsten Ratings ihrer Lehrer bezüglich internalisierender und externalisierender Problemebereiche (Moss, Cyr & DuboisComtois, 2004; Moss, Smolla, Cyr, Dubois-Comtois, Mazarello & Berthiaume, 2006). Die im Grundschulalter bereits beschriebenen auffälligen Verhaltensweisen desorganisiert klassifizierter Kinder (vgl. Kap. 3.3.1) wurden von den Autoren auf ein dominantes und feindseliges Verhalten (im Falle des kontrollierend-fürsorglichen Typs) oder auf ein hilfloses und inkompetentes Verhalten (im Falle des kontrollierend-strafenden Typs) der Mutter zurückgeführt (ebd.). In kategorialer Sicht wurden vielfältige Studien durchgeführt, um Zusammenhänge von Bindungsdesorganisation in der mittleren Kindheit mit psychiatrischen Diagnosen wie Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsdefizitstörung (Franke et al., 2017), Störung des Sozialverhaltens (Schwarz, 2015), Angststörungen (Colonnesi, Draijer, Stams, van der Bruggen, Bögels & Noom, 2011) und Depression (Goodman, Stroh & Valdez, 2012) deutlich zu machen. H8derv#riHeller (2011) weist zudem darauf hin, dass Bindungsdesorganisation zwar von klinischen Bindungsstörungen abgegrenzt werden sollte, ein Grenzfall zu pathologischen Verhaltensweisen jedoch angenommen werden darf. Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass Bindungsdesorganisation bereits frühzeitig einen Hinweis auf die Entwicklung internalisierender und externalisierender Verhaltensprobleme vom Kleinkindalter bis zum Schulalter geben kann (vgl. Kißgen, 2010; Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2016). Für die Qualität und Aufrechterhaltung der Bindungsbeziehung zu einem Kind spielt das Verhalten eines jeden Elternteils eine entscheidende Rolle. Neben Bindungs- und Fürsorgeverhaltensweisen wird die Erziehung im Vorschul- und Grundschulalter zu einem elementaren Teil des Elternverhaltens. Daher soll im nächsten Kapitel elterliches Erziehungsverhalten und seine Wechselseitigkeit mit Bindung thematisiert werden.

3.6

Bindung und Erziehungsverhalten

Neben ihrer Rolle als Interaktionspartner und Bindungsfigur sind Eltern vor allem Erzieher. Die Familie dient dabei, trotz dem zu verzeichnenden Wandel familiärer Lebensformen, auch heute noch für den überwiegenden Teil der Kinder als primäre Sozialisationsinstanz und elterliche Erziehungspraktiken haben einen erheblichen Einfluss auf die Herausbildung individueller Persönlichkeitsmerkmale von Heranwachsenden (Nave-Herz, 2015; Schneewind, 2001). Es scheint offenbar, dass die Qualität der elterlichen Fürsorge in einem

Bindung und Erziehungsverhalten

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Zusammenhang steht mit ihren Erziehungsverhaltensweisen und dass beides wiederum Auswirkungen auf die Bindungsstrategien des Kindes haben kann. Schumacher (2002) meint dazu: »Die Forschung zu elterlichem Erziehungsverhalten hat sich in weiten Teilen unabhängig und parallel zur Bindungsforschung entwickelt. Das ist insofern bemerkenswert, als davon ausgegangen werden kann, dass die Qualität des elterlichen Erziehungsverhaltens sowohl mit der Bindungsorganisation von Kindern als auch mit den Bindungsrepräsentationen erwachsener Personen in einem engen Zusammenhang steht« (S. 33) [Hervorh. i. O.].

In diesem Kapitel sollen daher Verbindungslinien zwischen der Organisation und Qualität von Bindung und elterlichem Erziehungsverhalten sowie Aspekten von kindlichen Verhaltensproblemen aufgezeigt werden. Dafür scheint es notwendig, zunächst zu klären, was mit Erziehung gemeint ist, wie sich elterliches Erziehungsverhalten zeigt und auswirkt, bevor explizit Zusammenhänge zwischen Bindungsrepräsentationen, Fürsorge- und Erziehungsverhalten beleuchtet werden.

3.6.1 Elterliches Erziehungsverhalten in der pädagogischen Forschung Betrachtet man die unterschiedlichen Definitionen des Erziehungsbegriffs, so stellt Fuhrer (2009) fest, ließe sich damit ein eigenes Buch füllen. Grundsätzlich lassen sich dabei ein engerer und ein weiterer Begriff von Erziehung unterscheiden. Im enger gefassten Sinne wird Erziehung dabei als zielorientiert, absichtsvoll und mit einer intensionalen Einflussnahe auf die kindliche (Persönlichkeits-)Entwicklung definiert. Weiter gefasste Begriffsbestimmungen von Erziehung verzichten dagegen auf eine Intension und Zielgerichtetheit des Handelns, sondern sie subsummieren alle kindbezogenen Erlebens- und Handlungsweisen, die Eltern mit oder ohne Beeinflussungsabsicht äußern (vgl. Schneewind, 1980; Schneewind 2010). Für das weitere Fortschreiten und um eine notwendige Abgrenzung von Bindungs- und Fürsorgeverhaltensweisen herzustellen, soll eine Definition von Wolfgang Brezinka (1990) gelten, die an den obigen enger gefassten Erziehungsbegriff anlehnt: »Erziehung besteht aus sozialen Handlungen zwischen Personen, die sich aber von anderen Handlungen bzw. Interaktionen dadurch unterscheidet, dass sie eine bestimmte Richtung implizieren, nämlich die Absicht, bestimmte Erziehungsziele zu erreichen. Genauer : Der Begriff der Erziehung bezeichnet speziell solche menschlichen Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die psychischen Dispositionen und die psychische Entwicklung anderer Menschen dauerhaft zu fördern. Damit verbindet sich der normative mit dem empirischen Erziehungsbegriff« (S. 95).

106

Bindungstheorie und -forschung

Wie schon beim Begriff der Verhaltensauffälligkeit (vgl. Kap. 3.5) tauchen auch beim Begriff des Erziehungsverhaltens Elemente auf, die abhängig sind von kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Daneben braucht es auch hier immer wieder eine intersubjektive Übereinkunft, was mit elterlichen Erziehungseinstellungen, Erziehungszielen und Erziehungspraktiken gemeint ist und was nicht – insbesondere dessen, was sich nach aktuellem Stand der Wissenschaft und Erziehungspraxis förderlich bzw. schädlich auf Kinder auswirkt und was eben nicht. In den 1960er und 1970er Jahren etablierte sich dabei im deutschsprachigen Raum die sogenannte Erziehungsstilforschung (vgl. Schneewind & Herrmann, 1980). Mit Erziehungsstilen sind dabei typische, meist sehr stabile Einstellungs- und Verhaltensmuster gemeint, die Eltern und andere Erziehungspersonen kindbezogen in erziehungsthematischen Situationen anwenden (Raithel, Dollinger & Hörmann, 2009). Dies bedeutet, dass Eltern in verschiedenen Erziehungssituationen zu verschiedenen Zeitpunkten auf für ihre Person charakteristische Erziehungsverhaltensweisen zurückgreifen und insofern weitgehend ähnlich gegenüber ihrem Kind reagieren. Elterliche Erziehungsstile setzen sich, so verstanden, aus verschiedenartigem elterlichem Erziehungsverhalten zusammen. Trotz anderweitiger Definitionen (vgl. z. B. Hurrelmann & Bründel, 2003; Spranger, 1951) hat sich in der entwicklungspsychologischen wie erziehungswissenschaftlichen Literatur ein zweidimensionales Modell von Erziehungsverhalten weitgehend etabliert, dass durch begriffliche Gegensatzpaare charakterisiert ist (vgl. Baumrind, 1971, 2008; Fuhrer, 2009; Krohne & Hock, 1994, 1998; Maccoby & Martin, 1983). Schumacher (2002) benennt die dichotomen Faktoren unter Berücksichtigung der von unterschiedlichen Autoren verwendeten Begrifflichkeiten übergreifend mit Akzeptanz vs. Ablehnung und Autonomie vs. Kontrolle. Durch Kreuzklassifikation dieser beiden Hauptdimensionen elterlichen Erziehungsverhaltens lassen sich vier Typen von Erziehungsstilen bilden (vgl. Abb. 7). Nach Maccoby und Martin (1983) zeichnen diese Erziehungsstile sich durch folgende Eigenschaften aus: – Autoritative Eltern stellen klare Regeln auf, die bei Nichtbefolgen sanktioniert werden. Sie begründen ihre Entscheidungen gegenüber Kindern. Es findet eine offene Kommunikation statt, so dass Bedürfnisse der Kinder gehört und respektiert werden können. Das Maß an sozial-emotionaler Unterstützung ist bei diesem Erziehungsstil hoch, ebenso wie die konsequente Kontrolle, die sich z. B. durch alters- und situationsgerechte Grenzsetzung auszeichnet. – Autoritäre Eltern stellen ebenfalls klare und oftmals starre Regeln auf. Sie möchten, dass ihre Kinder gehorchen und bestrafen diese bei Nichtbefolgen, um so ihren Willen zu beeinflussen und notfalls zu brechen. Die Eltern-KindBeziehung bleibt stets asymmetrisch, mit einer Machtverteilung hinsichtlich der Eltern. Die Autonomie der Kinder wird dadurch eingeschränkt, auch weil

107

Bindung und Erziehungsverhalten Akzeptanz (Zuwendung, emotionale Wärme, Responsivität)

autoritativer Erziehungsstil

autoritärer Erziehungsstil

Kontrolle (Überbehütung, Restriktion)

Autonomie (Liberalität)

permissiver Erziehungsstil

vernachlässigender Erziehungsstil

Ablehnung (Zurückweisung, Feindseligkeit)

Abbildung 7: Dimensionen elterlicher Erziehungsstiele (modifiziert nach Maccoby & Martin, 1983)

autoritäre Eltern nicht zum verbalen Austausch ermutigen. Sie reagieren in der Regel eher wenig sensibel auf kindliche Bedürfnisse, können allerdings sehr besorgt sein und insofern überbehüten. – Permissive Eltern akzeptieren die kindlichen Verhaltensweisen weitgehend und sehen sich nicht in der Verantwortung, Rahmenbedingungen zu setzen, die zu Verhaltensveränderungen beim Kind führen könnten. Ihr Ziel ist es viel mehr, Kindern Autonomie zu gewähren, was so weit geht, dass die Machtverteilung innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung asymmetrisch zu Gunsten des Kindes ist. Viele permissive Eltern sind liebevoll, andere wiederum eher mit sich selbst beschäftigt, so dass es zu einem geringen Monitoring gegenüber dem Kind kommt. – Vernachlässigende Eltern versorgen ihre Kinder weder emotional oder gesundheitlich noch fördern oder beaufsichtigen sie diese ausreichend. Sie nehmen schlicht ihre Erziehungsverantwortung nicht wahr und können ihre Kinder daher auch nur unzureichend vor Gefahren schützen. Der vernachlässigende Erziehungsstil findet sich vermehrt im Kontext von problematischen sozialen Milieus, aber auch bei Eltern mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung (Fuhrer, 2009).

108

Bindungstheorie und -forschung

Nach dieser Einteilung vereint ein autoritativer Erziehungsstil diejenigen Erziehungsverhaltensweisen von Eltern, die sich am günstigsten auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Eine Vielzahl von Studien konnte mit unterschiedlichsten Konzepten und Methoden den positiven Wert einer autoritativen Erziehung belegen (Baumrind, 1971, 1989; Chen, Dong und Zhou, 1997, Juang & Silbereisen, 1999). Kritisch ist dabei zum einen zu bemerken, dass eine solche typologisch orientierte Erziehungsstilforschung mit zwei Dimensionen keine genauen Ergebnisse dazu liefert, auf welche Dimension die Wirkung nun zurückzuführen ist. Zum anderen kann aus systemischer Perspektive eingeworfen werden, dass der Kontext der Erziehung weitgehend unberücksichtigt bleibt. So wäre unter anderem zu klären, ob die Auswirkungen eines bestimmten Erziehungsstils unter sämtlichen kulturellen und kontextuellen Bedingungen gleichermaßen gelten können. Ebenso müssten die Entwicklungsvoraussetzungen eines Kindes in den Blick genommen werden, um nachweisen zu können, welches Erziehungsverhalten am angemessensten ist (vgl. Darling und Steinberg, 1993). Der Erziehungsprozess und dessen Auswirkungen stehen daher im Zusammenhang mit einer komplexen Wechselbeziehung einzelner Bestandteile, die Belsky (1984) in einem Modell zusammenzufassen versucht (vgl. Abb. 8).

Partner-/ Elternbeziehung

Entwicklungsgeschichte

Soziales Netzwerk

Elterliches Erziehungsverhalten

Elternpersönlichkeit

Arbeit

Kindmerkmale

Entwicklung des Kindes

Ökonomische Lage

Abbildung 8: Modell der Einflussgrößen und Effekte in der Eltern-Kind-Beziehung (modifiziert nach Belsky, 1984)

Bindung und Erziehungsverhalten

109

Die neuere Forschung zur elterlichen Erziehung hat sich daher heute weitgehend vom zweifaktoriellen Modell verabschiedet und sich einzelnen Dimensionen intensiver zugewandt. Ein viel beforschtes Modell konnte durch Ausdifferenzierung der Kontrolldimension gefunden werden, das mit emotionaler Unterstützung (Feinfühligkeit, Reziprozität), Verhaltenskontrolle (Regulation des kindlichen Verhaltens durch konsistente Disziplinierung) und psychologischer Kontrolle (Regulation des kindlichen Verhaltens durch psychologische Mittel wie Liebesentzug) drei globale, voneinander unabhängige Dimensionen enthält (vgl. Barber, 1996). Die bisherigen Ergebnisse aus diesen Forschungen zeigten, dass sowohl elterliche Verhaltenskontrolle als auch emotionale Unterstützung bedeutsame Prädiktoren für kindliches Problemverhalten darstellen. So könnte konsequente und beständige elterliche Verhaltenskontrolle ein Schlüsselfaktor sein, um Jugendliche vor externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten zu bewahren (Galambos, Barker & Almeida, 2003). Ebenso konnte geschlussfolgert werden, dass ein auf Reziprozität Wert legendes elterliches Erziehungsverhalten einen wichtigen Schutzfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern bedeutet (Dodge, Pettit & Bates, 1994). In systemisch-kontextualistischen Theoriemodellen werden dagegen elterliche Erziehungsziele, der Erziehungsstil und das Erziehungsverhalten (im Sinne von Erziehungspraktiken) voneinander unterschieden und getrennt betrachtet. Im Modell von Darling und Steinberg (1993) hat der elterliche Erziehungsstil dabei nur die Bedeutung einer Moderatorvariablen, was bedeutet, dass die Stärke des Zusammenhangs zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und kindlicher Entwicklung durch den Erziehungsstil beeinflusst wird (Fuhrer, 2009, S. 237). Da bereits Holden und Miller (1999) in ihrer Metaanalyse feststellen konnten, »…dass elterliches Erziehungsverhalten je nach Betrachtungsebene (across-time, across-situtions, across-children) und in Abhängigkeit von Konzeptualisierung des Erziehungsverhaltens und weiteren methodologischen Aspekten sowohl durch Stabilität als auch durch Verschiedenartigkeit und Wandel gekennzeichnet ist« (Schumacher, 2002, S. 16), werden von vielen Forschergruppen heute eher einzelne Variablen beforscht. Ein Beispiel dafür bildet der Alabama Parenting Questionaire von Frick (1991), der auch mehrfach in deutschen Studien eingesetzt wurde (Beelmann, Stemmler, Lösel & Jaursch, 2007; Bröning, 2009: Franiek & Reichle, 2007; Franzke & Schultz, 2015; GürbüzBicakci, 2017; Heete & Magel, 2015; Rauer, 2009). In der amerikanischen Originalversion enthält der Fragebogen die fünf Dimensionen Involviertheit, positives Elternverhalten, Monitoring, inkonsistente Disziplinierung und körperliche Bestrafung (vgl. Essau, Sasagawa & Frick, 2006; Shelton, Frick & Wootton, 1996). Eine adaptierte deutschsprachige Version legten Reichle & Franiek (2009) vor, welche um zwei Dimensionen erweitert

110

Bindungstheorie und -forschung

wurde. Diese Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionaire für Grundschulkinder (DEAPQ-EL-GS; Reichle & Franiek, 2007) bildet damit sieben Skalen ab, die aktuelles, selbstperzipiertes Erziehungsverhalten bei einem Elternteil messen. In Einzelnen sind dies (vgl. Reichle & Franiek, 2009): 1. Positives Elternverhalten (6 Items; freundliches, emotional warmes, kindzentriertes elterliches Handeln) 2. Verantwortungsbewusstes Elternverhalten (6 Items; bewusstes, verantwortungsvolles Verhalten gegenüber dem Kind, das eine wohlüberlegte, nicht impulsive Reaktion unter Einbezug des kindlichen Entwicklungsstands und den situativen Begebenheiten meint) 3. Machtvolle Durchsetzung (6 Items; autoritäre Erziehung im Sinne einer Machtausübung, die eine Abwertung und emotional negatives Verhalten gegenüber dem Kind beinhaltet) 4. Inkonsistentes Elternverhalten (6 Items; wechselnde elterliche Reaktionen und Konsequenzen auf kindliches Verhalten) 5. Involviertheit (6 Items; aktive elterliche Unterstützung der kindlichen Entwicklung, Partizipation an Aktivitäten) 6. Körperliches Strafen (4 Items; Sanktionierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen wie Festhalten, Schütteln oder Schlagen) 7. Geringes Monitoring (6 Items; generelle elterliche Uninformiertheit und ungenügende Aufsicht bezüglich kindlicher Aktivitäten). Innerhalb der Studie im Rahmen dieser Arbeit wurde der DEAPQ-EL-GS verwendet, um mütterliches Erziehungsverhalten vor und nach der Familienberatung zu erfassen und anschließend den erhobenen Bindungsmaßen gegenüberzustellen. Wie deutlich geworden ist, ist die Erforschung des elterlichen Erziehungsverhalten, anders als die Bindungsforschung, durch eine Vielzahl von Konzeptualisierungen geprägt, die Vergleiche zwischen verschiedenen Studien erschwert. Dennoch sollen im nächsten Kapitel die wesentlichen Befunde zu Auswirkungen elterlicher Erziehung im Zusammenhang mit Bindung und Verhaltensauffälligkeit vorgestellt werden.

3.6.2 Erziehungsverhalten im Zusammenhang mit Bindung und Verhaltensauffälligkeit Nach dem bisher Erörterten können Bindungs- und Fürsorgeverhaltensweisen von Eltern in der Weise von Erziehungsverhalten unterschieden werden, dass erstere vor allem (aber nicht ausschließlich) darauf abzielen, dem Kind emotionale Sicherheit, Schutz und angemessen sensitive Beantwortung seiner biopsychosozialen Bedürfnisse zu bieten. Dem Erziehungsverhalten kommt dage-

Bindung und Erziehungsverhalten

111

gen vielmehr die Funktion zu (aber nicht ausschließlich), dem Kind soziale Kompetenzen zu vermitteln, z. B. indem die Eltern Sozialisationsgelegenheiten vermitteln, auf die Wahl von Freundschaftsbeziehungen Einfluss nehmen oder innerhalb der Familie Werte, Regeln und Grenzen durch entsprechendes Modellverhalten vorleben. So darf davon ausgegangen werden, dass elterliches Fürsorge- und Erziehungsverhalten Schnittstellen aufweisen und beide zuweilen auch konvergieren. Die Forschungsergebnisse zum Einfluss von elterlichem Erziehungsverhalten belegen seine Bedeutung als Schutz- bzw. Risikofaktor in der kindlichen Entwicklung (vgl. Fuhrer, 2009; Heinichs & Lohhaus, 2011). So, wie im letzten Unterkapitel für autoritatives Erziehungsverhalten angeführt werden konnte, dass dieses sich positiv auf soziale Kompetenzen wie Selbstvertrauen, Eigenständigkeit, Selbstkontrolle und schulische Kompetenzen auswirkt (vgl. Ziegenhain, 2007), kann für Elternverhalten, welches mit einem autoritären Erziehungsstil einhergeht, gesagt werden, dass Kinder hier eher Angst und Gehorsam erfahren und nur ein geringes Maß an positiven Emotionen. In der Forschung zeigte sich bei autoritär erzogenen Kindern, dass diese im Vergleich mit autoritativ erzogenen Kindern unkooperativer, weniger zielgerichtet und unverantwortlicher handelten, dafür jedoch feindseliger und trotziger waren (Baumrind, 1971). In der Studie von Franiek und Reichle (2007) konnte gezeigt werden, dass »Machtvolle Durchsetzung« signifikant mit oppositionell-aggressiven Verhaltensweisen als auch mit emotionalen Auffälligkeiten bei den Kindern zusammenhängt. Beelmann und Kollegen (2007) konnten in ihrer längsschnittlichen Untersuchung mit Vorschul- und Grundschulkindern nachweisen, dass problematisches Disziplinierungsverhalten wie »Inkonsistentes Elternverhalten« oder »Körperliches Strafen« mit externalisierenden Verhaltensproblemen einhergeht. Bei permissiv-nachgiebigem Elternverhalten entwickeln »…Kinder (und insbesondere Jungen) ein geringes Ausmaß an Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, zeigen ein geringeres Durchhaltevermögen und sind eher impulsiv und ›rebellisch‹« (Berk, 2005, S. 362). Ebenfalls in der Studie von Franiek und Reichle (2007) zeigten sich Zusammenhänge zwischen »Geringem Monitoring« von Eltern zu hyperaktivem Verhalten (insbesondere bei Vätern) und emotionalen Verhaltensproblemen bei Grundschulkindern (nur bei Müttern). Informierendes Monitoring wirkt sich positiv auf die kindliche Entwicklung aus (Laird, Pettit, Bates & Dodge, 2003), autonomieeinschränkendes überwachendes Monitoring ist dagegen der Entwicklung kindlicher Selbstregulationsfähigkeit abträglich (Grolnick & Farkas, 2002). Kinder, die längere Zeit ablehnend-vernachlässigenden Erziehungsverhaltensweisen ausgesetzt sind, haben insgesamt ein erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Störung im sozial-emotionalen sowie auch im kognitiven Bereich (Hardt & Engfer, 2012). Zu dieser Gruppe zählen besonders Kinder aus mehrfach belas-

112

Bindungstheorie und -forschung

teten Familien, die nicht selten der Unterstützung und Kontrolle sozialstaatlicher Institutionen bedürfen (vgl. z. B. Kißgen & Heinen, 2011; Suess & Hammer, 2010). Die Befunde zum elterlichem Erziehungsverhalten und dessen Auswirkung auf die Bindungssicherheit von Kindern, stehen weitgehend mit den zuvor berichteten Zusammenhängen mit Verhaltensauffälligkeiten im Einklang. Die meisten Studien zum Einfluss von Erziehungsverhalten auf die Bindung von Kindern haben Vernachlässigung, zu starke Kontrolle und Zurückweisung als Einflussgrößen auf die Entwicklung unsicherer Bindung bei Kindern und Jugendlichen analysiert (Seiffge-Krenke, 2017). Dabei wurden enge Zusammenhänge zwischen elterlicher Kälte und Kontrolle insbesondere mit unsicher-vermeidenden/distanzierten und unsicher-ängstlichen/ambivalenten Bindungsmerkmalen von Jugendlichen gefunden (Delhaye, Kempenaers, Burton, Linkowski, Stroobants & Goossens, 2012; Güngör & Bornstein, 2010). Bosman und Kollegen konnten in ihrer Untersuchung mit zehn bis 18-Jährigen zeigen, dass die Bedeutsamkeit des Zusammenhangs zwischen unsicheren Bindungen und externalisierenden Störungen durch unangemessenes elterliches Erziehungsverhalten verstärkt wird (Bosman, Braet, van Leeuwen & Beyers, 2006). Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass es sich bei diesen Studien um Fragebogenuntersuchungen handelt, welche den Bindungsstil der Kinder und Jugendlichen in der Regel mit Selbstbeschreibungsinstrumenten erfassten. Dem Autor sind keine Studien der Bindungsforschung im mittleren Kindesalter bekannt, die mit einem projektiven oder einem Interviewverfahren Bindung von Kindern erhoben haben, um diese in Zusammenhang mit dem empirisch untersuchten elterlichen Erziehungsverhalten/-stil zu bringen. Zur elterlichen Feinfühligkeit, und damit zu dem bindungsbezogenen elterlichen Fürsorgeverhalten finden sich international dagegen vielfältige Studien (vgl. Feeney & Woodhouse, 2016) auch in der mittleren Kindheit (vgl. Brumariu et al., 2018; Kerns, Brumariu & Seibert, 2011). Als spärlich ist auch die Befundlage zur elterlichen Bindungsrepräsentation im Vergleich mit dem perzipierten elterlichen Erziehungsverhalten zu beschreiben. Schumacher (2002, S. 33) merkt jedoch hierzu an, dass gelegentlich Begrifflichkeiten des Erziehungsverhaltens mit Bindungsbegriffen synonym gebraucht werden und es vom Forschungskontext abzuhängen scheint, auf welche Art elterliche Verhaltensweisen beschrieben werden. In einer Studie zum Bindungsstil und dem erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten konnten Schumacher und Kollegen relevante Zusammenhänge zwischen beiden Aspekten deutlich machen (Schumacher, Stöbel-Richter, Strauß & Brähler, 2004). Auch in anderen Studien konnten Hinweise gefunden werden, dass elterliche Erziehung mit Bindungsmerkmalen von Mutter und Vater im Zusammenhang steht (vgl. Gittleman, Klein, Smider & Essex, 1998; Koren-Karie, 2000). Cohn,

Bindung und Psychotherapieforschung

113

Cowan, P., Cowan C. und Pearson (1992) zeigten in ihrer Untersuchung mit dem AAI auf, dass Eltern mit unsicherer Bindungsrepräsentation sich weniger positiv engagierten und sich in unstrukturierterer Weise mit ihren Kindern beschäftigten, als sicher-autonom klassifizierte Eltern. Letztlich halten die Autoren fest: »The results of the present study suggest that for both mothers and fathers, insecure working models of childhood attachment relationships constitute risk factors for difficulties in the parent-child relationship« (ebd., S. 426).

Das folgende Kapitel der Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und bisherigen Forschungsbefunden zum Bindungskonzept wagt den Sprung von Bedingungsfaktoren wie Elternverhalten, Erziehung und Verhaltensauffälligkeit hin zur Intervention. Um problematischen Entwicklungsverläufen von Kindern wirksam entgegenzusteuern, psychische und soziale Bedingungen und vor allem die Qualität der Bindungsbeziehungen bzw. die IAM zu verändern und in Richtung größere Sicherheit zu beeinflussen, bedarf es in manchen Fällen einer therapeutischen Unterstützung. Dass Bindungsaspekte in diesem hochsensiblen, kommunikativen Geschehen von Bedeutung sind, kann dabei heute nicht mehr bezweifelt werden.

3.7

Bindung und Psychotherapieforschung

In diesem Kapitel soll zunächst die Relevanz der Bindungstheorie für die Forschung in der Psychotherapie und in Zusammenhang damit auch für die Forschung innerhalb der psychosozialen Beratung diskutiert werden. Da Bindung weder in der Beratungsforschung (vgl. Kap. 2.6) noch in der Kinder- und Jugendhilfe allgemein als Outcome-Faktor beforscht wurde, werden nachstehend Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung referiert. Diese sind selbstverständlich nicht immer übertragbar auf psychosoziale Beratung, und doch handelt es sich bei systemischer Therapie und Familienberatung innerhalb einer Erziehungsberatungsstelle um eine Interventionsform, die viele Parallelen mit Psychotherapie aufweist (vgl. Kap. 2.4.1). Betrachtet man die grundsätzlichen Kriterien von Psychotherapie (vgl. Strotzka, 1975; Senf & Broda, 2011, S. 2) und löst diese dabei vom Kontext Gesundheitssystem ab, so kann Psychotherapie als – ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess – zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, – die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, – mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation), – meist verbal, aber auch averbal,

114

Bindungstheorie und -forschung

– in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel, – mittels lehrbarer Technik, gestützt auf eine Theorie menschlichen Verhaltens, – in der Regel auf der Basis einer tragfähigen emotionalen Arbeitsbeziehung (Bindung) beschrieben werden. Insbesondere für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie gilt dabei, dass häufig das soziale Umfeld, vielfach die Familie oder die Schule, von Bedeutung ist und in die Therapie einbezogen werden sollte (Heinrichs & Lohaus, 2011). Da es innerhalb einer systemisch orientierten Familienberatung obligatorisch ist, mit den Bezugspersonen (als Bindungs- und Fürsorgepersonen), dem Kind (als identifizierter Patient/Klient) und seinem Umfeld zu arbeiten, bezieht die nachfolgende Betrachtung von bindungsbezogener Psychotherapieforschung sowohl Ergebnisse der Erwachsenenpsychotherapie als auch die kärglichen Befunde der Therapie mit Kindern und Jugendlichen ein. Aufgrund der Relevanz für die vorliegende Arbeit steht dabei die Betrachtung der bisherigen Forschungsergebnisse zur Bindungsveränderung nach therapeutischer Intervention im Zentrum. Wie schon bei den erwähnten Untersuchungen zur Bindung und dem elterlichem Erziehungsverhalten werden auch in diesem Kapitel unterschiedlichste Studien aus verschiedenen Forschungstraditionen zitiert. Dies rührt vor allem daher, da im Feld der Therapieforschung eine große Heterogenität herrscht bzgl. der Studien, die Bindungsaspekte berücksichtigen. Untersuchungen, die Bindungsrepräsentationen mit Forschungsmethoden der Bindungsforschung innerhalb der Entwicklungspsychologie erheben, sind aufgrund ihrer aufwendigen Durchführung und Auswertung eher seltener zu finden. Veröffentlichungen zu Interventionsforschungen mit einem Geschichtenergänzungsverfahren in der mittleren Kindheit liegen nach eigenen Recherchen im deutschen sowie im englischsprachigen Raum nicht vor.

3.7.1 Die Bedeutung der Bindungstheorie für die Psychotherapieforschung Betrachtet man die theoretische Ausgangsbasis Bowlbys (1988/2014), kann davon ausgegangen werden, dass in einer Psychotherapie korrektive Erfahrungen, insbesondere hinsichtlich der Bindungssicherheit des Patienten, möglich sind. Auch die Ergebnisse der bisherigen Langzeitstudien weisen darauf hin, dass die Organisation und Qualität der Bindung, z. B. durch bedeutsame Lebensereignisse, sich sowohl in Richtung größere Sicherheit als auch Unsicherheit verändern können (vgl. Kap. 3.2.3). Dessen zum Trotz wurde Bindung als bedeutsame Variable innerhalb psychologischer Interventionen erst recht spät

Bindung und Psychotherapieforschung

115

untersucht. In Studien der internationalen Psychotherapieforschung spielt die Bindungsdimension vor allem in drei wesentlichen Bereichen eine Rolle (Strauß & Schwark, 2007): 1. Bindung als Prädiktor für den Therapieerfolg, 2. Bindung als bedeutsamer Aspekt im psychotherapeutischen Prozess und 3. Veränderung von Bindungsmerkmalen im Therapieverlauf. Die Zusammenhänge zwischen Bindung und dem Ergebnis einer Psychotherapie werden in einer Metanalyse von Levy und Kollegen anschaulich beschrieben (Levy, Ellison, Scott & Bernecker, 2011). Dabei fand sich in den 14 ausgewerteten Studien ein kleiner positiver Effekt von sicherer Bindung, der mit dem Therapieerfolg verknüpft war. Unsichere Bindung (anxiety) stand hingegen in einem kleinen bis mittleren negativen Zusammenhang bzw. bei vermeidender Bindung (avoidance) in keinem Zusammenhang mit dem späteren Therapieerfolg. Alle dabei einbezogenen Studien behandeln die Therapie bei Erwachsenen. Insgesamt gesehen sind die Befunde zur prädiktiven Qualität von Bindungsmerkmalen für den Behandlungserfolg wenig eindeutig (Strauß, 2014). Auch lässt sich aufgrund der derzeitigen Studienlage nicht sicher sagen, ob Menschen eines bestimmten Bindungstyps mehr von kognitiv-behavioralen oder psychodynamischen Ansätzen profitieren (Ehrenthal, 2017). Systemische Ansätze sind darüber hinaus bislang kaum untersucht worden. Im Bewusstsein, dass die psychotherapeutische Arbeitsbeziehung mehrere zentrale Kriterien einer Bindungsbeziehung erfüllt (Ehrenthal, Thomanek, Schauenburg & Dinger, 2013), kann der gesamte Psychotherapieprozess unter einer Bindungsperspektive betrachtet werden. Forschungsgegenstände sind dabei insbesondere Bindungsmerkmale von Patienten und ihre damit verbundene Öffnungsbereitschaft in der Therapie, die Qualität der therapeutischen Allianz, Bindungsmerkmale von Therapeuten, die Reaktion und Gegenübertragung auf verschiedene Patienten sowie die Passung von Patient und Therapeut (vgl. Dinger, 2017). Zentral scheint vielfach die Frage zu sein, wie sich internalisierte Schemata von Beziehungen im therapeutischen Kontext bemerkbar machen (Strauß, 2014, S. 88). Die bisherigen Befunde weisen dabei erwartungsgemäß in die Richtung, dass therapeutische Beziehungen besser mit bindungssicher klassifizierten Patienten gelingen (Dinger, 2017). Diskutiert werden hingegen Möglichkeiten, auf unsicher gebundene Patienten optimal zu reagieren, so dass diese noch besser die sicherheitsgebende Funktion der therapeutischen Beziehung nutzen können (Daly & Mallinckrodt, 2009). Die Befundlage zur Bindung von Psychotherapeuten selbst weist, je nach Studie, unterschiedliche Verteilungen auf. Untersuchungen aus den letzten Jahren zeigen bei Therapeuten, die mittels des AAI befragt wurden, eine ähnliche Häufigkeit von sicheren Bindungsrepräsentationen, wie sie in Metastudien bei der Nor-

116

Bindungstheorie und -forschung

malbevölkerung gemessen wurden (ca. 50–60 %, vgl. Kap. 3.2.4). In der Studie von Petrowski und Kollegen waren daneben viele Psychotherapeuten vermeidend klassifiziert worden (Petrowski, Pokorny, Nowacki & Buchheim, 2013). Andere Forschergruppen berichten dagegen von mehr unsicher-verstrickten Bindungsrepräsentationen, nachrangig zu dem größten Anteil der sicher-autonomen Bindungsklassifikation (Schauenburg et al., 2010; Taubner, UlrichManns, Klasen, Curth, Möller & Wolter, 2014). Mit den beiden Aspekten Therapieerfolg und Therapieprozess, ist der dritte Punkt »Veränderung von Bindung in der Therapie« vielfach verbunden. Die bereits erwähnte Heterogenität der Forschungstraditionen, und dementsprechend der Erhebungsinstrumente, zeigt sich auch bei Untersuchungen zur Bindung und dem sogenannten Therapie-Outcome. Auch hier ist ein erheblicher Mangel an Studien im Kindesalter zu verzeichnen. Zu Familientherapien liegen, soweit bekannt, noch überhaupt keine Befunde zur Veränderung von Bindungsstrategien vor. Erste Untersuchungen wurden jedoch bereits unternommen (vgl. Krauthamer Ewing, Levy, Scott & Diamond, 2018).

3.7.2 Veränderung von Bindungsmerkmalen im Verlauf und nach einer Therapie Nach den bereits referierten Erkenntnissen zum Zusammenhang von Bindung und psychischen Auffälligkeiten im Kindesalter (vgl. Kap. 3.5.3), die entsprechend auch für das Erwachsenenalter bedeutsam sind (vgl. Strauß, 2008), kann eine Erhöhung der Bindungssicherheit auch als direktes oder mittelbares Ziel einer Psychotherapie begriffen werden. Einige Autoren gehen dabei sogar soweit, dass sie annehmen, dass solche tieferliegenden Strukturen wie IAM zwingend in einer Psychotherapie einer Revision bedürfen, um nachhaltige Effekte zu erzeugen und einen Rückfall in maladaptive Muster des Patienten zu verhindern (vgl. Safran, Vallis, Segal & Shaw, 1986). Andere Autoren sehen eine Stärkung der Bindung in diesem Sinne als bedeutsame Größe für die psychosoziale Intervention in einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle an (Scheuerer-Englisch, 2007, 2012) und obwohl bereits explizit auf Bindung ausgerichtete Beratungs- und Therapiemodelle existieren (vgl. Brassard & Johnson, 2016; Steele, H. & Steele, M., 2018), wird Bindung in vielen Bereichen noch nicht als Outcome untersucht. Zusammenfassend konnte erstmals die Arbeitsgruppe um Peter Taylor eine Übersicht vorlegen, die zumindest für das Feld der Psychotherapie mit Erwachsenen einen repräsentativen Einblick in die Veränderung von Bindung nach therapeutischer Intervention offenbart (Taylor, Rietzschel, Danquah & Berry, 2015). Dabei untersuchten sie 14 Studien unterschiedlichster Ausrichtung und Qualität, wobei neun davon Fragebögen ein-

Bindung und Psychotherapieforschung

117

setzten und fünf ein Bindungsinterview verwendeten. In sechs Studien wurde Gruppentherapie, in fünf Einzeltherapie, in zweien Paartherapie und in einer Studie eine Kombination aus Einzel- und Gruppentherapie durchgeführt. Die Ergebnisse des Reviews weisen dabei in eine Richtung, ohne diese jedoch aufgrund der ausbaufähigen Studienlage nachhaltig erhärten zu können. In elf von 14 Studien fanden sich Veränderungen in Richtung mehr Bindungssicherheit. Drei randomisierte kontrollierte Studien (RCT), die das AAI einsetzten, konnten dabei unterschiedliche Ergebnisse nachweisen: Während Levy et al. (2006) zeigen konnten, dass von 22 Patienten nach einer Behandlung mit Übertragungsfokussierter Psychotherapie (TFP) sieben eine sichere Bindung aufwiesen (zuvor war es nur ein Patient), konnten Korfmacher et al. keine Unterschiede in der Bindungsrepräsentation sechs Monate nach Therapieende im Vergleich zur Kontrollgruppe feststellen (Korfmacher, Adam, Ogawa & Egeland, 1997). In der Studie von Stovall-McClough und Cloitre (2003) wurde ein signifikanter Anstieg der Bindungssicherheit berichtet und von 13 Patienten mit unverarbeitetem Bindungsstatus veränderte sich dieser bei acht Patienten nach der Intervention. In einer sehr frühen Untersuchung von Fonagy und Kollegen konnte der bislang bedeutsamste Zuwachs an sicherer Bindung nach einer Psychotherapie gemessen werden, bei dem 40 % aller behandelten Patienten am Ende sicher klassifiziert werden konnten (Fonagy et al., 1996). Ein Nachteil dieser Studie besteht allerdings darin, dass keine vollständige Verteilung der Bindungsrepräsentationen vor und nach der Intervention berichtet wurde. In aktuellen Studien wie der von Reiner et al. (2016) konnten immerhin 13 von 43 Patientinnen mit Depression von einer unsicheren oder unverarbeiteten Klassifikation zu einer sicheren wechseln (Reiner, Bakermans-Kranenburg, van IJzendoorn, Fremmer-Bombik & Beutel, 2016). Die Forschungsergebnisse von Daniel, Poulsen und Lunn (2016), die psychodynamische Therapie mit kognitivbehavioraler Therapie in unterschiedlichen Gruppen verglichen, wiesen zwar Veränderungen der Bindungsrepräsentation im AAI aus, jedoch weder eindeutig in Richtung mehr, noch in Richtung weniger Bindungssicherheit. Die Tabellen 8 und 9 listen alle gesichteten Studien getrennt nach Erhebungsinstrumenten noch einmal übersichtlich auf.

RCT

McBride et al., 2006

2 Monate

Stationäre Gruppentherapie (psychodynamisch)

188 Patienten (verschieden)

Kirchmann et al., 2012

Kontr. Studie

6 Sitzungen (7 Wochen)

Ambulante Therapie (Enactmentbased vs. Therapist-centered)

16 Sitzungen (wöchentlich) 8 Wochen

16 Paare (verschieden)

Stationäre Behandlung (KVT vs. psychodyn. Psychotherapie) Stationäre Traumatherapie

17 Wochen

66 Patienten (Essstörung) 101 Patienten (PTBS)

17 Wochen

13 Wochen

M = 17 Sitzungen

3 Tage (Wochenende)

Therapiedauer

49 Patienten (häusliche Ambulante integrative (KVT & Gewalt, m) psychodynamisch) Psychotherapie

Kontr. Studie

Muller & Rosenkranz, 2009

Ambulante Emotions-fokussierte Therapie (EFT)

Ambulante Behandlung (Interpersonaler Psychotherapie vs. KVT)

Bindungsfokussierte Therapie

Therapieform

33 Patienten (häusliche Ambulante integrative (KVT & Gewalt, m) psychodynamisch) Psychotherapie

24 Paare (verschieden)

13 Patientinnen (unsichere Bindung, w) 56 Patienten (Depression)

Stichprobe, Diagnose

Lawson & Bossart, Nicht 2009 kontr. Studie Butler, Harper & RCT Mitchell, 2011

RCT

Tasca et al., 2007

Nicht kontr. Studie Lawson et al. 2006 Nicht kontr. Studie

RCT

Kilmann et al., 1999

Makinen & Johnson, 2006

Design

Autoren, Jahr

Tabelle 8: Bindung als Outcome in der Psychotherapie von Erwachsenen gemessen mit Fragebogeninstrumenten

ECR

RSQ

ECR Gruppe BFPE / GAQ / RSQ

Paar

Gruppe AAS

Gruppe RSQ / RQ

Gruppe ASQ

Gruppe AAS

Paar

Einzel

Gruppe RSQ

Setting Bindungsmaß

118 Bindungstheorie und -forschung

Stichprobe, Diagnose

Therapieform

Therapiedauer

Setting Bindungsmaß

474 Patienten (Soziale Ambulante Behandlung (KVT vs. 25 Sitzungen Einzel ECR Phobie) psychodyn. Psychotherapie M = Mittelwert; m/w = männlich/weiblich; AAS = Adult Attachment Scale; ASQ = Attachment Style Questionaire; BFPE = Bielefelder Fragebogen zu Partnerschaftserwartungen; DBT = Dialektisch-behaviorale Therapie; ECR = Experience in Close Relationship Inventory ; GAQ = Grau’s Attachment Questionaire; KVT = Kognitive Verhaltenstherapie; PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung; RCT = Randomized Controlled Trial; RQ = Relationship Questionaire; RSQ = Relationship Style Questionaire.

Design

Strauss et al., 2017 RCT

Autoren, Jahr

((Fortsetzung))

Bindung und Psychotherapieforschung

119

Nicht kontr. Studie RCT

Nicht kontr. Studie RCT

Fonagy et al., 1996

Travis et al., 2001

RCT

Nicht kontr. Studie

Kontr. Studie RCT

Levy et al., 2006

Strauss et al., 2011

Reiner et al., 2016 Daniel et al., 2016

StovallMcClough & Cloitre, 2003

Korfmacher et al., 1997

Design

Autoren, Jahr

43 Patientinnen (Depression, w) 70 Patienten (Essstörung)

40 Patienten (PS)

60 Patienten (BPS)

Stationäre psychodynamische Psychotherapie Psychodynamische Psychotherapie vs. KVT

Ambulante Behandlung (TFP vs. DBT und psychodynamische Therapie) Stationäre Gruppentherapie (psychodynamisch)

18 Patientinnen (PTBS, w) Ambulante Behandlung (Expositionstherapie vs. Skill Training)

Ambulante psychodynamische Kurzzeittherapie

AAI

2 Jahre Einzel (Psychodyn.Th.) 5 Monate (KVT)

EBPR

AAI

AAI

BARS

AAI

Gruppe

Einzel

Einzel

Einzel

AAI

AAI

Bindungsmaß

Einzel

8 Wochen

7 Wochen

12 Monate

16 Sitzungen

M = 21 Sitzungen

Elterngruppe und individuelle psychosoziale Unterstützung

55 Patientinnen (Mütter mit niedrigem Einkommen)

29 Patienten (interpers. Probleme)

M = 9.4 Monate Einzel und Gruppe 12 Monate Einzel und Gruppe

Stationäre psychodynamische Psychotherapie

85 Patienten (affektive Störungen)

Setting

Therapiedauer

Therapieform

Stichprobe, Diagnose

Tabelle 9: Bindung als Outcome in der Psychotherapie von Erwachsenen gemessen mit Interviewverfahren

120 Bindungstheorie und -forschung

Design

Stichprobe, Diagnose

Therapieform

Therapiedauer

Setting

Bindungsmaß

Buchheim et al., RCT 104 Patienten (BPS) Ambulante Behandlung (TFP vs. 12 Monate Einzel AAI 2017 unspezifische ambulante Therapie) M = Mittelwert; m/w = männlich/weiblich; BARS = Bartholomew Attachment Rating Scale; BPS = Borderline-Persönlichkeitsstörung; EBPR = Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating; TFP = Transference Focused Psychotherapy

Autoren, Jahr

((Fortsetzung))

Bindung und Psychotherapieforschung

121

122

Bindungstheorie und -forschung

Für das Kindesalter existieren nur zwei Studien, die Bindung vor und nach einer therapeutischen Intervention gemessen haben. Für das Kleinkind- (11 Monate) bis zum Kindergartenalter (4.8 Jahre) konnten Hoffman und Kollegen (2006) mittels der Fremden Situation zeigen, dass nach einer Intervention mit dem »Kreis der Sicherheit«-Programm (Circle of Security Intervention) deutlich mehr Kinder (35 von 65) sicher gebunden waren als zuvor (13 von 65). Dementsprechend nahmen auch desorganisierte Bindungen deutlich ab, so dass von anfänglich 39 nach der Intervention nur noch 16 D-Klassifikationen gefunden werden konnten (Hoffman, Marvin, Cooper & Powell, 2006). Diese Untersuchung ist in vielerlei Hinsicht von hervorzuhebender Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Zum einen ist es die einzige publizierte Studie die gefunden werden konnte, die Bindungsmuster im Kindesalter vor und nach einer beraterisch-therapeutischen Intervention mit einem etablierten Instrument der entwicklungspsychologischen Bindungsforschung erhebt und miteinander vergleicht. Zum anderen ist die Intervention auf Bezugsperson (caregiver) und Kind ausgerichtet – wenn auch in diesem Fall in Form von Eltern-Kind-Gruppen –, was grundsätzliche Überscheidungen mit einer systemischen Intervention in der Familienberatung birgt. Die gefundenen Veränderungstendenzen waren in dieser nichtkontrollierten Studie eindeutig. Mit dem McNemar-Test, einer speziellen Form des Chi-Quadrat-Tests, der bei Messwiederholungen bei einer Gruppe eingesetzt werden kann, konnte ein hochsignifikanter Wechsel sowohl von desorganisierter Klassifikation zu organisierter Klassifikation als auch von unsicherer Klassifikation zu sicherer Klassifikation belegt werden (ebd.). Im Rahmen ambulanter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wurde in einer weiteren Studie Bindung als Outcome beforscht: Die »Heidelberger Studie zur Evaluation von analytischer Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen« wurde dabei einmal als Kurzzeittherapie und einmal als Langzeittherapie mit unterschiedlichen Ergebnissen berichtet (Stefini, Geiser-Elze, Hartmann, Horn, Winkelmann & Kronmüller, 2009; Stefini, Horn, Winkelmann, GeiserElze, Hartmann & Kronmüller, 2013). In einem ersten Abschnitt der Untersuchung konnten noch keine signifikanten Veränderungen im Bindungsstil der mit Kurzzeittherapie behandelten Kinder festgestellt werden. In diesem Zeitraum wurde eine Wartegruppe als unbehandelte Kontrollgruppe genutzt. Dem zweiten Abschnitt dieser Studie lag ein naturalistisches Forschungsdesign ohne Kontrollgruppe zugrunde. Nach erfolgter Langzeittherapie zeigte sich ein signifikanter Zuwachs der als sicher klassifizierten Kinder von ursprünglich 16 von 71 zu Beginn auf 45 von 71 am Ende der Therapie. Ein Follow-up ein Jahr nach der Intervention konnte die Stabilität der Ergebnisse belegen (Stefini et al., 2013). Die Bindung der Kinder und Jugendlichen wurde in dieser Studie mit einem eigens dafür konstruierten Fragebogen, dem Heidelberg Bindungsstilrating für

23 Monate

25 Sitzungen

Ambulante psychodynamische Kurzzeittherapie Ambulante psychodynamische Psychotherapie (Langzeit)

Gruppe (Kind + Bezugsperson)

20 wöchentliche Sitzungen

Kreis der Sicherheit (COS)

Einzel (Bezugsperson einbezogen)

Einzel (Bezugsperson einbezogen)

Setting

Therapiedauer

Therapieform

HBSR-KJ

Fremde Situation / PACS HBSR-KJ

Bindungsmaß

M = Mittelwert; COS = Circle of Security Intervention; HBSR-KJ = Heidelberg Bindungsstilrating für Kinder und Jugendliche; PACS = Preschool Attachment Classification System

71 Kinder und Jugendliche (M = 11,3 J.) (verschieden)

Stefini et al. Nicht 2013 kontr. Studie

Stichprobe, Diagnose

65 Kinder (M = 2.7 J.) (verschieden) 71 Kinder und Jugendliche (M = 11.3 J.) (verschieden)

Design

Nicht kontr. Studie Stefini et al. RCT 2009

Hoffman et al. 2006

Autoren, Jahr

Tabelle 10: Bindung als Outcome in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen

Bindung und Psychotherapieforschung

123

124

Bindungstheorie und -forschung

Kinder und Jugendliche (HBSR-KJ) erhoben. In Tabelle 10 sind die Studien im Altersbereich der Kinder und Jugendlichen überblickartig zusammengefasst. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich im Feld der Psychotherapie bei unterschiedlichen Zielgruppen, Settings und Methoden Hinweise finden lassen, dass Bindung grundsätzlich durch eine therapeutische Intervention veränderbar ist. Gleichzeitig wurde in einigen Untersuchungen die Stabilität von Bindungsklassifikationen nachgewiesen sowie ein Wechsel von unsicheren Kategorien bis hin zu einer Veränderung in Richtung größerer Bindungsunsicherheit (vgl. Daniel et al., 2016; Strauss, Mestel & Kirchmann, 2011). Da sowohl für die Erziehungs- und Familienberatung (child guidance clinics / family counseling centers) als auch für die systemische Beratung und Therapie (family therapy / family systems therapy) auf nationaler wie internationale Ebene bzgl. derlei Studien ein Desiderat herrscht, haben die zuvor berichteten Ergebnisse einen informierenden und orientierenden Gehalt für diese vorliegende Forschungsarbeit.

3.8

Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

Aus den dargelegten Grundlagen wird deutlich, dass die Erziehungsberatung als Leistung der Jugendhilfe durch ein multiprofessionelles Fachteam, welches sich hauptsächlich aus therapeutisch weitergebildeten Psychologinnen und Sozialpädagoginnen/Sozialarbeiterinnen zusammensetzt, geprägt ist (vgl. Kap. 2.5). Obschon psychosoziale Beratung selten einem einzelnen Paradigma folgt, orientiert sich Beratung und Therapie in Erziehungsberatungsstellen überwiegend an systemisch-familientherapeutisch ausgerichteten Ansätzen und integriert dabei Methoden anderer Verfahren (pragmatischer Eklektizismus) (vgl. Kap. 2.4). Familienberatung behandelt anlassbezogen vielfältige Probleme von Eltern und Kindern, die mit einer Bindungsthematik sowie mit Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang stehen (vgl. Kap. 2.3). Für beide Bereiche gibt es bislang kaum aussagekräftige oder aktuelle Forschungsstudien, weder im Arbeitsfeld Erziehungsberatung noch in der deutschsprachigen Beratungsforschung. Bisherige Evaluationen in Erziehungsberatung zeigten jedoch, dass ganz allgemein von einer hohen Zufriedenheit der Adressatinnen und unterschiedlich starken Effekten hinsichtlich der Problemreduktion ausgegangen werden kann (vgl. Kap. 2.6). Die Bindungstheorie hat sich, ganz nach einer ursprünglichen Idee Bowlbys (1969/2006), als äußerst fruchtbares Konzept erwiesen, um in der psychosozialen und therapeutischen Praxis mit Kindern und deren Eltern zu arbeiten (vgl. Kap. 3.1). Die Instrumente der Bindungsforschung haben ferner eine Entwicklung genommen, so dass sie von geschulten Bindungsdiagnostikern

Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen

125

auch außerhalb der Laborsituation, z. B. in Feldstudien, angewandt werden können. Gerade für das Grundschulalter bietet das GEV-B ein großes Potential, Bindung von Kindern zu erheben, worauf eine mittlerweile breite internationale wie nationale Forschungslage hinweist (vgl. Kap. 3.3.2). Forschungsbefunde zeigen, dass Bindungsunsicherheit das Risiko für auffälliges Verhalten von Kindern im Grundschulalter erhöht (vgl. DeKlyen & Greenberg, 2016). Insbesondere desorganisierte Bindung scheint assoziiert mit externalisierenden Verhaltensproblemen wie auch mit kontrollierenden Verhaltensweisen mit Rollenumkehr zwischen Elternteil und Kind. In klinischen und Risikostichproben werden dabei deutlich mehr desorganisierte Bindungen gefunden als in nicht-klinischen bzw. Normalpopulationen (vgl. Kap. 3.5). Mit Blick auf die Elternpersonen des Kindes geben die wenigen dazu vorhandenen Studien einen Hinweis darauf, dass eine unsichere Bindungsrepräsentation eines Elternteils sich negativ auf die Fürsorge- und Erziehungsqualität auswirkt. Ebenso zeigen die Ergebnisse der Erziehungsstilforschung, dass autoritäres, strafendes oder auch inkonsistentes und permissives Erziehungsverhalten sich nachteilig auf die Entwicklung von Kindern und auch auf Aspekte von Bindung auswirken kann. Eine feinfühlige, auf Reziprozität wertlegende Erziehung scheint dagegen ein Schutzfaktor für die spätere kindliche Entwicklung zu sein (vgl. Kap. 3.6). Bislang existieren keine Untersuchungen in der Erziehungs- und Familienberatung zum elterlichen Erziehungsverhalten. Somit ist auch nichts darüber bekannt, wie Erziehungsverhaltensweisen in Verbindung stehen mit der spezifischen Bindungsrepräsentation des Elternteils oder mit der Bindungssicherheit des Kindes. Die Veränderung von Bindungsmerkmalen bei Kindern wurde weder nach psychosozialer Beratung noch nach Psychotherapie innerhalb der klinischen Bindungsforschung in größerem Maße rezipiert. So konnte nur eine Studie recherchiert werden, die Befunde zur Veränderung der klassischen Bindungsmuster bei Kindern vor nach einer beraterisch-therapeutischen Intervention erhoben hat (Hoffman et al., 2006). Die Ergebnisse zeigen, dass Bindung sich nach einer Intervention mit Kleinkind und Bezugsperson signifikant in Richtung sicherer bzw. organisierter Bindungsmuster verändert. Bezogen auf Familienberatung und -therapie liegen für die mittlere Kindheit noch überhaupt keine Daten vor. Aus der derzeitigen Studienlage, vor allem im Bereich der Erwachsenenpsychotherapie, kann geschlussfolgert werden, dass systemische Familienberatung das Potential besitzt, sich positiv auf die Bindungssicherheit bzw. die Bindungsorganisation von Kindern auszuwirken (vgl. Kap. 3.7.2). Das Schaubild in Abbildung 9 fasst die theoretischen Konzepte und Perspektiven in grafischer Form zusammen und bringt diese als Untersuchungsgegenstände der vorliegenden Arbeit in Verbindung mit dem Forschungsdesign der durchgeführten Studie. Mutter und Kind werden dabei mittels der Konzepte

126

Bindungstheorie und -forschung

der Bindungssicherheit und Bindungsrepräsentation in den Blick genommen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die Mutter ihr Erziehungsverhalten an ihr Kind adressiert. Das Kind wiederum zeigt aus Perspektive der Mutter und/ oder der Grundschule auffälliges Verhalten, welches als Problem aufgefasst wird. Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle bietet systemische Beratung und Therapie an, um die Anliegen der Familie und nach Möglichkeit die der Schule zu bearbeiten. Familiensystem

hat Auswirkungen

Erziehungsverh.

Bindungsrepräsentation und -sicherheit

hat Auswirkungen

Bindungsrepräsentation

auffälliges Verh.

Mutter

Kind

Gesch wister

hat Auswirkungen

auffälliges Verh.

Grundschule

Vater

systemische Beratung u. Therapie

Erziehungs- und Familienberatungsstelle

Abbildung 9: Verbindungen der theoretischen Konzepte und Untersuchungsgegenstände in Rahmen der Arbeit

Sichtbar werden so die wechselseitigen Wirkungen, welche die einzelnen hier fokussierten Konzepte theoretisch und praktisch füreinander haben können. In der vorliegenden Arbeit werden insbesondere die antizipierten Auswirkungen der systemisch orientierten Familienberatung zum Thema. Dies leitet über zu den Forschungsfragen und den daraus resultierenden Hypothesen, bevor im vierten Kapitel die Methodik der Untersuchung vorgestellt wird.

3.9

Fragestellung und Hypothesen

Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist die Untersuchung der Bindungsrepräsentation und -sicherheit von als verhaltensauffällig beschriebenen Kindern im Grundschulalter nach erfolgter Familienberatung. Resultierend aus den vorangestellten theoretischen Grundlagen und empirischen Befunden wird ange-

Fragestellung und Hypothesen

127

nommen, dass Bindung eine bedeutsame Variable für die sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes darstellt. Gerade im Feld der Erziehungsberatung, vielleicht mehr noch als in der Psychotherapie, stellt die Bindungssicherheit von Kindern eine wesentliche Zielvariable dar, um Auswirkungen einer Intervention zu messen. Insbesondere der Interventionsansatz der systemischen Beratung und Therapie rekurriert auf die familialen Beziehungen, ihre Strukturen, innewohnenden Konflikte und Potentiale. Insofern betrachtet systemische Familienberatung, wie zuvor dargestellt, bei kindlichen Verhaltensauffälligkeiten insbesondere die Beziehung des Kindes zu seinen emotional nahen Familienmitgliedern, sucht hier nach aufrechterhaltenden Bedingungen, Ressourcen und Lösungen. Wenn Beratung und Therapie in einer Beratungsstelle, deren Inanspruchnahme rund um den Anlass der kindlichen Verhaltensauffälligkeit heraus entstanden ist, die Bindungsbeziehungen innerhalb der Familie nutzt, um allen Beteiligten, vor allem dem vorgestellten Kind, zu helfen, so steht zu erwarten, dass nicht nur die beschriebenen Probleme zurückgehen, sondern sich die Bindungssicherheit messbar verändert. Die daraus resultierende Forschungsfrage nimmt an, dass durch die Intervention angestoßene Veränderungen in der Bindungsorganisation und -sicherheit des Kindes sichtbar werden. 1. Frage: Lässt sich die Bindungssicherheit eines als verhaltensauffällig beschriebenen Kindes durch eine beraterisch-therapeutische Intervention im Kontext der Familienberatung verändern? Hypothese (H1): Aufgrund der zuvor theoretisch postulierten Plastizität von Bindung und vergleichbaren Vorbefunden aus der Psychotherapieforschung wird angenommen, dass die beraterisch-therapeutische Intervention zu einer bedeutsamen Veränderung der Bindungssicherheit des Kindes führt und sich kindliche Bindungsrepräsentationen restrukturieren. Konkreter wird erwartet, dass diese Veränderung sich auf drei Ebenen zeigt: 1. Auf der Ebene der Bindungsrepräsentation: Desorganisierte Bindungen (D) wechseln nach der Intervention zu unsicher-vermeidenden (A) oder unsicherambivalenten (C) Bindungsstrategien und unsichere Bindungsstrategien (A, C) wechseln zu sicheren Bindungsstrategien (B). 2. Auf der Ebene der Bindungsorganisation: Desorganisierte Bindungen (D) wechseln zu organisierten Bindungsrepräsentationen (A, B oder C). 3. Auf der Ebene der Bindungssicherheit im Bindungssicherheitswert: Dabei werden deutliche Unterschiede zwischen dem globalen Bindungssicherheitswert zu Beginn und nach der Intervention erwartet und zwar in Richtung mehr Bindungssicherheit.

128

Bindungstheorie und -forschung

Wie die bisherige Bindungsforschung zeigen konnte, besteht ein Zusammenhang zwischen der Bindungsrepräsentation des erwachsenen Elternteils und der Bindungsstrategie des Kindes. Bislang sind noch keine Studien im deutschsprachigen Raum zur Bindungsrepräsentation von Eltern und Kindern in der Erziehungs- und Familienberatung veröffentlicht worden. Von daher gibt es ein Erkenntnisinteresse daran, welche Verteilung bei den Bindungsrepräsentationen der beratenen Mütter vorherrscht und ob diese mit der Bindungsstrategie ihrer Kinder korrespondiert. Dies führt zur zweiten Forschungsfrage. 2. Frage: Welche Bindungsrepräsentationen finden sich bei ratsuchenden Müttern zu Beginn der Familienberatung und in welchem Verhältnis stehen diese zur Bindungsrepräsentation ihres als verhaltensauffällig beschriebenen Kindes? Hypothese (H2): Es wird erwartet, dass die Bindungsklassifikationen der untersuchten Mütter überwiegend den organisierten Bindungsrepräsentationen zuzurechnen sind. Gleichzeitig wird angenommen, dass die Bindungsrepräsentationen der Mütter überzufällig häufig konkordant sind mit denen ihrer Kinder, und zwar im Verhältnis: sicher-autonome Bindungsrepräsentation Mutter (F) = sichere Bindungsrepräsentation Kind (B), unsichere Bindungsrepräsentation Mutter (Ds, E) = unsichere Bindungsrepräsentation Kind (A, C) und unverarbeiteter Bindungsstatus Mutter (U) = Bindungsdesorganisation Kind (D). Letztlich sagt eine Veränderung der Bindungssicherheit beim Kind nicht zwangsläufig etwas über eine Veränderung der Verhaltensauffälligkeit aus, die einen wichtigen Grund zur Aufnahme der Beratungsgespräche darstellt. Auch wenn systemische Beratung und Therapie in einer Familienberatungsstelle in aller Regel nicht störungsspezifisch, sondern ressourcen- und beziehungsorientiert angewandt wird, stellt sich die Frage, inwieweit die Intervention Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes nach sich zieht. Neben einer Veränderung der beschriebenen Verhaltensprobleme wird dabei auch ein potentieller Zuwachs von Kompetenzen beim Kind betrachtet. Daher ergibt sich eine dritte Forschungsfrage für die Studie. 3. Frage: Verändern sich die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten und Kompetenzen der Kinder nach einer beraterisch-therapeutischen Intervention im Kontext der Familienberatung? Hypothese (H3): Wie die wenigen durchgeführten Studien zur Wirksamkeit von Erziehungsberatung nahelegen, ist davon auszugehen, dass die beraterisch-therapeutische Intervention zu weniger Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern führt. Weiterhin wird angenommen, dass die Kompetenzen der Kinder nach der Beratung zunehmen.

Fragestellung und Hypothesen

129

Über die Frage der Verhaltensauffälligkeiten hinausgehend wurde in bisherigen Forschungsvorhaben nicht in den Blick genommen, ob sich das Erziehungsverhalten von Eltern(-teilen) nach der Beratung verändert. Da Familienberatung in der Regel auch unterschiedliche Erziehungsverhaltensweisen von Mutter und Vater thematisiert, soll die Untersuchung der vierten Fragestellung aufschlussreiche Ergebnisse zu Tage fördern. 4. Frage: Verändert sich das aktuelle Erziehungsverhalten der Mütter nach einer beraterisch-therapeutischen Intervention im Kontext der Familienberatung? Hypothese (H4): Es wird erwartet, dass die beraterisch-therapeutische Intervention im Kontext der Familienberatung zu einer Veränderung des Erziehungsverhaltens der Mutter beiträgt, und zwar in der Weise, dass es zu mehr positiven Erziehungsverhaltensweisen (positives Elternverhalten, verantwortungsbewusstes Elternverhalten, Involviertheit) kommt und negative Erziehungsverhaltensweisen (machtvolle Durchsetzung, inkonsistentes Elternverhalten, körperliches Strafen, geringes Monitoring) abnehmen. Bisher liegen nur wenig aussagekräftige Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und elterlichen wie kindlichen Bindungsrepräsentationen vor. Davon ausgehend, dass Bindungsmerkmale eines Elternteils wie auch die eines Kindes hinsichtlich des gezeigten Erziehungsverhaltens eine gewichtige Rolle spielen, ergibt sich eine weitere Forschungsfrage für die vorliegende Arbeit. 5. Frage: Inwiefern unterscheidet sich das Erziehungsverhalten der Mütter zu Beginn der Familienberatung im Hinblick auf deren eigene Bindungsrepräsentationen und die Bindungsrepräsentationen ihrer Kinder? Hypothese (H5): Es wird angenommen, dass das Erziehungsverhalten der Mutter als primäre Bindungsperson des Kindes entsprechend ihrer eigenen Bindungsrepräsentation unterschiedlich ausfällt. Ebenso wird erwartet, dass sich Unterschiede im mütterlichen Erziehungsverhalten ergeben, je nachdem, welche Bindungsrepräsentation ihr Kind aufweist. Dabei wird eine Ausprägung erwartet, dass sich negatives Erziehungsverhalten (machtvolle Durchsetzung, inkonsistentes Elternverhalten, körperliches Strafen, geringes Monitoring) häufiger bei desorgansierten/unverarbeiteten Bindungsrepräsentationen zeigt, während positives Erziehungsverhalten (positives Elternverhalten, verantwortungsbewusstes Elternverhalten, Involviertheit) eher bei organisierten Bindungsrepräsentationen von Kind und Mutter gefunden wird. Viele der bisher durchgeführten Studien in der Erziehungs- und Familienberatung waren Katamnesen, die hauptsächlich die Zufriedenheit der beratenen

130

Bindungstheorie und -forschung

Person(en) erfassten. Die Familienberatung allgemein kam dabei zumeist auf hohe bis sehr hohe Zufriedenheitswerte unter der Angabe von mittlerer Reduktion der eigentlichen Probleme. Im Zusammenhang mit der sechsten Forschungsfrage ist es daher interessant, wie die Mütter und Kinder nach Abschluss der Familienberatung das Ausmaß ihres anlassgebenden Problems einschätzen und wie sie die Zufriedenheit mit der Beratung insgesamt bewerten. Die sechste Forschungsfrage lautet: 6. Frage: Inwiefern verändert sich das subjektiv eingeschätzte Ausmaß des Problems nach abgeschlossener Familienberatung für die Mütter und ihre Kinder und wie zufrieden waren die Mütter mit der Beratung? Hypothese (H6): Es wird angenommen, dass, analog zu anderen Untersuchungen im Arbeitsfeld, das Problemausmaß aus Sicht der Mütter sowie aus Sicht der Kinder abnimmt und die Mütter bei Abschluss der Familienberatung überwiegend zufrieden mit der Beratung waren. Anhand dieser sechs Fragen und den davon abgeleiteten Hypothesen wurde ein Untersuchungsdesign entworfen, das sich unterschiedlicher Erhebungsmethoden bediente und dabei maßgeblich am untersuchten Gegenstand und Arbeitsfeld orientierte. Der nächste Abschnitt referiert in der Folge zunächst den Forschungskontext (Kap. 4.1), die untersuchte Stichprobe (Kap. 4.2), den Ablauf der Datenerhebung (Kap. 4.3) und die eingesetzten Verfahren (Kap. 4.4). Die letzten beiden Unterkapitel sind dem Interventionskonzept (Kap. 4.5) und dem Vorgehen in der statistischen Datenauswertung vorbehalten (Kap. 4.6).

4

Methoden

4.1

Forschungskontext und -design

Die Forschung zu Auswirkungen von systemischer Beratung und Therapie in einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle auf die Bindungsrepräsentation verhaltensauffälliger Kinder im Grundschulalter kann als naturalistische, explorative Interventionsstudie in einem Längsschnittdesign bezeichnet werden (Schaffer, 2014). Aufgrund der überschaubaren Studienlage sowohl an Outcome-Studien in der psychosozialen Beratung allgemein als auch im Besonderen in Bezug auf Bindungsmerkmale der Adressaten einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle war es vorrangiges Ziel dieser Untersuchung, hierzu erste Daten zu generieren. Für ein Forschungsvorhaben dieser Art eignet sich eine Längsschnittuntersuchung aus mehreren Gründen. Zum einen soll die Wirkung einer Intervention (Familienberatung) an einer Stichprobe (Klientinnen) gemessen werden, um festzustellen, welche Ergebnisqualität sich vom Messzeitpunkt vor der Intervention zu einem Messzeitpunkt unmittelbar nach der Intervention sowie zu einem späteren Follow-up Messzeitpunkt ergeben. Dabei handelt es sich um eine Prä-Post-Post-Messung im Ein-Gruppen-Design ohne Kontrollgruppe (vgl. Beller, 2016; Merchel, 2015). Zum anderen sagt die Bindungstheorie eine relative Stabilität von Bindungsrepräsentationen voraus (vgl. Kißgen, 2009b). Dem Rechnung tragend sollte ein ausreichend langer Zeitraum zwischen den einzelnen Messpunkten liegen, damit überhaupt eine Neustrukturierung von Bindung messbar würde. Ferner ist ein exploratives Studiendesign für den näher zu untersuchenden Gegenstand und die erwarteten Zusammenhänge besonders geeignet, da im Feld der Kinder- und Jugendhilfe nur schwerlich unter Laborbedingungen geforscht werden kann und hier zudem das Ziel verfolgt wurde, eine erste Datenbasis zu erheben (Schaffer, 2014). Generell ist das Studiendesign angelehnt an klinische Studien in der Beratungsund Psychotherapieforschung (vgl. Hoffman et al., 2006; Schmidt et al., 2002). Ort der Durchführung sowie der Rekrutierung und Untersuchung der Stichprobe war die Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen (vgl. Kap. 2.7). Wie

132

Methoden

kontinuierliche statistische Erhebungen in diesem Arbeitsfeld zeigen, gehört die mittlere Kindheit zu den zahlenmäßig stärksten Altersabschnitten, in denen Kinder in einer Erziehungsberatungsstelle vorgestellt werden (vgl. Kap. 2.3). In der Familienberatungsstelle Kerpen gehören darüber hinaus Verhaltensauffälligkeiten von Kindern in den letzten Jahren stets zu den häufigsten Anmeldegründen (vgl. Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen, 2018a). Nach seriöser Planung konnte daher von einer Durchführbarkeit der Studie innerhalb von zwei bis vier Jahren ausgegangen werden. Vorbereitung der Studie Um die Forschungsstudie zu realisieren, wurde zunächst in der Familienberatungsstelle eine Projektgruppe gegründet, welche neben dem Untersuchungsleiter aus drei weiteren langjährig erfahrenen Fachkräften der Beratungsstelle bestand. Die Projektgruppe machte sich zunächst mit den ausgesuchten Erhebungsinventaren, der Zielsetzung der Studie und dem geplanten Ablauf der Untersuchung vertraut. Aufgabe dieser Projektgruppe war es, die Studie auf Praktikabilität im Feld hin zu überprüfen und den Untersuchungsleiter diesbezüglich zu beraten. Fragen, die im Pretest aufkamen, waren unter anderem: – Welche Informationen zur Studie werden auf welche Art und Weise den in Frage kommenden Müttern/Eltern durch die Fachkraft mitgeteilt? – Wie gelingt es, die Untersuchung durchzuführen, ohne dass die Fragebögen als störend von Klienten oder Fachkräften wahrgenommen werden? – Wie können die Ergebnisse dieser erweiterten Diagnostik den Klienten angemessen zugänglich gemacht werden und wie können diese evtl. schon im Beratungsprozess davon profitieren? – Wie sollte mit möglichen Nachfragen der Eltern zu den Diagnostikinstrumenten umgegangen werden? Die zentrale Aufgabe der Projektgruppe, ergänzt durch zwei weitere erfahrene Fachkräfte des Teams der Beratungsstelle, war jedoch die Rekrutierung der Stichprobe und die Durchführung der beraterisch-therapeutischen Intervention. Einschließlich des Untersuchungsleiters waren insgesamt sechs Fachkräfte unterschiedlicher Professionen, Sozialpädagogik/Sozialarbeit (3), Heilpädagogik (2) und Psychologie (1), an der Durchführung der Studie beteiligt. Die Erhebung mittels diagnostischer Instrumente oblag dem Untersuchungsleiter selbst. Dafür absolvierte er im Jahr 2013 ein Methodentraining im GEV-B bei Frau Prof.’in Dr. Lilith König und ein Training in der Durchführung des AAP bei Herrn Prof. Dr. Rüdiger Kißgen. Neben dem Untersuchungsleiter wurde eine weitere Fachkraft der Projektgruppe von Prof. Dr. Kißgen in der Durchführung des AAP geschult. Geplant war eine Aufteilung der AAP-Interviews, was aber aus unterschiedlichen Gründen nicht realisiert werden konnte, so dass der Unter-

133

Stichprobe

suchungsleiter, bis auf zwei Interviews, alle AAP-Erhebungen zur Studie selbst durchführte. Weiterhin wurden zu Beginn der Studie mit allen beteiligten Fachkräften AAP-Interviews aufgezeichnet. Die Ergebnisse dieser Beraterinterviews fließen nicht in die vorliegende Arbeit mit ein und werden zu einem späteren Zeitpunkt berücksichtigt. Die grafische Darstellung in Abbildung 10 gibt einen guten Gesamtüberblick über den Ablauf und das Design der Forschungsstudie für eine einzelne rekrutierte Familie.

Ablauf der Forschungsstudie Am Beispiel einer einzelnen Probandenfamilie

Anmeldung:

Zuteilung zu einem von sechs Beratern der Projektgruppe

Abschlussgespräch:

Intervention: (Auswertungsgespräch)

Vereinbarung das Berater sich nach sechs Monaten melden wird

Systemische Familienberatung/ -therapie durch einen von sechs Beratern

Erstgespräch:

Information/ Rekrutierung für das Forschungsprojekt

FeedbackGespräch: Ende der Untersuchung

Interventionsphase 5 - 10 Monate und mind. 5 Beratungstermine Setting: Mutter-Kind-Dyade bzw. Eltern-Kind

Wartephase – mind. 6 Monate

Diagnostik (t1):

Kind: GEV-B, EB-EVA-KID1 Mutter: AAP, CBCL, DEAPQ, EB-EVA1 Lehrer: TRF

Diagnostik (t2):

Kind: GEV-B, EB-EVA-KID2 Mutter: CBCL, DEAPQ, EB-EVA2 Lehrer: TRF

Diagnostik (t3):

Kind: GEV-B Mutter: CBCL, DEAPQ

Diagnostik (counsel): Berater: AAP

Abbildung 10: Ablauf der Forschungsstudie

4.2

Stichprobe

In der durchgeführten Studie wurden über drei Messzeitpunkte, verteilt über mindestens 12 Monate, Daten von 61 Kindern und ihren Müttern erhoben.11

11 Es wurde sich dafür entschieden, ausschließlich die Mütter in die Datenerhebung der Studie einzubeziehen. Dies hauptsächlich aus Gründen der besseren Erreichbarkeit. Mütter machen in der Erziehungs- und Familienberatung nach wie vor den Hauptanteil der Anmeldungen aus. In der Kerpener Beratungsstelle waren in den Jahren von 2014 bis 2017 von 2731 Anmeldungen allein 1596 durch die Mütter erfolgt. 309 Anmeldungen erfolgten durch die Eltern gemeinsam und 335 Anmeldungen durch den Vater (eigene statistische Berechnungen). Neben dieser pragmatisch quantitativen Argumentation ist es aus bindungstheoretischer Sicht nicht unerheblich, dass die Mutter auch heute noch für viele Kinder in Deutschland als primäre Bindungsperson angesehen werden kann.

134

Methoden

Bei den teilnehmenden Probanden handelte es sich um eine klassische Inanspruchnahmepopulation einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle einer nordrhein-westfälischen Mittelstadt. Dafür wurden von Januar 2014 bis Januar 2017 Mütter bzw. Eltern von Grundschulkindern, die sich zur Beratung in der Familienberatungsstelle Kerpen anmeldeten, durch das Sekretariat zufällig Fachkräften der Projektgruppe zum Erstgespräch (EG) zugeteilt. Benannte(n) die Mutter bzw. die Eltern in diesem Gespräch die Verhaltensauffälligkeit ihres Kindes als wesentliches Problemanliegen, wurde(n) sie auf die Studie aufmerksam gemacht. Signalisierten die Eltern ihre Bereitschaft, an der Studie mitzuwirken, wurden sie am Ende des EGs über den genauen Ablauf und den Verwertungszusammenhang informiert. Ebenso wurden ihnen am Ende dieses Gesprächs ein Flyer mit Kurzinformationen, ein Informationsblatt zum Datenschutz sowie eine Schweigepflicht-/Einverständniserklärung zur Datennutzung ausgehändigt (vgl. Anhang A und B). Sofern die Eltern einer Teilnahme zustimmten, wurden sie gebeten, beim nächsten Treffen die Schweigepflichterklärung unterzeichnet wieder mitzubringen, und ein erster Kennenlerntermin mit dem bereits angemeldeten Kind wurde vereinbart. Da das Erstgespräch in der Regel mit den Eltern bzw. der Mutter alleine stattfand, war ein solcher Kennenlerntermin mit dem Kind hilfreich, um dessen Bereitschaft zur Teilnahme zu erhöhen und um ihm zu erklären, wozu es in die Beratungsstelle kommt. Dieses Kennenlernen wurde bei schüchternen und jüngeren Kindern zunächst zusammen mit der Mutter durchgeführt, bei älteren Kindern direkt mit dem Kind alleine. Der Termin dauerte in der Regel 45 Minuten und endete mit einer Terminvereinbarung zur Diagnostik. Wurde das Kind von der Mutter sofort zum Erstgespräch mitgebracht, konnte in der Regel ohne ein weiteres Kennenlerntreffen sofort ein weiterer Diagnostiktermin vereinbart werden. Zusammengefasst waren die Auswahlkriterien: – Anmeldung der Eltern, mindestens jedoch der Mutter, in der Familienberatungsstelle zur Beratung. – Der Anlass der Beratung ist das problematisch beschriebene Verhalten eines in der Familie lebenden Kindes. – Das Kind ist zwischen 5;11 und 10;6 Jahren alt. – Die Eltern und das Kind beherrschen in ausreichendem Maße die deutsche Sprache. – Die Eltern stimmen einer Teilnahme an der Studie zu und gewährleisten, dass zumindest Mutter und Kind die Termine in der Beratungsstelle in Anspruch nehmen können. Die Ausschlusskriterien waren: – Eine bereits bekannte und diagnostizierte psychische Störung beim Kind (F90-98, ICD-10).

135

Stichprobe

– Eine Störung der Intelligenz (F70-79, ICD-10). – Eine hochstrittige Elternschaft, die zum Zeitpunkt der Studie beim Familiengericht verhandelt wurde. – Eine gleichzeitige Vorstellung des Kindes bei einem anderen Behandler, insbesondere einem Facharzt für Kinder- und Jungendpsychiatrie oder einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie einer anderen sozialpädagogischen Maßnahme im Kontext der Hilfen zur Erziehung des Jugendamts (§ 29–35 SGB VIII). Weiterhin mussten bereits teilnehmende Familien im fortschreitenden Prozess ausgeschlossen werden, da ihre Beratung nicht das Mindestmaß von fünf Terminen (einschließlich des Erstgesprächs und des Diagnostiktermins des Kindes) erreichte oder die Intervention über die zuvor festgelegten zehn Monate hinaus fortgesetzt werden musste. Beim ersten Besuch eines Elternteils in der Beratungsstelle war es obligatorisch, dass dieser einen Anmeldebogen mit personen- und familienbezogenen Daten ausfüllte, noch vor dem Beginn des Erstgesprächs. Die soziodemografischen Daten der Stichprobenfamilien sind in Tabelle 11 zusammengefasst. Tabelle 11: Soziodemographische Daten der an der Studie teilnehmenden Familien Variablen Geschlecht des Kindes

Stichprobe (N = 61) N (%) männlich weiblich

47 (77) 14 (23) M = 7.92 SD = 1.13 Range = 5.92 – 10.08

Einzelkind 1 2 3 mehr als 3 Kerpen andere

19 (31.1) 29 (47.5) 7 (11.5) 4 (6.6) 2 (3.3) 48 (78.7) 13 (21.3)

Alter der Kinder

Geschwister

Wohnort Klassenstufe

Staatsangehörigkeit

Vorschulkind (Übergang GS) 1. Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse Deutsch andere

2 (3.3) 14 (23) 21 (34.4) 14 (23) 10 (16.4) 58 (95.1) 3 (4.9)

136

Methoden

((Fortsetzung)) Variablen Alter der Eltern

Stichprobe (N = 61) N (%) Mutter (N = 57) Vater (N = 43)

Erwerbstätigkeit Mutter (N = 56)

Vollzeit Teilzeit Hausfrau arbeitssuchend in Ausbildung/ Umschulung

Erwerbstätigkeit Vater (N = 50)

Vollzeit Teilzeit Hausmann arbeitssuchend in Ausbildung/ Umschulung ja nein

Bezug von Sozialleistungen/ Arbeitslosengeld (bezogen aufs Kind) Sorgerecht (bezogen aufs Kind)

gemeinsam Mutter alleine Vater alleine Migrationshintergrund Familie ja nein M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, GS = Grundschule

4.3

M = 36.57 SD = 5.56 M = 40.67 SD = 6.36 5 (8.9) 37 (66.1) 9 (16.1) 3 (5.4) 2 (3.6) 46 (92) 2 (4) 1 (2) 0 (0) 1 (2) 10 (16.4) 51 (83.6) 47 (77) 14 (23) 0 (0) 19 (31.1) 42 (68.9)

Datenerhebung

Die ersten Pretests zur Datenerhebungsphase liefen im Januar 2014 an. Sie waren wichtig, um die Abläufe der Datenerhebung zum Messzeitpunkt t1 zu präzisieren und mit allen beteiligten Personen innerhalb der Beratungsstelle abzustimmen. Insgesamt dauerte die Datenerhebungsphase knapp vier Jahre und endete im Dezember 2017 mit dem Messzeitpunkt t3 der letzten Probandenfamilien. Die Grafik gibt den Verlauf der Datenerhebung auf einer Zeitachse wieder (vgl. Abb. 11). Messzeitpunkt t1 Der erste Messzeitpunkt sollte einen IST-Stand vor der beraterisch-therapeutischen Interventionsphase erheben. Er war vorgesehen in einem maximal vier-

137

Datenerhebung 1Q/2014 Start Pretest

2Q/2014

1Q/2015

3Q/2015

1Q/2017

Start Datenerhebung t1

Start Datenerhebung t2

Start Datenerhebung t3

Letzte neue Teilnahme einer Fam. a. d. Studie

(1 Fam. rekrutiert)

(13 Fam. rekrutiert)

(23 Fam. rekrutiert)

(61 Fam. rekrutiert)

4Q/2017 Abschluss Datenerhebung

Abbildung 11: Zeitlicher Verlauf der Datenerhebungsphase (Q = Quartal)

wöchigen Zeitraum, beginnend mit der Rekrutierung der Mutter im Erstgespräch. Erhoben werden sollten in allen untersuchten Fällen Daten – zu Verhaltensauffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes aus Sicht der Mutter mittels des Elternfragebogens der Child Behavior Checklist (CBCL/618R), – zum eigenen Erziehungsverhalten aus Sicht der Mutter mittels der Deutschen erweiterten Version des Alabama Parenting Questionaire für Grundschulkinder (DEAPQ-EL-GS), – zum momentanen Problemausmaß aus Sicht der Mutter mittels eines eigenständig konstruierten Evaluationsfragebogens zur subjektiven Problembelastung (EB-EVA1), – zur Bindungsrepräsentation der Mutter mittels der Durchführung des AAP, – zum Problemausmaß aus Sicht des Kindes mittels des analog zum EB-EVA1 konstruierten Evaluationsfragebogens für Kinder EB-EVA-KID1, – zur Bindungsrepräsentation und Bindungssicherheit des Kindes mittels des GEV-B und – zum Intelligenzniveau des Kindes mittels der Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC). Sofern die Eltern bzw. die Mutter einem Kontakt der Beratungsstelle zur Schule ihres Kindes zustimmte(n), verbunden mit einer gegenseitigen Schweigepflichtentbindung die Lehrkraft betreffend, sollte die Verhaltensauffälligkeit des Kindes mittels des Lehrerfragebogens der Child Behavior Checklist (TRF/6-18R) aus Sicht der Lehrkraft erhoben werden. Die Inventare zur Messung der Verhaltensauffälligkeit/Kompetenzen, des Erziehungsverhaltens und des Problemausmaßes wurden den Probanden im Wartezimmer der Beratungsstelle vom Untersucher ausgehändigt und bei Bedarf die Bearbeitung dieser erläutert. Im Anschluss an den Kennenlerntermin mit dem Kind wurde mit der Mutter in einem separierten Raum das AAP durchgeführt, während das Kind im Wartezimmer spielte. Beim Kennenlerntermin wurde dem Kind der EB-EVA-KID1 vorgelegt und, falls nötig, bei der Bearbeitung unterstützt. Der folgende Diagnostiktermin wurde immer vormittags in einem zweieinhalbstündigen Zeitfenster geplant, indem der Untersuchungsleiter mit dem Kind zunächst das GEV-B durchführte und unmittelbar

138

Methoden

im Anschluss die K-ABC. Der Lehrerfragebogen TRF/6-18R wurde der Lehrkraft erst nach einem telefonischen Austausch samt Hinweis auf die Forschungsstudie postalisch übermittelt und um zeitnahe Rücksendung gebeten.12 Der erste Messzeitpunkt wurde zum ersten Mal im April 2014 und zum letzten Mal im Januar 2017 im Zuge der Rekrutierung der 61. Probandenfamilie durchgeführt. Messzeitpunkt t2 Der zweite Messzeitpunkt fand nach Abschluss der fünf- bis zehnmonatigen beraterisch-therapeutischen Interventionsphase statt. Durch die Messung sollte das Ergebnis der nun beendeten Familienberatung erhoben und so ein Prä-PostVergleich ermöglicht werden. Der Zeitpunkt wurde so gewählt, da nach statistischen Berechnungen der letzten Jahre die überwiegende Anzahl der Beratungen in diesem Zeitraum beendet wurden (vgl. Caritas Erziehungs- und Familienberatungsstelle Kerpen, 2018a; Familienberatungsstelle Mittelstraße, 2016, 2017). Weiterhin bieten die Inventare der Child Behavior Checklist und das GEVB an, keinen zu engen zeitlichen Abstand zwischen den Testungen zu wählen (vgl. Döpfner et al., 2014; Gloger-Tippelt & König, 2016). Es wurden analog zum ersten Messzeitpunkt folgende Instrumente eingesetzt: – EB-EVA-KID2 und GEV-B beim Kind, – Elternfragebogen CBCL/6-18R, DEAPQ-EL-GS und EB-EVA2 bei der Mutter, – Lehrerfragebogen TRF/6-18R. Am Ende der Interventionsphase wurde mit der Familie ein Abschlusstermin vereinbart. Diesem Gespräch ging eine 30- bis 60-minütige Abschlussdiagnostik mit dem Kind voraus, in der das GEV-B und der EB-EVA-KID2 eingesetzt wurden. In diesem Zeitraum wurden von der Mutter die Fragebögen zur Verhaltensauffälligkeit/Kompetenzen, zum Erziehungsverhalten und zur Evaluation der Beratung bearbeitet. Sofern möglich, wurde der Lehrkraft der Lehrerfragebogen TRF/6-18R nach einem weiteren telefonischen Austausch postalisch übersandt. Der zweite Messzeitpunkt wurde zum ersten Mal im März 2015 und zum letzten Mal im Juli 2017 mit der 61. Probandenfamilie durchgeführt. Messzeitpunkt t3 In einem Follow-up sollten zum dritten Messzeitpunkt, sechs Monate nach Abschluss der Interventionsphase (Wartephase), nochmals Bindungsmerkmale des Kindes und Einschätzungen zu Kompetenzen/Verhaltensauffälligkeit und

12 In einigen wenigen Fällen kam es zu einem persönlichen Gespräch in der Schule mit der Lehrkraft und ggfls. den Eltern. Hier wurde der Lehrerfragebogen durch die fallzuständige Fachkraft der Projektgruppe der jeweiligen Lehrkraft persönlich übergeben.

139

Datenerhebung

mütterlichem Erziehungsverhalten erhoben werden. Nach einem ca. 30- bis 45minütigen Feedbackgespräch wurden – das GEV-B beim Kind und – der Elternfragebogen CBCL/6-18R sowie der DEAPQ-EL-GS bei der Mutter eingesetzt. Während der Diagnostik mit dem Kind wurden im Wartezimmer die Fragebögen von der Mutter bearbeitet. Der dritte Messzeitpunkt wurde zum ersten Mal im Oktober 2015 und zum letzten Mal im Dezember 2017 durchgeführt. Zum Teil liefen die Datenerhebungsphase, die Interventionsphase und die Wartephase in unterschiedlichen Probandenfamilien, je nach Rekrutierungszeitpunkt, parallel ab. Auch die drei Messzeitpunkte der Datenerhebungsphase überschnitten sich demnach zeitlich in der fast vierjährigen Forschungszeit bei einzelnen untersuchten Familien. So wurden z. B. die letzten Probanden im Januar 2017 rekrutiert (t1), während andere Familien gleichzeitig im Januar 2017 ihren Beratungsprozess beendeten (t2) und wieder andere zu dieser Zeit zum Feedback-Gespräch eingeladen wurden (t3). Tabelle 12 stellt die einzelnen Prozessschritte noch einmal übersichtlich dar. Tabelle 12: Ablauf der Datenerhebung im Überblick Prozessschritte in der Beratungsstelle Telefonische Anmeldung

Erstgespräch mit mind. Mutter (ggfls. Mutter/Eltern und Kind, Eltern ohne Kind)

Kennenlerntermin mit mind. Kind (ggfls. Kind und Mutter/ Eltern)

Aufgaben

Eingesetzte Formulare und Erhebungsverfahren

Zufällige Zuteilung durch das Sekretariat zu Berater mit freiem Erstgesprächstermin – Messzeitpunkt t1 – Mutter/Eltern: Rekrutierung für die Studie

Mutter/Eltern: Anmeldebogen, Infomaterialien, Schweigepflichterklärung, ggfls. Schweigepflichtentbindung zu Schule

max. zwei Wochen Kind: Informationen zur Mutter : AAP, CBCL, Studie und zur Diagnostik DEAPQ, EB-EVA1 Mutter : Aushändigen der Kind: EB-EVA-KID1 Fragebögen und Durchführen des AAP

ggfls. Telefonat mit der Klassenlehrerin

Lehrerin: Informationen zur Studie und zur Beratung max. zwei Wochen

Lehrerin: TRF

Diagnostiktermin mit Kind

Kind: Durchführen der Diagnostik

Kind: GEV-B, K-ABC

140

Methoden

((Fortsetzung)) Prozessschritte in der Beratungsstelle

Aufgaben

Eingesetzte Formulare und Erhebungsverfahren

Auswertung der Diagnostik / max. zwei Wochen Beratungstermin (Auswertungsgespräch) mit mind. Mutter und Kind (ggfls. Eltern und Kind)

Mutter/Eltern und Kind: Information zu Ergebnis der Diagnostik, Kontrakt, Beginn der Intervention

Mutter/Eltern: detaillierte Rückmeldung zum GEV-B (ggfls. auch später in Interventionsphase)

Interventionsphase / min. fünf Monate Abschlussgespräch mit mind. Mutter und Kind (ggfls. Eltern und Kind, Familie) ggfls. Telefonat mit der Klassenlehrerin

Feedback-Gespräch mit mind. Mutter und Kind (ggfls. Eltern und Kind, Familie)

4.4

– Messzeitpunkt t2 – Mutter : Aushändigen der Fragebögen Kind: Durchführen der Diagnostik

Mutter : CBCL, DEAPQ, EB-EVA2 Kind: GEV-B, EB-EVAKID2

Lehrerin: Information zu Lehrerin: TRF Abschluss der Beratung Wartephase / min. sechs Monate – Messzeitpunkt t3 – Mutter : Aushändigen der Fragebögen Kind: Durchführen der Diagnostik

Mutter : CBCL, DEAPQ Kind: GEV-B

Eingesetzte Verfahren

4.4.1 Anmeldebogen/Soziodemografie Zur Erhebung basaler soziodemografischer Daten wurde der Anmeldebogen der Familienberatungsstelle Kerpen verwendet (vgl. Anhang C). Dieser erfasst neben den personenbezogenen Daten wie Name, Geburtsdatum, Adresse, Staatsangehörigkeit der Eltern und des Kindes weitere Kenndaten, die insbesondere für die amtliche Statistik des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erhoben werden. Darunter fallen Angaben zur derzeitigen Betreuungs- bzw. Schulform des Kindes, Angaben zur Familie wie die Anzahl der Kinder, ob die Eltern zusammenleben oder getrennt sind, in welchem Umfang jeder Elternteil berufstätig ist, ob ein Familienmitglied Sozialleistungen bezieht, ob bereits eine andere Hilfe zur Erziehung gemäß §27ff. SGB VIII installiert ist und wer das Sorgerecht für das Kind hat.

Eingesetzte Verfahren

141

4.4.2 Intelligenzdiagnostik: Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC) Der Einsatz der deutschen Version der Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC; Kaufman, A. & Kaufman, N., 1991/2009) erfolgte, um eine schulische Unter- oder Überforderung der Kinder als mögliche Ursache der Verhaltensauffälligkeit zu überprüfen und um eine Vergleichbarkeit der intellektuellen Fähigkeiten der Stichprobenkinder untereinander herstellen zu können. Die K-ABC gehört zu den bekanntesten, am häufigsten verwendeten Individualtests der Intelligenz bei Kindern zwischen 2;6 und 12;5 Jahren (Rollett & Preckel, 2011). Innerhalb der K-ABC wird die Messung intellektueller Fähigkeiten von der Messung des Standes erworbener Fertigkeiten (Lernen und Wissen) getrennt, um diese unterschiedlichen Bereiche einzeln erfassen zu können. Der Test enthält 15 reguläre, je nach Alter vorzugebende Untertests (UT) sowie den fakultativen Untertest Lesen und Buchstabieren und ist in vier Skalen gegliedert: Skala einzelheitlichen Denkens (3 UT), Skala ganzheitlichen Denkens (7 UT) (als Skalen intellektueller Fähigkeiten), Fertigkeitenskala (6 UT) und Sprachfreie Skala (3–5 UT). Die Bearbeitungsdauer liegt im Grundschulalter zwischen 60 und 90 Minuten (Kaufman, A. & Kaufman, N., 1991/2009). Die Gütekriterien der K-ABC erfüllen die Anforderungen des Testbeurteilungssystems des Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen weitgehend (Rollett & Preckel, 2011). Ende 2015 erschien die zweite Version, Kaufman Assessment Battery for Children – Second Edition (KABC-II), auf dem deutschen Markt (Melchers, P. & Melchers, M., 2015). Aufgrund der bereits begonnenen Erhebung mittels der ersten Version der K-ABC wurde das ursprüngliche Inventar beibehalten. Zur Durchführung in der Studie sind keine besonderen Vorkommnisse zu berichten. In zwei Fällen wurde mit den Kindern wenige Wochen vor Beginn der Beratung bereits eine Intelligenzdiagnostik bei einer kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchung durchgeführt. In diesen Fällen wurde aus ethischen Gründen darauf verzichtet, eine erneute Testung im Rahmen der Studie anzusetzen. Die Ergebnisse dieser fremddurchgeführten Inventare, der Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC-IV; Petermann, F. & Petermann, U., 2011) und der KABC-II, wurden angefordert und es wurde ausschließlich der GesamtIQ-Wert aus beiden übernommen. Zur Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Intelligenzinventare sei angemerkt, dass diese hohe Korrelationswerte untereinander aufweisen (Melchers, P. & Melchers, M., 2015; Oliver, 2010).

142

Methoden

4.4.3 Bindungsdiagnostik im Grundschul- und Erwachsenenalter Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B) In der Studie wurde das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B; Gloger-Tippelt & König, 2000, 2009, 2016) eingesetzt, um die Bindungsrepräsentation und die Bindungssicherheit der Kinder der Stichprobe zu allen drei Messzeitpunkten zu erheben. Das GEV-B ist ein qualitatives Verfahren, welches die symbolisch und narrativ dargestellte Bindungsrepräsentation von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter erfasst. Bei dem Verfahren werden dem zu untersuchenden Kind mithilfe von Puppenfiguren und dargebotenem Spielmaterial sieben Geschichtenanfänge vorgespielt, die dieses dann erzählerisch und spielerisch zu Ende führt. Die Auswertung erfolgt durch geschulte Fremdauswerter über die Analyse einer Videoaufnahme der Untersuchungssituation. Zusätzlich zur Bindungsklassifikation kann im GEV-B ein numerischer Bindungssicherheitswert zwischen 4 (sehr sicher) und 0 (hochunsicher) errechnet werden. Das GEV-B wurde bereits in Kapitel 3.3.2.1 ausführlich in seinen Anwendungs- und Auswertungsmodalitäten beschrieben. Sämtliche GEV-B-Aufnahmen fanden im Beratungszimmer des Untersuchungsleiters in der Familienberatungsstelle Kerpen statt und wurden von ihm selbst durchgeführt. Die hauptsächliche Auswertung wurde am Institut für allgemeine Sonderpädagogik, Professur für Sonderpädagogische Psychologie/Frühförderung, an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg durch eine reliabilitätszertifizierte Auswerterin vorgenommen. Die Kodierung wurde entsprechend der vorgegebenen Kodiertabellen und Zuordnungsregeln vorgenommen (Gloger-Tippelt & König, 2016). Einzelne Videos wurden nach Abschluss der Erstauswertung durch drei weitere reliable Auswerterinnen erneut klassifiziert. Bei voneinander abweichenden Bindungsklassifikationen stimmten sich die jeweiligen Auswerter inhaltlich über die final zu vergebende Klassifikation ab. Der Untersuchungsleiter übersandte alle Videos persönlich in verschlüsselter, anonymisierter Form auf Datenträgern an die Auswerterinnen. Diese verpflichteten sich zuvor der Wahrung von Datengeheimnissen (vgl. Anhang D) sowie der Rücksendung der zugesandten Datenträger nach fertiggestellter Auswertung. Insgesamt waren Durchführung und Auswertung des Verfahrens ohne besondere Vorkommnisse. Alle an der Studie beteiligten Kinder zeigten großes Interesse am GEV-B. Selbst ältere Kinder von zehn oder elf Jahren konnten ohne Schwierigkeiten für das Verfahren gewonnen werden. Lediglich beim dritten Messzeitpunkt musste bei einigen wenigen Kindern, die sich noch an einzelne Geschichten erinnern konnten, motivationale Unterstützung geleistet werden. Bei einem jüngeren Kind bestanden Unsicherheiten seitens der Auswerterinnen, ob das Bindungssystem des Kindes genügend aktiviert war

Eingesetzte Verfahren

143

für eine Bestimmung der Bindungsrepräsentation. Nach mehrmaliger Begutachtung der Aufnahme wurde entschieden, den Fall entsprechend seiner ursprünglichen Klassifizierung zu bewerten und weiterhin in der Stichprobe zu belassen. Adult Attachment Projektive (AAP) Das Adult Attachment Projective (AAP; George, West & Pettem, 1997; George & West, 2012) wurde in der vorliegenden Forschungsstudie eingesetzt, um die Bindungsrepräsentation der ratsuchenden Mütter zu bestimmen. Es handelt sich dabei um ein projektives Verfahren, bei dem einer erwachsenen Person durch den Untersucher acht Bildkarten mit bindungsrelevanten Situationen vorgelegt und eine standardisierte Abfolge von Fragen gestellt werden. Die Antwortnarrative werden aufgezeichnet und durch eine unabhängige Fremdauswerterin klassifiziert. Das Verfahren wurde bereits in Kapitel 3.4.1 eingehend behandelt. In der Studie wurde das AAP mit den Müttern ausschließlich zu Beginn der Beratung in einem Beratungszimmer der Familienberatungsstelle ohne Beisein ihres Kindes oder des Partners durchgeführt. Die AAP-Durchführung wurde mit einem Aufnahmerecorder digital mitgeschnitten und im Anschluss daran entsprechend eines Leitfadens zur Transkription transkribiert. Alle Transkriptionen wurden in anonymisierter Form vom Untersuchungsleiter persönlich an Prof. Dr. Rüdiger Kißgen, Fakultät II der Universität Siegen übermittelt. Am dortigen Lehrstuhl für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik (Inklusion) wurden die eingereichten Transkriptionen von zwei trainierten, reliablen Auswertern kodiert und das Auswertungsblatt wurde an den Untersuchungsleiter zurückgesandt. Die Durchführung des AAP war bei der überwiegenden Zahl der Probandinnen unproblematisch. In einzelnen Fällen war es für Mütter nicht nachvollziehbar, warum ein derartiges Verfahren durchgeführt werden sollte und wie dies bei ihrem Problemanliegen weiterhelfen könne. Hier waren über die gewöhnliche Einleitung des Untersuchungsleiters hinaus häufig erklärende Worte notwendig, die in allen Fällen die Bereitschaft der AAP-Durchführung erhöhten und schließlich ermöglichten. Während der Durchführung kam es in zwei Fällen zu Unterbrechungen, weil das Kind mit einem Anliegen an der Tür des Untersuchungszimmers klopfte. Nach wenigen Sekunden der Unterbrechung konnten diese AAP-Interviews dann bis zum Ende fortgesetzt werden. In wenigen anderen Fällen kam es zu einer affektiven Reaktion der Probandin. In all diesen Fällen, in denen eine Mutter starke Gefühle von Trauer, Wut, Hilflosigkeit oder Ähnlichem verspürte, konnte das AAP bis zum Ende durchgeführt werden, die Probandin konnte sich durch beraterisch-therapeutische Unterstützung wieder beruhigen und mit ihrem Kind die Beratungsstelle verlassen.

144

Methoden

4.4.4 Verhaltensauffälligkeit und Kompetenzen im Kindesalter: Child Behavior Checklist (CBCL/6-18R) Die Child Behavior Checklist (CBCL/6-18R; Döpfner et al., 2014) wurde eingesetzt, um die kindliche Verhaltensproblematik aus Sicht der Mutter sowie aus Perspektive der Lehrerin zu allen drei Erhebungszeitpunkten zu messen und so vergleichbar zu machen. Zudem sollten Aussagen über die Kompetenzen der Kinder zu Beginn und nach der Beratung ermöglicht werden. Die CBCL/6-18R dient der Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, emotionalen Auffälligkeiten, somatischen Beschwerden sowie sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen von sechs bis 18 Jahren aus Sicht der Eltern (ebd.). Mittlerweile wurde sie in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt und auch in Deutschland gehört sie sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Forschung zu den etablierten Diagnostikinstrumenten (Esser, Hänsch-Oelgart, & Schmitz, 2017). In direkter Ableitung vom Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen existiert ein Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R), der weitgehend identische Merkmale aus der Sicht von Lehrerinnen erfasst und ebenfalls in der vorliegenden Studie eingesetzt wurde. Die beiden Fragebögen bestehen jeweils aus zwei Teilen: Im ersten Teil werden Kompetenzen in den drei Skalen Aktivitäten, soziale Kompetenz und Schule erhoben. Im zweiten Teil werden 118 Items acht Problemskalen zugeordnet. Die Skalen Ängstlich/depressiv, Rückzüglich/depressiv und Körperliche Beschwerden werden dabei zur übergeordneten Skala Internale Probleme (a), die Skalen Regelverletzendes Verhalten und Aggressives Verhalten werden zur übergeordneten Skala Externale Probleme (b) und die Skalen Soziale Probleme, Denk-, Schlafund repetitive Probleme und Aufmerksamkeitsprobleme werden zur Skala Gemischte Probleme (c) summiert. Im Lehrerurteil kann die Skala Aufmerksamkeitsprobleme zusätzlich in Unaufmerksam und Hyperaktiv/impulsiv unterteilt werden. Sowohl für Kompetenz- und Problemskalen kann ein Gesamtwert gebildet werden, der, transformiert in einen T-Wert, einem klinisch auffälligen oder unauffälligen Bereich sowie einem Grenzbereich dazwischen zugeordnet werden kann. In der CBCL/6-18R werden geschlechtsspezifische Normen für Sechs- bis Elfjährige sowie Zwölf- bis 18-jährige als T-Werte für die Kompetenzskalen, Problemskalen erster und zweiter Ordnung, den Gesamtwert sowie für DSMorientierte Skalen angegeben. Für die Auswertung der TRF/6-18R liegen lediglich Orientierungswerte für das Alter sechs bis elf Jahre aus einer Großstadtstichprobe vor (Döpfner et al., 2014). Die faktorielle Validität und Reliabilität, insbesondere der übergeordneten Skalen, konnte auch für deutsche Stichproben weitestgehend bestätigt werden (Esser et al., 2017).

Eingesetzte Verfahren

145

Der Fragebogen wurde überwiegend im Wartezimmer der Familienberatungsstelle von den Probandinnen ausgefüllt. In einigen Fällen füllte die Mutter aus zeitlichen Gründen den Fragebogen zu Hause aus und brachte ihn zum nächsten Termin mit in die Beratungsstelle oder schickte ihn postalisch zu. Der Lehrerfragebogen wurde, wie bereits erwähnt, postalisch versendet.

4.4.5 Elterliches Erziehungsverhalten: Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionaire für Grundschulkinder (DEAPQ-EL-GS) Die deutschsprachige Übersetzung, Adaption und Erweiterung des Alabama Parenting Questionaire (APQ; Frick, 1991) von Reichle und Franiek (2009) wurde eingesetzt zur Erfassung des mütterlichen Erziehungsverhaltens mittels Selbstbeurteilung. Der Fragebogen für Eltern von Grundschulkindern umfasst 40 Items, die sieben Skalen zugeführt werden (vgl. Kap. 3.6.1 für eine detaillierte Darstellung). Die Einschätzung der Mutter erfolgt auf einer fünfstufigen Ratingskala von 1 (fast nie), 2 (selten), 3 (manchmal), 4 (oft) bis 5 (fast immer). Die Validität des Fragebogens wurde von Reichle & Franiek im Rahmen einer Stichprobe mit 373 (319) Kindern im Grundschulalter zu zwei Messzeitpunkten (M = 7.5 Jahre, SD = 0.97; M = 8.2 Jahre, SD = 0.99) überprüft. Die internen Konsistenzen (Chronbachs Alpha) der Skalen lagen zwischen a = .60 und a = .84. Die Stabilitätskoeffizienten lagen zwischen r = .57 und r = .77 (Reichle & Franiek, 2009). In der vorliegenden Untersuchung wurde das Erziehungsverhalten der Mutter zu drei Messzeitpunkten erhoben, insbesondere um einen Vorher-Nachher-Vergleich der Erziehungsdimensionen herstellen zu können. Gemeinsam mit dem Elternfragebogen der CBCL/6-18R wurde der DEAPQ-EL-GS von der Mutter im Wartezimmer der Beratungsstelle ausgefüllt. Das Instrument hatte eine kurze Bearbeitungsdauer und wurde sehr gut angenommen.

4.4.6 Evaluationsfragebögen zur Erziehungsberatung (EB-EVA) Neben den standardisierten Fragebogeninstrumenten zum Verhalten des Kindes und zum Erziehungsverhalten der Mutter sollte es im Rahmen der Studie einen Fragebogen geben, welcher zunächst der systemischen Beratungspraxis dient. Dafür wurden vom Untersuchungsleiter die Fragebögen zur Evaluation der Erziehungsberatung (EB-EVA) konstruiert, die als Kurzfragebögen nur wenige, einfach gehaltene Items und eher globalere Dimensionen erfassen sollten (vgl. Anhang E). In der vorliegenden Untersuchung wurden Items der Evaluationsfragebögen verwendet, um die sechste Forschungsfrage hinsichtlich eines Vor-

146

Methoden

her-Nachher-Vergleichs des Problemausmaßes und der retrospektiven Beratungszufriedenheit zu beantworten. Obschon es im Arbeitsfeld Erziehungsberatung eine Reihe von bereits entwickelten Fragebogeninstrumenten (vgl. Vossler 2001) gibt, war die Entwicklung eines eigenen Fragebogens zur Evaluation aus unterschiedlichen Gründen notwendig. Alle zuvor in der Erziehungsberatung eingesetzten Fragebögen erschienen für den vorgesehenen Zweck der Studie inhaltlich nicht passend und brachten auch hinsichtlich Validierung und Standardisierung keine nennenswerten Vorteile. Den Versuch, ein gültiges und dem Arbeitsfeld angemessenes Evaluationsinstrument zu entwickeln, unternahmen in jüngster Zeit Arnold et al. (2018) (vgl. Kap. 2.6). Auch die von dieser Arbeitsgruppe erarbeiteten Fragebögen stellten sich als zu umfangreich und zu komplex für eine rein praktisch angelegte Begleitforschung zur systemisch ausgerichteten beraterisch-therapeutischen Intervention dar. Nicht zuletzt sollte der Evaluationsfragebogen der Qualitätssicherung der Familienberatungsstelle Kerpen dienen. Der für die vorliegende Studie entwickelte EB-EVA erwies sich diesbezüglich als nützlich und äußerst ökonomisch in der Durchführung sowie der Auswertung. Trotz dessen, dass das Instrument nicht auf seine Gütekriterien hin überprüft wurde, können die Befunde des Evaluationsfragebogens innerhalb der explorativen Studie zunächst für sich stehen. Im Kontext der Untersuchung der Bindungsrepräsentation von als verhaltensauffällig beschriebenen Kindern bilden Items wie das subjektiv empfundene Problemausmaß oder die allgemeine Zufriedenheit mit der Beratung neue Dimensionen ab, die für die Beratungspraxis relevant sind. Die Evaluationsfragebögen wurden in der Planungsphase der Forschungsstudie 2013 entlang der Prinzipien zur Konstruktion eines Fragebogens (RaabSteiner & Benesch, 2012) entwickelt. Das finale Instrument enthielt drei unterschiedliche Ausführungen des Fragebogens für verschiedene Probanden: – Ein Elternfragebogen in zwei Ausführungen zu Beginn (t1) und zum Ende der Beratung (t2) (EB-EVA1 und EB-EVA2) mit jeweils sechs und neun Fragen. – Ein Kinderfragebogen, ebenfalls in zwei Ausführungen, zu Beginn (t1) und zum Ende der Beratung (t2) (EB-EVA-KID1 und EB-EVA-KID2) mit jeweils zwei und drei Fragen. – Ein Beraterfragebogen, der nur am Ende der Beratung eingesetzt wurde (t2) (EB-EVA-BER), mit acht Fragen.13 Die Konstruktion der Fragebögen orientierte hauptsächlich auf einen praktischen Nutzen der einzelnen Fragen für die Beratung hin. Hintergrund für die 13 Der Beraterfragebogen (EB-EVA-BER) bleibt zunächst ohne Berücksichtigung in der vorliegenden Arbeit.

147

Eingesetzte Verfahren

Auswahl der Items waren dabei Fragestellungen, die in der systemisch-familientherapeutischen Gesprächsführung von Belang sind (vgl. von Schlippe & Schweitzer, 2012) oder bereits in älteren Untersuchungen in der Erziehungsberatung erhoben (vgl. Vossler, 2006) und in den bereits eingesetzten Instrumenten nicht erfasst wurden. Die Fragen des Elternfragebogens (EB-EVA) und ihre ursprüngliche Intention ist Tabelle 13 zu entnehmen. Tabelle 13: Fragen im Elternfragebogen zur Evaluation der Beratung (EB-EVA). (Grau unterlegte Fragen wurden in die vorliegende Studie nicht einbezogen.) EB-EVA1

EB-EVA2

1. Wie groß ist Ihr Problem zum jetzigen 1. Wie groß ist Ihr Problem zum jetzigen Zeitpunkt? Zeitpunkt? (Intention: Erfassung des Ausmaßes des aktuellen Problems) 2. Wer ist momentan am allermeisten von 2. Wer ist momentan am allermeisten von dem Problem betroffen? dem Problem betroffen? (Intention: Gewichtung wer aktuell am meisten vom Problem betroffen ist und wer nicht) 3. Wie bewerten Sie die Kommunikation 3. Wie bewerten Sie die Kommunikation der Familienmitglieder untereinander der Familienmitglieder untereinander zum jetzigen Zeitpunkt? zum jetzigen Zeitpunkt? (Intention: Erfassung der familiären Kommunikation als bedeutsame Variable systemischer Intervention) 4. Wie würden Sie das allgemeine Famili- 4. Wie würden Sie das allgemeine Famienklima zum jetzigen Zeitpunkt einlienklima zum jetzigen Zeitpunkt einschätzen? schätzen? (Intention: Erfassung der familiären Befindlichkeit als bedeutsame Variable systemischer Intervention) 5. Wie groß ist Ihre Hoffnung auf Verän- 5. Wie zufrieden waren Sie insgesamt mit derung durch die Beratung? der Beratung? (Intention: Erfassung des Ausmaßes der (Intention: Retrospektive Erfassung der Zuversicht, dass die Beratung etwas allgemeinen Zufriedenheit mit der BePositives bewirken kann) ratung nach deren Abschluss) 6. Wie viel Prozent an eigner Energie sind 6. Zu wie viel Prozent wurde der Auftrag Sie bereit in die Beratung einzubringen an die Beratung erfüllt? (im Hinblick auf gewünschte Verände(Intention: Retrospektive Einschätzung rungen)? zur Erfüllung des innerhalb der Bera(Intention: Erfassung von Bereitschaft tung verhandelten Beratungsauftrags und Wille, eigene Energie in die Beraals bedeutsame Variable systemischer tung zu investieren) Intervention)

148

Methoden

((Fortsetzung)) EB-EVA1

EB-EVA2 7. In welchem Maße wurden die mit Ihnen gemeinsam definierten Ziele erreicht? (Intention: Retrospektive Erfassung des Ausmaßes der Erreichung der innerhalb der Beratung vereinbarten Ziele als bedeutsame Variable systemischer Intervention) 8. Rückblickend: Was hat Ihnen in der Zwischenzeit (seit Beginn der Beratung bis heute, zum Abschluss der Beratung) besonders geholfen? Was hatte den größten Effekt zur Veränderung ihres Problems? (Intention: Retrospektive Erfassung weiterer Variablen und Faktoren im Hinblick auf eine erfolgreiche Beratung) 9. Wie schätzen Sie im Nachhinein den Kontakt zu Ihrem (hauptsächlichen) Berater ein? (Intention: Retrospektive Erfassung des Rapport zum Berater als bedeutsame Variable systemischer Intervention)

Die Fragen 1, 3, 4, 5, 7 und 9 wurden in fünffach abgestuften unipolaren Ratingskalen konstruiert. Es wurden dabei verbale Skalenbezeichnungen für die beiden Extrempole gewählt (vgl. Abb. 12). Für eine spätere Mittelwertberechnung wurden diese in numerische Skalenbezeichnungen (1 bis 5) übersetzt. Um eine Mittelkategorie bilden zu können, wurde eine ungerade Anzahl von Abstufungen gewählt (vgl. Raab-Steiner & Benesch, 2012). Die Fragen 2 und 6 waren ebenfalls geschlossen Antwortformate, sollten jedoch mit einer Prozentangabe (0 % bis 100 %) beantwortet werden. Frage 8 war eine offen gestellte Frage, um der Probandin die Möglichkeit zu geben, selbst zu verbalisieren. Die Fragen 2 und 8 wurden für eine Auswertung innerhalb der vorliegenden Studie außer Acht gelassen. 1. Wie groß ist Ihr Problem zum jetzigen Zeitpunkt?

sehr klein

sehr groß

Abbildung 12: Beispielfrage mit einer fünfstufigen Antwortskala im Evaluationsfragebogen EB-EVA

149

Eingesetzte Verfahren

Der Kinderfragebogen (EB-EVA-KID) wurde altersangemessen konstruiert und enthielt deutlich weniger Fragen als der komplementäre Elternfragebogen (vgl. Anhang F). Die Items waren ausschließlich in fünffach abgestuften Ratingskalen zu beantworten, die neben einer verbalen Skalenbezeichnung durch symbolische Smileys dargestellt wurden (vgl. Abb. 13). In Tabelle 14 sind die Fragen des Kinderfragebogens einzusehen. 1. Wie geht es Dir ganz allgemein im Moment?

sehr schlecht

mittelmäßig

sehr gut

Abbildung 13: Beispielfrage mit einer kindgerechten fünfstufigen Antwortskala im Evaluationsfragebogen EB-EVA-KID

Tabelle 14: Fragen im Kinderfragebogen zur Evaluation der Beratung (EB-EVA-KID) EB-EVA-KID1 1. Wie geht es Dir ganz allgemein im Moment? (Intention: Erfassen der momentanen Befindlichkeit / Eröffnungsfrage)

EB-EVA-KID2 1. Wie geht es Dir ganz allgemein im Moment?

2. Wie groß ist Dein Problem im Moment? 2. Wie groß ist Dein Problem im (Intention: Erfassung des Ausmaßes des Moment? aktuellen Problems) 3. Wie sehr hat Dir die Beratungsstelle bei Eurem Problem geholfen? (Intention: Retrospektive Bewertung des Beratungserfolgs)

Das Kind wurde analog zu den Eltern zum subjektiv eingeschätzten Problemausmaß und zur Bewertung des Beratungserfolgs befragt. Zudem wurde ein Item zur allgemeinen Befindlichkeit konstruiert, um eine öffnende Frage zu Beginn zu stellen (vgl. Raab-Steiner & Benesch, 2012). Die Fragebögen EB-EVA wurden von der Mutter im Wartezimmer zusammen mit der CBCL/6-18R und der DEAPQ-EL-GS ausgefüllt. Der Fragebögen EB-EVAKID wurden von den Kindern im Beisein des Beraters beim Kennenlerntermin ausgefüllt sowie im Abschlusstermin nach der Durchführung des GEV-B.

150

Methoden

4.4.7 Übersicht der eingesetzten Verfahren Tabelle 15 enthält eine zusammenfassende Darstellung der untersuchten Variablen sowie der verwendeten Untersuchungsverfahren mit den zugehörigen Skalenniveaus. Zudem ist aufgeführt, durch wessen Einschätzung die Beurteilung der Verfahren erfolgte. Tabelle 15: Überblick über die verwendeten Variablen Variablen/Untersuchungsverfahren Kind Intelligenzniveau (K-ABC) Kompetenzen und Verhaltensauffälligkeit (CBCL/6-18R) Verhaltensauffälligkeit in der Schule (TRF/618R) Bindungsrepräsentation und Bindungssicherheit (GEV-B) Problemausmaß und Beratungserfolg (EB-EVA-KID) Mutter Bindungsrepräsentation (AAP) Erziehungsverhalten (DEAPQ-EL-GS) Problemausmaß und Beratungszufriedenheit (EB-EVA)

4.5

Beurteiler

Skalenniveau

Untersuchungsleiter Mutter

Intervall Ordinal

Lehrerin

Ordinal

Fremdauswerter Kind

Nominal und Ordinal Ordinal

Fremdauswerter Mutter Mutter

Nominal Ordinal Ordinal

Interventionskonzept

Zentrales Paradigma der durchgeführten beraterisch-therapeutischen Intervention war die systemische Beratung und Therapie (vgl. Kap. 2.4.1). Die systemischen Interventionen wurden ergänzt durch eine bindungstheoretische Perspektive (vgl. Kap 2.4.2). Um diese herzustellen, wurde das Ergebnis der Bindungsdiagnostik mittels des GEV-B in die Familienberatung einbezogen. Interventionsbeginn im Sinne der Untersuchung war somit das Auswertungsgespräch mit den Eltern bzw. mit der Mutter und dem Kind. In diesem 60- bis 90minütigen Gespräch wurde der Auftrag für die Beratung konkretisiert und in einen Beratungskontrakt überführt, der unter anderem Beratungssetting, Frequenz und Dauer thematisierte. Das GEV-B wurde genutzt, indem der Mutter vom Puppenspiel ihres Kindes berichtet wurde. Zuvor wurde im Diagnostiktermin mit dem Kind bereits dessen

Interventionskonzept

151

Erlaubnis eingeholt, mit den Eltern über das Spiel sprechen zu dürfen, ggfls. auch das Video zeigen zu dürfen. Nach einer kurzen Erklärung zum Verfahren wurde der Mutter dann von einer Ressourcensituation berichtet und, falls angebracht, von einer Situation, die mit einer unsicheren Bindungsstrategie bzw. einer problematischen Fürsorgesituation in Verbindung gebracht werden konnte. Sofern das Kind einwilligte, was bei nahezu allen Fällen vorkam, konnten mit den Eltern die vorbreiteten Szenen auf dem Computer gemeinsam angesehen werden. Das Ansehen der Spielszenen wurde darüber hinaus vom Berater ressourcenorientiert konnotiert und nicht in Verbindung mit einer Bindungsklassifikation gebracht. Je nach Problemlage, der Einschätzung des Beraters, den Möglichkeiten der Familie und dem Auftrag an die Beratung wurde die systemische Familienberatung dann mit der Familie in flexiblen Settings fortgesetzt. Dabei war die kleinste regelmäßige Beratungseinheit Mutter und Kind. Schon zu Beratungsbeginn wurde jedoch angestrebt, den Vater mit in die Gespräche einzubeziehen. War dies nicht möglich, sollte zumindest ein telefonischer Kontakt hergestellt werden. Wurde in der Auftragsklärung weiteren Mitgliedern des Familiensystems, wie z. B. Geschwistern oder einer Großmutter, oder Personen außerhalb dieses Systems, wie z. B. Lehrern oder Schulsozialarbeitern, eine Bedeutung zugemessen, sollten sie nach Möglichkeit ebenfalls in die Beratung involviert werden. Die Beratung mit der Familie wurde innerhalb der Studie von sechs unterschiedlichen Beratern durchgeführt. Die Diagnostik mit dem Kind wurde zu jedem Zeitpunkt vom Untersuchungsleiter selbst durchgeführt. Wurde das Kind im Einzelsetting therapeutisch begleitet, oblag dies dem Untersuchungsleiter, da über den Kennenlern- und den Diagnostiktermin ein positiver Kontakt hergestellt war. Systemtherapeutische Einzeltermine waren jederzeit eingebunden in die systemische Familienberatung und es kam in diesen Fällen zu einer KoArbeit zwischen der Beraterin und dem Untersuchungsleiter. Die Beratung und Therapie endete bei Erreichung der zuvor vereinbarten Beratungsziele oder auf Wunsch der Familie bzw. des Beraters. Um eine bessere Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Familienberatungsprozesse herstellen zu können, wurden vorab Standards für die beraterisch-therapeutische Intervention definiert, die hier noch einmal übersichtlich zusammengefasst werden sollen: – Der Beratungsansatz sollte sich hauptsächlich der systemischen Beratung und Therapie bedienen (vgl. von Schlippe & Schweitzer, 2012). Alle in der Projektgruppe beteiligten Berater und Untersuchungsleiter selbst können dazu eine curriculare, arbeitsfeldbezogene systemische Weiterbildung nach Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) oder der Systemischen Gesellschaft (SG) nachweisen.

152

Methoden

– Es sollte ein Auswertungsgespräch nach der Diagnostikphase stattfinden, in dem ein Fokus auf die Bindungssicherheit des Kindes gelegt werden und sodann fall- und prozessabhängig in der Elternberatung genutzt werden sollte. – Beratungsprozesse sollten inklusive der Erstgesprächs- und Diagnostikphase mindestens sechs Monate dauern (fünf Monate ohne die Diagnostikphase) und insgesamt 11 Monate nicht überschreiten (zehn Monate ohne die Diagnostikphase). So könnte von einem zeitlich mittleren Niveau bzgl. des Beratungsverlaufs ausgegangen werden. Längere Beratungsprozesse, die ein Jahr und darüber hinaus andauerten, sollten damit ebenso nicht berücksichtigt werden wie Kurzzeitberatungen, die meist deutlich weniger als sechs Monate benötigen. – Desgleichen sollten innerhalb des Beratungsprozesses nicht weniger als fünf Beratungstermine stattgefunden haben. Ebenso wie der mittlere Zeitraum einer Beratung spielten hierbei bindungstheoretische Überlegungen eine Rolle, die davon ausgehen, dass die Organisation der IAM zunehmend unflexibler wird und Zeit benötigt wird, um Bindung im Rahmen einer beraterisch-therapeutischen Intervention neu zu strukturieren. – Weiterhin sollte als kleinste Beratungseinheit mit Mutter und Kind gearbeitet werden und nach Möglichkeit mit weiteren relevanten Systemmitgliedern. – Am Ende des Beratungsprozesses sollte es standardisiert zu einem Abschlussgespräch kommen, in dem die Beratung mit der Familie, mindestens Mutter und Kind, beendet werden soll. Tabelle 16 zeigt den Interventionsprozess noch einmal in zeitlicher Abfolge und in Verbindung mit der Diagnostik und dem Follow-up.

4.6

Statistische Datenauswertung

Alle statistischen Berechnungen für die vorliegende Arbeit wurden mit der Software IBM SPSS Statistics Version 25 durchgeführt. Unter Berücksichtigung des Datenniveaus wurde sowohl mit parametrischen als auch mit nonparametrischen Verfahren gerechnet. Folgende verteilungsfreie Verfahren kamen in der vorliegenden Arbeit zum Einsatz: Chi2-Test nach Pearson bei einer erwarteten Zellenhäufigkeit N , 5 Exakter Test nach Fisher, der McNemar-Test als eine spezielle Variante des Chi2-Test, der Wilcoxon-Test für abhängige Stichproben, der Mann-Whitney-U-Test und der Kruskal-Wallis-Test. Diese Verfahren haben in der empirischen Forschung, insbesondere in der klinischen Forschung, mit kleineren Stichproben eine weite Verbreitung gefunden und werden daher nicht gesondert vorgestellt (vgl. Pospeschill & Siegel,

153

Statistische Datenauswertung

Tabelle 16: Zeitliche Abfolge der Intervention Phase im Beratungsprozess Preintervention Erstgespräch

Intervention und Berater Zuteilung zu einem von sechs Beratern (inkl. Untersuchungsleiter) – Joining – Problem- und Ressourcenexploration – Anliegen- und Auftragsklärung – Systemische Beratung/Therapie

Diagnostik mit dem Kind

Untersuchungsleiter

Auswertung und Vermittlung der Ergebnisse der Diagnostik im Familiengespräch (mind. Mutter und Kind)

Beraterin + Untersuchungsleiter (oder : Untersuchungsleiter alleine) – Auftragsklärung und Kontrakt – Systemische Beratung/Therapie – Aufgreifen eines relevanten Aspekts aus der Diagnostik mit dem GEV-B

Intervention Intervention in variablen Settings Familiengespräch, Elterngespräch, Einzeltermine Kind (mind. jedoch Mutter und Kind)

Postintervention Abschlussgespräch mit mind. Mutter und Kind

Feedback-Gespräch mit mind. Mutter und Kind

Zeit

Beraterin (oder : Untersuchungsleiter als Berater) – Systemische Beratung/Therapie Möglich: Ko-Beratung (Beraterin + Untersuchungsleiter) wenn Untersuchungsleiter als Ansprechpartner/Therapeut für das Kind fungiert Beraterin + Untersuchungsleiter (oder : Untersuchungsleiter alleine) – Evtl. Bilanzierung – Evtl. Schlussintervention – Systemische Beratung/Therapie

Max. Dauer : 1 Monat

Min. Dauer : 5 Monate Max. Dauer : 10 Monate

Min. Wartezeit: 6 Monate

Beraterin + Untersuchungsleiter (oder : Untersuchungsleiter alleine)

2018). Vergleichsweise weniger bekannt ist der McNemar-Test, der daher hier in aller Kürze skizziert werden soll. Der McNemar-Test (auch Chi2-Test nach McNemar) belegt, ob sich ein dichotomes Merkmal bei einer abhängigen Stichprobe verändert. Somit können unter anderem Unterschiede zwischen zwei Messzeitpunkten mit den gleichen Probanden (Prä-Post-Messung) errechnet werden. Damit der McNemar-Test interpretierbare Ergebnisse liefert, sollten

154

Methoden

mindestens 80 % der erwarteten Häufigkeiten für den Fall eines asymptotischen Tests N + 5 sein. Anderenfalls sollte auf eine exakte Teststatistik ausgewichen werden. Im konkreten Fall wurde der Test angewandt, um die Hypothese zu untersuchen, ob nach erfolgter Intervention im GEV-B ein Wechsel von Bindungsorganisation zu Bindungsdesorganisation genauso wahrscheinlich ist wie umgekehrt von Desorganisation zu Organisation. Ebenso wurde betrachtet, ob bei den mit dem GEV-B untersuchten Kindern ein Wechsel von Bindungsunsicherheit nach Bindungssicherheit genauso wahrscheinlich ist wie ein Wechsel von Sicherheit nach Unsicherheit nach erfolgter Intervention. Bei einigen Fragestellungen schien es darüber hinaus vertretbar, trotz ordinalskalierter Daten zur Überprüfung von Gruppenunterschieden den t-Test für abhängige Stichproben einzusetzen. Dies erfolgte zur Berechnung der Mittelwertdifferenzen bei den Inventaren der CBCL sowie bei den Bindungssicherheitswerten des GEV-B. Der t-Test für abhängige Stichproben setzt Intervallskalenniveau und normalverteilte Messwertdifferenzen der Messwertpaare voraus. Aufgrund des zentralen Grenzwertsatzes konnte bei Berechnungen mit dem maximalen Stichprobenumfang (N = 61, Kinder j N = 57, Mütter) weitestgehend von einer Normalverteilung der Daten ausgegangen werden (vgl. Eid, Gollwitzer & Schmitt, 2017). Dort, wo Zweifel bestanden oder die Größe einer Teilstichprobe N < 30 annahm, wurde die Voraussetzung der Normalverteilung anhand des Kolmogorov-Smirnov-Tests unter Einbezug der Lilliefors-Signifikanzkorrektur überprüft. Der t-Test für abhängige Stichproben reagiert im Allgemeinen robust auf Verletzung der Voraussetzungen (Rasch, Friese, Hofmann & Naumann, 2014). Wenn die Normalverteilungsannahme zurückgewiesen wurde, wurden zusätzlich zum t-Test einzelne Skalen mit dem Wilcoxon-Test für abhängige Stichproben neu berechnet. Bei annähernder Übereinstimmung wurde weiterhin davon ausgegangen, dass sich die Abweichungen von den Voraussetzungen nicht auf die Ergebnisse auswirken und somit die Ergebnisse des parametrischen Verfahrens in ihrer Aussagekraft genutzt werden können. Als Kriterium für statistische Signifikanz wurde die übliche Irrtumswahrscheinlichkeit a = .05 gewählt. Bei den statistischen Tests wurden zweiseitige Fragestellungen angenommen. Die Anzahl der durchgeführten Tests in der vorliegenden Untersuchung zieht eine Alphafehler-Kumulierung nach sich, so dass davon ausgegangen werden muss, dass signifikante Ergebnisse möglicherweise fälschlicherweise signifikant werden. Um diesem Problem zu begegnen, existieren verschiedene Korrekturverfahren. Eine gängige Möglichkeit besteht in der Herabsetzung des Signifikanzniveaus. Ein Beispiel dafür wäre die Bonferroni-Korrektur (vgl. Eid, Gollwitzer & Schmitt, 2017). Problematisch wirkt sich allerdings aus, dass diese jedoch mögliche Abhängigkeiten zwischen den Daten ignoriert und bei steigender Anzahl von Tests überaus konservativ ausfällt (ebd.). Daneben existie-

Statistische Datenauswertung

155

ren weitere Methoden, wie die Bonferroni-Holm-Prozedur, die diesem Umstand Rechnung tragen. Bei weiterer Beschäftigung mit der Thematik wird jedoch deutlich, dass jede Anpassung des Fehlerniveaus auf die untersuchte Fragestellung inhaltlich abgestimmt werden muss. Von einer Korrektur in explorativen Studien wird darüber hinaus meist abgeraten, da dadurch nicht nur die Generierung neuer Hypothesen erschwert werden könnte, sie könnte schlimmstenfalls sogar verhindert werden. Um einer Kumulierung der Irrtumswahrscheinlichkeiten entgegenzuwirken, wird vielmehr empfohlen, die Anzahl der Tests zu reduzieren oder Hypothesen, die sich auf mehrere abhängige Variablen beziehen, mit multivarianten Tests zu überprüfen (ebd.). In der vorliegenden Arbeit wird daher von einer Korrektur des Alphafehlerniveaus abgesehen.

5

Ergebnisse

Im Folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Forschungsstudie dargestellt. Da es nach Recherchen und Wissen des Autors noch keine Untersuchungen zur Auswirkung von Familienberatung auf die Bindung von Kindern im deutschsprachigen Raum gibt und die Ergebnisse der Psychotherapieforschung nur unzureichend übertragbar sind, fällt die Darstellung, insbesondere der bindungsdiagnostischen Ergebnisse, umfangreich und detailliert aus. Die Auswahl der beschriebenen Ergebnisse orientiert sich dabei an den zuvor formulierten Forschungsfragen (Kap. 3.9). Die Datenlage wird in drei Schritten beschrieben: Im ersten Schritt werden die verlaufsabhängigen Daten aus dem Beratungsprozess (Kap. 5.1) beschrieben und die Intelligenzmaße der Kinder als Kontrollvariable dargestellt (Kap. 5.2). Im zweiten Schritt folgen vier Abschnitte (Kap. 5.3 bis 5.6) in denen sodann die Resultate der eingesetzten Erhebungsverfahren zu Bindung, Verhaltensauffälligkeiten/Kompetenzen, Erziehungsverhalten und zur Beratungsevaluation referiert werden. Zentral sind dabei vor allem die Ergebnisse der Bindungsdiagnostik sowie deren Beständigkeit und Veränderung zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten. Im dritten und letzten Schritt werden die Ergebnisse der Untersuchung sodann noch einmal auf die wesentlichen Punkte reduziert zusammengefasst (Kap. 5.7).

5.1

Prozessdaten

Die Tabellen 17 und 18 stellen die ermittelten Kennzahlen aus den durchgeführten Beratungsprozessen in der Familienberatungsstelle Kerpen übersichtlich dar. In einem Zeitraum von rund drei Jahren und acht Monaten wurden 61 Beratungs- und Therapieprozesse mit mindestens einer Mutter und ihrem Kind untersucht. Die Kinder waren zu den einzelnen Messzeitpunkten durchschnittlich 7.9 Jahre (t1), 8.6 Jahre (t2) und 9.3 Jahre (t3) alt. Die allermeisten (N = 57) besuchten zu Beginn der Intervention eine Grundschule. Zwei Kinder

158

Ergebnisse

im Grundschulalter besuchten eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen und zwei Kinder befanden sich bei Aufnahme zur Studie in den Sommerferien im Übergang zur ersten Klasse der Grundschule. Zum Ende der Beratung (t2) waren sieben Kinder der Stichprobe bereits der Grundschule entwachsen und in eine weiterführende Schulform gewechselt. Die Beratungsdauer betrug im Mittel nahezu acht Monate (M = 7.98; SD = 1.51), die Wartephase nach der Intervention rund sieben Monate (M = 7.02; SD = 0.85). Im Zeitraum von der Anmeldung bis zum Abschlusstermin nahmen die Elternteile und ihre Kinder im Durchschnitt 12.43 Beratungstermine in Anspruch (SD = 5.69). In der Regel meldeten sich die Eltern aus eigener Initiative (54 %) oder wurden von der Grundschule an die Beratungsstelle verwiesen (41 %). Die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes waren in 87 % der Fälle auch originärer Anlass, die Beratungsstelle aufzusuchen. Nur in wenigen Fällen formulierte die Mutter kindliche Probleme im Sinne von Entwicklungsauffälligkeiten, wie z. B. Konzentrationsprobleme oder Lese-Rechtschreib-Schwäche (8 %), Anpassungsprobleme wegen einer elterlichen Trennung (3 %) oder allgemeine schulische Leistungsprobleme (2 %). Auch diese Fälle gingen mit Verhaltensproblemen einher, so dass sie hier nur aus statistischen Gründen separiert werden. Als überwiegendes Beratungssetting stellte sich die Mutter-Kind-Dyade heraus (66 %). In rund zwei Dritteln der Fälle (N = 41 / 67 %) wurde der Vater mit in die Beratung einbezogen, davon in 21 Fällen (34 %) dauerhaft im Elternsetting. In 90 % aller Fälle (N = 55) wurden die Lehrerin und weitere außerfamiliäre Systemmitglieder einbezogen. Insgesamt kam es nur in 14 Fällen dazu (23 %), dass kein weiteres Familienmitglied hinzugezogen wurde und nur in drei dieser Fälle (5 %) wurde ebenso mit keinem weiteren Systemmitglied Kontakt aufgenommen. Nach der Beratung bemühte sich die Mutter in 13 Fällen (21 %) um eine Anschlussbehandlung an anderer Stelle. In acht Fällen kam es in der Wartezeit zu einer Wiederanmeldung in der Familienberatungsstelle (13 %). In etwas mehr als einem Drittel der Fälle (34 %) arbeiteten zwei Berater in KoBeratung, jeweils mit Eltern und Kind zeitweise getrennt. In 67 % der Fälle kam es zu einem gemeinsam herbeigeführten Abschluss durch Familie und Berater, in 33 % wurde die Beratung auf Initiative der Eltern nicht weiter fortgesetzt.

159

Prozessdaten

Tabelle 17: Daten aus dem Beratungsprozess 1 (N = 61) Familienberatung Beginn / Erstes Erstgespräch Ende / Letztes Feedback-Gespräch Anzahl Beratungs- und Therapietermine (einschließlich Diagnostik) Beratungsdauer t1 bis t2 (in Monaten) Dauer Wartephase t2 bis t3 (in Monaten) Ko-Beratung Wiederanmeldung in Wartephase Familiensituation t1 (N) Eltern zusammen (28) Eltern getrennt/ neuer Partner (16) Eltern getrennt/ alleinstehend (17) Alter der Kinder t1 M = 7.92 SD = 1.13 Schulform der Kinder

t2 (N) Eltern zusammen (29) Eltern getrennt/ neuer Partner (21) Eltern getrennt/ alleinstehend (11)

t2 M = 8.57 SD = 1.13

t1 (N) Grundschule (57) Sonderpädagogische Förderung/ Förderschule (2) Übergang Kita/Grundschule (2)

14. 04. 2014 19. 12. 2017 M = 12.43 SD = 5.69 M = 7.98 SD = 1.51 M = 7.01 SD = 0.84 N (%) 21 (34.4) 8 (13.1)

t3 M = 9.31 SD = 1.13 t2 (N) Grundschule (47) Sonderpädagogische Förderung/ Förderschule (7) Gymnasium (3) Realschule (2) Gesamtschule (2)

Jugendamt einbezogen t1 (N) Ja (4) Nein (57) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung

t2 (N) Ja (9) Nein (52)

160

Ergebnisse

Tabelle 18: Daten aus dem Beratungsprozess 2 (N = 61) Anregung zur Beratung

N (%)

Mutter/Eltern selbst Schule/Lehrer Jugendamt Andere Beratungsanliegen

33 (54.1) 25 (41) 1 (1.6) 2 (3.3)

Verhaltensprobleme Kind – nur zu Hause – nur in der Schule – kombiniert Entwicklungsauffälligkeiten Kind Trennungssituation Eltern, Kind belastet Leistungsprobleme Kind Fallführender Berater

53 (86.9) 12 (19.7) 18 (29.5) 23 (37.7) 5 (8.2) 2 (3.3) 1 (1.6)

Berater 1/ Dipl. Soz.päd. Berater 2/ Dipl. Heilpäd. Berater 3/ Dipl. Heilpäd. Berater 4/ Dipl. Soz.arb. Berater 5/ Dipl. Psych. Berater 6/ Dipl. Soz.päd. Überwiegendes Beratungssetting

19 (31.1) 9 (14.8) 11 (18.0) 9 (14.8) 6 (9.8) 7 (11.5)

Mutter und Kind Eltern und Kind Einbezug weiterer Familienmitglieder

40 (65.6) 21 (34.4)

nur Vater nur Geschwister nur Großeltern Vater und Geschwister Vater und Großeltern Geschwister und Großeltern keine Einbezug weiterer Systemmitglieder

34 (55.7) 3 (4.9) 1 (1.6) 6 (9.8) 1 (1.6) 2 (3.3) 14 (23)

nur Lehrerin Lehrerin und Schulleitung Lehrerin und Sozialpädiatrisches Zentrum Lehrerin und Schulsozialarbeit Lehrerin und Jugendamt Keine Beendigung der Beratung

35 (57.4) 7 (11.5) 6 (9.8) 4 (6.6) 3 (4.9) 6 (9.8)

Gemeinsam durch Berater und Familie Hauptsächlich durch Familie/Elternteil

41 (67.2) 20 (32.8)

161

Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik

((Fortsetzung)) Weitere Behandlung/Hilfe nach Ende der Beratung Sozialpädiatrisches Zentrum Kinderpsychiatrische Klinik Kinderpsychiater niedergelassen Jugendamt/ambulante Hilfen zur Erziehung keine

5.2

9 (14.8) 2 (3.3) 1 (1.6) 1 (1.6) 48 (78.7)

Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik

In Tabelle 19 sind die Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik, erhoben mit der K-ABC, gelistet. Bei der untersuchten Stichprobe lag der Gesamt-IQ (Skala intellektueller Fähigkeiten; SIF) bei einem Mittelwert von M = 100.84 (SD = 9.48) und entsprach damit den Normwerten für diese Altersgruppe. Die Spannweite der Gesamt-IQ-Werte lag im unterdurchschnittlichen Bereich zwischen 71 und zwischen 121 im überdurchschnittlichen Bereich. Damit wurden die Grenzwerte zur leichten Intelligenzminderung (IQ = 50–69) und zur Hochbegabung (IQ > 129) eingehalten. Im Bereich des ganzheitlichen Denkens war die durchschnittliche Ausprägung mit M = 104.93 (SD = 13.06) am höchsten und in der Skala einzelheitliches Denken durchschnittlich am niedrigsten (M = 95.69; SD = 11.92). Tabelle 19: Intelligenz der Kinder zu Messzeitpunkt t1 K-ABC

M

SD

Range

Einzelheitliches Denken 95.69 11.92 69–117 (N = 59) Ganzheitliches Denken 104.93 13.06 71–133 (N = 59) Skala intellektueller Fähigkeiten* 100.84 9.48 71–121 (N = 61) Fertigkeiten Skala 99.30 17.10 46–122 (N = 56) Sprachfreie Skala 102.56 12.28 69–130 (N = 59) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung * Eingerechnet wurden in zwei Fällen die Gesamt-IQ-Werte aus den Verfahren WISC-IV (IQ = 93) und KABC-II (IQ = 101)

162

5.3

Ergebnisse

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

Die Befunde zur Erhebung der Bindungsrepräsentationen und -sicherheit gliedern sich in drei Abschnitte: – Die Verteilung und Veränderungen der Bindungsrepräsentationen der Kinder zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (Kap. 5.3.1), – die Unterschiede und Veränderungen der Bindungssicherheitswerte der Kinder zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (Kap. 5.3.2) und – die Verteilung der Bindungsrepräsentationen der Mütter und ihr Verhältnis zu den Bindungsrepräsentationen der Kinder zum ersten Messzeitpunkt (Kap. 5.3.3). Generell ist zu beachten, dass bei allen Ergebnissen zum Messzeitpunkt t3 nur noch etwa die Hälfe der Fälle erhoben werden konnten (N = 34 / 56 %) im Vergleich mit den anderen beiden Messzeitpunkten. Weiterhin ist bedeutsam, dass bei den 34 Fällen, die zum Zeitpunkt t3 erhoben werden konnten, sich acht Familien in der Wartphase wieder in der Beratungsstelle mit Problemen meldeten und so eine weitere Intervention erhielten (1 bis 3 Beratungssitzungen). Diese acht Fälle wurden bei der Auswertung separiert und in diesem Ergebnisteil gesondert ausgewiesen.

5.3.1 Bindungsrepräsentationen der Kinder (GEV-B) Zum ersten Messzeitpunkt überwogen bei den untersuchten Kindern unsichervermeidende Bindungsrepräsentationen (A) (44 %) (vgl. Tab. 20). Sichere Bindungsrepräsentationen (B) wurden am zweithäufigsten (23 %) und Bindungsdesorganisationen (D) am dritthäufigsten gefunden (16 %). Zu den zeitlich folgenden Messzeitpunkten t2 und t3 bildeten sowohl in absoluten Zahlen als auch im prozentualen Anteil die sicheren Bindungsrepräsentationen die größte Gruppe (39 % und 47 %). Die unsicher-vermeidenden Repräsentationen trat am zweithäufigsten auf (28 % und 41 %), die Bindungsdesorganisationen nur noch zum Messzeitpunkt t2 am dritthäufigsten (21 %). Zu allen Messzeitpunkten konnten nur wenige unsicher-ambivalente Bindungsrepräsentationen (C) gemessen werden (10 % bis 3 %). Während die Anzahl nicht sicherer Bindungsrepräsentationen sich insgesamt von t1 (N = 47 / 77 %) über t2 (N = 37 / 61 %) nach t3 (N = 18 / 53 %) verringerte, nahm die Zahl der Bindungsdesorganisation von t1 (N = 10 / 16 %) nach t2 (N = 13 / 21 %) zu. Ebenso konnte zu allen drei Messzeitpunkten die desorganisierte Bindung als Zusatzklassifikation zu den organsierten Bindungsrepräsentationen identifiziert werden (B/D, A/D oder C/D). Während die Bindungsrepräsentationen der Kinder insgesamt zu t1 zu

163

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

77 % im organisierten Bereich lagen, waren zu t2 nur noch 74 % den organisierten Bindungsstrategien zuzurechnen. Zu t3 wurden über 90 % der Stichprobe mit organisierten Bindungsrepräsentationen klassifiziert. Tabelle 20: Bindungsrepräsentationen der Kinder im GEV-B zu drei Messzeitpunkten Bindungsklassifikation im GEV-B

B (sicher) A (unsicher-vermeidend) C (unsicher-ambivalent) D (desorganisiert) B/D A/D C/D sicher nicht sicher organisiert desorganisiert

t1 (N = 61) absolut relativ (%) 14 27 6 10 1 2 1 14 47 47 14

23 44.3 9.8 16.4 1.6 3.3 1.6 23 77 77 23

t2 (N = 61) absolut relativ (%) 24 17 4 13 0 3 0 24 37 45 16

39.3 27.9 6.6 21.3 0 4.9 0 39.3 60.7 73.8 26.2

t3 (N = 34) absolut relativ (%) 16 14 1 1 0 2 0 16 18 31 3

47.1 41.2 2.9 2.9 0 5.9 0 47.1 52.9 91.2 8.8

Zum Messzeitpunkt t3 wurden acht Probandenfamilien untersucht, die sich in der Wartephase wegen erneuter Probleme wieder angemeldet hatten und in dieser Zeit eine weitere Intervention in der Familienberatungsstelle erhielten. In Tabelle 21 werden diese acht Kinder von der Stichprobe zum Zeitpunkt t3 (N = 34) separiert, so dass zwei neue Gruppen entstehen (t3-dif und t3-WA). Wie sich zeigte, wichen die Relationen in der Verteilung der Bindungsrepräsentationen der Kinder zu t3-dif (N = 26) nur geringfügig von Verteilung der Gesamtstichprobe zu t3 ab. Es fanden sich im Verhältnis etwas mehr nicht sichere Bindungsrepräsentationen (54 % zu 53 %) und etwas weniger desorganisierte Bindungen (9 % zu 8 %) (vgl. Tab. 21). In Abbildung 14 sind die Bindungsrepräsentationen der Kinder aus Tabelle 20 in einer grafischen Übersicht und in einer reduzierten Vierfach-Klassifikation (B, A, C, D) aufbereitet. Die Desorganisation als Zusatzklassifikation wurde dafür, wie auch für weitere Berechnungen, der Klassifikation D zugrechnet.14 Deutlich zu erkennen ist, dass sichere Bindungsrepräsentationen im 14 Diese Vorgehensweise, Fälle mit der Zusatzklassifikation Desorganisation (B/D, A/D, C/D) für weitere Berechnungen den eindeutig desorganisiert klassifizierten Fällen zuzuordnen, wurde mit Prof.’in Dr. Lilith König (PH Ludwigsburg) abgesprochen und von dieser entsprechend empfohlen (15. 03. 2018).

164

Ergebnisse

Tabelle 21: Separierte Bindungsrepräsentationen im GEV-B zum Messzeitpunkt t3-dif Bindungsklassifikation im GEV-B

t3 (N = 34) absolut relativ (%)

t3-dif (N = 26) absolut relativ (%)

t3-WA (N = 8) absolut relativ (%)

B (sicher) 16 47.1 12 46.2 4 A (unsicher-vermeidend) 14 41.2 11 42.3 3 C (unsicher-ambivalent) 1 2.9 1 3.8 0 D (desorganisiert) 1 2.9 0 0 1 B/D 0 0 0 0 0 A/D 2 5.9 2 7.7 0 C/D 0 0 0 0 0 sicher 16 47.1 12 46.1 4 nicht sicher 18 52.9 14 53.9 4 organisiert 31 91.2 24 92.3 7 desorganisiert 3 8.8 2 7.7 1 WA = Wiederanmeldung in der Wartephase (Intervention zwischen t2 und t3)

50 37.5 0 12.5 0 0 0 50 50 87.5 12.5

zeitlichen Verlauf zunahmen (23 % bis 47 %), während unsicher-ambivalente Bindungsrepräsentationen abnahmen (10 % bis 3 %). Unsicher-vermeidende Bindungsstrategien nahmen von t1 (44 %) nach t2 (28 %) zunächst deutlich ab, bevor sie zum dritten Messzeitpunkt wieder zunahmen (41 %). Die Bindungsdesorganisationen zeigten hingegen zunächst einen leichten Anstieg von t1 (23 %) nach t2 (26 %), bevor sie zu t3 stark abnahmen (9 %). Bei der Betrachtung der Verteilung der Bindungsrepräsentationen werden die Differenzen zum jeweiligen Messzeitpunkt sichtbar, jedoch nicht detaillierte Veränderungen. Da dies zentrales Erkenntnisinteresse dieser Arbeit war, sind in Tabelle 22 die Beständigkeit und Veränderungsrichtungen der Bindungsrepräsentationen abgebildet. Dafür wurden vermeidende (A) und die ambivalente Bindungsrepräsentationen (C) zu einer unsicheren Klassifikation zusammengefasst. Es zeigte sich, dass etwas mehr als zwei Drittel (69 % zu t2; 65 % zu t3) der Bindungsklassifikationen im zeitlichen Verlauf der Messungen stabil blieben und sich nicht veränderten nach der Intervention, während bei rund einem Drittel (31 % zu t2; 35 % zu t3) der Stichprobe eine Reorganisation der Bindung gemessen wurde. Davon verzeichneten 21 % einen Wechsel hin zu größerer Sicherheit von t1 nach t2 (32 % nach t3). Das heißt, desorganisierte Bindungen veränderten sich in organisierte Bindungsrepräsentationen (5 % zu t2; 9 % zu t3), während unsichere in sichere Bindungsrepräsentationen transformiert wurden (16 % zu t2; 24 % zu t3). Weiterhin kam es zu t2 bei 10 % der Stichprobe (3 % zu t3) zu einer Veränderung zu größerer Unsicherheit hinsichtlich der

165

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

Klassifikationen im GEV-B (in %) B (sicher) 50

A (vermeidend)

C (ambivalent)

47.1

44.3

45

D (desorgansiert)

41.2

39.3

40 35

27.9

30 25

23

26.2

23

20 15 10

9.8

8.8

6.6 2.9

5 0

t1 (N=61)

t2 (N=61)

t3 (N=34)

Abbildung 14: Grafische Darstellung der Bindungsrepräsentationen (Vierfach-Klassifikation) zu drei Messzeitpunkten (GEV-B)

Bindungsrepräsentation. Sichere Bindungsstrategien veränderten sich zu unsicheren Strategien (2 % zu t2; 3 % zu t3), während organisierte Bindungsrepräsentationen sich zu desorganisierter Bindung neustrukturierten (8 % zu t2). Tabelle 22: Stabilität und Reorganisation der Bindungsrepräsentationen der Kinder (GEV-B) nach Intervention (t1 nach t2), nach Wartephase (t1 nach t3) und differenzierter Wartephase (t1 nach t3-dif) Bindungsklassifikation im GEV-B

t1 nach t2 (N = 61) absolut relativ (%)

t1 nach t3 (N = 34) absolut relativ (%)

t1 nach t3-dif (N = 26) absolut relativ (%)

stabil sicher (B) stabil unsicher (A, C) stabil desorganisiert (D)

13 18 11

21.3 29.5 18

7 12 3

20.6 35.3 8.8

5 10 2

19.2 38.5 7.7

stabil insgesamt Wechsel: desorganisiert (D) nach organisiert (B, A, C) Wechsel: unsicher (A, C) nach sicher (B)

42 3

68.8 4.9

22 3

64.7 8.8

17 2

65.4 7.7

10

16.4

8

23.5

6

23.1

Wechsel zu größerer Sicherheit (gesamt)

13

21.3

11

32.4

8

30.8

166

Ergebnisse

((Fortsetzung)) Bindungsklassifikation im GEV-B

t1 nach t2 (N = 61) absolut relativ (%)

t1 nach t3 (N = 34) absolut relativ (%)

t1 nach t3-dif (N = 26) absolut relativ (%)

Wechsel: organisiert (B, A, C) nach desorgansiert (D) Wechsel: sicher (B) nach unsicher (A, C) Wechsel zu größerer Unsicherheit (gesamt)

5

8.2

0

0

0

0

1

1.6

1

2.9

1

3.9

6

9.8

1

2.9

1

3.9

Wechsel insgesamt

19

31.2

12

35.3

9

34.6

Abbildung 15 zeigt die Stabilität und Reorganisation im zeitlichen Verlauf von t1 nach t2 und t1 nach t3 im Vergleich in einer übersichtlichen Grafik. In Tabelle 22 ist daneben noch der differenzierte Messzeitpunkt t3-dif aufgeführt, der die reduzierte Stichprobe beschreibt. Hier war der Anteil der Kinder, die ihre Bindungsstrategie positiv verändern konnten mit rund 31 % nur geringfügig schwächer ausgeprägt als zum nicht reduzierten Messzeitpunkt t3. In der Darstellungsform einer Kreuztabelle können die Bindungsrepräsentationen in einer Zweifach-Klassifikation (sicher vs. nicht sicher und organisiert vs. desorganisiert) zu den Messzeitpunkten vor (t1) und nach der Intervention (t2 / t3) miteinander verglichen werden. Von Interesse waren in der Studie dabei insbesondere die Wechsel. Im Vergleich mit Tabelle 22 und Abbildung 15 zeigen die Kreuztabellen 23 bis 26 nicht alle Veränderungen in der Bindungsklassifikation in einer Übersicht, sondern nur unter der speziellen Perspektive des Wechsels von nicht sicher (A, C, D) nach sicher (B) sowie unter der Perspektive desorganisiert (D) nach organisiert (B, A, C) und jeweils umgekehrt. Tabelle 23 weist dementsprechend den Wechsel von Kindern mit sicheren und nicht sicheren Bindungsrepräsentationen von t1 nach t2 aus. Die Tabelle kann so gelesen werden, dass von 14 sicher klassifizierten Kindern (100 %) zu Beginn (t1) nur ein Kind zum späteren Zeitpunkt (t2) als nicht sicher klassifiziert wurde (7 %). Von 47 nicht sicher klassifizierten Kindern (100 %) zu t1 wurden dagegen 11 (23 %) zu t2 als sicher klassifiziert. Mittels des McNemar-Tests wurde danach untersucht, wie wahrscheinlich Veränderungen in der Bindungsklassifikation von t1 nach t2 in eine bestimmte Richtung sind. Im vorliegenden Fall konnte ein Wechsel von nicht sicherer Klassifikation zu sicherer Klassifikation als signifikant wahrscheinlicher belegt werden w2M(1, N = 61) = 21.80; p < .01*. * (exakte Sig. zweiseitig. Verwendete Binominalverteilung.)

167

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

Stabilität/Reorganisation der Bindungsklassifikation im GEV-B (in %) B (sicher)

A (vermeidend) 0

Veränderung → Sicherheit/ Organisation

10

t1 nach t2

A

t1 nach t3

A

C (ambivalent) 20

C D C

30

40

D (desorganisiert) 50

60

70

80

21.3 D

32.4

9.8 Veränderung t1 nach t2 B A → Unsicherheit/ Desorganisation t1 nach t3 B 2.9

stabil / keine Veränderung

t1 nach t2

B

t1 nach t3

B

A

C

A

D

C

D

68.8 64.7

Abbildung 15: Stabilität und Reorganisation der unterschiedlichen Bindungsrepräsentationen der Kinder (GEV-B) nach Intervention (t1 nach t2) (N = 61) und nach Wartephase (t1 nach t3) (N = 34)

Tabelle 23: Vergleich zwischen sicheren und nicht sicheren Bindungsklassifikationen zu zwei Messzeitpunkten vor (t1) und nach (t2) der Intervention Bindungsklassifikation GEV-B – t2 Bindungsklassifikation sicher nicht sicher Gesamt GEV-B – t1 sicher (%) 13 (92.9) 1 (7.1) 14 nicht sicher (%) 11 (23.4) 36 (76.6) 47 Gesamt 24 37 61 Prozentangaben entsprechen den Zeilen

Tabelle 24 zeigt die Wechsel auf der Ebene der Bindungsorganisation. Drei (21 %) der 14 Kinder (100 %), die zum Zeitpunkt t1 desorganisiert klassifiziert wurden, konnten zum Messzeitpunkt t2 in eine organisierte Bindungsstrategie wechseln. Auf der anderen Seite wurde von 47 Kindern (100 %) mit organisierten Bindungsrepräsentationen zu t1, bei fünf Kindern (11 %) zu t2 ein Wechsel zur Bindungsdesorganisation verzeichnet. Drei davon als Zusatzklassifikation (A/D). Eine Berechnung mit dem McNemar-Test brachte keine signifikanten Ergebnisse hinsichtlich eines Wechsels von desorganisierter Klassifikation zu einer organisierten Klassifikation oder umgekehrt w2M(1, N = 61) = 25.73; p = .727.

168

Ergebnisse

Tabelle 24: Vergleich zwischen organisierten und desorganisierten Bindungsklassifikationen zu zwei Messzeitpunkten vor (t1) und nach (t2) der Intervention Bindungsklassifikation GEV-B – t2 Bindungsklassifikation organisiert desorganisiert Gesamt GEV-B – t1 organisiert (%) 42 (89.4) 5 (10.6) 47 desorganisiert (%) 3 (21.4) 11 (78.6) 14 Gesamt 45 16 61 Prozentangaben entsprechen den Zeilen

Analog zu den Veränderungen der Bindungsklassifikationen der Kinder von t1 nach t2 zeigen die Tabellen 25 und 26 die Wechsel von nicht sicher nach sicher sowie von desorganisiert nach organisiert (und jeweils umgekehrt) im Vergleich von t1 und t3. In Tabelle 25 ist dabei zu erkennen, dass zu t1 von acht Kindern mit sicherer Bindungsrepräsentation (100 %) bei einer späteren Messung (t3) nur eines (13 %) nicht sicher klassifiziert wurde. Hingegen konnte bei 35 % der 26 vor der Intervention nicht sicher eingestuften Kinder zu t3 eine sichere Bindungsrepräsentation gefunden werden. Die Wahrscheinlichkeit des Wechsels wurde wie zuvor mit dem McNemar-Test berechnet w2M(1, N = 34) = 6.87; p < .05*. Dabei zeigte sich, dass diese Tendenz, von einer nicht sicheren Klassifikation in eine sichere zu wechseln, signifikant wahrscheinlicher ist als umgekehrt. Tabelle 25: Vergleich zwischen sicheren und nicht sicheren Bindungsklassifikationen zu zwei Messzeitpunkten vor Intervention (t1) und nach Wartephase (t3) Bindungsklassifikation GEV-B – t3 Bindungsklassifikation sicher nicht sicher Gesamt GEV-B – t1 sicher (%) 7 (87.5) 1 (12.5) 8 nicht sicher (%) 9 (34.6) 17 (65.4) 26 Gesamt (%) 16 18 34 Prozentangaben entsprechen den Zeilen

Auch für den Vergleich zwischen desorganisierter Bindungsklassifikation und den organisierten Bindungsrepräsentationen (vgl. Tab. 26) konnte ein Wechsel genau der Hälfte (drei Kinder) der sechs zu t1 desorganisiert klassifizierten Kinder in eine organisierte Bindung festgestellt werden. Umgekehrt wechselte kein Kind von Zeitpunkt t1 zu t3 in eine desorganisierte Klassifikation. Die Ergebnisse des McNemar-Tests konnten jedoch keine signifikante Veränderungstendenz belegen w2M(1, N = 34) = 15.36; p = .250. * (exakte Sig. zweiseitig. Verwendete Binominalverteilung.)

169

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

Tabelle 26: Vergleich zwischen organisierten und desorganisierten Bindungsklassifikationen zu zwei Messzeitpunkten vor Intervention (t1) und nach Wartephase (t3) Bindungsklassifikation GEV-B – t3 Bindungsklassifikation organisiert desorganisiert Gesamt GEV-B – t1 organisiert (%) 28 (100) 0 (0) 28 desorganisiert (%) 3 (50) 3 (50) 6 Gesamt 31 3 34 Prozentangaben entsprechen den Zeilen

5.3.2 Bindungssicherheitswerte der Kinder (GEV-B) Neben den Veränderungen auf Ebene der Bindungsrepräsentationen kann auch der numerische Bindungssicherheitswert herangezogen werden, um einen Zuwachs bzw. eine Abnahme an Bindungssicherheit sichtbar zu machen. Die globalen Bindungssicherheitswerte, die mit dem GEV-B erhoben wurden, sind dabei in vier Gruppen zu den drei Messzeitpunkten dargestellt (vgl. Tab. 27). Zu t1 dominierten Werte zwischen 2.0 und 2.9 (41 %). Zu t2 bildeten beide Gruppen, »2.0–2.9« und »3.0–4.0«, mit rund 34 % die Spitze. Beim dritten Messzeitpunkt überwog knapp der Bereich zwischen 2.0 und 2.9 (44 %) vor dem Bereich mit Sicherheitswerten zwischen 3.0 und 4.0 (41 %). Wie Tabelle 28 darstellt, lag das arithmetische Mittel zu t1 (M = 2.43; SD = 0.84) und zu t2 (M = 2.41; SD = 1.00) auf ungefähr gleichem Niveau, um nach t3 (M = 2.76; SD = 0.75) deutlicher anzusteigen. Im Zentralwert zeigte sich ein Anstieg der mittleren Sicherheitswerte von t1 (Median = 2.4) nach t2 (Median = 2.5) bis t3 (Median = 2.8). Am niedrigsten war der Bindungssicherheitswert zum zweiten Messzeitpunkt ausgeprägt (0.0), die höchste Ausprägung kam zu allen Zeitpunkten vor (4.0). Tabelle 27: Globale Bindungssicherheitswerte der Kinder zu drei Messzeitpunkten Globaler Bindungssicherheitswert im GEV-B

Sicherheitswert 0.0 – 0.9 Sicherheitswert 1.0 – 1.9 Sicherheitswert 2.0 – 2.9 Sicherheitswert 3.0 – 4.0

t1 (N = 61)

t2 (N = 61)

t3 (N = 34)

absolut relativ (%)

absolut relativ (%)

absolut relativ (%)

0 18 25 18

0 29.5 41 29.5

5 14 21 21

8.2 23 34.4 34.4

0 5 15 14

0 14.7 44.1 41.2

170

Ergebnisse

Zur Überprüfung der Unterschiede der mittleren Bindungssicherheitswerte wurde der t-Test durchgeführt. Wie in Tabelle 28 zu sehen, unterschieden sich die Mittelwerte der globalen Bindungssicherheitswerte nicht signifikant voneinander von t1 zu t2 und t1 zu t3. Tabelle 28: Mittelwertunterschiede der globalen Bindungssicherheitswerte der Kinder zu drei Messzeitpunkten GEV-B

t1 t2 t1 nach t2 t3 t1 nach t3 (N = 61) (N = 61) (N = 61) (N = 34) (N = 34) M M t-Wert p-Wert M t-Wert p-Wert (SD) (SD) (SD)

Bindungs2.43 2.41 sicherheitswert (0.84) (1.00) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung

.249

.804

2.76 (0.75)

-1.880

.069

Auch auf Ebene der Bindungssicherheitswerte wird der letzte Messzeitpunkt der Untersuchung (t3) differenziert betrachtet und in einer Tabelle dargestellt (vgl. Tab. 29). Der Mittelwert der Gesamtstichprobe zu t3 (M = 2.76; SD = 0.75) lag dabei auf etwa dem gleichen Niveau wie bei der Teilgruppe t3-dif (M = 2.77; SD = 0.66). Tabelle 29: Separierte Bindungssicherheitswerte im GEV-B zum Messzeitpunkt t3-dif Globaler Bindungssicherheitswert im GEV-B

t3 (N = 34) M (SD)

t3-dif (N = 26) M (SD)

t3-WA (N = 8) M (SD)

2.76 (0.75)

2.77 (0.66)

2.73 (1.03)

absolut relativ absolut relativ absolut relativ (%) (%) (%) Sicherheitswert 0–0,9 0 0 0 0 0 0 Sicherheitswert 1–1,9 5 14.7 3 11.5 2 25 Sicherheitswert 2–2,9 15 44.1 13 50 2 25 Sicherheitswert 3–4,0 14 41.2 10 38.5 4 50 M = Mittelwert, SD = Standardabweichung WA = Wiederanmeldung in der Wartephase (Intervention zwischen t2 und t3)

Bei einer Berechnung des t-Tests hinsichtlich der Unterschiede zwischen dem mittleren Bindungssicherheitswert zu t1 und dem mittleren Bindungssicherheitswert zu t3 bei diesen 26 Fällen (t3-dif) zeigte sich ein signifikanter Unterschied auf einem Niveau von p < .05 (vgl. Tab. 30). Vor den Berechnungen mit

171

Ergebnisse der Bindungsdiagnostik

dem t-Test wurde die Variable »Globaler Bindungssicherheitswert zu t3-dif« mit dem Kolmogorov-Smirnov-Test hinsichtlich einer Normalverteilung überprüft. Es konnte die Hypothese bestätigt werden, dass die Verteilung nicht signifikant von einer Normalverteilung abweicht (p > .05) und der t-Test damit zulässig ist. Für die mittleren Bindungssicherheitswerte wurde weiterhin die Effektstärke (ES) aus den Mittelwerten und der korrigierten Standardabweichung (SD) berechnet, wie sie Morris (2008) für Prä-Post-Vergleiche mit einer Gruppe vorschlägt. Bei dieser Rechenprozedur wird empfohlen, als Standardabweichung den Wert des Prätests zu nehmen, da dieser Wert nicht durch die Intervention beeinflusst wurde, und als Korrekturfaktor die Korrelation zwischen Prä- und Postmessung zu nutzen. Die ES werden als Betrag analog zu Cohens d berichtet. Für den globalen Bindungssicherheitswert von t1 nach t3-dif beträgt die ES d = 0.38, 95 % KI für d [-0.17, 0.93], was einem kleineren Effekt entspricht (vgl. Cohen, 1988) (vgl. Tab. 30). Tabelle 30: Mittelwertunterschied der globalen Bindungssicherheitswerte zum differenzierten Messzeitpunkt t3-dif GEV-B

Bindungssicherheitswert

t1 (N = 61)

t3-dif (N = 26)

M (SD)

M (SD)

2.43 (0.84) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung *= p .05). Bei den Kompetenzskalen: »Aktivitä-

176

Ergebnisse

ten«, »soziale Kompetenz« und »Schule« hingegen zeigten sich zu t3 signifikante Abweichungen (p < .05) von einer Normalverteilung, so dass die Ergebnisse mit dem Wilcoxon-Test nachgerechnet wurden. Die Ergebnisse dieses Tests zeigten, dem t-Test entsprechend, bei den Kompetenzskalen keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich beider Messzeitpunkte. Der t-Test scheint demnach ausreichend robust, um verwertbare Ergebnisse auch für den Messzeitpunkt t3 (N = 28) zu liefern. Für sämtliche Unterschiede zu den drei Erhebungszeitpunkten wurden ES berechnet. Wie sich Tabelle 35 entnehmen lässt, lagen die ES für die Problemskalen von t1 nach t2 im Bereich zwischen d = 0.38, 95 % KI für d [-0.74, -0.02] (Skala Internalisierende Probleme) und d = 0.52, 95 % KI für d [-0.88, -0.15] (Gesamtwert Problemskalen). Die Effektstärken der Problemskalen für die Zeitspanne von t1 nach t3 lagen je nach Skala zwischen d = 0.60, 95 % KI für d [-1.13, -0.06] (Skala Externalisierende Probleme) und d = 0.82, 95 % KI für d [-1.36, -0.27] (Gesamtwert Problemskalen). Nach einer gängigen Einteilung von Cohen (1988) dürfen hinsichtlich der beschriebenen Probleme für den Zeitraum t1 nach t2 kleinere bis mittlere Effekte und für den Zeitraum t1 nach t3 mittlere bis große Effekte angenommen werden. Für die nicht signifikanten Unterschiede bei den Kompetenzskalen fallen die ES, wie zu erwarten war, klein oder sehr klein aus bis hin zu Bereichen, in denen kaum noch von nachweisbaren Effekten gesprochen werden kann. Der stärkste errechnete Effekt besteht von t1 nach t3 beim Gesamtwert der Kompetenzskalen und beträgt d = 0.24, 95 % KI für d [-0.28, 0.77]. Überführt man die Rohwerte der CBCL/6-18R in T-Werte und vergleicht sie mit altersbezogenen Normwerten15, so kann die Stichprobe in drei qualitative Bereiche eingeteilt werden: (1) klinisch unauffällig, (2) klinisch auffällig und (3) ein Grenzbereich dazwischen. Tabelle 36 kann entnommen werden, dass sowohl im Bereich der internalisierenden Probleme als auch bei den externalisierenden Problemen und demzufolge in der Gesamtauffälligkeit die Werte in der Kategorie klinisch auffälligen Verhaltens abnahmen, während die Werte für klinisch unauffälliges Verhalten relativ zunahmen. Mit Blick auf die Gesamtauffälligkeit kann festgehalten werden, dass zum Zeitpunkt t1 mehr Kinder auffällig eingeschätzt wurden (N = 33 / 54 %) als unauffällig (N = 22 / 36 %). Zum Zeitpunkt t2 und t3 ändern sich die Verhältnisse und es wurden weniger Kinder verhaltensauffällig eingestuft (37 % zu t2 und 14 % zu t3) und mehr unauffällig (50 % zu t2 und 75 % zu t3). Die Kompetenzen der Kinder bewegten sich zum Messzeitpunkt t1 bereits zu rund 15 Es wurden für die Jungen in der untersuchten Stichprobe die Normwerte für Jungen, 6– 11 Jahre (N = 485), und für die Mädchen die Normwerte für Mädchen, 6–11 Jahre (N = 481), angewendet (vgl. Döpfner et al., 2014).

41.80 (21.61) 8.87 (2.51) 6.98 (2.37) 4.01a (1.05) 1–6a

2–11

9–13

6–89

t1 (N = 61) M Range (SD) 7.87 0–19 (5.12) 15.92 2–42 (10.20) 17.84 2–42 (9.49)

b

31.88 0–95 (19.68) b 8.96 2–13b (2.56) 7.30b 3–12b (2.10) 4.26b 2–6b (0.82)

t2 (N = 60) M Range (SD) 5.87 0–20 (4.78) 11.47 0–39 (9.08) 14.42 0–37 (8.43) 23.54 5–60 (14.48) 9.69 3–12 (1.92) 7.01 5–10 (1.79) 4.31 2–6 (.99)

t3 (N = 28) M Range (SD) 4.21 0–17 (3.83) 8.86 0–28 (7.39) 10.36 1–23 (6.14) .003**

-0.38

.001**

-0.43

-1.855c

-1.073b

0.239b

.069c

.288b

.812b

0.22

0.13

-0.03

4.170 .000*** -0.52

3.497

4.073 .000*** -0.50

3.075

t1 nach t2 (N = 60) t-Wert p-Wert ES (d)

.002**

-0.60

-0.803d

-0.164

-1.306

.429

.871

.203

0.16

0.03

0.22

4.784 .000*** -0.82

4.651 .000*** -0.81

3.506

4.396 .000*** -0.77

t1 nach t3 (N = 28) t-Wert p-Wert ES (d)

19.79 20.53 21.02 11–29 14–26 -1.117b .269b 12–30b 0.14 -1.463 .155 0.24 (4.16) (3.80) (2.96) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, ES = Effektstärke a N = 60: Kompetenzskala Schule zu t1, b N = 58: Kompetenzskalen zu t2, c N = 57: Kompetenzskala Schule zu t1 nach t2, d N = 27: Kompetenzskala Schule zu t2 nach t3 **p < .01 (Sig. zweiseitig) ***p < .001 (Sig. zweiseitig)

Kompetenzskalen Total

Kompetenzskalen Schule

Kompetenzskalen Soziale Kompetenz

Kompetenzskalen Aktivitäten

Problemskalen Total

Problemskalen Gemischt

Problemskalen Externalisierend

Problemskalen Internalisierend

CBCL/6–18R Elternfragebogen

Tabelle 35: Ergebnisse des Elternfragebogens CBCL/6-18R – Skalenwerte

Ergebnisse der Child Behavior Checklist

177

178

Ergebnisse

90 % im unauffälligen Bereich. Nur wenige Kinder wiesen aus Sicht ihrer Mutter so wenige Kompetenzen auf, dass diese als grenzwertig (6 %) oder auffällig (3 %) eingestuft wurden. Zu späteren Zeitpunkten verlagert sich die eingeschätzte Gesamtkompetenz der Kinder vollständig in den klinisch unauffälligen Bereich (98 % zu t2 und 100 % zu t3). Tabelle 36: Ergebnisse des Elternfragebogens CBCL/6–18R – Vergleich mit Normwerten Normwerte CBCL/6-18R Elternfragebogen

t1 (N = 61)

t2 (N = 60)

t3 (N = 28)

absolut relativ (%) absolut relativ (%) absolut relativ (%) Internale Probleme unauffällig 31 Grenzbereich 12 auffällig 18 Externale Probleme unauffällig 22 Grenzbereich 8 auffällig 31 Gesamtauffälligkeit unauffällig 22 Grenzbereich 6 auffällig 33 Kompetenzen gesamt unauffällig 55 Grenzbereich 4 auffällig 2 * N = 58: Kompetenzskalen zu t2

50.8 19.7 29.5

39 11 10

65 18.3 16.7

22 4 2

78.6 14.3 7.1

36.1 13.1 50.8

37 4 19

61.7 6.7 31.7

20 3 5

71.4 10.7 17.9

36.1 9.8 54.1

30 8 22

50 13.3 36.7

21 3 4

75 10.7 14.3

90.2 6.6 3.3

57* 1* 0*

98.3 1.1 0

28 0 0

100 0 0

Aufgrund der Wiederanmeldung von acht Familien in der Wartephase werden in den Tabellen 37 und 38 diese Probanden (t3-WA) von der übrigen untersuchten Stichprobe zum Messzeitpunkt t3 differenziert. Der Rücklauf des Elternfragebogens war dabei nur in sechs von acht Fällen gegeben. Anhand der differenzierten Ergebnisse kann gezeigt werden, dass der separierte Messzeitpunkt t3dif vergleichbare Mittelwerte aufweist wie der Messzeitpunkt t3 (M = 23.05 zu M = 23.54 bei den Gesamtproblemskalen). Auch für die reduzierte Stichprobe zu t3-dif wurden, wie in Tabelle 38 ersichtlich, Unterschiede mittels des t-Tests sowie ES berechnet. Sämtliche Skalen wurden dabei zuvor erneut mit dem Kolmogorov-Smirnov-Test auf eine Normalverteilung hin geprüft. Dabei wichen nur die Skalen »Externalisierende Probleme« und »Schule« von einer Normalverteilung ab. Eine Nachberechnung mit dem Wilcoxon-Test bestätigte allerdings die Ergebnisse des t-Tests. So waren die Unterschiede über alle Pro-

179

Ergebnisse der Child Behavior Checklist

blemskalen hinweg (»Problemskalen Total«) hochsignifikant bei sehr hoher Effektstärke d = 0.91, 95 % KI für d [-1.53, -0.29]. Tabelle 37: Separierte Ergebnisse (Skalenmittelwerte) des Elternfragebogens CBCL/6-18R zum Messzeitpunk t3-dif CBCL/6-18R Elternfragebogen

t3 t3-dif t3-WA (N = 28) (N = 22) (N = 6) M (SD) Range M (SD) Range M (SD) Range

Problemskalen Internalisierend

4.21 4.36 3.67 0–17 0–17 (3.83) (4.17) (2.42) Problemskalen Externalisierend 8.86 8.36 10.67 0–28 0–24 (7.39) (6.99) (9.20) Problemskalen Gemischt 10.36 10.36 10.33 1–23 1–21 (6.14) (6.12) (6.77) Problemskalen Total 23.54 23.05 25.33 5–60 5–54 (14.48) (14.94) (18.78) Kompetenzskalen Aktivitäten 9.69 9.48 10.47 3–12 3–12 (1.92) (2.07) (0.97) Kompetenzskalen Soziale Kompetenz 7.01 7.14 6.56 5–10 5–10 (1.79) (1.79) (1.85) Kompetenzskalen Schule 4.31 4.22 4.65 2–6 2–6 (0.99) (0.99) (0.95) Kompetenzskalen Total 21.02 20.84 21.68 14–26 14–26 (2.96) (3.13) (2.30) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung WA = Wiederanmeldung in der Wartephase (Intervention zwischen t2 und t3)

0–7 4–28 4–23 8–60 9–12 5–9 4–6 18–24

Tabelle 38: Separierte Mittelwertberechnungen des Elternfragebogens CBCL/6-18R zum Messzeitpunk t3-dif CBCL/6-18R Elternfragebogen

t1 t3-dif t1 nach t3-dif (N = 61) (N = 22) (N = 22) M (SD) Range M (SD) Range t-Wert p-Wert ES (d)

7.87 0–19 (5.12) 15.92 Problemskalen Externalisierend 2–42 (10.20) 17.84 Problemskalen Gemischt 2–42 (9.49)

4.36 0–17 (4.17) 8.36 0–24 (6.99) 10.36 1–21 (6.12)

41.80 6–89 (21.61) 8.87 9–13 (2.51)

23.05 5–54 (14.94) 9.48 3–12 (2.07)

Problemskalen Internalisierend

Problemskalen Total Kompetenzskalen Aktivitäten

4.520 .000*** -0.91 3.760 .001** -0.73 4.003 .001** -0.81 4.685 .000*** -0.90 -1.167

.256

0.28

180

Ergebnisse

((Fortsetzung)) CBCL/6-18R Elternfragebogen

t1 t3-dif t1 nach t3-dif (N = 61) (N = 22) (N = 22) M (SD) Range M (SD) Range t-Wert p-Wert ES (d)

Kompetenzskalen Soziale Kompetenz

6.98 2–11 (2.37) 4.01 Kompetenzskalen Schule 1–6 (1.05) 19.79 Kompetenzskalen Total 11–29 (4.16) M = Mittelwert, SD = Standardabweichung a = N = 21 Kompetenzskala Schule ** = p < .01 (Sig. zweiseitig) *** = p < .001 (Sig. zweiseitig)

7.14 5–10 -0.859 (1.79) 4.22 2–6 -0.306a (0.99) 20.84 14–26 -1.604 (3.13)

.400

0.17

.763

0.07

.124

0.31

In Tabelle 39 wird die kategoriale Einteilung anhand von Normwerten zum differenzierten Messzeitpunkt t3-dif dargestellt. Wie zu sehen ist, weisen die relativen Verhältnisse in den Kategorien auffällig, unauffällig und Grenzbereich nur leicht unterschiedliche Werte aus, als in der Gesamtstichprobe zu t3. In der Gesamtauffälligkeit war dabei die Zahl der als unauffällig beurteilten Kinder zum Zeitpunkt t3-dif (N = 16 / 73 %) etwas geringer als zum nicht differenzierten Zeitpunkt t3 (N = 21 / 75 %). Tabelle 39: Separierte Ergebnisse des Elternfragebogens CBCL/6-18R zum Messzeitpunk t3-dif – Vergleich mit Normwerten t3 (N = 28)

t3-dif (N = 22)

t3-WA (N = 6)

absolut relativ (%)

absolut relativ (%)

absolut relativ (%)

Normwerte CBCL/6-18R Elternfragebogen Internale Probleme unauffällig Grenzbereich auffällig Externale Probleme unauffällig Grenzbereich auffällig Gesamtauffälligkeit unauffällig Grenzbereich auffällig

22 4 2

78.6 14.3 7.1

17 3 2

73.3 13.6 9.1

5 1 0

83.3 16.7 0

20 3 5

71.4 10.7 17.9

16 2 4

72.7 9.1 18.2

4 1 1

66.7 16.7 16.7

21 3 4

75 10.7 14.3

16 3 3

72.7 13.6 13.6

5 0 1

83.3 0 16.7

181

Ergebnisse der Child Behavior Checklist

((Fortsetzung)) Normwerte CBCL/6-18R Elternfragebogen

t3 (N = 28)

t3-dif (N = 22)

t3-WA (N = 6)

absolut relativ (%) absolut relativ (%) absolut relativ (%) Kompetenzen gesamt unauffällig 28 100 22 100 6 100 Grenzbereich 0 0 0 0 0 0 auffällig 0 0 0 0 0 0 WA = Wiederanmeldung in der Wartephase (Intervention zwischen t2 und t3)

5.4.2 Ergebnisse des Lehrerfragebogens über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R) Die Ergebnisse der TRF/6-18R wurden analog zu den Befunden des Elternfragebogens der CBCL aufbereitet. In Tabelle 40 sind entsprechend die Mittelwerte der Problemskalen der TRF zu finden.16 In den Resultaten des Instruments bewerteten die gefragten Lehrerinnen die Gesamtauffälligkeit zum Zeitpunkt t1 mit M = 41.83 (SD = 24.19) und zum Zeitpunkt t2 mit M = 37.45 (SD = 28.51). Mit Blick auf die Mittelwerte der einzelnen Problemskalen sank der Mittelwert nach Angaben der Lehrperson bei jeder dieser Skalen von t1 nach t2 ab. In der Berechnung mit dem t-Test waren alle Unterschiede signifikant (vgl. Tab. 40). Im Hinblick auf eine Normalverteilung der Skalen zeigten im Kolmogorov-Smirnov-Test die Skalen Internalisierend und Externalisierend signifikante Abweichungen von einer Normalverteilung (p