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German Pages [352] Year 2017
Jost Hermand
DIE WENIGEN UND DIE VIELEN Trägerschichten deutscher Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2017
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Berliner Staatsoper; Otto Griebel: Die Internationale. Gemälde von 1928/30. Berlin, Deutsches Historisches Museum, © akg-images. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Matthias Griebel.
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Inhalt Vorwort 7 Von der germanischen Sippengesellschaft zur karolingischen Theokratie 17 Die klerikale und ritterliche Kultur des Hochmittelalters 25 Innenpolitische, sozioökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse im 15. Jahrhundert 43 Die realpolitischen Folgen der Reformbemühungen Martin Luthers 59 Gegenreformation und protestantischer Selbstbehauptungswillen 71 Vom autoritären zum aufgeklärten Absolutismus 81 Höfischer Klassizismus und religiös-neudeutsche Reaktion 111 Biedermeierliches und Vormärzliches in der Metternichschen Restaurationsepoche 129 Auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich 149 Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft 161 Die drei Phasen der Weimarer Republik 191 Der strategisch kalkulierte Pluralismus der NS-Kultur 217 Die Situation in den vier Besatzungszonen 235 Der gescheiterte Versuch, in der DDR eine klassenlose Hochkultur durchzusetzen 253 Die elitäre und die unterhaltsame Freizeitkultur der ehemaligen Bundesrepublik 273 Zur Funktion einer als pluralistisch ausgegebenen A- oder Allgemeinkultur in der heutigen Market Driven Society 299 Weiterführende Lektüreanregungen 319 Abbildungsnachweis 335 Personenregister 337
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Vorwort Ein Buch, in dem es um die gesellschaftlichen Trägerschichten der deutschen Kultur gehen soll, muß zwangsläufig mit einer definitorischen Klarstellung der drei bedeutungsschwangeren Begriffe »Trägerschichten«, »deutsch« und »Kultur« beginnen, um nicht von vornherein ins Journalistische abzugleiten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Schließlich beinhalten diese Begriffe, wenn man sich nicht nur mit ihrem heutigen Gebrauchswert begnügt, sondern auch ihre höchst facettenreiche Vorgeschichte bedenkt, eine solche Fülle an Bedeutungen, daß sie in jedem historisch denkenden Menschen sofort eine Unzahl verschiedenartigster Assoziationen erwecken, denen kein widerspruchsfreier Generalnenner zugrunde zu liegen scheint. Trotz alledem läßt sich nur schwer auf sie verzichten, falls man es wagen sollte, sich aufs Glatteis jener kulturgeschichtlichen Forschungen zu begeben, die wegen ihrer interdisziplinären Ausrichtung von all jenen Vertretern im Bereich geisteswissenschaftlicher Disziplinen, welche sich lediglich mit sorgsam umgrenzten Sonderstudien beschäftigen, noch immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet werden. Doch sei’s drum. Wenn man nach einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Phasen der deutschen Kulturgeschichte endlich zu der Erkenntnis gekommen ist, daß letztlich alles, ob nun das Politische, Ökonomische, Soziale, Religiöse, Kulturelle und Wissenschaftliche, stets aufs engste miteinander vernetzt war und immer noch ist, sieht man sich schließlich versucht, diese inneren Zusammenhänge einmal zusammenfassend darzustellen. Und davon soll dieses Buch, zu dessen Niederschrift nicht nur eine erweiterte Sachkenntnis, sondern auch ein gewisser Mut zur Unvollkommenheit gehörte, ein möglichst eindringliches Zeugnis ablegen. Beginnen wir diesen Versuch damit, was im Folgenden unter »Trägerschichten« verstanden wird. Hiermit sind jene Gruppen, Stände oder Klassen gemeint, deren Vertreter innerhalb bestimmter Gesellschaftsformationen nicht nur über die politische Macht verfügten, sondern aufgrund 7
Vorwort
ihrer ökonomischen Überlegenheit auch die ideologischen, religiösen und kulturellen Anschauungen der ihnen untergebenen Bevölkerungsschichten zu reglementieren oder zumindest zu beeinflussen suchten. Während das im Mittelalter und der Frühen Neuzeit lediglich die sogenannten Wenigen, ob nun die Kaiser, Fürsten oder Bischöfe, waren, haben sich seit dem 16. und dann dem 18. Jahrhundert auch die sich allmählich bereichernden bürgerlichen Schichten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bemüht, einen steigenden Einfluß auf die ideologischen, religiösen und kulturellen Verhältnisse auszuüben, sind aber – trotz humanistischer bzw. aufklärerischer Bemühungen – durch die politische Machtstellung der herrschenden Oberklasse immer wieder in den Untertanenstand hinabgedrückt worden. Zu einer meinungsbeeinflussenden Trägerschicht konnte daher das Bürgertum erst werden, als ihm die Industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Chance gab, zu einer immer einflußreicheren politischen und kulturellen Bevölkerungsschicht aufzusteigen. Die sich daraus ergebende Machtstellung befähigte diese Klasse schließlich, sich im 20. Jahrhundert als die angeblich Vielen des sogenannten Mittelstands gegen die im Zuge der steigenden Industrialisierung ständig zahlreicher werdenden Arbeiter und Angestellten als die maßgebliche Gesellschaftsschicht durchzusetzen. Soviel erst einmal zu dem Begriff »Trägerschicht«, dessen ökonomisch bedingte Wandlungen in den folgenden Kapiteln wesentlich präziser herausgearbeitet werden sollen. Auch der Begriff »deutsch« hat eine ebenso wandlungsreiche wie bedeutungsschwangere Vorgeschichte. Vielen Deutschen ist heute kaum oder nicht mehr bewußt, daß dieser Begriff, der auf das althochdeutsche Wort »thiutisk« (von »thiot«, das Volk) zurückgeht, erstmals für jene Bevölkerungsgruppen, vor allem die Alemannen, Bayern, Franken, Friesen, Sachsen, Schwaben und Thüringer verwendet wurde, die sich während der Spätantike im Zuge der Völkerwanderung in Mitteleuropa angesiedelt hatten. Dennoch gab sich das dort entstandene Frankenreich seit der im Jahr 800 erfolgten Kaiserkrönung Karls des Großen – in der Nachfolge des altrömischen Cäsarenreichs und in Abgrenzung vom byzantinischen Staat in Konstantinopel – nicht 8
Vorwort
als Imperium Germanicum, sondern im Sinne einer Translatio Imperii als Imperium Romanum oder gar ab 1157 als Sacrum Imperium Romanum aus. Die offizielle Bezeichnung Heiliges Römisches Reich erhielt dieses Staatsgebilde erst gegen Mitte des 14. Jahrhunderts unter Kaiser Karl IV., worauf sich ab 1442 in einigen Urkunden auch die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation findet. Dennoch war in den folgenden drei Jahrhunderten von einer »deutschen Nation« kaum noch die Rede. Was dazu beitrug, war nicht nur der Verlust einst zu diesem Reich gehörender Gebiete wie der Nordschweiz, der Niederlande, Südtirols und des Elsaß, sondern auch die in der Folgezeit zunehmende Autonomie der in diesem Reich existierenden über 400 Königreiche, Großherzogtümer, Herzogtümer, Erzbistümer, Bistümer, Markgrafschaften, Grafschaften und sogenannten freien Reichsstädte, was eine weitgehende Abschwächung der kaiserlichen Zentralgewalt bewirkte. Daher war es für den französischen Empereur Napoleon Bonaparte in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts ein Leichtes, mit seiner Grande armée dieses inzwischen noch weiter in eine geradezu unübersehbare Fülle autonomer und halbautonomer Territorien zersplitterte Reich einfach zu überrennen und aufzulösen. Erst unter Otto von Bismarck übernahm schließlich Preußen die politische Führungsrolle innerhalb der übriggebliebenen 36 Bundesstaaten, was 1871 zur Gründung jenes Zweiten Kaiserreichs führte, dessen Territorium – mit gewissen Grenzveränderungen – bis heute als »Deutschland« bezeichnet wird. Doch trotz dieses höchst wechselvollen, ja zum Teil geradezu katastrophalen Verlaufs der sich seit der Karolingerzeit in Mitteleuropa abspielenden Geschichte wäre es unangebracht, dabei auf den Begriff »deutsch« verzichten zu wollen. Schließlich haben auch andere europäische Länder wie Polen, Ungarn oder Italien eine ebenso wechselvolle Geschichte gehabt und dennoch nicht auf Begriffe wie polnisch, ungarisch oder italienisch verzichtet, sondern – schon aufgrund ihrer jahrhundertelang beibehaltenen sprachlichen Gemeinsamkeit – nicht das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit aufgegeben. Das gleiche trifft auch auf Deutschland zu, das trotz seiner zeitweiligen Entartung ins Nazifaschistische kein Produkt 9
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eines spezifischen »Sonderwegs« innerhalb der europäischen Geschichte ist. Demzufolge sollte der Begriff »deutsch«, was keineswegs chauvinistisch gemeint ist, für alle mit der Geschichte dieses Landes vertrauten Menschen durchaus eine sinnvolle Charakterisierung oder Umrißbezeichnung für die auf diesem Territorium erfolgten historischen Wandlungen sowie die sich daraus ergebenden politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse bleiben. Dagegen sind die methodologischen Auseinandersetzungen im Hinblick auf das, was unter »Kultur« zu verstehen ist, in letzter Zeit zusehends kontroverser geworden. Während in vielen Darstellungen der deutschen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mit nationaler oder bildungsbürgerlicher Überheblichkeit fast ausschließlich die künstlerischen Leistungen der höheren Kultur, also die Meisterwerke der Staufischen Klassik und der sogenannten Goethe-Zeit, im Vordergrund standen, haben danach – spätestens seit der Weimarer Republik – im Gefolge »demokratisierender« Tendenzen verschiedenster Art in derartigen Büchern nicht nur die angeblich höheren, sondern auch die bis dahin als niedrig, wenn nicht gar als unerheblich geltenden Formen von Kultur sowie die vielfältigen zivilisatorischen Errungenschaften im Bereich der gesellschaftlichen Umgangsformen und materiellen Gebrauchsgegenstände, also sowohl die Kultur der Wenigen als auch die kulturellen Bedürfnisse der Vielen, eine genauere Beachtung gefunden. Im Hinblick auf diesen inzwischen stattgefundenen Wandel innerhalb des Kulturbegriffs lassen sich dabei mindestens drei Richtungen unterscheiden: 1. hat man unter bürgerlich-liberaler Perspektive in derartigen Studien sowohl auf die wohlstandssteigernden Tendenzen innerhalb der Konsumgüterversorgung als auch auf die gewaltig anschwellende Kulturindustrie hingewiesen, welche durch ihre Bestsellerliteratur, Unterhaltungsmusik, Filme und Fernsehsendungen auch den sogenannten breiten Massen eine wohlig entspannende Freizeit ermöglicht hätten. 2. ist man unter nazifaschistischer Perspektive auf den in allen Phasen der deutschen Kulturentwicklung zu beobachtenden »germanischen Schöpfergeist« eingegangen, der das deutsche Volk – im Gegensatz zu allen anderen Nationen der Welt – als 10
Vorwort
wahrhaft kulturstiftend ausgezeichnet habe, und 3. hat man sich höchst eindringlich mit jenen Bemühungen auseinandergesetzt, mit denen die frühen Sozialdemokraten, die Kommunisten der Weimarer Republik und dann die Kulturfunktionäre der Deutschen Demokratischen Republik auch der bildungsmäßig benachteiligten Arbeiterklasse die »Erstürmung der Höhen der Kultur« ermöglichen wollten. Wie wir wissen, scheiterte sowohl der nazifaschistisch fehlgeleitete Versuch einer fanatisch angestrebten »arischen« Kultur im Jahr 1945 als auch der sozialistisch hoffnungsvoll ausgerichtete zuerst im Jahr 1933 und dann abermals im Jahr 1989. Was danach im Rahmen kulturhistorischer Darstellungen der deutschen Geschichte in der wiedervereinigten Bundesrepublik folgte, war mehrheitlich das Bemühen, die nazifaschistischen und sozialistischen Kulturbestrebungen – trotz ihrer grundsätzlichen Unterschiede – im Sinne der im Kalten Krieg entstandenen Totalitarismusthese einfach miteinander gleichzusetzen. Obendrein wurden im Gefolge der sich nach 1989 ausbreitenden Nachwende- oder Posthistoire-Stimmungen nicht nur auf dem Gebiet der Kultur, sondern in sämtlichen Gesellschaftsbereichen alle sogenannten »großen Erzählungen«, sprich: sozialen Veränderungsbemühungen, als zwanghafte Kollektivmaßnahmen desavouiert. Und zwar wollte man damit endlich jenem als demokratisch verstandenen Pluralismus zum Durchbruch verhelfen, der trotz seiner ins Gesichtslose tendierenden Vermassungsabsichten als die Grundvoraussetzung eines verfreiheitlichten Individualismus ausgegeben wurde, um so eine sich angeblich gegen alle »Ideologien« sperrende marktwirtschaftliche Gesellschaftsordnung durchzusetzen, in der sogar auf kulturellem Sektor ein unhinterfragter Konsumismus den alleinigen Ausschlag geben würde. Was daher im Hinblick auf eine historische und zugleich zeitnahe Betrachtungsweise deutscher Kultur gegenwärtig vorherrscht, ist weitgehend Folgendes. Da eine fortschrittsbetonte Sozialgeschichte zusehends als ideologische Sackgasse gilt, ist an die Stelle der Makrohistorie der »großen Erzählungen«, also einer optimistischen Progressionsgeschichte bürgerlichliberaler, nationalistischer oder sozialistischer Art, eine Fülle postmoderner, 11
Vorwort
poststrukturalistischer oder systemtheoretischer Partialdiskurse getreten, die sich immer weniger mit ständischen oder klassenbedingten Hochkulturphänomenen auseinandersetzen, sondern sich in diskursanalytischer Weise selbst mit dem Phänomen »Kultur« eher unter individualistischen, psychologischen oder anthropologischen Gesichtspunkten beschäftigen. Diese Art von Kulturgeschichte interessiert sich daher vornehmlich für milieubedingte Lebenswelten, Subgesellschaften, Geschlechterbeziehungen, Behindertenfragen, sexuelle Minderheiten, interfamiliäre Kommunikationsverhältnisse, Modeerscheinungen, Tischsitten, Tourismuserlebnisse sowie den altersbedingten Umgang mit den verschiedenen Massenmedien, das heißt den sogenannten »kleinen Erzählungen« der Alltagsgeschichte, wobei sie sich methodologisch vor allem auf mentalitätsorientierte, medizinische, feministische, psychohistorische oder generationsbedingte Kriterien stützt. Und dadurch hat der ältere Kulturbegriff eine kaum noch zu übersehende Ausweitung erfahren, was eine durchgreifende Wende in vielen bisher vorwiegend formalistisch oder historistisch eingestellten Geisteswissenschaften bewirkte. Als Ergebnis dieser Verwerfung aller hegemoniefähigen Diskurse hat sich somit jener oft apostrophierte »Kulturalismus« durchgesetzt, dem im Gegensatz zu früher nur noch in Ausnahmefällen ein mehr oder minder sozialbetonter Orientierungssinn zugrunde liegt, sondern der sich weitgehend mit einem rein beschreibenden Darstellungsstil zufriedengibt, ohne dabei eine andere, ja möglicherweise bessere Gesellschaftsform ins Auge zu fassen. Zugegeben, dabei sind im Rahmen dieser neuen Sehweise viele bisher übersehene kulturelle und zivilisatorische Erscheinungen der sogenannten »Lebenswelt« zum ersten Mal ins Blickfeld einer vorwiegend anthropologisch orientierten Sozialgeschichte geraten, welche man früher unter diplomatiegeschichtlicher oder bildungsbetonter Perspektive hochmütig übersehen hat oder die von vornherein als wissenschaftsunwürdig galten. Und das hat zu einer beachtlichen Erweiterung unseres Verständnisses jener psychohistorischen Phänomene innerhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Großprozesse geführt, die lange Zeit als die alleinmaßgeblichen galten. Doch im Hinblick auf diese methodologische Umorientierung von 12
Vorwort
den großen zu den kleinen »Erzählungen« sollte in Zukunft nicht vergessen werden, was dadurch zum Teil oder gänzlich aus dem Gesichtsfeld der historisch orientierten Geisteswissenschaften verschwunden ist, nämlich jene sich aus einer dialektischen Sicht geschichtlicher Abläufe ergebende Zukunftsorientierung und die durch sie ermöglichte Kritik an den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich erstmals im Humanismus und der Reformation des frühen 16. Jahrhunderts und dann in der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung herausgebildet haben. Welche Hoffnungen dabei auch und gerade auf kulturellem Sektor, und zwar sowohl in seinen höheren als auch niederen Ausprägungen verbunden waren, ist allgemein bekannt. Ja, selbst Teile des liberalen Bürgertums sowie der sich im Zuge der Industrialisierung entwickelnden Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts haben sich – außer ihren politischen Ambitionen – zugleich als fortschrittsbetonte Kulturbewegungen verstanden. Nicht minder engagiert gaben sich sogar noch viele Linksliberale und Sozialisten im Laufe des 20. Jahrhunderts auf diesem Gebiet. Von solchen Erwartungen ist jedoch unter den gegenwärtigen Kulturmanagern oder Kulturwissenschaftlern kaum noch die Rede. Den meisten unter ihnen geht es nicht mehr um langfristig zu erreichende Zukunftsperspektiven, sondern nur noch um kurzfristige Innovationsschübe. Wann hat es denn im Zuge der in alle Lebensbereiche eindringenden Freizeitindustrie so viel »Kultur« gegeben, hört man in diesen Kreisen immer wieder. Was ehemals ein Privileg der Wenigen, ob nun der Aristokratie oder des gebildeten Bürgertums, gewesen sei, behaupten sie, sei doch seit der Medienrevolution während der Weimarer Republik längst zum Allgemeingut der Vielen, das heißt der sogenannten breiten Massen geworden und habe damit seine bisherige Exklusivität verloren. Zweifellos ist damit eine »Demokratisierung« von Kultur erreicht worden, die es vorher nie gegeben hat. Doch welcher »Kultur«? Einer A- oder Allgemeinkultur, in der endlich die langanhaltende Scheidung in eine E- oder ernsthaft-elitäre und eine U- oder unterhaltsam-triviale Kultur aufgehört hat? Das wäre durchaus zu begrüßen. Aber ist die damit erreichte A- oder Allgemeinkultur tatsächlich der Ausdruck einer aus allen undemokratischen 13
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Fesseln befreiten Gesellschaftsordnung, in der sich – im Gegensatz zu den älteren Klassengesellschaften – die Grundwerte einer wahrhaft »zivilen« Gesinnung durchgesetzt haben? Oder sind ihre Produzenten lediglich die Manager einer geschickt manipulierenden Bewußtseinsindustrie, in der die gleichen Gesetze wie in der profitorientierten Konsumgüterherstellung herrschen? Ist also die heutige deutsche Kultur tatsächlich eine Kultur der Vielen oder immer noch eine Kultur der diese Vielen beherrschenden Wenigen, welche den Gebildeten im Zuge einer repressiven Toleranz weiterhin den Genuß der älteren, längst historisch gewordenen höheren Kunstformen anbietet und ihnen zugleich einige postmodernistische Aberrationen offeriert, während sie die Vielen durch eine fortschrittslose Unterhaltungskultur von ihren eigentlichen Interessen oder gar gesellschaftlichen Forderungen abzulenken versucht? So viele Fragen, aus denen sich ständig neue Fragen, aber kaum schlüssige Antworten ergeben. Auf die damit verbundenen Problemstellungen, die wesentlich umfangreichere Begründungen verlangen, kann selbstverständlich in einem knapp gehaltenen Vorwort nicht eingegangen werden. Mögliche Antworten auf diese Fragen werden sich erst dann einstellen, falls man sich etwas genauer mit all jenen Kulturverhältnissen auseinandersetzt, die unserer Zeit vorausgegangen sind, in denen sich jener Wandel von den Wenigen zu den Vielen vollzogen hat, der in der heutzutage angeblich erreichten Aoder Allgemeinkultur einen vorläufigen, wenn auch problematischen Endzustand erreicht hat. Ob man sich damit begnügen sollte, wäre die letztlich entscheidende und zugleich wichtigste Frage. An dieser als »demokratisch« herausgestellten A-Kultur Kritik zu üben, setzt allerdings ein gewisses Engagement voraus. Doch das wäre – historisch gesehen – an sich nichts Neues. Schließlich hat es im Verlauf der deutschen Geschichte bereits vorher mehrfach Ansätze zu einer kritischen, das heißt gesellschaftsverändernden Funktionsbestimmung von Kultur gegeben, die jedoch durch die Eigeninteressen der jeweils herrschenden Wenigen über die Vielen bzw. die sogenannten »objektiven Schwierigkeiten« ökonomisch schwacher Gesellschaftssysteme unverwirklichte Möglichkeiten oder utopische Hoffnungen geblieben sind. 14
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Daran hat sich also nicht viel geändert. Dringen wir deshalb als Kulturwissenschaftler ruhig weiterhin auf eine auch die Vielen einbeziehende, von gesellschaftspolitischen Idealen beflügelte Kultur, in der nicht mehr die meinungsbeeinflussenden Manipulationen der wirtschaftlich Stärkeren tonangebend sind. Und nehmen wir dabei ruhig in Kauf, daß ein solches Unterfangen von den Vertretern des heute dominierenden Establishments von vornherein als unrealistisch hingestellt wird. Denn was wäre die Alternative: ein Staat, in dem auch im Bereich der Kultur nur noch die Marktgesetze einer unerbittlich operierenden Wettbewerbsgesellschaft herrschen, in dem es nur noch um den »Industriestandort Deutschland« geht sowie in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden? Wie ist das mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedeten Grundgesetz zu vereinbaren, in dem sich die Formulierung findet, daß Eigentum dem Nutzen des Allgemeinwohls dienen soll, und worin zugleich festgelegt wurde, daß sich die Bundesrepublik als ein »Kulturstaat« versteht? Diese zwei grundgesetzlich festgelegten Forderungen sollten deshalb in den heutigen Diskussionen über die soziale Chancengleichheit innerhalb dieses Staates und der in ihm herrschenden Kultur wieder im Vordergrund stehen. Denn erst, wenn man sich um ihre Durchsetzung bemühen würde, könnten sich in dieser Republik, die den Anspruch erhebt, eine »Zivilgesellschaft« zu sein, alle »Cives«, das heißt Bürger und Bürgerinnen endlich als Gleichberechtigte fühlen. Nur dann gäbe es keine finanziell bessergestellten und bildungsmäßig priviligierten Wenigen und keine unterbezahlten und bildungsmäßig benachteiligten Vielen mehr.
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Von der germanischen Sippengesellschaft zur karolingischen Theokratie Wie uns viele Historiker belehrt haben, entstand im Zuge der im 4. Jahrhundert einsetzenden Völkerwanderung – neben relativ kurzlebigen Staaten wie dem Ostgotenreich in Oberitalien oder dem Westgotenreich in Spanien – gegen Ende des 5. Jahrhunderts das erste bedeutsame und zugleich dauerhafte Germanenreich in Mitteleuropa unter den fränkischen Merowingern. Seine soziale Grundlage bildeten anfangs landerobernde Bauernsippen unter einem selbstgewählten Heerkönig, der in der Folgezeit seine Machtstellung dadurch zu festigen suchte, daß er die ihm hörigen Vasallen, die sogenannten Hausmeier, durch großzügige Schenkungen einiger Teile der eroberten Ländereien an sich band und sich obendrein bemühte, durch eine gewaltsam durchgeführte Christianisierung der Gesamtbevölkerung seinen Untertanen das Gefühl eines ideologischen Zusammenhalts zu verleihen. Die ursprünglich freien Bauern wurden dadurch weitgehend zu Hintersassen der Hochadligen und Bischöfe, was zu einer allmählichen Feudalisierung des gesamten Staatsverbandes führte, in dem unterhalb des Firnis christlicher Glaubensvorstellungen eine schonungslose Ausbeutermentalität herrschte. Kurzum: aus der Gemeinschaft bäuerlicher Sippen ging somit ein Staat hervor, der zusehends im Zeichen des blauen Blutes und des Kreuzes stand. Von irgendwelchen kulturellen Aktivitäten höherer Art ist daher im Hinblick auf diesen Zeitraum wenig bekannt. Selbst die Christianisierung des merowingischen Frankenreichs hatte bis zum 8. Jahrhundert keine nachweisbare Klosterkultur oder gar den Bau kirchlicher Steingebäude zur Folge. Nach der Blütezeit der spätantiken Zivilisation kam es in diesem Reich sogar in Südgallien und entlang des Rheins, wo sich unter den Römern eine beachtliche Stadtkultur entwickelt hatte, fast zu einem Rückfall in die germanische Bronzezeit. Was es unter den Merowingern allenfalls gab, war eine noch weitgehend aus der germanischen Vorzeit stammende Volkskunst, 17
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das heißt frühere Götter beschwörende Zaubersprüche, melodramatische Chorlieder oder mit Gesang und Lärm verbundene Umzüge, die in den jahreszeitlichen Rhythmus eingebunden waren. Neben diesen Formen eines bäuerlichen Brauchtums entstanden im Zuge der sich allmählich durchsetzenden Feudalisierung, soweit wir wissen, lediglich mündlich vorgetragene Preis- und Heldengesänge, die in ihren machtbetonten Kriegs-, Raub- und Beutemotiven zusehends auf eine Adelsverklärung hinausliefen und neben der überragenden Bedeutsamkeit der heroischen Hauptgestalten vor allem das Ethos der personengebundenen Treue herausstrichen. Dafür spricht etwa die erste Fassung des Nibelungenlieds, in welcher der Kraftmensch Sigfrid an den Merowingerkönig Sigibert (535 – 575) erinnern soll, während von den ihm unterstehenden Franken kaum die Rede ist. Sie sind nur das Gefolge jener Großen, die sich in mythischer Übersteigerung vor allem durch ihre körperliche Stärke auszeichnen, daß heißt nicht für ihr Volk, sondern nur für ihren persönlichen Ruhm, Erfolg und Sieg ins Feld ziehen. Eine erste Wende in dieser Hinsicht setzte in diesem Reich erst unter den im 7. Jahrhundert auf die Merowinger folgenden Karolingern ein, die zwar keine Verbesserungen in der bäuerlichen Lebensweise der Vielen mit sich brachte, aber zu einer allmählichen kulturellen Höherbildung der Wenigen, das heißt des Adels und des Klerus führte. Die Voraussetzung dazu bildete eine verstärkte Zentralisierung der staatlichen Gewalt, welche vor allem von dem seit 768 regierenden Karl dem Großen vorgenommen wurde, der das merowingische Prinzip der willkürlichen Landverteilung in Form großzügiger Schenkungen abschaffte und bestimmte Ländereien an Hochadlige oder Bischöfe nur noch als auf deren Lebenszeit begrenzte Lehen, das heißt als »Beneficiae« vergab, um dadurch diese beiden Schichten stärker an die Krone zu binden. Das Ergebnis dieser Veränderungen auf dem Gebiet der Grundbesitzrechte war ein zugunsten einer dünnen Oberschicht eingeführtes System der Vasallität, das auf eine fortschreitende Feudalisierung des gesamten fränkischen Reichs hinauslief, in dem sich immer mehr pfründegierige Grafen 18
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und Bischöfe um einträgliche Ländereien bewarben. Und das bewirkte einerseits ein gesteigertes Selbstbewußtsein der sich herausbildenden Herrenkaste, die sich nicht nur durch ein repräsentatives Auftreten, sondern auch durch bildungsbetonte Allüren auszuzeichnen versuchte, andererseits eine zunehmende Hörigkeit und zugleich einen merklichen Kulturverlust der ehemals heidnischen Bauernbevölkerung, welche im Zuge der verstärkten Christianisierung ihr älteres germanisches Brauchtum und die damit verbundenen Chorgesänge weitgehend aufgeben mußte. Von seiten der Kirche wurden diese karolingischen Feudalisierungstaktiken vor allem durch eine christliche Unterweisung oder auch gewaltsame Missionierung der noch zum Teil trotzig aufbegehrenden bäuerlichen Schichten, wie etwa der Sachsen, in religiös gebundene, das heißt sich demütig verhaltende Hörige unterstützt. Und zwar bediente sich dabei der Klerus anfangs im Hinblick auf die Christusfigur zum Teil sogar noch germanischer Vorstellungen von Heroenverklärung und Gefolgschaftstreue, ging aber dann immer stärker dazu über, lieber christliche Gehorsams- und Ergebenheitsvorstellungen zu predigen. Als besonders wirksam erwies sich dabei die Beschwörung der Höllenangst sowie eines möglichen Himmelstrostes, um die bis dahin vorwiegend diesseitig empfindende Landbevölkerung auf einen Jenseitsglauben einzustimmen und ihr dadurch die Hoffnung auf eine in ihrem eigenen Leben zu erreichende Sinnstiftung auszutreiben. In ähnlicher Weise, wie sich die ehemals freien Bauern in ihrer wirtschaftlichen Existenz den adligen Grundherren unterwerfen mußten, wurden sie somit vom karolingischen Klerus in ihrer seelischen Verfaßtheit zu unmündigen Laien degradiert, ja man trichterte ihnen sogar ein, daß sie sich gegen Ende ihres von der »Sündhaftigkeit« belasteten Lebens nur durch eine ins Jenseits zielende Gesinnung, das heißt im Gefolge der ihnen von der Kirche suggerierten Tugenden der Demut und Unterwürfigkeit ein über ihr irdisches Dasein hinausreichendes Seelenheil erringen könnten. Daher wissen wir aus diesem Zeitraum kaum etwas vom alltäglichen Leben der damaligen Bauernfamilien. Ihr Dasein erschöpfte sich offenbar weitgehend in der Fronarbeit auf den adligen oder klerikalen grundherrschaftlichen Besitztümern, 19
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wo lange Zeit fast ausschließlich eine krude Naturalienwirtschaft, kurzum: eine sie ausbeutende Abgabepflicht an die Oberen herrschte, während die sozialen Wünsche der Unteren sowie ihr früheres Brauchtum immer stärker unterdrückt wurden. Wesentlich besser sind wir dagegen über die von Karl dem Großen lebhaft geförderte Klosterkultur unterrichtet, wie sie sich in den Abteien St. Gallen, Reichenau, Mondsee, Regensburg und Fulda entfaltete, in denen die ersten größeren Schulanstalten für die Heranbildung des Kloster- und Weltklerus sowie die ersten umfangreichen Bibliotheken handgeschriebener Bücher entstanden. Inmitten einer noch im Fronzustand verharrenden bäuerlichen Umwelt und der erst langsam aus dem Stadium einer archaischen Raubkultur aufsteigenden Adelskaste waren dies die frühesten Zentren einer »kulturellen« Höherentwicklung, die jedoch fast ausschließlich im Dienst der angeblich alleinseligmachenden Kirche standen und unter sogenannter Kultivierung lediglich eine Ausbreitung jener christlichen Dogmen verstanden, denen das Prinzip der fraglosen Unterwerfung den herrschenden Mächten gegenüber zugrunde lag. Die Zahl der Bistümer und Klöster stieg daher im Zuge dieser Funktionalisierung des christlichen Glaubens sprunghaft an, wobei vor allem die Erzbistümer Köln, Mainz, Trier und Salzburg sowie die Bistümer Metz, Lüttich, Straßburg, Worms, Augsburg, Münster und Minden wesentlich zu einer innerlichen Festigung des karolingischen Reichsverbandes beitrugen. Doch auch die am Aachener Hof Karls des Großen angeblich als weltlich geltende Kultur hatte weitgehend die gleiche ideologische Ausrichtung. Der dort erstmals im Jahr 789 zusammenkommende Kreis von Hofbeamten ist früher gern als »Akademie« bezeichnet worden. Doch das erweckt lediglich falsche Assoziationen. Schließlich stand an ihrer Spitze der Angelsachse Alkuin, der sich unter Berufung auf das Motto, daß die »Vox populi« nicht die »Vox Dei« sei, vor allem der Klerikerausbildung widmete und zugleich ein Buch über die heilige und unteilbare Dreifaltigkeit verfaßte. Gut, er setzte sich auch für das Studium der »Septem Artes Liberales« im Sinne antiker Vorstellungen ein. Und es gab neben ihm auch andere Gelehrte, die 20
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Abb. 1 Pfalzkapelle im Dom zu Aachen (um 800)
sich dem Studium antiker Autoren, ja sogar einiger ins Epische tendierender Lieder aus der »barbarischen« Vorzeit der Germanen widmeten. Doch letztlich liefen alle diese Bemühungen darauf hinaus, dem Karolingerreich den Anschein eines sich zwar an die Spätantike anschließenden, jedoch ins Christliche gewendeten Imperiums zu geben, das sich in seiner Verbindung von Thron und Altar als ein theokratisches Herrschaftssystem verstand, in 21
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dem die eigentliche Legitimation der angestrebten Staatsform in seiner angeblichen Gottgewolltheit bestand. Daher war die im Jahr 800 in Rom stattfindende Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. kein rein zeremonieller Vorgang, sondern die bewußte Überhöhung des seit den Merowingern bestehenden fränkischen Königreichs in ein Imperium, das sich neben dem byzantinischen Imperium in Konstantinopel als ein weströmisches Kaiserreich von Gottes Gnaden verstand. Dementsprechend versuchte Carolus Magnus seinem Staat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sowohl religiös als auch kulturell ein betont »römisches« Gepräge zu geben. Hierfür wenigstens einige Beispiele. So ließ er die zwischen 792 und 805 gebaute Pfalzkapelle in Aachen, dem Nova Roma, wie es damals hieß, den ersten gewölbten Steinbau nördlich der Alpen nicht nur nach römischen Mustern errichten, sondern sorgte sogar dafür, daß für die Bogenöffnungen der doppelten Galerien antike Säulen aus Ravenna und Rom herbeigeschafft wurden. Außerdem unterband er eine weitere Barbarisierung der lateinischen Sprache ins Vulgärromanische durch in Klöstern angefertigte Abschriften der römischen Klassiker, bewirkte durch die Einführung der lateinischen Minuskelschreibweise eine grundlegende Schriftreform und setzte im Bereich der Kirchenmusik jenen psalmodierenden Rezitativgesang durch, dessen Ordinarium Missae aus Kyrie, Gloria, Sanctus, Benedictus, Agnus Dei und Credo besteht und unter Berufung auf den im 6. Jahrhundert in Rom amtierenden Papst Gregor I. bis heute als Gregorianik bezeichnet wird. Obendrein bestimmte er, daß sich alle bereits in frühchristlich-merowingischer Zeit sowie die in seiner Regierungsperiode entstandenen Klöster jener monastischen Reformbewegung anschließen mußten, die auf den römischen Ordensgründer Benedictus von Aniane zurückgeht. Später hat man diese Reformbemühungen, denen eine »Admonitio generalis« zugrunde lag, gern als Karolingische Renaissance oder zumindest germanisch-römische Kulturdurchdringung charakterisiert. Doch damit wurde zumeist – mit deutschnationaler Akzentsetzung – die weltliche Komponente der von Karl dem Großen eingeleiteten Bestrebungen bewußt überbetont. 22
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Schließlich war die Trägerschicht, die an dieser höherentwickelten Kultur teilhatte, nämlich die Mitglieder des Aachener Kaiserhofs, der Bischofssitze sowie der Klöster im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert lediglich eine verschwindend kleine Schicht von Gelehrten, Hochadligen, Bischöfen sowie sich durch eine höhere Bildung auszeichnender Äbte und Mönche. Und selbst diesen ging es bei ihren Reformbemühungen nicht in erster Linie um eine höhergeartete, an der Spätantike orientierte Kultur, sondern eher um eine ideologische Rechtfertigung der königlich-kaiserlichen Zentralgewalt sowie eine aristokratische Feudalordnung, die sie mit Hilfe der christlichen Religion durchzusetzen und auszubauen versuchten. Das wahre Machtinstrument war daher in karolingischer Zeit – neben dem relativ isolierten Aachener Hof – das alle Reichsgebiete durchdringende Kirchenwesen, was ein Mitspracherecht der Bauern oder Handwerker, die über 95 Prozent der Gesamtbevölkerung bildeten, von vornherein ausschloß. Wenn deshalb von karolingischer Kultur gesprochen wird, sollte man sich stets bewußt sein, daß damit die Kultur der Wenigen und nicht die Kultur der Vielen oder Allermeisten gemeint ist, die an diesen Reformbestrebungen lediglich in einem höchst oberflächlichen Sinn, das heißt durch einen weitgehend erzwungenen Kirchenbesuch teilhatten. Und dessen war sich Karl der Große sicher bewußt. Was ihn daher zeit seines Lebens am vordringlichsten beschäftigte, war der massive Ausbau einer klerikalen Infrastruktur. Er gründete demzufolge ständig neue Klöster, die er mit reichen Schenkungen ausstattete, und nahm als »Defensor ecclesiae« an den meisten Bischofssynoden selber teil, um so eine Verchristlichung der Gesamtgesellschaft durchzusetzen, in der im Rahmen einer von Gott gewollten Weltordnung sowohl jedem Adligen und Kleriker als auch allen unter ihnen stehenden Bauern der ihnen jeweils gemäße Platz zugewiesen wurde. Aufs große und ganze gesehen, wollte somit Karl der Große ein Reich errichten, in dem das germanische Prinzip des Personenverbands, die »Renovatio« der römisch-antiken Kultur sowie die missionarisch durchgeführte Verchristlichung, kurzum: all jene Vorstellungen, die sich zu Beginn der Völkerwanderung noch feindlich gegenübergestanden hatten, endlich eine 23
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sinnvolle Synthese eingehen würden. Allerdings gelang ihm das nur durch eine gewaltsam durchgeführte Feudalisierung, welche eine religiöse und kulturelle Unmündigkeit sowie eine wirtschaftliche Versklavung der breiten Massen der Bauernbevölkerung zur Voraussetzung hatte. Der von ihm angestrebte Gottesstaat blieb daher – gesellschaftskritisch gesehen – letztlich ein theokratisches Gebilde, in dem sich trotz aller kirchlichen Reformen nicht die Forderungen der urchristlichen Brüderlichkeit, sondern die Machtvorstellungen der Adligen, Bischöfe und Klostervorsteher durchsetzten, die sich gewisse Ausprägungen einer höhergearteten Kultur nur deshalb aneigneten, um sich damit als gotterwählt herausstreichen zu können, während die sogenannten Volksmassen weder etwas von den Segnungen eines sich an das Gebot der Nächstenliebe haltenden Christentums noch von den Vorteilen einer höherentwickelten Kultur zu spüren bekamen.
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Die klerikale und ritterliche Kultur des Hochmittelalters Nach dem Tod Karls des Großen im Jahr 814 kam es in jenem staatlichen Gebilde, das sich immer noch als großfränkisches Sacrum Imperium verstand, zu einer Reihe folgenschwerer innenpolitischer Wirren. Während sich sein Sohn Ludwig zweimal vom Papst zum Kaiser krönen ließ und sich vor allem auf die Machtstellung der Bischöfe zu stützen versuchte, weshalb er den Beinamen »der Fromme« erhielt, strebten dessen Söhne Karl, Lothar und Ludwig, die ihn mehrfach abzusetzen versuchten, eher nach weltlich orientierten Machtbefugnissen, ja sprachen im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Reichs ab 830 sogar erstmals von den »Nationes theotiscae«. Nach Ludwigs Tod im Jahr 840 entschlossen sich daher seine Söhne drei Jahre später im Vertrag zu Verdun, die Herrschaft über diese »Nationes« unter sich aufzuteilen. Karl erhielt den westlichen, Lothar den mittleren und Ludwig den östlichen Teil des ehemals großfränkischen Imperiums, was jedoch keineswegs zu einer Stabilisierung der innenpolitischen Situation der ihnen unterstehenden Reiche beitrug, sondern bis zum Ende des 10. Jahrhunderts zu einer ununterbrochenen Folge von Thronstreitigkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen führte. Im Hinblick auf einen sich allmählich als »deutsch« verstehenden Staat war dabei die 919 erfolgte Wahl des Sachsenherzogs Heinrich zum König der Sachsen und Ostfranken von entscheidender Bedeutung. Erst jetzt wurde für das von ihm beherrschte Gebiet, zu welchem kurz darauf auch Schwaben und Bayern gehörten, erstmals die Bezeichnung »Regnum Teutonicorum« verwandt. Heinrich, der sich von nun an Heinrich I. nannte, versuchte in der Folgezeit, diese Stammesherzogtümer gegen die Einfälle der Slawen und Ungarn vor allem durch den Bau von Wehrburgen und die Aufstellung eines Reiterheers zu verteidigen. Damit gab er diesem Reich einen inneren Zusammenhalt, auf dessen Grundlage sein Sohn Otto I. – nach der Unterdrückung der älteren Unabhängigkeitsbestrebungen der 25
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verschiedenen Stammesherzogtümer, dem endgültigen Sieg über die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955, der Eroberung Norditaliens, der Kriege gegen die Dänen und Slawen, der symbolträchtigen Königskrönung in Aachen sowie der Kaiserkrönung in Rom – jenes mitteleuropäische Imperium Romanum errichten konnte, was ihm den Beinamen »der Große« eintrug und das zugleich zur wichtigsten Voraussetzung des späteren Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation wurde. Nachdem er, sein Sohn und sein Enkel, die sogenannten Ottonen, dieses Reich über ein Jahrhundert regiert hatten, herrschten ab 1024 die fränkischen Salier, und zwar abermals 100 Jahre lang, als Kaiser und Könige in diesem Land. Obwohl sie sich, vor allem unter Heinrich IV ., höchst energisch mit dem steigenden Herrschaftsanspruch der römischen Päpste auseinandersetzen mußten, blieb auch während ihrer Regierungszeit, wie schon unter Karl dem Großen und dann den sächsischen Ottonen, die Vorstellung, daß das Imperium Romanum ein »Gottesstaat« sei, weitgehend erhalten. Das gleiche gilt selbst noch für die auf sie folgenden Kaiser aus dem schwäbischen Geschlecht der Hohenstaufer, die von 1138 bis 1254 die Regierungsgewalt innehatten und unter denen es in diesem Reich zu einer relativen innenpolitischen Stabilität und zugleich zu einem kulturellen Aufschwung kam, der von späteren Historikern gern als die »Staufische Klassik« charakterisiert worden ist. Trotz mancher innenpolitischer Machtverschiebungen blieb die soziale Grundlage des von diesen drei Herrscherhäusern regierten Reichs weitgehend die gleiche und begann sich erst im frühen 13. Jahrhundert, also gegen Ende der Stauferzeit, durch die Gründung bzw. allmähliche Vergrößerung einiger Städte leicht zu verändern. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in diesem Reich, wie schon zur Zeit der Karolinger, Ottonen und Salier, lediglich drei Bevölkerungsgruppen: den Adel, den Klerus und die Bauern. Im Sinne der inzwischen als unumstößlich geltenden Feudalordnung wurden diesen drei Ständen folgende Aufgaben zuerteilt: dem Kaiser und den adligen Grundherren »tu protege« (»du beschütze«), dem Klerus »tu supplex ora« (»du bete demütig«) und den Bauern »tuque labora« (»und du arbeite«). Mit solchen 26
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Abb. 2 Otto III., Huldigungsbild: Der Kaiser thronend zwischen geistlichen und weltlichen Standesvertretern (980 – 1002)
Sprüchen versuchten die Herrschenden den ihnen Untergebenen einzureden, in einer gottgewollten Gesellschaftsordnung zu leben, in der sich die Oberschicht vor allem um den Schutz der Bauernbevölkerung vor räuberischen Übergriffen sowie um ihr Seelenheil bekümmere. Wie wir wissen, war in den real existierenden Verhältnissen genau das Gegenteil der Fall. Ob nun der Adel oder der Klerus, beide wuchsen in diesem Zeitraum zu einer mächtig auftrumpfenden Herrenschicht heran, der es vornehmlich um die Stärkung und Erweiterung ihres Grundbesitzes sowie die zunehmende Versklavung 27
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der ihnen dienenden Fronbauern ging. Besonders das frühe Mittelalter war noch eine geld- und verkehrslose Ära, in der die Grundbesitzer, das heißt die in Burgen residierenden Grafen und andere Adlige sowie die Bischöfe und Mönche ausschließlich von der Abgabepflicht der in den Stand von Leibeigenen abgesunkenen bäuerlichen Unterschichten lebten, denen für ihren Eigenbedarf meist nur ein Drittel ihrer Ernteeinträge blieb. Einmal etwas vereinfacht betrachtet, sah darum im frühen Mittelalter die Bevölkerungseinteilung im damaligen Reichsgebiet, in dem etwa acht bis neun Millionen Menschen lebten, folgendermaßen aus: Der Klerus umfaßte rund vier Prozent und der Adel ein Prozent der Bevölkerung, während in den Dörfern, und zwar weitgehend als sogenannte Hörige, die restlichen 95 Prozent der Menschen ihr Dasein fristeten. Leichte Verschiebungen innerhalb dieser Verhältnisse traten erst im 11. Jahrhundert ein, als sowohl die Zahl der Kleriker als auch die Adelsschicht leicht zunahm. Das hing einerseits mit der Gründung neuer Klöster, andererseits mit der Entstehung jener Ministerialenschicht zusammen, die sich als Ritter oder Dienstmannen, das heißt als Berufskrieger in den Dienst der um die Verteidigung ihrer Besitztümer besorgten Großadligen stellten und von diesen dafür mit der Vergabe kleinerer Lehen ausgezeichnet wurden. Schließlich war trotz aller Verchristlichung in den Augen des Adels die Waffengewalt noch immer das letztlich entscheidende Argument. Und auch die Bischöfe zogen solche Ministerialen immer stärker zu Schutz- und Verwaltungsdiensten heran, was zu einer merklichen Zunahme von halbadligen Rittern, Verwaltern und Fronvögten führte. Daraus ergab sich allmählich eine unübersehbare Vermischung des älteren Großadels mit dem neuentstehenden Dienstadel, so daß aus einem Berufsstand schließlich ein Geburtsstand wurde, dem fast drei Viertel der hochmittelalterlichen Ritterschicht, des »Ordo equestris«, angehörte und der schließlich unter den Staufern zur Hauptstütze der kaiserlichen Politik in den Auseinandersetzungen mit den Autonomiebestrebungen gewisser Herzöge wurde. Die Entwicklung der Klerikerschicht verlief dagegen in diesen drei Jahrhunderten wesentlich spannungsreicher. Hin- und hergerissen zwischen 28
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einer grundherrschaftlichen Besitzideologie und einem christlichen Bruderschaftsdenken unterstützten die meisten Bischöfe und Klosteräbte in den jeweiligen Konflikten zwischen den Päpsten und den Kaisern, die vor allem in der Regierungszeit der Salier höchst militante Formen annahmen, jeweils die für sie vorteilhaftesten geistlichen oder weltlichen Machtinhaber. Trotz aller Lippenbekenntnisse, zu den »Pauperes Christi« zu gehören, hielt auch diese Schicht nach wie vor an ihren feudalistischen Grundanschauungen fest. Selbst sie pochte daher in aller Entschiedenheit auf die ihnen verliehenen Grundbesitzrechte und zögerte nicht, die ihnen hörigen Bauern nach wie vor aufs schamloseste auszubeuten. Sogar verschiedene religiöse Reformbewegungen innerhalb des Kirchenwesens hatten demzufolge auf die Hauptträger der kirchlichen Verwaltungsorgane keinen durchgreifenden Einfluß. Das gilt selbst für die in Frankreich entstandene und im 11. Jahrhundert auf das Imperium Romanum übergreifende cluniazensische Reform, die auf eine strengere Beachtung der Benediktinerregeln sowie eine größere Frömmigkeit der Mönche drang. Genauer besehen, führte sie in vielen Fällen lediglich zu einer verstärkten Subordination des niederen Klerus unter die geistlichen Oberherren. Auch die darauffolgenden religiösen Reformbestrebungen innerhalb der Zisterzienser- und Prämonstratenserorden, die sich ebenfalls zu einer größeren Frömmigkeit, ja sogar zu grundsätzlichen Armutskonzepten bekannten, änderten an den kirchlichen Verhältnissen nicht viel, da sie sich ebenfalls auf die ihnen verliehenen Grundbesitzverhältnisse stützten und somit keine Änderung an der fortbestehenden Hörigkeit der Bauern bewirkten. Die klerikalen Schriften dieser Ära, soweit sie überliefert sind, enthalten daher kaum oder keine gegen die totale Feudalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufbegehrenden Züge. Im Gegenteil, in ihnen herrscht weitgehend jene bewußt ideologisierte Büßermentalität, mit der die Geistlichkeit innerhalb der angeblich vom Teufel regierten Welt der überwältigenden Mehrheit der niederen Bevölkerungsschichten unentwegt ihre Sündhaftigkeit vor Augen zu führen versuchte, um sie von einer möglichen Verbesserung ihrer existentiellen Lage abzulenken. Weiteste Kreise, vor allem die kleinen 29
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Handwerker und Fronbauern waren darum ständig um ihr persönliches Seelenheil besorgt. Immer wieder wies sie der mittelalterliche Klerus auf den gnadenlosen Gegensatz von Diesseits und Jenseits, von Weltlichkeit und Göttlichkeit hin, dem der einzelne Mensch nur durch ein der Kirche wohlgefälliges Leben, also durch seinen Labora-Gehorsam, entrinnen könne, um beim Jüngsten Gericht nicht von den Teufeln gepackt zu werden, sondern sich unter die Seligen einreihen zu dürfen. Ja, die Ärmsten, wie es unter Berufung auf Jesus Christus gern ideologisch verschleiernd hieß, hätten, falls sie sich mit ihrer Lage abfänden, fast die größte Chance, nach ihrem Tode ins Paradies zu kommen. Für diese bewußte Feudalisierung der christlichen Heilslehre sprechen in diesem Zeitraum vor allem die weitverbreiteten Memento-mori-Schriften und Heiligenlegenden, die neben der furchteinflößenden Darstellung höllischer Qualen zugleich höchst verlockende Schilderungen himmlischer Wonnen enthielten, um bei den davon Beeinflußten nur ja keine Hoffnung aufkommen zu lassen, schon hier auf Erden ein glückverheißendes Leben führen zu können. Da rund 95 Prozent der damaligen Bevölkerung noch Analphabeten waren, versuchte der Klerus diese Gesinnung den als niedrig geltenden Bauern vor allem durch furchteinflößende Sermone sowie kirchliche Wandmalereien und Statuen nahezubringen. Wer also im Hinblick auf das Zeitalter der Ottonen und Salier, also das 10. und 11. Jahrhundert, eine höhergeartete Kunst und Kultur der Wenigen für die Vielen nachzuzeichnen versucht, muß sich notwendig an derartige Manifestationen halten. Dabei gilt es zwei Entwicklungsstränge im Auge zu behalten. Während in dieser Ära die deutschsprachige Literatur fast völlig verstummte und auch der gregorianische Kirchengesang lange Zeit an der seit karolingischer Zeit herrschenden psalmodierenden Einstimmigkeit festhielt und erst allmählich auch differenziertere Tropen, Antiphone und Sequenzen zuließ, kam es dagegen bereits in frühmittelalterlicher Zeit im Bereich der Architektur, Skulptur und Freskenmalerei zu einer künstlerischen Höherentwicklung, die all das, was in karolingischer Zeit entstanden war, weitgehend in den Schatten stellte. 30
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Abb. 3 Maiestas Domini, Kölner Sakramentar (um 1070)
Wie zu erwarten, waren die Stifter dieser frühmittelalterlichen Bauwerke und ihrer bildkünstlerischen Ausschmückung fast ausschließlich hochstehende Kleriker. Nicht die Kaiser und Könige, sondern die Erzbischöfe und Bischöfe ließen im 11. Jahrhundert eine Reihe gewaltiger Dome in Mainz, 31
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Speyer und Worms in jenem Basilikastil errichten, den sie als »römisch« empfanden, woraus später die Bezeichnung »Romanik« abgeleitet wurde. Und zwar erfolgte der Bau dieser Kirchen stets in Form einer handwerklichen Gruppenarbeit, bei der bestimmte Werk- oder Baumeister die Gesamtleitung übernahmen und sich die lokalen Handwerker zu sogenannten Bauhütten zusammenschlossen. Von künstlerischen Einzelleistungen war dabei noch nicht die Rede. Alle an diesen Bauten Arbeitenden empfanden sich noch als Handwerker im Dienst jener auftragserteilenden klerikalen Elite, die in diesen riesigen Bischofsdomen Demonstrationsobjekte der ihnen von Gott und den jeweils regierenden Kaisern verliehenen Machtfülle sah, mit denen sie die Volksmassen in eine ihnen unterwürfige Haltung versetzen wollte. Was daher in den Bildprogrammen dieser Dome oder anderer in diesem Zeitraum entstehender romanischen Kirchen von dieser kulturideologisch dominierenden Trägerschicht besonders betont wurde, war Folgendes. Einerseits versuchte man die sogenannten einfachen Menschen, die man mit Memento-mori-Parolen seelisch verunsichert hatte, durch die an den Kapitellen, Archivolten und Portalbogenfeldern angebrachten Darstellungen wilder Tiere und teuflischer Unwesen in Furcht und Schrecken zu versetzen, andererseits gab man ihnen die Möglichkeit, durch Heiligenbilder sowie die Aufstellung wunderwirkender Reliquien auf eine nach ihrem Ableben erfolgende Erlösung aus ihrer sozioökonomischen Misere zu hoffen. Außerdem thronte in der Apsis oder im Bogenfeld der Portale, wie auch in vielen mit Bildern versehenen Sakramentaren dieser Ära, häufig ein zum Gott erhobener Christus, und zwar in der blockhaften Strenge eines das gesamte Universum beherrschenden Weltenrichters oder eines selbst den Kreuzestod überwindenden Triumphators, der alle ihn ins Diesseits verstrickenden Fesseln abgeworfen hat. Denselben feierlichen Kultcharakter wiesen viele der hierarchisch erstarrten Statuen an den Portalen oder Chorschranken dieser Dome, Münster und Abteikirchen auf. Auch sie sollten in ihrer gewaltsam vereinfachten Archaik jenes Machtbewußtsein der kirchlichen Autorität verkörpern, das keinen Widerspruch duldete und letztlich nur Herrschende und Unterworfene kannte. 32
Die klerikale und ritterliche Kultur des Hochmittelalters
Fast das gleiche gilt für alle kulturellen Ausprägungen, die sich in jenen Klöstern entwickelten, die bereits seit karolingischer Zeit bestanden oder in diesem Zeitraum gegründet wurden. Obwohl es in ihnen auch um die Tugenden der Armut, der Mildtätigkeit und der Krankenpflege ging, herrschte hier zum größten Teil dieselbe Jenseitsorientierung. Ihre Bewohner verzichteten nicht nur auf ihren eigenen Namen und befolgten die ihnen auferlegten Zölibatsregeln, sondern lebten obendrein im Zustand völliger Besitzlosigkeit, ja nahmen in Befolgung der benediktinischen Maxime »ora et labora« sogar zum Teil schwere körperliche Arbeiten auf sich. Allerdings gab es in manchen dieser Klöster auch Werkstätten und Schreibstuben, in denen die dort Tätigen sowohl kunsthandwerkliche Fähigkeiten als auch geistliche Formen der Gelehrsamkeit entwickelten, die im Laufe der Zeit durchaus höhergeartete Ausprägungen annahmen. Das belegen nicht nur die unzähligen höchst kunstvoll verzierten Schreine, Monstranzen, Reliquiare, Abendmahlskelche, Taufbecken und Türbeschläge in den Kirchen dieser Ära, sondern auch die vielen von mönchischen Kopisten und Illuminatoren angefertigten Abschriften geistlicher Texte sowie kostbarer Evangeliare, Missale und Perikopenbücher, deren Einbanddeckel zum Teil mit Edelsteinen und Elfenbeintäfelchen verziert wurden, welche entweder für den örtlichen Gottesdienst bestimmt waren oder den jeweiligen Königen, Königinnen, Herzögen, Herzoginnen, Bischöfen oder Äbten und Äbtissinnen als Devotionalien überreicht wurden, von denen sich die verschiedenen Klöster sowohl die nötige Schutzherrschaft als auch gebietserweiternde Schenkungen versprachen. Trotz aller scheinbaren Weltabgewandtheit, die in diesen Klöstern herrschte, überwog daher auch in diesen Institutionen des »heiligen Geistes« letztlich eine Gesinnung, die im Sinne der Gleichsetzung von »Regnum« und »Sacerdotium« zwischen weltlichen und geistlichen Machtbefugnissen noch keinen grundsätzlichen Unterschied machte. Schließlich blieben in damaliger Zeit auch im Rahmen des Kirchenwesens die entscheidenden Hoheitsrechte noch den hochadligen Bischöfen und Äbten vorbehalten, deren innenpolitische und ökonomische Interessen sich von denen der weltlichen Machtträger 33
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kaum unterschieden. Gesellschaftskritisch betrachtet, läßt sich daher nicht leugnen, daß sich auch die Bischöfe und Äbte der Masse der nach wie vor in halbbarbarischen Zuständen lebenden Fronbauern und Hintersassen gegenüber genauso ausbeuterisch verhielten wie die weltlichen Machthaber. Selbst die von Cluny ausgehende Reformbewegung, die in manchem durchaus »demokratisierende« Züge hatte, änderte daran, wie gesagt, nicht viel. Deshalb nimmt es nicht wunder, daß in den über 300 Klöstern, die damals existierten, bis weit ins 11. Jahrhundert hinein sowohl ideologisch als auch kulturell eine Gesinnung herrschte, die sich von den feudalistischen Machtansprüchen des weltlichen Adels zwar in ihren geistlichen Ausdrucksformen, aber nicht in ihrer ideologischen Ausrichtung unterschied. So viel zu der oft beschworenen »Kultur« der Ottonen- und Salierzeit, die fast ausschließlich eine religiöse war, während die Könige, die Herzöge und der Hochadel, geschweige denn die breiten Bevölkerungsmassen der Bauern daran keinen mitbeeinflussenden Anteil hatten. Ein allmählicher Wandel in dieser Hinsicht setzte erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts unter den Stauferkaisern ein. Und zwar lagen dem folgende sozioökonomische Prozesse zugrunde, die zu einer nicht zu übersehenden Ausdifferenzierung der bis dahin bestehenden Bevölkerungsstruktur führten. Während es zuvor lediglich die wenigen Hochadligen und Kleriker sowie die Unmasse der Fronbauern gegeben hatte, die zwar auch weiterhin die Hauptvertreter der sich im Frühmittelalter herausgebildeten Gesellschaftspyramide ausmachten, kam es jetzt im Zuge einer merklichen Bevölkerungsvermehrung zur Entstehung sowohl adliger Hofhaltungen als auch kleinerer Städte, deren in die Oberschichten aufsteigende Bewohner sich nicht mehr als Teil der älteren Ständeordnung, sondern als im Dienst des Hochadels stehende Ministerialen oder als »Burgaere« verstanden. Das gilt vor allem für jene Herzogs- oder Markgrafenhöfe, welche über ein ritterliches Gefolge und eine ihnen verpflichtete Handwerkerschicht verfügten, sowie für jene entlang des Rheins und in Süddeutschland entstehenden städtischen Siedlungen, die zwar ebenfalls meist von Bischöfen oder Burggrafen regiert wurden, in denen jedoch den bürgerlichen 34
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»Cives« im Laufe der Zeit immer mehr Rechte in der Stadtverwaltung eingeräumt wurden. Eine wichtige Rolle bei dieser Auflockerung des bisherigen Lehns- und Ordosystems spielte dabei in den Städten die kleine Gruppe jener Familien, die als vermögende Fernhandelselite innerhalb dieser Schichten das zusehends selbstbewußter auftretende Patriziat bildete und zum Teil in den gesellschaftlichen Rang der in der städtischen Verwaltung tätigen Ministerialen aufstieg. Da jedoch ihr Hauptbestreben vornehmlich darin bestand, den Adel und den hochstehenden Klerus mit den von ihnen erwünschten Luxusgütern zu versorgen, spielte sie anfangs bei der Herausbildung einer spezifisch »bürgerlichen« Kultur noch keine entscheidende Rolle. Umso stärker bemühten sich dagegen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einige der immer zahlreicher werdenden ministerialen Kleinritter, die kurz zuvor irgendwelchen säkularen Bildungsbestrebungen noch relativ teilnahmslos gegenübergestanden hatten, eine ihren gesellschaftslichen Aufstiegsbemühungen entsprechende Kultur zu entwickeln, die sich deutlich von den klerikalen Kunstbemühungen der romanischen Ära unter den Ottonen- und Salierkaisern abzusetzen versuchte. Allerdings gilt dies nur für eine geradezu verschwindend kleine Minderheit jener bis dahin als »Miles« geltenden Untergebenen des Hochadels, die jetzt ebenfalls zu hoffähigen Mitgliedern der Oberklasse aufstiegen und dabei deren feudalistische Herrschaftsideologie übernahmen. Die meisten Vertreter dieser gesellschaftlich aufsteigenden Ritter verschanzten sich damals noch in hunderten von Burgen, in denen sie sich von der Masse der ihnen hörigen Fronbauern abkapselten und sich damit als eine weitere Stütze der seit der Karolingerzeit gewaltsam durchgeführten Feudalisierung erwiesen. Doch wie gesagt, es gab auch einige, die unter ihrem Rittertum nicht nur eine gesellschaftlich gehobene Stellung verstanden und selbst vor kleineren Räubereien oder blutigen Fehden keineswegs zurückschreckten, sondern die ihrem neuen Standesbewußtsein auch einen literarischen Ausdruck zu verleihen suchten. Da es dafür in den deutschsprachigen Gebieten kaum Vorbilder gab, hielten sie sich hierbei in ihren Minneliedern und heroisch 35
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gestimmten Epen weitgehend an jene Dichtungen, welche sich in der bereits wesentlich höherstehenden englisch-normannischen oder französisch-provenzalischen Ritterkultur herausgebildet hatten. Und zwar wandten sich diese Dichter in ihren diesbezüglichen Werken hierbei weitgehend gegen die bis dahin herrschende Adelsanarchie, in der vornehmlich jene Ritter das Sagen hatten, die trotz der allerorten verkündeten christlichen Tugend der Gewaltlosigkeit sowie der stets aufs neue ausgerufenen »Pax Dei«, also eines Gotteswaffenstillstands, nicht davor zurückgeschreckt waren, sich untereinander aufs grausamste zu bekämpfen und die ihnen hörigen Fronbauern bis aufs Hemd auszubeuten. Es waren daher nicht die reichen, das heißt grundbesitzenden, sondern eher die armen Ritter, die sich in diesem Zeitraum als Dichter aufspielten und sich ihre Sprachkunst im Umgang mit gebildeten Klerikern oder dem neuen Stand der Stadtschreiber angeeignet hatten. Viele Vertreter dieser neuen kulturellen Trägerschicht besaßen nicht einmal ein kleines Lehen, sondern versuchten sich als fahrende Sänger durchzuschlagen, indem sie von Burg zu Burg zogen oder sich bemühten, bei einem der auf kulturelle Repräsentation bedachten Herzöge oder Markgrafen als Hofdichter unterzukommen. Jedenfalls war ihre soziale Stellung in den meisten Fällen durchaus prekär, weshalb sie sich in ihren Dichtungen – trotz ihres ritterlichen Standesbewußtseins – häufig um die Gunst irgendwelcher Herren oder Damen des Hochadels bewarben, von denen sie sich bestimmte Gnadenbeweise oder auch Schenkungen versprachen. Eine zentrale Rolle spielten dabei unter anderem der Hof der Babenberger in Wien, die Stadtresidenzen der Wittelsbacher in München und Landshut, der Hof der Markgrafen in Meißen, der Hof der askanischen Herzöge sowie der häufig erwähnte Hof der Thüringer in Eisenach, wo späteren Chroniken zufolge im Jahr 1205 sogar auf der Wartburg ein Sängerwettstreit ritterlicher Dichter stattgefunden haben soll. Seinen oft beschworenen Höhepunkt erlebte diese spezifisch ritterliche Kultur 1184 auf dem von Kaiser Barbarossa veranstalteten Mainzer Hoffest, an dem nicht nur fast der gesamte Hochadel sowie 40.000 deutsche, französische, englische, italienische und spanische 36
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Ritter teilnahmen und sich in prunkvoll ausgestatteten Turnieren als wehrbereite Mannen auszuzeichnen versuchten, sondern sich auch eine Reihe von Dichtern und Spielleuten mit ihren Spruchgesängen zu einer chevaleresken bzw. seigneuralen Gesinnung bekannten, um damit ihr deutlich gestiegenes Standesbewußtsein zum Ausdruck zu bringen. Statt die ältere Rauflust, wenn nicht gar die vielfach verübten Ausraubungen, Niederbrennungen oder gewaltsamen Totschlägereien, kurzum: die rücksichtslose Unterdrückung der Vielen durch die Wenigen zu verherrlichen, beschworen sie in ihren Dichtungen und Gesängen, ob nun in bewußter oder unbewußter Beschönigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, vornehmlich ritterliche Tugenden wie »ere« und »hohen muot« sowie die Schönheit der adligen Damen, den Reichtum der herrschaftlichen Burgen, die silberglänzenden Rüstungen sowie das kostbare Sattelzeug der Pferde, während sie das Los der zu mühseliger Fronarbeit verurteilten Bauern oder die kümmerlichen Lebensverhältnisse der kleinen Handwerker lieber verschwiegen. Dieselbe Haltung liegt den gleichzeitig oder kurz darauf entstandenen Minneliedern sowie ritterlichen Epen dieser Ära zugrunde. Auch in ihnen ist nur von den Wenigen und nicht von den Vielen oder Allermeisten die Rede. Wenden wir uns zuerst dem Minnesang zu. Wie bekannt, handelt es sich in den ritualisierten Spruchgesängen dieser Art, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Anlehnung an die Gedichte der französischen Troubadours bzw. Trouvères entstanden, inhaltlich meist um die galant werbende Haltung eines Ritters einer gesellschaftlich höhergestellten Dame gegenüber. Daß sich diese Gedichte schon aufgrund der deutlich betonten Rangunterschiede nur in den seltensten Fällen als biographische »Erlebnislyrik« bezeichnen lassen, dürfte nach dem Vorhergesagten einleuchtend sein. Fast alle diese Lieder sind sogenannte Rollengedichte, in denen es im Sinne der höfischen Lebensweise um »Liebesdienste«, das heißt um den Lobpreis einer unerreichbaren Herrin geht. Die hochadlige und zugleich verheiratete Dame dieser Gedichte hat häufig nur die Funktion einer Erzieherin der sich um ihre Gunst bewerbenden Ritter, indem sie durch ihre höfisch-erhabene Unnahbarkeit die ehemals ungeschlachten Raufbolde und 37
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Draufgänger dazu anleitet, sich den verfeinerten Umgangsformen der hochadligen Gesellschaft anzupassen. In besonders »edelen« Varianten erinnern daher diese Gedichte fast an die gleichzeitig entstandenen Marienlieder oder die mystisch gestimmten Sequenzen jener Nonnen, die sich zu einer hochstilisierten Form der Jesusminne durchzuringen versuchten. Gesellschaftskritisch betrachtet, liegt auch den ritterlichen Epen der Zeit um 1200 die gleiche Tendenz ins Höfische zugrunde. Trotz ihrer eher »realistischen«, ja teilweise sogar ins Unterhaltsam-Abenteuerliche ausschweifenden Darstellungsweise wandten sich selbst sie – schon wegen ihrer handschriftlich verfaßten Form – nur an die Wenigen und nicht an die Vielen. Wie der Minnesang zielten auch diese zum Teil rhapsodisch vorgetragenen Werke durchaus ins Höhere, indem sie in ihrer Stoffwahl irgendwelchen Gegenwartsbezügen stets aus dem Wege gingen und wiederum in Nachahmung französischer Dichter lieber Themen der germanischen Heldensagen, der Trojanererzählungen oder inselkeltischen Geschichten des Artuskreises aufgriffen. Von irgendwelchen Bauern oder Städtern ist daher in ihnen nirgendwo die Rede. Immer wieder begegnen wir nur in Aventiuren verstrickten Rittern, die sich sowohl im Minnedienst als auch in Turnieren oder Heldentaten als höfisch-galant und zugleich mutig erweisen, um so dem Ritterstand ein geradezu hochadliges Ansehen zu verleihen. Das gilt besonders für die Epen aus dem Umkreis der Artusrunde, deren Protagonisten von ihrem König fast wie gesellschaftlich Gleichgestellte behandelt werden, zumal sie ihre lobenswerten Taten selten im Dienst eines alle anderen überragenden Herrschers, sondern meist im Eigeninteresse, kurzum: zur Steigerung ihres Selbstbewußtseins vollbringen. Ja, in einem dieser Epen, dem Parzival (um 1200) von Wolfram von Eschenbach, steigt einer dieser Ritter nach kämpferischer Bewährung und zugleich christlicher Läuterung sogar zum Gralskönig auf, was fast wie eine mittelalterliche Synthese von »Regnum« und »Sacerdotium« wirkt. Doch mit dieser höheren Weihe war zugleich der Endpunkt jener feudalaristokratischen Gesinnung des Hochmittelalters erreicht, die unter den Stauferkaisern ihre letzte Bekrönung erlebte. Nach dem im Jahr 1254 38
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Abb. 4 Alram von Gresten, Codex Manesse (um 1300)
erfolgten Tod Konrad IV., des letzten Herrschers aus diesem Geschlecht, kam es für zwei Jahrzehnte zu jenem Interregnum, jener »kaiserlosen, schrecklichen Zeit«, in der nicht nur verschiedene Territorialfürsten größere Machtbefugnisse an sich rissen und als Kurfürsten zugleich das Recht 39
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beanspruchten, die darauffolgenden Könige selbst zu wählen, sondern sich auch die zu freien Reichsstädten aufgestiegenen burgartigen Ansiedlungen des 12. Jahrhunderts zu einflußreichen, weil finanzstarken Städtebünden wie der 1260 gegründeten Hanse zusammenschlossen, wodurch sich das gesamte deutsche Reichsgebiet zusehends in eine Fülle widerstreitender Machtkomplexe aufzulösen begann. Und all das hatte auch kulturell gravierende Folgen. Zwar wurden in diesen Jahrzehnten noch einige der romanischen Dome und Kirchen fertiggestellt, aber in ihnen traten an die Stelle furchteinflößender teuflischer Unwesen sowie überweltlich wirkender Pankratorfiguren zusehends Standbilder territorialer Herrschergestalten wie der berühmter Bamberger Reiter oder die ebenso bekannten Skulpturen im Naumburger Dom (um 1260), während sich in vielen Städten beim Bau neuer Kirchen bereits ein frühgotischer Stil durchzusetzen begann, der trotz seiner geistlichen Funktionsbestimmung in seiner architektonischen und figuralen Ausstattung allmählich ins Handwerklich-Bürgerliche tendierte. Ebenso deutlich, ja fast noch deutlicher läßt sich im gleichen Zeitraum dieser kulturelle Wandlungsprozeß im Bereich der Literatur verfolgen. Da die gesellschaftliche Bedeutung des Ritterstandes im Laufe des 13. Jahrhunderts zusehends zurückging, büßten sowohl der Minnesang als auch die heroischen Epen ihre bisherige Wertschätzung allmählich ein. Dafür spricht bereits, daß Rudolf von Ems in seinem Versepos Der guote Gerhard (um 1230) nicht mehr den Lebenslauf eines kühnen Ritters, sondern den eines sich zwar bereichernden, wenn auch immer noch von adliger Gesinnung durchdrungenen Kölner Fernhandelskaufmanns nacherzählte. Andere Autoren wie Freidank oder der Stricker, nun schon aus dem Bürgertum stammende Dichter, gingen dagegen in der Folgezeit dazu über, lieber Spruchsammlungen, Schwänke oder volkstümliche Erzählungen zu verfassen, in denen sie trotz mancher lehrhafter Ermahnungen auch das Unterhaltsame nicht aus dem Auge verloren, um so auch die gesellschaftlich unter den Rittern und Patrizierschichten stehenden städtischen Bevölkerungsschichten anzusprechen. 40
Die klerikale und ritterliche Kultur des Hochmittelalters
Abb. 5 Anonym: Bauern (um 1450)
Die gleiche Entwicklung vollzog sich innerhalb der Liedkunst. Auch hier lassen sich im Laufe des 13. Jahrhunderts eine deutliche Abkehr von dem ins Höfische stilisierten Minnesang sowie eine ebenso deutliche Zuwendung zu bisher von den ritterlichen Dichtern als niedrig oder plump sowie von den Geistlichen als unzüchtig oder gar teuflisch geltenden volkstümlichen Weisen beobachten. Vorgetragen wurden diese Lieder meist von fahrenden Spielleuten, die nicht nur sangen, sondern ihren Vortrag auch mit Drehleiern, Maultrommeln oder Flöten begleiteten. Was dagegen die Vielen, die Bauern oder das städtische Gesinde, in diesem Zeitraum sangen, ist weitgehend unbekannt. Etwas besser sind wir lediglich mit jener sogenannten Vagantenlyrik vertraut, als deren bekannteste Sammlung die Carmina burana aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gelten. Allerdings handelt es sich hierbei durchgehend um auf mittellateinisch verfaßte Gedichte, also lediglich Werke der Wenigen, deren Texte höchstwahrscheinlich von entlaufenen Klosterbrüdern oder verbummelten Studenten verfaßt wurden. Neben drastischen Liebesgedichten und Trinkliedern findet sich in ihnen – unter dem 41
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Motto »Versus nobilis non nascitur, sed fit« (»Der wahre Adlige wird nicht geboren, sondern wird«), welches bereits auf den Humanismus des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts vorausweist – auch manches Zeitkritische, das sich nicht nur gegen den Hochadel und die großbürgerlichen Wucherer, sondern auch gegen die Päpste und Kardinäle wandte. Kein Wunder daher, daß manche Vertreter der Kirche diese Art von Sängern als »Ministri Satanae«, also Teufelsanhänger verfolgten. Und so blieben sowohl die eher volkstümlichen Spielleute als auch die Sänger der Carmina burana, die im Sinne des sogenannten Parodieverfahrens ihren Liedern meist die Melodien geistlicher Gesänge zugrunde legten, weitgehend am Rande der Gesellschaft, ohne einen kulturstiftenden Einfluß auf die breiten Volksmassen zu haben. Daß auch die Vielen, das heißt die kleinbürgerlichen Handwerker und vor allem die weiterhin in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Bauern außerhalb der Kirchen mit höheren Formen von Kultur in Berührung kamen, dazu bedurfte es erst jener sozioökonomischen Veränderungen und der damit verbundenen gesellschaftlichen Aufbruchsstimmungen, die sich im Laufe des 15. Jahrhunderts entfalteten, als sich das mittelalterliche Sacrum Imperium Romanum endgültig in ein ständisch höchst kompliziertes Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation wandelte, in dem es nicht nur zu einer Vielzahl von Ideologien, sondern auch zu einer Vielzahl von Kulturen kam.
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Innenpolitische, sozioökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse im 15. Jahrhundert Wie viele Sozialhistoriker bereits dargestellt haben, vollzog sich die Auflösung oder eher Auflockerung der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung erstaunlich langsam. Trotz aller innenpolitischer Wirren, die nach dem Ende der Stauferzeit in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzten, erwies sich das seit den Karolingern bestehende Feudalsystem, welches besonders der Bauernbevölkerung strenge Fesseln auferlegte, als äußerst zäh. Daß es dennoch im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte zu vorher ungeahnten Wandlungen kam, geht vor allem auf folgende Ursachen zurück, welche diesen Prozeß in Gang setzten: das steigende Autonomiebestreben der seit dem sogenannten Interregnum, der »schrecklichen kaiserlosen Zeit« zwischen 1256 und 1273, immer machtbewußter auftretenden Territorialfürsten, die sich bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts untereinander aufs heftigste befehdeten, sowie die sprunghafte Bevölkerungsvermehrung von etwa 5 bis 6 Millionen im 10. Jahrhundert auf rund 13 Millionen zu Beginn des 14. Jahrhunderts. All das führte zu folgenden gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Während in der Stauferzeit noch der Kaiser und die landbesitzenden Ritter die bedeutsamsten Repräsentanten der staatlichen Gewalt waren, setzten sich danach die verschiedenen Herzöge und Grafen zusehends als die politisch wichtigsten Machtträger durch, was zu einer Schwächung der kaiserlichen Zentralgewalt und zugleich zum gesellschaftlichen Bedeutungsverlust all jener Ritter führte, die für kurze Zeit angenommen hatten, eine politisch mitbestimmende Rolle zu spielen, und jetzt entweder verarmten oder versuchten, als »Höflinge« in den Verwaltungsorganen der immer mächtiger werdenden Landesfürsten ein Unterkommen zu finden. Dadurch gliederten sie sich zwar in die neu entstehende Gesellschaftspyramide ein, verloren aber zusehends an politischer und kultureller Bedeutung. Die sich rasch vermehrenden bäuerlichen Bevölkerungsschichten zogen dagegen aus diesen Wandlungsprozessen folgende Konsequenzen: entweder 43
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versuchten sie durch Rodungen größerer Waldgebiete ihre Anbauflächen zu erweitern, nahmen an der sogenannten Ostkolonisierung, das heißt der Ausrottung oder Vertreibung der Slawen zwischen Elbe und Oder teil, wo sie jedoch ebenfalls in eine neue Hörigkeit gerieten, oder ließen sich durch das Versprechen »Stadtluft macht frei« verführen, sich in einer der kleineren städtischen Ansiedlungen niederzulassen, von denen es im 11. Jahrhundert etwa 145 gab, deren Zahl jedoch schnell anstieg, so daß im Jahr 1400 bereits 3000 solcher Ansiedlungen existierten, die sich als Städte ausgaben. Allerdings waren die meisten dieser Städte – jedenfalls im Vergleich zu später – noch verschwindend klein. Lediglich Köln, Prag und Lübeck hatten im 14. Jahrhundert je 30.000 Einwohner. Etwa 20.000 Menschen lebten zur gleichen Zeit in Nürnberg, Augsburg, Basel, Freiburg, Straßburg, Regensburg, Mainz, Trier, Worms, Magdeburg und Wien, während die überwältigende Mehrheit der anderen Städte weniger als 1000 Einwohner besaß. Fast alle dieser Ansiedlungen, die zu Anfang meist einem Bischof oder Burgvogt unterstanden, waren lange Zeit vornehmlich lokale Marktzentren, in denen es zwar schon einige Fernhandelskaufleute gab, jedoch die Mehrheit der Bewohner noch aus mit bäuerlichen Anwesen versehenen Kleinhandwerkern bestand, die erst im 14. Jahrhundert anfingen, gegen die geadelten Patrizier und andere Stadtherren aufzubegehren, was zum Teil zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den sich in Zünften und Gilden zusammengeschlossenen Handwerkern sowie den sogenannten ratsfähigen Oberschichten führte. Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielten jene Städte, denen die Stauferkaiser den Status der Reichsunmittelbarkeit verliehen hatten und die sich daher als »freie Reichsstädte« ausgaben, von denen es etwa 110 bis 115 gab, die also nicht der feudalen Grundherrschaft irgendwelcher weltlichen oder geistlichen Fürsten unterstanden und stolz auf ihre städtische Autonomie waren, ja sich sogar in der norddeutschen Hanse (1295) sowie im Schwäbischen Städtebund (1376) und Rheinischen Städtebund (1381) zu einflußreichen Verbänden zusammenschlossen. 44
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Aufgrund der eine Befreiung aus der bäuerlichen Fronarbeit verheißenden Anziehungskraft dieser Städte kam es dazu, daß die dort wohnende Bevölkerung im Jahr 1500 bereits 15 Prozent der Gesamtbevölkerung in den deutschsprachigen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs bildete. Die gesellschaftlichen Oberschichten dieser Städte, welche vor allem von der die ältere Naturalienwirtschaft immer stärker überflügelnden Geldwirtschaft erheblich profitierten, traten daher nicht nur politisch immer selbstbewußter auf, sondern versuchten den Adligen und Geistlichen auch bildungsmäßig und kulturell ihre bisher führende Rolle auf diesen Gebieten streitig zu machen. Besonders scharf wandten sie sich in dieser Hinsicht gegen jene Kleriker, die alle sich mit Geld bereichernden Kaufleute seit dem 13. Jahrhundert als »unehrliche Wucherer« angeprangert hatten, welche keine Chance hätten, nach ihrem Tod den von den Priestern prophezeiten Höllenqualen zu entkommen. Ein erster Widerstand gegen derartige Anschauungen entwickelte sich in manchen Städten bereits im Rahmen jener spätscholastischen Gelehrsamkeit des 14. Jahrhunderts, die sich zugunsten eines steigenden nominalistischen Interesses an den Naturwissenschaften gegen eine ausschließliche Beschäftigung mit metaphysischen Fragestellungen gewandt hatten. Dieser Trend verstärkte sich noch, als einige Städte wie Köln, Erfurt, Rostock und Greifswald zwischen 1388 und 1456 dazu übergingen, innerhalb ihrer Mauern eigene Universitäten zu gründen, die sich im Sinne einer »Universitas magistrorum et scolarium«, also einer forscherlichen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, in bezug auf die »Septem artes liberales« sowohl von den älteren Klosterschulen als auch jenen fürstlichen Universitätsgründungen unterschieden, mit denen die jeweiligen Landesherren vornehmlich den Nachwuchs für die der Obrigkeit »gehorsamende« Geistlichkeit sowie eine ihnen dienliche Beamtenschaft sicherstellen wollten. Da jedoch die Unterrichtssprache selbst an den städtischen Universitäten das Lateinische blieb, nahm an dieser Gelehrsamkeit nur eine kaum beachtete Minderheit der bürgerlichen Bevölkerungsschichten teil. Das gleiche gilt für die im späten 15. Jahrhundert entstehende Bildungsbewegung, die 45
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sich als Humanismus verstand. Auch sie wandte sich – schon wegen ihres ausschließlichen Gebrauchs der lateinischen Sprache – lediglich an die Wenigen und nicht an die Vielen. Zudem bestand sie nur aus einer winzig kleinen Gruppe, zu der zu Beginn des 16. Jahrhunderts lediglich 250 Gelehrte, also weniger als 0,001 Prozent der Gesamtbevölkerung gehörten, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf fast 15 Millionen angestiegen war. Genau besehen, waren ihre Anhänger lediglich eine bildungsstolze Elite, die ihre Eigennamen entweder latinisierten oder gräzisierten, um sich damit so scharf wie möglich vom »ungebildeten Pöbel« bzw. dem von ihnen verachteten »Vulgus popularum« abzusetzen. So gab sich etwa Conrad Pickel in seinen Schriften als Conrad Celtis aus. Andere nannten sich Picador, Melanchthon, Molitor, Pellicanus, Spalatinus oder Beatus Rhenanus. Selbst Namen wie Oekolampadius oder Aesticompianus waren in diesen Kreisen nicht selten. Ihr Gebildetsein setzten also diese Humanisten weitgehend mit der Kenntnis antiker Sprachen gleich, da ihnen die deutsche Sprache als zu »barbarisch« erschien. Ihr Hauptbemühen war dementsprechend fast ausschließlich die »Imitatio« lateinischer Autoren, in denen sie unvergleichliche Vorbilder sahen. Und sie fühlten sich darin bestätigt, als der gebildete und zugleich kunstinteressierte Kaiser Maximilian I. einigen unter ihnen sogar den Ehrennamen »Poeta laureatus« verlieh, wofür sie sich mit vielen wohlformulierten Lobpreisungen bedankten. Doch selbst solche Ehrenbezeugungen von seiten weltlicher Herrscher oder gewisser Ratsherren der freien Reichsstädte verhinderten nicht, daß die immer noch machtvoll auftretenden Kleriker, welche nach wie vor die breite Masse der Bevölkerung in ihren Bann zu ziehen versuchten, alles daran setzten, die Wirkung der Humanisten so weit wie möglich zu unterbinden. Demzufolge blieben die meisten Vertreter dieser Bewegung Einzelgänger und fanden nur in Ausnahmefällen Zugang zu den von ihnen angestrebten Lehrämtern an den Universitäten. Und so behielt selbst die sich in den freien Reichsstädten ausbildende Gelehrsamkeit – trotz des steigenden bürgerlichen Selbstbewußtseins – bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts ein relativ traditionelles geistliches Gepräge. 46
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Hieran änderte sogar die in der Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgende Erfindung des Buchdrucks nicht viel, die erstmals auch breiteren Schichten der städtischen Bevölkerung den Zugang zu einer schriftlich fixierten Bildung erlaubte. Doch um welche Art von Publikationen handelte es sich dabei? Da die »Literati« anfangs noch vornehmlich Kleriker waren, überwogen bei den frühen Drucken weitgehend die geistlichen Schriften, welche all jene durch die häufigen Thronstreitigkeiten, lokalen Fehden und Pestepidemien verunsicherten »Simplices« unter den städtischen Gläubigen weiterhin in mittelalterlicher Tradition ermahnten, sich vor allem durch »gute Werke« sowie eine »Imitatio Christi« oder »Devotio moderna« um ihr eigenes Seelenheil zu bekümmern, um nicht beim Jüngsten Gericht den Teufeln zum Opfer zu fallen. Späteren Schätzungen zufolge umfaßte dieses Schrifttum, in dem fast durchgehend geistliche Glaubensvorstellungen im Vordergrund standen, etwa 80 Prozent der vor 1500 erscheinenden Druckerzeugnisse. Was im gleichen Zeitraum an weltlichen Flugblättern, Broschüren oder Büchern erschien, wurde dagegen von den Vertretern der herkömmlichen Frömmigkeitstheologie noch mit Argwohn betrachtet. Besonders in der weltlichen Erzähl- und Schwankliteratur sahen diese Autoren lediglich vom Pfade eines gottesfürchtigen Lebens abweichende Schriften, welchen sie eine Fülle religiöser Erzählwerke in Form von Heiligenlegenden entgegenzusetzen versuchten, in denen sie diese Gestalten den bürgerlichen Laien als Nothelfer in ihrem von vielen Gefahren heimgesuchten Leben anpriesen, wodurch dieses Genre bei den eingeschüchterten »Cives« oder »Burgaere« an Beliebtheit die Schriften der weltlichen Erzählliteratur, deren Handlungen meist im Bereich einer ins Abenteuerliche ausschweifenden Märchen- oder Sagenwelt angesiedelt waren, an Breitenwirkung weit übertraf. Dafür spricht unter anderem das zu Anfang des 15. Jahrhunderts von einem Nürnberger Dominikanermönch verfaßte und später weitverbreitete Werk Der Heiligen Leben, in dem es um die Viten von 251 Heiligen geht, die sich um eine »Imitatio Christi« bemüht hätten. Die gleiche Funktion hatten die geistlichen Theateraufführungen, die seit dem späten 14. Jahrhundert in über 200 Städten stattfanden, welche 47
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wie die Kanzelpredigten und Heiligenlegenden ebenfalls ein verstärktes Frömmigkeitsgefühl bewirken sollten. Auch die Autoren derartiger Werke, bei denen es sich meist um Fronleichnams- oder Passionsspiele mit einem gleichsam gottesdienstlichen Charakter handelte, waren durchweg Kleriker. Sogar ihre Spielleiter und Akteure stammten anfangs weitgehend aus dem Stand der Geistlichen. Erst im Laufe des 15. Jahrhunderts übernahmen entweder die Ratsherren oder die Vertreter der Handwerkerzünfte die Planung und Finanzierung solcher Aufführungen, ja traten sogar selbst als Schauspieler auf, was zu einer gewissen Verweltlichung derartiger theatralischer Darbietungen führte, die fast ausschließlich auf den Marktplätzen der größeren Städte stattfanden. Eine Wende in dieser Hinsicht setzte erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein, als neben den geistlichen Spielen auch das Genre der Fastnachtsspiele an Bedeutung gewann, das in der Folgezeit, ohne dabei seine religiöse Grundorientierung aufzugeben, auch sozialbezogene oder moralisierende Themen aufgriff. Eine ähnliche Haltung liegt dem sich zu gleicher Zeit entwickelnden Meistergesang zugrunde. Er ging in vielen Städten zumeist aus jenen Singbruderschaften hervor, die in ihren Anfängen unter geistlicher Leitung vor allem bei Begräbnissen, Wallfahrten oder Prozessionen aufgetreten waren, um solchen Anlässen einen ins Würdevolle gehenden Anstrich zu verleihen. In der Folgezeit traten jedoch an die Stelle solcher von der Kirche organisierten Bruderschaften zusehends jene Singschulen, deren Leitung die Handwerksmeister der städtischen Zünfte übernahmen, die sich einerseits auf die Ahnherren des ritterlichen Minnesangs beriefen, jedoch andererseits ihren Liedern fast ausschließlich geistliche Texte zugrunde legten. Für ihre Gesangskunst ist bezeichnend, daß sie dabei in ihren dreistrophigen monodischen Gesängen relativ pedantisch verfuhren, indem sie stets auf einer handwerklich genauen Regelhaftigkeit bestanden, die sie in sogenannten Tabulaturen niederlegten und von besonders versierten Merkern sorgfältig überwachen ließen. Ihre Mitglieder trafen sich meist an Sonntagnachmittagen in einer der jeweiligen Marktkirchen zu einem Schulsingen oder Hauptsingen, bei dem sie zwar mit einem bürgerlichen Selbstbewußtsein 48
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auftraten, aber keineswegs gegen die religiöse Grundorientierung der bestehenden Gesellschaftsordnung opponierten. Während wir über die Funktion des Meistersangs im städtischen Musikleben, vor allem im Hinblick auf ihre Nürnberger und Augsburger Vertreter, relativ gut informiert sind, ist von all dem, was die breiten Massen, ob nun das städtische Gesinde oder die Bauern im 15. Jahrhundert sangen, in den uns überlieferten Quellen selten oder nie die Rede. Sicher hat es in diesem Zeitraum, wie schon zuvor, auch unzählige religiös gestimmte, balladenhafte, zeitkritische sowie die Natur oder die Liebe besingende Volkslieder gegeben, die entweder bei bestimmten Festlichkeiten, wie Hochzeiten oder ähnlichen Anlässen, von fahrenden Sängern vorgetragen oder von Einzelnen bzw. Gruppen bei der Arbeit gesungen wurden. Was wir darüber wissen, verdanken wir vornehmlich dem Lochamer Liederbuch, das 1460 in Nürnberg erschien, jedoch nur Texte und keine Noten enthält. Selbst über die Musik der Stadtpfeifer, Trompeter und Nachtwächter finden sich in den Chroniken aus dieser Zeit keine besonders aufschlußreichen Bemerkungen. Noch weniger ist uns bekannt, wie diese Art von Musik von den immer wieder übersehenen Vielen aufgenommen wurde. Auch darüber gibt es nur vage Vermutungen. Ebensowenig wissen wir, auf welche Weise die unzähligen Werke der bildenden Künste, das heißt die Kirchen, Skulpturen, Altäre und Gemälde, die im Laufe des 15. Jahrhunderts entstanden, auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten gewirkt haben. Und auch die gesellschaftliche Funktion dieser Manifestationen kirchlicher Kunstübung läßt sich – im Gegensatz zu ähnlich gearteten Werken des Mittelalters – nicht mehr kurzschlüssig auf einen klar zu definierenden ideologischen Grundnenner zurückführen. Schließlich handelte es sich bei ihren Auftraggebern sowohl um die traditionsbewußte Trägerschicht der Fürsten und des hohen Klerus als auch um jene großbürgerlichen Ratsherren der inzwischen entstandenen und sich ständig vergrößernden Städte, die mit diesen Werken – wenn auch mit gleichbleibender religiöser Grundorientierung – zugleich ihre wachsende Machtfülle sowie ihren Reichtum herausstreichen wollten. 49
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Abb. 6 Hochaltar der Wallfahrts- und Pfarrkirche St. Maria Krönung in Lautenbach, Maria mit dem Evangelisten Johannes (1483 – 1488)
Dafür spricht, daß sich der bereits seit der Mitte des 13. Jahrhunderts von Frankreich herkommende gotische Stil beim Bau neuer Kirchen im Laufe des 15. Jahrhunderts ständig verfeinerte und obendrein immer prunkvollere Formen anzunehmen begann. Während die romanischen Kirchenbauten 50
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des Hochmittelalters in ihrer Basilikastruktur noch weitgehend blockhaft düster, ja geradezu archaisch wirken, setzte sich jetzt beim Bau gotischer Hallenkirchen eine immer nachdrücklicher werdende Tendenz ins Hochaufstrebende und zugleich Feingegliederte durch. Vor allem die schlanken Pfeiler und vielfach verästelten Kreuzrippengewölbe sollten ein architektonisches und zugleich mit Steinmetzarbeiten vertrautes Können demonstrieren, wodurch bei solchen Bauten nicht nur ihre nach oben, ins Himmlische weisende Tendenz ins Transzendentale, sondern auch ein unübersehbarer Stolz auf die höchst kunstvoll ausgeführte handwerkliche Meisterschaft zum Ausdruck kommt. Diese Kirchen waren keine Stätten furchteinflößender Memento-mori-Stimmungen und des mit gregorianisch monotonen Gesängen eingeleiteten Meßopfers mehr, sondern verwandelten sich zusehends in Versammlungsorte halb geistlich, halb weltlich gestimmter Bevölkerungsschichten, die sich auch an der kostbaren Ausstattung sowie den polyphon verästelten Gesängen des Kirchenchors und der Klangfülle des Orgelspiels erfreuen wollten, um sich – bei aller weiterbestehenden Besorgtheit um ihr Seelenheil – zugleich in ihren gesellschaftlichen Aufsteigergefühlen zu bestärken. Das gleiche gilt für die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzende Anfertigung holzgeschnitzter Standbilder und sogenannter Flügelaltäre, die eine später kaum wieder eingeholte künstlerische Vollendung aufweisen. Auch sie sind einerseits Ausdruck einer traditionsverhafteten religiösen Grundstimmung, demonstrieren jedoch andererseits – wie in den Werken von Michael Pacher, Veit Stoß und Tilman Riemenschneider sowie vieler anonym bleibender Meister – ein aufs höchste gesteigertes Kunstwollen, das in seiner einfühlsamen Gestaltungsweise durchaus humanistische Züge aufweist. Neben den unzähligen Marienstatuen, die damals entstanden und bei denen es sich nicht mehr um herrscherlich thronende Madonnen, sondern eher um elegant drapierte oder mütterlich besorgte Bürgerinnen handelt, finden sich allerdings auf den über 2000 angefertigten Flügelaltären dieser Ära auch weiterhin viele jener Heiligenfiguren der älteren Mönchkultur, die jedoch wie Standespersonen des 51
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15. Jahrhunderts wirken und zugleich höchst kunstvoll von einem gotischen Maßwerk umrankt werden. Doch dominant ist fast immer die Madonna, und zwar meist als gerade auferstandene Mädchenfigur, der Gottvater und Jesus eine Krone aufsetzen. Außerdem wurden auf den Seitentafeln häufig die wichtigsten Stationen ihres Lebens, das heißt die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Jesu, die Anbetung der heiligen drei Könige aus dem Morgenlande, die Flucht nach Ägypten, die Darstellung im Tempel und schließlich ihre Sterbestunde im Kreis der zwölf Apostel, nacherzählt, in denen sie sich zwar als eine gottergebene, aber zugleich lebenstüchtige frühneuzeitliche Städterin erweist. Während die rechts und links von ihr stehenden Kirchenväter oder zu Heiligen erhobenen Märtyrer, die sie umschwebenden Engel, die Heiligenscheine, der Goldhintergrund sowie die sorgfältig verzierten Reliquienkästchen zum Teil noch recht mittelalterlich wirken, haben – im Gegensatz dazu – die Gesichtszüge all dieser Figuren wie auch manche Milieudarstellungen auf den Seitentafeln bereits einen deutlichen Zug ins Realistisch-Abbildhafte. Ja, selbst bei jenen Altären, wo die Abendmahlsszene im Mittelpunkt steht, wird manchmal weder auf eine physiognomisch genaue Charakterisierung der einzelnen Jünger noch auf eine präzise Wiedergabe der auf dem Tisch herumliegenden Speisen verzichtet. Vor allem in Nürnberg wurden zwischen 1480 und 1500 viele solcher weitausladenden Flügelaltäre angefertigt, was zu einer erheblichen Vermehrung der daran beteiligten Bildschnitzer, Maler, Schreiner, Schlosser und Vergolder führte, um der steigenden Nachfrage nach solchen prunkhaft ausgestatteten Bildwerken überhaupt nachkommen zu können. Und das bewirkte zugleich, daß sich auch die kulturelle Trägerschicht der reicheren Bürger bei derartigen Werkstätten kleine Hausaltäre bestellte, die meist mit derselben handwerklichen und künstlerischen Sorgfalt hergestellt wurden, um sowohl die religiösen als auch repräsentationsbewußten Ansprüche dieser Schicht zu befriedigen. Die dadurch in Gang gekommene Entwicklung hatte auch auf andere Gebiete der bildenden Künste einen erheblichen Einfluß. Nicht nur die 52
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Abb. 7 Hans Süss von Kulmbach: Die Geburt der Maria (1510)
Bildschnitzer und die mit ihnen arbeitenden Handwerker, auch die Goldschmiede, die Töpfer, die Glasmacher, die Lederschneider, die Pelzmacher, die Wirker und Sticker sowie die Eisen- und Zinngießer: alle diese bisher geringgeschätzten kleinen Handwerksmeister bemühten sich – im Zuge der steigenden Nachfrage von seiten der wohlhabenderen Bürger und Ratsherren – in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts plötzlich darum, ihren 53
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Produkten eine kunstvollere Form zu geben. Selbst viele der zum täglichen Gebrauch bestimmten Erzeugnisse nahmen dadurch fast die Form von Kunstwerken an. Und so entstanden außer kirchlichen Prunkobjekten wie Altären, Monstranzen und Reliquiaren jetzt auch kostbare Tafelaufsätze, mit Intarsien verzierte Wandschränke, farbig schimmernde Weingläser, mit Zinndeckeln versehene Bierseidel, silberne Taschenuhren, mit vielerlei Rüschen und Litzen ausgestattete Kleidungsstücke, ja sogar glitzernde Schmuckkollektionen, mit denen sich die zu Geld gekommenen Handelskaufleute den Anschein einer halbadligen Gesellschaftsschicht zu geben versuchten. Ebenso prunkvoll, ja parvenühaft wirkt die Ölmalerei, welche sich im 15. Jahrhundert entwickelte. In ihrer Funktionsbestimmung diente sie, wie gesagt, lange Zeit fast ausnahmslos kirchlichen Zwecken, da sie weitgehend im Zusammenhang mit den unzähligen Flügelaltären entstand, wo ihr die Aufgabe zufiel, neben den geschnitzten Figuren im Mittelfeld die daneben befindlichen Flügeltüren mit Heiligenbildern, Szenen aus dem Marienleben oder der Kreuzigung und Auferstehung Christi zu versehen. Doch wie bei den Statuen läßt sich im Laufe der Zeit auch auf diesen Bildern eine allmählich zunehmende Verweltlichung beobachten. Während in den Jahrhunderten davor fast alle diese Gestalten noch vornehmlich religiöse Kultobjekte waren, die in ihrer byzantinistisch oder romanisch dargestellten Überwirklichkeit die sie verehrenden Betrachter in eine demütig anbetende Haltung versetzen sollten, wirkten die gleichen Figuren jetzt eher wie ins Diesseitige herabgestiegene Mitmenschen, die in einem städtischen Milieu zu leben scheinen, das durchaus der eigenen Umwelt der sie Betrachtenden entsprach. Ja, diese Zeitgenossenschaft wurde noch dadurch unterstrichen, daß diese Maler das sie umgebende Milieu nicht mehr als eine himmlische Offenbarung hinter den sichtbaren Erscheinungen, sondern als die tatsächliche Realität ihrer eigenen Umwelt darzustellen versuchten. Statt also Jesus, Maria und die Heiligen der Kirche als symbolträchtige Emanationen des Göttlichen, das heißt als ins Übermenschliche gesteigerte Einzelfiguren abzubilden, um die vor ihnen niederknienden Menschen zur absoluten Unterwürfigkeit oder zur Imitatio Christi aufzufordern, wurden 54
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sie, wie bereits auf dem Wurzacher Altar (1437) von Hans Multscher, soweit vermenschlicht, daß man sich im Sinne einer einfühlenden Menschlichkeit, ja Brüderlichkeit fast mit ihnen identifizieren konnte. Schließlich glichen sie nicht mehr jenen ins Unnahbare, Göttliche oder Heilstiftende erhobenen Wesen, die in himmlischen Sphären zu leben schienen, sondern wirkten schon dadurch, daß sie in höchst realistisch gemalten Interieurs oder heimatlich anmutenden Naturszenerien auftraten, fast wie nachbarlich vertraute Mitmenschen, denen man auch auf den Straßen von Nürnberg, in den Häusern der reichen Augsburger Handelsherren oder an den Ufern der Donau begegnen könnte. Was demnach den Gestalten auf solchen Tafelbildern fehlte, war sowohl die ins Überwirkliche erhobene Göttlichkeit als auch der Gestus des Herrscherlichen, welche die Christus- oder Heiligenfiguren des frühen Mittelalters ausgezeichnet hatte. Auf ihnen sah man mit einem Mal in genrehafter Verknüpfung geradezu alle Bevölkerungsschichten des 15. Jahrhunderts: die Adligen, die Bischöfe, die Mönche, die Bürgerlichen, das städtische Gesinde sowie die Bauern und Bettler dieser Ära. Gegen Ende des Jahrhunderts kamen sogar schon einige Stifterfiguren mit ihren Familien dazu, die zwar neben den aufrecht stehenden Heiligen niederknien, aber keineswegs eingeschüchtert wirken, sondern sich ihres Eigenwerts durchaus bewußt zu sein schienen und sich zugleich als Auftraggeber solcher Bilder vor ihren Mitbürgern auszeichnen wollten. So gesehen lassen sich solche Bilder, denen zwar noch immer eine eindeutig christliche Gesinnung zugrunde lag, nicht nur als Belege für das gesellschaftliche Aufstiegsbedürfnis des sich bereichernden Bürgertums, sondern auch des Einflusses der um 1500 einsetzenden Verweltlichungstendenzen interpretieren. Kein Wunder, daß dieser neue Geist zwangsläufig auch zu einem steigenden Selbstbewußtsein der diese Bilder malenden Künstler führte, von denen manche unter dem Einfluß des romfeindlichen Humanismus und der damit verbundenen Deutschheitsgesinnung zu diesem Zeitpunkt bereits dazu übergingen, nicht nur religiöse Bilder anzufertigen, sondern auch höchst diesseitige Themen aufzugreifen, ja sogar anfingen, 55
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Abb. 8 Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1499)
Porträts vermögender Patrizier sowie um gesellschaftliche Anerkennung heischende Selbstbildnisse zu malen. Das immer wieder zitierte »Exemplum classicum« dafür ist jener Albrecht Dürer, der in seiner Jugend in Nürnberg erst bei seinem Vater das Goldschmiedehandwerk erlernte und sich dann in der Werkstatt des noch zunftgebundenen Holzschnittmeisters und Altarherstellers Michael Wolgemut 56
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zum Maler und Graphiker ausbildete. Nach Italienreisen und der Lektüre humanistischer Schriften schuf zwar auch Dürer weiterhin bei ihm bestellte Altarbilder, griff aber zugleich profane Themen wie Landschaftsdarstellungen, Tierbilder, Aktdarstellungen und Porträts auf. Als einem der ersten Maler seiner Zeit war ihm die Kunst nicht mehr nur ein Verkündigungssprachrohr der christlichen Heilsgeschichte, sondern zugleich das Medium einer genaueren Welterkenntnis, worum er sich gegen Ende seines Lebens – unter Bezugnahme auf antike und humanistische Autoren – sogar in mehreren Schriften zur Proportionslehre sowie zu allgemeinen Problemen der Bildgestaltung bemühte. Ja, er ließ sich als einer der ersten bürgerlichen Maler sogar dazu hinreißen, im schöpferischen Künstler einen »Alter Deus« zu sehen, der sich trotz aller christlichen Ordo-Vorstellungen nicht mehr als ständisch gebundener Handwerker, sondern als freischaffender Künstler verstand. Selbst die von den Humanisten und dann von Martin Luther in den Jahren nach 1500 geforderte radikale Abkehr von den Lehren der römisch-katholischen Kirche sowie die in Süd- und Mitteldeutschland beginnenden Bauernaufstände waren daher für Dürer kein Anlaß, sich zu einem »eingreifenden« Partisanentum zu bekennen. Wie die meisten Humanisten dieser Ära blieb er ein Einzelgänger, dem zwar höchst bedeutsame Werke gelangen, der aber seinem künstlerischen Schaffen kaum irgendwelche gesellschaftspolitischen Funktionsbestimmungen gab. Er schuf weiterhin lieber Holzschnitte, in denen er nach wie vor heilsgeschichtliche Themen behandelte, die für einen breiteren Käuferkreis bestimmt waren, sowie weltliche Motive aufgreifende Kupferstiche, die vornehmlich für die kunstinteressierten Sammler innerhalb der höheren Gesellschaftsschichten gedacht waren. Eine neue Funktionsbestimmung innerhalb der verschiedenen Künste trat erst nach den aufwühlenden Ereignissen der Bauernaufstände und den lutherischen Reformbemühungen ein, die zwar beide weiterhin an einer christlichen Grundgesinnung festhielten, aber sowohl eine innenpolitische als auch soziale Umorientierung in Gang setzten, welche die gesamte mittelalterliche Ordo-Vorstellung einer gottgewollten Ständeaufteilung in Frage stellte. Durch diese zwei Bewegungen drohte daher plötzlich das gesamte 57
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Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das sich schon zuvor in eine Fülle relativ autonomer Herzogtümer, Bistümer, Grafschaften und freier Reichsstädte zersplittert hatte, vollends auseinanderzufallen.
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Die realpolitischen Folgen der Reform bemühungen Martin Luthers Den Auftakt zu diesen erstmals immer breitere Bevölkerungsschichten ergreifenden Bewegungen bildeten die Unruhen auf dem Lande. Schon 1476 kam es zu Aufständen der fränkischen Bauern, auf die 1493 die »Bundschuh«Revolte im Elsaß, 1502 der Bauernaufstand rund um Speyer unter Josz Fritz sowie 1514 jene württembergische Bauernrevolte folgte, die sich als der »Arme Konrad« ausgab. Ja, in den Jahren 1524/25 griffen darauf in großen Teilen Süd- und Mitteldeutschlands immer mehr Bauern zu den Waffen und forderten unter der Führung von Florian Geyer, Wendel Hippler und Thomas Müntzer sowohl die Aufhebung der Leibeigenschaft als auch die Ermäßigung der Abgaben an Adel und Klerus, eine freie Priesterwahl und ein allgemeines Holznutzungsrecht, wurden jedoch von den Truppen der Herzöge von Sachsen und Lothringen, dem Landgrafen von Hessen sowie den ihnen zu Hilfe kommenden lokalen Landadligen blutig niedergeschlagen, woraus sich letzten Endes eine weitere Stärkung der ohnehin halbautonomen Machtstellung der fürstlichen Oberschicht ergab. Worum es den bäuerlichen Aufständischen, die sich bereits in den frühen zwanziger Jahren als »Protestanten« ausgaben, in erster Linie ging, war keine neue Funktionsbestimmung von Kultur, sondern erst einmal das Postulat einer größeren sozialen Gerechtigkeit. Vor allem die Wiedertäufer unter ihnen zerschlugen deshalb in ihrem gerechtfertigten Zorn alles, was sie als symbolische Ausprägungen der älteren Obrigkeit empfanden. Und das waren nicht nur manche Adelssitze, sondern auch viele Altäre und Heiligenbilder in den Kirchen, in denen sie lediglich ins Prunkvolle gesteigerte Manifestationen der älteren Machtelite sahen. Was vor allem die Thomas Müntzer folgenden Bauernscharen erzwingen wollten, war eine christlich-kommunistische Bruderschaft aller Menschen, die schon im Diesseits jenes irdische Jerusalem errichten würde, das man ihnen bisher nur als himmlische Utopie versprochen hatte. Ihre Führer 59
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Abb. 9 Anonym: Aufständische Bauern. Titelbild der Flugschrift »Handlung / Artickel / vnnd Instruction / so fürgenömen worden sein vonn allen Rottenn vnnd hauffen der Pauren / so sich zesamen verpflicht haben« (1525)
setzten daher für kurze Zeit zwar eine radikal gestimmte Flugblattliteratur in Gang und verfaßten auch eine Reihe aufrührerischer Lieder, von denen sie sich eine Durchsetzung ihrer Forderungen versprachen, ohne damit ein 60
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neues Kunstkonzept zu verbinden. Doch als diese Aufstände gewaltsam niedergeschlagen wurden, zumal sich auch der ebenfalls als »Protestant« auftretende Martin Luther in aller Schärfe gegen den damit verbundenen »räuberischen« Aufruhrgeist aussprach, erloschen diese Hoffnungen schon nach kurzer Zeit wieder und hatten weder ideologisch noch kulturell irgendwelche bedeutsamen Folgen. Dagegen war jener Reformbewegung, die Martin Luther 1517 mit seinem berühmten Wittenberger Thesenanschlag gegen die scheinheiligen Ablaßversprechungen und die damit verbundenen Ausbeutungstaktiken von seiten der papstfrommen Kleriker in Gang setzte, ein überwältigender Erfolg beschieden. Und zwar hing das weitgehend damit zusammen, daß er sich mit seiner Zwei-Reiche-Lehre von vornherein auf die Seite der Fürsten und nicht auf die der Bauern stellte. Luther sah in der »Freiheit eines Christenmenschen«, wie er es nannte, kein sozialrevolutionäres, sondern ein fast ausschließlich auf die seelische Freiheit des Einzelmenschen beschränktes Konzept, das er in die immer wieder variierte Formel kleidete: »Gebt Gott, was des Gottes ist, und gebt den Fürsten, was des Fürsten ist.« Dadurch hatte er anfangs zwar nicht die aufständischen Bauern, aber dafür viele weltliche Herrscher sowie die sich von der Landbevölkerung absetzenden Städter hinter sich, welche ebenfalls mit der Machtstellung der katholischen Kirche unzufrieden waren. Die durch ihn in Umlauf gesetzte Flugschriftenliteratur wurde dementsprechend von den meisten Bewohnern der freien Reichsstädte, in denen es bereits zwischen 1509 und 1514 zu Aufständen gegen den Klerus sowie die Schicht der immer reicher werdenden Patrizier gekommen war, lebhaft begrüßt. Und auch manche weltliche Fürsten, zuerst in Sachsen und kurz darauf in Hessen, Braunschweig, Ansbach und Anhalt, sahen in Luthers Ausfällen gegen die katholische Kirche eine willkommene Chance, durch die Mediatisierung geistlicher Besitztümer sowohl ihre Machtbefugnisse als auch ihren Reichtum zu vergrößern, was zu einer vorübergehenden Allianz zwischen den Fürsten und den städtischen Bevölkerungsschichten führte und somit der lutherischen Reformbewegung – in ihrem geschickten 61
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Taktieren zwischen religiösen und weltlichen Zielsetzungen – eine schnell zunehmende Wirkung verschaffte. Im Hinblick auf irgendwelche kulturellen Funktionsbestimmungen, die verschiedenen Künste betreffend, wirkte sich das folgendermaßen aus. Innerhalb der Druckkunst erwies sich sowohl sprachlich als auch ideologisch Luthers Übersetzung der vier Evangelien – als der von ihm als maßgeblich herausgestellten Grundlage jedes christlichen Glaubens – von entscheidender Bedeutung. Während die hohen Würdenträger der katholischen Kirche diese Übersetzung lange Zeit als des »Teufels Gebetsbuch« diffamierten und weiterhin ihre päpstlichen Dogmen als unwiderrufliche Glaubensregeln hinstellten, wurde für die »Evangelischen«, wie sich viele Lutheraner unter Abschwächung ihrer protestantischen Forderungen nannten, allein das im Neuen Testament verkündete Konzept der göttlichen Gnade, das selbst dem reumütigen Sünder das erwünschte Seelenheil garantiert, zu einer sie innerlich bestärkenden Glaubensgewißheit. Und das gab vor allem den städtischen Kaufleuten, welche die Würdenträger der katholischen Kirche bisher häufig als dem Teufel verfallene »Halsabschneider« angeprangert hatten, endlich ein gutes Gewissen, sich weiterhin zu bereichern, ohne dabei irgendwelche Höllenqualen zu befürchten. Obwohl auch Luther – in altständischer Gesinnung – manche Kaufleute weiterhin als »Wucherer« bezeichnete, entstand so eine städtische Kaufmannsmentalität, die nicht ohne Folgen für die sich daraus entwickelnde frühkapitalistische Gesinnung war, auf die viele Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler später im Hinblick auf diese Ära immer wieder hingewiesen haben. Es waren daher, neben einigen Fürsten, gerade diese Schichten wie auch die wohlsituierten Handwerksmeister, welche Luther à la Hans Sachs als jene »Wittenbergsche Nachtigall« begrüßten, die es mit allen Mitteln, selbst denen der verschiedenen Künste zu unterstützen gelte. Davon zeugen unter anderem jene unzähligen lutherischen Flugschriften zwischen 1620 und 1640, welche zu einem verstärkten bürgerlichen Selbstbewußtsein innerhalb dieser Bevölkerungsschichten beitrugen, die man bisher in den alleinseligmachenden Dom- und Klosterschulen lediglich mit christscholastischen 62
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Glaubenssätzen vertraut gemacht hatte. Außerdem entstand im gleichen Zeitraum eine Fülle erzählender Schriften wie auch eine beachtliche Reihe von Fastnachtsspielen und Theaterstücken, in denen es vor allem um die neue Gnadenlehre oder um spezifisch bürgerliche Tugendvorstellungen wie Arbeitsfleiß, Bildungsstreben und eheliche Treue ging, wofür sich nicht nur die Lutheraner, sondern auch die Vertreter des gleichzeitig entstehenden Calvinismus einsetzten. Eine ebenso nachhaltige Breitenwirkung hatte die durch Luther in Gang gebrachte religiöse Reformbewegung im Bereich der geistlichen Musik. Während in den katholisch bleibenden Teilen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation weiterhin die von den Priestern und Mönchen auf lateinisch gesungene Messe die dominante Form der Kirchenmusik blieb und das demütig niederkniende Volk lediglich in stummer Andacht verharrte, setzte sich Luther dafür ein, daß in den evangelischen Kirchen fortan alle Anwesenden, und zwar Männer und Frauen, zum Lobe Gottes und zur eigenen Erbauung nur jene von ihm gutgeheißenen Lieder und Choräle singen sollten, die sie in ihrer evangelischen Gesinnung bestärken würden. Dafür sprechen unter anderem Kirchengesänge wie »Nun freut euch, lieben Christen gmein«, »Mit Fried und Freud fahr ich dahin«, »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, »Ein neues Lied wir heben an« sowie »Ein feste Burg ist unser Gott«, welche er selbst verfaßte und durch Flugblätter unter die Leute bringen ließ. Ja, Luther forderte bereits 1523 alle deutschen Poeten des neuen Glaubens auf, ihm Texte zu volkssprachlichen Strophenliedern zu schicken, denen eine »fröhliche Gesinnung« zugrunde liege, um so jene Monotonie und Traurigkeit zu vertreiben, die für die ältere Kirchenmusik charakteristisch sei. Und zwar sollten sie sich bei derartigen Texten der »rechten Muttersprache« bedienen, die allen Menschen verständlich sei, wie er schrieb, damit bei solchen Liedern alles »gut im Schwunge gehe«. Den wichtigsten Mitstreiter in dieser Hinsicht fand er in dem Komponisten Johann Walter, der bereits 1524 in Wittenberg ein erstes Geystliches Gesangk Buchleyn herausgab, dem bis 1556 zahlreiche weitere Liederdrucke dieser Art folgten. Viele dieser Choräle sind Wir-Lieder, mit denen Luther 63
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vor allem den Gemeinschaftsgeist der sie Singenden stärken wollte. Daher haben sie meist bewußt volkstümlich klingende Melodien und ebenso einprägsame Texte, die sich leicht auswendig lernen ließen. Allerdings erreichten sie anfangs – als das »fleischgewordene Wort Gottes«, das heißt als Gnadenbezeugungen des Neuen Testaments, die sich keineswegs mit den sozialrevolutionären Forderungen der aufständischen Bauern identifizierten – vornehmlich jene städtische Bevölkerung, die bereits lesen und schreiben konnte. Im Gegensatz zu den von Thomas Müntzer für die erfolglosen Bauernscharen verfaßten Liedern, wie dem zwar rebellisch gemeinten, aber lediglich psalmodierenden Choral »O Herr, Erlöser alles Volks«, war ihnen deshalb eine wesentlich größere Wirkung beschieden. Wie auf vielen anderen Gebieten erwies sich damit Luther auch im Hinblick auf die pastoral-theologische Funktion der Musik im Gottesdienst als ein geschickt taktierender Realpolitiker, indem er in den Texten seiner Kirchenlieder alles Radikalklingende vermied und bei den dafür verwandten Melodien häufig auf eingängig klingende Wendungen älterer Studenten- und Weihnachtslieder oder »Gassenhauer, Reiter- und Bergliedlein« zurückgriff und zugleich im Sinne seiner Zwei-Reiche-Lehre die »Könige, Fürsten und Herren« wie auch andere »Potentaten und Regenten« aufforderte, die von ihm eingeführte Kirchenmusik als die alleingültige zu betrachten. Außerdem verfügte er im Gegensatz zu den Zwinglianern und Calvinisten, die nur eine streng monodische Musik in ihren Kirchen duldeten, daß man die neue, auf evangelischer »Fröhlichkeit« gegründete Glaubensgewißheit während des Gottesdienstes mit den Klängen von Lauten, Gamben, Krummhörnern, Blockflöten, Zinken, Posaunen und Orgelpositiven unterstreichen solle, was, wie gesagt, ebenfalls eher auf einen städtischen als einen ländlichen Charakter der von ihm ins Auge gefaßten Musikpflege hinweist. Eine ähnliche Haltung nahm Luther im Hinblick auf die bildenden Künste ein. Während ein radikaler Protestant wie Andreas Karlstadt 1524 in seiner in Wittenberg erschienenen Schrift Von abtuhung der Bylder / Vnd das keyn bedtler vunther den Christen seyn soll jeglichen Bilderkult in den 64
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Kirchen streng ablehnte, was zu einer verbreiteten Bilderstürmerei von seiten der aufständischen Bauern und der Wiedertäuferbewegung führte, ließ der eher gemäßigt auftretende Luther den Fortbestand älterer Altäre in den sich seiner Lehre anschließenden Kirchengemeinden durchaus zu. Trotz mancher anfänglichen Vorbehalte gegen die Verkultung der auf den Altären abgebildeten Heiligen setzte er sich in den dreißiger Jahren eher dafür ein, daß man keineswegs auf Darstellungen des Heiligen Christophorus, des Heiligen Georg und vor allem des Heiligen Hieronymus, als des Bibelübersetzers, sowie auf allegorische Bildwerke über Sündenfall, Tod und gnadenvolle Erlösung verzichten solle. Und viele der in diesem Zeitraum zum Protestantismus übergetretenen Maler schlossen sich dieser Gesinnung rückhaltlos an. Selbst wenn sie weiterhin Altar- oder Heiligenbilder malten, vermieden sie dabei – noch stärker als schon manche Maler des späten 15. Jahrhunderts – die vorher übliche Verkultung ins Himmlische oder zumindest Unnahbare. Statt dessen appellierten sie auf ihren Kreuzigungsszenen oder Pietà-Darstellungen eher in ergreifender Menschlichkeit an das mitleidsvolle Einfühlungsvermögen der sie Betrachtenden oder gingen immer stärker dazu über, gewisse Episoden aus dem Leben Christi oder Marias soweit zu vermenschlichen, daß sie – trotz ihres religiösen Hintersinns – fast wie Darstellungen aus der bürgerlichen Umwelt des frühen 16. Jahrhunderts wirkten. Das gilt vor allem für jene Bilder, auf denen sie das Mutterglück Mariens oder Szenen mit dem kinderliebenden Jesus darzustellen versuchten. Kurzum: auf solchen oder ähnlichen Gemälden handelte es sich nicht mehr um auf Dogmen oder Legenden festgelegte Figuren, sondern um bürgerliche Alltagsmenschen, die weniger zu devoter Verehrung aufforderten, als eine mitmenschliche Rührung auslösen sollten. Wohl der einflußreichste Vertreter dieser Richtung war der sächsische Hofkünstler und zugleich mit Luther befreundete Maler und Graphiker Lucas Cranach, der in seiner Wittenberger Werkstatt mit Hilfe mehrerer Gesellen unzählige Bilder im Sinne der Reformation malte oder malen ließ. Von ihm sind allein 50 Luther-Porträts überliefert, die von den wahrhaft 65
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Gläubigen unter den Evangelischen in traditionalistischer Gesinnung fast wie Heiligenbilder verehrt wurden. Ebenso erfolgreich war Cranachs Holzschnittfolge Passional Christi und Antichrist (1521), in der er im Sinne Luthers die Machtbeflissenheit und Habgier der römischen Päpste angriff, worauf zwischen 1524 und 1530 eine Fülle weiterer, meist anonymer Holzschnitte folgte, auf denen das »Papsttier« als teuflisches Unwesen oder als siebenköpfiger Drache der Apokalypse dargestellt wurde, die wegen ihres betrügerischen, ein ewiges Seelenheil versprechenden Ablaßhandels, ihres Ämterverkaufs sowie ihrer Pfründenanhäufung von den Geistern der Unterwelt gepackt werden und anschließend Höllenqualen erdulden müssen. Daß sich solche Künstler derartige Darstellungen leisten konnten, läßt sich nur damit erklären, daß sie sich, wie Luther, sowohl der tatkräftigen Unterstützung der Ratsherren der freien Reichsstädte als auch jener südund mitteldeutschen Fürsten erfreuten, die sich von der Reformation nicht nur eine Bereicherung durch die Übernahme katholischer Besitztümer versprachen, sondern zugleich – unter Berufung auf Luthers Zwei-ReicheLehre – zu Vorsitzenden ihrer eigenen Landeskirchen aufstiegen. Und so blieb in den protestantischen Landesteilen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, wenn auch unter lutherischem Vorzeichen, durchaus jene althergebrachte Einheit von Thron und Altar erhalten, die nur allzuschnell zu einem neuen, weniger der Kirche als dem Staat verpflichteten Obrigkeitsdenken führen sollte. Belege dafür finden sich schon auf jenen Bildern der dreißiger und vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts, auf denen Friedrich der Weise von Sachsen und Martin Luther im trauten Verein nebeneinander stehen oder gemeinsam unter dem Kreuz Christi niederknien, um so die unverbrüchliche Einheit von landesherrlicher Macht und evangelischer Reformation herauszustreichen. Wenn man also etwas pauschalisierend auf die Gesamtentwicklung des Jahrhunderts zwischen 1450 und 1550 zurückblickt, lassen sich daraus – im Hinblick auf die innenpolitischen, sozioökonomischen und religionsgeschichtlichen Wandlungen sowie die sich hieraus ergebenden neuen Funktionsbestimmungen der verschiedenen Künste innerhalb der gesamtkulturellen 66
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Abb. 10 Lucas Cranach: Friedrich der Weise im Kreis der Reformatoren, Auschnitt (1538)
Prozesse – folgende Schlüsse ziehen. Innenpolitisch läßt sich nach der Niederschlagung der Bauernaufstände und dem lutherischen Kampf gegen die katholische Kirche eine sich schnell vergrößernde Machtfülle vieler zu reichen Handelsmetropolen aufsteigender Städte beobachten, die jedoch durch das partikularistische Autonomiebestreben mancher Fürsten schon nach wenigen Jahrzehnten wieder eingedämmt wurde, was sowohl zur Auflösung der norddeutschen Hanse als auch zum Niedergang bedeutender Städte wie Nürnberg und Augsburg führte. Und daraus ergaben sich auch kulturell weitreichende Folgerungen. Im Bereich des städtischen Literaturbetriebs kam es in diesem Zeitraum zu einer deutlichen Zweiteilung. Während die kleine Gruppe der Humanisten weiterhin lateinisch schrieb oder längst vergessene Texte antiker Autoren neu herausbrachte, sich also in betonter Pöbelverachtung nur an eine ebenso verschwindend kleine Schicht von Gelehrten wandte, traten 67
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in diesen Jahrzehnten immer mehr aus dem Kleinbürgertum aufsteigende und sich zum Luthertum bekennende Autoren auf, die wie Hans Sachs, Jörg Wickram und Johann Fischart sowie eine Reihe anderer Stadtschreiber und Druckbeflissener mit ihren Fabeln, Schwänken, Fastnachtsspielen, Tierdichtungen, Volksbüchern, Spruchsammlungen, Satiren und romanhaften Erzählungen eher das halbgebildete mittelständische Bürgertum ins Auge faßten, welches nach der Fülle der geistlichen Schriften des 15. Jahrhunderts sowie angesichts der anspruchsvollen literarischen Bemühungen der Humanisten bei ihren Lesebedürfnissen lieber das Unterhaltsame, Zeitbezogene oder auch moralisch Belehrende bevorzugte. Ähnliches gilt für den Bereich des Musiklebens, wo ab 1525 neben den von Luther inaugurierten protestantischen Chorälen auch das bisher weitgehend anonym gebliebene Volkslied durch den Druck mehrerer Liedersammlungen zu einer weithin anerkannten Kunstform aufstieg. Dabei handelt es sich nicht nur um Gesänge gegen die katholische Kirche, sondern auch um Kirmes-, Fastnachts-, Liebes-, Trink- und Arbeitslieder, in denen trotz mancher geistlicher Anklänge eine durchaus weltlich gestimmte Lebenslust zum Durchbruch kam. Und auch die Stadtpfeifer-, Trompeter- und instrumental gefiedelte Tanzmusik dieser Ära, soweit wir von ihr wissen, weist den gleichen Charakter auf. Ja, manche Fürsten richteten zu dieser Zeit sogar schon Hofkapellen ein, die nicht nur geistlichen Zwecken dienten, sondern zusehends auch bei weltlichen Festivitäten eingesetzt wurden. Fast die gleichen Entwicklungstendenzen lassen sich im Bereich der bildenden Künste beobachten, wo, wie gesagt, an die Stelle der geistlichen Auftraggeber seit dem späten 15. Jahrhundert in vermehrtem Maße die Fürsten sowie die reichen Ratsherren und Handelskaufleute traten. Das führte dazu, daß der Bau neuer Kirchen allmählich abnahm, während die Errichtung schloßartiger Hofhaltungen sowie stattlicher Rathäuser, Universitätsgebäude und kunsthandwerklich ausgestatteter Wohnhäuser ständig zunahm. In Norddeutschland dominierte dabei meist der repräsentative Prunk des Fachwerks, in Süddeutschland eher ein an italienische Vorbilder gemahnender Renaissancestil, der nicht nur den Fassaden, sondern auch 68
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den Treppenhäusern und wohlverzierten Thronsälen und Ratsstuben ein bewußt nobilitiertes Aussehen verleihen sollte. Sogar die offizielle Kleiderordnung nahm an dieser Entwicklung teil, indem sie nur den herrschaftlichen Schichten erlaubte, in Gewändern mit reich bestickten Bordüren und kostbaren Pelzkragen aufzutreten. Wie zu erwarten, läßt sich dieser ins Schmuckbetonte übergehende kulturelle Wandel auch in der Malerei des frühen 16. Jahrhunderts verfolgen. Obwohl auf vielen Bildern weiterhin die religiösen, wenn auch immer stärker ins Weltliche abgewandelten Themen vorherrschten, ist das auf ihnen dargestellte Milieu meist stadtbürgerlich oder gar höfisch geprägt. Selbst bei Darstellungen aus dem Leben Jesu oder frühchristlicher Heiligen glaubt man im Hintergrund nicht mehr Jerusalem oder Rom, sondern Nürnberg oder eine andere ebenso wohlflorierende deutsche Stadt zu sehen. Noch stärker äußerte sich diese soziopolitische Neuorientierung auf den vielen Fürstenoder Ratsherrenporträts dieser Ära, auf denen vielfach das Selbstbewußte und zugleich Prunkvolle im Vordergrund steht. Ja, im Hinblick auf ihre weltlichen Auftraggeber gingen einige Maler bereits dazu über, wohlgefällige Landschaftsszenerien oder antikisierende, wenn nicht gar eindeutig erotisch gemeinte Aktbilder zu malen, die rasch zu begehrten Kaufobjekten der höfischen oder großbürgerlichen Herrenschicht wurden. Im Zuge dieser Entwicklung entstand seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum ersten Mal so etwas wie ein Kunstmarkt, wo man im Hinblick auf die jeweiligen Gemälde oder Kupferstiche weniger das Religiöse als das kunstvoll Gearbeitete zu schätzen begann. Ja, einige der betuchteren Sammler fingen damals sogar schon an, nicht nur Gemälde mit weltlichen Motiven, sondern auch kostbare Gemmen, Goldschmiedearbeiten, antike Statuetten, seltsame Naturalien oder archäologische Fundstücke in ihren fürstlichen Wunderkammern oder großbürgerlichen Kabinetten zur Schau zu stellen, an denen sie sich nicht nur selber erfreuten, sondern mit denen sie auch ihre Besucher mit ihrer neuerworbenen Bildung, ihrer antipapistischen Gesinnung und ihrem Reichtum beeindrucken wollten. 69
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Kurzum: all diese Tendenzen, ob nun die Bauernaufstände, die lutherische Reform, die antikatholischen Schriften, der ins Antikisierende tendierende Humanismus, der steigende Reichtum der freien Reichsstädte sowie die Autonomiebestrebungen der landesherrlichen Fürsten, setzten im Zuge des frühen 16. Jahrhunderts einen innenpolitischen, religiösen, sozioökonomischen und kulturellen Entwicklungsprozeß in Gang, der auf seiten der katholisch gebliebenen Fürsten und der mit ihnen verbündeten Bischöfe notwendig zu Gegenmaßnahmen führen mußte, die anfangs noch relativ friedlich verliefen, aber zu Beginn des 17. Jahrhunderts schließlich zu jenen wechselvollen Kampfhandlungen führten, die unter der pauschalisierenden Bezeichnung »Dreißigjähriger Krieg« in die Geschichtsbücher eingegangen sind.
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Gegenreformation und protestantischer Selbstbehauptungswillen Wie gesagt, durch das Autonomie- und Bereicherungsstreben einiger mittel- und norddeutscher Fürsten sowie der um eine stärkere Machtstellung bemühten freien Reichsstädte war der lutherischen Reformbewegung ein durchschlagender Erfolg beschieden, der sogar die sich nach Aufhebung oder zumindest Erleichterung der herrschenden Frondienste sehnende Bauernbevölkerung in ihren Bann zog. Und so waren gegen Mitte des 16. Jahrhunderts rund sieben Zehntel der deutschsprachigen Gebiete, einschließlich Böhmens und Ungarns, lutherisch gesinnt. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, sah sich schließlich selbst der erzkatholische Kaiser Karl V., der lange Zeit mit allen Mitteln gegen diesen Wandlungsprozeß anzukämpfen versuchte, zu einem Kompromiß mit den immer machtvoller auftretenden Lutheranern gezwungen. Das Ergebnis der von ihm gebilligten Zugeständnisse war jener 1555 geschlossene Augsburger Religionsfriede, der im Sinne der dort verkündeten Parole »Cuius regio, eius religio« jedem Landesherrn das Recht zugestand, darüber zu entscheiden, welche der beiden Konfessionen, ob nun die lutherische oder die römisch-katholische, die allein bestimmende Religionsform in seinem Herrschaftsbereich sein solle. Mit dieser Regelung hatten zwar die protestantischen Reichsstände ihre Machtstellung befestigt, aber damit war zugleich den katholischen Herrscherhäusern das Recht eingeräumt worden, in ihren Landesteilen dem Vordringen des Protestantismus mit uneingeschränkter Gewalt entgegenzutreten. Und von dieser Möglichkeit machten die katholisch gebliebenen Fürsten und die mit ihnen liierten Bischöfe auch umgehend Gebrauch. Schon 1563 ging in Bayern Herzog Albrecht V. scharf gegen die Protestanten in seinem Lande vor. 1578 wurden die evangelischen Geistlichen aus Wien ausgewiesen, worauf ein Jahr später eine mit brutalen Maßnahmen durchgeführte Rekatholisierung Gesamtösterreichs einsetzte. 1583 verhinderte der Kölner Erzbischof in seiner Diözese den absehbaren Sieg der Lutheraner. Ähnliche 71
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Prozesse spielten sich in den gleichen Jahrzehnten in anderen Gebieten West- und Süddeutschlands ab. Dieser Rekatholisierungsprozeß bewegte schließlich einige der sich zum Luthertum bekennenden süddeutschen Reichsfürsten, die sich von derartigen Prozessen besonders bedroht fühlten, im Jahr 1608 dazu, die sogenannte Protestantische Union zu gründen, welcher sich kurz darauf auch Brandenburg, Hessen-Kassel sowie 15 oberdeutsche Reichsstädte anschlossen. Im Gegenzug dazu gründete Herzog Maximilian von Bayern 1609 im Verein mit den süddeutschen Bischöfen die Katholische Liga, der auch die drei geistlichen Kurfürsten von Trier, Köln und Mainz beitraten. Als Erzherzog Ferdinand darauf auch die forcierte Rekatholisierung Böhmens voranzutreiben versuchte, warfen die dortigen protestantischen Adligen am 25. Mai 1618 seine Statthalter kurzerhand aus dem Fenster des Prager Hradschins, was zu jenen wechselvollen militärischen Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten Kaiserlichen und den protestantischen Reichsständen führte, die bis zum Jahr 1648 andauern sollten und daher bis heute als »Dreißigjähriger Krieg« bezeichnet werden. Bedingt durch diese sich ständig zuspitzende Konfessionalisierung, die immer gewaltsamere Formen anzunehmen begann, vollzogen sich auch die kulturellen Funktionsbestimmungen innerhalb der verschiedenen Künste dieser Ära weitgehend unter religiösem Vorzeichen. Und zwar wandten sich zwischen 1555 und 1618 die sogenannten Kulturträgerschichten innerhalb der römisch-katholisch bzw. evangelisch gesinnten Gruppen bei derartigen Auseinandersetzungen in erster Linie nicht an die Wenigen, sondern an die Vielen, an das »Volk«, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung für ihre religiösen sowie die dahinterstehenden politischen und ökonomischen Zielsetzungen zu mobilisieren. Die eher strategisch denkenden Evangelischen versuchten sich dabei im Gefolge von Johann Brenz und Philipp Melanchthon vor allem auf ein im Sinne Luthers organisiertes Schulwesen zu stützen, während sich andere Vertreter dieser Richtung eine wirksame Breitenwirkung und damit Meinungsbeeinflussung eher vom Druck gemeinverständlicher Kalendergeschichten, 72
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moralisierender Volksbücher oder gemeinschaftsstiftender Gesangsbücher versprachen. Allerdings erfreuten sie sich dabei keiner allzu großen Unterstützung von seiten ihrer jeweiligen Landesherren, die in ihren Residenzen kulturell vornehmlich auf eine höfische Repräsentation ihrer neuerworbenen Machtstellung bedacht waren. Auch die bis dahin höchst aktive Förderung der protestantischen Bemühungen durch die freien Reichsstädte, welche im Zuge der sich allmählich entwickelnden kameralistischen Wirtschaftsführung der Fürsten zusehends ihre ökonomische Vormachtstellung einzubüßen begannen, nahm in diesen Jahren merklich ab. Obendrein verzettelten sich die Lutheraner nach wie vor in religiösen Auseinandersetzungen mit den Zwinglianern und Calvinisten, statt religionsideologisch und kulturell eine geschlossene Einheitsfront anzustreben. Umso effektiver und machtvoller unterstützten dagegen die bedrohten katholischen Fürsten und die mit ihnen verbündeten Bischöfe alles, was nicht nur politisch, sondern auch kulturell zu einer Rekatholisierung ihrer Landesteile dienen könnte. Und zwar gingen sie hierbei höchst systematisch vor. Auf niederer Ebene versuchten sie der Bevölkerung in ihren Herrschaftsbereichen weiterhin die altbewährte Furcht vor jenen Höllenqualen einzujagen, der sie sich durch einen Übertritt zum Protestantismus aussetzen würden, was zu einem erneuten Aufschwung des von Luther verdammten Ablaßhandels führte. Eine ähnliche Tendenz lag den vielen Hexenprozessen zugrunde, welche in diesem Zeitraum einsetzten und vor allem von den Fürstbischöfen von Mainz, Bamberg, Würzburg und Eichstätt, aber auch dem Fürstabt von Fulda sowie dem Münchner Autor Aegidius Albertinus lebhaft befürwortet wurden. Auf einer etwas höheren Ebene bedienten sich die gleichen Fürsten und Bischöfe bei ihren Rekatholisierungsbemühungen vor allem jenes Jesuitenordens, der 1534 von Ignatius von Loyola gegründet worden war und vor allem von Papst Gregor XIII. tatkräftig gefördert wurde. Sein Hauptziel war die konsequente Rückgewinnung sämtlicher »Abtrünnigen«, die sich von den alleinseligmachenden Dogmen der römisch-katholischen Kirche abgewandt hätten und mit dem Teufel verbündete Häretiker geworden 73
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seien. Unter dem Motto »Omnia ad majorem Dei Gloria« taten sie daher alles, was in ihren Mitteln stand, um dem Luthertum so entschieden wie nur möglich entgegenzutreten und so den katholischen Fürsten und Bischöfen wieder zu einer größeren Machtfülle zu verhelfen, ja bemühten sich sogar heimlich, ihre Überzeugungen auch in den protestantischen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu verbreiten. Um ihrer »Propaganda fidei« zum Erfolg zu verhelfen, beeinflußten sie demzufolge das Schulwesen, gründeten Universitäten, ließen in Bayern und den Rheinlanden Jesuitenkirchen errichten, unterstützten die Inquisition und begrüßten 1559 jenen Index librorum prohibitorum, der sich anfangs vor allem gegen die auf deutsch verfaßten Flugblatt- und Buchdruckerzeugnisse wandte. Gut, es gab auch deutschschreibende katholische Autoren in diesen Jahrzehnten, die jedoch kaum beachtet wurden. Eine wesentlich größere Wirkung erzielten dagegen auf literarischem Gebiet jene von den Jesuiten in Szene gesetzten unzähligen, auf neulateinisch verfaßten Theaterstücke deutscher, spanischer und italienischer Autoren, mit denen sie die niederen Schichten der Bevölkerung durch eine übersteigerte Dramatik, einen immensen Kostümaufwand, bewegliche Kulissen, Flugmaschinen, Feuerwerke sowie musikalisch effektvolle Einlagen zu beeindrucken suchten, was vor allem für die Stücke von Jakob Bidermann, Jakob Gretser und Jakob Pontanus gilt, in denen es inhaltlich weitgehend um Märtyrertum, Vergänglichkeit und Weltflucht geht, um bei den breiten Volksmassen nur ja keine Hoffnung auf eine mögliche Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände aufkommen zu lassen. Die Protestanten hatten, wie gesagt, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dieser »Propaganda fidei« auf kulturellem Gebiet wenig entgegenzusetzen. Das ökonomisch geschwächte Bürgertum konnte im Bereich der Architektur und Malerei nur noch in einem bescheidenem Maße Aufträge erteilen und auch die zum Protestantismus übergetretenen Fürsten waren eher auf die Konsolidierung ihrer Macht bedacht, als sich in größerem Maßstab für die Förderung der Künste einzusetzen. Selbst auf musikalischem Gebiet, wo das Gemeindelied durch Luther in der ersten Jahrhunderthälfte 74
Gegenreformation und protestantischer S elbstbehauptungswillen
Abb. 11 Giovanni Pietro Telesphoro de Pomis: Erzherzog Ferdinand von Österreich als Sieger über die Heuchelei (nach 1614)
einen kräftigen Anstoß erhalten hatte und es im Bereich der Instrumentalmusik zur Entstehung kleinerer »Convivia musica« gekommen war, entstanden in diesem Zeitraum kaum noch bedeutende Leistungen. Sogar ein nicht zu unterschätzender Komponist wie Johannes Eccard konnte daher zu Anfang der siebziger Jahre nur in der Münchner Hofkapelle eine Anstellung finden. Um den damit verbundenen Übertritt zum Katholizismus zu vermeiden, ging er deshalb nach wenigen Jahren lieber als Kantor nach Königsberg und dann nach Berlin, wo er in den achtziger und neunziger Jahren als überzeugter Lutheraner statt katholischer Messen vor allem protestantische Choräle und liedhafte Motetten komponierte. 75
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Eine neue Funktionsbestimmung innerhalb der Künste setzte im protestantischen Lager erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein. Und zwar äußerte sie sich anfänglich eher auf literarischem Gebiet als im Bereich der Malerei oder der Musik. Von maßstabsetzender Bedeutung erwiesen sich dabei die dichtungstheoretischen Bemühungen von Martin Opitz, der sich 1624 in seinem Buch von der deutschen Poeterey sowohl gegen die gewaltsam durchgeführte Konfessionalisierung als auch die ins Populistische tendierende Vergröberung der Literatur wandte und sich mit neuhumanistischer Entschiedenheit für eine den höchsten Ansprüchen genügende weltliche »Poesie« einzusetzen versuchte, um so der deutschen Dichtung wieder einen weltliterarischen Rang zu verleihen. Und zwar empfahl er in diesem Zusammenhang, das Meißnerdeutsch als die einzig akzeptable Sprachform zu gebrauchen, auf eine strengere Einhaltung metrischer Betonungsregeln zu achten und sich in der Verskunst vornehmlich des Alexandriners als der bestmöglichen sprachlichen Ausdrucksweise zu bedienen. Außerdem stellte er genaue Gattungsbestimmungen für das Drama auf, das heißt erklärte, daß die Tragödie »nur vom königlichen Willen« zu handeln habe und sich die Komödie lediglich mit »schlechten Wesen und Personen« beschäftigen solle. Trotz aller wohlgemeinten Reformvorschläge war sich Opitz sicher bewußt, daß er mit dieser neuen Funktionsbestimmung von Literatur nur die kulturelle Trägerschicht der Wenigen in den jeweiligen Residenz- und Handelsstädten und nicht den »großen Haufen« der Vielen auf dem flachen Land erreichen würde. Schließlich waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch immer 95 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung Analphabeten. Obendrein dominierte in Bereich der Druckerzeugnisse weiterhin das geistliche Schrifttum, während die Anzahl der Werke der sogenannten »Schönen Literatur« meist unter der Fünf-Prozent-Grenze blieb. Und so wurde Opitz zwar wegen seiner höchst noblen, aber allen politisch oder religiös brisanten Fragestellungen aus dem Wege gehenden Gesinnung 1625 in Wien von Kaiser Ferdinand II. zum »Poeta laureatus« gekrönt und kurz darauf in Prag sogar in den Adelsstand erhoben, blieb aber letztlich ein Einzelgänger zwischen den zwei konfessionellen Lagern, wenn er auch der deutschen Sprache, als 76
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Abb. 12 Peter Isselburg: Eine Sitzung der Fruchtbringenden Gesellschaft (um 1630)
dem von vielen Katholiken verhaßten »Lutherdeutsch«, einen neuen Nimbus verlieh, was sich auf die Dauer als höchst einflußreich erweisen sollte. Die ersten, die das erkannten, waren jene Sprachgesellschaften, die im frühen 17. Jahrhundert im mitteldeutschen Gebiet der protestantischen 77
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Wettiner, Anhaltiner, Askanier, Sachsen und Thüringer gegründet wurden. Die bedeutendste davon war die Fruchtbringende Gesellschaft, welche 1617 unter dem Vorsitz des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen in Weimar ihre erste Versammlung abhielt. Zu Anfang waren ihre Mitglieder fast ausschließlich Hochadlige, die sich im Sinne handfester territorialer Ansprüche politischer Art vornehmlich um die Durchsetzung »wohlanständiger Sitten« und »die nützliche Ausübung der Volkes Landes-Sprache« bemühen wollten, um so eine stärkere Konsolidierung ihrer Herrschaftsbereiche zu erzielen. Zur Unterstützung derartiger Bestrebungen zogen sie jedoch in den folgenden Jahren auch einige bürgerliche Poeten, wie Martin Opitz, heran, dem sie 1629 den Titel »der Gekrönte« verliehen. Dennoch überwog bei ihren Sitzungen auch weiterhin ein adliger Ehren- und Standeskodex, mit dem sich diese protestantische Herrscherclique gegen alle Tendenzen ins Niedrige, wenn nicht gar volkstümlich Grobianische innerhalb der Literatur des 16. Jahrhunderts abzuschotten versuchte. Allerdings standen damit die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft lange Zeit weitgehend allein. Schließlich setzte sich im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges, durch den weite Teile des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation total verwüstet wurden, ein derartiger Kulturverfall ein, daß die Bemühungen um eine höhergeartete Kunst überall zurückgingen oder gar völlig erloschen. Nicht nur die Kaiserlichen und die Protestanten lieferten sich unentwegt mörderische Schlachten, auch Franzosen, Schweden, Spanier, Wallonen, Kroaten und Panduren plünderten und verwüsteten die deutschen Lande. Außerdem brach mitten im Krieg noch einmal die Pest aus, so daß von den 17 Millionen Bewohnern des Heiligen Römischen Reichs, die dort im Jahr 1620 gelebt hatten, gegen Ende des Krieges lediglich zehn Millionen übrigblieben. Vor allem in protestantischen Gebieten wie Württemberg, Thüringen, Mecklenburg, Teilen von Sachsen und der Pfalz fielen über 50 Prozent der Bevölkerung den marodierenden Soldaten bzw. den Seuchen zum Opfer. Zugegeben, es wurden während dieser langen Kriegszeit in vielen Kirchen auch Messen oder Choräle gesungen. Und es gab in manchen Städten 78
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sogar weiterhin kleinere »Collegia musica«, die nach wie vor Hauskonzerte abhielten. Aber die Hofkapellen, die bis dahin sowohl geistliche als auch weltliche Musik gespielt hatten, wurden fast überall aufgelöst. Selbst Heinrich Schütz, der weitaus bedeutendste Komponist dieser Ära, der 1617 unter dem prunksüchtigen Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen in Dresden Hofkapellmeister geworden war, mußte daher seine Symphoniae sacrae in Venedig herausbringen, ja sah sich 1633 gezwungen, Dresden zu verlassen und eine Stelle am dänischen Hof in Kopenhagen anzunehmen. Er ging zwar danach wieder nach Dresden zurück, wo ihm jedoch nur wenige Sänger und Instrumentalisten zur Verfügung standen und von seinen Kompositionen fast nichts im Druck erschien. Nicht viel besser erging es den anderen Künstlern in diesen Jahrzehnten. Am ärgsten traf es die Architekten, da die Baukunst fast völlig zum Erliegen kam. Doch auch die Maler erhielten kaum noch Aufträge und flohen daher, wie Johann Liss und Sebastian Stoßkopf, nach Venedig oder Paris. Selbst die sich aus den Konfessionsstreitigkeiten heraushaltenden neuhumanistischen Poeten, welche sich Opitz zum Vorbild nahmen, fanden keine Verleger mehr. Was überhaupt noch gedruckt wurde, waren – der elenden Zeitsituation zufolge – zumeist geistliche Trostbüchlein oder Klagegesänge. Daher atmeten im Jahr 1648, als in Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde, der all den Greueln der letzten drei Jahrzehnte endlich ein Ende setzte, nicht nur die Adligen, die Städter und die Bauern, sondern auch die Künstler auf, welche wieder zu hoffen begannen, daß man sie erneut wahrnehmen und vielleicht sogar ehren würde. Schließlich hörten nach diesem Zeitpunkt nicht nur die ständigen Verwüstungen, Plünderungen und Einäscherungen, sondern auch die Zahlungen hoher Kontributionen auf, die viele Städte während des Krieges an den Rand des Abgrunds getrieben hatten. Auch die gesetzlich festgelegte Wiederherstellung der Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 ließ viele Künstler hoffen, daß es jetzt zu einer neuen Freiheit des Geistes und einer sich daraus ergebenden Blüte der Künste kommen würde. Schließlich waren bei diesem Friedensschluß nicht der Kaiser und seine Feldherren, 79
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sondern die vielen Territorialfürsten als Sieger hervorgegangen, die zwar als prunksüchtige Patrone in der Folgezeit sowohl in den protestantischen als auch den katholischen Landesteilen des nur noch pro forma weiterbestehenden Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einer Reihe von Künstlern vielversprechende Aufträge erteilten, was jedoch durch den damit verbundenen höfischen Absolutismus zu einer ideologischen Konformität führte, welche der erhofften Freiheit des Geistes erneut erhebliche Schranken entgegensetzte.
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Vom autoritären zum aufgeklärten Absolutismus Was sich in den 100 Jahren nach dem Abschluß des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück in politischer Hinsicht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation abspielte, haben spätere Historiker und Gesellschaftswissenschaftler meist als den »Sieg des einzelfürstlichen Absolutismus über die kaiserliche Zentralgewalt« charakterisiert. Und das hatte, wie sie zu Recht behaupteten, sowohl politische als auch sozioökonomische und kulturelle Folgen. Während sich die Herrschenden bis dahin, um mit der Politik zu beginnen, bei ihren zu kriegerischen Auseinandersetzungen anspornenden Propagandataktiken stets religiöser Parolen bedient hatten, betonten sie in den darauffolgenden Kriegen immer unverhüllter irgendwelche dynastischen Eigeninteressen. Ob nun in der Verteidigung rheinischer Gebiete gegen die französische Krone (1674 – 1689), im Nordischen Krieg (1704 – 1721), im Spanischen Erbfolgekrieg (1711 – 1714), im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740 – 1741) oder im Siebenjährigen Krieg Friedrichs II. von Preußen gegen die deutsche Kaiserin Maria Theresia (1756 – 1763): ständig ging es nur darum, welchen Fürsten es gelingen würde, durch geschickt arrangierte Bündnisabsprachen sowie ihnen persönlich unterstehenden Söldnerheeren die Erbfolge ihrer Dynastien abzusichern oder ökonomisch einträgliche Gebiete zu erobern. Es gab zwar auch Allianzen unter den einzelnen Fürstenhäusern, die durch politisch motivierte Heiraten gefestigt wurden, aber letztlich verstand sich jede Dynastie als eine souveräne Herrscherclique, die sich keiner höheren Instanz verpflichtet fühlte. Aus dem sich allmählich auflösenden mittelalterlichen Personenverbandsstaat des Sacrum Imperium Germanicum wurde so nach 1648 endgültig jenes Konglomerat von 100 Fürstentümern und 1500 kleineren Herrschaftsgebieten, das ein Staatsrechtler wie Samuel von Pufendorf 1667 in seiner Schrift De statu imperii Germanici als ein »irregulare aliquid corpus et monstro simile« charakterisierte, das man kaum noch als ein staatlich zusammenhängendes Gebilde bezeichnen könne. Ja, die 81
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brandenburgischen und sächsischen Kurfürsten stiegen in dieser Ära durch den Besitz Ostpreußens bzw. Polens sogar zu von der Kaiserkrone unabhängigen Königen auf, während die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg durch eine Personalunion mit England ebenfalls Könige wurden und sich damit dieselbe »Selbstmächtigkeit« verschafften. Doch diese immer stärker »autonom« auftretenden Herrscher bemühten sich nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch, ihre Machtstellung zu vergrößern, indem sie das in ihren Staaten herrschende Münzwesen unter ihre Kontrolle brachten, ein merkantilistisches, das heißt gegen den Einfluß der älteren Zünfte und Gilden gerichtetes Wirtschaftssystem anstrebten, die bisherigen Landstände entmachteten, von ihren Untertanen höhere Steuerabgaben verlangten, immer mehr Bauern in den Stand von Leibeigenen erniedrigten und durch die Aufnahme fremder Bevölkerungsschichten wie der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten die Einwohnerzahl in ihren Herrschaftsgebieten vergrößerten, wovon sie sich eine Stärkung ihrer wirtschaftlichen Machtstellung versprachen. Mit all diesen Aktionen verbanden die einzelnen Territorialherren zugleich den Aufbau einer Verwaltungsbürokratie, die – wie das Gerichtswesen, die staatlichen Domänen auf dem Lande und die jeweiligen Söldnerheere – allein ihrer Dynastie unterstellt wurde. Die bisherige Bedeutsamkeit der älteren freien Reichsstädte ging dadurch immer stärker zurück. Die Zentren der Staatsgewalt bildeten fortan jene Residenzstädte, wo sich die Hofhaltung der verschiedenen Landesfürsten befand, welche sich zusehends als absolutistisch regierende Souveräne aufspielten. So gesehen, erwies sich das Jahr 1648 als der Beginn einer Fürstenrevolution oder einer »Revolution von oben«, deren Ergebnis jene territorial abgegrenzten Ordnungsstaaten waren, in denen nach einer Zeit verheerender Kriege sowie der Furcht vor neuen chaotischen Verhältnissen der absolutistische Regierungsstil vieler Fürsten von breiten Schichten der Bevölkerung durchaus begrüßt oder zumindest geduldet wurde. Zu den eigentlichen Zentren all dieser Fürstentümer wurden darum die Höfe. Während es in Nationalstaaten wie Frankreich, England, Spanien, Portugal oder Rußland oft nur einen solcher Höfe gab, existierten im 82
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Abb. 13 Maximilian von Geer: Schloß Schleißheim, Entwurf (1701)
Heiligen Römischen Reich gegen Ende des 17. Jahrhunderts über 80 derartiger Residenzen, die nicht nur die politischen Zentren der jeweiligen Fürstentümer waren, wo alle wichtigen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, sondern die zugleich repräsentative Schauplätze der neuen Machtfülle der jeweiligen Erbdynastien sein sollten, mit denen die betreffenden 83
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Herrscher – nach dem Vorbild Ludwigs XIV. in Versailles – ihre Untertanen in den Stupor der Bewunderung versetzen wollten. Daher wurde von seiten der Fürsten an nichts gespart, um sowohl die größeren als auch die kleineren Höfe oder Hofhaltungen, wo oft hunderte von Bediensteten angestellt waren, mit pompös wirkenden Schlössern, Orangerien, Gartenanlagen, Kanälen, Fontänen, Rosenhecken, Statuetten und kunstvoll verschnittenen Baumalleen auszustatten. Neben dem Thronsaal des Fürsten und der Schloßkapelle, welche die altbewährte Symbiose von Thron und Altar herausstellen sollten, gab es in diesen Schlössern zugleich weiträumige Säle, in denen an bestimmten Feiertagen üppige Feste, Theateraufführungen, Ballettinszenierungen, Konzerte und Opernspektakel stattfanden, die an Ausstattung alles übertrafen, was es bisher an aristokratischen Vergnügungen gegeben hatte. Dafür sprechen neben dem Kaiserhof in Wien nicht nur die ebenso aufwendigen Schloßanlagen in landesfürstlichen Residenzstädten wie München, Mannheim, Dresden, Hannover und Berlin, sondern auch die herrschaftlichen Prunkbauten der Fürstbischöfe von Würzburg, Mainz, Köln und Speyer. Ja, selbst viele der anderen Herzöge, Fürsten oder Markgrafen errichteten in dieser Ära prächtige Schloß- und Parkanlagen, für die sie Unsummen von Geld ausgaben, um nicht von anderen Fürstenhäusern als minderwertig oder von ihren Untertanen als nicht machtvoll genug angesehen zu werden und so ihren herrscherlichen Status einzubüßen. Doch neben derartigen politischen Funktionsbestimmungen, die vor allem die souveräne Einmaligkeit und Machtfülle der jeweiligen Herrscher herausstellen sollten, wurde in diesen Schlössern neben der kostbaren Ausstattung, die viel Geld verschlang, auch genau kalkuliert und berechnet, wie dieses Geld aufzutreiben sei. Dabei stützten sich die verschiedenen Fürsten und ihre Ratgeber vielfach auf jene politökonomischen Maßnahmen, welche Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister Ludwigs XIV., entwickelt hatte und die meist als Merkantilismus bezeichnet wurden. Außer der Eintreibung neuer Steuern und Zölle ging es hierbei vorwiegend darum, durch eine Steigerung des Exportwesens einen möglichst großen Edelmetallüberschuß 84
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zu erzielen und dadurch die Gold- und Silberreserven anderer Staaten zu verringern. Um das zu ermöglichen, ließen manche Fürsten bzw. ihre Verwaltungsbeamten zur Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums eine Fülle neuer Straßen und Kanäle anlegen, die wildwüchsigen Wälder in profitable Forste umwandeln sowie staatlich überwachte Manufakturen gründen. Was in Frankreich durchaus merkantilistische Formen annahm, blieb dagegen in vielen kleineren Fürstentümern des Heiligen Römischen Reichs – aufgrund der mangelnden nationalstaatlichen Grundlage – eher im Kameralistischen, das heißt einer relativ begrenzten Wirtschaftsführung stecken, führte jedoch selbst auf dieser Ebene zu einer unaufhaltsamen Durchsetzung absolutistischer Wirtschaftsverhältnisse. So viel zu den innenpolitischen und ökonomischen Auswirkungen der nach 1648 einsetzenden sogenannten Fürstenrevolution. Fragen wir nun, wie sich diese Wandlungen auf die einzelnen Gesellschaftsschichten, ob nun den Adel, die Bürger oder die Bauern, ausgewirkt haben. Für den Adel gab es weiterhin drei Möglichkeiten, eine standesgemäße Lebensweise zu führen: die Offizierslaufbahn im Dienste eines Fürsten, die Übernahme ziviler Verwaltungsfunktionen in der höfischen Bürokratie oder die Aufsicht über die eigenen Güter auf dem Lande. Obwohl der Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung um 1700 unter ein Prozent lag, spielte diese Gesellschaftsschicht weiterhin, zumal sie sich in verstärktem Maße in eigens für sie eingerichteten Ritterakademien um eine höhere Bildung bemühte, im allgemeinen Gesellschaftsleben der verschiedenen Staaten weiterhin eine wichtige, wenn nicht gar dominierende Rolle. Sie brauchte kaum Steuern zu bezahlen, sie wurde zu allen höheren Verwaltungsämtern herangezogen, sie trug kostbare Kleider, die sonst niemand tragen durfte, sie stützte sich beim Stehen auf einen Degen, als stehe ihr eine spontane Gerichtsbarkeit zu, sie wurde als Hochwohlgeboren, Hochedelgeboren oder als Eure Gnaden angeredet – und was es sonst noch an derartigen Vorrechten und Ehrenbezeugungen gab. Doch auch unter den Stadtbürgern entwickelte sich in diesem Zeitraum eine mit dem gehörigen Standesbewußtsein auftretende Oberschicht, zu der 85
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neben den Repräsentanten der handeltreibenden Patrizier auch die sogenannten »Homines novi«, das heißt die Gelehrten oder juristisch gebildeten »Syndici« des Stadtregiments gehörten, die sich – in deutlicher Abgrenzung vom »niederen Volk« – durchaus als Teil der großbürgerlichen Elite empfanden. Während diese Oberschicht etwa ein bis vier Prozent und die Mittelschicht etwa zehn bis 15 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung umfaßte, gehörten zur überwältigenden Mehrheit der gesellschaftlichen Unterschichten, von denen rund zehn Prozent weitgehend auf Almosen angewiesen waren, vor allem jene Handlanger, Vaganten, Landstreicher, Fuhrleute, Karrenschieber, Heimarbeiter, Diener und Mägde, die ständig von der Obdachlosigkeit bedroht waren oder als rechtlose Bettler kurzerhand ausgewiesen wurden. Noch größer war die soziale Ungleichheit auf dem Lande, wo etwa 75 Prozent der damaligen Bevölkerung lebten. Neben der winzigen Gruppe der adligen Grundherren und einer etwas breiteren Schicht von Groß- und Mittelbauern bildete hier – bis weit in das 18. Jahrhundert hinein – nach wie vor der »große Haufen« der Minderfreien, Heuerlinge, Kätner, Häusler, Einlieger, Kossäten, Gutsarbeiter, Knechte und Mägde die überwältigende Mehrheit der dort lebenden Menschen, was in vielen Gegenden des Heiligen Römischen Reichs von Zeit zu Zeit zu revoltierenden Erhebungen all jener in menschenunwürdigen Verhältnissen lebenden »Parias« oder »weißen Sklaven« führte, welche jedoch von den lokalen Behörden mit Unterstützung landesherrschaftlicher Truppenkontingente stets niedergeschlagen wurden. Damit dürfte klar geworden sein, wer in dem Jahrhundert nach dem Abschluß des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück, von dem sich breite Bevölkerungsschichten die Heraufkunft einer Ära des Friedens und der Wohlstandssteigerung versprochen hatten, zu den begünstigten Wenigen und wer zu den weiterhin notleidenden Vielen oder Allermeisten gehörte. Und daraus ergibt sich ebenso eindeutig, welche kulturellen Funktionsbestimmungen innerhalb der verschiedenen Künste in diesem Zeitraum herrschten. Letztlich konnten es nur die sein, welche von den Fürsten, dem 86
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Abb. 14 Johann Balthasar Neumann: Innenraum der Würzburger Residenz (ab 1719)
Adel sowie der weiterhin verschwindend kleinen Oberschicht der Bürgerklasse ausgingen, während die Mehrheit der Bürger und Bauern, vor allem die Besitz- und Bildungslosen unter ihnen, in so trostlosen Verhältnissen lebte, daß ihnen alle Formen einer höhergearteten Kultur entweder als zwar 87
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bestaunenswert, aber fremd, wenn nicht gar als Manifestationen einer sie unterdrückenden Sozialordnung erscheinen mußten. Für die ästhetischen Erscheinungsformen der höfischen Kultur des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts hat sich dafür weitgehend der kunsthistorische Begriff »Barock« durchgesetzt. Was man bis heute darunter versteht, ist besonders das Prunkvolle, Aufgedonnerte, ja Schwulsthafte dieser Stilgebung, mit der sich die Fürsten in ihrem absolutistischen Selbstgefühl bestärken wollten und das zugleich den »breiten Massen« den gebührenden Respekt vor der dahinter stehenden Machtfülle einflößen sollte. Als Vorbild für ihre mit allen Mitteln der damaligen Dekorationskünste ausgestatteten Hofhaltungen diente ihnen dabei, wie gesagt, meist das Prunkschloß Ludwigs XIV. in Versailles, weshalb auch sie ihre Schlösser mit Spiegelsälen, Porzellansammlungen, Schönheits- und Ahnengalerien, Thronhallen, Mätressenalkoven, kostbaren Möbeln, geschnitzten Wandverzierungen und Deckenfresken versehen ließen. Die gleiche Aufwendigkeit herrschte bei den ausgedehnten Gartenanlagen dieser Schlösser, wo sich neben sorgfältig gepflegten Rasenflächen oft eine Fülle steinumfaßter Bassins mit hochaufschießenden Fontänen, schwungvoll angelegte Blumenbeete, sorgfältig geharkte Kieswege, kunstvoll ausgeführte Denkmäler und Statuen sowie im Sommer in Kübeln aufgestellte Palmen, Oleander und Agaven befanden, die meist von geometrisch beschnittenen Hecken- oder Baumreihen umgeben waren. Ja, an besonderen Feiertagen wurden hier sogar ausgedehnte Feuerwerke veranstaltet, zu denen Bläserkapellen den gewünschten musikalischen Hintergrund lieferten. Doch nicht nur das. Viele dieser Schlösser, ob nun in Wien, München, Stuttgart und anderen Residenzstädten, hatten neben den obligaten Kirchenkapellen, wo die fürstlichen Herrschaften die Messe oder den Gottesdienst absolvierten, um sich als die von Gott eingesetzten Vertreter von Thron und Altar auszuweisen, zugleich große Theatersäle, wo anläßlich von Thronbesteigungen, Verlobungen, Hochzeiten, Taufen, Geburtstagen, Herrscherjubiläen sowie bei Besuchen fremder Fürsten aufwendige Ballettoder Opernaufführungen stattfanden, bei denen, wie in Versailles, an nichts, 88
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weder den Kostümen, den Kulissen, ja nicht einmal an Wasserfällen oder Flugmaschinen gespart wurde. Und zwar stand bei derartigen Festivitäten meist ein politisches Kalkül dahinter. So wurden 1678 bei einer einmonatigen Zusammenkunft der sächsisch-kurfürstlichen Familien in Dresden nicht nur die üblichen Aufzüge, Jagden oder Feuerwerke veranstaltet, sondern auch Opern, Komödien, Ballette und Maskeraden aufgeführt, um damit den Herrschaftsanspruch Johann Georgs II. gegenüber dem zweitgeborenen Prinzen Johann August zu bekräftigen. Zu den Opernaufführungen zogen viele Fürsten meist italienische Komponisten heran, und zwar nicht nur, weil sich die Oper dort wesentlich früher entwickelt hatte, sondern weil sie zugleich den Eindruck des Deutschbetonten vermeiden wollten, der lediglich einer sie bedrohenden nationalen Gefühlsaufwallung zugute gekommen wäre. Zu den führenden Opernkomponisten an den damaligen Höfen gehörten demzufolge vor allem Giovanni Bontempi, Francesco Cavalli, Pietro Cesti und Agostino Steffani. Doch auch Franzosen aus der Schule Jean-Baptiste Lullys, des Lieblingskomponisten Ludwigs XIV., waren an manchen Höfen recht beliebt. Selbst jene deutschen Musiker, die in diesen Jahrzehnten Opern komponierten, benutzten deshalb als Textvorlagen fast ausschließlich italienische Libretti, meist von Pietro Metastasio, in denen es fast immer um die von den Fürsten gewünschten höfischen Haupt- und Staatsaktionen ging. Um die Dominanz des jeweiligen Souveräns herauszustreichen, erweist sich in ihnen stets der zwar machtvoll auftretende, aber letztlich »großmütige« Herrscher als Sieger in allen Lebenslagen, der es sich leisten kann, selbst irgendwelchen ebenbürtigen Widersachern gegenüber die nötige »Clemencia« zu üben. Personen nichthöfischer Abstammung traten dagegen in solchen Werken fast immer als Niedriggesinnte auf. Sie wurden entweder als komisch dargestellt oder, falls sie es wagen sollten, die von Zeus, Jupiter oder dem christlichen Gott vorgeschriebenen Standesgrenzen zu überschreiten, mit der nötigen Unerbittlichkeit bestraft. Ja, am Schluß folgten manchmal sogar noch Huldigungen an das jeweils regierende Herrscherpaar, um nur ja keinen Zweifel am zutiefst affirmativen Charakter derartiger Aufführungen aufkommen zu lassen. 89
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Ein nachhaltiger Anstoß zu solchen Inszenierungen erfolgte bereits 1653 auf dem deutschen Fürstentag zu Regensburg, wo erstmals italienische Opern dieser Art aufgeführt wurden. Schon kurz darauf entschieden sich sowohl die Herzöge von Bayern als auch die Kurfürsten von Sachsen, in ihren Schlössern weiträumige Opernbühnen errichten zu lassen, was im Verlauf der nächsten Jahrzehnte auch in anderen Residenzstädten eine beachtliche Welle kostbar ausgestatteter Operninszenierungen in Gang setzte. Dadurch vermehrte sich die Zahl der höfischen Orchester geradezu von Jahr zu Jahr, was dem allgemeinen Musikleben, das im Dreißigjährigen Krieg fast völlig zum Erliegen gekommen war, einen beachtlichen Auftrieb gab. Sogar in den protestantischen Kirchen wurden in der Folgezeit nicht nur Orgelvorspiele oder instrumental begleitete Kantaten gespielt bzw. gesungen, sondern an bestimmten Feiertagen auch groß angelegte Oratorien, Passionen oder Kantaten aufgeführt, die an Länge und Orchesterbegleitung alles übertrafen, was es bisher auf diesem Gebiet gegeben hatte. Und auch die Messen in den katholischen Residenzstädten nahmen in diesem Zeitraum durch eine reichere Instrumentalbegleitung und durch größere Chöre immer eindrucksvollere Formen an. Außerdem fehlte es in beiden Lagern bei aufwendigen Gottesdiensten dieser Art keineswegs an Huldigungen an die jeweiligen Herrscherhäuser, was selbst bei solchen Anlässen auf eine Stärkung der absolutistisch überformten Gesellschaftsordnung hinauslief. Eine ähnliche Anpassung an das höfische sowie das ihm dienende geistliche Kulturleben läßt sich im Laufe des späten 17. Jahrhunderts in weiten Bereichen der Literatur beobachten. Ob im Drama, der Lyrik oder im Roman: überall kam es zu einer übersteigerten Rhetorik, das heißt zu gewaltigen Wortkaskaden, ja einem geradezu schwülstig wirkenden Emblemund Metaphernreichtum, der durchaus an den dekorativen Überschwang der damaligen Schloßarchitektur sowie die vielfachen Echowirkungen und brillanten Koloraturarien der barocken Musik gemahnt. Einer der ersten Fürsprecher dieser Wendung ins »Gekünstelte« war Georg Philipp H arsdörffer, welcher im dritten Teil seines Poetischen Trichters, der 1653 herauskam, den Autoren seiner Zeit empfahl, in ihren Dichtwerken möglichst viele 90
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»Poetische Beschreibungen / verblümte Reden und kunstzierliche Ausbildungen« zu verwenden, um so ein Abgleiten ins »Niedrige« zu verhindern. Und an derartige Vorschläge hielten sich die meisten Autoren der nächsten Jahrzehnte auch. Dieser Oberschichtenbezug, für den sich bereits Martin Opitz eingesetzt hatte, äußerte sich besonders deutlich im Bereich der Tragödie. In ihr herrschte weitgehend der »Genus grandiloquus« bzw. »altiloquus«, mit dem man allen gesellschaftlich höherstehenden Personen eine ans Erhabene grenzende Bedeutsamkeit zu verleihen suchte. Sie wirkten meist so, als seien sie mit einer von Gott verliehenen Aura umgeben. So wurde etwa, wie in der Tragödie Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus (1649) von Andreas Gryphius, der englische König als ein edelmütiger Souverän dargestellt, während sein bürgerlicher Gegenspieler Oliver Cromwell lediglich den Eindruck eines von niederen Motiven angestachelten Revoluzzers oder Thronräubers erweckt. Neben Rückgriffen auf den Stoizismus betonte Gryphius dabei, wie in seiner gleichzeitig erscheinenden Catharina von Georgien, auch die Tugend der christlichen Märtyrergesinnung, um auch die altbewährte Opferbereitschaft ins Spiel zu bringen. Noch nachdrücklicher trat nach ihm Daniel Casper von Lohenstein in seinen Dramen für eine Stärkung der absolutistischen Staatsräson ein, indem er allen »Niedrigkeiten« eine sowohl den göttlichen Geboten als auch den höfischen Machtansprüchen entsprechende ideologische Haltung entgegensetzte, die er als fürstliche »Edelmütigkeit« charakterisierte, um somit im Sinne des absolutistischen Staatsdenkens dem alleingültigen Rechtsanspruch der jeweils auftretenden Herrscherfiguren eine höhere Weihe zu verleihen. Die gleiche oder zumindest ähnliche Gesinnung herrscht in all jenen Erzählwerken, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als heroische oder höfisch-galante Romane galten. Das bekannteste Beispiel dieser Gattung ist der Großmütige Feldherr Arminius nebst seiner Durchlauchtigsten Thusnelda in einer Staats-, Liebes- und Heldengeschichte (1689/90) von Lohenstein, in dem er auf über 3000 Seiten in barock übersteigerter Sprachgebung den Sieg Hermann des Cheruskers über die Römer darstellte und den er zugleich dem 91
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sich als Sieger über die Türken ausgezeichneten Kaiser Leopold I. widmete. Nicht minder absolutistisch wirken die in der gleichen emblemreichen und zugleich manieristisch verzierten Sprachgebung geschriebenen, das heißt höfisch orientierten heroisch-galanten Romane von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig sowie Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen, die bei ihren vielfältig verwickelten Handlungsabläufen sogar ins Exotische ausschweiften, um sich nicht mit den ständischen Diskrepanzen der eigenen Gegenwart auseinandersetzen zu müssen. All das soll nicht heißen, daß es daneben keine Literatur gegeben habe, die eher bürgerlichen Interessen entsprach. Schließlich kam es in diesen Jahrzehnten durch eine von manchen Landesherren und bedeutenden Bildungstheoretikern wie Jan Asmos Komensky (Comenius) und Christian Thomasius betriebene Förderung des protestantischen Schulwesens, die – im Gegensatz zu den älteren Lateinschulen – durch den zunehmenden Gebrauch der deutschen Sprache eine verstärkte Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung in Gang setzte. Und das führte dazu, daß sich immer mehr Bildungsbeflissene aus dieser Schicht nicht nur der Theologie oder der Jurisprudenz, sondern auch der Literatur zuwandten. Allerdings akzeptierten sie dabei – aufgrund mangelnder widersetzlicher Ideologien – fast durchgehend den herrschenden Fürstenstaat als eine gottgewollte Ordnung, wenn nicht gar als irdisches Abbild des himmlischen Jerusalem. Da die Autoren dieser Art von Literatur fast zu 70 Prozent in fürstlichen, landesständischen oder städtischen Diensten standen und zudem aus erwerbsbürgerlichen oder akademisch gebildeten Familien stammten, fühlten sie sich durchaus als Teil einer »Nobilitas litteraria«, ja empfanden es als höchstes Statussymbol, von der höfischen Gesellschaft wahrgenommen oder gar geehrt zu werden. Um auf sich aufmerksam zu machen, versahen sie daher ihre Werke häufig mit ehrfürchtigen Dedikationen oder gar Lobpreisungen der jeweiligen Landesherren, was sowohl für unzählige von ihnen verfaßte Casualcarmina anläßlich hochherrschaftlicher Festivitäten als auch für viele ihrer Gedichtsammlungen, Dramen oder Romane gilt, die ohne solche Widmungen vielleicht nie gedruckt worden wären. 92
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Dennoch sollte man auch jene Dichtungen nicht übersehen, die sich in diesem Zeitraum – unterhalb der höfischen Sphäre – eher mit lediglich unterhaltsamen Zielsetzungen an die lesefähigen Mittelschichten der städtischen Bevölkerung wandten. Im Bereich des Romans waren das vor allem jene Werke, welche sich dabei am Gattungstyp des spanischen PicaroRomans à la Guzman de Alfarache oder Lazarillo de Tormes orientierten, deren Helden sich zwar gegen Lebensende zu einem religiösen Eremitendasein entschließen, aber sich vorher in einer abenteuerlichen Folge höchst realistisch gezeichneter Episoden als geschickte Überlebenskünstler bewähren müssen, wobei es manchmal – trotz allerlei Clownerien – auch zu zeitkritischen Äußerungen kommt. Den größten Erfolg innerhalb dieses Genres erzielte Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen mit seinem Roman Der Abentheuerliche Simplicius Simplicissimus Teutsch (1668), der zwar auch mit einer frommgemeinten Abkehr von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Welt endet, aber für die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges – mit deutlicher Sympathie für die gesellschaftlichen Unterschichten – vor allem die Habgier der herrschaftlich auftretenden Großkopfeten verantwortlich machte. Kurz darauf verfaßten Autoren wie Johann Beer, Christian Weise und Christian Reuter ebenfalls derartige simplizianische Schriften, wobei sie es zuweilen selbst an satirischen Ausfällen gegen das »französelnde« Alamode-Wesen unter den sich betont höfisch gebenden bürgerlichen Oberschichten nicht fehlen ließen. Ähnliche Tendenzen setzten sich im Laufe der Zeit auch auf der unteren Ebene der damaligen Theateraufführungen durch. Es gab zwar in den katholischen Landesteilen noch immer Aufführungen jesuitischer Ordensdramen, aber auch dort und vor allem in den evangelischen Gebieten zogen zusehends die sogenannten Wanderbühnen mit ihren verballhornten Klassikern der englischen, französischen und spanischen Dramatik Teile der städtischen Mittel- und Unterschichten in ihren Bann, die anläßlich solcher Aufführungen kein Hehl daraus machten, daß ihnen besonders die komischen Einlagen der als Pickelhering oder Hanswurst auftretenden Spaßmacher am besten gefielen. 93
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Ja, selbst im Bereich des Musiklebens stand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht alles im Zeichen des Höfischen. Zugegeben, die Oper, die vor allem in Residenzstädten wie Wien, München, Düsseldorf, Kassel, Braunschweig, Dresden und Berlin florierte, blieb ein rein aristokratisches Genre. An ihren Aufführungen, bei denen es sich durchweg um Werke der neapolitanischen oder venezianischen Opernschule handelte, nahmen fast nur die Herrscherfamilie sowie der immer größer werdende Hofstaat teil. Lediglich in der sich zu einer bedeutenden Handelsmetropole entwickelnden ehemaligen Hansestadt Hamburg kam es 1678 zur Gründung eines bürgerlichen Opernhauses, in dem jedoch ebenfalls die üblichen Hofopern mit ihren allmählich klischeehaft erstarrenden Haupt- und Staatsaktionen aufgeführt wurden, was zwar die lokalen Adelsschichten und Patrizier durchaus zu goutieren wußten, jedoch die pragmatisch denkenden Kaufmannsfamilien eher langweilte, worauf dieses Opernhaus zweimal Konkurs anmelden mußte. Was diese Schichten eher interessierte oder zumindest belustigte, war lediglich das komödiantisch angelegte Singspiel, welches jedoch seinen Siegeszug erst nach der Wende zum 18. Jahrhundert antrat. Fast die gleiche Zweiteilung läßt sich im Hinblick auf den Bereich der Instrumentalmusik beobachten. Von den Konzerten an den Höfen, die oft während der festlichen Diners stattfanden und daher als Tafelkonsort oder Tafelkonfekt bezeichnet wurden, nahmen die bürgerlichen Schichten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kaum etwas wahr. Ihre Domäne waren eher jene als »Collegia musica« oder »Convivia« geltenden Musizierabende, die in den Häusern reicher Kaufleute oder angesehener Akademiker stattfanden und zu deren Leitung häufig die Kantoren der jeweiligen Gemeindekirchen herangezogen wurden. Als Instrumente dominierten dabei weitgehend Violinen, Gamben, Blockflöten, Lauten oder Cembali. In der Auswahl der gespielten Stücke hielt man sich meist an in Generalbaßmanier komponierte Duette und Triosonaten oder an die in Frankreich beliebten Suiten. Die ersten Collegien dieser Art entstanden um 1660 in Handelsstädten wie Hamburg, Frankfurt und Leipzig. Einige Zeit später schlossen sich auch Studenten zu derartigen Spielgruppen zusammen, wofür das 1701 von Georg 94
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Abb. 15 Festliche Abendmusik, aufgeführt vom Collegium musicum in Jena (um 1740)
Philipp Telemann in Leipzig gegründete »Collegium musicum« das bekannteste Beispiel ist. Nicht lange danach veranstalteten solche Ensembles sogar zum ersten Mal öffentliche Liebhaberkonzerte, was zu einer allmählichen Professionalisierung der bürgerlichen Musikausübungen führte. Die einzige Form von Musik, an der weiterhin alle Stände teilhatten, war selbstverständlich die sonntägliche Kirchenmusik. In den katholischen Kirchen dominierten dabei nach wie vor die von den Geistlichen oder auch Chorknaben gesungenen Messen, in den evangelischen die mit einem Orgelvorspiel eingeführten Gemeindelieder, von denen sich – neben den bereits von Luther verfaßten – vor allem Martin Rinckarts »Nun danket alle Gott«, Johann Matthäus Meyfarts »O Ewigkeit, du Donnerwort«, Georg Neumarks 95
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»Wer nur den lieben Gott läßt walten«, Joachim Neanders »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren« sowie Paul Gerhardts »O Haupt voll Blut und Wunden« und »Geh aus mein Hertz und suche Freud« schnell einer großen Popularität erfreuten. Ebenso beliebt wurde es seit 1660, den protestantischen Gottesdienst durch kunstvoll komponierte Oratorien, Passionsmusiken oder Kantaten zu bereichern. Allerdings herrschte dabei – aufgrund der ständischen Unterschiede – sowohl in den katholischen als auch den protestantischen Kirchen trotz der von allen gesprochenen Gebete eine genau festgelegte Sitzordnung. Die Herrscher und ihre Familien sowie die Adligen bzw. Chorherren hielten sich weiterhin von den Bürgerlichen fern und saßen zumeist in logenartigen Sonderkabinen auf der Empore oder zogen sich hinter den Altar in die reichgeschmückte Apsis zurück. An all diesen Verhältnissen änderte sich auch im frühen 18. Jahrhundert kaum etwas. Die absolutistische Regierungsform blieb in allen Herrschaftsgebieten des Heiligen Römischen Reichs, ob nun den weltlichen oder den geistlichen, weitgehend die gleiche. In mancher Hinsicht setzte sogar noch eine straffere, alle Lebensbereiche durchdringende Bürokratisierung der innenpolitischen und sozioökonomischen Verhältnisse ein, durch welche die jeweiligen Landesfürsten im Zuge neuer Justizverordnungen, einer physiokratischen Steigerung der forst- und landwirtschaftlichen Produktion, der Anlage neuer Straßen und Kanäle sowie eine streng reglementierte Reform des Schul- und Universitätsunterrichts ihre in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts errungene Machtfülle, soweit es möglich war, ständig zu vergrößern suchten. All das führte zwangsläufig zu einem verstärkten Ausbau der staatlichen Verwaltungsorgane, wodurch sich viele Fürsten, wie gesagt, gezwungen sahen, neben den bisher für solche Stellen privilegierten Adligen auch zusehends Vertreter der gebildeten Oberschicht des Bürgertums in ihren Dienst zu stellen. Doch trotz solcher Maßnahmen wandelte sich die herkömmliche Klassensituation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nur geringfügig. Die führende Gesellschaftsschicht blieb weiterhin der Adel, während sich im Hinblick auf die soziale Lage der Mehrheit des städtischen Bürgertums 96
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sowie der unter erdrückenden Bedingungen lebenden Landbevölkerung aus all diesen Strukturveränderungen kaum irgendwelche Verbesserungen in ihrer Lebenshaltung ergaben. Selbst in den Städten, wo man es noch am ehesten erwartet hätte, änderte sich an der sozialen Ungleichheit nicht viel. Etwa ein bis vier Prozent der dortigen Bevölkerung gehörten nach wie vor zur Oberschicht, zehn bis 30 Prozent zur Mittelschicht sowie die restlichen 70 bis 80 Prozent zur plebejischen Unterschicht der kleinen Handwerker, Tagelöhner, Dienstboten, Armen oder Bettler. Ebenso konstant blieb die soziale Ungleichheit auf dem Lande, wo sich neben der Minderheit der adligen Gutsherren und freien Bauern die Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung weiterhin als Gutsarbeiter, Knechte, Mägde oder gar Leibeigene durchs Leben schlagen mußte. Was sich mentalitätsgeschichtlich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts änderte, war lediglich ein verstärktes Staatsbewußtsein innerhalb jener gebildeten bürgerlichen Oberschicht, welche die herrschenden Regierungsorgane als Stadträte, Ministerialbeamte, Universitätsprofessoren, Schuldirektoren oder Akademiemitglieder in ihre Dienste gestellt hatten. Viele von ihnen empfanden die zunehmende Bürokratisierung der staatlichen Verwaltung anfangs keineswegs als negativ und bemühten sich durchaus, daran mit bildungsbeflissenem Reformeifer teilzunehmen. Einige begannen sogar schon, eine gemäßigte Adelskritik zu üben, während sie den Fürsten, von denen sie immer weitergehende Reformen erwarteten, nach wie vor ehrerbietig gegenüberstanden. Ihr Ideal war »Der redliche Mann am Hofe«, wie sie ihn in ihren Schriften nannten. Manche Autoren dieser Kreise erkühnten sich bereits, sogenannte »Fürstenspiegel« zu verfassen, in denen sie ihre Herrscher aufforderten, sich zum Wohle ihres Staates als wahrhaft »gute Landesväter« zu erweisen. Fast alle solcher Bestrebungen waren – unter Berufung auf die »Vernunft« – durchaus gutwillig gemeint und liefen keineswegs auf antiabsolutistische Umsturzideologien hinaus. Während sich in London und Paris bereits größere Bevölkerungsschichten zu einer gesellschaftskritischen Aufklärungsgesinnung bekannten, wirken daher die meisten Reformvorschläge, welche 97
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die deutschen Rationalisten im frühen 18. Jahrhundert den Vertretern ihrer Obrigkeit unterbreiteten, eher gemäßigt oder kompromißbereit. Schließlich war ihren Autoren bewußt, daß sie in einem vielfältig zersplitterten Land lebten, in dem es kein großstädtisches Zentrum gab und daher ihre Vorschläge, zumal die überwältigende Mehrheit der städtischen Unterschichten und der Bauernbevölkerung nach wie vor Analphabeten waren, nur von den wenigen Gebildeten innerhalb der größeren oder kleineren Fürstentümer wahrgenommen wurden. Was sie schrieben, wirkt deshalb häufig seltsam abstrakt, wenn nicht gar ins Leere gesprochen. Schließlich wußten sie genau, daß hinter ihnen keine sie bei ihren Forderungen unterstützenden breiten Bevölkerungsschichten standen, deren Wünsche in die gleiche Richtung zielten. Demzufolge vermieden sie selbst da, wo sie gewisse verderbliche Erscheinungsformen des fürstlichen Absolutismus in Frage stellten, jedwede Radikalität und begnügten sich lieber mit philosophisch verklausulierten Reformvorschlägen, die politisch und sozioökonomisch weitgehend unkonkret blieben. Kurzum: sie »räsonierten« zwar, lehnten sich aber keineswegs gegen die herrschenden Obrigkeitsvorstellungen auf. Lediglich in einem Punkt wurden sie etwas deutlicher, nämlich stets dann, wenn sie sich für eine verstärkte »Liberalität« im öffentlichen Leben einsetzten, worunter sie jedoch meist nur bessere Bildungsmöglichkeiten, erfolgreichere Karrierechancen, eine nicht durch staatliche Zensurmaßnahmen eingeengte Rede- und Publikationsfreiheit, die Möglichkeit einer verstärkten persönlichen Selbstrealisierung sowie andere solcher spezifisch bürgerlichen Privilegien verstanden, während sie, wie schon die Humanisten des 16. Jahrhunderts, den Nöten der unteren Bevölkerungsschichten kaum Beachtung schenkten. Und zwar äußerte sich diese Haltung selbst auf religiösem Gebiet, wo die Vertreter des gehobenen Bürgertums nach wie vor allen an den Grundfesten des Absolutismus rüttelnden Ansichten aus dem Wege gingen, indem sie entweder an der 1710 von Gottfried Wilhelm Leibniz verkündeten »Theodizee« festhielten, eine pietistische Verinnerlichung im Gefolge Jakob Speners und August Hermann Franckes anstrebten oder sich im Gefolge der 98
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Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1719) von Christian Wolff zu einer deistischen Vernunftreligion bekannten, statt gegen die herrschende Symbiose von Thron und Altar zu Felde zu ziehen. Selbst den pantheistischen Gedankengängen des Spinozismus standen daher die meisten von ihnen weitgehend ablehnend gegenüber. Doch wie verhielt sich eigentlich die bürgerliche Trägerschicht der frühen Aufklärer den verschiedenen Künsten innerhalb des allgemeinen Kulturlebens gegenüber? Bot sich ihnen – aufgrund ihrer höheren Bildung – nicht wenigstens auf diesem Gebiet ein Experimentierfeld eingreifender Veränderungsvorschläge an? Zugegeben, manche ihrer Vertreter versuchten es, aber sie wichen sogar hierbei lieber ins Abstrakt-Philosophische aus, als irgendwelche sozialbetonten Forderungen aufzustellen. Dafür sprechen unter anderem die zwei Bände der auf lateinisch geschriebenen Aesthetica (1750 – 58) von Alexander Gottlieb Baumgarten, in denen zwar der Kunst eine alle menschlichen Sinne erregende Bedeutsamkeit, aber keine in die Gesellschaft eingreifende Funktion zuerteilt wurde. Damit gab Baumgarten der Kunst durchaus einen verstärkten Eigenwert, das heißt entzog sie irgendwelchen herrschaftsbetonten oder religiösen Zweckbestimmungen, machte aber zugleich den Weg frei, sie nur noch als eine den Einzelmenschen ansprechende Wirkungsmacht zu betrachten, was anschließend auf dem Weg über Georg Friedrich Meiers die Ansichten Baumgartens popularisierenden Buchs Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1750) zu jener liberalistischen Autonomieästhetik führte, die sich, wie in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790), jeder gesellschaftlich orientierten Zweckbestimmung entzog. Aber es war nicht nur die vorsichtig taktierende Zurückhaltung auf seiten der bürgerlichen Intellektuellen, weshalb es im frühen 18. Jahrhundert noch nicht zu wahrhaft aufgeklärten, das heißt gesamtgesellschaftlichen Kunst- oder Kulturvorstellungen kam. Die meisten Vertreter des Bürgertums waren einfach noch nicht einflußreich genug, um ihren Konzepten eine konkrete Wirkungschance zu verleihen. Da ihnen die weltlichen und geistlichen Machthaber sowohl politisch als auch ökonomisch weit überlegen 99
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waren, blieben diese zwei Schichten auch kulturell dominierend. Vor allem auf dem Gebiet der Architektur, Malerei und Musik waren die Herrschenden und nicht die Bürger die weiterhin entscheidenden Auftraggeber, weshalb sich die gesellschaftlich vereinzelten Intellektuellen lediglich auf literarischer Ebene und selbst dort nur zum Teil mit größter Mühe hervortun konnten. Im Bereich der Architektur spricht dafür im frühen 18. Jahrhundert vor allem die Fülle der barock-überladenen Schlösser, die in diesem Zeitraum gebaut wurden. Zwar hatte es bereits vorher eine Reihe stattlicher Schlösser gegeben, aber erst jetzt wurde die Errichtung derartiger Anlagen zu einem der wichtigsten Bauvorhaben schlechthin. Jede Residenzstadt bekam plötzlich, wie gesagt, ein Schloß mit einem Marstall, einem oder mehreren Bedienstetenflügel, einer Orangerie, einem Hoftheater, einer Schloßkapelle, ja sogar einer Schloßschänke, wodurch manche Herrscher bis zu 2000 Menschen in ihren Bann zogen. Dafür sprechen unter anderem das zwischen 1695 und 1745 von Johann Bernhard Fischer von Erlach erbaute Wiener Kaiserschloß Schönbrunn sowie die zwischen 1704 und 1753 fertiggestellten Schlösser in Ludwigsburg, Pommersfelden, Dresden, Würzburg, Schleißheim und Nymphenburg, bei denen an innerer und äußerer Ausstattung an nichts gespart wurde, um ihnen den Anschein von Hochburgen absolutistischer Machtfülle zu verleihen. Die gleiche prunkvolle Überladenheit herrscht in all jenen katholischen Kirchen, die im gleichen Zeitraum in Österreich und Bayern gebaut wurden, was vor allem für die Stifts-, Gemeinde-, Kloster- und Wallfahrtskirchen in Andechs, Banz, Birnau, Dießen, Erding, Ettal, Melk, Ottobeuren, Vierzehnheiligen sowie die St.-Emmeramkirche in Regensburg, die St.-Johann-Nepomukkirche in München, die Karlskirche in Wien und die Wieskirche in Steingaden gilt, deren ornamentaler Reichtum selbst die sorgfältig ziselierte Ausstattung der spätgotischen Kirchen des 15. Jahrhunderts bei weitem übertrifft. Während manche der gotischen Kirchen vor allem durch die in den Seitenkapellen aufgestellten Zunftaltäre noch einen durchaus stadtbürgerlichen Charakter hatten, galten solche Zweckbestimmungen jetzt als unzeitgemäß, weshalb selbst manche 100
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Abb. 16 Egid Quirin und Cosmas Damian Asam: St. Johann Nepomukkirche in München (1733 – 1746)
dieser Kirchen in ihrer Innenausstattung nachträglich barockisiert wurden. Was in derartig umfunktionierten bzw. neu errichteten Kirchen vorherrschte, war also weniger das Bürgerlich-Religiöse als das eindeutig Höfisch-Prunkvolle, mit dem man die Unaufgeklärten unter den Gläubigen 101
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von der geradezu erdrückenden Machtfülle des herrschenden Absolutismus überzeugen wollte. Auch weite Teile der Malerei dieser Ära paßten sich diesem Zug ins Herrschaftsbetonte an. Da es nach dem Niedergang dieser Kunstform im Dreißgjährigen Krieg kaum noch namhafte deutsche Maler gab, zogen viele der weltlichen und geistlichen Herrscher im frühen 18. Jahrhundert zur Ausschmückung ihrer Schlösser und Kirchen vornehmlich italienische Maler heran. So ließ etwa der Fürstbischof von Würzburg zwischen 1730 und 1753 den Kaisersaal und das Treppenhaus seiner Residenz mit Fresken von Giovanni Batista Tiepolo versehen. Andere Herrscher dieser Ära übertrugen solche Aufgaben, um als zeitgemäß zu gelten, meist Malern wie Andrea Pozzo, Martino Altomonte oder Marcantonio Chiarini, deren Stilgebung einen bewußt dekorativen Charakter hatte. Lokale Künstler wurden dagegen lediglich beauftragt, die vielen Ahnenbilder für die sich langhinziehenden Schloßgalerien zu malen und den jeweils Porträtierten durch prunkvolle Kostüme sowie hochaufgetürmte Allongeperücken ein möglichst herrscherliches Aussehen zu verleihen. Das Bürgertum trat dagegen in dieser Zeit auf dem Gebiet der Malerei als Auftraggeber oder Trägerschicht kaum in Erscheinung. Es gab zwar einige reiche Kaufleute und Gelehrte, die sich porträtieren ließen oder Bilder im »niederländischen« Geschmack erstanden, aber eine spezifisch mittelständische, geschweige denn aufgeklärte oder gar gesellschaftskritische Malerei entwickelte sich in diesem Zeitraum noch nicht. Etwas differenzierter verliefen im frühen 18. Jahrhundert die kulturellen Entwicklungsprozesse im Bereich der Musik. Zwar gab es auch hier im Hinblick auf die verschiedenen musikalischen Gattungen eine klare Trennung zwischen adligen und bürgerlichen Funktionsbestimmungen, aber auch manche Gemeinsamkeiten. So blieb etwa die fast ausschließlich auf italienisch gesungene Oper mit ihren lang ausgesponnenen, sich ständig überbietenden Koloraturarien sowie ihren auf der Götter- oder Königsebene spielenden Haupt- und Staatsaktionen weiterhin ein rein höfisches Genre, aber daneben entwickelte sich – nach dem Vorbild der französischen 102
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Opéra comique – gegen Ende des Jahrhunderts zugleich jene wesentlich anspruchslosere Form des deutschsprachigen Singspiels, dessen Handlungen im bürgerlichen Milieu spielten und das nach Maßgabe der von Martin Opitz aufgestellten Ständeklausel stets einen komödiantischen Charakter hatte. Viele dieser Werke dienten anfangs lediglich einer harmlosen Belustigung und bekamen erst nach der Jahrhundertmitte in den Singspielen von Carl Ditters von Dittersdorf, Johann Adam Hiller und vor allem Wolfgang Amadeus Mozart einen ernsteren Anstrich. Nicht ganz so getrennt verliefen die Entwicklungslinien innerhalb der Instrumentalmusik. Um 1700 gab es – schon wegen der Opernaufführungen sowie der vielen höfischen Feste – nur in einigen Residenzstädten größere Orchester oder Hofkapellen, während im Bereich des Bürgertums, wie gesagt, noch die Hausmusik mit wenigen Instrumentalisten und Sängern die beliebteste Form der Musikausübung war. Diese patrizischen Musizierklubs gingen jedoch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts in reicheren Kaufmannsstädten wie Hamburg, Frankfurt und Leipzig allmählich dazu über, auch halb-öffentliche Liebhaberkonzerte für den gehobenen Mittelstand zu veranstalten, bei denen man sogar Eintrittsgelder zu zahlen hatte, was dazu führte, daß aus Liebhabern der Musik schließlich Berufsmusiker wurden. Daher gab es um die Jahrhundertmitte neben den höfischen Orchestern bereits eine Reihe mittelständischer Konzertvereinigungen, die weitgehend die gleichen Symphonien, Suiten oder Virtuosenkonzerte aufführten, die auch bei Hofe beliebt waren. Und zwar gilt das nicht nur für die von Georg Philipp Telemann in Hamburg veranstalteten Liebha berkonzerte, mit denen er den »Vielen nutzen« wollte, statt lediglich für »die Wenigen« zu komponieren, wie er 1739 in seiner Selbstbiographie schrieb, sondern auch für die 1743 in Leipzig eingeführte Tradition der »Großen Konzerte«, aus denen später die Gewandhauskonzerte wurden, sowie das zwei Jahre darauf von Johann Stamitz gegründete und schnell berühmt werdende Mannheimer Symphonieorchester. Die von ihnen gespielten Werke bewirkten zwar in ihrer rein formalen Satztechnik eine 103
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fortschreitende Befreiung der Musik aus ihrem vorher durch bestimmte Anlässe festgelegten Gebrauchscharakter, führten aber zugleich zu einer autonomen, das heißt rein sinnlich oder seelisch intendierten Instrumentalmusik, die anfänglich von eher gesellschaftskritisch eingestellten Aufklärern wie Gotthold Ephraim Lessing wegen ihrer »Inhaltslosigkeit« erst einmal abgelehnt wurde, und erst gegen Ende des Jahrhunderts einen solchen Tiefgang bekam, daß sie wie in den Werken Wolfgang Amadeus Mozarts und dann vor allem des frühen Ludwig van Beethovens zusehends zum Ausdrucksmittel einer bürgerlichen Befreiung aus den Fesseln der höfischen Auftrags- oder Gebrauchsmusik wurde. Der geistlichen Musik dieses Zeitraums schenkten dagegen die frühen Rationalisten und dann die späteren Aufklärer wesentlich weniger Beachtung. Nur so ist es zu verstehen, daß selbst ein hochbedeutender Komponist wie Johann Sebastian Bach, der wie viele protestantische Kantoren dieser Zeit hauptsächlich Orgelwerke, Kantaten und Passionen komponierte, von ihnen überhaupt nicht beachtet wurde. Auch Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach waren in diesen Jahrzehnten fast ausschließlich durch ihre weltliche Orchester- und Kammermusik bekannt, während ihre geistlichen Werke – vor allem im Umkreis der »Vernünftler« – entweder als »rückständig« oder als »kunstlos« galten. Von einer im Sinne der Aufklärung »progressiv« eingestellten Kunst und Kultur im 18. Jahrhundert zu sprechen, ist daher letztlich nur sinnvoll, wenn man einige der sich kritisch gebenden Vertreter der bürgerlichen Literatur ins Auge faßt. Allerdings gilt es dabei im Hinblick auf ihre ideologischen Funktionsbestimmungen zwischen zwei Phasen zu unterscheiden: einer eher rationalistisch eingestellten, die weitgehend im Zeichen der von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff verkündeten Vernunftphilosophie stand und sich gegenüber dem fürstlichen Absolutismus bis zur Jahrhundertmitte durchaus kompromißlerisch verhielt, sowie einer eher aufklärerisch, ja aufmüpfig eingestellten, welche aufgrund ihrer antiabsolutistischen Anschauungen in den frühen neunziger Jahren sogar mit einigen Forderungen der Französischen Revolution zu sympathisieren 104
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begann und erst nach den sogenannten Greueln der in Paris herrschenden Jakobinerherrschaft wieder in den Hintergrund trat bzw. gewaltsam unterdrückt wurde. Der Hauptvertreter der ersten Phase war der Leipziger Professor, Philosoph, Dichtungstheoretiker, Dramatiker, Theaterreformer und Zeitschriftenherausgeber Johann Christoph Gottsched, der sich unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie und des französischen Klassizismus in seinem Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen (1730) für ein Literaturkonzept einsetzte, das vor allem der künstlerischen und sittlichen Vervollkommnung des gehobenen Bürgertums dienen sollte. Dementsprechend lehnte er sowohl alles Grobianisch-Volkstümliche wie die Hanswurstiaden auf dem Theater als auch die barock überladenen Haupt- und Staatsaktionen der höfischen Oper entschieden ab. Er wollte bei diesen Bemühungen zwar als »Nationaldichter« verstanden werden, faßte aber letztlich, wie so viele Neuhumanisten und Opitzianer vor ihm, wiederum nur die Wenigen, das heißt die gebildeten Mittelschichten ins Auge, während er den Kulturbedürfnissen der Unterschichten keine Beachtung schenkte. Und es folgten ihm auch einige Vertreter der von ihm angesprochenen Bevölkerungsschicht. Allerdings war ihre Zahl noch immer viel zu klein, um ihren Traktaten, die sie zwischen 1714 und 1745 in sogenannten Moralischen Wochenschriften wie Der Vernünftler, Der Patriot, Die vernünftigen Tadlerinnen sowie Der Freigeist abdrucken ließen, eine weitreichende Wirkung zu verleihen. Schließlich bestand in diesem Zeitraum, wie gesagt, die Mehrheit der Bevölkerung noch immer aus Analphabeten, eine Situation, die sich erst im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich veränderte, was – vor allem in den protestantischen Landesteilen – nicht nur dem Bildungsniveau, sondern auch einer breiteren Literaturrezeption zugute kam. Dafür spricht, daß der Prozentsatz deutschsprachiger Publikationen zwischen 1700 und 1750 ständig zunahm, während der Anteil der für die akademisch gebildeten Schichten auf lateinisch geschriebenen Bücher, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch 50 Prozent aller gedruckten Schriften umfaßte, drastisch zurückging. 105
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Erst dadurch wurde es möglich, literarische Funktionsbestimmungen ins Auge zu fassen, mit denen man auch die Unterschichten der städtischen Bevölkerung anzusprechen hoffte. Zu Anfang glaubten dabei einige Autoren wie Thomas Abbt, Ewald Christian von Kleist und Karl Wilhelm Ramler derartige Ziele am ehesten mit Hilfe des als aufgeklärt geltenden Monarchen Friedrich II . von Preußen zu erreichen, der kein überladenes Prunkbedürfnis besaß und als geheimer Atheist galt. Da er jedoch zugleich als kriegerischer Eroberer auftrat, in seiner Regierungstätigkeit weiterhin die Junkerkaste privilegierte und von der deutschsprachigen Literatur nicht viel hielt, erloschen diese Hoffnungen bald wieder. Vor allem Gotthold Ephraim Lessing, der entschiedenste unter den Aufklärern der Jahrhundertmitte, setzte sich nicht nur von Gottscheds Reformvorschlägen, sondern auch von den sogenannten »fritzischen« Gesinnungen ab. Statt dessen engagierte er sich vorübergehend für jenes 1767 in Hamburg gegründete Deutsche Nationaltheater, von dem er sich eine »freiwillige Beförderung des allgemeinen Besten« zugunsten einer gebildeten, klassenlosen Gesellschaft versprach, wo er jedoch erleben mußte, daß selbst das dortige, noch am ehesten aufgeklärte Bürgertum seinen hochgesteckten Zielen keineswegs nachfolgte und sich im Theater vornehmlich moralisch erbauen oder lediglich belustigen wollte. Überhaupt erwies sich das Drama, auf das Lessing, wie schon Gottsched, seine Hoffnung setzte, nicht als das geeignetste Genre, die dichtungsinteressierten Schichten des damaligen Stadtbürgertums zu erreichen. Was diese Klasse unter Literatur verstand, waren eher die Übersetzungen jener empfindsamen Romane à la Samuel Richardson, die damals in England große Mode waren. Obwohl in ihren Figurenkonstellationen eine gewisse Adelskritik herrschte, dominierte selbst in ihnen weniger das Politische als das Private, das heißt eine sich in Briefen entladende sentimental übersteigerte Gefühligkeit. In der gleichen Stimmung verfaßte Werke wie die von Johann Timotheus Hermes, August Lafontaine und Sophie von La Roche bis hin zu Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) wurden daher zu wahren Bestsellern, während die anspruchsvollen Bildungsromane 106
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Abb. 17 Moritz Daniel Oppenheim: Lessing und Lavater zu Gast bei Moses Mendelssohn (1856)
Christoph Martin Wielands oder die gesellschaftskritischen Romane Christian Gotthilf Salzmanns und Johann Heinrich Pestalozzis wesentlich weniger Beachtung fanden. Kurzum: gesamtgesellschaftliche Forderungen ins Auge fassende Autoren blieben selbst in den Jahrzehnten des aufgeklärten Absolutismus weitgehend Randfiguren. Ja, viele von ihnen sahen sich gezwungen, kümmerlich 107
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bezahlte Lehrer zu werden, sich als Hofmeister in den Dienst hochgestellter Adliger zu begeben oder zu versuchen, an den sogenannten Musenhöfen wohlwollender Fürsten als Erzieher oder Theaterleiter ein Auskommen zu finden. Da ihnen das sich weiterhin unpolitisch verhaltende Bürgertum die Gefolgschaft verweigerte, fühlten sie sich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Doch statt zu resignieren, schlossen sich wenigstens einige von ihnen zu Freundschafts- oder Dichterbünden zusammen, gründeten Lesegesellschaften, trafen sich in Literaturcafés oder gaben gesellschaftskritische Journale heraus, um so – inmitten der allgemeinen Misere – weiterhin auf einen Silberstreif am Horizont hoffen zu können. Dafür sprechen unter anderem die sich kritisch gebenden Schriften sogenannter Popularphilosophen wie Johann Jakob Engel, Christian Garve, Theodor Gottlieb von Hippel und Moses Mendelssohn, die Aktivitäten der Freimaurerlogen, die gegen religiöse Orthodoxie und übertriebene Empfindsamkeit auftretende Zeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek des Berliner Verlegers Friedrich Nicolai, die an die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen appellierenden Oden und Dramen Friedrich Gottlieb Klopstocks, welche in den siebziger Jahren vor allem unter den Anhängern des Göttinger Hains Furore machten, oder die zum gleichen Zeitpunkt von Johann Gottfried Herder propagierten Forderungen einer verstärkten Zuwendung zu eher volkstümlichen Dichtungsformen, die unter der Bezeichnung »Sturm und Drang« in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Manche dieser Bemühungen erreichten zwar einen Teil der gebildeten Mittelschichten, aber erzielten selbst dort lediglich einen Sturm im Wasserglas, der jenseits der literarisch interessierten Kreise keine weiterreichenden Wirkungen hatte. Schließlich umfaßte das »gelehrte Völkchen« der Aufklärer, um einen mit den herrschenden Zuständen wohlvertrauten Beobachter wie Nicolai zu zitieren, in diesem Zeitraum, als die Zahl der an »schöngeistiger« Literatur interessierten »Gelehrten« ständig zunahm, nach wie vor lediglich »30.000 Menschen«, während die restlichen »20 Millionen Menschen«, »die außer ihnen deutsch reden«, wie er schrieb, überhaupt kein »Bedürfnis« hätten, sich an irgendwelchen Bildungsbemühungen zu beteiligen. 108
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Was daher in der kulturpolitischen Situation des Heiligen Römischen Reichs auch in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts dominierend blieb, war ein halb autoritärer, halb aufgeklärter Absolutismus, in dem sich selbst die meisten kritischen Tendenzen nach wie vor nur als Individualerscheinungen äußerten, während es in Frankreich unter der Parole »Liberté, Égalité, Fraternité« im gleichen Zeitraum zu einer revolutionär gestimmten Massenbewegung kam, die im Jahr 1789 zum gewaltsamen Umsturz der absolutistischen Regierungsform führte, ja sich neben den bürgerlichen Schichten – aufgrund der Enteignung der adligen Großgrundbesitzer – sogar der Unterstützung großer Teile der Bauernbevölkerung erfreute.
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Höfischer Klassizismus und religiös-neudeutsche Reaktion Obwohl die Meldungen über all jene Ereignisse, die sich 1789 in Paris abspielten – ob nun der Sturm auf die Bastille oder die Errichtung eines Nationalkonvents – auch in einigen Staaten des Heiligen Römischen Reichs lokale Unruhen auslösten, ließ sich die Mehrheit der dortigen Bürger und Bauern davon keineswegs verleiten, nun auch unter dem Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« auf einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden absolutistischen Zustände zu drängen. Solche Bemühungen wären, was selbst den meisten liberal gesinnten Intellektuellen bewußt war, wegen der Machtfülle der herrschenden Fürsten und der überwiegend quietistischen Einstellung der in einem Obrigkeitsdenken befangenen gesellschaftlichen Unterschichten, die immer noch 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, sofort gescheitert. Wie hoffnungslos die innenpolitische Situation war, hatten bereits in den siebziger und achtziger Jahren jene Radikalaufklärer erlebt, die sich unter kosmopolitisch-humanistischer Perspektive als utopische Vorboten einer zukünftigen Befreiung ausgegeben hatten, jedoch stets auf staatlichen Widerstand stießen. Das gilt unter anderem für den 1776 von Adam Weishaupt in Ingolstadt gegründeten Illuminatenorden, der – auf Anraten der Jesuiten – wegen seiner materialistisch-atheistischen Aufklärungsphilosophie schon nach wenigen Jahren vom bayrischen Kurfürsten unterdrückt worden war. Ein ähnliches Schicksal erlebte die Deutsche Union, welche Karl Friedrich Bahrdt 1788 in Halle als Geheimgesellschaft radikaldemokratischer Schriftsteller gegründet hatte, welche die Errichtung von »Kommunbibliotheken« ins Auge faßte, um so die Aufklärung bis in die »Hütten des Volkes« zu verbreiten. Er wurde von den lokalen Behörden schon im April 1789 in Isolierhaft gesperrt und starb kurz darauf. Dennoch ließen sich eine Reihe anderer Aufklärer nach dem Ausbruch der Französischen Revolution nicht entmutigen, sich ebenfalls zu rebellischen 111
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Anschauungen dieser Art zu bekennen. Dazu gehörten unter anderem die schlesischen Evergeten, das heißt Gutesstifter, die sich nicht nur auf JeanJacques Rousseau, sondern auch auf Thomas Paine beriefen und wegen ihrer »Wühlerei«, wie es offiziellerweise hieß, ebenfalls sofort vor Gericht gezogen oder verhaftet wurden. Ebenso revolutionsbejahend verhielten sich in Süddeutschland Carl Ignaz Geiger, Wilhelm Ludwig Wekhrlin und besonders Georg Friedrich Rebmann, der sich zwischen 1792 und 1795 in von ihm herausgegebenen Zeitschriften wie Der Patriot, Das neue graue Ungeheuer, Die Schildwache und Die Geißel unentwegt für die Einführung »französischer Zustände« im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einsetzte. Nicht minder radikal trat der Hamburger Romancier und Dramatiker Friedrich Wilhelm von Schütz, ein Lessing-Anhänger und Parteigänger der Illuminaten, für eine demokratische Grundordnung ein, die auch den bisher Unterdrückten und Entrechteten endlich zu ihren vollen »Menschenrechten« verhelfen würde. Ja, selbst Friedrich Gottlieb Klopstock, wie auch andere republikanisch gesinnte Aufklärer, begeisterten sich in Hamburg für solche Ideen. Da sich jedoch diese Autoren schon nach kurzer Zeit wieder »mäßigten«, geschah ihnen nichts. All jene, die sich dagegen in Wien als »Freiheitsfreunde« für derartige Parolen einsetzten, ließ Kaiser Franz II. 1794 kurzerhand hinrichten. Eine konkrete Chance zu revolutionären Umwälzungen hatten solche Gruppen nur dort, wo ihnen die französischen Revolutionsmilizen zu Hilfe kamen. So konstituierte sich etwa am 23. Oktober 1792 in Mainz, zwei Tage nachdem diese Stadt von den Truppen Adam Philippe Custines erobert worden war, nach dem Vorbild des Pariser Jakobinerklubs eine revolutionäre Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit, der zeitweilig Georg Forster als Präsident vorstand. Wie bei den schlesischen Evergeten und der Bahrdtschen Deutschen Union lag auch hier der Hauptakzent auf einer allgemeinen Volksaufklärung und nicht auf irgendwelchen akademisch-philosophischen Vorstellungen. Doch schon im Juli 1793 gelang es der antifranzösischen Koalitionsarmee, Mainz wieder zurückzuerobern, worauf die dortigen Jakobiner ebenso scharf 112
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Abb. 18 Johann Jakob Hoch: Sitzung des Mainzer Jakobinerklubs (1793)
verfolgt wurden wie alle anderen auf die Einführung demokratischer Rechte drängenden Gruppen. Ja, derartige Reaktionen verschärften sich noch, als im gleichen Jahr die drakonischen Maßnahmen der Pariser Jakobinerdiktatur unter Maximilien Robespierre und Louis-Antoine Saint-Just in den konservativen Gazetten des Heiligen Römischen Reichs lediglich als blutrünstige »Greuel« hingestellt wurden, was dazu führte, daß die anfängliche Begeisterungswelle für die Freiheitsparolen des französischen Nationalkonvents merklich abebbte. Selbst gutwillige Liberale wie Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder, die nach 1789 manche Forderungen der französischen Revolutionäre, sofern sie ihrer »humanitären« Gesinnung entsprachen, durchaus begrüßt hatten, wurden deshalb in ihren diesbezüglichen Äußerungen wesentlich vorsichtiger. Bei dem zuvor ebenfalls aufklärerisch gesinnten Johann Wolfgang Goethe läßt sich dagegen zu diesem Zeitpunkt eine tiefgehende ideologische Umbesinnung beobachten, deren politische und ästhetische Auswirkungen 113
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einen Großteil seiner weiteren Tätigkeit als Minister und Dichter zutiefst beeinflussen sollte. Nachdem Goethe zuvor als Frankfurter Bürgersohn unter dem Einfluß Herders eher volkstümelnden Neigungen gehuldigt hatte, war er seit seiner Anstellung am Weimarer Hof im Jahr 1776 als Dichter zusehends in den Sog des dort tonangebenden empfindsamen Klassizismus mit all seinen ins Iphigenienhafte tendierenden Anschauungen geraten, hatte sich aber zugleich als Geheimer Rat im Sinne des aufgeklärten Absolutismus im Dienste des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach um humanitäre Reformen der dort herrschenden Verhältnisse bemüht, bis er 1786 plötzlich das Verlangen in sich spürte, sich im Zuge einer persönlichen Selbstfindung all diesen Bindungen zu entziehen und in Rom ausschließlich seinen künstlerischen Neigungen nachzugehen. Nachdem er dort eine Zeitlang weiterhin einem empfindsamen Klassizismus im Sinne Angelica Kauffmanns gehuldigt hatte, war er anschließend durch die Lektüre Homers sowie der Schriften Johann Joachim Winckelmanns zu der Einsicht gelangt, daß sich ein wahrhafter Klassizismus vornehmlich an der »edlen Einfalt und stillen Größe« der griechischen Kunst zu orientieren habe, die wegen ihrer auf den Gesetzen der unvergänglichen Natur beruhenden Gestaltungsweise, wie er immer wieder betonte, das maßgebliche Vorbild für alle weiteren Bemühungen für eine ins Dauerhafte und damit Zeitlose erhobene Kunst sein müsse. Ja, aufgrund seiner seit den frühen achtziger Jahren angestellten naturwissenschaftlichen Studien versuchte er diese Sehweise zugleich mit jenen neptunistischen Anschauungen zu untermauern, die damals als ein wichtiges Argument gegen alle eruptiven, das heißt vulkanistischen Veränderungsversuche ausgespielt wurden. Nach diesem Gesinnungswandel kehrte Goethe 1788 als ein eher konservativ als progressiv eingestellter Empiriker und Rationalist nach Weimar zurück, wo er die weiterhin empfindsam eingestellten »schönen Seelen« unter den Hofdamen durch seine antireligiöse, sich betont »griechisch« gebende Sinnlichkeit und seinen naturwissenschaftlichen Tatsachensinn erst einmal schockierte. Alles lediglich Wohlwollende oder auf gewaltsame 114
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Veränderungen Drängende lag ihm fortan fern. Als daher ein Jahr später die Französische Revolution ausbrach, welche die Weltgeschichte im Sinne vulkanistischer Anschauungen wieder mit dem Jahr Null neu beginnen wollte, reagierte er sofort ablehnend, ja begleitete seinen Herzog 1892 im ersten Koalitionskrieg gegen die Französische Republik sogar mit ins Feld und beteiligte sich ein Jahr später mit ihm an der Belagerung von Mainz. Goethes kulturelle Funktionsbestimmungen nahmen aufgrund dieser Ereignisse in den folgenden Jahren zweierlei Formen an: eine entschieden antirevolutionäre im Sinne der fürstlichen Reaktion gegen die Französische Revolution und deren ideologische Auswirkungen auf die bürgerlichen Liberalen im Heiligen Römischen Reich sowie eine klassizistische, das heißt eine auf Beständigkeit bedachte Kulturvorstellung, die sich an der zeitlosen Größe der griechischen Kunst orientieren sollte. Dafür sprechen einerseits Goethes Revolutionsfarcen Der Bürgergeneral und Die Aufgeregten (1792/93) sowie die gegen die deutschen Aufklärer und Jakobiner gerichteten Xenien, die er 1795 mit dem von ihm herangezogenen, ebenso revolutionsfeindlich eingestellten Bundesgenossen Friedrich Schiller verfaßte, andererseits sein Achilleis-Fragment (1797), mit dem er hoffte, sich als ein der Antike verschworener »Homeride« ausweisen zu können. Und zwar wurde Goethe dabei im Laufe der Jahre klar, daß diese beiden Bemühungen letztlich auf das gleiche, nämlich eine Aufrechterhaltung der höfischen Gesellschaftsordnung hinausliefen. Schließlich war der homerische Klassizismus, den er in Rom als eine von ihm entdeckte Kunstanschauung empfunden hatte, schon längst zur künstlerischen Ausdrucksform des aufgeklärten Absolutismus geworden. Statt sich wie im autoritären Absolutismus weiterhin »barock«, das heißt bombastisch, ja geradezu überwältigend zu geben, hatte sich nämlich in den höfischen Kreisen des aufgeklärten Absolutismus seit der Jahrhundertmitte innerhalb der kulturellen Funktionsbestimmungen schon längst jene schlichtere Stilhaltung durchgesetzt, die sich im Sinne einer an der Antike geschulten »Veredelung« um eine wesentlich einfachere, das heißt antibarocke Formgebung bemühte, um nicht allzu aufdringlich, wenn nicht gar diktatorisch zu wirken. 115
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Dafür sprechen schon die zwar freiheitlich gemeinten, aber später meist höfisch ausgelegten Gedanken über Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst (1755) von Johann Joachim Winckelmann sowie die Gemälde von Anton Raffael Mengs, Eberhard Wächter und Asmus Jakob Carstens, die in antikisierenden Posen vornehmlich Gestalten zeitenthobener »Menschlichkeit« darzustellen versuchten. Dieselbe Tendenz weisen die mit arkadischen Motiven versehenen italienischen Landschaftsbilder von Jakob Philipp Hackert, Joseph Anton Koch und Johann Christian Reinhard auf, die gleichzeitig oder kurz darauf entstanden. Im Bereich der Architektur hielten sich die Vertreter dieser Richtung entweder an das Buch De architectura von Vitruvius oder die Quattro libri d’ell architettura von Andrea Palladio, deren Einfluß sich schon in Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs Wörlitzer Schloß (1769 – 73) nachweisen läßt und sich danach bei vielen höfisch intendierten Denkmals- oder Schloßbauten wie dem Kasseler Fridericianum (1770 – 77) von Simon Louis du Ry, dem Berliner Brandenburger Tor (1789) von Carl Gotthard Langhans und dem Denkmalsentwurf für Friedrich II. von Preußen (1794) von Friedrich Gilly, um nur ein paar bekanntere Beispiele zu nennen, als die von den Fürsten weithin bevorzugte Stilhaltung durchsetzte. Und auch die bekannteren Hofbildhauer wie Franz Anton von Zauner in Wien sowie Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch in Berlin paßten sich dieser Tendenz ins Klassizistische an. Dafür sprechen sowohl Schadows Quadriga auf dem Brandenburger Tor (1793) wie auch seine Statuen der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen (1796 – 97), die er in langherabwallenden Gewändern und einer als griechisch geltenden Lockenfrisur darstellte, statt weiterhin dem überladenen Kostümaufwand des Barock zu huldigen, als auch Zauners Reiterstandbild Josephs II. (1795) und Rauchs Grabmal für Königin Luise (1811) im Charlottenburger Park. Ja, sogar die Hofoper, eins der Lieblingsgenres des autoritären Absolutismus, nahm an diesem Stilwandel teil, was vor allem für die sogenannten Reformopern Christoph Willibald Glucks gilt, der in seinen zwei Iphigenienopern (1774 – 78), die in ihrer musikdramatischen Form, das heißt mit 116
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dem Verzicht auf die bis dahin üblichen brillant getrillerten Koloraturarien zugunsten einer deklamatorischen Gesangsweise an die attische Tragödie erinnern sollten. Während es sich bei den barocken Julius Caesar-, Nerooder Agrippina-Opern meist um höchst komplizierte Haupt- und Staatsaktionen gehandelt hatte, ging es zwar auch in ihnen noch um höfische Konflikte, aber in einer wesentlich vereinfachteren Stilhaltung, die sich um den Anschein des »Humanitären« bemühte. Kurzum: im Gegensatz zu den kulturellen Ausdrucksformen des autoritären Absolutismus, bei denen weitgehend die imperiale Haltung des römischen Cäsarentums oder der herrschaftsbetonte Klassizismus der Hofkultur Ludwigs XIV. im Vordergrund gestanden hatten, wurde in der Ära des aufgeklärten Absolutismus auf höfischer Ebene durchweg die Tendenz ins Homerisch-Griechische bevorzugt, da vielen Fürsten das Vorbild der griechischen Stadtkultur im Hinblick auf das vielfach zersplitterte Heilige Römische Reich ideologisch wesentlich opportuner erschien als irgendwelche Rückbezüge auf das Imperium der römischen Kaiserzeit. Schließlich wollte man auf fürstlicher Seite nach wie vor die einzelstaatliche Ordnung aufrechterhalten, statt eine nationale Einheitskultur zu befördern, in der viele Vertreter der höfischen Kreise die Gefahr eines politischen Sansculottismus sahen, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte. Vor allem die Architekten, Maler und Komponisten, die weitgehend von den Aufträgen der Höfe abhängig waren, paßten sich deshalb dieser Stilhaltung durchaus an. Ja, manche hatten hierbei sogar das Gefühl, sich damit in den Dienst einer »reineren Menschlichkeit« zu stellen, die man ihnen in der Ära des autoritären Absolutismus noch verwehrt habe. Unter den Schriftstellern gilt das, wie gesagt, in besonderem Maße für Goethe und Schiller, die sich als geadelte Standespersonen am Weimarer Hof im Laufe der neunziger Jahre immer stärker für eine ins »Klassische« tendierende Funktionsbestimmung der Literatur einsetzten, welche – in strikter Ablehnung einer auch die Unterklassen ansprechenden Kunst – alles Nationalgesinnte bewußt vermied und lediglich eine an humanistisch-antiken Vorbildern geschulte Kultur für die höfischen Schichten sowie die bildungsbetonten 117
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Kreise des gehobenen Bürgertums ins Auge faßte. Volkstümlich gaben sie sich nur dann, wenn sie sich, wie Goethe in Hermann und Dorothea (1797) und Schiller in seinem Lied von der Glocke (1798), gegen eventuell weiterwirkende revolutionäre Umtriebe wandten. Ansonsten strebten sie, wie Goethe in seinen Gedichten, die er später unter der Überschrift »Antiker Form sich nähernd« zusammenfaßte, oder Schiller in seinem antikisierenden Schicksalsdrama Die Braut von Messina (1803), immer stärker ins Höhere einer bewußt elitären Schreibweise, die nicht die vielen Ungebildeten, sondern lediglich die vom Geist der von antiker Kultur Durchdrungenen ansprechen sollte. Schiller faßte diese Gesinnung in der lapidaren Sentenz zusammen: »Kannst du nicht allen gefallen, mach es den wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimm.« Obwohl sich beide hierbei bewußt waren, daß sie sich damit von den literarisch interessierten Mittelschichten, die lieber empfindsam gestimmte Romane lasen oder im Theater Unterhaltungsdramen aus dem bürgerlichen Familienleben à la August Wilhelm Iffland und August von Kotzebue bevorzugten, weitgehend isolierten, hielten sie dennoch nach wie vor an ihrer utopischen Vorstellung fest, mit ihren Werken endlich den einzig richtigen Weg zu einer »klassischen« Literatur eingeschlagen zu haben. Um die gleichen Tendenzen auch im Bereich der Malerei durchzusetzen, gründete Goethe 1798 unter dem Motto »Die Kunst soll sich so wenig wie möglich vom klassischen Boden entfernen« die Zeitschrift Propyläen, die er jedoch wegen ihres geringen Widerhalls, was auch für Schillers anti revolutionär gesinntes Journal Die Horen gilt, schon nach zwei Jahren wieder einstellen mußte. Die gleiche Erfahrung machte Goethe mit jenen von ihm veranstalteten Preisausschreiben, in deren Ankündigungen er alle »idealisch« gesinnten Maler aufforderte, ihm alljährlich Bilder mit »homerischen« Motiven zuzusenden. Auch dieses Vorhaben mußte er nach wenigen Jahren wegen mangelnden Interesses wieder aufgeben. Dennoch hielt er weiterhin hartnäckig an seinen Überzeugungen in dieser Hinsicht fest. Dafür spricht, daß er 1805 eine bewußt programmatische Schrift unter dem Titel Winckelmann und sein Jahrhundert verfaßte, in der er diesen Autor als den ersten pries, welcher die »Reste jenes Riesenzeitalters« entdeckt habe, 118
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Abb. 19 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Herzogin Anna Amalia von Sachsen-WeimarEisenach vor den Ruinen von Pompeji (1788/89)
die das »Herrlichste seien, was sich in der Kunst aller Zeiten finden lasse«. Er sei es gewesen, schrieb Goethe hier, der »in uns wieder den lebhaften Drang erregt habe, das, was er begann, mit Eifer und Liebe fort- und immer fortzusetzen«. Und auch Jakob Philipp Hackert, in dem er weiterhin den bedeutendsten Vertreter der klassizistischen Landschaftsmalerei sah, widmete Goethe 1811 eine längere biographische Studie, obwohl dessen vedutenhaft 119
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angelegte Bilder vielen der jüngeren Kunstkritiker bereits als hoffnungslos unzeitgemäß, das heißt ohne jede innere Anteilnahme an den inzwischen eingetretenen politischen Ereignissen sowie den damit verbundenen Wandlungen innerhalb der Kunstanschauungen erschienen. Doch gerade in dem von Hackert angestrebten Ewigkeitscharakter, den Goethe als das eigentlich »Klassische« der von ihm befürworteten Kunstvorstellungen empfand, sah er – trotz aller an ihm geübten Kritik – nach wie vor die über allem Vergänglichen stehende Bedeutsamkeit einer Kunst, die sich nicht beirren lasse, weiterhin an den ideologischen Grundlagen des von höfischer Seite unterstützten Klassizismus festzuhalten, der ihm als die bestmögliche, das heißt auf eine Unvergänglichkeit begründete Stilhaltung im Rahmen des aufgeklärten Absolutismus erschien. Die in den späten neunziger Jahren einsetzende politische und kulturelle Fronde gegen derartige Ansichten, welche in den folgenden zwei Jahrzehnten eher zu- als abnahm, gab ihren Funktionsbestimmungen im Hinblick auf Kunst und Kultur völlig andersgeartete Zielsetzungen. Zu Anfang betonte sie eher subjektivistische Gesichtspunkte, setzte sich jedoch darauf – wegen der nach der Jahrhundertwende von Napoleon erzwungenen Auflösung des Heiligen Römischen Reichs – auch für christliche und nationalbetonte Anschauungen ein, was zu jenem nur schwer zu entwirrenden In- und Nebeneinander volkstümelnder, neudeutsch-patriotischer, christgermanischer und mittelalterverklärender Anschauungen führte, zu dessen Charakterisierung man lange Zeit den höchst vagen oder zumindest pauschalisierenden Begriff »Romantik« verwendet hat, der mehr auszusagen scheint, als er wirklich beinhaltet. Schon die kulturpolitischen sowie ästhetischen Programmerklärungen der sogenannten Frühromantik, worunter man gemeinhin die Schriften jenes Freundeskreises um Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Novalis, Ludwig Tieck und Dorothea Veit versteht, lassen sich kaum auf einen klar umrissenen Nenner bringen. Ihre ideologischen Leitvorstellungen waren zum größten Teil so nebulös, daß sich aus ihnen kein klar definierbares Konzept einer andersgearteten Gesellschaftsordnung ableiten läßt. Ihre Vertreter strebten 120
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nicht nach politischen oder sozialen Änderungen für die auch von ihnen geringgeschätzten Vielen, sondern empfanden sich vornehmlich als »Messiasse im Plural«, von denen jeder einzelne – im Gegensatz zu den auf eine gefühllose Vernünftigkeit oder höfische Dienstbereitschaft eingeschworenen »Philistern«, wie sie alle Nichtromantiker nannten – seine bis ins Unendliche ausschweifende Selbsterfüllung oder Selbsterlösung ins Auge faßte. Allerdings ging dieser frühromantische Drang ins Exzentrische oder gar Irrational-Mystische – aus Abneigung gegen den als goetheanisch, das heißt als »rationalistisch« abgelehnten Klassizismus – schon kurz nach 1800 immer stärker ins Germanisch-Deutschbetonte oder Altertümelnd-Christkatholische über und verlor dadurch seine anfänglich ins Subjektiv-Libertäre tendierenden Züge. Das hing vornehmlich damit zusammen, daß Napoleon, wie gesagt, im Zuge der weiterhin andauernden Koalitionskriege um 1803 mit seiner Grande armée dem schon im 17. Jahrhundert funktionsunfähig gewordenen Heiligen Römischen Reich den seit langem befürchteten Todesstoß versetzte. Durch diesen Okkupationsakt kam es in vielen deutschen Staaten zu einer Fülle romantisch-verworrener Gegenbewegungen, bei denen sich ideologisch manchmal kaum unterscheiden läßt, ob sie dabei in ihren Forderungen lediglich eine Erhaltung der alteingesessenen fürstlichen Dynastien oder eine Befreiung des unterdrückten Volks zugunsten eines deutschen Einheitsstaates anvisierten. Schließlich war für die meisten Menschen im Heiligen Römischen Reich damals noch nicht Deutschland, sondern ihr jeweiliger Heimatstaat, also Preußen, Bayern, Lippe-Detmold oder gar Sachsen-Weimar-Eisenach, ihr eigentliches »Vaterland«. Ja, was die ideologische Situation noch zusehends verkomplizierte, war, daß einige der älteren Liberalen, die in Napoleon eher einen Vollstrecker als einen Bändiger der Französischen Revolution sahen, ihn vorübergehend wegen seiner bürgerlichen Herkunft, des von ihm erlassenen Code civil sowie der Liquidierung der geistlichen Herrschaftsgebiete durchaus als einen antiabsolutistisch eingestellten Aufklärer empfanden, der sich die Befreiung aller weiterhin unter feudalistischen Bedingungen lebenden Menschen zur Aufgabe gemacht habe. Erst als sich Napoleon 1804 zum eigenmächtigen 121
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Empereur krönte, schwenkten auch die Vertreter dieser Kreise wie etwa Ludwig van Beethoven, der kurz darauf den Namen »Napoleon« auf dem Titelblatt seiner Eroica wieder strich, auf einen antifranzösischen Kurs ein. Noch ernüchterter wurden diese Liberalen, als Napoleon in seinen anschließenden Feldzügen sowohl Preußen als auch Österreich besetzte und somit immer stärker als imperialistisch gesinnter Gewaltherrscher auftrat, was nicht nur eine Reihe politischer, sondern auch kultureller Gegenbewegungen in Gang setzte. In politischer Hinsicht sind dafür vor allem jene zur Stärkung einer größeren Wehrbereitschaft eingeleiteten preußischen Reformbestrebungen bezeichnend, die in den folgenden Jahren vom Reichsfreiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Karl August von Hardenberg und August Wilhelm Neidhard von Gneisenau angestoßen wurden. Gedemütigt durch die militärischen Mißerfolge, faßten diese Adligen dabei erst einmal eine durchgreifende Heeresreform ins Auge, um so die bisherigen, nur widerwillig kämpfenden Söldnerheere durch ein todesverachtendes Landsturmheer zu ersetzen, das wie die Grande armée Napoleons ebenfalls aufgrund patriotischer Gefühle und nicht für einen vorher festgesetzten Sold für ihr Vaterland ins Feld ziehen würde. Ähnliche Ziele lagen der von Hardenberg betriebenen Befreiung der Bauern aus ihrer bisherigen Erbuntertänigkeit sowie der Einführung der Gewerbefreiheit und der Selbstverwaltung der Städte zugrunde, um so auch dem Landvolk und dem bürgerlichen Mittelstand das Gefühl einer größeren Staatsverbundenheit zu geben, was von späteren Historikern als »defensive Modernisierung« bezeichnet worden ist. Welche Wirkung diese Reformbemühungen und die ihnen zugrunde liegende antifranzösische Stimmung unter einigen national gesinnten Intellektuellen hatte, belegen unter anderem jene 1805 von Friedrich Schlegel geäußerten Haßerklärungen gegen Frankreich, in denen er zu einem »gänzlichen Vernichtungskrieg« gegen die durch und durch »verderbte Nation« jenseits des Rheins aufrief, die seit 1806 unter dem Titel Geist der Zeit erscheinenden Schriften von Ernst Moritz Arndt, welche 122
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sich in aller Schärfe gegen den »hinterlistigen Despotismus« Napoleons wandten, die zwischen 1806 und 1808 gehaltenen Patriotischen Predigten Friedrich Daniel Schleiermachers, worin sich dieser bemühte, sogar die Religion in den Dienst einer nationalen Erweckung zu stellen, die im Winter von 1807 auf 1808 in Berlin vorgetragenen Reden an die deutsche Nation von Johann Gottlieb Fichte, in denen er eine nationalpädagogische Erziehung forderte, um so alle Deutschen in dem Gefühl zu bestärken, Angehörige eines seit altersher bedeutsamen Volkes zu sein, sowie das zwischen 1808 und 1810 mit geradezu chauvinistischer Überheblichkeit geschriebene Buch Deutsches Volkstum von Friedrich Ludwig Jahn, der im Jahr darauf eine als Wehrkraftverein gedachte Turngesellschaft gründete, die sich schnell einer lebhaften Zustimmung erfreute. Doch auch andere Schriftsteller und Wissenschaftler zögerten im gleichen Zeitraum keineswegs, sich für ähnliche national gestimmte Anschauungen einzusetzen. Die ersten waren die Literaturinteressierten, und zwar vor allem jene, die sich zwar weiterhin als Romantiker ausgaben, aber unter einer wahrhaft zeitgenössischen Dichtung nicht mehr jene ins Unendliche ausschweifende »progressive Universalpoesie« des frühen Friedrich Schlegel, sondern eine bewußt deutsch gesinnte Dichtung verstanden. So hielt etwa August Wilhelm Schlegel schon 1803/04 in Berlin eine Reihe von Vorlesungen über die schöne Literatur und Kunst, in der er sich gegen den im 18. Jahrhundert herrschenden Einfluß der französischen Aufklärungsliteratur sowie der von Winckelmann inaugurierten Griechenschwärmerei wandte und statt dessen die deutschen Dichtungen des Mittelalters als maßgebliche Vorbilder einer neuen, spezifisch national ausgerichteten Literatur hinstellte. Darauf hielten Professoren wie Karl Besselstedt in Königsberg und Karl Schildener in Greifswald fast jedes Jahr eine Vorlesung über das bis dahin kaum beachtete Nibelungenlied. Ebenso nachdrücklich wurden plötzlich auch andere mittelalterliche Epen als richtungweisende Werke des deutschen Volksgeistes angepriesen, um so der Literatur – nach langen Zeiten einer ausländischen »Überfremdung« – wieder eine nationale Funktionsbestimmung zu geben. Und zwar versuchte man mit derartigen Publikationen oder Vorlesungen 123
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nicht nur die kulturelle Trägerschicht der bildungsbürgerlichen Kreise, also die Wenigen, sondern – wie Achim von Arnim und Clemens Brentano mit ihrer Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806 – 08), Johann Joseph Görres mit den Deutschen Volksbüchern (1807) sowie die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm mit ihren Kinder- und Hausmärchen (1812 – 15) – auch die unteren Bevölkerungsschichten, also die Vielen, anzusprechen und in einem national gestimmten Sinne zu beeinflussen. Ja, einigen der entschieden antinapoleonisch auftretenden Dichter und Publizisten genügten selbst derartige Bemühungen nicht. Deshalb griffen sie sogar noch hinter das Volkslied und die Märchentradition zurück und erhoben die von Tacitus überlieferte Hermann-Figur zum wichtigsten Leitbild einer wahrhaft neudeutschen Gesinnung. Wohl das bekannteste Werk dieser Art lieferte Heinrich von Kleist 1808 mit seiner Hermannsschlacht, in der Varus indirekt mit Napoleon gleichgesetzt wird und Hermann der Cherusker wie ein Staatsmann wirkt, der dem Reichsfreiherrn vom und zum Stein ähnelt. Doch ein solches Drama erschien den Wiener und Berliner Bühnen im Jahr 1808, als Napoleons Herrschaft im gesamten mitteleuropäischen Bereich noch ungebrochen war, viel zu radikal. Und auch Kleists im Zusammenhang mit der preußischen Heeresreform geschriebenes Drama Prinz Friedrich von Homburg wurde von den sich zaghaft verhaltenden preußischen Hofkreisen nicht zur Aufführung freigegeben, weshalb er sich im November 1811 das Leben nahm. Daher erlebte Kleist nicht mehr, wie es in den nächsten zwei Jahren zu dem von ihm erhofften Befreiungskrieg kam. Den Auftakt dazu bildete jener Bündnispakt, den der preußische General Ludwig Yorck von Wartenburg am 30. Dezember 1812 mit den siegreich vordringenden Russen, welche kurz zuvor die in das Zarenreich eingefallene Grande armée an der Beresina vernichtend geschlagen hatten, im ostpreußischen Tauroggen schloß. Doch erst im Oktober 1813 konnte die preußisch-russische Koalition die Reste der französischen Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig endgültig besiegen, worauf sich Napoleon und seine militärische Derrièregarde hinter die Rheinlinie zurückzogen. 124
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Diese Ereignisse lösten in den meisten deutschen Teilstaaten einen nationalen Begeisterungssturm aus, den es vorher in dieser Form noch nie gegeben hatte. Nicht nur der Reichsfreiherr vom und zum Stein glaubte in diesen Monaten, daß jetzt die Zeit für eine neue Reichsverfassung gekommen sei, sondern auch zahlreiche der vom Sieg über den »Landräuber« Napoleon begeisterten bürgerlichen Liberalen gaben sich zu diesem Zeitpunkt der Hoffnung hin, daß die Befreiung vom französischen Joch zwangsläufig zu einer Abkehr von der noch immer bestehenden absolutistischen Fürstenherrschaft in Deutschland führen würde und damit aus dem inzwischen untergegangenen Heiligen Römischen Reich endlich ein einheitlich regierter Nationalstaat mit einer ausschließlich deutschen Kultur werden könne. Wie groß diese Begeisterungswelle war, demonstrieren vor allem die vielen Lieder und Gedichte, welche zu diesem Zeitpunkt entstanden, die in breiten Schichten der Bevölkerung den erwünschten Anklang fanden. Wohl die folgenreichste Wirkung erzielte Ernst Moritz Arndt mit seinen Liedern für Teutsche (1813), darunter dem Lied »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / Der wollte keine Knechte, / Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß / Dem Mann in seine Rechte«, sowie mit dem zwischen 1813 und 1815 in 29 Drucken erschienenen Gedicht: »Was ist des Teutschen Vaterland? / Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?«, worauf die Zeilen folgten: »O nein! O nein! / Das ganze Teutschland soll es ein.« Als ebenso wirksam erwies sich Theodor Körners in Verse gefaßter Aufruf von 1813, dem das Bekenntnis zugrunde lag: »Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen; / Es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heiliger Krieg!« Und auch seine Anthologie Leier und Schwert mit dem vielgesungenen Lied »Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd« machte 1814 schnell die Runde. Ja, selbst manche Maler ließen sich in diesem Zeitraum dazu hinreißen, ihren Bildern – in bewußter Frontstellung gegen den von ihnen als undeutsch empfundenen Klassizismus – eine betont nationale Note zu geben. Dafür sprechen nicht nur die Walküren- oder Hermann- und Thusnelda-Darstellungen auf den Gemälden von Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, sondern auch 125
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jene Hünengräber, schneebedeckten Eichen oder gotischen Ruinen, die Caspar David F riedrich seit 1808 malte und die in ihrer Tod- und Auferstehungsthematik die Hoffnung auf eine nationale Wiedergeburt signalisieren sollten. Selbst der 1809 von Johann Friedrich Overbeck und Franz Pforr in Wien gegründete Lukasbund hatte in seinen Anfängen eine bewußt nationalistische Note, indem er sich in seinen zwar christlich, aber zugleich bürgerlich dargestellten Motiven – unter Berufung auf Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) und Ludwig Tiecks Sternbalds Wanderungen (1798) – an der als antihöfisch empfundenen Malweise der Dürer-Zeit orientierte. Doch trotz dieses deutschbetonten Überschwangs hielten die meisten dieser Lyriker und Maler weiterhin am Konzept einer monarchischen Gesellschaftsordnung fest, statt eine als »französelnd« empfundene Wendung ins Republikanische zu fordern. Selbst in den 1814 verfaßten Schriften von Arndt, Görres, Hardenberg und Stein wird zwar eine »eingeschränkte Hoheit« der jeweiligen Landesfürsten, aber keine durchgreifende Wendung ins Demokratische gefordert. Das gleiche gilt für die hochtönenden Reden, die 1814 bei den in vielen Städten stattfindenden Nationalfesten gehalten wurden, wo die begeisterte Volksmenge häufig einen deutschpatriotisch gemeinten Eid ablegte, sich nie wieder einem fremden Volk zu unterwerfen, aber ohne sich dabei zu fürstenfeindlichen Stimmungen hinreißen zu lassen. Letztlich herrschte bei fast allen dieser Feiern ein Gefühlsnationalismus, dem ein Politikverständnis zugrunde lag, das weiterhin im älteren Sinne »vaterländisch« ausgerichtet war. Dennoch nahm fast keiner von den Fürsten oder hochgestellten Adligen an diesen Festen teil. Diese Schichten sahen darin lediglich Symptome eines Nationalismus, der sie in ihren politischen und sozialen Herrschaftsvorstellungen bedrohen könnte. Zugegeben: sie teilten zwar mehrheitlich die Freude, die französischen »Bedrücker« endlich aus ihren Territorien vertrieben zu haben, aber hofften ansonsten, von nun an wieder zu den altgewohnten absolutistischen Zuständen zurückkehren zu können. Alle diese Fürsten entschieden daher 1815 auf dem vom österreichischen Staatskanzler Clemens Lothar Wenzeslaus von Metternich einberufenen 126
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Abb. 20 Karl Russ: Hermann befreit Germania (1815)
Wiener Kongreß, weder das sang- und klanglos untergegangene Heilige Römische Reich wiederherzustellen noch einen nationalen Einheitsstaat zu gründen, sondern den inzwischen entstandenen 36 Teilstaaten eine durchaus absolutistisch verstandene Souveränität zuzugestehen. Auch in der Zukunft sollte, wie es in den dort gefaßten Beschlüssen hieß, in den verschiedenen Bundesländern statt eines als »jakobinisch« empfundenen Volkswillens einzig und allein das dynastische Prinzip herrschen. Um dem Ganzen sogar noch eine höhere Weihe zu geben, schlossen darauf der russische Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König einen als »Heilige Allianz« ausgegebenen Bündnispakt, mit dem sie, wie in den Zeiten des Ancien régime, die unverbrüchliche Einheit von Thron und Altar als »gottgewollt« hinzustellen versuchten. 127
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Alle kurz zuvor aufgeflackerten Hoffnungen auf einen völkischen Zu sammenschluß stellten sich somit als Illusionen heraus. An die Stelle des autoritären Absolutismus war zwar inzwischen die Form des aufgeklärten Absolutismus getreten, aber staatsrechtlich oder kulturell waren dadurch seit den achtziger Jahren des voraufgegangenen Jahrhunderts keine gravierenden Änderungen eingetreten. Ja, von höfischer Seite wurde von nun ab selbst auf kulturellem Gebiet wieder alles unternommen, irgendwelche liberalen oder gar nationaldemokratischen Regungen zu unterdrücken, indem sich die einzelnen Regierungen bemühten, entweder den älteren Klassizismus zu unterstützen oder die neudeutsch gemeinten christlichen Anschauungen ins Konservative, wenn nicht gar Reaktionäre umzulenken. Und damit blieb die Hoffnung auf eine Kultur der Vielen, welche manche Vertreter der republikanisch eingestellten Kreise während der Befreiungskriege angestrebt hatten, weiterhin eine uneingelöste Utopie.
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Biedermeierliches und Vormärzliches in der Metternichschen Restaurationsepoche Wohl die schärfsten Reaktionen auf die Beschlüsse des Wiener Kongresses erfolgten anfangs von seiten der im Juni 1815 in Jena gegründeten Urburschenschaft, deren Anhänger im Gefolge Johann Gottlieb Fichtes, Friedrich Ludwig Jahns, der Lützower Jäger von 1813 und der Deutschen Gesellschaften von 1814 weiterhin für die Errichtung eines deutschen Nationalstaates sowie die »Belebung deutscher Art und deutschen Sinnes« eintraten. Statt die alte, geradezu mittelalterlich-feudalistische Ständeordnung aufrechtzuerhalten, bekannten sie sich zu einer politischen und sozialen Gleichstellung aller deutschen Bürger, um so eine uneingeschränkte Volkssouveränität durchzusetzen. In der von ihnen vertretenen Ideologie verschmolzen hierbei, wie schon bei Friedrich Gottlieb Klopstock, den Göttinger Hainbündlern und Ernst Moritz Arndt, ihre nationalpolitischen Erwartungen oft aufs engste mit protestantisch-religiösen und germanophilen Konzepten, was vielen ihrer Reden und Schriften einen ins Enthusiastische überhöhten Charakter gab, der durchaus revolutionäre Züge hatte. Um diese Gesinnung auch nach außen hin zu demonstrieren, trugen alle von derartigen Überzeugungen durchdrungenen Burschenschafter die von Jahn und Arndt propagierte »altdeutsche« Tracht, das heißt dunkelbraune Tuchröcke und ein schwarzes Barett, um so mit nationaldemokratischer Gesinnung gegen die damals noch übliche ständisch gegliederte Kleiderordnung zu protestieren, die für Adlige und Bürgerliche höchst unterschiedliche Röcke und Hüte vorsah. Ihren Höhepunkt erlebte diese burschenschaftliche Begeisterungswelle am 17. Oktober 1817 auf dem vom Jenaer Turnerbund einberufenen Wartburgfest anläßlich der 300. Wiederkehr des Lutherschen Thesenanschlags gegen den alleinseligmachenden Machtanspruch der katholischen Kirche sowie des vierten Jahrestags der Völkerschlacht bei Leipzig, bei dem die daran Teilnehmenden als deutsch gesinnte Patrioten mit Liedern wie »Ein feste Burg ist unser Gott« und »Der 129
Biedermeierliches und Vormärzliches in der Metternichschen Restaurationsepoche
Gott, der Eisen wachsen ließ, / der wollte keine Knechte« ihrem ungebrochenen Kampfesmut Ausdruck verliehen, eine Reihe reaktionärer Bücher verbrannten und sich zu der Maxime bekannten: »Von dem Ländchen, in welchem wir geboren sind, wollen wir niemals das Wort ›Vaterland‹ gebrauchen. Deutschland ist unser Vaterland.« Daß die Regenten der einzelnen deutschen Teilstaaten derartige Aktivitäten nicht einfach hinnehmen würden, war vorherzusehen. Vor allem Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Maximilian Joseph I. von Bayern und der österreichische Staatskanzler Fürst Clemens Lothar Wenzeslaus von Metternich faßten darauf sofort Maßnahmen ins Auge, wie sich der dort aufgeflackerte »barbarische Jakobinismus«, den sie für höchst bedrohlich hielten, wieder unterdrücken ließe. Und zwar bekam das nicht nur die Jahnsche Turnergesellschaft zu spüren, die bereits Anfang 1819 in Preußen verboten wurde. Selbst viele Burschenschafter sahen sich plötzlich gefährdet. Lediglich die Gießener Unbedingten unter Karl Follen ließen sich hiervon nicht entmutigen und setzten ihre Hoffnung weiterhin auf eine revolutionäre Umwälzung der absolutistisch regierten Einzelstaaten in einen von einem Volkskönig regierten Einheitsstaat, in dem es nur noch demokratisch regierte »Gaue«, aber keine Königreiche oder Fürstentümer mehr geben würde. Am weitesten unter diesen Radikalen ging dabei der unter dem Einfluß Follens stehende Burschenschafter und Theologiestudent Karl Ludwig Sand, der am 23. März 1819 den wegen seiner antiburschenschaftlichen Haltung von allen deutschnationalen Studenten gehaßten »Schänder der deutschen Geschichte« August von Kotzebue in Mannheim kurzerhand niederstach und dafür zum Tode verurteilt wurde. Dieses aus politreligiösen Motiven erfolgte Attentat gab den deutschen Fürsten endlich den erwünschten Anlaß, gegen alle national gestimmten »Demagogen«, wie sie die Vertreter derartiger Gesinnungen fortan offiziellerweise nannten, mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln vorzugehen und in allen deutschen Teilstaaten ein sogenanntes antiterroristisches Überwachungssystem einzurichten. Kodifiziert wurden diese Entscheidungen auf einer im August 1819 von Fürst Metternich nach Karlsbad einberufenen Ministerkonferenz. Die dort 130
Biedermeierliches und Vormärzliches in der Metternichschen Restaurationsepoche
verabschiedeten Gesetze, die anschließend vom Frankfurter Bundestag einstimmig gebilligt wurden, bestimmten dreierlei: eine strengere Überwachung der Universitäten, eine staatliche Zensur sämtlicher Publikationen sowie das Recht auf militärische Eingriffe in allen Mitgliedsstaaten, die nicht scharf genug gegen »revolutionäre Umtriebe« in ihren Ländern vorgehen würden. Die Folgen dieser Beschlüsse wirkten sich auf allen Ebenen des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens aus. Nicht nur die Burschenschaften und das Tragen der altdeutschen Tracht, auch weitere Gedenkfeiern der Völkerschlacht bei Leipzig wurden verboten. Selbst die von Friedrich List befürworteten nationalen Verkehrs-, Handels- und Zoll erleichterungen lehnte der einzelstaatlich orientierte Frankfurter Bundestag entschieden ab. Ebenso scharf bekamen diese Wende ins Reaktionäre ab 1820 einige der vorher mit den Burschenschaftern sympathisierenden Intellektuellen zu spüren: Friedrich Ludwig Jahn wurde zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt, der an der Bonner Universität wirkende Ernst Moritz Arndt erhielt Berufsverbot, Johann Joseph Görres und Karl Follen konnten sich einer Verhaftung nur durch die Flucht ins Ausland entziehen. Darauf setzte selbst in den deutschnational gestimmten Schichten fast überall ein Rückzug ins Private ein, der lange Zeit als eine Wende ins »Biedermeierliche« bezeichnet worden ist. Doch dieser Anschein trügt. Bei genauerem Zusehen lassen sich nämlich die folgenden zehn Jahre nicht ohne weiteres als ein »biedermeierlicher Ruheraum« charakterisieren, wie auf konservativer Seite gern behauptet worden ist, sondern blieben weiterhin ein höchst differenziertes Spannungsfeld ideologischer und kultureller Strömungen, das keineswegs auf einen kurzschlüssigen Nenner zu bringen ist. Zugegeben, nach den fast 25 Jahre andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem »Erbfeind« Frankreich breitete sich danach in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung ein durchaus verständliches Ruheverlangen aus, das von den absolutistisch eingestellten Regierungen in ihrem Sinne ausgenutzt wurde. Zudem war die wirtschaftliche Entwicklung aufgrund dieser Kriege weit hinter den inzwischen in England und Frankreich stattgefundenen industriellen Wandlungen zurückgeblieben. In fast allen 131
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36 Ländern des deutschen Bundesstaats herrschte demnach eine niederdrückende Armut, die aufgrund der weitverbreiteten Obrigkeitsgesinnung eher ins Anpassungsbereite als zu jener Aufmüpfigkeit tendierte, welche viele der am Wartburgfest teilnehmenden »gutbürgerlichen« Burschenschafter beseelt hatte, die es sich finanziell leisten konnten, vorübergehend auf einen karrierebetonten Studiengang zu verzichten und sich als Vertreter einer revolutionär gesinnten akademischen Elite aufzuspielen – womit wir wiederum bei dem weiterbestehenden Problem der Wenigen und der Vielen wären. Und diese sozialbedingte Konstellation gilt es auch im Hinblick auf die kulturpolitischen Voraussetzungen sowie die sich daraus ergebenden künstlerischen Gruppierungen und die von ihnen vertretenen Stilhaltungen nicht aus dem Auge zu verlieren. Wie kaum anders zu erwarten, bevorzugten die höfisch eingestellten Kreise in der Folgezeit in ästhetischer Hinsicht nach wie vor jenen als angeblich zeitlos ausgegebenen winckelmannisierenden Klassizismus, den sie schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gegen alle ins Volkstümliche oder gar Sozialrebellische auftretenden Kunstströmungen ins Feld geführt hatten. Die besten Beweise dafür liefert die Architektur nach 1815, und zwar vor allem dort, wo die Höfe die zentralen Auftraggeber waren. In ihr herrschten fast ausnahmslos klassizistische Formelemente vor, während das Gotische bzw. Neogotische, in dem einige antinapoleonisch eingestellte Architekten einen spezifisch deutschbetonten Stil der Vielen gesehen hatten, wieder in den Hintergrund gedrängt wurde. So konnte zwar Karl Friedrich Schinkel nach 1815 mit wohlwollender Billigung seines Königs in Berlin seine Neue Wache (1818), sein Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (1821) und sein Altes Museum (1830) im erwünschten klassizistischen Stil der Wenigen errichten, während sein 1814 entworfener gotischer Dom zur Erinnerung an die Befreiungskriege auf höheren Druck unausgeführt blieb. Auch der Entwurf für ein Völkerschlachtdenkmal auf dem Schlachtfeld von Leipzig, den Anton Radl 1816 vorlegte, stieß bei den antinational eingestellten Fürsten sofort auf Ablehnung. Dagegen wurde Leo von Klenze vom bayrischen König beauftragt, sowohl die Glyptothek (1816) als auch den 132
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Abb. 21 H. Asmus nach Karl Friedrich Schinkel: Athen, Akropolis, Palast des Königs Otto von Griechenland, Prachtsaal, aus Sammlung architektonischer Entwürfe (1820 – 1837)
Königsbau der Münchener Residenz (1826) und die Walhalla (1838) bei Regensburg im klassizistischen Stil zu errichten. Ja, selbst viele Bildhauer, ob nun Johann Gottlieb Schadow und Christian Daniel Rauch in Berlin 133
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oder Ludwig Michael Schwanthaler in München, schufen in diesem Zeitraum auf Wunsch ihrer Regierungen weiterhin fast ausschließlich klassizistisch wirkende Statuen. Ebenso deutlich äußerte sich diese Stilrichtung in den höheren Rängen der Malerei. Selbst hier, wo zwischen 1806 und 1815 vorübergehend eine Vorliebe für die Darstellung als »germanisch« verstandener Freiheitsmotive sowie für spezifisch »deutsche« Landschaften wie den Harz, das Riesengebirge und die Ostseeküste im Vordergrund gestanden hatte, traten danach wieder vornehmlich Herrscherporträts oder klassizistisch gemalte Campagnalandschaften. Lediglich ein hartnäckiger Außenseiter wie Caspar David F riedrich in Dresden blieb nach 1815 in seiner Themenwahl weiterhin bei seinen christgermanischen Motiven der Befreiungskriege, die wie emblematische Nachklänge der gescheiterten Hoffnungen auf einen deutschen Einheitsstaat wirken. Um keinen Zweifel an seiner dahinterstehenden Gesinnung aufkommen zu lassen, stattete er die wenigen Figuren auf diesen Bildern sogar obendrein in der »altdeutschen« Tracht der Burschenschafter aus, um sie damit als die von den Hofkreisen gefürchteten »Demagogen« zu charakterisieren. Als daher 1824 an der Dresdner Akademie eine Stelle für Landschaftsmalerei frei wurde, für die er zweifellos die meisten Qualifikationen besaß, wurde er von den maßgeblichen Behörden bewußt übergangen, da sein Einfluß »auf die Jugend«, wie es hieß, äußerst »ungünstig« sei. Ebenso unmißverständlich erklärte der alte Goethe in seinem gegen die Malerei der Befreiungskriege gerichteten Aufsatz Neu-deutsche religiöspatriotische Kunst, den er 1817 mit dem Winckelmannianer Johann Heinrich Meyer verfaßte, daß es »in Bezug auf die Kunst am sichersten und vernünftigsten« sei, sich »ausschließlich mit dem Studium der alten griechischen Kunst und dem, was sich in neuerer Zeit an dieselbe angeschlossen habe, zu befassen«, statt irgendeinem irreführenden »National-Enthusiasmus« zu huldigen. Ja, gesprächsweise äußerte er sogar schon 1815 in einem momentanen Wutanfall, daß er die Bilder von Caspar David Friedrich am liebsten »an der Tischkante zerschlagen« würde, und stellte im Bereich der bildenden Künste die zeitlose und deshalb klassische Kunst der Antike bis an sein 134
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Lebensende im Jahr 1832 als das einzig maßgebliche Vorbild aller höhergearteten Kunstbemühungen hin. Nicht minder scharf äußerte sich diese Trendwende im Bereich jenes Opern- und Konzertbetriebs, in dem die fürstlichen Auftraggeber das entscheidende Sagen hatten. So konnte etwa Ludwig van Beethoven im Jahr 1814 in Wien noch unbehelligt seine Befreiungsoper Fidelio sowie sein Chorwerk »Germania! Germania! / Wie stehst du jetzt im Glanze da« aufführen. Seine 1815 komponierte Begleitmusik zu dem von Friedrich Leopold Duncker verfaßten Drama Leonore Prohaska, in dem es um das heroische Schicksal einer jungen Frau geht, die sich den Lützower Jägern angeschlossen hatte, wurde dagegen von keiner Bühne mehr angenommen. Nach den auch ihn empörenden Beschlüssen des Wiener Kongresses verstummte darauf Beethoven für mehrere Jahre. Erst 1820 faßte er sich wieder und komponierte seine Neunte Symphonie. Und sie wurde sogar aufgeführt, weil sich ihr Schlußchor – aufgrund von Wendungen wie »Seid umschlungen, Millionen« bzw. »Diesen Kuß der ganzen Welt« – mit einigen ideologischen Winkelzügen nicht nur als jakobinisch, sondern auch als antinationalistisch interpretieren ließ und deshalb von den Metternichianern als »weltläufig« ausgegeben wurde. Nicht viel anders erging es Carl Maria von Weber. Er hatte 1814 sowohl Theodor Körners Schwertlied und Lützows wilde, verwegene Jagd vertont, als auch ein Jahr später seine Kantate Kampf und Sieg sowie Ludwig Spohrs Tongemälde Das befreite Deutschland aufgeführt. Daher erhielt er 1817 in Dresden – neben dem vom sächsischen König favorisierten klassizistisch orientierten Hofkapellmeister Francesco Morlacchi – nur eine zweitrangige Anstellung. Auch in Berlin winkte ihm kein Glück, da Friedrich Wilhelm III. aus Abneigung gegen irgendwelche deutschbetonten Tendenzen 1820 ebenfalls einen italienischen Opernkomponisten, nämlich den Klassizisten Gaspare Luigi Pacifico Spontini, als seinen Hofkapellmeister angestellt hatte. Als daher der Reichsgraf Karl von Brühl, ein ehemaliger Reformer, 1821 Webers deutsch-romantisches, wenn auch geistlich verbrämtes Singspiel Der Freischütz im Berliner Schauspielhaus in Szene setzen ließ, kam es zu 135
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einer scharfen Konfrontation zwischen der mit Spontinis klassizistischer Oper Olimpia sympathisierenden Hofkamarilla einerseits und dem bürgerlichen Gegenpublikum andererseits, bei der zwar die Weber unterstützenden Schichten den Sieg davontrugen, aber ohne daß damit der Sache einer spezifisch deutschen Opernkultur wirklich geholfen wurde. Und so dominierte auf den höfischen Opernbühnen weiterhin die klassizistische Stilhaltung, während alles Nationalbetonte, bei dem es eher um die Vielen als um die Wenigen ging, zugunsten der Aufrechterhaltung der dynastischen Machtverhältnisse unterdrückt wurde. Eine ähnliche Förderung von seiten vieler Höfe erfuhren alle der Metternichschen Restaurationspolitik dienlichen Tendenzen ins Christliche. Und zwar gilt das im Bereich der Malerei selbst für die Anhänger des 1809 gegründeten Lukasbundes, dem sich unter anderem Johann Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Peter Cornelius, Julius Schnorr von Carolsfeld und Wilhelm Schadow angeschlossen hatten, die anfangs in ihrer Berufung auf die altdeutsche Malerei der Dürer-Zeit durchaus patriotischen Gesinnungen gehuldigt hatten, aber nach 1815 unter der Bezeichnung »Nazarener« zusehends auf einen restaurativen Kurs eingeschwenkt waren. Und das wurde von den Hofkreisen auch umgehend honoriert. So holte der bayrische König Ludwig I. bereits 1820 Cornelius nach München und beauftragte ihn, an der bildnerischen Ausschmückung der Glyptothek und der Ludwigskirche mitzuarbeiten. Kurz darauf wurde Schnorr von Carolsfeld sogar die »Ehre« zuteil, fünf Säle der Münchener Residenz mit Fresken zu versehen. Die gleiche steile Karriere machte Schadow im Zuge der herrschenden Restaurationsbestrebungen, den Friedrich Wilhelm III. von Preußen nicht nur in den Adelsrang erhob, sondern 1826 sogar zum Direktor der einflußreichen Düsseldorfer Malakademie ernannte. Auch im offiziellen Musikleben wurde in diesen Jahren, wie erwartet, das Christliche wieder stärker betont. Während sich dabei im katholischen Bereich eine gewisse Palestrina-Renaissance beobachten läßt, waren es auf protestantischem Gebiet unter anderem die Bemühungen Felix Mendelssohn- Bartholdys, die zu einer stärkeren Beachtung von neuen oder bisher wenig 136
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beachteten Kirchenkompositionen führten. Von kaum zu überschätzender Bedeutung war dabei die von ihm entdeckte und mit Unterstützung der Berliner Singakademie im Jahr 1829 erstmals wieder aufgeführte Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, die diesem weitgehend vergessenen Leipziger Kantor des frühen 18. Jahrhunderts plötzlich die Aura verlieh, nicht nur einer der wichtigen, sondern der schlechthin wichtigste Komponist der gesamten protestantischen Kirchenmusik gewesen zu sein. Doch nicht nur das. Anschließend bearbeitete Mendelssohn-Bartholdy zugleich einige der Bachschen Choräle und Kantaten, ja komponierte 1830 zum 300. Jahrestag der Augsburger Konfession sogar eine groß angelegte Reformationssymphonie und setzte sich obendrein für die Aufführung der weithin vergessenen christlichen Oratorien Georg Friedrich Händels ein, wodurch auch diese Werke wieder fest im Repertoire des öffentlichen Musiklebens verankert wurden. Im Bereich des Literarischen nahm dagegen diese Wende ins Religiöse, die bereits in der Frühromantik um 1800 eingesetzt hatte, etwas andere Formen an. Und zwar gilt das weniger für die schon damals kaum beachteten katholisierenden Heiligen- und Märtyrerdramen als für das, was gemeinhin als Schicksals- oder Schauerliteratur bezeichnet wird, die sich unter den gebildeten Lesern und Theaterbesuchern der frühen Metternich-Ära zeitweilig einer großen Beliebtheit erfreute. Ideologiekritisch gesehen, handelte es sich dabei meist um Werke, in denen nicht mehr die aufgeklärte Mündigkeit des Menschen im Sinne Kants, sondern das unerklärliche Walten irgendwelcher mystischen oder gar teuflischen Mächte im Vordergrund stand, denen der Einzelmensch entweder bedingungslos ausgeliefert ist oder sich nur durch ein verstärktes Gottvertrauen entziehen kann. Was dabei in der Zeit der napoleonischen Wirren, wie in den Dramen von Zacharias Werner und Adolf Müllner, noch eher ins Pessimistische tendiert hatte, paßte sich dagegen nach 1815 – im Zuge der Restauration – immer stärker dem Trend ins Christliche an, weshalb sich dieses Genre durchaus der Gunst der reaktionären Kreise erfreute. Soviel zu einigen künstlerischen Strömungen der zwanziger Jahre, welche direkt oder indirekt mit dem von Fürst Metternich 1815 auf dem 137
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Wiener Kongreß eingeleiteten Restaurationsbemühungen zusammenhingen und nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 sogar noch verschärft wurden. Etwas pauschalisierend betrachtet, handelte es sich dabei zumeist um die Kunst der Wenigen, das heißt jener etwa drei Prozent der Bevölkerung umfassenden Vertreter des kunstinteressierten niederen Adels und des gehobenen Bürgertums, die sich aber dennoch – dem herrschenden Zeitgeist zufolge – als die allein maßgeblichen Kulturträger verstanden. Allerdings gab es im gleichen Zeitraum auch eine wesentlich breitere Schicht von nur halbwegs Gebildeten, die sich weder für den höfischen Klassizismus sowie die goetheanischen Bildungsansprüche noch für irgendwelche geistlichen Kulturbestrebungen interessierte, sondern in dieser Hinsicht wesentlich geringere Ansprüche stellte. Im Hinblick auf diese Bevölkerungskreise taucht daher in früheren kulturgeschichtlichen Darstellungen häufig die Bezeichnung »Biedermeier« auf. Was man lange Zeit darunter verstand, war all das Harmlose, Idyllische, Geistig-Minderbemittelte oder ausschließlich Familienbetonte, das auf den ersten Blick scheinbar unpolitisch wirkt. Doch eine solche Sehweise erweist sich bei genauerer Betrachtungsweise als höchst irreführend. Kulturpolitisch gesehen, ist nämlich auch dieser Bereich, den die damaligen Zensoren ebenso scharf ins Auge faßten wie alles Hochkulturelle, ohne die dahinterstehende Metternichsche Restaurationspolitik kaum zu verstehen. Schließlich waren den staatlichen Überwachungsbehörden die Vielen ebenso wichtig wie die Wenigen. Was daher von ihnen auf dieser Ebene gefördert und gelobt wurde, war vor allem das Harmoniestiftende, das jeder politischen und gesellschaftlichen Konfliktsituation von vornherein aus dem Wege zu gehen versucht. Und zwar stützten sie sich dabei meist auf die Ideologie des Patriarchalismus, der die angeblich unumstößliche Trinität von Gottvater, Landesvater und Familienvater zugrunde liegt. Während sich viele Aufklärer des 18. Jahrhunderts, wie gesagt, noch vornehmlich für die Herausbildung einer selbstbewußten Mündigkeit des Einzelmenschen eingesetzt hatten, herrschte im Rahmen dieser von höfischen Vollzugsbeamten verbreiteten Gesinnung eher die Tendenz, die gegebenen 138
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Verhältnisse von vornherein zu akzeptieren, statt sich irgendwelche darüber hinausgehenden Gedanken zu machen. Mit anderen Worten: wer darum weiterhin am Terminus »Biedermeier-Kultur« festhält, sollte stets ihren gesellschaftspolitischen Akzeptanzcharakter herausstellen. Was deshalb in der Literatur dieser Richtung – ob nun den vielen rührseligen Familiendramen von Johanna von Weißenthurn oder Charlotte BirchPfeiffer, den Ritter-, Räuber-, Geister- und Historienromanen von Gustav Schilling, Friedrich Laun und Joseph Alois Gleich sowie der dünnflüssigen Novellenflut in den unzähligen Damenalmanachen dieser Ära, die unter Titeln wie Vergißmeinnicht, Purpurviolen oder Flatterrosen erschienen – vorherrschte, war ein fast durchgehend betontes Harmoniestreben, das in seiner Spannungslosigkeit entweder ins Idyllische tendierte oder auf eine mit banaler Humorigkeit untermischte Entsagungshaltung hinauslief. Natürlich spielte dabei, wie in den vielgelesenen Erzählungen von H. Clauren, auch die ins Mimilihafte verkitschte »Liiiebe« eine zentrale Rolle, die jedoch stets im sicheren Hafen der Ehe landet. Ebenso beliebt waren jene familiären Konstellationen, bei denen es vornehmlich um gütige Großeltern und ihnen ehrfürchtig lauschende Enkelkinder geht, um so die sich in der Mitte des Lebens möglicherweise ergebenden Konflikte wohlweislich auszuklammern. Neben den Frühgealterten, die keinen Wagemut für Neues oder Vorwärtsdrängendes mehr aufbringen können, begegnen wir daher in diesem Umfeld ständig Kindern, die noch im Zustand einer ungetrübten Unschuld zu leben scheinen. Das belegen nicht nur viele Geschichten in den von Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1857 immer stärker verharmlosten Kinder- und Hausmärchen, sondern auch die von Ludwig Bechstein und Wilhelm Hauff verfaßten Märchenbücher, die Puppenkomödien fürs Kasperletheater, die Kindergeschichten von Franz von Pocci und August Kopisch sowie die vielen ins Kindliche tendierenden Weihnachtslieder dieser Ära, von denen vor allem das 1816 von Joseph Mohr verfaßte und 1818 von Franz Xaver Gruber vertonte Gedicht »Stille Nacht, heilige Nacht« schnell bekannt wurde, das spätere Gesellschaftskritiker gern als die »AntiMarseillaise der Restauration« bezeichnet haben. 139
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Abb. 22 Holzstich nach einer Zeichnung von Ludwig Richter (um 1830)
Fast die gleichen Tendenzen lassen sich in jener Malerei nachweisen, die bis heute als »biedermeierlich« charakterisiert wird. Im Gegensatz zu den großflächigen, meist konservativ orientierten Historienbildern dieses Zeitraums gab sie sich schon durch ihre kleinen Formate bewußt »bescheiden«. Sie drängte nicht ins Höfische, sondern paßte sich wohlweislich der Enge der bürgerlichen Wohnzimmer an. Thematisch bevorzugten dabei Maler wie Friedrich von Amerling, Josef Danhauser, Erasmus Engert oder Julius Oldach gern physiognomisch genau charakterisierte Porträts, liebevoll gemalte Stilleben oder Ausschnitte aus der heimatlichen Umgebung. Außerdem stellten sie, wie die biedermeierlichen Autoren, gern Szenen aus dem mittelständischen Familienleben dar, wobei sie ebenfalls irgendwelchen gesellschaftlichen Konfliktsituationen stets aus dem Wege gingen. Neben den Porträts älterer Menschen stößt man daher selbst in diesem Umkreis immer wieder auf Kinderszenen, was besonders für die damals weitverbreiteten Illustrationen von Ludwig Richter gilt. Und zwar spielen diese Kinder 140
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nicht nur fortwährend mit ihren Püppchen oder Zinnsoldaten, sondern schmiegen sich auch liebevoll an ihre verständnisvoll blickenden Eltern oder tollen, wie auf den Bildern von Ferdinand Waldmüller, auf säuberlich herausgeputzten Wiesen herum, als gebe es in der ganzen Welt nur Sonnenschein und keine staatlichen Unterdrückungsmechanismen. Sogar im Musikleben dieses Zeitraums herrschte auf der Ebene der bürgerlichen Hausmusik die gleiche Tendenz ins Kindlich-Harmlose oder zumindest Verspielte. Dafür sprechen nicht nur die zahlreichen Kinder- und Wiegenlieder dieser Ära wie etwa »Alle Vögel sind schon da« oder »Schlafe, Herzenssöhnchen«, sondern auch die relativ leicht zu erlernenden Sonatinen für Klavier von Muzio Clementi und Friedrich Kuhlau. Schließlich wurde das Pianoforte in diesen Jahren zum zentralen Musikinstrument all jener mittelständischen Bevölkerungsschichten, die sich keine teuren Opern- oder Konzertkarten leisten konnten und daher auf die häusliche Musikpflege angewiesen waren. Diesem Bedürfnis kamen sogar bedeutende Komponisten wie Franz Schubert mit einer Fülle von vierhändig zu spielenden Klavierwerken und dann Robert Schumann mit seinen Kinderszenen und seinen Klavierstücken für große und kleine Kinder entgegen. Ebenso beliebt war es, bei Hauskonzerten vierhändige Klavierbearbeitungen bekannter Symphonien oder Instrumentalkonzerte zu spielen, ja sich sogar an bewußt heiterklingende Kammermusikwerke von Anton Diabelli, Robert Franz, Johann Nepomuk Hummel oder Konradin Kreutzer heranzuwagen, um so wenigstens auf der Wohnzimmerebene an der Musik der großen Welt teilzuhaben. Nach all dem fragt man sich verwundert, ob es denn in diesem Zeitraum keine liberalen, wenn nicht gar rebellisch aufmuckenden Kulturbestrebungen gegeben habe? Es gab sie schon, aber sie konnten sich seit den Karlsbader Zensurbeschlüssen von 1819 nicht mehr öffentlich äußern. Es existierte zwar ein gewisser »Ideenschmuggel« von Land zu Land oder von Ländchen zu Ländchen, wie man später nachgewiesen hat, aber aufs große und ganze gesehen, herrschten allerorten die von den Fürsten durchgesetzten klassizistischen oder biedermeierlichen Restaurationsbestrebungen vor. Wer also unter den bürgerlichen Liberalen weiterhin aufmüpfig gesinnt war, 141
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mußte daher entweder ins Exil ausweichen, sich still verhalten oder seiner Trauer über die eingetretene Reaktion ins Konservative den Anschein einer privat empfundenen Wehmut geben. Die Vertreter der letzteren Gruppe haben viele konservativ gesinnte Kultur- und Literaturwissenschaftler lange Zeit mit dem Adjektiv »weltschmerzlerisch« charakterisiert, um sie – wie die Mehrheit ihrer »biedermeierlich« gestimmten Zeitgenossen – ebenfalls als angeblich unpolitisch hinstellen zu können. Doch diese Charakterisierung trifft nicht einmal auf das zutiefst pessimistisch gestimmte Buch Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) von Arthur Schopenhauer zu, in dem sowohl auf alle glücksverheißenden Lebenserwartungen als auch auf irgendwelche gesellschaftspolitischen Realisierungschancen innerhalb der Kunst von vornherein verzichtet wird. Zudem kannte dieses Buch damals kaum jemand. Die meisten Vertreter dieser Richtung beriefen sich in dieser Hinsicht eher auf den aus England vertriebenen Lord Byron, obwohl sich dieser trotz seiner offen zur Schau gestellten »Zerrissenheit« auch politisch, wie im Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken, zu betätigen suchte. Und auch der angebliche »Weltschmerz« des jungen Heinrich Heine, der Anfang der zwanziger Jahre in den Berliner Salons als der »deutsche Byron« gefeiert wurde, hatte nicht nur resignierende Züge. Selbst sein schwermütig gestimmtes Buch der Lieder (1827) ist durchaus mit ironischen Pointen, ja sogar polemischen Anspielungen für die »Intimen«, wie er seine liberalen Gesinnungsfreunde nannte, durchsetzt. Dagegen gab sich Franz Schubert, der kurz zuvor die zum Teil trostlos wirkenden Gedichtreihen Die schöne Müllerin und Die Winterreise von Wilhelm Müller vertont hatte, in seinen späten Heine-Liedern eher einer unironischen Verlassenheitsstimmung hin. Wie weit man diese Wehmut als »weltschmerzlerisch« kennzeichnen soll oder ob ihr nicht, wie in den späten Streichquartetten Beethovens, zugleich eine aufreizende Trauer über die Metternichsche Restaurationspolitik zugrunde liegt, läßt sich schwer nachweisen. Schließlich wurden beide dieser Werkgruppen im bewußt heiter gestimmten Musikleben des Wiener Biedermeier mit all seinen Ländlern und Walzern anfangs kaum wahrgenommen. 142
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Daß die Liberalen unter den Wenigen wieder aufhorchen konnten, war erst durch einen äußeren Anstoß möglich. Und der erfolgte durch die französische Julirevolution von 1830, die zwar niedergeschlagen wurde, aber danach unter dem sogenannten Bürgerkönig Louis-Philippe eine gewisse Demokratisierung in Gang setzte. In den deutschen Teilstaaten wurden derartige Tendenzen – nach kurz aufflackernden Unruhen in Dresden, Göttingen, Braunschweig und Berlin – vor allem von jener Literatengruppe aufgegriffen, deren Anhänger sich als die »Männer der Moderne« ausgaben und sich im Hinblick auf ähnliche Gruppen wie »La giovine Italia« oder das »Jeune France« als »Das Junge Deutschland« verstanden. Zu ihr gehörten außer Heinrich Heine und Ludwig Börne, die beide in den frühen dreißiger Jahren nach Paris übersiedelten, um sich mit den dort stattfindenden gesellschaftlichen und kulturellen »Umwälzungen« vertraut zu machen, vor allem Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg. Sie alle lehnten als Journalisten bzw. freie Schriftsteller die sich angeblich unpolitisch gebende »Kunstperiode« des Weimarer Klassizismus sowie die ins bewußt Christliche oder Verharmlosende tendierende Kultur der zwanziger Jahre entschieden ab und setzten sich – unter Berufung auf Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Claude-Henri de Saint-Simon – für eine gesellschaftskritische Prosa ein, die der Befreiung der bürgerlichen Schichten aus den Fesseln der fürstlichen Reaktion dienen sollte. Obwohl es sich dabei nur um wenige Autoren handelte, entschieden sich die Metternichianer – aufgeschreckt durch das im Sommer 1832 stattfindende Hambacher Freiheitsfest, bei dem rund 30.000 Menschen das Arndtsche Lied »Was ist des Deutschen Vaterland?« anstimmten – dennoch, auch die sogenannten Jungdeutschen zu unterdrücken, indem sie den Verlegern dieser Gruppe im Jahr 1835 durch den Frankfurter Bundestag kurzerhand die Druckerlaubnis entzogen. Und das wirkte sich nicht nur literarisch, sondern auch politisch lähmend aus. Weder im Schrifttum noch in der Malerei oder Musik hatten darauf die Liberalen irgendeine effektive Chance, auf die »breiten Massen« einzuwirken. Und so kam es in den folgenden fünf 143
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Jahren zu einer zweiten offiziell verordneten Ruhepause, in der, wie in den zwanziger Jahren, wiederum das Harmlose oder betont Obrigkeitsverpflichtete vorherrschend wurde, was von den Vielen durchaus akzeptiert wurde, während sich die liberalen Außenseiter unter den Wenigen entweder widerwillig anpaßten oder weiterhin im Exil blieben. Eine erneute Hoffnung schöpften die freiheitsbetonten Kreise erst wieder im Jahr 1840, als der als liberal eingeschätzte »Romantiker« Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Thron bestieg, der bereits im August dieses Jahres eine Amnestie für einige politische »Vergehen« erließ und kurz darauf eine Lockerung der Zensurdekrete in seinem Staat verfügte. Vor allem in den weiterhin deutschnational eingestellten Kreisen kam es darauf – im Gefolge der älteren Befreiungskriegsstimmung – nicht nur zu »antiwelsch« intonierten Rheinliedern, sondern auch zu dem Plan, im Teutoburger Wald ein monumentales Hermannsdenkmal zu errichten und zugleich den als gotisch-deutsch empfundenen Kölner Dom zu Ende zu bauen. Obendrein bemühten sich mehrere der bis dahin unterdrückten Germanisten, endlich auch die unteren Schichten der Bevölkerung, von denen bereits 80 Prozent »lesefähig« waren, mit den Großleistungen der deutschen Literatur vertraut zu machen, um somit auf ihre Weise zur Deutschwerdung der herrschenden Kultur beizutragen. Ja, selbst einige Lyriker stimmten in diesen Chor ein, indem sie sich, wie Heinrich August Hoffmann von Fallersleben in seinem Lied der Deutschen (1842), dafür einsetzten, endlich im Zeichen von »Einigkeit und Recht und Freiheit« ein neues Deutsches Reich zu gründen. All das wurde von seiten der herrschenden Regierungen zwar eine Zeitlang geduldet, aber dann wieder rücksichtslos unterdrückt. Daher blieben die meisten dieser Hoffnungen utopische Visionen und hatten weder politische noch kulturelle Auswirkungen. Als noch randständiger erwiesen sich in diesen Jahren die philosophischen Bemühungen der sogenannten Jung- oder Linkshegelianer, geschweige denn die Aktivitäten des Bunds der Geächteten, des Bunds des Gerechten oder die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Arnold Ruge, die lediglich im Pariser Exil einen engbegrenzten Wirkungsraum fanden. 144
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Einen etwas größeren Anklang fand dagegen jene politische Lyrik, die Karl Beck, Franz Dingelstedt, Heinrich Heine, Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh und Robert Prutz in diesem Zeitraum unter die Leute zu bringen versuchten. Sie griffen nicht nur deutschbetonte Themen, sondern auch soziale Fragen auf, indem sie sich erstmals mit der bereits um 1835 in einigen Teilen Preußens und Sachsens anbahnenden industriellen Revolution auseinandersetzten und dabei vor allem auf die Probleme der Heimarbeiter und des entstehenden Proletariats eingingen. Doch selbst die Vertreter dieser Gruppe hatten keinen sich auch auf andere kulturelle Bereiche wie die bildenden Künste oder die Musik auswirkenden Einfluß, da diese beiden Kunstformen weiterhin fast ausschließlich der Oberhoheit der herrschenden Schichten unterstanden. Daher war im Jahr 1848, als es nach dem Beginn der Februarrevolution in Paris auch in mehreren deutschen Städten zu revolutionären Erhebungen kam, von vornherein klar, daß diese Aufstände in einem Fiasko enden würden. Letztlich erwies sich die seit über drei Jahrzehnten anhaltende Metternichsche Restaurationspolitik und die von ihr unterstützte Biedermeierkultur, mit der man die Vielen in einem obrigkeitsstaatlichen Sinne beeinflußt hatte, doch als wesentlich stärker als die nationaldemokratischen Hoffnungen der aufrührerisch Gesinnten. Es gab zwar zu Anfang einige Barrikadenkämpfe und auch Gedichte und Lieder, in denen es unmißverständlich hieß: »Herbei, herbei zum Siege!«, »Wir haben lang die Schande / In uns zurückgepreßt« oder »Dreiunddreißig Jahre / Währt die Knechtschaft schon, / Nieder mit den Hunden / Von der Reaktion!«, die sogar Komponisten wie Albert Lortzing und Robert Schumann reizten, manche von ihnen zu vertonen. Doch dann flaute die revolutionäre Begeisterungswelle wieder schnell ab. Als deshalb nach einem relativ ruhig verlaufenen Wahlgang am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche die erste deutsche Nationalversammlung eröffnet wurde, war bei den meisten Abgeordneten von dem revolutionären Überschwang der frühen Märztage nicht mehr viel zu spüren. In ihr dominierten nicht die kleinbürgerlichen und proletarischen Barrikadenkämpfer 145
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Abb. 23 Johann Jakob Kirchhoff: Barrikadenszene am Alexanderplatz am 18. März 1848
der ersten Aufstände, sondern fast ausschließlich die Vertreter des gehobenen Bürgertums, deren Zielutopie zwar auch ein deutscher Nationalstaat war, die jedoch dabei mehrheitlich eher eine gemäßigt konstitutionelle Monarchie 146
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als eine radikal konzipierte Republik ins Auge faßten. Schließlich waren von ihren 585 Mitgliedern 429 Akademiker, darunter 329 Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, höhere Verwaltungsbeamte und Landräte, 43 Adlige und bürgerliche Großgrundbesitzer sowie 56 Unternehmer und Kaufleute, aber nur vier Handwerkmeister und drei Bauern, während die gesellschaftliche Unterschicht überhaupt nicht vertreten war. Soziale Fragen, mit denen man sich »dem Druck der Straße« ausgesetzt hätte, wie es hieß, standen daher fast gar nicht zur Debatte. Die meisten Abgeordneten waren lediglich bemüht, sich für die Durchsetzung einer neuen Rechtsordnung einzusetzen, die ihnen größere Freiheiten innerhalb der Universitäten, Gerichte, der Presse und des Gewerbelebens garantieren würde. Als es darum am 27. März 1849 endlich zur Abstimmung über eine mögliche Reichsverfassung kam, setzte sich die Mehrheit für ein preußisches Erbkaisertum ein. Doch selbst für einen solchen Kompromiß war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die ihm angebotene Kaiserkrone, die mit dem »Ludergeruch der Revolution« behaftet sei, wie er erklärte, ungnädig abgelehnt hatte, bereitete Prinz Wilhelm, sein jüngerer Bruder, unter dem Motto »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten« mit seinen Truppen allen weiteren Aufständen ein relativ schnelles Ende. Selbst wagemutige Einzelaktionen wie die Aufstände in Baden und in der Pfalz, die Rebellion in Dresden oder die Ausstellung des Bildes Washington überquert den Delaware in mehreren deutschen Städten, mit dem der Düsseldorfer Maler Emanuel Leutze noch im Herbst 1849 seine Landsleute anfeuern wollte, wie der Revolutionär Washington selbst in einer scheinbar hoffnungslosen Situation den Kampf um nationale Einheit und Freiheit nicht aufzugeben, konnten daran nichts mehr ändern. Was siegte, war letztlich doch der einzelstaatliche Absolutismus und nicht die von den bürgerlichen Liberalen gehegte Hoffnung auf die Gründung eines deutschen Nationalstaats, in dem man ihnen größere Freiheitsprivilegien und vielleicht sogar einige politische Mitbestimmungsrechte eingeräumt hätte. Da ihnen das verwehrt wurde, setzten sie sich in der Folgezeit vornehmlich dafür ein, im Zuge der fortschreitenden industriellen 147
Biedermeierliches und Vormärzliches in der Metternichschen Restaurationsepoche
Revolution wenigstens ihre ökonomische Machtstellung auszubauen, um so die nach wie vor existierenden 36 Bundesländer durch ein erweitertes Eisenbahnnetz, den Wegfall der Binnenzölle, eine uneingeschränkte Gewerbefreiheit und andere derartige Maßnahmen in ein allmählich zusammenwachsendes Wirtschaftsgebiet umzuwandeln, woraus sich zwangsläufig, wie sie annahmen, ein ihnen dienlicher Einheitsstaat ergeben würde. Ja, diese Schichten nahmen dabei sogar einen Klassenkompromiß mit der weiterhin mächtigen Adelskaste in Kauf, während sie sich von der schnell anwachsenden Arbeiterschaft möglichst scharf abzusetzen versuchten. Und zwar wirkte sich diese Tendenz erst einmal politisch aus, bevor sie auch auf das Kulturleben übergriff. Im Gefolge dieser Einstellung kam es demzufolge auch in der sogenannten Nachmärzzeit wiederum zur Herrschaft der sich allmählich vergrößernden Schicht der Wenigen über die Mehrheit der Vielen, das heißt der Bauern, der Kleinbürger und des Proletariats, da selbst in den inzwischen eingerichteten Landtagen vornehmlich die Abgeordneten des Adels und des gehobenen Bürgertums vertreten waren. Der zwar erzkonservativ eingestellte, aber realpolitisch denkende preußische Kanzler Otto von Bismarck zögerte daher nicht, sich bei der Schaffung eines deutschen Einheitsstaates vor allem auf die bürgerlichen Nationalliberalen zu stützen. Das waren zwar nicht die Vielen, aber immerhin diejenigen, die über die größte Wirtschaftsmacht und damit auch die wirkungsvollste Meinungsbeeinflussung verfügten.
148
Auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich Wie zu erwarten, zögerten die einzelstaatlichen Regierungen des Deutschen Bunds schon im Herbst 1848 und dann verstärkt im Frühjahr und Sommer 1849 keineswegs, die durch die Märzrevolution geweckten Hoffnungen auf die Errichtung eines deutschen Nationalstaats so schnell wie möglich mit drakonischen Maßnahmen zu unterdrücken. Fast alle, die sich an exponierter Stelle mit Wort und Tat für derartige Hoffnungen eingesetzt hatten, wurden daher von ihnen nach der am 30. Mai 1849 erfolgten Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung und dann des Stuttgarter Rumpfparlaments entweder umgehend verhört, ausgewiesen, vor Kriegsgerichte gestellt, ja zum Teil sogar hingerichtet oder zumindest jahrelang polizeilich überwacht. Nicht nur viele Schriftsteller, Professoren, Paulskirchenabgeordnete oder Freischärler, sondern auch weniger profilierte Achtundvierziger kehrten deshalb nach 1849/50 ihren bisherigen »Vaterländern« den Rücken und wanderten in die USA bzw. nach Brasilien, Chile oder Südafrika aus. Allein in die Vereinigten Staaten emigrierten zwischen 1850 und 1860 fast eine Million Deutsche, und zwar neben vielen, welche sich dazu aus Abenteuerlust oder wirtschaftlicher Notlage entschlossen, auch zahlreiche Achtundvierziger, die wegen der unablässigen staatlichen Bevormundungsund Unterdrückungsmaßnahmen endlich in einem »Land of the Free« leben wollten. Und dadurch verloren die verschiedenen deutschen Bundesstaaten einen Großteil ihrer linksliberalen oder gar radikaldemokratisch eingestellten Bevölkerungsschichten, was sich auf das politische Klima der Folgezeit höchst ungünstig auswirkte. Allerdings ist die Bezeichnung »Nachmärz«, die sich für die folgenden zwei Jahrzehnte eingebürgert hat, etwas oberflächlich. Damit wird nur der zeitliche Rahmen abgesteckt. Schließlich bahnten sich, sozioökonomisch und kulturell gesehen, in diesem Zeitraum eine Reihe von Prozessen an, aus denen sich – trotz aller konterrevolutionären Bestrebungen der einzelstaatlichen Fürstenhäuser und der mit ihnen verbündeten Adelsschicht, 149
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die ältere föderalistische Struktur des deutschen Bundesstaats beizubehalten – letztendlich im Jahr 1871 doch ein einheitliches Deutsches Reich ergab. Wohl der wichtigste Antriebsmotor dafür war die sogenannte Erste Industrielle Revolution, die nach 1850 in mehreren Bundesstaaten einsetzte und – ungeachtet der kurzen Krisensituation zwischen 1857 und 1859 – bis 1873 andauerte. Sie bewirkte eine enorme Steigerung der Roheisenerzeugung, der Steinkohleförderung und der Erweiterung des Eisenbahnnetzes, was eine kapitalistisch orientierte Marktwirtschaft in Gang setzte, die aufgrund der Abschaffung vieler Zollschranken im Jahr 1867 zu einem »Gründer«-Boom ersten Ranges führte, durch den viele Großunternehmer und Bankherren zu gleichrangigen Partnern der herkömmlichen Adelschichten aufstiegen. Daraus ergab sich eine rasch fortschreitende Urbanisierung großer Teile des deutschen Bundesstaats, so daß im Jahr 1871 bereits über ein Drittel der deutschen Bevölkerung in Städten von mehr als 2000 Einwohnern lebte, in denen sich die Lebensverhältnisse der Ober- und Mittelschichten durch die Errichtung großer Steinbauten, die Anlage von Kanalisationssystemen und eine zentrale Wasserversorgung zusehends verbesserten. Das Ergebnis dieser Entwicklung war eine unaufhaltsame »Verbürgerlichung« der Gesamtgesellschaft. Daß sich daraus auch politische Folgerungen ergeben würden, war geradezu unausweichlich. Denn durch diese sozioökonomischen »Modernisierungsschübe«, wie man das später nannte, die in der Metternich-Ära noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, wurde der sogenannte Mittelstand auch in nationaler Hinsicht immer stärker zum Leitfaktor der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Vor allem durch die kommerzielle Verflechtung der einzelnen Industriezweige und den forciert vorangetriebenen Eisenbahnbau veränderte sich der politisch unterteilte deutsche Staatenbund in einen allmählich zusammenwachsenden Wirtschaftsraum, was den sich finanziell bereichernden Schichten des gehobenen und mittleren Bürgertums nicht nur ein gesteigertes Selbstbewußtsein, sondern auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl verlieh. Demzufolge gingen von dieser Schicht zusehends national gestimmte Impulse aus, die 150
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von den Vertretern der einzelstaatlich denkenden Oberschicht kaum noch einzudämmen waren. Und zwar setzten die Vertreter derartiger Anschauungen ihre Hoffnungen hierbei vor allem auf Preußen als dem bevölkerungsreichsten und zugleich wirtschaftlich avanciertesten Land innerhalb des deutschen Staatenbunds. Dafür spricht unter anderem die von Gustav Freytag und Julian Schmidt herausgegebene Zeitschrift Die Grenzboten, die zwischen 1848 und 1870 erschien und schnell zum publizistisch einflußreichsten Blatt jener wirtschaftlich aufstrebenden und zugleich gebildeten bürgerlichen Schichten wurde, welche sich immer stärker von den demokratisch-republikanischen oder gar sozialistischen Tendenzen der bisherigen Linken distanzierten und sich im Zuge eines realpolitisch angestrebten Klassenkompromisses zwischen Adel und gehobenem Bürgertum darum bemühten, die sie noch immer beengenden Grenzen zwischen den einzelnen Bundesstaaten unter preußischer Führung endlich niederzureißen. Ihre ideologischen Anschauungen umschrieben sie dabei meist mit dem Begriff »Nationalliberalismus«. Die erste Vereinigung dieser Art schufen sich diese Schichten im Bund der Volkswirte, der ab 1858 seine Tagungen unter dem selbstbewußten Motto »Reform im Wirtschaftsleben der Nation« abhielt. Auch der 1859 in Frankfurt gegründete Deutsche Nationalverein hatte eine ähnliche Ausrichtung. Ja, 1866 kam es sogar zur Gründung einer Nationalliberalen Partei, die sich – unter Ausschluß Österreichs – eindeutig zur Führungsrolle Preußens bei der erstrebten Gründung eines Zweiten Deutschen Kaiserreichs bekannte. Selbst ein durch und durch reaktionär eingestellter Adelsvertreter wie der preußische Staatskanzler Otto von Bismarck sah daher schon in den sechziger Jahren ein, daß es realpolitisch wesentlich klüger wäre, sich im Hinblick auf eine Einigung Deutschlands lieber mit den nationalliberal eingestellten Schichten des gehobenen Bürgertums zu arrangieren, als weiterhin auf den Alleinvertretungsanspruch der Adelsclique zu pochen. Alles Weitere erfolgte daraufhin mit geradezu zwangsläufiger Konsequenz. Die Mehrheit des nationalliberalen Bürgertums stellte sich nach dem preußischen Sieg über 151
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Österreich im Jahr 1866 voll und ganz hinter Bismarck. Sie begrüßte nicht nur die 1867 von ihm erzwungene Gründung des Norddeutschen Bunds, sondern drei Jahre später ebenfalls den von Bismarck höchst provokant vom Zaum gebrochenen Krieg gegen den seit den Befreiungskriegen von 1812 bis 1815 und der Rheinkrise von 1840 verteufelten »Erbfeind« Frankreich, was schließlich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles zu der sattsam bekannten Krönung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Erbkaiser und damit zur Gründung eines einheitlichen Deutschland führte. Demzufolge erfüllte sich zwar der über 60 Jahre immer wieder unterdrückte Traum eines deutschen Nationalstaates, aber nicht auf jene Weise, wie die revolutionären Demokraten der Vormärzära gehofft hatten, sondern in einer weitgehend ins Autoritäre korrumpierten Form. Es gab zwar jetzt wieder ein neues Reich, aber unter einem eigenmächtig auftretenden Kanzler, der sein aus realpolitischen Gründen geschlossenes Bündnis mit den bürgerlichen Nationalliberalen bereits 1878 wieder aufgab und sich – im Vollbesitz seiner errungenen Machtbefugnisse – skrupellos zu seiner früheren preußischkonservativen Junkermentalität bekannte. Doch nun zu der Frage: wie verhielt sich eigentlich das sogenannte nachmärzliche Bürgertum in kultureller Hinsicht zu dieser Entwicklung? War es lediglich auf wirtschaftlichen Gewinn bedacht? Zog es sich in die Privatsphäre des Familiären zurück? Unterstützte es die Bestrebungen der Nationalliberalen? Oder blieb es »biedermeierlich« gesinnt? Das heißt, welche Funktionsbestimmungen erteilte diese gesellschaftliche Trägerschicht den einzelnen Sektoren der Künste? Und erreichte sie damit endlich die Vielen oder blieben die verschiedenen Ausprägungen einer höhergearteten Kultur wiederum nur ein Bildungsprivileg der Wenigen? Eindimensionale Antworten auf diese Fragen sollte man in Zukunft lieber vermeiden. Schließlich war dieser Zeitraum – kulturpolitisch gesehen – genauso gespalten wie die Ära vor 1848. Selbst Begriffe wie »Nachmärz« oder der lange Zeit für die Kunst dieser Jahrzehnte gebräuchliche Terminus »Poetischer Realismus« erweisen sich bei genauerer Betrachtung als zwar griffige, aber letztlich allzu vereinfachende Epochenbezeichnungen. Unterscheiden wir daher lieber zwischen 152
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Abb. 24 H. Lüdery: König Wilhelm I. im Atelier des Künstlers Ernst von Bandel bei der Besichtigung des Kopfes der Skulptur Armin des Cheruskers für das geplante Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Illustration in der Zeitschrift »Daheim« vom 31. Juli 1869.
vier verschiedenen Einstellungen, die sich im Hinblick auf die bürgerlichen Kunstbestrebungen innerhalb dieses Zeitraums nachweisen lassen. Zu Anfang herrschte innerhalb der liberal oder gar demokratisch eingestellten bürgerlichen Gesellschaftsschichten erst einmal eine weitverbreitete Stimmung der Enttäuschung über das Scheitern der AchtundvierzigerRevolution vor. Manche Künstler gaben deshalb zu diesem Zeitpunkt ihre 153
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Hoffnung auf eine bessere Zukunft einfach auf und ließen sich, wie Richard Wagner in seiner Tristan und Isolde-Oper (1859), vorübergehend von Arthur Schopenhauers Pessimismus verführen, sich weltentsagenden Nirwanastimmungen hinzugeben. Andere – angeekelt von der zunehmenden Industrialisierung und zugleich Verpreußung – verließen Berlin und zogen sich ins Provinzielle zurück. Man denke an Theodor Storm, der 1864 als Amtsrichter ins heimatliche Husum übersiedelte und lieber elegisch-verklärende Stimmungsnovellen schrieb, als sich in die politischen Auseinandersetzungen der vorkaiserlichen Zeit einzumischen. Das gleiche gilt für Wilhelm Raabe, der in Romanen wie Die Chronik der Sperlingsgasse (1857), Abu Telfan (1868) und Der Schüdderump (1870) immer wieder betonte, in einer »bösen Zeit« zu leben, in der es – im Gegensatz zu den Jahren des burschenschaftlichen Wartburgfests und der Märzrevolution – keine Hoffnung auf eine durchgreifende Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse mehr gebe. Doch derartige weltentsagende Nirwanastimmungen, Rückzüge ins Wehmütige oder ideologische Unmutserklärungen wurden von vielen Vertretern der weiterhin kulturbeflissenen Schichten dieser Ära kaum beachtet. Die Mehrheit der Kulturbürger sowie die mit ihnen sympathisierenden Künstler verhielten sich, wie gesagt, eher »realpolitisch«, das heißt paßten sich ohne verbitterte oder kritische Skrupel den gegebenen Zuständen einfach an. Und zwar gaben ihre Hauptvertreter die sich daraus ergebende Kunstrichtung gern als »Poetischen Realismus« aus, wofür sich später der wesentlich zutreffendere Begriff »Bürgerlicher Realismus« durchsetzte. Geprägt wurde diese Bezeichnung von Otto Ludwig, der in seinem Roman Zwischen Himmel und Erde (1856) dieser Erzählweise – unter Verzicht auf politische oder soziale Konflikte sowie einer weitgehenden Beschränkung auf psychologische Motivationen – eine ihrer realistischen »Zuständlichkeit« entsprechende Form zu geben versuchte. Wie Friedrich Theodor Vischer in seiner dreibändigen Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846 – 57) verwarf Ludwig dementsprechend alles »Tendenziöse« zugunsten des angeblich »Objektiven« und trug somit dazu bei, daß es in Deutschland nicht zu jenen spannungsreichen Gesellschaftsromanen kam, wie sie im gleichen Zeitraum in anderen 154
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gesellschaftlich bereits weiterentwickelten westeuropäischen Ländern erschienen. Eine ähnliche Beschränkung auf das »realistisch« Vorgegebene findet sich in der sogenannten Stimmungsmalerei der fünfziger und sechziger Jahre, wo Maler wie Karl Hausmann, Heinrich Schillbach und Eduard Schleich dazu übergingen, sich mit relativ unbedeutenden Genreszenen zu begnügen, die keinerlei gesellschaftlich determinierte Konfliktsituationen aufweisen. Ja, selbst in der Musik kam es in dieser Ära zu einer Abwendung von der eher konfliktreichen Symphonieform, einer steigenden Vorliebe für lediglich illustrierende Tongemälde à la Franz Liszt oder zum Rückzug in den Intimbereich einer spezifisch bürgerlichen Kammermusik im Sinne Robert Schumanns oder des jungen Johannes Brahms, in der weitgehend das Stimmungsbetonte vorherrschte. So viel zu den oft dargestellten Bereichen des Poetischen oder besser Bürgerlichen Realismus der sogenannten Nachmärzära. Doch dieser Realismus war lediglich eine der neuen Funktionsbestimmungen innerhalb jener ästhetischen Gattungen, die sich in diesen zwei Jahrzehnten entwickelten. Schließlich begünstigte der wirtschaftliche Aufschwung nach 1850 zugleich die Entstehung von Kunstformen, die sich nicht nur an die Wenigen, sondern auch an die zunehmende Zahl der Vielen wandten und mit denen die geschäftstüchtigen Entrepreneurs innerhalb des durch die Lockerung der Zensur und die zunehmende Gewerbefreiheit aufblühenden Kunstbetriebs bisher ungeahnte Profite einzustreichen hofften. Dafür sprechen unter anderem die zahlreichen Zeitschriften für den bürgerlichen Lesekonsum, die im Zuge der wirtschaftlichen Expansion dieses Zeitraums gegründet wurden und sich schnell einer großen Leserschaft erfreuten. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte (ab 1850), Unterhaltungen am häuslichen Herd (ab 1852), Die Gartenlaube (ab 1853), Für Palast und Hütte (ab 1862), Der Familienfreund (ab 1862) sowie Daheim. Ein deutsches Familienblatt (ab 1865). Die weitaus beliebteste darunter war Die Gartenlaube, deren Abonnentenzahl zwischen 1853 und 1872 von 6000 auf 382.000 anstieg. Das gleiche Unterhaltungsbedürfnis versuchten schnell anwachsende Publikationsformen wie die in Zeitungen 155
Auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich
erscheinenden Fortsetzungsromane, eigens für die immer zahlreicher werdenden Leihbibliotheken hergestellten Detektiv- und Liebeserzählungen, im kleinbürgerlichen Milieu spielende Hintertreppengeschichten, Jungmädchenbücher wie Backfischchens Leiden und Freuden (1867) oder rührselige Bestseller wie Goldelse (1867) und Das Geheimnis der alten Mamsell (1868) von Eugenie Marlitt zu befriedigen, wodurch – wirkungsgeschichtlich gesehen – eine sich verschärfende Spaltung in eine sogenannte hohe Literatur und eine kommerzialisierte Unterhaltungsliteratur einsetzte, durch welche eher anspruchsvolle Autoren wie Theodor Storm, Wilhelm Raabe oder der Schweizer Gottfried Keller zusehends in die Rolle von Außenseitern abgedrängt wurden. Jene Autoren, die sich diesem Sieg der schnell anwachsenden Trivialliteratur mit gesellschaftskritischen Anschauungen entgegenzustellen versuchten, hatten es daher anfangs schwer, sich Gehör zu verschaffen. Weder Karl Gutzkow noch Friedrich Spielhagen gelang es, mit ihren Romanen Die Ritter vom Geiste (1850) oder Problematische Naturen (1861) eine breitere Leserschicht zu erreichen. Einer der wenigen, wenn nicht gar der einzige, der sich in dieser Hinsicht durchzusetzen vermochte, war Gustav Freytag mit seinem Roman Soll und Haben (1855). Dieses Buch interessierte nicht nur die weiterhin dünne Schicht der Bildungsbürger, das heißt jenen Bevölkerungskreis, von dem 0,2 Prozent das Gymnasium und anschließend 0,1 Prozent eine Hochschule besucht hatte, sondern wurde auch von zahllosen Vertretern der mittleren, ja sogar kleinbürgerlichen Schichten gelesen, weshalb es zwischen 1855 und 1870 in 30 Auflagen herauskommen konnte. Und zwar war dieser Roman so erfolgreich, weil er auf jede elitäre Pose verzichtete und sich bewußt als wahres »Volksbuch« gab. Dem entspricht, daß es der nationalliberale Freytag einerseits dem Herzog Ernst II. von SachsenCoburg-Gotha, einem der eifrigsten Förderer der von Preußen ausgehenden Einigungsbewegung, widmete, andererseits ihm das Motto voranstellte, daß sich dieses Buch in gutbürgerlicher Absicht bemühe, das »deutsche Volk« da aufzusuchen, »wo es bei seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit«. Und dieser an Bismarcks »realpolitische« Haltung erinnernden 156
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klassenversöhnlerischen Tendenz entspricht auch der Handlungsverlauf dieses Romans. Während es in ihm dem kleinbürgerlichen Handlungsgehilfen Anton Wohlfart gelingt, durch seinen ausgeprägten Geschäftssinn zum Teilhaber eines großen Handelshauses aufzusteigen, kann der Freiherr von Rothsattel – noch unerfahren in den neuen Wirtschaftspraktiken – nur mit bürgerlicher Hilfe vor dem drohenden Bankrott gerettet werden, bleibt aber dennoch die führende Figur in der mit allen Mitteln des »Poetischen Realismus« von Freytag dargestellten preußisch-schlesischen Region. Damit wird zwar gezeigt, wie sich Deutschland in diesen Jahren zu einer Wirtschaftsnation entwickelt, in der das bürgerliche Arbeitsethos eine nicht zu übersehende Rolle zu spielen beginnt, aber der Adel im Bereich der politischen Entscheidungen nach wie vor die zentrale Befehlsgewalt behält. All das, ob nun die Anlehnung an den preußisch gesinnten Nationalverein, die Verklärung des bürgerlichen Arbeitsethos sowie die kompromißbereite Haltung dem Adel gegenüber entsprach durchaus der Stimmung, die kurz darauf auch bei den im Jahr 1859 spektakulär aufgezogenen Schiller-Feiern zum Ausdruck kam, bei denen große Teile des gehobenen und mittleren Bürgertums diesen Dichter – unter Berufung auf die Zeilen »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern« sowie »Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an« aus dessen Tell-Drama – den Rang eines Herolds der bürgerlichen Freiheit und zugleich Vorkämpfers des deutschen Einheitsstrebens verliehen. Zu ähnlichen national gesinnten Gefühlsentladungen kam es 1862 beim Deutschen Schützenfest in Frankfurt, 1863 beim Deutschen Turnfest in Leipzig und 1865 beim Deutschen Sängerfest in Dresden, wo sich die bürgerliche Menge – unter Verzicht auf irgendwelche sozialrevolutionären Vorstellungen – ebenfalls zu einem deutschen Gesamtwillen bekannte. Selbst der noch kurz zuvor weltentsagend-pessimistisch gesinnte Richard Wagner schloß sich in diesen Jahren als politisch versierter Opportunist der gleichen ideologischen Linie an und komponierte zwischen 1862 und 1867 seine Oper Die Meistersinger von Nürnberg, in der am Schluß der anfangs recht hochmütig auftretende Ritter Walther von Stolzing und der selbstbewußte Bürger Hans Sachs – nach mancherlei Zwistigkeiten – als ebenbürtige 157
Auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich
Abb. 25 Bernhard Endrulat: Bilder aus dem Schiller-Festzuge in Hamburg am 13. November 1859
Partner nebeneinanderstehen. Und diese Szene spielt sich obendrein auf einer feierlich dekorierten Festwiese ab, wozu Wagner sicher durch die vielen nationalliberalen Feieraktivitäten der frühen sechziger Jahre angeregt wurde. Obendrein kulminiert das Ganze gegen Ende in einer Rede von Hans Sachs, die von einem gewaltig angewachsenen Nationalbewußtsein zeugt und selbst vor einer mit aktuellen Akzenten versehenen Verächtlichmachung des »welschen Tands« nicht zurückschreckt. Kein Wunder daher, daß gerade Die Meistersinger von Nürnberg zu Wagners populärster Oper wurde, während sein im Geiste Schopenhauers konzipiertes Musikdrama Tristan und Isolde in der Folgezeit nur noch von gesellschaftlichen Außenseitern goutiert wurde. Kurzum: schon nach dem Erscheinen von Freytags Soll und Haben im Jahr 1855 und dann noch verstärkt im Laufe der sechziger Jahre schwenkten große Teile des gehobenen und mittleren Bürgertums auf jene klassenversöhnlerische Haltung der Nationalliberalen Partei ein, von der sie sich ein 158
Auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich
verstärktes politisches Mitspracherecht sowie eine Förderung ihrer wirtschaftlichen Interessen versprachen. Ja, sie fühlten sich bereits so bedeutsam und maßstabsetzend, daß sie über die weiterbestehenden Nöte der Kleinbürger, des rasch anwachsenden Proletariats und der Bauern, die weiterhin die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung bildeten, einfach hinwegsahen. Als daher, wie gesagt, Bismarck 1870 den zur deutschen Einheit führenden Krieg gegen Frankreich provozierte und es zu einem weitverbreiteten Aufwallen gesamtdeutscher Stimmungen kam, stand diese Bevölkerungsschicht geschlossen hinter ihm, während Teile des Proletariats bereits in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der späteren Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), gegen ihn zu opponieren begannen.
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Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft Im Gefolge der überwältigenden Zustimmung, der sich Bismarck im Jahr 1871 bei den Adelsschichten und dem gehobenen Bürgertum erfreute, fanden sich selbst viele der eher »demokratisch« gesinnten Nationalliberalen mit dem betont herrischen Auftreten des neuen Reichskanzlers ab. Schließlich hatte das eben gegründete Reich in Wilhelm I. jenen preußischen Erbkaiser erhalten, dem sich schon die Mehrheit der Abgeordneten des Frankfurter Paulskirchenparlaments unterstellen wollte. Und war damit nicht endlich jener Traum eines nationalen Zusammenschlusses in Erfüllung gegangen, auf dessen staatspolitische Verwirklichung so viele Deutsche schon seit »anno Leipzig« gewartet hatten? Sogar die meisten Fortschrittler und Freisinnigen, wie sie sich nannten, nahmen deshalb die autokratische Regierungsform dieses Reichs notgedrungen in Kauf. Sich überhaupt als Deutsche und nicht mehr als Untertanen kleinstaatlicher Fürstentümer wie Mecklenburg-Strelitz, Coburg-Gotha, Sachsen-Weimar-Eisenach oder Lippe-Detmold zu fühlen, erschien ihnen erst einmal wichtiger, als sofort auf irgendwelche liberalen Forderungen zu pochen, die sich in dem seit Jahrzehnten erhofften Zweiten Kaiserreich, das – genau besehen – letztlich auf »Blut und Eisen« beruhte, nicht erfüllt hatten. Aufgrund dieser Einstellung, die schnell auf die Mehrheit des deutsch gestimmten Bürgertums übergriff, setzte sich in diesem Reich – trotz der parlamentarischen Struktur des Reichstags – letztlich ein »pseudokonstitutioneller Absolutismus« bzw. ein »bürokratischer Obrigkeitsstaat mit Scheinparlamentarismus« durch, wie Theodor Mommsen und Max Weber später schrieben, was zwangsläufig zum Untergang der ehemals starken Nationalliberalen Partei führte, die sich im Jahr 1878 in mehrere relativ bedeutungslose Splitterparteien auflöste. Was demzufolge schon im ersten Jahrzehnt dieses mit so vielen Hoffnungen gegründeten Reichs die Oberhand bekam, war nicht das Liberale, sondern ein ins Preußisch-Militaristische 161
Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft
gewendeter Nationalismus, den Bismarck mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchte, um so »seinem Staat«, wie er sich ausdrückte, eine »innere Festigung« zu verleihen. Bei irgendwelchen politischen Anlässen wurde daher nicht das nationalliberal gemeinte Lied der Deutschen mit der Zeile »Einigkeit und Recht und Freiheit« gesungen, sondern stets hohenzollernfromme Gesänge wie »Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, / Heil Kaiser Dir«, »Stolz weht die Fahne SchwarzWeiß-Rot« oder »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall, / Zum Rhein! Zum deutschen Rhein« angestimmt. Um die in derartigen Liedern zum Ausdruck kommende reichspatriotische Stimmung in seinem Sinne auszunutzen, ergriff Bismarck schon kurz nach 1871 höchst drakonische Maßnahmen, von denen er sich eine innere Vereinheitlichung des von ihm gegründeten Reichs versprach. Die erste Gruppe, die er sich dabei aufs Korn nahm, war die katholische Zentrumspartei, die eine stärkere Berücksichtigung der föderalistischen Struktur des neuen Reichs forderte. Ihre Vertreter prangerte er kurzerhand als »ultramontan« gesinnte Reichsfeinde an, welche ihre höchste Autorität nicht in der preußischen Staatsführung, sondern im Vatikan sähen. Um ihren Einfluß einzudämmen, setzte Bismarck sowohl das Jesuitenverbot, den Kanzelparagraphen, die Zivilehe als auch ein Schulaufsichtsgesetz durch, was zu einer erheblichen Schwächung der bisherigen Machtstellung der katholischen Kirche in Bayern und den Rheinlanden führte, wobei er vor allem von sich national oder liberal gebenden Autoren wie Ludwig Anzengruber, Wilhelm Busch, Eduard Griesebach, Paul Heyse und Conrad Ferdinand Meyer unterstützt wurde. Ebenso scharf wandte sich Bismarck gegen die im Osten Deutschlands lebenden Polen, welche rund zehn Prozent der preußischen Bevölkerung bildeten, die er ebenfalls als »Reichsfeinde« einstufte und deshalb eine durchgreifende »Germanisierung« der dortigen Gebiete befürwortete, um so einen wirksamen »Wall gegen die slawische Flut« zu errichten, wie er mit geradezu präfaschistischer Akzentuierung erklärte. Doch nicht nur in den Ultramontanen und den nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen sah Bismarck die innere Einheit »seines Staats« bedrohende 162
Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft
Feinde, auch die durch die rapide Industrialisierung schnell anwachsende Arbeiterbewegung erschien ihm als »staatsgefährdend«. Schon daß sich die Anhänger der Sozialistischen Arbeiterpartei, diese »Ratten im Lande« bzw. diese »bedrohliche Räuberbande«, wie er sich wuterfüllt äußerte, gegen den Deutsch-Französischen Krieg ausgesprochen und sich obendrein der II . Internationale der europäischen Arbeiterparteien angeschlossen hatten, empfand er als nicht zu duldende Affekthandlungen gegen seine auf eine nationale Vereinheitlichung bedachte Politik. Daher erließ er 1878 jene gegen die »gemeingefährlichen Bestrebungen« der SAP gerichteten Antisozialistengesetze, welche diese Partei unter Polizeiaufsicht stellte und ihr jedwede Publikations- und Versammlungstätigkeit untersagte. Und die Mehrheit der gesellschaftlichen Oberklassen, die wie er in den Sozialisten oder Sozialdemokraten lediglich »vaterlandslose Gesellen« sah, stimmte ihm in dieser Hinsicht voll und ganz zu. Die einzige chauvinistisch eingestellte Gruppe, die Bismarck nicht offiziell unterstützte, war die antisemitische Bewegung, die nach dem Gründerkrach von 1873, für den viele Vertreter des gehobenen Bürgertums die Börsianer unter den Juden verantwortlich machten, schnell um sich griff und schließlich 1878 in der von Adolf Stoecker gegründeten Christlich-Sozialen Partei ihr erstes Sprachrohr fand, was kurz darauf zu weiteren Parteigründungen dieser Art führte. All diesen Maßnahmen lagen, wie gesagt, zwei Haltungen zugrunde: ein zum größten Teil ungezügelter Nationalismus sowie ein adlig-großbürger licher »Herr im Hause«-Standpunkt, welche selbst in den kulturpolitischen Proklamationen sowie den offiziellen bzw. inoffiziellen künstlerischen Manifestationen dieser Ära geradezu zwangsläufig zu einem ins Machtbetonte, Prunkvolle, Heroisierende, wenn nicht gar Monumentale tendierenden Ausdrucksverlangen führten. Und zwar äußerte sich das in folgenden Formen. Auf staatlicher Ebene sprechen dafür erst einmal die vielen KaiserWilhelm-Monumente wie das Kyffhäuser-Denkmal im Thüringer Wald, die Porta Westfalica bei Minden und das Deutsche Eck in Koblenz, die 300 Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen, die in der Folgezeit errichtet 163
Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft
wurden, sowie die entlang der Berliner Siegesallee aufgestellten Statuen preußischer Militärhelden, denen eine in den Himmel ragende Viktoria ihren Segen verleiht. Den gleichen Charakter hatte die 1876 in Berlin eröffnete Nationalgalerie, in der anfangs vor allem deutsche Herrscherbilder und Darstellungen berühmter Schlachten zu sehen waren. Sogar viele der bekannteren und zum Teil nicht unbedeutenden Philosophen, Professoren, Schriftsteller, Komponisten, Bildhauer und Maler dieser Ära stimmten im Überschwang des gewonnenen Sieges gegen Frankreich in den allgemeinen Triumph- und Heroenjubel ein. Heinrich von Treitschke, der preußische Hofhistoriograph, formulierte damals seinen auf Bismarck gemünzten und später vielzitierten Satz: »Große Männer machen Geschichte«, Paul de Lagarde schrieb, daß »geistiges Leben« stets aus einem »kämpferischen Geist« hervorgehe, ja Friedrich Nietzsche erklärte noch unzweideutiger: »Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.« Ebenso unumwunden ließen sich manche Künstler zu solchen spezifisch gründerzeitlichen Erklärungen und Aktivitäten hinreißen. So dirigierte Richard Wagner 1873 in Berlin vor Wilhelm I. seinen rasch komponierten Kaisermarsch, während Hans von Bülow kurz darauf Beethovens Eroica »Otto dem Großen, dem Fürsten Bismarck« widmete. Die gleiche Gründergesinnung äußerte sich auf zahlreichen Gemälden dieser Jahre, ob nun den großformatigen Porträts von Franz von Lenbach, den theatralisch inszenierten Historienbildern von Karl Theodor von Piloty oder dem berühmten Bild Die Proklamierung des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles (1885) von Anton von Werner, das sich bei allen »bismarckisch« gestimmten Bevölkerungsschichten einer besonderen Beliebtheit erfreute, sowie bei den mit makartisiernden Kostümen ausgestatteten Aufführungen des in ganz Deutschland auftretenden Meininger Hoftheaters. Denselben Schichten imponierten zugleich die pompösen, barock überladenen Prachtbauten, welche die preußische Regierung errichten ließ, darunter der 1883 von Julius Rasch entworfene Berliner Dom sowie der ein Jahr später im gleichen Stil von Paul Wallot begonnene Bau des Reichstagsgebäudes, welche die altbewährte Symbiose von Thron und Altar rechtfertigen sollten. 164
Die gründerzeitliche und wilhelminische Gesellschaft
Abb. 26 Joseph Ferdinand Klemm: Reichstagsgebäude mit Bismarck-Denkmal (um 1910)
Fast die gleiche ideologiegesättigte Rolle spielten in diesen Jahren die lautstarken Berufungen auf das Germanentum oder das staufische Kaiserreich des Hochmittelalters, mit denen viele Sprecher dieses Zeitraums dem neugegründeten Zweiten Kaiserreich eine historische Patina des Altehrwürdigen, das heißt Legitimistischen zu verleihen suchten. Und zwar wurde dabei nicht die vom »Volke« ausgehende Komponente derartiger Berufungen, sondern stets das Gewaltbetonte und Führerhafte der großen Gestalten der Vergangenheit – seien es Hermann der Cherusker, Siegfried der Drachentöter, Theoderich der Große, der heldenhafte Totila oder Friedrich Barbarossa – herausgestellt, was zu einer wahren Flut von in Stabreimen verfaßten Versepen wie Die Nibelunge (1864 – 74) von Wilhelm Jordan oder historischen Romanen wie Ein Kampf um Rom (1876) von Felix Dahn führte. Eine geradezu kultische Überhöhung erlebte dieser Germanenkult 1876 anläßlich der Uraufführung von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen in dem von Ludwig II. von Bayern finanzierten Festspielhaus in Bayreuth, an der viele deutsche Fürsten und Hochadlige teilnahmen. 165
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Während Wagner dieses Werk im Jahr 1848 noch als eine »kommunistische« Befreiungsoper des Proletariats komponieren wollte, hatte er ihm – im Einklang mit Nietzsches Manifest Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1873) – danach immer stärker einen Zug ins Heroische, ja geradezu Übermenschliche gegeben, um es aus den »Niederungen« gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen ins Genialische, Einmalige, ja unvergleichlich Bedeutsame zu erhöhen. Doch nicht allein das. Selbst weniger kriegslüsterne oder heroisch gestimmte Wissenschaftler und Künstler ließen sich in diesem Zeitraum zu einem maßlos übersteigerten Selbstbewußtsein hinreißen, ja empfanden sich – in direkter oder indirekter Identifizierung mit den »Größen« ihrer Zeit – als genialische Einzelgänger und sahen auch in den bedeutsamen Gestalten der Vergangenheit zunehmend außergesellschaftliche »Olympier«, denen es lediglich um ihr eigenes Ich und die einsame Größe ihrer Werke gegangen sei. Dafür spricht nicht nur die in diesen Jahren von Wilhelm Scherer vertretene »Blütenzeiten«-Theorie, mit der er im Hinblick auf die deutsche Literatur die überragende Bedeutung der Staufischen und der Weimarer Klassik herauszustreichen versuchte, sondern das kommt zugleich in den geniekultisch angelegten Künstlermonographien von Carl Justi und Hermann Grimm zum Ausdruck, in welchen den Zeitgenossen der überlebensgroß dargestellten Zentralgestalten nur die Rolle von Schülern, Mitläufern oder Nachahmern zugebilligt wird. Selbst viele Werke der bedeutsameren Komponisten und Maler dieser Ära blieben von diesem Drang ins Ichbewußte und Monumentalisierende nicht unbeeinflußt. Das belegen im Bereich der Musik unter anderem die 1. Symphonie (1876) und das Violinkonzert (1879) von Johannes Brahms, die an ausladender Gestik und formvollendeter Geschlossenheit alles übertreffen, was in diesen zwei Gattungen seit Beethoven entstanden war. Und auch die mit wagnerschem Hörner- und Trompetenschwall immer stärker ins Pathetische tendierenden Symphonien Anton Bruckners sind typische Werke dieser sich um eine übersteigerte Ausdruckhaftigkeit bemühenden gründerzeitlichen Kunst. Das gleiche gilt für manche jener ins Monumentale tendierenden 166
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Gemälde, die von jenen Künstlern geschaffen wurden, die sich wie Nietzsche – trotz aller Zeitgebundenheit – als genialische Außenseiter dieser Ära verstanden. Man denke an Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach oder Hans von Marées, welche nicht nur mythologische oder gräzisierende Szenerien malten, die an heroisch gesehene Wunschwelten erinnern sollten, sondern sich auf ihren Selbstbildnissen zugleich als ins Zeitlose erhobene Genies darstellten, welche auf den Beifall des »Pöbels« getrost verzichten können. So viel – in aller Kürze – zu den direkten oder indirekten, das heißt offiziellen bzw. angeblich außergesellschaftlichen Manifestationen der gründerzeitlichen Kunst. Doch damit wird letztlich nur jene Schicht erfaßt, deren Trägerfiguren zu den bismarckisch gesinnten Oberschichten oder den sich bewußt genialisch gebenden Außenseitern gehörten. Darunter und daneben nahm jedoch das Kulturverhalten weiter Schichten des gehobenen Bürgertums völlig andere Formen an. In diesem Bereich kam es – aufgrund des wirtschaftlichen »Gründer«-Booms der Jahre zwischen 1867 und 1873 – eher zu einer protzenhaften Parvenügesinnung, die sich zwar durchaus als kaisertreu und kulturbewußt verstand, aber weder ins Monumentale noch ins Außenseiterische drängte. Im Gegenteil, diese Kreise fühlten sich weitgehend als Vertreter der geschäftstüchtigen »In«-Kultur. Hier gab man sich so, wie sich der Kommerzienrat Lehmann oder der Rentier von Schulze von nebenan zu geben versuchten. Ihre Repräsentanten bemühten sich in erster Linie darum, als geldstrotzende Vertreter der »Oberen Zehntausend« angesehen zu werden. Ihre Salons und Eßzimmer wirkten dementsprechend meist wie ein Sammelsurium auserlesener Stilmöbel sowie neureicher Dekorationsstücke, die eher durch Fülle und Üppigkeit als durch Geschmack beeindrucken sollten. In solchen Räumen wurde nicht gegessen, sondern getafelt. In ihnen gab man rangverheißende Diners, bei denen es – im Sinne des vom rechten Flügel der Nationalliberalen angestrebten Klassenkompromisses – selten an einem sogenannten Renommierbaron fehlen durfte. In ihnen ließ man an den Wänden als salonidealistisch geltende Gemälde von Fritz August Kaulbach, Albert von Keller oder Georg Papperitz anbringen bzw. mit Goldschnitt versehene, aber nie gelesene »Klassiker« aufstellen, um 167
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Abb. 27 Th. Th. Heine: »Papa, was willst du eigentlich mal werden?«, Illustration in der Zeitschrift »Simplicissimus« (1896)
als »gebildet« zu erscheinen. Kurzum: in ihnen gab man sich mit gründerzeitlicher Aufsteigergesinnung als die »neue Klasse« der reichgewordenen Industriellen aus, welche zwar ihre Diener mit kostbar wirkenden Livreen ausstattete, jedoch auf die in erbärmlichen Mietskasernen oder Kellerwohnungen dahinvegetierenden »Arweder«, wie sie in Berlin hießen, die 168
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ihnen durch ihr unermüdliches »Malochen« den Besitz ihrer Tiergartenvillen ermöglicht hatten, mit der gleichen Arroganz herabblickte wie die früheren Adelsschichten auf die Masse ihrer Leibeigenen und Fronbauern herabgeschaut hatten. Daß derartige Zustände im Laufe der siebziger und dann verstärkt der achtziger Jahre auch zu Gegenreaktionen führen würden, war geradezu unvermeidlich. Die ersten Proteste gegen den gründerzeitlichen Chauvinismus, den Protzenreichtum der bürgerlichen Parvenüschicht sowie die unbarmherzige Ausbeutung der Arbeiterklasse kamen – wie zu erwarten – von seiten führender Sozialdemokraten, die sich ausdrücklich als Vertreter der unterdrückten Vielen gegen die Repräsentanten der herrschenden Schichten verstanden. Statt wie bisher in der linksorientierten Literatur lediglich die unter den herrschenden Verhältnissen leidenden Proletarier darzustellen, forderten sie schon auf dem 1871 abgehaltenen Parteitag der Sozialistischen Arbeiterpartei dazu auf, in Zukunft bei derartigen Publikationen den Hauptakzent eher auf die kämpferische Gesinnung der Arbeiterklasse zu legen. Dafür spricht bereits August Otto-Walsters Roman Am Webstuhl der Zeit (1873), in dem es – nach vielen Auseinandersetzungen der Armen und Entrechteten mit der herrschenden Oberschicht – zur Gründung eines »freien Volksstaats« kommt. Ähnliche Themen griffen anschließend Friedrich Bosse, Minna Kautsky, Max Kegel, Rudolf Lavant und Manfred Wittich auf, die sich trotz der Behinderung durch die 1878 von Bismarck erlassenen Antisozialistengesetze in ihren Gedichten, Erzählungen und Dramen in mehr oder minder versteckter Form ebenfalls für die von ihren Parteivorsitzenden ausgegebenen Parolen engagierten. Und im Zuge dieser Proteste begannen Mitte der achtziger Jahre auch einige sogenannte Linksliberale aus dem Lager der bürgerlichen Fortschrittler und Freisinnigen mit den Ansichten der Sozialdemokraten zu sympathisieren. Allerdings stützten sie sich dabei weniger auf die Hoffnungen der SAP bzw. der aus ihr inzwischen hervorgegangenen SPD als auf die in Frankreich aufkommende Milieutheorie Hippolyte Taines, die darwinistische Vererbungslehre, die massentheoretischen Reflexionen Gustave 169
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Le Bons, den Detailrealismus Émile Zolas sowie die gesellschaftskritischen Tendenzen in den Dramen des Norwegers Henrik Ibsen. Die ersten, die derartige Anschauungen vertraten, waren Heinrich und Julius Hart in ihren Kritischen Waffengängen (1882 – 84) und Karl Bleibtreu in seinem Manifest Revolution in der Literatur (1886), in denen sie vor allem gegen den Chauvinismus der Gründerzeit sowie die gleichzeitig entstandene salonidealistische Parvenükultur der neureichen bürgerlichen Oberschichten vom Leder zogen. Doch schon kurz darauf kam es bei solchen Protesten auch zu sozialkritischen Ausfällen gegen die unbarmherzige Ausbeutermentalität innerhalb der herrschenden Klassen, welche den ein menschenwürdiges Dasein ermöglichenden Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung, wie sie zu Recht erklärten, keinerlei Beachtung schenkten. Die sich daraus entwickelnde literarische Strömung wird meist als Naturalismus bezeichnet. Als ihre Hauptexponenten galten damals Michael Georg Conrad, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Karl Henckell, Arno Holz, Max Kretzer und Bruno Wille. Ihre größte Wirksamkeit entfaltete diese Bewegung, die in frondeurhafter Gesinnung ihre gesellschaftskritischen Gedichte, Romane und Dramen häufig mit als plebejisch oder pornographisch geltenden Schockelementen durchsetzte, um so die sich salonidealistisch abkapselnde und sich zugleich bewußt saturiert gebende neureiche Bourgeoisie so scharf wie möglich mit den Folgen ihrer unbarmherzigen Ausbeutungspraktiken zu konfrontieren, in den Jahren zwischen 1888 und 1893. Was die Naturalisten in diesem Zeitraum besonders scharf herausstellten, waren einerseits die parvenühaften Allüren der arrogant auftretenden Oberschichten, andererseits die grassierende Armut, die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die weitverbreitete Nötigung zur Prostitution, die erdrückenden Arbeitsbedingungen, kurzum: die steigende »Verelendung des Vierten Standes«, wie es damals hieß. Während sich manche dieser Autoren – im Zuge eines »konsequenten Naturalismus« à la Arno Holz – dabei auf die möglichst exakte Wiedergabe des jeweiligen Milieus sowie der unterschiedlichen Soziolekte beschränkten, betonten andere wie Gerhart Hauptmann in seinem Drama Die Weber (1892) und 170
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Abb. 28 Radierung von Käthe Kollwitz, Blatt 4 aus dem Zyklus »Ein Weberaufstand« (1893 – 1898)
kurz darauf auch Käthe Kollwitz und Heinrich Zille in ihren Graphiken eher die rebellische Gesinnung dieser Bewegung, was von seiten der herrschenden Schichten zwangsläufig zu Verbotsmaßnahmen oder auch Prozessen gegen einige Naturalisten führte, deren Werke der junge Kaiser Wilhelm II ., der 1888 den Thron bestiegen hatte, mit arroganter Schärfe als »Rinnsteinkunst« anprangerte. Aber auch manche Sozialdemokraten stimmten nicht unbedingt mit den teils anklagenden, teils bewußt unflätigen Szenen in den Werken der Naturalisten überein. Gut, Hauptmanns Die Weber sowie seine ein Jahr später entstandene Diebskomödie Der Biberpelz gefielen einigen unter ihnen, aber die eindeutig ins »Ordinäre« tendierenden Motive anderer Naturalisten stießen selbst bei ihnen auf Widerwillen, was vor allem auf dem Sieblebener Parteitag im Jahr 1896 lebhafte Debatten auslöste. Sogar Franz Mehring, der führende Kulturtheoretiker der SPD, der anfangs durchaus mit dem 171
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Naturalismus sympathisiert hatte, empfahl deshalb danach seiner Partei, sich in Zukunft erst einmal die von ihm als modellhaft herausgestellte Kunst des gebildeten und zugleich progressiv eingestellten Bürgertums zwischen 1750 und 1848, also von Gotthold Ephraim Lessing über Friedrich S chiller bis zu Heinrich Heine, anzueignen und wegen der nach wie vor bestehenden geistigen Rückständigkeit des Proletariats auf die Herausbildung einer neuen »Klassik« lieber bis nach dem Sieg der Arbeiterklasse über die hoffentlich bald zu überwindende Bourgeoisie zu warten. Und dieses Konzept wurde im Zuge der um die Mitte der neunziger Jahre neueinsetzenden industriellen Boomperiode, die bis 1914 andauerte, von der allmählich auf einen »revisionistischen« Kurs einschwenkenden SPD sowohl in der von ihr unterstützten Volksbühnenbewegung als auch in den von ihr gegründeten Arbeiterbildungsvereinen auch durchgesetzt, womit sie allerdings nur eine Minderheit des Proletariats wie auch des Kleinbürgertums erreichte, während die Mehrheit der Unterschichten ihre Lesebedürfnisse weiterhin eher mit den massenhaft verbreiteten Trivialromanen einer Hedwig Courths-Maler, von denen sich bis 1914 14 Millionen Exemplare absetzen ließen, sowie den Werken ähnlicher Kitschautoren und -autorinnen von Buffalo-Bill-Romanen, Nick-Carter-Detektivserien oder für wenig Geld erhältlichen Groschenheften befriedigte. Dadurch verlor die so hoffnungsvoll begonnene Bewegung des Naturalismus einen ihrer Hauptantriebsfaktoren und existierte in der Folgezeit nur noch in unbedeutenden und kaum mehr wahrgenommenen Schwundformen weiter. Was demzufolge nach diesem Zeitpunkt innerhalb des wilhelminischen Reichs sowohl politisch als auch kulturell dominierte, war nicht mehr der Versuch, auch den Vielen, nämlich der auf rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung angewachsenen Arbeiterklasse, eine wirksame Stimme zu verleihen, sondern eine durch die forcierte Steigerung der industriellen Produktion verursachte Wendung ins Machtbetonte, ja Imperialistische. Und das führte dazu, daß die Wenigen, das heißt die herrschenden Oberschichten, die sich innenpolitisch nicht mehr von der SPD bedroht fühlten, immer stärker danach drängten, wegen der wirtschaftlichen Stärke des wilhelminischen 172
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Reichs, das nach der Jahrhundertwende zur zweitstärksten Industriemacht der Welt aufstieg, auch auf politischer Ebene als mitbestimmende Führungsmacht aufzutreten, statt sich wie in der Bismarck-Ära lediglich mit der Innenbefestigung des neugegründeten Reichs und damit einer sogenannten Saturiertheitspolitik zu begnügen. Es ist deshalb oft beschrieben wurden, welche eindeutig imperialistische Stimmungsmache sich daraus entwickelte, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Weniger eindeutig wirkt dagegen die kulturelle Situation zwischen 1895 und 1914, in der sich zwar auch die sozioökonomischen Wandlungen dieses Zeitraums ebenso deutlich widerspiegeln, die aber auf den ersten Blick nicht ohne weiteres auf einen allumfassenden Nenner zu bringen ist. Entschieden imperialistisch wirkt in diesen zwei Jahrzehnten erst einmal alles, was auf politischer und kultureller Ebene von den maßgeblichen Regierungskreisen befürwortet wurde. Dazu gehörten vornehmlich jene kaiserlichen Geburtstags- und Regierungsjubiläen, jene groß aufgezogenen Militärparaden, jene Feiern zur Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig sowie jene stets mit großem Pomp veranstalteten Einweihungen neuer Ehrenmale und Siegessäulen. All das wurde von den vielen zu dieser Zeit gegründeten oder sich machtvoll erweiternden Verbänden und Vereinen – wie dem Deutschen Flottenverein, dem Deutschnationalen Flottenverein, der Deutschen Kolonialgesellschaft, dem Verein der Deutschen im Ausland, dem Deutschen Kriegerbund, dem Wehrkraftverein, dem Bund der Landwirte, dem Centralverein der deutschen Industriellen, dem Reichsdeutschen Mittelstandsverein, dem Reichshammerbund, dem Deutschbund und dem Alldeutschen Verband – durchaus begrüßt und zum Teil mitfinanziert. In den meisten dieser Organisationen herrschte eine stramm »kaisertreue« Gesinnung, ja manche überboten die herrschende imperialistische Einstellung sogar noch, indem sie, wie der Alldeutsche Verband, das Zweite Kaiserreich lediglich als ein Interimsreich betrachteten, auf das unter einem »Starken von oben« in nicht allzu ferner Zukunft ein Drittes Reich folgen werde, das aufgrund seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke sicher eine führende Rolle in der Weltmachtpolitik spielen würde. 173
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Soweit zu all jenen, die sich bedingungslos einer imperialistischen Politik verschworen und daher auch kulturell nur die künstlerischen Großleistungen der deutschen Vergangenheit bzw. den sich historistisch gebenden Stil der kaiserlichen und großindustriellen Führungsclique als maßstabsetzende Manifestation gelten ließen. Was dagegen die wilhelminischen Bildungsbürger, die zwar – trotz der allmählich anwachsenden Schicht der akademisch Gebildeten – im Gegensatz zu den 70 Prozent der Proletarier, Bauern und Landarbeiter numerisch nur eine unbedeutende Minderheit von 0,75 bis ein Prozent bildeten, sich aber weiterhin nachdrücklich in den Vordergrund zu drängen versuchten, als ihre Kultur ins Auge faßten, beruhte auf völlig anderen Konzepten. Sie fanden den aufgedonnerten Historismus der staatlich geförderten Kunstbemühungen – schon aus ästhetischen Gründen – von vornherein »degoutant«. Viele unter ihnen billigten zwar auch den offiziell geförderten »Klassiker«-Kult, das heißt schlossen sich den allerorts entstehenden Goethe-, Schiller- und WagnerVereinen an, bevorzugten aber im Hinblick auf die Kunst ihrer eigenen Zeit eher als spezifisch »modernistisch« empfundene Stilrichtungen, die sich als betont verfeinert, ja ausgesprochen geschmäcklerisch gaben und von ihnen – sowohl aus Affront gegen die plumpe Dekorationskunst der gründerzeitlichen Parvenükultur als auch gegen die ins »Niedere« tendierende Kunst der Naturalisten – als künstlerische Ausdrucksformen einer als außergesellschaftlich verstandenen Geschmacksrevolte ausgegeben wurden. Und zwar versahen sie diese neuen, von ihnen zumeist als »sezessionistisch« bezeichneten Stilrichtungen in den neunziger Jahren gern mit Etiketten wie Impressionismus, Neoimpressionismus, Stimmungslyrismus, Symbolismus, Fin-de-siècle-Stil oder Art nouveau bzw. Jugendstil, um von vornherein keinen Zweifel daran zu lassen, daß es dabei um rein ästhetische »Ismen« gehe, denen keine in das Sozialgefüge eingreifenden Absichten zugrunde lägen. Ihnen ging es nicht mehr um gesellschaftliche »Progression«, sondern nur noch um ästhetische »Innovation«. Die erste Gruppe, die in dieser Hinsicht von sich reden machte, waren die Impressionisten, bei 174
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Abb. 29 Lovis Corinth: Am Putztisch (1911)
denen es sich weitgehend um Maler wie Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt handelte, die sich vor allem um das koloristische Raffinement ihrer Bilder bemühten, das sie als das Hauptanliegen ihrer Malweise hinstellten. Allerdings verhehlten sie in ihrer Motivwahl keineswegs, daß es ihnen dabei um eine spezifisch »bürgerliche« Kunst ging, indem sie auf ihren Bildern vornehmlich Szenen aus dem luxuriösen Freizeitverhalten 175
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der gesellschaftlichen Oberschichten, nämlich sonntägliche Kahnfahrten, Restaurantbesuche, Zoospaziergänge, Tourismuserlebnisse in fernen Ländern, Opernauftritte, sich elegant herausputzende Damen, polospielende Reiter oder anzüglich wirkende weibliche Akte darstellten, um somit ins angeblich Nichtengagierte auszuweichen. Alles Pathetische, Nationalistische oder sozial Aufrüttelnde war daher in diesen Kreisen, denen sich auch einige Schriftsteller wie Peter Altenberg, Hermann Bahr, Otto Erich Hartleben oder Arthur Schnitzler anschlossen, von vornherein »out«. Als »in« erschien ihnen dagegen vornehmlich das ästhetisch Überraffinierte oder auch erotisch Anspielungsreiche, das lediglich auf sinnlichen Momentanreizen beruhte, statt weiterhin wilhelminisch aufzutrumpfen oder an das soziale Gewissen des Publikums zu appellieren. Bei manchen dieser Ästheten nahm diese impressionistische Überreizsamkeit schließlich so outrierte Züge an, daß sich gegen Ende der neunziger Jahre dafür das Schlagwort »Dekadenz« einstellte. Wohl das beste Beispiel dafür ist jene als neurasthenisch empfundene Fin-de-siècle-Stimmung, mit der sich die mit ihr Identifizierenden das Gefühl einer gesteigerten Sensibilität zu verleihen suchten, was zu einer merklichen Vorliebe für alles Späte, Gealterte, Herbstliche, Melancholische, ja Todesmüde führte und damit untergründig an dem gleichen als außergesellschaftlich ausgegebenen Sezessionismus partizipierte, welcher der impressionistischen Bewegung zugrunde lag. Ja, in manchen Frühwerken Hugo von Hofmannsthals, Eduard von Keyserlings und Thomas Manns wurden solche Stimmungen mit einer derart ins Manierierte gesteigerten Genüßlichkeit dargestellt, als wolle man selbst dem Kranksein oder Sterben noch ein Letztmögliches an sinnlicher Reizempfindlichkeit abgewinnen. Da jedoch in einer wirtschaftlichen Hochkonjunkturphase, wie sie Mitte der neunziger Jahre einsetzte, selbst jede Kunstströmung – aufgrund der rapiden Innovationssucht der Warenangebote – nur für eine kurze Zeit ein modisch gefärbtes Aufsehen erregen konnte, kam es um 1900 zwangsläufig zu einer Fülle neuer Stilrichtungen, denen teils ästhetizistische, teils reformistisch ausgerichtete Tendenzen zugrunde lagen. Eine Mittelstellung zwischen 176
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diesen zwei Richtungen nahm hierbei der Jugendstil ein, der sich zwischen 1895 und 1905 nicht allein innerhalb der Malerei auswirkte, sondern auch auf das Kunstgewerbe und sogar die Architektur übergriff. Aber trotz aller Bemühungen, mit ihm einen neuen Gesamtstil für alle bildkünstlerischen Erscheinungsformen zu entwickeln, blieb auch er weitgehend im Ästhetizistischen befangen, da er keine neuen gesellschaftspolitischen Leitkonzepte entwarf, sondern sich vornehmlich mit einer halb floralen, halb geometrisierenden Dekorationssucht begnügte, die zwar zeitweilig im Bereich des als »modisch« geltenden Designs, ob nun der Juwelierkünste, des Buchschmucks oder der Vasenherstellung, durchaus Furore machte, jedoch schon nach wenigen Jahren von einer der industriellen Produktion angepaßten Reform der alltäglichen Gebrauchsgegenstände wieder verworfen wurde. Demzufolge blieb der Jugendstil – trotz mancher Proklamationen, der Stil der um die Jahrhundertwende jugendlich gestimmten Generation zu sein – sogar in seinen besten Ausprägungen letztendlich eine geschmäcklerische Klüngelkunst sich vornehm gebender Villenbesitzer und Ästheten, während er im industriellen Dekorationsgewerbe schnell zu einer Stilhaltung verkam, für die in kulturkritischen Zeitschriften ab 1905 gern diffamierende Ausdrücke wie »Buchschmutz«, »Ornamenthölle« oder »gepfefferte Schmuckkunst« verwandt wurden. Doch bevor es zu jenen Bemühungen kam, den angestrebten kulturellen Reformwillen mit den neu entwickelten Industrieformen zu verbinden, wie es der kurz darauf gegründete Deutsche Werkbund anstrebte, muß noch auf drei weitere Gruppierungen eingegangen werden, die im soziokulturellen Überangebot der Jahrhundertwende von sich reden machten. Eine davon war die Lebensreformbewegung, die – im Gegensatz zum Jugendstil – in ihren Anfängen einen durchaus »universalen« Anspruch vertrat, statt sich von vornherein lediglich sezessionistisch von den in ihren künstlerischen Bedürfnissen als »geschmacklos« geltenden breiten Massen abzusetzen. Ihr lag durchaus der Wille zu einer durchgreifenden »Gesundung« der Gesamtbevölkerung zugrunde. Sie wandte sich demzufolge sowohl gegen das Nervösstimmende, ja Aufreizende des als impressionistisch empfundenen Großstadtlebens als 177
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auch gegen das Überhandnehmen der industriellen Modernisierungsschübe. Kurzum: sie verstand unter Kultur keine neue Kunst, sondern eine neue Lebenseinstellung. Sie wandte sich daher von vornherein an die Vielen und nicht an die Wenigen der von ihr als neurasthenisch angeprangerten großstädtischen Ästheten, Snobs und Flaneure, die – ihrer Meinung nach – noch immer in einer als dekadent eingestellten Fin-de-siècle-Stimmung befangen seien. Was ihre Vertreter deshalb mit utopischem Elan propagierten, war ein umgehender Rückzug aufs Land, und zwar in Gartenstadtsiedlungen oder sektiererische Landkommunen, wo man auf alle als »großstädtisch« angeprangerten Laster wie das Rauchen, den Alkohol, die Bordellbesuche, die Affenfatzkerei der modischen Kleidung, wie überhaupt das ständige Umhergetriebensein verzichten würde. Was die Naturheilkundler, Vegetarier, Abstinenzler und Freikörperkulturfanatiker unter den Lebensreformern solchen »Abirrungen« entgegensetzten, waren Kneippkuren, Wanderungen durch die Natur, eine fleischlose Kost sowie ein weitgehender Nudismus, um wieder im sogenannten »Einklang mit der Natur« zu leben. Und es kam auch zu solchen Siedlungen, ob nun in Berlin-Schlachtensee, der Obstbaumkolonie Eden in Oranienburg oder auf dem Monte Verità, wo man sich um eine derart »naturgemäße« Lebensweise bemühte und mit fidushaft ausgebreiteten Armen jeden Morgen die aufgehende Sonne anbetete. Doch letztlich blieb auch diese Bewegung – trotz ihrer hochgesteckten Ziele – zwangsläufig ein sezessionistisches Phänomen. Schließlich konnten sich solche Rückzüge in die Natur nur jene Sonderlinge aus den Bohemekreisen der Jahrhundertwende leisten, die entweder finanziell besser gestellt waren oder ohnehin bisher in den gesellschaftlichen Randzonen der Bourgeoisie gelebt hatten. Doch selbst viele dieser Wenigen gaben derartige Ausflüge ins »Natürliche«, welche sich als reichlich beschwerlich, nämlich arbeitsam erwiesen, schon nach kurzer Zeit wieder auf und zogen in die Städte zurück. Eine wesentlich breitere Bevölkerungsschicht erreichte dagegen jene Bewegung, die sich auf Anregung von Ernst Rudorff im Jahr 1904 in Dresden als Bund Heimatschutz etablierte und Paul Schultze-Naumburg, der sich 178
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schon vorher um die Erhaltung des deutschen Landschaftsgefüges bemüht hatte, zu ihrem ersten Vorsitzenden wählte. Im Gegensatz zur Lebensreformbewegung blieb der Bund Heimatschutz keineswegs im Sezessionistischen stecken, sondern konnte sich bereits kurz nach seiner Gründung auf zehntausende von Mitgliedern stützen, die zum Teil einflußreiche Stellen innehatten. Aber aufs große und ganze gesehen, das heißt in Anbetracht der sich durch die fortschreitende Industrialisierung immer deutlicher abzeichnenden Naturzerstörung, waren selbst das nach wie vor nicht genug, um die auch von Teilen der Lebensreformbewegung angestrebte Schonung der Natur durchzusetzen. Dennoch erreichten die Heimatschützer im Hinblick auf die Reinerhaltung mancher Flüsse, die Präservierung gewisser Naturdenkmäler, den Schutz einiger Wildtiere und die Erhaltung urtümlicher Dorfanlagen immerhin einiges. Allerdings sollte keineswegs verschwiegen werden, daß im Rahmen dieser Bewegung neben naturschonenden auch nationalistische Zielsetzungen eine Rolle spielten, die bereits um 1900 die Züge einer Blut- und BodenIdeologie annahmen. Und zwar gilt das unter anderem für die damals beliebten Heimat- und Bauernromane, die in den vorangegangenen Jahrzehnten eine relativ untergeordnete Rolle gespielt hatten. Vor allem Autoren wie Adolf Bartels, Gustav Frenssen, Tim Kröger, Hermann Löns, Peter Rosegger, H einrich Sohnrey und Hermann Stehr wandten sich um die Jahrhundertwende scharf gegen den »entwürdigenden« Charakter all jener großen Städte mit über 100.000 Einwohnern, deren Zahl zwischen 1870 und 1914 von acht auf 50 angestiegen war, und strichen ständig die Vorzüge des ländlichen Lebens heraus. In ihren Werken wurden daher – nach der großstädtischen »Renommisterei« der gründerzeitlichen Parvenükultur, den naturalistischen »Entgleisungen« ins Schmutzige und Bordellhafte sowie der »westlichen« Dekadenz der impressionistisch-symbolistischen Fin-desiècle-Literatur – die bäuerliche Verbundenheit mit der Scholle und das sich daraus ergebende wahrhaft Deutschtümliche als die wichtigsten Manifestationen einer tiefgreifenden Rückbesinnung auf Gesundes und Natürliches angepriesen. Sogar manche mit dieser Bewegung sympathisierende Maler 179
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wie Fritz Boehle versuchten diese Gesinnung zu unterstützen, indem sie – im Gegensatz zu den noch vom Jugendstil herkommenden Heimatkunstmalern in Worpswede oder Neu-Dachau – auf ihren Bildern vornehmlich »Bauern in Nibelungenstiefeln« darstellten und dabei auf alles Genrehafte, Stimmungsbetonte oder Milieudeterminierte bewußt verzichteten, um so das Leben auf dem Lande ins Zeitlose und damit »Große« zu erheben. Die gleiche immer stärker werdende Tendenz ins Heroische und damit Monumentalisierende setzte um 1905 – im Zuge der ständig wachsenden ökonomischen und militärischen Stärke des wilhelminischen Reichs – auch in anderen künstlerischen Stilrichtungen ein. Für dieses Ausdrucksverlangen hat man – wegen seines Verzichts auf bestimmte historistisch vorgegebene Dekorationselemente – zeitweilig den eher allgemein gefaßten Begriff »Stilkunst um 1900« verwandt, um damit seine ins Erhabene tendierende Großmannssucht herauszustreichen. Obzwar es selbst hierbei häufig zu Entgleisungen ins Chauvinistische kam, handelte es sich bei derartigen Werken meist um Sonderleistungen bestimmter Einzelkünstler, die sich keineswegs zu einem ideologischen Gruppenbewußtsein bekannten. Dafür spricht etwa auf architektonischem Gebiet der neue Monumentalismus der Bauten von Peter Behrens, Wilhelm Kreis, Bruno Schmitz und Fritz Schumacher, die mit ihren riesigen Portalen, gewaltigen Pylonen und zyklopenhaften Mauern inmitten der wilhelminischen Renaissancearchitektur wie unbehauene Findlinge wirken. Einen ebenso gewaltsamen Eindruck erwecken jene sich in monumentaler Nacktheit darbietenden Statuen, die Ludwig Habich, Franz Metzner und Arthur Volkmann zu gleicher Zeit schufen, die wegen ihrer Muskelpakete und Bartklötze von den noch impressionistisch orientierten Kritikern häufig als outrierte »Nacken- oder Schenkelmenschen« belächelt wurden. Auch eine Reihe von Malern wie Adolf Bühler, Albin Egger-Lienz, Fritz Erler, Otto Greiner und Ludwig Schmid-Reutte paßte sich dieser Richtung an, indem sie auf ihren Fresken oder altarartigen Triptycha gern mythologische Figuren oder urmenschliche Situationen in gewollt vereinfachten Formen darstellten, die sich am besten in einen architektonischen Rahmen einfügen ließen. 180
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Abb. 30 Albin Egger-Lienz: Der Mensch (1914)
Selbst in manchen Bereichen der Literatur verbreitete sich nach 1900 ein derartiger feierlich-zeremonieller Ausdruckswillen, was nach den impressionistisch hingeschlenkerten Kleinformen der späten neunziger Jahre erneut zu einer Blüte großangelegter Dramen, Epen und Gedichtwerken führte, denen zum Teil ein ins Herrische drängender Anspruch zugrunde lag, den man schon damals als »Imperialismus der Seele« charakterisiert hat. Dafür sprechen nicht nur die hochgestochenen Gedichtwerke Stefan Georges, sondern auch die ins Monumentale tendierenden Versepen Carl Spittelers, die von den bürgerlichen Bildungsschichten damals viel beachtet wurden. Sogar der Theaterbetrieb nahm an dieser Wende ins Stilvolle teil, indem Adolphe Appia und Emil Orlik – nach den sinnlich stimulierenden Inszenierungen Max Reinhardts – die Bühne wieder in einen »Ort der Weihe« zu verwandeln suchten. Ähnliche Tendenzen lassen sich in denselben Jahren 181
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im Bereich der Musik beobachten, wo sich dieser neue Monumentalismus in gewaltig aufgebauschten Orchesterwerken äußerte, die erstmals über 100 Mitspieler verlangten. Zeittypische Beispiele dafür wären sowohl Ein Heldenleben (1899) und die Alpensymphonie (1915) von Richard Strauss als auch die 8. Symphonie (1907) von Gustav Mahler für Orchester, Doppelchor und Solisten, die wegen ihrer reichen Besetzung von den damaligen Musikkritikern voller Bewunderung als »Symphonie der Tausend« bezeichnet wurde. Was dieser Wendung ins Monumentale, ob nun in der Architektur, der Malerei, der Literatur, dem Theater oder der Musik, letztlich zugrunde lag, war aufgrund ihrer individuellen Sollensethik meist ein Ausdrucksverlangen, das trotz seiner hochgespannten Absichten dennoch weitgehend im Ästhetisch-Formalen oder gar Solipsistischen befangen blieb. Immer wieder handelte es sich in diesem Umkreis um Künstler, die sich nicht als Anwälte irgendwelcher Allgemeingefühle verstanden, sondern in ein gesellschaftliches Niemandsland auswichen. Trotz aller Typisierung kam daher in ihren Werken häufig etwas höchst Persönliches zum Ausdruck, das innerhalb der wilhelminischen Kulturwarenproduktion eher durch seine artistische Novität als durch seine monumentale Allgemeinverbindlichkeit bestechen sollte. Nur so läßt sich das Gewaltsame und Konstruierte in den Werken dieser Richtung verstehen, der es weniger um die Darstellung verehrungswürdiger Objekte als um den hybriden Versuch ging, die eigene Person in den Mittelpunkt eines interesseheischenden Wohlgefallens zu rücken. Statt eine wahrhafte Monumentalität anzustreben, was stets eine innere Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Vorstellungen der eigenen Zeit voraussetzt, bemühten sich diese Künstler vornehmlich um eine Formgestaltung, die eher einen subjektiv angemaßten als einen inhaltlich verbindlichen Eindruck erweckt, wodurch mit diesen Werken – wirkungsgeschichtlich gesehen – wiederum nur die kunstinteressierten Wenigen und nicht die auf eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse drängenden Vielen angesprochen wurden. Allerdings sollte man nicht übersehen, daß es im Laufe der Vorkriegsjahre vor allem im Bereich der Architektur und des Designs auch zu Bestrebungen 182
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kam, nicht nur weiterhin ins Dekorationssüchtige oder gar Monumentalisierende auszuschweifen, sondern auch eine der fortschreitenden Industrialisierung angepaßte Form- und Gestaltungsweise ins Auge zu fassen. Unter kulturhistorischer Perspektive hat man diese Richtung meist als »puristisch« oder »werkbetont« charakterisiert, um damit ihren auf die Neue Sachlichkeit der zwanziger Jahre vorausweisenden »modernistischen« Charakter herauszustreichen. Schließlich ging es manchen Wortführern dieser Richtung im Hinblick auf eine dem neuen Reich gemäße »Kultur« erstmals nicht mehr um genialische Einzelleistungen, sondern um eine allgemeinverbindliche »Zivilisation«, in der man – im Sinne einer gerechteren Verteilung der kollektiv erwirtschafteten Güterproduktion – sowohl auf das Prinzip des liberalistischen Eigennutzes als auch auf das Prinzip eines aristokratischen Personenkultus verzichten würde. Malerische, literarische oder musikalische Einzelleistungen erschienen daher vielen ihrer Anhänger geradezu luxurierend, wenn nicht gar unnötig. Nicht die freie, sondern die angewandte Kunst lag für sie an der Spitze der stilbildenden Tendenzen. Deshalb sahen sie nicht mehr in Kirchen, Palästen, Statuen, Ölgemälden, Dramen, Epen, Gedichten, Opern oder Symphonien die vordringlichsten Kulturaufgaben ihrer Zeit, sondern fast ausschließlich in Siedlungen, Fabriken und Warenhäusern, also Bauten für Wohn- und Arbeitsgemeinschaften, bei denen schmucküberladene Repräsentationsbedürfnisse sowie ein überspitzter Individualismus fehl am Platze wären. Eins der ersten Schlagworte dieser Richtung war demzufolge der Slogan »Kampf dem Ornament«. Statt weiterhin dem historisierenden Akademismus der Gründerzeit, dem uferlosen Dekorationsbedürfnis des Jugendstils oder dem zyklopischen Monumentalismus der sogenannten Stilkunst zu huldigen, bekannten sich die Hauptvertreter dieser werkbetonten Richtung, allen voran Walter Gropius, Adolf Loos, Hermann Muthesius und Heinrich Tessenow, immer stärker zu einer ins Puristische tendierenden »Sachkunst«, die auf einem vertiefteren Verständnis für das Ingenieurhafte oder zumindest Baulich-Vereinfachte der industriellen Produktionsweise beruhen sollte. Ihre erste Anerkennung erfuhren diese Tendenzen im Jahr 183
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1906 auf der Dritten allgemeinen deutschen Kunstausstellung in Dresden, wo neben kunstgewerblichen Einzelstücken auch fabrikmäßig angefertigte Serienmodelle ausgestellt wurden, um so die Gleichrangigkeit beider Gebiete zu betonen. Das organisatorische Ergebnis dieser Leistungsschau, wo es nicht nur, wie vorher auf den von den Vertretern des Jugendstils veranstalteten Ausstellungen, geschmackvolle Schmuckgegenstände, sondern auch Öfen, Kücheneinrichtungen, Eisenbahnabteile und technisches Gerät zu sehen gab, war die Vereinigung der Münchner und Dresdner Werkstätten zu den Deutschen Werkstätten. Darauf folgte ein Jahr später die Gründung des Deutschen Werkbunds, in dem sich fast alle »sachlich« ausgerichteten Gruppen dieser Art zu einer Werk- und Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen, die sich zu einer sozialen Verpflichtung der kapitalistischen Produktionsweise bekannten, welche allen Bevölkerungsschichten zugute kommen sollte. Derartige Bestrebungen ließen sich jedoch im imperialistisch aufgeheizten Klima der wilhelminischen Vorkriegsära nicht ohne weiteres in die gesellschaftliche Praxis umsetzen. Schließlich waren die Hauptrepräsentanten des Deutschen Werkbunds zwar meist wohlmeinende Architekten und Kulturtheoretiker, denen es nicht an einem guten Willen fehlte, welche sich jedoch bei der Ausführung ihrer Ideen stets der machtvollen Front der einflußreichen Konzern- und Fabrikbesitzer gegenübersahen, die zwar einige ihrer Bestrebungen, sofern sie sich davon eine Profitsteigerung der industriellen Produktionsweise versprachen, durchaus begrüßten, aber irgendwelche sozialen Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, von vornherein ablehnten. Und so herrschte selbst bei den Aktivitäten des Deutschen Werkbunds zwangsläufig ein Nebeneinander verschiedenster ideologischer Ausrichtungen, bei denen teils betont sachliche, ja sogar gesellschaftlich progressive, teils monopolkapitalistische Profitinteressen überwogen, ja sogar eine ins Nationalistische tendierende Komponente keineswegs fehlte, wodurch die von einigen Idealisten innerhalb dieser Bewegung zu Anfang angestrebte soziale Auswirkung auf die Gesamtbevölkerung weitgehend ausblieb. Die beste Überschau all dieser sich widersprechenden Tendenzen bot die große Kölner Werkbund-Ausstellung im Juli 1914, an der sich vor allem 184
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Abb. 31 Heinrich Tessenow: Siedlung »Am Gräbchen« in Hellerau bei Dresden (1914)
Peter Behrens, Theodor Fischer, Walter Gropius, Josef Hoffmann, Hermann Muthesius, Adalbert Niemeyer, Bruno Paul und Henry van de Velde beteiligten. Neben vorwiegend ästhetisch gestalteten oder durchaus monumental wirkenden Bauten gab es hier erstmals auch rein sachliche, das heißt in Stahl und Glas ausgeführte Fabrik- und Bürogebäude zu sehen. Die gleiche Vielfalt an Tendenzen äußerte sich in den dort gehaltenen Vorträgen, bei denen Muthesius eher nationalistische, van de Velde eher individualistische Ansprüche vertrat, wodurch die sozialen Aspekte weitgehend in den Hintergrund traten. Und so blieb die anfangs angestrebte gesellschaftsbezogene »architektonische Kultur« vorerst auf der Strecke. Während auf »völkischer« Seite die imperialistisch gesinnten Demagogen bereits einen geradezu präfaschistisch wirkenden nationalen Gesamtwillen propagierten, kamen darum selbst die Werkbund-Bestrebungen selten über ein sezessionistisches Cliquenbewußtsein hinaus. Und sogar das wurde kurz darauf von 185
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den Wogen des Ersten Weltkriegs ebenso unbarmherzig beiseite gefegt wie der geschmäcklerische Stilpluralismus jener künstlerischen Strömungen um die Jahrhundertwende, in denen lediglich das ästhetische Absonderungs bedürfnis der gesellschaftlichen Oberklassen vorgeherrscht hatte. Selbst die in der Vorkriegszeit lautstark auftretende Gruppe einiger pazifistisch gesinnter Frühexpressionisten konnte diese Entwicklung nicht aufhalten. Schließlich handelte es sich dabei vornehmlich um zwar antiwilhelminisch eingestellte junge Literaten und Maler, die in ihren künstlerischen Darstellungsmitteln keinerlei Rücksicht auf irgendwelche bisherigen Stilprogramme nahmen, jedoch in ihren ideologischen Anschauungen weitgehend persönlichkeitsbetonte, das heißt außergesellschaftliche Vorstellungen vertraten. Genau genommen, waren die Vertreter dieser Gruppe erst einmal gegen alles, was sie als »autoritär« empfanden: den militärischen Drill, die moralischen Konventionen der sich als »ehrpusselig« gebenden bürgerlichen Oberschicht, den akademischen »Klassiker«-Kult, das rangbetonte Verbindungswesen, den Chauvinismus der sich »völkisch« gebenden Verbände sowie ein nur auf finanziellen Gewinn bedachtes Karrierestreben. Was sie dem mit subjektiver Überspanntheit entgegensetzten, waren vor allem bohemehafte Konzepte wie Vaterhaß, Hurenromantik, Exotikschwärmerei, Drogenstimulierung, das heißt ein zügelloses Sichausleben, das keinen höheren Imperativ als die ungehemmte Freiheit des eigenen Ich anerkannte. Zugegeben, einige dieser Frühexpressionisten scharten sich dabei um betont radikal auftretende Zeitschriften wie Der Sturm (ab 1910) oder Die Aktion (ab 1912) bzw. schlossen sich zu Malergemeinschaften wie Die Brücke (ab 1905) oder Der blaue Reiter (ab 1911) zusammen, blieben aber selbst innerhalb solcher Gruppenbildungen zutiefst individualistisch eingestellt. So gab etwa der Aktionist Ludwig Rubiner 1912 auf die Frage »Wer sind eigentlich meine Kameraden?« die bewußt anarchistisch provozierende Antwort: »Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Nichtstuer, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Pennbrüder, Einbrecher, Kritiker, Arbeitslose, Gesindel.« Ja, um diese Aufzählung noch zu überbieten, erklärte er am Schluß lapidar: »Wir sind der heilige Mob!« Eine solche Gesinnung wurde 186
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zwar nicht von allen Frühexpressionisten geteilt, entsprach aber durchaus dem in dieser Richtung weitverbreiteten Gefühl des Außenseiterischen, das sich vornehmlich durch maßlos übersteigerte, mit antibürgerlichen Schock elementen durchsetzte Argumente Gehör zu verschaffen suchte. In frühexpressionistischen Dramen wie Reinhard Johannes Sorges Der Bettler (1912) oder Walter Hasenclevers Der Sohn (1914) treten daher ständig die gleichen lebenshungrigen, leistungsverweigernden, genialisch überspannten Jünglinge auf, die schon in der ersten Szene ins Bordell rennen, um damit gegen die moralische Stickluft und arbeitssame Pedanterie ihrer Elternhäuser zu protestieren. Statt über die wilhelminisch gesinnte Kaste des Adels, der Industriellen und der höheren Verwaltungsbeamten herzufallen, sahen die Vertreter dieser Richtung ihre Hauptgegner vor allem in jenen philisterhaften »Ich-Leichen« oder »Vergreisten«, die keinen »Mumm« mehr hätten, sich zu wilden, kühnen Aktionen aufzuraffen. Dem entspricht das Hingehauene und Hinausgeschriene ihrer Literatur sowie das Plakative, Fratzenhafte oder Negroide ihrer Gemälde und Graphiken, mit denen sie den »ewigen Spießer« oder »vertrottelten Methusalem« so knallhart wie nur möglich vor den Kopf stoßen wollten. Wegen dieser ideologischen und künstlerischen Überspanntheit fand die angeblich »revolutionäre« Kunst der Frühexpressionisten bei der gesellschaftlichen Unterklasse, die sich entweder in den sozialdemokratisch ausgerichteten Arbeiterbildungsvereinen die »klassische« Kunst des aufsteigenden Bürgertums zwischen 1750 und 1848 anzueignen versuchte oder sich mit kruden Volksbelustigungen in Form von Rummelplatzmusik, Moritaten gesängen, Trivialromanen, Zirkusdarstellungen sowie den ersten Kintoppvorführungen begnügte, überhaupt keinen Widerhall. Doch auch die damaligen Bildungsbürger konnten anfangs mit dieser Kunst wenig anfangen. Es gab zwar unter ihnen einige Galeristen, Theaterleiter und Zeitschriftenverleger, die solche Tendenzen als kulturelle »Novitäten« begrüßten und auch aus ihnen einen gewissen Profit herauszuschlagen versuchten, aber die Mehrheit der kulturinteressierten Schichten dieser Jahre sah im Frühexpressionismus eher etwas Jugendlich-Unreifes oder Bizarr-Obszönes. Diese Kreise blieben 187
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auf kulturellem Gebiet weiterhin dem Impressionismus, der Heimatkunst sowie dem stilkünstlerischen Monumentalismus treu oder bevorzugten im Hinblick auf das Architektonische und Designerhafte lieber jene WerkbundTendenzen, in denen sie ein spezifisch »deutsches« Stilwollen erblickten. In ihren Reihen herrschte keineswegs das Gefühl, daß zur Heraufkunft einer besseren Kultur ein totaler Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nötig sei. Im Gegenteil, diese Schicht berief sich weiterhin voller Stolz auf die angebliche »Weltgeltung« der deutschen Klassik und Romantik sowie die sie ästhetisch ansprechenden Leistungen der sich seit 1900 herausgebildeten Stiltendenzen innerhalb des allgemeinen Kulturbetriebs. Kurzum: die wilhelminische Bildungsbourgeoisie sowie die von ihr beeinflußten Bevölkerungsschichten waren deshalb im August 1914, als der Erste Weltkrieg begann, mehrheitlich davon überzeugt, daß man den Franzosen und Engländern nicht nur militärisch, sondern auch kulturmissionarisch entgegentreten müsse, um die überragenden Leistungen der deutschen Kultur vor dem materialistischen Ungeist der westlichen Zivilisation zu bewahren. »Das große Deutschland ist wieder da«, schrieb damals selbst ein betont feinsinniger Autor wie der junge Arnold Zweig, der sich sofort freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, in kultureller Verblendung: »Das Feuer Beethovenscher Allegri und Scherzi spukt in der deutschen Kriegsführung, die tragende Ordnung romanisch-deutscher Fassaden und der gefaßte Griffel Holbeinscher Zeichnungen gibt sich kund im organisatorischen Leben der Daheimgebliebenen. Und über allem hängt die furchtlose Nähe des Todes aus Dürers großem Blatt. Der Ritter reitet.« Ja, in den Monaten danach erschien ein Buch nach dem anderen, darunter Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes (1914) von Rudolf Eucken, Deutschlands europäische Sendung (1914) von Friedrich Lienhard, Deutschland als Welterzieher (1915) von Joseph August Lux, Deutscher Weltberuf (1915) von Paul Natorp, Händler und Helden (1915) von Werner Sombart sowie der Genius des Krieges und der deutsche Krieg (1915) von Max Scheler, die sich zu einem »Kreuzzug des Geistes« gegen die »materialistischen Zivilisationen des Westens« bekannten, in denen sich eine depravierende »Veräußerlichung« alles kulturell 188
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Wertvollen ins Kommerzialisierte und damit »Schäbige« verbreitet habe, der man entschieden entgegentreten müsse. Während sich das wilhelminische Kaiserreich als ein Bollwerk wahrer Kultur erwiesen habe, wie es noch 1918 mit großbürgerlicher Arroganz in den hochpolitischen Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann hieß, seien in Frankreich und England heute fast nur noch die »Kaufleute« und »Zivilisationsliteraten« tonangebend. Daher verwundert es nicht, daß von den damaligen Vertretern des Bildungsbürgertums lange Zeit kaum jemand protestierte, als linke SPD - Vertreter wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wegen ihrer Antikriegshaltung ins Gefängnis geworfen wurden oder die Frühexpressionisten von den Zensurbehörden der Obersten Heeresleitung während der Kriegszeit weitgehend unterdrückt wurden. Eine Änderung in dieser Hinsicht setzte erst ein, als sich nach vier entbehrungsreichen Kriegsjahren noch immer kein Siegfrieden abzeichnete und sich damit nicht nur die militärischen, sondern auch die kulturellen Überlegenheitsgefühle der herrschenden Oberklasse als maßlos überspannt erwiesen.
189
Die drei Phasen der Weimarer Republik Als sich die Kieler Matrosen am 28. Oktober 1918 weigerten, in hoffnungsloser Situation noch einmal gegen die britische Kriegsflotte in See zu stechen, kam es auch in anderen deutschen Städten zu öffentlichen Ausbrüchen eines nicht mehr zu unterdrückenden Unmuts gegen die offiziellen Durchhalteund Siegesparolen. Überall bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die auf eine sofortige Beendigung des Krieges und eine revolutionäre Umwälzung der wilhelminischen Gesellschaftsordnung drangen. Breite Schichten des Bürgertums, die sich im August 1914 geschlossen hinter Kaiser und Reich gestellt hatten, wurden durch diese Entwicklung erst einmal paralysiert und überließen die politische Initiative vorübergehend der inzwischen zur stärksten Partei aufgestiegenen SPD . Und diese, bisher mehrheitlich ebenso hohenzollernfromm und kriegsbegeistert, sympathisierte zwar vorübergehend mit den kriegsmüden Soldaten sowie den rebellisch aufbegehrenden Arbeiter- und Soldatenräten, trat jedoch unter der Führung Friedrich Eberts mit einer auf »Ruhe und Ordnung« drängenden Haltung allen linksradikalen Umsturzbemühungen wie denen des Spartakusbundes und der Münchener Räterepublik mit unbarmherziger Schärfe entgegen, ja verhinderte nicht einmal, daß ihre Anführer wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner von chauvinistisch eingestellten Freikorpsverbänden kurzerhand ermordet wurden. Um Deutschland vor einer drohenden »Bolschewisierung« nach sowjetischem Rätemodell zu bewahren, rief die SPD lieber zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar auf, womit sie einer »demokratischen Volksrepublik« den Boden bereiten wollte, die jedem Staatsbürger und jeder Staatsbürgerin die gleichen Grundrechte garantieren sollte. Und das wurde von breiten Schichten der deutschen Bevölkerung, die sich endlich nach einer Wiederkehr »geordneter Verhältnisse« sehnten, auch durchaus honoriert. Daher ging die SPD aus den am 19. Januar 1919 abgehaltenen Wahlen wiederum als stärkste Partei hervor. Allerdings konnte sie 191
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nicht die absolute Mehrheit erringen, sondern mußte mit der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dem Zentrum eine Links-der-MitteKoalition eingehen, um ihr weitgehend »liberal« gefärbtes Demokratiekonzept durchsetzen zu können. Im Gegensatz dazu bekannten sich die rechtsstehenden Parteien wie die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP), die sich als die Nachfolgeparteien der früheren Konservativen und des rechten Flügels der Nationalliberalen verstanden, weiterhin zu allem, was aus dem ideologischen Arsenal des wilhelminischen Chauvinismus stammte, ob nun einem militaristisch klingenden Ehrenkodex, einer autoritär-monarchistischen Gesellschaftsordnung sowie jenen kulturellen Überlegenheitsgefühlen, mit denen sie an dem Weltmachtanspruch der Zeit vor 1914 festzuhalten versuchten. Und zwar stützten sie sich dabei auf die legendäre »Dolchstoßlegende«, indem sie behaupteten, daß Deutschland den Ersten Weltkrieg nur verloren hätte, weil die »Vaterlandsverräter« unter den Linken und Juden den weiterhin siegbereiten deutschen Truppen durch die von ihnen angestiftete Novemberrevolution in den Rücken gefallen wären. Die linken Gruppierungen waren dagegen im ersten Reichstag nach Kriegsende nur durch die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) vertreten, die zwar die Mehrheitssozialdemokraten für ihr Bemühen, die Novemberrevolution zu »erdrosseln« bzw. »in stille Bahnen« zu lenken, scharf angriffen, aber letztlich ebenfalls alle konsequenten gesellschaftlichen Neuordnungs- oder gar Sozialisierungsmaßnahmen als »bolschewistisch« ablehnten. Wirklich »revolutionär« verhielten sich daher zu diesem Zeitpunkt lediglich Teile der Arbeiter- und Soldatenräte sowie die am 31. Dezember 1918 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Sie waren deshalb die einzigen, welche die ersten Reichstagswahlen boykottierten. Zugegeben, damit war endlich eine »Deutsche Demokratische Republik« entstanden. Aber mit welchen politischen und ökonomischen Hypotheken war sie belastet! Sie mußte erdulden, daß man ihr im Friedensvertrag zu Versailles die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg gab, sie sah sich gezwungen, Jahr für Jahr hohe Reparationszahlungen an Frankreich zu entrichten, 192
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sie wurde durch ein langanhaltendes Embargo der Westmächte ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, ja sie konnte sich kaum all jener rechten und linken Putschversuche von seiten der KPD und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) erwehren, die ihre Existenz zwischen 1919 und 1923 immer wieder in Frage stellten. All das führte schließlich zu einer Hyperinflation, die so krasse Formen annahm, daß man im Herbst 1923 für einen US-Dollar 4,2 Millionen Reichsmark aufbringen mußte. Da die Reichsregierung, welche inzwischen aus einer nach rechts abgedrifteten Koalition aus DDP, DVP und Zentrum bestand, angesichts der inflationären Entwicklung erneut die Gefahr einer möglichen »Bolschewisierung« Deutschlands heraufziehen sah, entschloß sie sich im November 1923 nicht nur zu einem Verbot der KPD und der NSDAP, sondern auch zu einer durchgreifenden Währungsreform, was zu einer allmählichen Beruhigung der innenpolitischen Verhältnisse beitrug. Schon diese äußerst knapp gehaltenen Hinweise auf den konfliktreichen Verlauf der ersten Phase der Weimarer Republik belegen deutlich genug, welcher herkulischen Anstrengungen es bedurfte, der autoritär überformten wilhelminischen Klassengesellschaft den vorläufigen Anstrich eines sich als »demokratisch« verstehenden staatlichen Gebildes zu geben. Schließlich blieb auch die unter schweren Geburtswehen entstandene Weimarer Republik ein Klassenstaat, in dem sich unter den einzelnen Bevölkerungsschichten keine Solidaritätsgefühle entwickelten. Der Adel und die großbürgerlichen Kreise (1,8 Prozent), der Mittelstand und das Kleinbürgertum (27,35 Prozent) sowie die Bauern, die Landarbeiter und das Industrieproletariat (72,77 Prozent), die – den damaligen Statistiken zufolge – noch immer die Mehrheit der in dieser Republik lebenden Menschen bildeten, kapselten sich voneinander ab und versuchten, aus den sich verändernden politischen und sozioökonomischen Verhältnissen das für sie jeweils Günstigste herauszuschlagen. Daher konnte es nicht ausbleiben, daß sich auch kulturell kein neuer Gesamtwille entwickelte, sondern die meinungsbildenden Trägerschichten der verschiedenen Klassen ihre jeweils eigenen Vorstellungen von »Kunst« vertraten, indem sie entweder lediglich ihre eigenen Interessen vertraten oder versuchten, sich 193
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mit utopistischem Elan über die eigenen Klassenschranken hinwegzusetzen und angeblich gesellschaftsübergreifende Kulturkonzepte zu propagieren. Hierfür sprechen unter anderem folgende Fakten. Wie zu erwarten, traten die gehobenen Schichten des Bürgertums den ins Republikanische, wenn nicht gar ins Sozialistische tendierenden Forderungen der Arbeiterund Soldatenräte sowie der KPD mehrheitlich äußerst renitent entgegen. Von alledem versprachen sie sich für ihre eigene Zukunft weder politisch, sozioökonomisch oder kulturell irgendwelche Vorteile. Demzufolge hielten besonders die bildungsbürgerlichen Schichten innerhalb dieser Klasse, zu denen etwa 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung gehörten, in ihrer Haltung zur Kunst weiterhin an der in der wilhelminischen Ära entstandenen Hochschätzung, ja ins Hochmütige gesteigerten Überheblichkeit der alle Werke anderer Kulturnationen überragenden Meisterleistungen der deutschen Klassik und Romantik fest. Sie begrüßten daher, daß die SPD nach 1919 nicht davon abgelassen habe, sämtliche hochkulturellen Einrichtungen, ob nun die Theater, Opernhäuser, Symphonieorchester oder Museen, nach wie vor als führende Kulturinstitutionen anzuerkennen und finanziell abzusichern. Ja, viele Vertreter dieser Schicht, die vorher konservativ gesinnt waren, schlossen aus diesem Grund, wie etwa Thomas Mann in seiner Rede Von deutscher Republik (1922), ihren Burgfrieden mit dieser von ihnen zuvor abgelehnten Partei, die nicht nur sie und ihre Klasse vor einer möglichen »Bolschewisierung« Deutschlands bewahrt habe, sondern auch kulturell keineswegs zu den »revolutionären Schreihälsen« übergegangen sei, wie man damals häufig lesen konnte. Gut, es gab auf dem linken Flügel der SPD damals auch Arbeiterautoren wie Hans Lersch, Paul Zech und andere, die durchaus antibürgerlich eingestellt waren und sich an der von dieser Partei und den Gewerkschaften ins Leben gerufenen Arbeitersängerbewegung sowie den bei proletarischen Massenveranstaltungen auftretenden Sprechchören beteiligten, dabei jedoch allen betont »revolutionären« Tendenzen aus dem Wege gingen. Das gleiche gilt für die in wilhelminischer Zeit entstandenen Arbeiterbildungsvereine, welche die SPD auch in der Weimarer Republik weiterhin unterstützte, 194
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in denen sie entweder die neutrale, das heißt klassenübergreifende Parole »Wissen ist Macht« propagierte oder auf literarischem Gebiet einen politisch unverbindlichen Klassikerkult trieb, um auch die Arbeiter mit den angeblich unvergänglichen Werken von Goethe und Schiller vertraut zu machen. Während also das Bildungsbürgertum sowie die von der SPD und den Gewerkschaften beeinflußten Teile der Arbeiterklasse durchaus älteren Hochkulturvorstellungen huldigten, blieben derartige Bemühungen innerhalb der anderen Bevölkerungsschichten der frühen Weimarer Republik weitgehend aus. Die konservativ eingestellten Bauern und Landarbeiter pflegten nach wie vor ihr religiöses bzw. »tümliches« Brauchtum oder wanderten zusehends in die großen Städte aus, wovon sie sich nicht nur bessere Verdienstmöglichkeiten, sondern auch vielfältigere Unterhaltungschancen versprachen. Die gleiche Einstellung herrschte in den nur kümmerlich verdienenden kleinbürgerlichen Schichten, die ihre kulturellen Bedürfnisse, falls sie sich solche überhaupt leisten konnten, vor allem im Rahmen der bisherigen Vereinsmeierei sowie mit Kintoppbesuchen, Schrebergartenfesten, Tanzabenden oder zu Billigpreisen angebotenen Hintertreppenromanen befriedigten. All das wirkt auf den ersten Blick nicht spezifisch »demokratisierend«. Sich weiterhin auf die anspruchsvolle bürgerliche Hochkultur zu berufen und ihre Ausdrucksformen auch der Arbeiterklasse zu empfehlen, das altgewohnte bäuerliche Brauchtum zu pflegen oder sich mit einem ins Oberflächliche, wenn nicht gar Kitschige ausartenden Amüsement zu begnügen: mit solchen Verhaltensweisen ließen sich weder die wilhelminischen Klassengrenzen noch die in ihr herrschenden Kulturvorstellungen überwinden. Gab es denn damals gar keine Gruppen, fragt man sich unwillkürlich, die im Sinne der durch die Novemberrevolution in Gang gekommenen revolutionären Hoffnungen auf eine Gesamtumwälzung der politischen, ökonomischen sowie kulturellen Verhältnisse pochten? Es gab sie schon, aber ihre Stimmen verhallten – aufgrund der von der Weimarer Koalition von SPD , DDP und Zentrum erzwungenen Statusquo-Vorstellungen – schon nach kurzer Zeit im Leeren. Schließlich unterstützten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in diesem Zeitraum 195
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weiterhin die eher »gemäßigt« auftretenden Mehrheitssozialdemokraten. Noch entschiedener wandten sich die groß-, mittel- und kleinbürgerlichen Schichten gegen alle vom Spartakusbund und dann der KPD propagierten Umsturzprogramme, die sie von vornherein als »sowjetisierend« ablehnten. Die überwältigende Mehrheit dieser drei Bevölkerungsschichten sympathisierte nicht einmal mit jener linksbürgerlichen Kunstströmung zwischen 1919 und 1922, die unter dem Schlagwort »Spätexpressionismus« in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Hierbei handelte es sich um eine Bewegung, die sich bereits seit 1905 bemerkbar zu machen versuchte, aber im Ersten Weltkrieg, wie gesagt, durch die wilhelminischen Zensurbehörden an ihrer weiteren Entwicklung gehemmt worden war. Erst im Zuge der nicht vorhergesehenen und daher ideologisch kaum vorbereiteten Novemberrevolution war sie wieder zu sich selbst gekommen, vermochte jedoch wegen ihrer radikalistischen Unausgegorenheit den damit verbundenen Umsturzbemühungen keine gesellschaftlich konkreten Zielvorstellungen zu geben. Ihre Vertreter fühlten sich zwar im Bereich des Ideellen und der Kunst als die zentralen Politavantgardisten und beteiligten sich, wie etwa Ernst Toller, sogar an einigen anarchistischen, syndikalistischen und sozialistischen Aufständen, um die noch immer in autoritär-monarchistischen Vorstellungen befangene Bourgeoisie, ja vielleicht sogar Teile der Arbeiterklasse zu einer rebellischen Gesinnung aufzuputschen, verloren aber dabei nur allzu oft die gesellschaftliche Realität aus den Augen, in der sich bereits weitgehend der Wunsch nach »Ruhe und Ordnung« durchgesetzt hatte. Doch davon ließen sich viele Spätexpressionisten keineswegs entmutigen. Ihnen schien jetzt endlich der Zeitpunkt gekommen zu sein, als aus der Masse herausragende Einzelne sowohl gegen die älteren Mächte der imperialistisch gesinnten Bourgeoisie als auch die ausbeuterischen Praktiken des kapitalistischen Systems zu Felde zu ziehen. Das ideologische Leitbild dieser Radikalexpressionisten war deshalb nach 1918 der Polittribun, der sich ständig auf einer imaginären Bühne befindet und die um ihn versammelte Volksmenge mit ekstatischen Gebärden zum totalen Umsturz 196
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Abb. 32 Ludwig Meidner: Titelbild zu einem Gedichtband von Walter Hasenclever (1919)
der bestehenden Gesellschaftsordnung zu bewegen versucht. Die Literatur dieser Richtung verstand sich demzufolge mit ihrem inzwischen legendär gewordenen »Oh Mensch«-Pathos in erster Linie als Aufruf, wenn nicht gar als Waffe. »Wir wollen eine Literatur«, schrieb der Tataktivist Kurt Hiller 1919 pointiert, »die birst vor Tendenz, nicht Literatur zu bleiben.« Selbst manche der bildenden Künstler dieser Richtung bemühten sich, diesem 197
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revolutionären Anspruch zu genügen, indem sie sich in Form von Plakaten, Holzschnitten oder Zeitungs- und Zeitschriftenillustrationen direkt an die »breiten Massen« zu wenden versuchten. »Bilder sind Extrablätter über den letzten Stand des Geistes«, erklärte Felix Stiemer dementsprechend kurz nach der Novemberrevolution im Hinblick auf die »knallharten« Holzschnitte Conrad Felixmüllers: »Fort aus den Ausstellungen! Auf die Straße! Verkauf des geistigen Telegrammverkehrs in Millionenauflagen!« Die meisten Künstler dieser Richtung wollten deshalb nach 1919 nichts mehr realistisch nacherzählen oder sorgfältig abpinseln, sondern neigten eher dazu, sich in ihren Werken möglichst »ungebärdig« zu geben, als wollten sie mit ihren Themen oder Motiven der bürgerlichen Wohlanständigkeit so gewaltsam wie möglich die Maske vom Gesicht reißen. Daher wimmelt es in der spätexpressionistischen Kunst geradezu von schockierend überzeichneten Ganoven, Prostituierten, Lustmördern, Lumpenproletariern oder anderen gesellschaftlichen Außenseitern, um so alle bisherigen Tendenzen ins Monumentalisierende, Idealisierende oder Religiöse als ideologische Verbrämungen der herrschenden Unrechtsverhältnisse zu entlarven. So gesehen, äußerte sich die politästhetische Revolte dieser Richtung vor allem als Angriff auf die von ihr gehaßte bürgerliche Wert- und Ordnungswelt, das heißt vorwiegend als Opposition und nicht als Proposition. Wie der Frühexpressionismus vor 1914 empörte sie sich gegen alles, was ihr als »geheuchelt« oder »veraltet« erschien. Wesentlich unklarer blieben dagegen ihre in die Zukunft weisenden Proklamationen. In diesem Punkt speiste sie ihre Adressaten meist mit großen Worten wie »neue Menschlichkeit«, »Wesenserfüllung«, »Seinsbewußtheit« oder lediglich »fesselfreies, rasendes Leben« ab. Doch das sollte man ihren Wortführern nicht nur verübeln. Schließlich waren sie keine realitätsvertrauten Politiker, sondern meist relativ junge, weltfremde Künstler. Und als solche hatte das Radikalistisch-Wilde für sie vor allem den Reiz des Bürgerschrecks. Manche ihrer Werke wirken deshalb geradezu wie eine Entfesselung der Volkskraft für das noch nie Gewagte, als hätten die Arbeiter und Kleinbürger nur darauf gewartet, sich ihre Einstellung zur Kunst »revolutionieren« zu lassen. 198
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Aufgrund dieser Haltung blieb der Spätexpressionismus bei allem Aufsehen, das er durch seine krassen Motive und Stilmittel erregte, politisch und kulturell relativ wirkungslos. Die von ihm ins Auge gefaßten »breiten Massen« konnten mit seinen Gemälden, Graphiken, Dramen und Gedichten wenig oder nichts anfangen. Und auch die Mehrheit der noch immer wilhelminisch gesinnten Bourgeoisie distanzierte sich von einer derart schockierenden Kunst. Daher verebbte diese Bewegung schon in den Jahren 1921/22. Ja, kurz darauf meldeten sich in den bürgerlichen Gazetten bereits Stimmen, die vom »Tod des Expressionismus« sprachen und sich weltanschaulich mit dem Juste Milieu der Weimarer Republik arrangierten. Die einzige Gruppe, die nach 1918 noch »radikalere« Thesen als die Spätexpressionisten vertrat, war der ebenso kurzlebige Bund der Dadaisten, der nach formalistisch verspielten Anfängen ebenfalls mit anarchistischen, ja sogar kommunistischen Tendenzen zu sympathisieren begann. Dieser Richtung, der vor allem Johannes Baader, George Grosz, Raoul Hausmann, John Heartfield und Franz Jung angehörten, ging es im Gegensatz zu den Spätexpressionisten weniger um eine neuartige Kunst als um eine gesellschaftsverändernde Praxis. Ihr Ismus sollte ein Ismus sein, der allen Ismen ein Ende bereiten würde. Statt also an die Stelle der alten Kunst lediglich eine neue Kunst zu setzen, verwarf sie alles ästhetische »Gehabe« schlechthin und pries lieber die entlarvende Fotocollage, das von Wladimir Tatlin propagierte Maschinenwesen oder das politische Happening. Weiterhin zu dichten oder Ölbilder zu malen, erschien ihren Vertretern selbst in spätexpressionistischer Variante lediglich als eine Art »verschimmelter« Bürgerlichkeit. »Die Dussel«, erklärte dementsprechend Hausmann 1919 im Hinblick auf den künstlerischen Utopismus der Spätexpressionisten, »die unfähig sind, Politik zu treiben, wollen sich an den Proletarier heranmachen. Aber so doof, verzeihen Sie, ist der Proletarier nicht, daß er die unfruchtbare Toberei aus lauter Hohlheit nicht merkte. Kunst ist ihm, was vom Bürger kommt.« Vor allem die Aktionen der Berliner Dadaisten standen darum von vornherein im Zeichen eines aggressiven Antiästhetizismus. Ihre Vertreter wollten 199
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keine vereinzelten »Kunstmessiasse«, sondern massenzugewandte »Straßenkämpfer« sein. So riefen etwa Grosz und Heartfield allen Ernstes dazu auf, die gesamte Malerei von Rubens bis Kokoschka einfach zu verbrennen. Andere Sprecher dieser Richtung erklärten sogar, daß es von nun ab keine »bourgeoisen« Theater, Museen oder Konzerthallen mehr geben dürfe. Doch mit solchen Thesen, so arbeiterfreundlich sie auch gemeint waren, gerieten die Dadaisten schnell in eine kulturelle Abseitslage. Schließlich traten ihnen nicht nur die mittelständisch-liberalen, sondern auch die kommunistischen Kulturtheoretiker entgegen, die sich wie die Sozialdemokraten auf die Mehringschen Erbevorstellungen beriefen und weiterhin eine »kritische Aneignung« der älteren, noch progressiv eingestellten bürgerlichen Kunst befürworteten, statt irgendwelche selbst von Lenin verworfenen proletkultischen Tendenzen zu unterstützen. Demzufolge blieb der Dadaismus, so arbeiterfreundlich er sich auch zu geben versuchte, zwangsläufig ein kulturelles Randphänomen, was selbst seine politisch engagiertesten Vertreter schon nach kurzer Zeit einsahen und sich vorübergehend oder für immer dem linksradikalen Flügel der KPD anschlossen. Daher war schon in den Jahren 1921/22 in den meisten Kunstzeitschriften nicht nur vom »Tod des Expressionismus«, sondern auch vom »Tod des Dadaismus« die Rede. Schließlich stand hinter beiden keine gesellschaftlich effektive Trägerschicht, die fähig gewesen wäre, ihren weltrevolutionären bzw. proletkultischen Konzepten zum Durchbruch zu verhelfen. Ob sich die eine Richtung dabei betont künstlerisch, die andere betont unkünstlerisch gegeben hatte, spielte für die Status-quo-Vertreter dieser Ära letztlich nur eine untergeordnete Rolle. Die meinungsbildenden bürgerlichen Kulturtheoretiker fanden zwar sowohl die eine als auch die andere Richtung vorübergehend ästhetisch apart, aber ideologisch irrelevant. Demzufolge verloren sowohl die spätexpressionistischen als auch die dadaistischen Werke schnell ihre verstörende Brisanz. Dennoch wurden manche Bilder und Fotocollagen dieser zwei Gruppen, so grotesk es auch klingt, wegen ihres Novitätswerts im Rahmen der sich liberal gebenden Bourgeoisie schon kurze Zeit später zu begehrten Sammelobjekten und wurden selbst von 200
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den Direktoren staatlicher oder städtischer Museen als Zeugnisse einer als »modern« hingestellten Kunst angekauft. Ebenso erging es manchen spät expressionistisch überspannten Dramen- oder Lyrikbänden, welche zwar die bürgerlichen Literaturfreunde nach diesem Zeitpunkt nicht mehr lasen, aber als Raritäten oder Unikate einer »verworrenen Zeit« in ihren Bücherschränken aufbewahrten. Doch politisch wurden die Werke dieser zwei Richtungen nach 1922/23 kaum noch ernst genommen. Die Arbeiterklasse, das Kleinbürgertum und die Bauern, denen noch immer über zwei Drittel der Gesamtbevölkerung angehörten, hatten dem Spätexpressionismus und der Dada-Bewegung ohnehin keine Beachtung geschenkt. Außer jenen »Proleten«, wie man damals noch sagte, die sich in den von der SPD geförderten Arbeiterbildungsvereinen weiterhin um die Aneignung der älteren bürgerlichen Kultur bemühten, begnügten sich diese Schichten, wie gesagt, in kultureller Hinsicht nach wie vor mit älteren Brauchtumsformen oder kruden Volksbelustigungen. Und so konnte es nicht ausbleiben, daß im Jahr 1923 – nach der Niederschlagung der letzten linken und rechten Putschversuche sowie der endlich durchgeführten Währungsreform – nicht nur politisch und sozioökonomisch, sondern auch kulturell eine deutliche Ernüchterungsphase einsetzte, für die sich in den Zeitungen und Zeitschriften der herrschenden Oberschicht geradezu über Nacht das Schlagwort »Neue Sachlichkeit« verbreitete. Mit diesem Begriff bezeichneten die bürgerlichen Meinungsträgerschichten damals jene ideologische Haltung, die im Sinne eines antiutopischen Pragmatismus allen geistidealistisch überzogenen Konzepten eine unwiderrufliche Absage erteilen sollte. Dahinter stand also eine Weltanschauung, welche den Wert einer Gesellschaft nicht mehr allein in ihren höchsten geistigen und kulturellen Leistungen sah, sondern die sich – nach den vorausgegangenen »Verirrungen« – so nachhaltig wie nur möglich entschied, vornehmlich das Nützliche und Brauchbare ins Auge zu fassen. Die Hauptvertreter dieser Richtung setzten demzufolge zwischen 1923 und 1929, also während der zweiten Phase der Weimarer Republik, ihre Hoffnungen vor allem auf eine Akzelerierung der wirtschaftlichen Expansionsrate, das heißt 201
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vertraten ein bewußt profit- und konsumorientiertes Gegenkonzept zu den unrealisierbaren Geistutopien des Spätexpressionismus, den proletkultischen Tendenzen der Dada-Bewegung, den kommunistischen Forderungen einer revolutionären Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Räterepublik sowie den nazifaschistischen Hoffnungen auf ein »völkisch« gesinntes Drittes Reich. Die Verwirklichung dieses Konzepts versprachen sich die Theoretiker der Neuen Sachlichkeit – nach dem Ende der Hyperinflation im November 1923 – vor allem von der in den USA vorgenommenen Einführung einer fordistischen Rationalisierung der industriellen Produktionsweise und der sich daraus ergebenden Wohlstandssteigerung. Dabei hatten sie zwei Ziele im Auge: einerseits einen erneuten Aufschwung der deutschen Wirtschaft, andererseits eine Reduzierung der Arbeiterklasse zugunsten einer Ausweitung der im Dienstleistungsgewerbe tätigen Angestelltenschicht, wovon sie sich eine allmähliche »Verbürgerlichung« des von ihnen noch immer als bedrohlich empfundenen Proletariats erhofften. Die Chefideologen dieser Richtung sprachen deshalb schon zu diesem Zeitpunkt mit ideologischer Verschleierungsabsicht nicht mehr von »Klassen«, sondern nur noch von sich immer ähnlicher werdenden »Staatsbürgern« oder stellten die von ihnen angestrebten gesellschaftlichen Wandlungen lediglich als genera tionsbedingte Phänomene hin. Trotz aller weiterbestehenden klassenbedingten Unterschiede war daher schon damals gern die Rede davon, bereits den Zustand einer halbwegs nivellierten Mittelstandsgesellschaft erreicht zu haben, weshalb man in diesen Kreisen die weiterhin in Mietskasernen lebenden Arbeiter sowie die bäuerliche Bevölkerung kaum noch erwähnte oder gar abschätzig als nicht mehr zeitgemäß hinstellte. Der zentrale Ort der Neuen Sachlichkeit war demzufolge für die Vertreter dieser Richtung weder die Kleinstadt noch das flache Land. Ihnen ging es allein um die »Große Stadt« mit ihrer angeblich erreichten gesellschaftlichen Anonymität und der sich daraus ergebenden Nivellierung und Standardisierung aller Lebensformen. In ihr sah man jenes Milieu, wo die älteren Gemeinschaftsrituale sowie die mit ihnen verbundenen 202
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Wertvorstellungen bereits jeden Sinn eingebüßt hätten und sich das tatsächliche Leben weitgehend in der von der Arbeitssphäre streng abgetrennten Freizeit abspiele, wo sich jeder Mensch denselben Vergnügungen hingeben könne. Und darunter verstanden die Exponenten der Neuen Sachlichkeit vor allem den Spaß an Sportereignissen wie Fußball, Boxen und Fahrradrennen, an technischen Errungenschaften wie Automobilen, Rundfunk, Film, Photographie und Schallplattenmusik, am konsumanregenden Charakter von Plakaten und Schaufenstern, am Gefühl des ständigen Informiertseins durch Zeitungen und illustrierte Magazine sowie an der wesentlich freieren Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse in Form von Homosexuellen- und Lesbenbars, offenen Zweierbeziehungen oder seelisch unverbindlichen »Verhältnissen«. Zugegeben, viele dieser Neuerungen konnten auch von den sogenannten breiten Massen genutzt werden. Andere blieben dagegen weiterhin ein Privileg der sich – aufgrund von Besitz und Bildung – von der Mehrheit der Bevölkerung absondernden Schicht der Oberen Zehntausend. Wenn man also von einer Lebensform oder gar Kultur der Neuen Sachlichkeit spricht, sollte nicht vergessen werden, daß zwar in den großen Städten die billigeren Formen der neuen Medien, wie die Abendblätter der Zeitungen, die kleinen Kinos, die Sportveranstaltungen und die Massenverkehrsmittel, allen in ihnen Lebenden zur Verfügung standen, jedoch einige Bereiche innerhalb dieser »Kultur« weiterhin jener gesellschaftlichen Elite vorbehalten blieben, die lediglich zwei bis drei Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßte, also vor allem denjenigen mit Abitur oder Mittelschulbildung sowie den aus betuchten Kaufmannsfamilien Stammenden. Für diese Schichten bedeutete die Neue Sachlichkeit nicht allein die Nutzung der neuen Massenverkehrsmittel bzw. die Freude an Boulevardblättern, Kintoppfilmen und Sportveranstaltungen, sondern zugleich der Gebrauch des Telefons und des Telegrafen, der Erwerb eines eigenen Autos, die Mitgliedschaft in einem exklusiven Tennisklub, die als zeitgemäß hingestellten Erzeugnisse der Haute Couture sowie die Vorzüge des »Neuen Wohnens«, also an all dem, was für die Angehörigen des Mittelstands, der Angestelltenklasse, der 203
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Abb. 33 Illustration aus einem Modeheft des Lette-Hauses mit Entwürfen von Hans und Wassili Luckhardt zum Umbau des Alexanderplatzes im Hintergrund (1929)
Landarbeiter und des Industrieproletariats wegen des hohen Kostenaufwands weiterhin unerschwinglich blieb. Die gleiche Ideologisierung äußerte sich in jenen bewußt verschleiernden Aussagen, welche manche Vertreter der Neuen Sachlichkeit im Hinblick 204
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auf die künstlerischen Manifestationen des von ihnen als homogenisierte Mittelstandsgesellschaft ausgegebenen Weimarer Klassenstaats von sich gaben. Ja, hier kommt der widersprüchliche Charakter der von ihnen propagierten Kulturkonzepte vielleicht noch deutlicher zum Ausdruck. Das gilt vor allem für jene »Sachlizisten«, wie sie sich selber nannten, die aus Abneigung gegen den aristokratischen bzw. bürgerlichen Charakter der früheren Künste alle Ausprägungen einer hochkulturellen Literatur, Malerei und Musik von vornherein ablehnten und nur noch auf die neue Großstadtmentalität zugeschnittene Phänomene wie Architektur, Innenausstattung, Gebrauchsgüter, Modeattribute sowie andere Formen des neuen Designs als Ausdruck einer wahrhaft modernen Sachkultur verstanden. So hieß es etwa 1929 in einem Heft der elegant aufgemachten Modezeitschrift Das neue Berlin, daß durch das Happy-End-Lächeln auf den Werbeplakaten sowie das üppige Verkaufsangebot der großen Warenhäuser ein ganz neuer »Typ Mensch« im Werden sei, der auf eine ihn lediglich für seine psychischen oder erotischen Frustrierungen entschädigende »Hohe Kunst« getrost verzichten könne. Dennoch waren einige Vertreter der Neuen Sachlichkeit noch bildungsbürgerlich genug eingestellt, auch den anspruchsvolleren Gattungen der sogenannten höheren Künste weiterhin eine gewisse Rolle innerhalb dieser vornehmlich auf Unterhaltungs- und Informationsbedürfnissen beruhenden Sachkultur zuzugestehen und ihnen im Rahmen der neuen, den Tendenzen ins Massenmediale angepaßten kulturellen Supermärkte eine kleine Gourmetecke einzuräumen. Und auch manche Verleger, Galeriebesitzer und Konzertmanager erkannten sehr wohl, daß selbst mit den älteren Hochformen von Literatur, Malerei und Musik, falls man sie dem neusachlichen Zeitgeist geschickt anpassen würde, im Hinblick auf die besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten noch durchaus lukrative Geschäfte zu machen waren. Demzufolge blieb die Neue Sachlichkeit nicht nur auf sozioökonomischem, sondern auch auf kulturellem Gebiet zwangsläufig ein Zwittergebilde, das einen besonders guten Einblick in die notwendigen Widersprüche einer nur mit kommerziellen Mitteln angestrebten Demokratisierung erlaubt. 205
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Und zwar läßt sich das in allen Sparten der damaligen Kunstformen nachweisen. Beginnen wir mit den bildenden Künsten, die im Rahmen wirtschaftlicher Konjunkturperioden meist eine besonders wichtige Rolle spielen. Schließlich steht in solchen Zeiten stets das genügende Investitionskapital zur Verfügung, ohne daß Bereiche wie Architektur, Innenausstattung und Design notwendig brachliegen würden. Aufgrund dieser materiellen Voraussetzungen bemühten sich die von den einschlägigen Firmen angestellten Designer im Zuge der ökonomischen Aufwärtsentwicklung der mittzwanziger Jahre, in denen Deutschland wiederum zur zweitstärksten Industriemacht der Welt aufstieg, besonders intensiv darum, die finanziell bessergestellten Konsumenten durch einen rapiden Modewechsel zum Kauf von ihnen als »brandneu« angebotener Gebrauchsgüter anzureizen. Plötzlich war demzufolge überall von »Modernität« die Rede, um selbst den einfachsten Dingen des täglichen Gebrauchs den Anschein des Avancierten zu geben und somit alle älteren Gebrauchsgüter in den Bereich des Altmodischen und damit Obsoleten zu verweisen. Dafür spricht selbst die Entwicklung des von Walter Gropius gegründeten Bauhauses, das sich 1919 noch unter den Roten Stern des Sozialismus gestellt hatte und in den Jahren nach 1923 einen Kompromiß nach dem anderen mit der sich als »neusachlich« verstehenden Designerkultur der mittzwanziger Jahre schloß. Doch auch andere Formgestalter entwarfen zu diesem Zeitpunkt eine Fülle bewußt »modernistisch« wirkender Wohn-, Schlaf- und Küchenensembles, was schließlich zum neusachlichen Konzept der »Wohnmaschine« führte, die keinerlei ältere Schmuckformen mehr aufweisen durfte. Realistisch gemalte oder auch expressionistisch wilde Gemälde hätten in solchen Räumen, die wie Büros von Architekten oder Ingenieuren aussahen, lediglich gestört. Doch nicht alle an Kunst und Design interessierten Bürger, die über das nötige Kleingeld verfügten, wollten in solchen puristisch wirkenden Wohnmaschinen leben und machten daher in dieser Hinsicht durchaus Zugeständnisse an das Traditionelle. Und diese Funktion erfüllten vor allem jene Ölbilder von Carl Grossberg, Alexander Kanoldt und Franz Lenk, die seit 1923/24 als spezifisch »neusachlich« angepriesen wurden, 206
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geradezu haargenau. Sie hatten in ihrem allen gesellschaftlichen Konflikten aus dem Wege gehenden Objektivismus eine betont nachrevolutionäre Note und wiesen zugleich eine Malweise auf, durch die sie in ihrer glasklaren, atmosphärelosen Art wie typisierte Photographien à la August Sander aussahen und so durchaus an jener das Nüchterne und Technische betonenden Modernität der allerorten angepriesenen Neuen Sachlichkeit teilhatten. Ähnliches gilt für die Musik der Neuen Sachlichkeit, in der die Anpassung an das Technizistische ebenfalls eine große Rolle spielte. In mancher Hinsicht waren die Chancen einer gesellschaftlichen Umfunktionierung dieser Kunstform ins Demokratische fast noch größer als im Bereich der bildenden Künste. Schließlich ergab sich durch die Erfindung der Schallplatte und des Rundfunks erstmals die Möglichkeit, das bürgerliche Monopol des für die breiten Massen unerschwinglichen Opern- und Konzertbetriebs zu durchbrechen. Hier hätte sich daher der kleine Kreis der Kenner durchaus in den großen Kreis der Kenner erweitern lassen, wie es Bertolt Brecht später formulierte. Dafür fehlten jedoch sowohl die Bildungsvoraussetzungen der bis dahin kulturell Unterprivilegierten als auch das Interesse der herrschenden Schichten, ihr althergebrachtes Bildungsmonopol zugunsten der Vielen oder Allermeisten aufzugeben. Statt dessen überließen sie diesen Bereich, von den volksbildnerischen Bemühungen Leo Kestenbergs einmal abgesehen, völlig dem kommerziellen Prinzip von Angebot und Nachfrage, was im Rahmen der auf Entspannung und Unterhaltung eingestellten kapitalistischen Freizeitindustrie zu einem gewaltigen Zuwachs an anspruchsloser Gebrauchsmusik in Form von Tanzmelodien, Schlagern, eingängigen Operetten, Revuen sowie Film- und Jazzkompositionen führte, deren beschwingte Rhythmen und nachsingbare Melodien lediglich der Ablenkung und Zerstreuung dienten. Von vielen Sachlizisten unter den Musikkritikern der zwanziger Jahre wurde diese Tendenz ins Kommerzialisierte durch die Bank als eine befreiende Erweiterung ins Populistische und damit Demokratische begrüßt. Und damit hatten sie in mancher Hinsicht sicher recht. Schließlich wurde es selbst innerhalb der älteren Besitz- und Bildungsbourgeoisie damals 207
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zusehends »fashionable«, auch Shimmy oder Charleston zu tanzen sowie Operetten- und Revuetheater zu besuchen. Doch daneben favorisierten Teile der gleichen Schichten, ob nun aus ästhetischer Neugier oder gesellschaftlichen Prestigegründen, zugleich jene Formen einer seriösen Musik, die sich in ihren Gestaltungsmitteln durchaus der Neuen Sachlichkeit anzupassen versuchten. Dazu gehörten unter anderem die von Arnold Schönberg durchmathematisierten Zwölftonkompositionen sowie jene Zeitopern, die sich durch eine Bevorzugung geräuschhafter, technisch-motorischer oder an Jazz anklingender Motive als betont »versachlicht« auszugeben versuchten. Allerdings gelang es derartigen Werken nur in Ausnahmefällen, wie etwa der Oper Jonny spielt auf (1927) von Ernst Krenek oder der Dreigroschenoper (1928) von Bertolt Brecht und Kurt Weill, über einen relativ kleinen Kreis von Kennern hinauszudringen. Als wesentlich relevanter für eine Tendenz ins wahrhaft Demokratisierende erwiesen sich dagegen Teile der von »liberalen« Prämissen ausgehenden Literatur der Neuen Sachlichkeit. Während in der Musik das Populäre fast immer über das Elitäre siegte, bildete sich in einigen Bereichen dieser Kunstform nach 1923 tatsächlich so etwas wie eine klassenübergreifende »mittlere Linie« heraus, deren Vertreter sich mit gesellschaftsbezogener Aufklärungsabsicht sowohl von einem übersteigerten Ästhetizismus als auch von einer kruden Trivialität distanzierten. Dafür sprechen nicht nur viele der damals als spezifisch neusachlich begrüßten Reportagen und Short stories, sondern auch manche der nach diesem Zeitpunkt herauskommenden Kriegs-, Großstadt-, Büro- und Fabrikromane von Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, Irmgard Keun und Erik Reger, die zum Teil durchaus anspruchsvoll waren und dennoch wegen ihrer bewußt realitätsverhafteten, wenn nicht gar gesellschaftskritischen Einstellung zum Teil ein relativ breites Publikum erreichten. Etwas schwerer hatten es dagegen in den mittzwanziger Jahren die sogenannten Zeitstücke bzw. die Werke des frühen Epischen Theaters, denen es trotz ihrer auf den neusachlichen Zeitgeist zugeschnittenen Thematik kaum gelang, einem breiteren Publikum etwas von ihren demokratisierenden 208
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Absichten zu vermitteln. Dazu war das Theater, schon wegen seiner hohen Eintrittspreise, noch immer eine von den gesellschaftlichen Unterschichten als elitär eingeschätzte Institution. Während einige der anspruchsvolleren Filme, wie etwa Fritz Langs Metropolis (1927), aber auch Filme von Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau und Georg Wilhelm Pabst, wegen der relativ niedrigen Eintrittspreise vieler Kinos in den gleichen Jahren durchaus einen beachtlichen Zulauf hatten, blieb darum in diesem Bereich – trotz der von Bertolt Brecht und Erwin Piscator unternommenen Bemühungen – wegen des damit verbundenen Kostenaufwands vieles im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft ebenso randständig wie die meisten Werke der sich als modernistisch ausgebenden Musikfestmusik oder Kunstgaleriekunst. Was also im Bereich der Neuen Sachlichkeit auf den ersten Blick wie eine allmähliche Vereinheitlichung der kulturellen Bedürfnisse breitester Bevölkerungsschichten wirkt, erweist sich bei genauerem Zusehen als ein durchaus widersprüchliches Bezugsfeld höchst verschiedener sozialer und finanzieller Voraussetzungen. Mochten auch die Vertreter der Rechts-derMitte-Koalition während der Phase der sogenannten »relativen Stabilisierung« der Weimarer Republik nach 1923/24 noch so lautstark von einer bereits erreichten Wohlstands- oder Mittelstandsgesellschaft sprechen, die älteren Klassengegensätze blieben – außer der sich aus den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen ergebenden Herausbildung der neuen Angestelltenklasse – weitgehend die gleichen. Deshalb veränderten sich auch die kulturellen Bedürfnisse der verschiedenen Gesellschaftsschichten nicht wirklich gravierend. Die Oberschichten bevorzugten – trotz einiger Abstecher ins Massenmediale – weiterhin die überlieferten Formen der »klassischen« Kultur, das heißt aufwendige Theater- und Opernaufführungen, Symphoniekonzerte, Galeriekunstwerke und bildungsbürgerlich abgefaßte Romane, die Angestellten und große Teile der Arbeiterklasse begnügten sich dagegen vornehmlich mit den allerorten angepriesenen Erzeugnissen der profitorientierten Musikindustrie sowie den in rund 4000 Kinos gezeigten Stummfilmen mit Publikumslieblingen wie Lil Dagover, Rudolf 209
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Forster, Willy Fritsch, Lilian Harvey, Pola Negri, Asta Nielsen und Henny Porter, während die untersten Bevölkerungsschichten weder die Zeit noch das Geld hatten, sich überhaupt irgendwelche kulturellen Extravaganzen zu leisten, sondern froh waren, wenn es ihnen gelang, so gut es ging »über die Runden zu kommen«, wie es damals hieß. Wer also im Hinblick auf die mittlere Phase der Weimarer Republik weiterhin von einer Zeit der »relativen Stabilisierung« der innenpolitischen, sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse spricht, sollte den Hauptakzent vor allem auf das Wort »relativ« legen. Denn wie brüchig dieses politische Gebilde war, zeigte sich bereits am 25. Oktober 1929, dem Schwarzen Freitag an der New Yorker Börse, dessen Folgeerscheinungen sich, obwohl Deutschland, wie gesagt, in den Jahren zuvor erneut den zweiten Platz in der Weltrangliste der Industrienationen eingenommen hatte, geradezu katastrophal auswirkten. Und das hatte nicht nur ökonomische, sondern auch ideologische und kulturelle Auswirkungen. Während viele Vertreter der ehemals wilhelminisch gesinnten Schichten nach 1923 aufgrund der ihnen zugute kommenden wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung weitgehend »Vernunftrepublikaner« geworden waren, engagierten sie sich jetzt – angesichts der sich wegen der schnell ausbreitenden Arbeitslosigkeit erneut rebellisch auftretenden Arbeiterklasse – zusehends für nationalkonservative, bündische oder präfaschistische Ideologien. Im Hinblick auf das verstärkte Anwachsen der KPD hielten sie es nach der dramatisch einsetzenden wirtschaftlichen Depression für nicht mehr opportun, weiterhin an den sich als neusachlich verstehenden Parolen der bisherigen Mittelstandspolitiker festzuhalten. Sie gingen darum auf ideologischer Ebene zusehends bewußt verschleiernden Konzepten wie »Gemeinschaft« oder »Volk« auf den Leim, was zu einer verbreiteten Selbstnazifizierung der ohnehin seit langem mit rechten Ideologiekonzepten liebäugelnden mittel- bis kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten führte. Kurzum: nach diesem Zeitpunkt glaubten viele dieser Bürger, daß nur noch die NSDAP fähig sei, der steigenden Flut kommunistisch-sozialistischer Umsturzprogramme wirkungsvoll entgegenzutreten. Das zeigte sich 210
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Abb. 34 Gerd Arntz: Wahldrehscheibe (1932)
schon bei den Septemberwahlen des Jahres 1930, als die Zahl der Reichstagsmandate dieser Partei von zwölf auf 107 anstieg. Da jedoch bei den folgenden Wahlen auch die KPD immer mehr Stimmen erhielt, war danach die bisher regierende Rechts-der-Mitte-Koalition nicht mehr zu retten. Jetzt ging es von Monat zu Monat nur noch darum, ob es den Rechts- oder den 211
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Linksradikalen innerhalb der ökonomisch unhaltbaren Situation dieser Republik gelingen würde, die Macht an sich zu reißen. Vor allem in Berlin, aber auch in anderen Städten, kam es daher zusehends zu erbitterten Straßenkämpfen zwischen der nazifaschistischen Sturmabteilung (SA) und den verschiedenen Rotfrontorganisationen, die durchaus bürgerkriegsähnliche Formen annahmen. Kulturpolitisch wirkte sich diese Zuspitzung der innenpolitischen Auseinandersetzungen folgendermaßen aus. Wie erwartet, stützte sich die traditionsbewußt gebende NSDAP anfangs vorwiegend auf spezifisch bürgerliche Kulturvorstellungen, denen sie jedoch in demagogischer Absicht eine betont »völkische« Note gab. Dafür spricht etwa der Ende 1928 von Alfred Rosenberg gegründete Kampfbund für deutsche Kultur, der sich mit seinen antikommunistischen sowie antisemitischen Parolen eindeutig an die nationalkonservativ eingestellte Bourgeoisie wandte und sie mit dem Konzept einer »arteigenen« Kultur für die Hitler-Bewegung zu gewinnen suchte. Im Hinblick auf die sogenannten Novembristen sowie dem auf sie folgenden trivialen Medienrummel der frühen und mittleren Jahre der Weimarer Republik verdammte deshalb Rosenberg, wie auch Julius Streicher, fast alle künstlerischen Erscheinungsformen dieses Zeitraums weitgehend als Manifestationen einer jüdischen »Sumpfkultur«, die zu einer »Überproportioniertheit« des Artfremden im deutschen Geistesleben geführt hätten. Wenn Parteigrößen wie sie damals von den die deutsche Kultur »unterminierenden Juden« sprachen, meinten sie vor allem die Beiträger der linksliberalen Weltbühne, Theaterkritiker wie Alfred Kerr, Romanciers wie Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger, Musikmodernisten wie Arnold Schönberg, Jazzkomponisten wie Kurt Weill oder Theaterdirektoren wie Max Reinhardt, welche sie als Repräsentanten einer »semitischen Händlergesinnung« anprangerten, die sich selbst im Bereich der Kunst lediglich von einer niedrigen Profitgier antreiben ließen. Als kulturell »wertvoll« erschienen dagegen den frühen Nazifaschisten vornehmlich jene Werke, die auch die ältere Bildungsbourgeoisie für bedeutsam hielt, das heißt die Meisterleistungen der deutschen Romanik und 212
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Gotik, die Malerei der Dürer-Zeit, die Kirchenmusik eines Johann S ebastian Bach, die Symphonien und Opern der Wiener Klassik, die Literatur der Goethe-Zeit sowie die Meisterwerke der Romantik, also all das, womit sich die »Weltgeltung« der älteren deutschen Kultur in den Dienst ihrer eigenen großmäuligen Propaganda stellen ließ. Und mit solchen Parolen kamen die Theoretiker der NSDAP bei weiten Teilen der damaligen gebildeten Schichten gut an. Schließlich wußten auch diese mit der »amerikanisierten, verjudeten und verniggerten Unkultur« der Weimarer »Systemzeit«, wie es in rechtsstehenden Kreisen jetzt meist pauschalisierend hieß, nicht viel anzufangen. Was die nationalkonservativen Kreise innerhalb der zeitgenössischen Kunst schätzten, waren eher die literarischen Werke von Bruno Brehm, Paul Ernst, Hans Grimm und Hermann Stehr, die Statuen Georg Kolbes, die Gemälde der Heimatkunst sowie die Kompositionen von Richard Strauss und Hans Pfitzner. Um es auf den Punkt zu bringen: in Fragen der Kultur verstand sich also der frühe Nazifaschismus keineswegs als Revolution, sondern im Gegenteil als Stärkung und Wiederbelebung jener großen Traditionen, die einst die Deutschen als ein alle anderen Nationen überragendes Kulturvolk ausgezeichnet hätten. Allerdings schreckte die NSDAP schon damals keineswegs davor zurück, mit der gleichen demagogischen Absicht auch die wirksamsten Formen der sogenannten Neuen Medien, ob nun die des Films, der Zeitungspropaganda sowie der Musikindustrie, in ihren Dienst zu stellen. Schließlich wollte sie in den Jahren vor 1933 erst einmal an die Macht kommen. Und dazu war ihr jedes Mittel recht, sofern es sich als propagandistisch wirksam erwies. Demzufolge umbuhlte sie die Bourgeoisie mit Hochkulturwerken und die »breiten Massen« mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Formen der Populärkultur, das heißt mit Marschliedern, Operettenmelodien, knalligen Plakaten, eingängigen Volksweisen sowie ins Völkische tendierenden Filmen. In den solche Kampagnen unterstützenden Reden und Schriften bediente sie sich dabei gern eines ideologisch vernebelnden »Wir«-Gestus, den sie mit dem Konzept einer harmonischen Einheit von Führer und Volk zu legitimieren versuchte. Und da ihr einige Großindustrielle – aus Angst 213
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Abb. 35 Otto Griebel: Die Internationale (1928)
vor einer möglichen »Bolschewisierung« Deutschlands – für solche Propagandamanöver die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellten, gelang es der Hitler-Partei schließlich, sogar große Teile des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse für ihre Ziele zu gewinnen. Dagegen waren die meisten Kulturaktivitäten, welche die KPD nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise in Gang zu setzen versuchte, aus folgenden Gründen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Statt sich wie die Nazifaschisten mit einem möglichst breitgefächerten Kulturprogramm an alle Bevölkerungsschichten zu wenden, setzte sie selbst auf diesem Gebiet, wie auf allen anderen, ihre Hoffnungen fast ausschließlich auf die revolutionäre Kampfkraft des »klassenbewußten« Proletariats und lehnte jede Unterstützung von seiten der SPD oder des linksliberalen Bürgertums von vornherein ab. Und zwar folgte sie hierbei weitgehend dem von der Kommunistischen 214
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Internationale (Komintern) ausgegebenen Agitpropkonzept, das in der Heraufkunft einer proletarischen Kampfkultur kulminieren sollte. Um derartigen Kulturvorstellungen eine organisatorische Basis zu geben, gründete sie 1928 sowohl den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) als auch die Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO). Ja, 1929 vereinigte sie diese Kulturorganisationen in einer Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur (IfA) unter einem Dach. Da jedoch die KPD, deren Anhänger meist Erwerbslose waren, die keine oder nur geringe Mitgliedsbeiträge zahlen konnten, im Gegensatz zu der von Großindustriellen wie Emil Kirdorf und Fritz Thyssen unterstützten NSDAP , nur über kärgliche finanzielle Mittel verfügte, hatten ihre kulturpolitischen Aktivitäten zwangsläufig eine wesentlich eingeschränktere Breitenwirkung. So blieb etwa der Gesamtumsatz ihrer Bücher stets unter einem Prozent aller in Deutschland gedruckten Publikationen. Und auch der in ihrem Sinne operierenden Prometheus-Filmgesellschaft gelang es zwischen 1929 und 1932 nur zwei Filme herauszubringen. Eine etwas größere Breitenwirkung hatte in diesem Bereich lediglich die von Willi Münzenberg herausgegebene Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), die zeitweilig eine Auflage von 300.000 Exemplaren erreichte und wegen der Fotomontagen John Heartfields sowie mancher wohlrecherchierter Reportagen selbst bei vielen Linksintellektuellen gut ankam. Doch die künstlerisch bedeutsameren Leistungen der von der KPD unterstützten Kulturpolitik entstanden zwischen 1928 und 1933 eher in jenem Bereich, den man später als »Linke Materialästhetik« charakterisiert hat. Seine Hauptvertreter waren zumeist aus dem Bürgertum stammende Künstler, die im Umkreis des Spätexpressionismus oder Dadaismus begonnen hatten und sich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und des Anwachsens des Nazifaschismus immer stärker nach links orientierten. Diesen Künstlern wie etwa Bertolt Brecht, Hanns Eisler, John Heartfield oder Erwin Piscator ging es vor allem darum, die Techniken der älteren avantgardistischen Kunst mit der Denkkultur des dialektischen Materialismus zu verbinden, um so eine Kunst des »wissenschaftlichen Zeitalters« 215
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zu befördern, die sich nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch eine revolutionäre Umwandlung aller noch schichtenspezifisch orientierten kulturellen Ausdrucksformen in eine höchsten Ansprüchen genügende A- oder Allgemeinkultur zu Aufgabe machen würde. Doch mit solchen Bemühungen scheiterten diese Künstler in der Endphase der Weimarer Republik nicht nur am übermächtigen Gegendruck der kapitalistischen Kulturindustrie sowie an der finanziellen Mittellosigkeit der KPD, sondern auch an ihren eigenen, allzu hochgesteckten Erwartungen. Zugegeben, es gab damals noch viele jener »lesenden Arbeiter«, auf die vor allem Brecht seine Hoffnung setzte. Aber waren es genug, um komplizierten Werken wie Die Maßnahme (1930) oder Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) zu einem wirkungsreichen Erfolg zu verhelfen? Oder blieben solche Bemühungen, so politisch korrekt und ästhetisch gekonnt sie auch waren, nicht einfach zu anspruchsvoll, um in einer Situation, in der es in der politischen Arena um Tod und Leben ging, der braunen Lawine überhaupt noch Einhalt zu gebieten? Man fragt sich daher zwangsläufig, wie »primitiv« hätten sich solche Künstler angesichts der breiten Front der rechten Parteien, ob nun der von dem Medienzaren Alfred Hugenberg angeführten DNVP oder den Vertretern der NSDAP, verhalten sollen, um echte Erfolgschancen zu haben? Daß sie es nicht taten, spricht sowohl für als auch gegen sie. Und so siegten selbst auf diesem Gebiet die Rechten, die keine Skrupel hatten, in der Zeit vor 1933 auch kulturell alle nur denkbaren Mittel, sowohl die hochkünstlerischen als auch die trivialsten einzusetzen, um möglichst breite Schichten der deutschen Bevölkerung in ein »Volk« ihnen willig folgender Mitläufer zu verwandeln.
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Der strategisch kalkulierte Pluralismus der NS-Kultur Als der amtierende Reichspräsident Paul von Hindenburg – auf Anraten einflußreicher Großindustrieller und Großagrarier – am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, geschah das vor allem aus Angst vor der immer wieder beschworenen Gefahr einer möglichen »Bolschewisierung« Deutschlands durch die in der Spätphase der Weimarer Republik drastisch angewachsene Mitgliederzahl der KPD. In Hitler und seiner rabiat auftretenden Sturmabteilung (SA) sahen er und die hinter ihm stehenden Kreise jene »völkische Miliz«, die noch am ehesten eine solche Gefahr verhindern könnte. Und der neue Reichskanzler kam dieser Erwartung auch umgehend nach, indem er nach dem am 27. Februar erfolgten Reichstagsbrand, für den er die KPD verantwortlich machte, diese Partei kurzerhand verbot und ihre Führungskader, falls sie nicht ins Ausland geflohen waren, verhaften oder ermorden ließ. Damit war diese Gefahr erst einmal gebannt. Doch all jene unter den Vertretern der anderen rechtsstehenden Parteien, die annahmen, daß sich Hitler mit dieser Aktion begnügen würde, sahen sich schnell getäuscht. Ihm ging es um mehr, ja wesentlich mehr als diesen einmaligen Coup. Er wollte kein Kanzler eines Mehrparteienstaats, sondern der alleinbestimmende Führer eines geschlossen hinter ihm stehenden »deutschen Volkes« sein. Deshalb verbot er im Juni 1933 auch die SPD, worauf sich kurz danach – angesichts der immer machtvoller auftretenden NSDAP – die DNVP, die DVP und das Zentrum zur Selbstauflösung entschlossen. Damit hatte Hitler schon nach wenigen Monaten sein erstes Ziel erreicht. Aus der Weimarer Republik war ein Einparteienstaat geworden, in dem nur noch er und die SA das Sagen hatten. Doch mit diesen Aktionen war die weiterhin schwelende Wirtschaftskrise noch keineswegs überwunden. Also mußte Hitler auch auf diesem Gebiet sofort aktiv werden. Schließlich hatten die Nazifaschisten in den Wahlen vor 1933 den für sie Stimmenden vor allem »Brot und Arbeit« versprochen. Daher bemühte er sich – nach 217
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der Inhaftierung oder Ausweisung der Kommunisten und anderer »Vaterlandsverräter« – schon im Sommer darum, die Notlage großer Teile der bis dahin erwerbslosen Arbeiterklasse durch Arbeitsbeschaffungen im Rahmen des Autobahnbaus sowie der die Aufrüstung befördernden Schwerindustrie zu lindern. Und das gelang dem neuen »Führer« auch, worauf ihm diese Bevölkerungsschicht, die vor 1933 weitgehend für die SPD oder KPD gestimmt hatte, ein steigendes Vertrauen entgegenbrachte. Im Zuge dieser Entwicklung setzten er und seine Unterführer alle propagandistischen Mittel ein, um die »breiten Massen«, wie es von nun an hieß, mit dem Versprechen einer »wahren Volksgemeinschaft« für sich zu gewinnen, in der es keine Klassen, sondern nur noch »Volksgenossen« geben würde. Und dieses Konzept erwies sich – nach dem zum Teil höchst selbstsüchtigen Parteienhader der Weimarer Republik – als durchaus effektiv. Von jetzt an sollte es offiziellerweise nur noch »Deutsche«, aber keine Bürger, Angestellten oder Proletarier mehr geben. Doch wie war ein solches, halb gläubig, halb demagogisch gemeintes Versprechen in einem noch immer tiefgespaltenen Klassenstaat durchzusetzen? Von einer tatsächlichen »Volksgemeinschaft« konnte schließlich – demographisch gesehen – im neugeschaffenen »Dritten Reich« keine Rede sein. Obwohl sich die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft in den mittdreißiger Jahren wegen der erreichten Vollbeschäftigung allmählich verbesserten, blieb diese Bevölkerungsschicht aufgrund harter Arbeitsbedingungen sowie mangelnder Bildung nach wie vor eine benachteiligte Unterklasse, während sich die Bürger weiterhin als Vertreter der bevorzugten Oberschicht empfanden. Mochte auch von der NSDAP ständig die Maxime »Arbeit adelt« ausgegeben werden und sich selbst Hitler gern als »aufgestiegener Arbeiter« hinstellen, derartige Parolen änderten an den konkreten Klassenverhältnissen wenig. Sogar die von der Kraft durch Freude-Organisation (KDF ) für die Arbeiter arrangierten Urlaubsreisen und die verlängerten Ferien ebneten die bestehenden gesellschaftlichen Gegensätze nicht ein. Als »Arbeiter der Faust«, selbst wenn man sie noch so umwarb, blieb man den »Arbeitern der Stirn« nach wie vor unterlegen. 218
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Abb. 36 Heinrich Hoffmann: Urlauber auf einem KDF-Schiff (1936)
Die vielfach verkündete »Sozialharmonie«, wie es in den Schulungsbriefen oder sonstigen Verlautbarungen der NSDAP häufig verschleiernd hieß, erwies sich daher aufgrund der weiterbestehenden Klassenunterschiede auch im Dritten Reich als ein leeres Versprechen. Und diese unaufgehobene gesellschaftliche Diskrepanz wirkte sich zwangs läufig auch in kultureller Hinsicht aus. Es gab zwar einige Fanatiker innerhalb 219
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dieser Partei sowie der mit ihnen sympathisierenden Künstler und Kulturtheoretiker, die nach 1933 von der Heraufkunft einer wahrhaft deutschen, wenn nicht gar arisch-germanischen Kultur träumten, ohne sich dabei klarzumachen, daß derart überspannte Bemühungen an den weiterbestehenden Klassenschranken notwendig scheitern würden. Nach ihrer rücksichtslosen Ausschaltung aller »kulturbolschewistischen, jüdischen, verniggerten sowie sezessionistisch-modernistischen Fremdkörper« innerhalb der »vaterlandslosen Systemkunst« der Weimarer Republik wollten diese nordisch gesinnten Gruppen eine »artgemäße« Nationalkultur herbeizwingen, die allen deutsch gesinnten Volksgenossen das Gefühl geben würde, sich als stolze Repräsentanten einer alle Klassenschranken niederreißenden Hochkultur zu empfinden. Was die Vertreter dieser Richtung – nach den vielen internationalistischen und modernistischen Verfremdungen und Entartungen der deutschen Kultur seit dem späten 19. Jahrhundert – hierbei ins Auge faßten und im Bereich der verschiedenen Künste erneut reaktivieren wollten, war vor allem jener »arische Schöpfergeist«, welcher sich angeblich in den unvergleichlichen Hochleistungen der deutschen Kunst seit der Germanenzeit bis ins 19. Jahrhundert am reinsten verwirklicht habe. Statt »revolutionär« aufzutreten, was von vielen NS-Führern als »undeutsch«, weil »verheutigend« abgelehnt wurde, ging es derartigen Hoffnungsträgern einer radikalen Umbesinnung vornehmlich um das Altbewährte. Sie wollten in ihrem Reich von nun an das Traditionsverhaftete und nicht das Novitätssüchtige gestärkt sehen. Aus diesem Grund boten sie im Bereich der Kultur alles auf, worin sie einen »ewig-deutschen« Grundzug erblickten: die Siegfriedsgestalt des Nibelungenlieds, den heldisch blickenden Bamberger Reiter, die angeblich arische Mystik Meister Eckharts, Dürers Ritter, Tod und Teufel, den mißreißenden Elan von Beethovens Eroica, Goethes Faust als Beispiel eines »nordischen Tatmenschen«, die antifranzösischen Bilder des »Befreiungskriegsmalers« Caspar David Friedrichs, die literarischen Großleistungen der deutschen Romantik bis hin zu den Musikdramen des »germanischen Mythenschöpfers« Richard Wagner, denen man nicht nur eine fortdauernde Ehrerbietung 220
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schulde, sondern die man zugleich in den anspornenden Rang künstlerischer Vorbilder erheben solle. Mit pseudoreligiösen Schlagwörtern wie »Die Säuberung des Tempels« oder »Die Aufstellung neuer Tafeln« setzten daher die Repräsentanten dieser Richtung innerhalb der NS-Führungsschicht den als entartet, niedriggesinnt oder trivial hingestellten Kunstströmungen innerhalb der Weimarer Republik mit ideologischer Penetranz ständig leitbildliche Ideale wie das Heldenhafte und Kulturschöpferische entgegen, in denen sie, wie schon Houston Stewart Chamberlain und viele andere Germanenschwärmer der Jahrhundertwende, die beiden Hauptqualifikationen der arischen Rasse sahen. Und es folgte ihnen auch eine Reihe jener bereits seit langem »völkisch« gesinnten Kulturschaffenden, denen sich nach 1933 eine stattliche Anzahl von jüngeren, teils gläubig, teils opportunistisch eingestellten Künstlern anschloß. Als ideologisch und künstlerisch besonders »wertvoll« empfanden derartige NS-Theoretiker vor allem die Bauten und architektonischen Entwürfe von Hermann Giesler, Albert Speer und Fritz Todt, die ins Monumentale tendierenden gräkogermanischen Statuen Arno Brekers und Josef Thoraks, die Gemälde und Graphiken Fritz Erlers, Werner Peiners, Richard Schwarzkopfs und Adolf Zieglers, die von Hermanns-Zorn und zugleich österlichen Auferstehungsstimmungen erfüllten Gedichte eines Heinrich Anacker, Hans Baumann und Gerhard Schumann sowie die mit vielem Gepränge aufgezogenen Thingspiele Richard Euringers. Doch reichte das aus, von der Durchsetzung einer das gesamte deutsche Volk ergreifenden neuen Hochkultur zu sprechen? Obwohl die NS-Presse gerade solche Werke als besonders »repräsentativ« herauszustellen versuchte, blieben sie meist künstlerische Einzelleistungen und damit – gesellschaftspolitisch gesehen – notwendigerweise Randphänomene, denen die von der NSDAP umworbenen »breiten Massen« keineswegs die erwünschte Ehrerbietung entgegenbrachten. Diese Bevölkerungsschichten wollten sich, wie schon in der Weimarer Republik, aufgrund ihrer vorwiegend materialistischen Gesinnung sowie ihrer anspruchslosen Unterhaltungsbedürfnisse kulturell lieber weiterhin jenen »Wonnen der Gewöhnlichkeit« hingeben, welche 221
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ihnen die seit den zwanziger Jahren vorwiegend massenmedial eingestellte Film- und Musikindustrie sowie die weiterhin produzierte Trivialliteratur bot. Und das führte dazu, daß es schon 1933/34 innerhalb der NS -Führungsriege zu heftigen Diadochenkämpfen zwischen den Hauptvertretern der eher ariofanatisch eingestellten Kreise um Alfred Rosenberg sowie den eher realpolitisch bzw. strategisch Denkenden um Joseph Goebbels kam. Goebbels, der als junger Germanistikstudent anspruchsvolle Dramen und Romane geschrieben hatte, also aufgrund seiner Herkunft durchaus hochkulturell orientiert war, sah schon kurz nach der Machtübergabe als von Hitler ernannter Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ein, daß der Versuch, mit weltanschaulich überspannten Forderungen alle Volksgenossen für eine arisch-deutsche Hochkultur gewinnen zu wollen, aufgrund der weiterbestehenden Klassengegensätze illusorisch sei. Er erkannte genau, daß die NSDAP, als sie endlich an die Macht gekommen war, im Bereich der Kultur eine gesellschaftlich höchst diffuse Situation vorfand, die sich nicht sofort »gleichschalten« ließ. Also faßte er folgende, eher pragmatisch ausgerichtete Zielsetzungen ins Auge. Die Mehrheit der traditionsverhafteten Bildungsbürger versuchte er mit den altbewährten »Klassikern« zu ködern. Die Angestelltenschicht und die Arbeiterklasse wollte er dagegen vornehmlich mit geschickt aufgemachten Unterhaltungswerken bei einer dem neuen Reich dienenden »guten Laune« halten. Derartige Strategien erschienen ihm noch am ehesten geeignet, diese drei Bevölkerungsschichten nicht nur politisch, sondern auch im Bereich der verschiedenen Künste für die Hitler-Bewegung zu gewinnen, ohne sie weltanschaulich zu verstören oder gar gegen sie aufzubringen. Daß sich solche Bemühungen mit irgendwelchen arisch überspannten Hochkulturkonzepten nicht bewerkstelligen ließen, war Goebbels, wie gesagt, von vornherein klar. Er bezeichnete daher den übertriebenen Germanenkult sowie die pompös aufgezogenen Thingspiele manchmal privatim sogar als »nordischen Kitsch«. Um sowohl die Bürger als auch die Angestellten und die Arbeiter kulturell zufriedenzustellen, entschied er sich deshalb als strategisch kalkulierender Pragmatiker gegen alle totalitaristischen 222
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Abb. 37 Richard Schwarzkopf: Der Sieg des Glaubens (1936)
Einseitigkeiten und setzte sich für einen gewissen Pluralismus innerhalb der im Dritten Reich geförderten bzw. geduldeten kulturellen Aktivitäten ein. Statt wie die Rosenberg unterstehende NS-Kulturgemeinde vornehmlich arisch-hochkulturelle Bestrebungen zu unterstützen, sah er ein, daß es, um alle Bevölkerungsschichten des deutschen Volks für den neuen Staat zu gewinnen, wesentlich effektiver sei, jeder dieser Schichten das ihr Gemäße 223
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oder Gewünschte zu offerieren. Vor allem in den Jahren kurz nach 1933 fand er es sinnvoller, erst einmal die propagandistisch wirksamsten Nahziele der NSDAP ins Auge zu fassen, statt sofort irgendwelche ins Gleichschaltende oder Imperialistische tendierenden rassistischen Fernziele anzuvisieren, welche große Teile der Bevölkerung durchaus schockiert hätten. Daher erschien es ihm angebrachter, weder die Wenigen noch die Vielen ideologisch unnötig zu überfordern, sondern in diesen Bereichen – nach Ausschaltung linker und jüdischer Elemente – im Hinblick auf die weiterbestehenden Klassengegensätze die altgewohnte Trennung von E- und U-Kultur erst einmal beizubehalten. Um dieses Bemühen in die Tat umzusetzen, gründete Goebbels bereits im Sommer und Herbst 1933 sieben Reichskulturkammern für die Sektoren Film, Theater, Schrifttum, Bildende Kunst, Rundfunk, Musik und Presse. Daß er die Reichsfilmkammer als erste dieser Organisationen ins Leben rief, beweist bereits, daß es ihm dabei keineswegs nur um die höheren Künste ging, sondern er als geschickt taktierender Ideologe auf kulturellem Gebiet auch und vor allem die »breiten Massen« ins Auge faßte, die man, wie er immer wieder betonte, bei »guter Laune« halten müsse, um so einen Rückfall dieser Schichten ins Aufsässige oder gar Rebellische zu verhindern. Und das gelang ihm auch, indem er die Mitglieder der Reichsfilm- und Reichsmusikkammer ständig dazu anhielt, wie bereits im Medienbetrieb der Weimarer Republik möglichst volksnahe, aufheiternde, ja bewußt alberne Komödien und Schlager zu produzieren und reklamewirksam »unters Volk« zu bringen. Im Rahmen dieser Doppelstrategie unterstützte also Goebbels im Hinblick auf die Kulturbedürfnisse der gesellschaftlichen Oberschichten weiterhin das von dieser Klasse Erwünschte, das heißt die Beibehaltung der älteren Hochkultur und zugleich einen halbwegs pluralistisch gemeinten Subjektivitätsanspruch. Demzufolge beteuerte er in seiner offiziellen Eröffnungsrede der Reichskulturkammern am 15. November 1933 ausdrücklich, daß im Bereich der höheren Künste ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit durchaus erforderlich sei und sich nicht jeder Kulturschaffende in Zukunft ausschließlich an die Direktiven der Partei halten müsse. »Wir wollen keine 224
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Kunst«, erklärte er, »die nicht mehr ist als ein dramatisiertes Parteiprogramm. Wir haben den Mut, großzügig zu sein, und hoffen, daß unsere Großzügigkeit durch die gleiche Großzügigkeit der Künstlerwelt belohnt wird.« Ja, nicht nur das. Goebbels räumte sogar jenen 17.000 »jüdischbürtigen« Künstlern, wie er sie nannte, die ab 1934 wegen ihrer nichtarischen Abstammung keine Mitglieder der sieben Reichskulturkammern mehr werden konnten, durch die Gründung eines Kulturbunds deutscher Juden ein künstlerisches Betätigungsfeld ein, um auch ihnen die Teilnahme an eigenen Theater- und Opernaufführungen sowie Konzerten und Ausstellungen zu ermöglichen. Selbst als am 10. November 1938 – einen Tag nach der sogenannten Kristallnacht – alle jüdischen Kulturbünde verboten wurden, konnte der Berliner Kulturbund auf Anordnung von Goebbels schon kurz danach wieder aktiv werden und wurde erst im September 1941 von der Gestapo endgültig liquidiert. Ja, einige »jüdischbürtige« Deutsche oder mit Jüdinnen verheiratete Komponisten und Schauspieler wie Franz Lehár, Hans Moser und Leo Slezak ernannte er – wegen ihrer Brauchbarkeit als Unterhaltungskünstler – sogar zu »Ehrenariern«. Der über solche als ideologisch unziemlich empfundenen Kompromisse erbitterte Rosenberg schrieb daher schon im Juni 1934, daß die Goebbelssche Reichskulturkammer ein »richtungsloses Sammelsurium« von »Judengenossen, Rechtsanwälten der Rotary und unfähigen Nationalsozialisten« sei sowie die dort in »glatter Manier« gehaltenen Reden »ohne jeden Gehalt« wirkten. Doch davon ließ sich Goebbels, der genau wußte, daß Hitler eher ihn als Rosenberg favorisierte, keineswegs beirren. Trotz derartiger Einwände hielt er sich — im Hinblick auf die fortdauernde Diskrepanz der klassenbedingten Kulturerwartungen – auch in der Folgezeit weiterhin an die ihm einzig sinnvoll erscheinende Parole: »Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.« Und mit dieser Strategie hatte Goebbels wesentlich mehr Erfolg als jene Kulturfunktionäre innerhalb der NSDAP, die entweder nicht über die gleichen Machtmittel verfügten wie er oder ihren Kulturvorstellungen ein derart »nazifaschistisches« Gepräge gaben, daß sie bei den »breiten Massen« eher auf Widerwillen stießen, als die erwartete Zustimmung fanden. 225
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Abb. 38 Anonym: Richard Strauss und Joseph Goebbels (um 1935)
Etwas pauschalisierend betrachtet, sah deshalb die im Zeichen einer »repressiven Toleranz« stehende Kulturszene des Dritten Reichs folgendermaßen aus. Der bildungsbürgerlichen Minderheit unter den gesellschaftlichen Oberschichten wurde weiterhin all das geboten, was sie nach alter Tradition als »klassisch« empfand. Und das waren vor allem jene künstlerischen Gattungen, welche diese Kreise als die maßgeblichen Ausprägungen einer höhergearteten Kultur, also Theater- und Opernaufführungen, Symphonieund Kammermusikkonzerte, Statuen und Ölbilder sowie anspruchsvolle Dramen, Romane und Gedichte, empfanden. Und zwar mußten das nicht ausschließlich Werke der deutschen Kulturvergangenheit, sondern konnten durchaus auch ausländische Werke sein, die seit altersher zum Kanon der Weltkultur gehörten. Nicht ganz so »großzügig« verhielten sich dagegen Goebbels sowie die meisten anderen Vertreter der NS-Kulturbürokratie jenen Werken der höheren Kultur gegenüber, die noch nicht als »kanonisch« galten, sondern seit der Jahrhundertwende mit den Anspruch der »Modernität« aufgetreten waren. 226
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Im Hinblick auf derartige Werke unterschieden sie sehr wohl zwischen ihrer Ideologie dienlichen und sogenannten »entarteten« Strömungen, Ismen oder Stilen. Als besonders lobenswert stellten sie in diesem Zusammenhang alles hin, worin sich eine heimatverbundene, bäuerlich-völkische oder heldische Gesinnung äußere, während sie alles Fremdrassische, Kulturbolschewistische, Jazzartig-Verniggerte oder auch Wild-Expressionistische, Dadaistische und Sezessionistisch-Ästhetizistische strikt ablehnten und in den Jahren 1937/38 in mehreren großaufgezogenen Ausstellungen als »entartet« anprangerten. Wie wir wissen, stießen damit die neuen Reichskulturverwalter selbst bei der Mehrheit der Bildungsbourgeoisie, die große Teile dieser Kunst bereits in der Weimarer Republik abgelehnt oder als randständig empfunden hatte, keineswegs auf einen merklichen Widerstand. Daher nimmt es nicht wunder, daß sich die meisten anspruchsvollen Künstler, die im Dritten Reich verblieben waren, nach 1933 weiterhin zu ihren an klassisch-romantischen, bürgerlich-realistischen oder neusachlichen Vorbildern orientierten Anschauungen bekannten. Und das wurde auch durchaus geduldet. Selbst wenn sie nicht zu den »erklärten Parteigängern« der NSDAP gehörten, hatten sie, wie Goebbels erklärte, keine »Gesinnungsriecherei« zu befürchten. Falls sie eine arische Abstammung nachweisen konnten und sich vor 1933 nicht vorübergehend ins Linke »verirrt« hatten, konnten solche Künstler in der Folgezeit durchaus weiterarbeiten und ihre Werke auch publizieren, ausstellen oder zu Gehör bringen, solange sie nicht gegen die sogenannten »angestammten Werte« der deutschen Nation verstießen. Aber derartige Absichten lagen den meisten bildungsbürgerlichen Künstlern und Künstlerinnen, die sich schon seit langem als die maßgeblichen Galionsfiguren der deutschen Kultur empfanden, ohnehin fern. Daher schufen sie auch nach 1933 weiterhin unzählige Werke, die sich in ihren hochkulturellen Ansprüchen kaum von denen unterschieden, in denen sie schon vor dem Ersten Weltkrieg und dann in der Weimarer Republik eher das »Allgemein-Menschliche« beschworen hatten, statt das auf die unmittelbare Gegenwart Bezogene in den Vordergrund zu rücken. Wie die Nazifaschisten begrüßten demzufolge viele dieser Dichter, 227
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Maler und Komponisten alle Bemühungen, die sich gegen eine angeblich »undeutsche« Verheutigung des bestehenden Hochkulturbetriebs wandten. Statt dessen befürworteten sie eine Weltanschauung, welche auf der Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr des Zeitlos-Idealistischen beruhte, in der viele Repräsentanten der jede Form der Modernität ablehnenden Bildungsbourgeoisie seit langem die Grundlage aller wahrhaft bedeutsamen Kulturleistungen gesehen hatte. Allerdings handelte es sich dabei – schon aufgrund ihrer subjektivitäts orientierten Bürgerlichkeit – keineswegs um eine kohärente Künstlergruppe. Bereits die Verschiedenheit ihrer Gesinnungen, ob nun humanistischer, religiöser, geistaristokratischer oder existentieller Art, trennte sie in mehrere Lager. Doch nicht nur das. Auch ihrer Einstellung zum NS-Regime lagen mehrere Haltungen zugrunde. Die meisten blieben weiterhin bei ihrem Bildungsdünkel oder flohen aus Angst vor einer parteiideologischen Indienstnahme ins gesellschaftliche Abseits, wo sie sich relativ ungestört ihren privaten Neigungen hingeben konnten, während andere in ihren Werken wenigstens in kryptisch verschlüsselten Einzelmotiven eine zaghafte Résistance zu gewissen Aspekten der NS-Ideologie sowie der von ihr in Gang gesetzten politischen Praxis anzudeuten versuchten. All das als »innere Emigration« zu bezeichnen, wie das bisher oft geschehen ist, wirkt daher etwas problematisch, wenn nicht gar beschönigend. Schließlich wurden die meisten dieser Künstler von den neuen Machthabern nicht nur geduldet, sondern teilweise sogar durchaus hofiert, um so der Bildungsbourgeoisie das Gefühl zu geben, in einem Staat zu leben, der auch die Hochkultur durchaus zu schätzen wisse. An künstlerisch bedeutsamen Theater- und Opernaufführungen, Symphoniekonzerten, Gemäldeausstellungen und anspruchsvollen Klassikerausgaben war daher im Dritten Reich kein Mangel. Überall konnte diese Schicht Werke von Beethoven und Mozart hören, Wagner-Inszenierungen bewundern, Dürer- und FriedrichAusstellungen besuchen oder sich in Neuausgaben der Werke Goethes, Schillers und Hölderlins vertiefen und dabei das Gefühl haben, daß sich in diesem Bereich letztlich nichts geändert habe. Ja, auch die Werke lebender 228
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Hochkulturkünstler wurden, sofern sie nicht »modernistisch« eingestellt waren, vielfach aufgeführt, ausgestellt oder publiziert. Und das nutzten viele von ihnen, so gut es ging, auch aus, indem sie Opern komponierten, die auf Märchenmotiven beruhten, wohlgefällige Landschaftsbilder, Porträts oder Stilleben malten sowie Romane verfaßten, in denen es sich wie eh und je vornehmlich um historische, religiöse oder familiäre Themenstellungen handelte. Am leichtesten innerhalb dieser Gruppe, um auch den materiellen Aspekt nicht aus dem Auge zu verlieren, hatten es die Maler, die selbst dann, wenn sie, wie Otto Dix oder Carl Hofer, wegen ihrer »unvölkischen« Vergangenheit als mißliebig galten und nicht mehr öffentlich ausstellen durften, ihre Bilder weiterhin an private Sammler verkaufen konnten. Im Dritten Reich gebliebene Komponisten, die sich vorher, wie Karl Amadeus Hartmann oder Paul Hindemith, linken oder modernistischen Tendenzen verschrieben hatten, wurden dagegen zum Schweigen verurteilt oder solange drangsaliert, bis sie lieber ins Ausland auswichen. Ja, manche Schriftsteller der »Inneren Emigration« wie Reinhold Schneider, die erst versteckt und dann gegen Kriegsende immer offener gegen die mörderischen Praktiken des NS-Regimes aufzutreten versuchten, mußten sogar um ihr Leben bangen. So viel zu jenen Künstlern, die aus der älteren Bildungsbourgeoisie stammten und sich im Dritten Reich entweder systemkonform, anpassungsbereit oder halbwegs renitent verhielten. Aber aufs große und ganze gesehen, bildeten sie innerhalb des alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassenden Kulturbetriebs lediglich eine relativ unbedeutende Schicht »nützlicher Idioten«, der zwar die hochkulturell orientierten Funktionäre der NSDAP aus strategischen Gründen eine beachtliche Aufmerksamkeit widmeten, aber in deren Werken sie nur eine Facette ihres durchaus pluralistisch gedachten Kulturprogramms erblickten. Schließlich wollten sie nicht nur die prozentual geringfügigen Schichten des gehobenen Bürgertums, sondern auch und vor allem die kleinen Angestellten und Arbeiter für ihre ideologischen Zielsetzungen gewinnen. Und dafür schien ihnen vor allem ein verstärkter Einsatz all jener populistischen Werke am geeignetsten, mit denen bereits 229
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Abb. 39 Szene aus der Filmkomödie »Rosen in Tirol« (1940) von Géza von Bolvary mit Hans Holt, Theo Lingen und Hans Moser
die mächtig angeschwollene Film- und Musikindustrie der Weimarer Republik den Kulturmarkt überschwemmt hatte. So sorgte etwa der 1937 verstaatlichte UFA-Konzern dafür, daß – neben einigen eindeutig antisemitischen oder militaristisch-heroisch ausgerichteten Filmen – vornehmlich mit der Hollywood-Produktion konkurrierende Filmkomödien mit bekannten Stars wie Hans Albers, Viktor de Kowa, Theo Lingen, Hans Moser, Heinz Rühmann, Adele Sandrock und Grethe Weiser gedreht wurden, die in erster Linie das Unterhaltungsbedürfnis der »breiten Massen« bzw. der »Arbeiter der Faust« befriedigen sollten. Von den 1350 deutschen Filmen, die während des Dritten Reichs in die Kinos gelangten, setzten sich daher 1200 keine höheren Ziele, sondern sollten einzig und allein die gesellschaftlichen Unterschichten bei »guter Laune« halten. 230 davon 230
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waren Kriminalfilme, 295 melodramatische Liebesfilme sowie 523 Filmkomödien oder Musikfilme, mit anderen Worten: spannende, rührende oder belustigende Kintopprodukte. Vor allem gegen Kriegsende, als die aufheiternde Note zusehends dringlicher wurde, um die kämpfende oder leidende deutsche Bevölkerung nicht zu entmutigen, wurden immer mehr Filme wie Die große Liebe (1942) oder Die Frau meiner Träume (1944) mit längeren Gesangseinlagen gedreht, in denen sich beliebte Schlagersängerinnen wie Zarah Leander oder Marika Rökk »voll ins Zeug legen« konnten. Und auch im Rundfunk, dessen Hörerschaft in den Jahren zwischen 1933 und 1943 von 4,3 auf 16,1 Millionen angestiegen war, wurde in diesem Zeitraum der Anteil der bewußt leichtlebig klingenden Unterhaltungsmusik von Jahr zu Jahr prozentual ständig größer. Überhaupt spielten visuelle und musikalische Werke – wegen ihrer unmittelbaren Suggestionswirkung auf die »breiten Massen« – in der NS-Kultur eine wesentlich größere Rolle als literarische Werke, die außer beim Theaterbesuch stets eine subjektiv vereinzelte Rezeption voraussetzen. Vor allem Goebbels sah das früh ein, welche Breitenwirkung man beispielsweise mit einer unterhaltsamen Schlagermusik erzielen könne. Er setzte daher alle Hebel in Bewegung, gerade diesem Genre, neben dem Film, eine möglichst intensive Beachtung zu schenken und beteiligte sich sogar selber an der Herstellung von Schlagertexten. Während man bei den Hit Tunes der Weimarer Republik oft betont »freche« oder gar »schlüpfrige« Töne angeschlagen hatte, wurden allerdings nach 1933 wieder vornehmlich die altbewährten Illusionen oder auch Glücksmomente der »großen Liebe« beschworen. Dafür sprechen unter anderem Schlager wie »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein«, »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, »Sing mit mir, tanz mit mir« oder »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei«, zu denen vor allem Komponisten wie Michael Jary, Peter Kreuder, Eduard Künneke, Theo Mackeben und Norbert Schulze die Melodien lieferten. Mit derartigen Schnulzen hofften die auf die Schlagerproduktion geeichten NS-Traumfabrikanten den »breiten Massen« das Gefühl zu geben, im Zustand einer gesellschaftlichen Normalität zu leben, in dem sich zwar auf 231
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der politischen Ebene manches geändert habe, jedoch in privater Hinsicht alles beim alten geblieben sei. Deshalb wurden im Bereich der Schlagerindustrie sogar Zugeständnisse an den in der hohen Musik als »verniggert« angeprangerten Jazz gemacht. Selbst kritische Äußerungen des Amts Rosenberg, nämlich daß in manchen Lokalen »jede Menge Swing und Jazz« gespielt werde, konnten dagegen nichts ausrichten. Besonders Goebbels trat immer wieder dafür ein, daß eine beschwingte und damit aufheiternde musikalische Unterhaltung im Rahmen des NS-Kulturbetriebs einen zentralen Stellenwert haben solle. Ja, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs erklärte er sogar: »Die gute Laune ist ein Kriegsartikel. Unter Umständen kann sie nicht nur kriegswichtig, sondern auch kriegsentscheidend sein.« Schon diese knappen Hinweise belegen wohl zur Genüge, welche pragmatischen Erwägungen der NS -Kulturpolitik – angesichts der weiterbestehenden Klassenunterschiede – zugrunde lagen. Rassistisch überspitzte Forderungen sowie bildungsbürgerliche Stellvertretungsansprüche standen hier unvermittelt neben genau kalkulierten Anpassungsmanövern an die Unterhaltungsbedürfnisse der »breiten Massen«. Ideologiekritisch betrachtet, liefen jedoch diese so unterschiedlichen Tendenzen immer wieder auf das gleiche hinaus, nämlich durch ein möglichst vielgestaltiges kulturelles Angebot, in dem es zwar keine linken, jüdischen oder allzu modernistischen Werke mehr gab, aber weiterhin dennoch so viel übrig blieb, daß sich die jeweiligen Bevölkerungsschichten – gemäß ihrer klassenbedingten Geschmackspräferenzen – das sie jeweils Ansprechende heraussuchen konnten, um so irgendwelche sozialen Unmutsgefühle zu vermeiden. Lediglich jene Kulturschaffenden, die als »rassisch minderwertig« oder »kulturbolschewistisch« galten, wurden daher schon 1933, wie gesagt, entweder sofort eingesperrt, zum Schweigen verurteilt oder aus Deutschland verbannt. Nachdem die »Vertriebenen« unter ihnen jenseits der deutschen Grenzen erst einmal aufgeatmet hatten, sahen sie sich jedoch erneut bisher ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber. Wo gab es für sie, die in der Weimarer Republik lediglich an deutschbetonten Werken gearbeitet hatten, im Ausland überhaupt Schaffens- und Verdienstmöglichkeiten? Wo herrschte 232
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kein latenter oder offener Antisemitismus? Wo wurde auch den Linken eine Chance gegeben? Wo dominierte keine Appeasementpolitik dem Dritten Reich gegenüber? Wo war man überhaupt »ausländerfreundlich« eingestellt? Im Hinblick auf die gewählten Exilländer fielen die Antworten auf diese Fragen sehr unterschiedlich aus. Die kommunistisch orientierten Künstler wurden anfangs noch am ehesten in der UdSSR willkommen geheißen, aber schon in den mittdreißiger Jahren so scharf reglementiert, daß einige von ihnen dieses Land wieder verließen. Etwas besser erging es manchen dieser Couleur in Prag und Paris, wo sie sogar antifaschistische Gruppenstrategien entwickeln konnten, die zur Gründung von Freiheitsbibliotheken, Kulturklubs, vereinzelten Theateraufführungen und verlegerischen Aktivitäten führten. Andere westliche Länder wie die Schweiz verwehrten dagegen den aus Deutschland Vertriebenen derartige Aktivitäten, ja nahmen nach 1936 keine Exilanten mehr auf. Daher konnte sich eine Reihe deutscher Exilautoren lediglich im Juni 1935 an dem inzwischen legendär gewordenen Schriftstellerkongreß in Paris beteiligen, wo sie sich mit antifaschistischer Tendenz »Zur Verteidigung der Kultur« bekannten. Aufgrund ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft vertraten sie dabei ausschließlich hochkulturelle Zielsetzungen, während sie einer auch die »breiten Massen« berücksichtigenden Populärkultur kaum Beachtung schenkten. Den an dieser Tagung Teilnehmenden ging es – angesichts der nazifaschistischen Medienindustrie, in der sie etwas »Barbarisches« sahen – allein um die Aufrechterhaltung einer den höchsten Ansprüchen genügenden E-Kultur. Sie bekannten sich zwar auf diesem Kongreß zu einer »Volksfront«-Politik gegen das Dritte Reich, verstanden darunter jedoch vornehmlich ein möglichst breites Bündnis aller linksorientierten Hochkulturvertreter mit den ebenfalls ins Exil geflüchteten antifaschistisch eingestellten bürgerlichen »Humanisten«. In den unteren Bevölkerungsschichten sahen sie dagegen weiterhin lediglich jene Vielen, denen sie nach der Niederschlagung des Nazifaschismus mit bildungsbürgerlicher und zugleich sozialistischer Gesinnung den Weg zu den immer noch als maßgeblich empfundenen »Höhen der Kultur« vorzeichnen wollten. 233
Der strategisch kalkulierte Pluralismus der NS-Kultur
Doch das blieben vorerst utopische Hoffnungen. Nach dem Überfall auf die Tschechoslowakische Republik und dem Beginn des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkriegs stand für die meisten exilierten Künstler erst einmal die Überlebensfrage im Vordergrund. Viele von ihnen flohen anschließend in die USA. Dort sahen sie sich jedoch mit Kulturvorstellungen konfrontiert, die wegen ihrer profitorientierten Absicht weitgehend populistisch ausgerichtet waren, während die höheren Künste damals in diesem Lande noch als zu »arty« galten. Und das veranlaßte einen elitärmodernistisch eingestellten Kulturtheoretiker wie Theodor W. Adorno, den es wie so viele seiner Mitexilanten von Paris nach Los Angeles verschlagen hatte, die dort herrschende massenmediale Manipulierung der Gesamtbevölkerung durch die kulturell allmächtige Film- und Musikindustrie als geradezu faschistisch oder zumindest faschistoid zu bezeichnen. Im Gegensatz zu Adorno, der deshalb – im Sinne seiner Negativen Dialektik – hartnäckig an dem verstörenden Charakter einer sich gegen alle Tendenzen ins Populistische verweigernden Hochkultur à la Arnold Schönberg und Franz Kafka festzuhalten versuchte, hofften dagegen einige der Linken wie etwa Bertolt Brecht, der ebenfalls in Los Angeles Zuflucht gefunden hatte, selbst angesichts der massenmedialen Traumfabrik Hollywoods sich nach Kriegsende in einem vom Nazifaschismus befreiten Deutschland für eine zwar hohe, aber durchaus volksverbundene Kultur einsetzen zu können. Und beide dieser Konzepte sollten in der Nachkriegszeit, als es im Zuge des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR zur Spaltung Deutschlands in die westdeutsche Bundesrepublik und die ostdeutsche Demokratische Republik kam, in den dort herrschenden Kulturvorstellungen eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Rolle spielen.
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Die Situation in den vier Besatzungszonen Als sich Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill Anfang Februar 1945 auf der Krim zu einer die Nachkriegszeit ins Auge fassenden Strategiekonferenz trafen, beschlossen sie zwar in grundsätzlicher Übereinstimmung die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, klammerten jedoch die Frage nach dem künftigen Schicksal dieses Landes vorläufig aus. Und an dieser Haltung änderte sich auch nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reichs am 8. Mai dieses Jahres nichts. Selbst auf der Potsdamer Konferenz, die anschließend vom 17. Juli bis zum 2. August währte, stimmten die drei Alliierten in ihrer Deutschlandpolitik noch überein, gingen jedoch der Frage nach einer künftigen Form des deutschen Reichs weiterhin aus dem Wege und faßten erst einmal eine Reihe innenpolitischer und ökonomischer Eingriffe sowie konsequenter Umerziehungsmaßnahmen ins Auge, die sie in einem Vierpunkteprogramm zusammenfaßten, das eine radikale Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Dekartellisierung und weitgehende Bodenreform vorsah. Ihr Hauptziel bestand also vorerst darin, die politische, wirtschaftliche und junkerlich-aristokratische Basis der nazifaschistischen Machtkonstellation so vollständig wie nur möglich zu zerschlagen. Neben ihrer Verdammung der rassistischen Untaten gegenüber Juden und Slawen wiesen sie dabei immer wieder auf die verhängnisvolle Verflechtung der deutschen Großkapitalisten mit den nazifaschistischen Machthabern hin. So sagte etwa beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, der am 20. November 1945 begann, nicht nur der sowjetische, sondern auch der US-amerikanische Vertreter der Anklage höchst nachdrücklich: »Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Industrie und der Nazi-Partei hätten H itler und seine Parteigenossen niemals in Deutschland die Macht ergreifen und befestigen können, und das Dritte Reich hätte nie gewagt, die Welt in einen Krieg zu stürzen.« Daher wurden gegen Ende dieses Prozesses nicht nur die hohen NS-Führer und militärischen Oberbefehlshaber, sondern auch einige Großindustrielle zur Rechenschaft gezogen. Aus dem gleichen Grunde 235
Die Situation in den vier Besatzungszonen
entschlossen sich die Siegermächte, die deutsche Industriekapazität auf 50 bis 55 Prozent der Vorkriegsproduktion zu beschränken sowie obendrein eine Reihe wichtiger Fabrikanlagen zu demontieren, wodurch in den vier Besatzungszonen eine langwierige wirtschaftliche Notsituation entstand. All das ist weithin bekannt. Weniger bekannt und mentalitätsgeschichtlich im einzelnen kaum noch nachzuweisen sind die innerdeutschen Reaktionen auf diese Ereignisse und die darauffolgenden Maßnahmen. Die überwältigende Mehrheit der postfaschistischen Bevölkerung, die trotz einiger Widerstandsbemühungen von seiten der Roten Kapelle, der Geschwister-SchollGruppe oder der Männer des 20. Juli 1944 bis zum Kriegsende unermüdlich weitergearbeitet und weitergekämpft hatte, war erst einmal fassungslos, wenn nicht gar zutiefst deprimiert. Während es 1918 in der Endphase des Ersten Weltkriegs im Zuge der Novemberrevolution zu verbreiteten Aufständen gegen das Hohenzollern-Regime gekommen war, herrschte jetzt unter den »breiten Massen« eher ein Zustand weitgehender Politikverdrossenheit. Schließlich waren in diesem Krieg 5,37 Millionen deutscher Soldaten gefallen und 600.000 Zivilisten durch die alliierten Bombenangriffe ums Leben gekommen. Außerdem setzte plötzlich die Lebensmittelversorgung, die bis Ende 1944 – aufgrund der Ausbeutung der besetzten Länder – relativ gut funktioniert hatte, abrupt aus. Und auch die Wohnungsnot war durch die großflächige Vernichtung vieler Städte beträchtlich. Dazu kamen über Nacht mehr als 12 Millionen aus Osteuropa vertriebene Deutsche, welche nach Kriegsende die vier Besatzungszonen überfluteten. All das führte dazu, daß große Teile der Bevölkerung an den Rand der Verelendung gerieten. Überall herrschte mit einem Mal Hungersnot, Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel, so daß die Mehrheit der Menschen eher um ihr materielles Überleben besorgt war, als sich mit Fragen einer ideologischen Neuorientierung auseinanderzusetzen. Doch hierzu wurden sie anfangs von den vier Besatzungsmächten auch kaum aufgefordert. Den Alliierten ging es erst einmal um eine radikale Liquidierung sämtlicher bisherigen NS-Organisationen. Allerdings sahen sie sich – aufgrund ihrer weitgehenden Unkenntnis der bis dahin in Deutschland 236
Die Situation in den vier Besatzungszonen
Abb. 40 Karl Hubbuch: Leute hinter Fenstern, Illustration in der Zeitschrift »Wespennest« vom 5. August 1946
herrschenden Verhältnisse – dabei notwendigerweise auf die Mithilfe der aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern befreiten Systemgegner sowie einiger aus dem Exil zurückkehrender Exilanten angewiesen, wobei sie 1945/46 bei diesen »Heroen der ersten Stunde«, wie sie zum Teil genannt wurden, im Sinne der bisherigen Waffenbruderschaft zwischen den Westmächten und der Sowjetunion noch kaum Unterschiede zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlichen Liberalen oder aus religiösen Gründen Verfolgten machten. Als daher in allen vier Besatzungszonen die Gründung einer Reihe politischer Parteien wie der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands 237
Die Situation in den vier Besatzungszonen
(LDPD) zugelassen wurde, bekannten sich auch diese aufgrund der antifaschistischen Herkunft ihrer Führungskreise durchaus zu einer pluralistischen Haltung, indem sie neben sozialdemokratischen und liberalen Grundsätzen auch antikapitalistische oder religiöse Einstellungen unterstützten. Dementsprechend trat nicht nur die KPD, sondern – auf Vorschlag Kurt Schumachers – auch die SPD zu diesem Zeitpunkt für eine sofortige Verstaatlichung der Schwerindustrie und der Großbanken ein, um so eine neue politische Machtstellung dieser beiden Institutionen zu verhindern. Ja, selbst CDU-Politiker wie Jakob Kaiser und Ernst Lemmer setzten sich nach Kriegsende für die Einführung sozialisierender Maßnahmen ein. Fast die gleiche Gesinnung herrschte in den Jahren 1945/46 auf kulturellem Gebiet. Das belegen unter anderem politliterarische Zeitschriften wie Die Wandlung sowie die Frankfurter Hefte, die einer Vielzahl ideologisch unterschiedlicher Autoren das Wort erteilten, sich für die Heraufkunft einer wahrhaft antifaschistischen Kultur einzusetzen. Derartige Bemühungen wären sicher im Cliquenhaften steckengeblieben, falls ihnen der bereits am 3. Juli 1945 in der Viermächtestadt Berlin gegründete Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands keinen organisatorischen Rahmen geboten hätte, der nicht nur vielbeachtete Tagungen abhielt, sondern zugleich den Aufbau Verlag gründete sowie die Zeitschrift Aufbau und das Wochenblatt Sonntag herausgab. Zu seinem ersten Präsidenten wurde der aus Moskau zurückgekehrte Exilant Johannes R. Becher gewählt, während weitere führende Positionen der Theaterkritiker Herbert Jhering, der SPD -Politiker Gustav Dahrendorf, der vor 1933 nationalbolschewistisch eingestellte Philosoph Ernst Niekisch, der CDU-Politiker Ernst Lemmer, der Romanist Viktor Klemperer, der Regisseur Wolfgang Langhoff, der KPD-Funktionär Anton Ackermann, der Pädagoge Eduard Spranger sowie die Maler Carl Hofer und Otto Nagel und die Schriftsteller und Schriftstellerinnen Willi Bredel, Ricarda Huch, Ludwig Renn, Anna Seghers und Günther Weisenborn einnahmen. Aufgrund dieser eindrucksvollen Phalanx bedeutender Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffender schlossen sich dem Kulturbund in den ersten zwei Jahren rund 20.000 Mitglieder an, die 238
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sich in 394 Ortsgruppen organisierten. Das Grundsatzprogramm dieser Vereinigung bestand aus folgenden Hauptpunkten: »Der Vernichtung der NS-Ideologie, der Zusammenarbeit aller demokratisch eingestellten weltanschaulichen und religiösen Gruppen, der Schaffung einer unverbrüchlichen Einheit der Intelligenz mit dem Volk, der Wiederentdeckung der freiheitlichen humanistischen, wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes, der Anbahnung einer Verständigung mit den Kulturträgern anderer Völker sowie der Förderung des Nachwuchses und Anerkennung hervorragender Leistungen durch Stiftungen und Preise.« Um selbst jene noch immer in bildungsbürgerlichen oder religiösen Ideologien befangenen Künstler nicht sofort vor den Kopf zu stoßen, betonte der Kulturbund in seiner Gründungsphase ausdrücklich, daß er im Gegensatz zu den Kulturfunktionären des Dritten Reichs niemandem bestimmte Ideologien »aufzuzwingen« versuche, sondern lediglich bemüht sei, in allen Deutschen »den wahren Geist der Menschlichkeit wachzurufen«. Das war zwar nobel gemeint, blieb aber weltanschaulich recht vage. Nur in einem Punkt machte der Kulturbund keinen Kompromiß, und zwar in der Forderung, daß es fortan bei allen künstlerischen Bemühungen vornehmlich um die großen nationalen, politischen und gesellschaftlichen Belange gehen müsse. Deshalb verwarf er in dieser Hinsicht sowohl jede »elitäre« Absonderung von den »breiten Massen« der Bevölkerung als auch – im Rückblick auf die im Dritten Reich strategisch mißbrauchte Populärkultur – jede ins Triviale abgleitende »Zerstreuung und Unterhaltung« als faschistoid. Die gleiche Tendenz zu einer ins Höhergeartete und zugleich wahrhaft »demokratisch« gesinnten Kultur, die trotz ihrer anspruchsvollen Note – bevölkerungspolitisch gesehen – nicht nur die Wenigen, sondern auch die Vielen ansprechen sollte, lag auch den zahlreichen Tagungen und Veranstaltungen des Kulturbunds zugrunde, die zwar in ihrer Anfangsphase einen entschieden antifaschistischen, aber ansonsten durchaus pluralistischen Charakter hatten. So wurden etwa auf der Ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden im Sommer 1946 sowohl Bilder der Expressionisten, der nichtgegenständlichen Maler, der Künstler der inneren 239
Die Situation in den vier Besatzungszonen
Emigration als auch der ASSO-Mitglieder der proletarisch-revolutionären Bewegung der späten zwanziger Jahre als gleichberechtigte Vertreter einer im weitesten Sinne antifaschistischen Kunst gezeigt. »Noch ist unsere Zeit verworren«, schrieb damals der kommunistische Maler Hans Grundig in der Zeitschrift Prisma, »und es bedarf der Aktivität aller fortschrittlichen Künstler, realistisch oder abstrakt.« Allerdings reagierten zu diesem Zeitpunkt noch 67 Prozent der 75.000 Besucher dieser Ausstellung auf die gegenstandslos-modernistischen Gemälde, die ihnen nach den Schrecken der Weltkriegsära als zu »harmlos« erschienen, keineswegs positiv. Auf literarischem Gebiet begann der Kulturbund seine Aktivitäten im November 1945 mit einem Ruf an alle deutschen Exilanten, doch möglichst bald nach Deutschland zurückzukehren und sich in den Dienst des kulturellen Neuaufbaus zu stellen. Da diesem Ruf eine beachtliche Anzahl von Autoren Folge leistete, bemühte sich der Kulturbund auch auf diesem Sektor, die weltanschaulich unterschiedlichsten Repräsentanten der jüngsten deutschen Literatur, vor allem die jahrelang voneinander getrennten Vertreter der inneren und der äußeren Emigration, wieder enger zusammenzuführen, ja vielleicht sogar zu einer antifaschistischen Einheitsfront zu vereinigen. Dieser Aufgabe sollte unter anderem jener Erste Deutsche Schriftstellerkongreß dienen, den der Kulturbund im Oktober 1947 nach Berlin einberief. Die wichtigsten Reden hielten bei dieser Gelegenheit Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer und Günther Weisenborn als Vertreter der inneren Emigration bzw. des inneren Widerstands sowie Johannes R. Becher, Stephan Hermlin und Friedrich Wolf als Vertreter des Exils. Trotz der Entschiedenheit beider Gruppen, sich weiterhin gemeinsam für eine antifaschistische Einheitsfront einzusetzen, kam es jedoch bei diesem Kongreß nicht mehr zu jener auf demokratischen Konzepten beruhenden weltanschaulichen Toleranz, die noch im Sommer 1946 bei der Dresdner Kunstausstellung geherrscht hatte. Schließlich war im Herbst 1947 zwischen den USA und der UdSSR jener Kalte Krieg ausgebrochen, der sich gerade in seiner Haltung Deutschland gegenüber höchst fatal auswirken sollte. Während die zuvor verbündeten Alliierten in den zwei vorangegangenen Jahren die Antwort auf die Frage, 240
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Abb. 41 Johannes R. Bechers Eröffnungsansprache auf der ersten Bundestagung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 20. Mai 1947
welche Regierungsform ein in Deutschland neuzugründender Staat erhalten würde, immer wieder verschoben hatten, entschlossen sich jetzt die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion zu einem immer schärfere Formen annehmenden Konfrontationskurs, der zwangsläufig zu einer Spaltung der vier Besatzungszonen in eine westliche und eine östliche Interessensphäre führte. Und das hatte nicht nur politische und ökonomische Folgen wie etwa die im Juni 1948 in den drei Westzonen einseitig vorgenommene Währungsreform und die darauf einsetzende Blockade Westberlins durch die UdSSR , sondern beeinflußte zugleich das gesamte ideologische und kulturelle Klima in den vier verschiedenen Besatzungszonen. 241
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Zugegeben, auch schon vorher hatten die jeweiligen Besatzungsmächte durch die Ausschaltung besonders profilierter NS-Künstler sowie eine strenge Überwachung der Theater, Verlage, Zeitungen und Filmateliers in das sich neuherausbildende Kulturleben ihrer Administrationsbereiche eingegriffen und zugleich für eine nachdrückliche Verbreitung ihrer eigenen Kultur in Form von Übersetzungen, Filmen, Ausstellungen und Konzerten gesorgt. Dennoch waren während der ersten zwei Jahre nach Kriegsende zwischen den vier Besatzungszonen noch ein reger Austausch und ein wechselseitiges Verständnis erhalten geblieben. Diese Pluralität hörte jedoch im Frühjahr 1948 schlagartig auf. Nachdem bis dahin in allen vier Zonen als Leitideologie der Antifaschismus dominiert hatte, waren es jetzt im Westen der Antikommunismus und im Osten der Antiamerikanismus, die von den politisch auseinanderdriftenden Besatzungsmächten als die neuen Leitideologien propagiert wurden. Und zahllose Nachkriegsdeutsche, noch immer eher obrigkeitshörig als antiautoritär eingestellt, paßten sich diesem Stimmungsumschwung durchaus an, wodurch die dagegen Aufbegehrenden wie etwa die Autoren der Zeitschriften Ost und West oder Der Ruf, die weiterhin auf einen eigenständigen, spezifisch deutschen, das heißt »dritten Weg« zwischen den USA und der UdSSR gehofft hatten, zwangsläufig ins Abseits gerieten. Und das hatte nicht nur politisch, sondern auch kulturell schwerwiegende Folgen, die noch lange anhalten sollten. Während bis dahin bei den Bemühungen um antifaschistische Neuordnungskonzepte die Vertreter sozialistischer, radikaldemokratischer, humanistisch-liberaler bzw. religiöser Vorstellungen noch als gleichberechtigte Partner aufgetreten waren und sich sogar der Unterstützung der jeweiligen Besatzungsmächte erfreut hatten, setzte im Frühjahr 1948 auch im Bereich der Kultur eine deutliche Polarisierung in »rechts« und »links« ein, wodurch eigenmächtige Willensbekundungen immer unmöglicher wurden. Jetzt war bereits alles, falls man den offiziellen Verlautbarungen glauben soll, im Sinne des immer heißer werdenden Kalten Kriegs ideologisch vorprogrammiert und wurde – rechts und links der Elbe – selbst von vielen Kulturschaffenden teils gläubig, teils wegen materieller Abhängigkeitsverhältnisse auch dementsprechend akzeptiert. 242
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In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ ) wirkte sich das folgendermaßen aus. Nachdem man hier bis dahin – unter der Leitung des von Johannes R. Becher angeführten Kulturbunds – auf kulturellem Sektor eine eindeutig antifaschistische, auf die Herausbildung einer gesamtdeutschen Kultur hindrängende Haltung vertreten hatte, verstärkte die 1946 aus dem Zusammenschluß der Sozialdemokraten mit den Kommunisten hervorgegangene Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nach Beginn des Kalten Kriegs im Gefolge der UdSSR eher alle auf eine durchgreifende Sozialisierung zielenden Tendenzen und verurteilte dementsprechend die gleichzeitig in Westdeutschland befürwortete Restauration jener kapitalistisch orientierten gesellschaftlichen Oberschichten, die mit Unterstützung des US -amerikanischen Marshallplans wieder ans Ruder drängten. Und diesem von der SED proklamierten Kurs schlossen sich auch einige ihrer Schriftsteller wie Willi Bredel und Eduard Claudius, Maler wie Otto Nagel und Komponisten wie Ernst Hermann Meyer bedingungslos an, welche in ihren Werken vornehmlich sich für den Aufbau des Sozialismus einsetzende klassenbewußte Arbeiter als Leitbilder einer besseren Zukunft beschworen, während Johannes R. Becher nach wie vor auch die antifaschistisch eingestellten Vertreter des liberal gesinnten Bürgertums für derartige Konzepte zu gewinnen suchte. Damit trat in kultureller Hinsicht in der SBZ die bis dahin fast ausschließlich betonte antifaschistische Ausrichtung mehr und mehr in den Hintergrund. Während dort kurz nach dem Krieg vor allem auf die unmittelbare Vergangenheit eingehende Filme wie Die Mörder sind unter uns (1946) von Wolfgang Staudte oder Ehe im Schatten (1947) von Kurt Maetzig, Gemälde mit mörderischen Horrordarstellungen der NS-Verbrechen von Hans und Lea Grundig sowie schriftstellerische Abrechnungen mit dem Dritten Reich im Vordergrund gestanden hatten, sollte jetzt eher das optimistisch Stimmende tonangebend werden, um so der in der SBZ lebenden Bevölkerung Mut auf eine andersgeartete, dem Wohl aller bisher entrechteten, ausgebeuteten sowie in falschen ideologischen Vorstellungen befangenen Menschen dienende Gesellschaft zu machen. 243
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Daß sich dies – angesichts der unzureichenden und von der Sowjetunion verfügten Demontage wichtiger Fabriken obendrein belasteten Versorgungssituation – als eine geradezu herkulische Aufgabe erwies, war der SED selbstverständlich bewußt. Trotz alledem setzte sie alle politischen, ideologischen und kulturellen Hebel in Bewegung, um den Aufbau des Sozialismus als die einzige Hoffnung zu beschwören, mit der man verhindern könne, wieder in einen gesellschaftlichen Zustand zurückzufallen, in dem sich allein die Wenigen der über Besitz und Bildung Verfügenden ein genußreiches und zugleich kultiviertes Leben leisten könnten und die von ihnen ausgebeuteten Vielen abermals mit Niedriglöhnen und trivialer Unterhaltung abgespeist würden. Daher versuchten die Kulturbeauftragten der SED alles, um in ihrem Machtbereich den Einfluß der älteren U-Kultur so weit wie möglich zu unterdrücken und zugunsten der bisher Benachteiligten nur jene Hochkultur zu fördern, wie sie Anfang Mai 1948 auf ihrer Ersten Kulturtagung erklärten, die sich bereits in der Vergangenheit für »progressive« Tendenzen starkgemacht habe, während sie in der Gegenwartskunst nur das unterstützen, was in seiner Tendenz ins Höhergeartete alle Menschen zu einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse anreizen würde, sich für den Aufbau des Sozialismus einzusetzen. Einmal nüchtern betrachtet, war dies ein geradezu ungeheuerliches Vorhaben. Schließlich existierten auch in der SBZ noch die bisherigen Klassenschranken, schließlich besaß die Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht die dazu nötigen Bildungsvoraussetzungen und mußte zudem tagtäglich harte Arbeitsleistungen erbringen, schließlich gab es auch hier die noch aus der Weimarer Republik und dem Dritten Reich stammenden Verlockungen der älteren Trivialkultur und schließlich hörten viele, daß sich in der sich allmählich anbahnenden marktwirtschaftlich operierenden Gesellschaft der Westzonen wieder das altgewohnte Prinzip von Angebot und Nachfrage durchzusetzen beginne, welches jedem Menschen erlaube, sich als Wirtschafts- und Kulturkonsument das ihm jeweils Gemäße herauszusuchen. Und all das blieben Probleme, mit denen sich auch die im Spätherbst 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik (DDR), die weiterhin an 244
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ihrem Kurs ins kulturell Höhergeartete festzuhalten versuchte, ständig neu auseinandersetzen mußte. Wie erwartet, vollzog sich dagegen zwischen 1947 und 1949 die kulturelle Entwicklung in Westdeutschland – im Zuge des Kalten Kriegs – in genau entgegengesetzter Richtung. Selbstverständlich versuchte man auch hier kurz nach Kriegsende erst einmal die antifaschistischen Tendenzen zu fördern, was auf künstlerischem Gebiet zu einer Würdigung vieler im Dritten Reich verfemter oder verbannter Autoren, Maler und Komponisten geführt hatte. Allerdings waren dabei von Anfang an eher die Vertreter der inneren Emigration als die linksorientierten Exilkünstler herausgestellt worden. Man denke an die Hochachtung, mit der man damals im Westen vor 1945 nicht zu publizierende Romane wie Das unauslöschliche Siegel (1946) von Elisabeth Langgässer oder Die Stadt hinter dem Strom (1947) von Hermann Kasack begrüßt hatte. Das gleiche gilt für die Werke im Dritten Reich ungeliebter oder nichtgespielter Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann und Paul Hindemith, welche umgehend in die üblichen Konzertprogramme aufgenommen oder in besonderen Musica-viva-Konzerten vorgestellt wurden. Und auch die Abstrakten unter den Malern wie Willi Baumeister und Fritz Winter, die zwischen 1933 und 1945 keins ihrer Bilder ausstellen konnten, waren 1947 sowohl in der Zeitschrift Das Kunstwerk als auch in dem Buch Die schöpferischen Kräfte der abstrakten Malerei (1947) von Ottmar Domnick als mutige Pioniere einer wahrhaft »freiheitlichen individuellen Kunst« gelobt worden, worin sich allerdings schon in der Begriffsbildung eine antiöstliche Ideologisierung anzubahnen begann. Die gleiche Tendenz ins Subjektivistische und damit Massenfeindliche machte sich in dem Büchlein Entartete Kunst (1947) von Adolf Behne bemerkbar, dessen Autor behauptete, daß sich in den nazifaschistischen Aktionen gegen die von ihnen als »artfremd« empfundene moderne Kunst lediglich eine seit langem aufgestaute »Wut der Philister« gegen alles »Höhere« ausgetobt habe. Solche Äußerungen kamen bereits zu diesem Zeitpunkt in den drei Westzonen auf künstlerischem Gebiet gut an. In den meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften wurde jetzt unter »Kunst« erneut vornehmlich 245
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das verstanden, was die gesellschaftlichen Oberschichten seit eh und je als Manifestationen ihrer eigenen Kulturbedürfnisse hingestellt hatten, nämlich jene klassische oder modernistische E-Kunst, zu deren Wertschätzung stets gewisse Bildungsvoraussetzungen gehören. Da jedoch derartige Voraussetzungen in einem marktwirtschaftlich organisierten Klassenstaat, wie er sich in den drei Westzonen nach der Währungsreform vom Juni 1948 erneut herauszubilden begann, nicht bestanden, trat in diesem Bereich genau das ein, was man in der SBZ durch eine weitgehende Ausschaltung der Unterhaltungsindustrie vermeiden wollte, nämlich eine immer krassere Formen annehmende Trennung in eine bürgerlich-klassische bzw. modernistischelitäre E-Kultur sowie eine für die »breiten Massen« produzierte U-Kultur, in der wieder die altbewährten Schlagerschnulzen, Groschenhefte und Filmkomödien vorherrschten. Schichtenspezifisch betrachtet, äußerte sich diese kulturelle Auseinanderentwicklung in dem Zeitraum vor der im Spätherbst 1949 gegründeten westdeutschen Bundesrepublik (BRD ) folgendermaßen. Die allmählich schrumpfende Bildungsbourgeoisie, die schon damals nur noch ein bis zwei Prozent der trizonesischen Gesamtbevölkerung ausmachte, spielte sich dennoch in diesen Jahren in allen Fragen, die Kunst und Kultur betrafen, aufgrund ihrer Führungsrolle in den auf diesem Gebiet einflußreichen Publikationen wiederum als die maßgebliche Trägerschicht auf. Und zwar klammerte sie sich dabei weiterhin in aller Entschiedenheit entweder an die als unvergänglich ausgegebenen Werke der älteren deutschen Hochkultur oder die sogenannte Klassische Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, während sie irgendwelche linksgerichteten Kunstwerke lediglich als Produkte eines falschen Strebens nach einem letztlich »unerreichbaren Menschenglück der Massen« hinstellte, wie man bereits 1946 in dem Buch Die deutsche Katastrophe des konservativen Historikers Friedrich Meinecke lesen konnte. Meinecke hatte schon damals sowohl die Faschisierung und Bolschewisierung als auch die Demokratisierung, Nationalisierung und Sozialisierung der gesellschaftlichen Unterschichten lediglich als Symptome einer »verfallenden Kultur« verworfen. Nicht minder elitär drückte sich darauf Gerhard 246
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Ritter 1948 in seiner Studie Europa und die deutsche Frage aus, worin er vor allem den Nazifaschismus als fatalen Ausdruck des »modernen Massentums« sowie »proletarischen Nationalgefühls« charakterisierte, um so die deutsche Bildungsbourgeoisie von einer Mitschuld an den Verbrechen des Dritten Reichs zu entlasten. Die bildungsstolzen Vertreter dieser hochkulturell eingestellten Trägerschicht taten daher in der Nachkriegszeit alles, um durch die Aufführung von Werken wie Bachs Matthäuspassion, Mozarts Zauberflöte, Goethes Faust und Beethovens Fidelio sowie seiner Neunten Symphonie den Besatzungsmächten, besonders den »kulturlosen Amis«, klar zu machen, daß es innerhalb der deutschen Kulturvergangenheit nicht nur auf den Faschismus hinweisende, sondern auch hochbedeutsame religiöse und bürgerlich-liberale Werke gegeben habe, die längst Teil des Weltkulturerbes geworden seien. Und zwar boten sie dabei alles auf, was diese These unterstützen konnte: ob nun ein rechtsliberales Persönlichkeitsdenken, einen sich von jeder Form der Politisierung distanzierenden Existentialismus, ein religiöses Verinnerlichungsverhalten, eine Beschwörung spezifisch »abendländischer« Traditionen oder was es sonst noch an »massenfeindlichen« Anschauungen gab, um als jene Bevölkerungsschicht angesehen zu werden, die sich im Bereich der Kultur – im Gegensatz zu allen ins »Totalitaristische« drängenden Tendenzen – stets um eine Aufrechterhaltung des kulturell Höhergearteten bemüht habe. Die Belege hierfür sind so offensichtlich, daß man sich wiederum mit wenigen Hinweisen begnügen kann. Im Bereich des Literarischen nahm in Trizonesien im Zuge der sich verstärkenden Kalten-Kriegs-Mentalität diese prononcierte Massenfeindlichkeit nach 1947 folgende Formen an. Einerseits setzten die Vertreter einer solchen Haltung – unter Berufung auf die beliebte Totalitarismusthese – den Kommunismus einfach mit dem Nazifaschismus gleich oder gaben ihre bisherige antifaschistische Einstellung zugunsten einer ausschließlich sowjetfeindlichen Einstellung auf. Andererseits zogen es manche ins Höhere strebende Autoren vor, aufgrund des verstärkten »ideologischen Gerangels« lieber in eine angeblich »unpolitische« Haltung auszuweichen, und erklärten, 247
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daß sich alle wahrhaft »Gebildeten« endlich von jenen »leichtverführbaren Herdenmenschen« und einem damit verbundenen politischen Engagement distanzieren sollten. Dafür spricht bereits jener im Mai 1948 in Frankfurt am Main abgehaltene Zweite Deutsche Schriftstellerkongreß, auf dem nur noch Hans Mayer ein an Bertolt Brecht, Maxim Gorki und Thomas Mann orientiertes Konzept einer Littérature engagée vertrat, während die anderen Sprecher und Sprecherinnen, darunter Rudolf Hagelstange, Elisabeth Langgässer und Rudolf Alexander Schröder, jeder gesellschaftsbezogenen Zeitnähe und Realistik aus dem Wege gingen und sich statt dessen zur Überzeitlichkeit einer nur dem Geist verpflichteten Poésie pure bekannten. Angesichts dieser Situation zogen es manche der aus dem Exil zurückgekehrten, linksorientierten Autoren wie Eduard Claudius, Günther Cwojdrak, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Hans Marchwitza und Hans Mayer vor, nach diesem Zeitpunkt lieber aus Trizonesien in die SBZ überzusiedeln, wo sie sich – im Sinne des dortigen Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands – für eine literarische Höherbildung der »breiten Massen« einzusetzen hofften. Ihren endgültigen Höhepunkt erlebte diese Abwendung von allen gesamtgesellschaftlichen, weil angeblich »vermassenden« Aspekten innerhalb der Literatur, als es im Herbst 1949 in den drei westlichen Besatzungszonen – anläßlich der 200. Wiederkehr von Goethes Geburtstag – in vielen der dortigen Städte zu großaufgezogenen Goethe-Feiern kam. Und zwar herrschte dabei weitgehend jene Stimmung vor, für die sich Friedrich Meinecke schon 1946 im Schlußabschnitt seines Buchs Die deutsche Katastrophe eingesetzt hatte, wo er dafür eingetreten war, allerorten »Goethe-Gemeinden« zu gründen, die jeden Sonntagnachmittag zu Feierstunden zusammenkommen sollten, um neben der Darbietung großer Kompositionen deutscher Musiker vor allem dem Vortrag der dichterischen Meisterleistungen Goethes, aber auch der Werke Friedrich Schillers, Friedrich Hölderlins, Eduard Mörikes und Rainer Maria Rilkes zu lauschen, um so dem »Druck der Massen« das »Ideal einer persönlichen, ganz individuellen Bildung« entgegenzusetzen. Als einer der wenigen Störenfriede erwies sich in diesem Jahr der aus dem 248
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Exil erstmals nach Deutschland zurückkehrende Thomas Mann, der seine Goethe-Rede nicht nur im westzonalen Frankfurt am Main, sondern auf Einladung Johannes R. Bechers auch im sowjetzonalen Weimar hielt und dafür in einigen besonders scharf antikommunistisch eingestellten Zeitungen Westdeutschlands als »Fellow Traveller« des dort herrschenden Totalitarismus angegriffen wurde. Relativ ähnlich verliefen in den drei westlichen Besatzungszonen zu diesem Zeitpunkt die ideologischen Wandlungsprozesse auf musikalischem Gebiet. Auch hier distanzierte sich die bildungsbürgerliche Meinungsträgerschicht nach 1947 zusehends von irgendwelchen »zeitnahen«, das heißt auch politische Themenstellungen aufgreifenden Werken, wie etwa den kurz nach 1945 gespielten antifaschistischen Kompositionen Karl Amadeus Hartmanns, und ließ neben den weiterhin als kanonisch geltenden Werken der Klassik und Romantik sowie den Werken der sogenannten »Klassischen Moderne« von Béla Bartók, Paul Hindemith und Igor Strawinsky lediglich die religiös gestimmten Kompositionen aus dem Bereich der inneren Emigration, das heißt die Werke Hugo Distlers und Ernst Peppings gelten. Wie nationalkonservativ manche der dort noch lebenden Komponisten der spätromantischen Tradition damals noch eingestellt waren, belegt wohl am besten ein kurz nach Kriegsende geschriebener Brief Hans Pfitzners an seinen im Exil verbliebenen früheren Freund Bruno Walter, in dem er unter Hinweis auf die Meisterleistungen der älteren deutschen Kultur, wie Bachs H-Moll Messe, Goethes Faust, Beethovens Pastorale, Webers Freischütz, die Gedichte Eichendorffs und Wagners Meistersinger, Deutschland von der Alleinverantwortlichkeit für alle im Zweiten Weltkrieg verübten Untaten zu entlasten versuchte. Daß man dieses Land heutzutage in aller Welt so hasse, schrieb er, hänge weitgehend damit zusammen, weil es auf musikalischem Gebiet allen anderen Ländern der Welt weit überlegen sei. Es sei nun einmal der »Kanarienvogel unter den Spatzen«, wie Pfitzner mit ungebrochen hochkultureller Verblendung behauptete. Im Bereich der Malerei führte dieser Gesinnungsumschwung – neben der weiterbestehenden Hochschätzung der älteren deutschen Meister – im 249
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Hinblick auf die jüngste Entwicklung innerhalb dieser Kunstform zu einer immer stärkeren Beachtung jener als »westlich« ausgegebenen abstrakten bzw. gegenstandslosen Darstellungsweise, obwohl viele Kunsttheoretiker derartige Bemühungen bereits in den späten zwanziger Jahren als überholt hingestellt hatten. Und zwar wurde dieser Antirealismus vor allem von den US-amerikanischen Besatzungsbehörden unterstützt, die 1948 in mehreren westdeutschen Großstädten Ausstellungen von Malern des sogenannten Abstract Expressionism wie Jackson Pollock, Robert Motherwell und Willem de Kooning veranstalteten, um damit auch auf diesem Gebiet allen linksgerichteten Tendenzen entgegenzutreten. In den Schriften der westdeutschen Modernefanatiker unter den Kunstkritikern, die sich diesem Trend anschlossen, begegnet man daher in der Folgezeit zusehends denselben ideologischen Gleichsetzungen, nämlich realistisch gleich verständlich, verständlich gleich massenzugewandt, massenzugewandt gleich totalitaristisch und totalitaristisch gleich kulturlos. Unter Berufung auf Altmeister der abstrakten Malerei wie Wassily Kandinsky, Paul Klee und Piet Mondrian strichen dabei diese Kritiker vor allem den kreativ-freien Schöpfungsakt bei der Schaffung abstrakter Kunstgebilde heraus, durch den sich der gegenstandslose Künstler wie ein Demiurg auf den »Olymp des Scheins« erhebe und sich damit jeder gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung entziehe. Durch alle diese aus dem spezifisch Antifaschistischen ins pauschalisierend Antitotalitaristische tendierenden Anschauungen blieb es nicht aus, daß zwischen 1947 und 1949, wie gesagt, in Westdeutschland wieder jene Aufspaltung in eine einerseits halb traditionelle, halb modernistische E-Kultur sowie andererseits eine lediglich auf Unterhaltung und Zerstreuung bedachte U-Kultur eintrat, welche der 1945 gegründete Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands unbedingt verhindern wollte. Während also in der SBZ im gleichen Zeitraum die dortigen Kulturverantwortlichen unter Einsatz staatlicher Steuerungsmaßnahmen weiterhin am Konzept einer der Gesamtbevölkerung dienlichen A- oder Allgemeinkultur festzuhalten versuchten, verwarfen die Kulturtheoretiker der bildungsbürgerlichen Schichten Westdeutschlands nach Beginn des Kalten Kriegs alle 250
Die Situation in den vier Besatzungszonen
sogenannten massenzugewandten Tendenzen in den höhergearteten Künsten als anti-individualistisch und damit als »undemokratisch«. Das gleiche taten die westlichen Besatzungsbehörden nach 1947/48, indem sie den Aktivitäten des Kulturbunds mit steigendem Mißtrauen entgegentraten und sie schließlich verbieten ließen. Und damit wurden von westdeutscher wie auch alliierter Seite jene kulturellen Voraussetzungen für die gegen Ende 1949 gegründete Bundesrepublik geschaffen, die eine als sozialistisch verstandene A-Kultur grundsätzlich verwarf und auch im Hinblick auf die Künste nur das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage gelten ließ.
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Der gescheiterte Versuch, in der DDR eine klassenlose Hochkultur durchzusetzen Wie bereits ausgeführt, wurde im Gegenzug zur Konstituierung der westdeutschen Bundesrepublik auf Veranlassung der UdSSR am 7. Oktober 1949 in Ostberlin die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Die Führungsrollen übernahmen dabei als Staatspräsident Wilhelm Pieck, als Ministerpräsident Otto Grotewohl und als Erster Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Walter Ulbricht. Von nun an setzte sich die SED vor allem das Ziel, den Prozeß des »Hinüberwachsens aus dem demokratischen in die sozialistische Neuordnung« innerhalb der gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen durch die bereits begonnene Verstaatlichung der Industrieproduktion sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft möglichst umgehend zu Ende zu führen. Was dadurch im Osten Deutschlands entstand, war eine nach sowjetischem Vorbild gelenkte staatliche Planwirtschaft, mit der eine Stabilisierung der sozioökonomischen Verhältnisse und zugleich eine innerstaatliche Konsolidierung erreicht werden sollte. Allerdings führte die in diesem Zusammenhang verordnete Normenerhöhung innerhalb der Industrieproduktion, mit der die SED die durch den Rohstoffmangel sowie die langanhaltenden Demontagen entstandenen »objektiven Schwierigkeiten« zu überwinden hoffte, zwangsläufig zu einer Verminderung der ohnehin kärglichen Konsumgütererzeugung und einer daraus erfolgenden Unzufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung mit dem dort herrschenden Regime, die ihren ersten Höhepunkt in den Ereignissen des 17. Juni 1953 erreichte, als es zu verbreiteten Aufständen kam, die nur mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen werden konnten. Obwohl danach eine gewisse Beruhigung der innenpolitischen Verhältnisse eintrat, blieb die wirtschaftliche Situation in der DDR weiterhin höchst angespannt. Ständig kam es zu neuen Produktionshemmungen, weshalb sich der Lebensstandard nicht in dem Maße verbesserte wie in der benachbarten BRD, wo es durch massive finanzielle Hilfen im Rahmen des US-amerikanischen Marshallplans 253
Der gescheiterte Versuch einer klassenlosen Hochkultur
sowie eine wesentlich günstigere Rohstoffversorgung zu jener Produktionssteigerung und damit Wohlstandsvermehrung kam, die in den westlichen Medien als ein ans Märchenhafte grenzendes »Wirtschaftswunder« ausgegeben wurden, was dazu führte, daß immer mehr Menschen aus der DDR in die BRD abwanderten. Wie gelang es der SED eigentlich, sich in einer derartigen Situation überhaupt als staatstragende Kraft zu behaupten und der DDR-Bevölkerung weiterhin einzureden, daß ihr Staat das »andere, bessere Deutschland« sei? Eine wichtige Rolle spielte dabei die Entscheidung, trotz aller Sozialisierungsmaßnahmen nicht den Eindruck einer gewaltbetonten »Diktatur des Proletariats« zu erwecken. Schon der Entschluß, ihr Land Deutsche Demokratische Republik zu nennen, statt es wie die anderen Ostblockstaaten als Sozialistische Volksrepublik auszugeben, spricht für diese Einstellung. Da diesem Staat keine sozialistische Revolution vorangegangen war, sondern seine Regierung es weitgehend mit einer postfaschistischen, postpreußischen und protestantisch-lutherischen Bevölkerung zu tun hatte, die zwar nach alter Tradition die »Obrigkeit« halbwegs respektierte, aber keineswegs »kommunistisch« gesinnt war, sprach die SED zwar häufig von ihrer Republik als einem Arbeiter- und Bauernstaat, gab sich jedoch gleichzeitig große Mühe, unter der Parole einer möglichst »innigen Verbindung der Intelligenz mit der werktätigen Bevölkerung« auch die bürgerlichen Schichten für ihre Vorstellung eines »Neuen Deutschland« zu gewinnen, wie sie ihre parteiamtliche Zeitung nannte. Da jedoch die linken Führungskader, welche die Jahre vor 1945 entweder im Exil oder in innerdeutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern verbracht hatten, nur aus einer kleinen Gruppe bestanden, folgte ihnen die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, die nicht über solche Erfahrungen verfügte und zwölf Jahre lang weitgehend den trügerischen, aber werbewirksamen Slogans der Nazifaschisten gefolgt war, höchst widerwillig. Schließlich wollten diese Menschen nach den »schrecklichen« Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit endlich mehr berufliche Freizügigkeiten und bessere Lebensbedingungen haben, statt erneut unter einem »totalitären« 254
Der gescheiterte Versuch einer klassenlosen Hochkultur
Regime zu leben, in dem ihnen zuviel vorgeschrieben wurde und in dem nicht jene marktwirtschaftlichen Wohlstandsverhältnisse herrschten wie in der konsumorientierten Welt der benachbarten BRD. Um also sowohl die sogenannten breiten Massen als auch die bürgerliche Intelligenz trotz alledem für sich zu gewinnen, entfaltete die SED in den frühen fünfziger Jahren eine optimistisch stimmende Propagandawelle nach der anderen, mit denen sie versuchte, die ostdeutsche Bevölkerung von ihren in eine bessere Zukunft weisenden Zielsetzungen zu überzeugen. Dazu gehörte anfangs vor allem die spezifisch deutschbetonte Komponente derartiger Bemühungen, von der sie sich im Hinblick auf die nach wie vor herrschende postfaschistische Gesinnung breitester Bevölkerungsschichten die erfolgverheißendste Wirkung versprach. Allerdings reichte der ständige Gebrauch von Begriffen wie »Volk« oder »Nation« keineswegs aus, um den in Gang gesetzten Prozeß der Sozialisierung und Kollektivierung als eine Aufgabe hinzustellen, welche nicht nur der DDR, sondern später auch einem durch ihre Aktionen umgestalteten wiedervereinigten Deutschland zugute kommen würde. Mit solchen Parolen waren jedoch die weiterhin Unzufriedenen dieses »Volks« nicht zu gewinnen. Sie wollten den Wohlstand jetzt und nicht erst in ferner Zukunft. Und so kam es durch den anhaltenden Konsummangel gegen Ende der fünfziger Jahre zu einer derartigen Republikfluchtwelle, daß sich die SED-Führung, um überhaupt an der Macht zu bleiben, schließlich gezwungen sah, ihren Staat im Herbst 1961 durch Mauern und Wachttürme gegen die wirtschaftswunderliche BRD hermetisch abzuriegeln. Doch nicht nur in parteipolitischer Hinsicht, auch auf kulturellem Gebiet spielten solche in die Zukunft projizierten Nationalvorstellungen eine wichtige Rolle. So wie die deutsche Arbeiterbewegung von Anfang an nicht nur mit sozialistischen Forderungen aufgetreten war, sondern sich zugleich als eine Bildungs- und Kulturbewegung verstanden hatte, wurde deshalb von seiten der SED und des mit ihr liierten Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands immer wieder betont, daß es in der DDR auch darum gehe, nach der klassenbedingten Spaltung in eine hohe und eine 255
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niedere Kultur jetzt endlich jenen schon von der SPD seit dem späten 19. Jahrhundert ins Auge gefaßten Weg zu der »einen großen, gebildeten Nation« einzuschlagen. Fast alle führenden Funktionäre der SED wandten daher in den fünfziger Jahren einen Großteil ihrer Zeit darauf, an den jeweiligen Theater- und Operninszenierungen, Buchmessen, Gemäldeausstellungen und Symphoniekonzerten teilzunehmen und sich anschließend wohlwollend oder kritisch darüber zu äußern, ob sich die dort gespielten oder ausgestellten Werke für den Aufbau einer neuen deutschen Nationalkultur brauchbar oder unbrauchbar erweisen würden. Ihnen ging es nicht um individuelle Sonderleistungen, sondern um Kunstwerke, bei denen, wie in dem Drama Golden fließt der Stahl (1950) von Karl Grünberg, dem Roman Menschen an unserer Seite (1951) von Eduard Claudius oder dem Mansfelder Oratorium (1951) von Ernst Hermann Meyer, weniger das einzelpersönliche »Ich« als das gesellschaftsbezogene »Wir«, das heißt die Darstellung sozialistisch gesinnter Aktivisten und Kollektive im Vordergrund stehen sollte, an denen sich der Rest der Bevölkerung im Hinblick auf den »friedlichen Aufbau des Sozialismus« ein Vorbild nehmen könne. In Anlehnung an die UdSSR wurde dabei stets die nationale Komponente solcher »Kulturleistungen« betont. Alle Werke der Kunst sollten in Zukunft »national in der Form und sozialistisch im Inhalt« sein, wofür sich bereits 1934 der Moskauer Allunionskongreß der kommunistischen Schriftsteller entschieden hatte. Demzufolge spielte gerade in den Anfängen der DDR die Betonung des »Kulturellen Erbes« im Rahmen der nationalen Tradition eine zentrale Rolle. Nicht nur Johannes R. Becher erklärte immer wieder emphatisch »Vorwärts zu Goethe«, auch andere Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees der SED betonten in den Jahren 1950/51 anläßlich bestimmter Gedenktage stets aufs neue, wie eng gerade die größten deutschen Kulturschaffenden, und zwar nicht nur Johann Wolfgang Goethe, sondern auch Albrecht Dürer, Johann Sebastian Bach, Friedrich Schiller, Ludwig van Beethoven oder Caspar David Friedrich mit den deutschbewußten Bevölkerungsschichten verbunden gewesen seien, um so die nationale Bedeutsamkeit dieser Künstler herauszustreichen. »Unsere 256
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Nation, ihre Kunst und Kultur«, schrieb dementsprechend ein Kulturfunktionär wie Wilhelm Girnus 1951 im Neuen Deutschland, »ist entstanden im Kampf gegen die mittelalterlich-feudale Zersplitterung. In diesem Kampf um die Bildung der Nation erfüllte die Kunst eine notwendige, eine progressive geschichtliche Aufgabe. Die aus diesem Kampf herausgeborenen Werke tragen daher den Stempel der Nationwerdung unseres Volkes. Man kann sie nicht aus unserem nationalen Bewußtsein herausreißen, ohne den Bestand der Nation selbst in Frage zu stellen.« Und so wie Girnus, der später das Amt des Staatssekretärs für das Hochschulwesen übernahm, bekannten sich auch andere führende Mitglieder der SED immer wieder zur gesamtdeutschen Ausrichtung der in ihrem Staat anvisierten Kulturpolitik, um sich als Vertreter eines anderen, besseren, das heißt traditionsbewußten und zugleich progressiven Deutschland auszuweisen. Das belegt unter anderem eine Rede von Otto Grotewohl vom März 1950 vor der DDR-Volkskammer, in der er erklärte: »Es geht um die Existenz der deutschen Kultur, die nicht geteilt werden darf. Unser Ziel ist die Pflege und Weiterentwicklung einer wahren, edlen Kultur der Nation. Zu dieser Kultur gehören für uns auch die Menschen im Westen unserer Heimat.« Fast dieselben Verlautbarungen finden sich in jener Rede, die Walter Ulbricht auf dem III. Parteitag der SED im gleichen Jahr hielt, in der er die Forderung aufstellte, »eine fortschrittliche deutsche Kultur für unser ganzes deutsches Vaterland zu entwickeln«. Und auch Alexander Abusch bekannte sich im Juni 1950 unter dem Titel Aktuelle Fragen unserer Kultur im Neuen Deutschland ebenso nachdrücklich zu dieser nationalen Zielsetzung und wandte sich entschieden gegen jene »kosmopolitische Ideologie der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit«, mit der die USA im Zuge ihrer »wirtschaftlichen, politischen und geistigen Marshallisierung« eine Aufhebung der kulturellen »Souveränität« der von ihnen abhängigen Staaten anstrebe. Statt also wie in den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Ländern im Bereich der Kultur nicht nur einen »volksfremden Modernismus«, sondern auch eine zum »Kitsch tendierende internationale Unkultur« zu 257
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dulden oder gar zu befördern, wurde deshalb in der DDR in allen »Kulturbemühungen«, wie es in den fünfziger Jahren gern hieß, stets »unser deutscher Nationalcharakter« betont. Was die Kulturverantwortlichen dieses Staats demzufolge besonders scharf ablehnten, waren einerseits die inhaltslosen Ausflüchte der formalistisch-abstrakten Malerei als auch die unharmonischbizarren Klänge der Schönbergschen Zwölftonmusik innerhalb der angeblich höheren Künste sowie andererseits jene »pornographischen Magazine, Kriminal- und Kolportageromane, Verbrecherfilme sowie Schlagerkompositionen der amerikanisierten Boogie-Woogie-Musik« innerhalb der niederen Künste, deren Ziel lediglich darin bestehe, »das nationale Kulturerbe der Völker zu zerstören«, wie Ernst Hermann Meyer, der Vorsitzende des DDRKomponistenverbandes, im Mai 1951 im Neuen Deutschland behauptete. Unter Bezugnahme auf derartige Forderungen setzte sich daher Johannes R. Becher in seiner Rede auf dem Ersten Gesamtdeutschen Kulturkongreß in Leipzig – wie schon im Herbst 1947 auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß – nochmals mit programmatischer Entschiedenheit für eine ideologische Solidarität aller deutschen Kulturschaffenden ein, indem er erklärte: »Der Wille zur Einheit unserer Kultur ist der Vorbote der wissenschaftlichen und politischen Wiedervereinigung Deutschlands.« Die zur Durchführung derart hochgespannter Forderungen von der SED im Juli 1951 gegründete Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten faßte dementsprechend folgende Zielsetzungen ins Auge. Um die bisherige Spaltung in eine klassisch-erstarrte bzw. modernistisch-elitäre E-Kultur für die Wenigen sowie eine lediglich unterhaltsam-triviale U-Kultur für die Vielen, wenn nicht gar Allermeisten zu überwinden, propagierte sie in Anlehnung an die sowjetische Kulturpolitik Shdanowscher Prägung eine sozialistische A- oder Allgemeinkultur, die weder volksfremd noch trivial sein dürfe, sondern unter Bezugnahme auf die besten Werke des nationalen Kulturerbes einer Hochkultur mit sozialistischen Inhalten den Weg bereiten solle. Demzufolge tat die SED alles, um diese Bestrebungen ins Höhergeartete zu befördern: sie setzte als Regelschule die zehnklassige Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule durch, sie bildete tausende von Neulehrern aus, 258
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sie gründete an den Universitäten Arbeiter- und Bauernfakultäten, um auch Jugendlichen der gesellschaftlichen Unterschichten den Zugang zu einer höheren Bildung zu ermöglichen, sie errichtete selbst in kleineren Städten und sogar Dörfern unzählige Kulturhäuser, sie regte durch die Verteilung kostenloser Eintrittskarten die Werktätigen zum Besuch von Theater- und Opernaufführungen an, sie veranstaltete Arbeiterfestspiele, sie unterstützte Jugendklubs, Volkskunstensembles, Chöre und Laienspielgruppen und was es sonst noch an derartigen Aktivitäten gab. Ihren ersten Höhepunkt erlebten Bemühungen dieser Art auf jener Ende April 1959 im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld stattfindenden Autorenkonferenz, auf der sich die SED ausschließlich mit der Frage auseinandersetzte, wie sich die immer noch bestehende Fremdheit zwischen den Künstlern und den breiten Massen überwinden lasse. Und zwar forderte sie dort einerseits die Künstler auf, sich genauer über das Leben der Fabrikarbeiter zu informieren, während sie andererseits unter der von Walter Ulbricht ausgegebenen Direktive »Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!« alle Werktätigen in der DDR aufrief, sich verstärkt an kulturellen Zielsetzungen zu beteiligen, das heißt nicht nur auf materielle Vorteile zu pochen, sondern »auch die Höhen der Kultur zu erstürmen und von ihnen Besitz zu ergreifen«. Nur so könne man die DDR, wie Ulbricht unter Rückbezug auf den utopischen Humanismus Goethes erklärte, in einen Staat verwandeln, in dem die Vision des sterbenden Faust, nämlich »mit freiem Volk auf freiem Grund zu stehen«, tatsächlich Wirklichkeit werde. Im Gefolge derartiger Vollstreckerhoffnungen schrieb daher Alexander Abusch am 11. November 1959 im Neuen Deutschland: »Was wir verwirklichen wollen, sind die humanistischen Ideale des 18. und 19. Jahrhunderts.« All das waren hohe, ja durchaus noble Erwartungen. Aber würde »das Volk auf den Straßen von Leipzig wirklich einmal Goethes Faust oder Thomas Manns Zauberberg als Volkslied pfeifen«, wie Becher in den mittfünfziger Jahren in einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer erklärte? Es kam zwar im Anschluß an die Bitterfelder Konferenz 259
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zur Gründung unzähliger Zirkel schreibender Arbeiter und deren Werke wurden auch publiziert. Doch reichte das aus, um auf breitester Basis jene »Höhen der Kultur zu erstürmen«, wie sich die SED das vorstellte? Waren nicht die Bildungsvoraussetzungen der überwältigenden Mehrheit der sogenannten Werktätigen für eine solche Zielsetzung immer noch zu gering? Wieviel freie Zeit hatten denn diese hartarbeitenden Bevölkerungsschichten überhaupt, um an der Heraufkunft einer derart hochgearteten Kultur mitzuarbeiten? Und waren nicht die meisten dieser »Kumpel« wegen der ausgebliebenen sozialistischen Revolution noch immer in postfaschistischen Ideologien befangen, wie das Heiner Müller 1957 in seinem Drama Der Lohndrücker darzustellen wagte? Ja, schielten nicht viele von ihnen neidisch in die wirtschaftswunderliche Bundesrepublik hinüber, wo sich der Lebensstandard von Jahr zu Jahr verbesserte und ihresgleichen zudem jene wohlgefällige Unterhaltungskultur geboten wurde, die es in der DDR offiziellerweise nicht gab? Kurzum: daß die Kulturfunktionäre innerhalb der SED in den fünfziger Jahren – im Zuge der sogenannten Kitsch- und Formalismusdebatte – unablässig gegen alle im Westen propagierten trivialen bzw. modernistischelitären künstlerischen Ausdrucksweisen zu Felde zogen und statt dessen eine angeblich volksnahe und zugleich national ausgerichtete Hochkultur durchzusetzen versuchten, interessierte diese Vielen oder Allermeisten kaum. Was sie in kultureller Hinsicht eher verärgerte, war die von der SED angestrebte Ausschaltung einer nach getaner Arbeit zerstreuenden Unterhaltungskultur in Form eingängiger Schlager oder witziger Filmkomödien, die ihnen gegen Abend oder an Wochenenden die gewünschte Ablenkung von ihrer konsumarmen Alltäglichkeit geboten hätte. Sie wollten im Radio keine anspruchsvolle »Klassik« hören, sie wollten nicht in Opernhäuser gehen, sie wollten nicht ständig mit Werken bombardiert werden, in denen ihnen die »Heldentaten« früherer Kommunisten, irgendwelche »schreibenden Arbeiter« oder die Protagonisten der sogenannten »Ankunftsliteratur« als Vorbilder angepriesen wurden. Ihnen ging es erst einmal darum, all das Schreckliche der Kriegsjahre bzw. ihrer Vertreibung aus dem Osten zu 260
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Abb. 42 Willi Sitte: Schreibender Arbeiter (1960)
vergessen. Mit anderen Worten: sie wollten endlich auch die heitere Seite des Lebens genießen, statt sich in ihrer karg bemessenen Freizeit menschlich und bildungsmäßig überfordern zu lassen. Doch trotz dieser weitverbreiteten Sehnsucht nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« tat die SED alles, um in ihrem Machtbereich die bisherige Spaltung in eine elitäre E-Kultur für die Wenigen und eine ins Triviale 261
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abgleitende U-Kultur für die Vielen kategorisch aufzuheben. Sie regte ihre Werktätigen im Zuge des Bitterfelder Wegs nicht nur an, Brigadetagebücher oder Autobiographien zu schreiben, sondern sich sogar an die Niederschrift eines proletarischen Wilhelm Meister, wenn nicht gar eines proletarischen Faust heranzuwagen. Außerdem ließ sie umgehend alle älteren Theater, Opernhäuser und Konzertgebäude restaurieren. Ja, im Vergleich zur Einwohnerzahl gab es damals in keinem anderen Land der Welt so viele Institutionen dieser Art wie in der DDR. Und auch an finanzieller Unterstützung sowie höchster künstlerischer Qualität war kein Mangel. Das gilt sowohl für das Brecht-Ensemble am Schiffbauerdamm als auch für die von Walter Felsenstein geleitete Komische Oper in Ostberlin, die sich beide eines weltweiten Ansehens erfreuten. Nicht minder bekannt waren damals der Dresdner Kreuzchor und die Leipziger Thomaner, die Dresdner Staatskapelle und das Leipziger Gewandhausorchester sowie die Händel-Festspiele in Halle und die Telemann-Festtage in Magdeburg. Einen ähnlichen Ruf errangen staatlich geförderte Sänger wie Theo Adam und Peter Schreier, die auch jenseits der Grenzen der DDR als Berühmtheiten galten. Aber genügte all das, um behaupten zu können, damit den erwünschten Zustand einer nationalen Hochkultur erreicht zu haben? Sicher nicht. Schließlich hatte die kurze Zeitspanne von zwölf Jahren zwischen der Gründung der DDR im Jahr 1949 und dem im August 1961 von der SED angeordneten Mauerbau keineswegs ausgereicht, um jene »innige Verschmelzung der Intelligenz mit dem werktätigen Volk« herbeizuführen, die dem Abbau der älteren Klassenschranken zwischen der gebildeten Oberschicht und den ungebildeten Unterschichten dienen sollte. Noch immer waren die meisten Arbeiter und Bauern noch nicht auf den von der SED erhofften »Höhen der Kultur« angelangt, wodurch der Traum von der »einen großen, gebildeten Nation« weiterhin eine utopische Vision geblieben war. Und daran änderte sich auch nach 1961 nicht viel, als es zu jenen produktionssteigernden Maßnahmen kam, die Walter Ulbricht mit dem von ihm initiierten Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung (NÖSPL ) einleitete, welches dazu führte, daß die DDR gegen 262
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Ende der sechziger Jahre über den höchsten Lebensstandard innerhalb sämtlicher Ostblockstaaten verfügte. Obwohl Ulbricht hoffte, damit die bisherige Klassenaufspaltung endgültig beseitigt zu haben und im Hinblick auf die DDR häufig von einer »neuen Menschengemeinschaft« sprach, in der es keinen Gegensatz zwischen Reichen und Armen sowie zwischen Gebildeten und Ungebildeten mehr gebe, blieb die innenpolitische wie auch kulturelle Situation weiterhin angespannt. So verständlich es auch war, daß er und andere ältere SED Genossen nach langen Jahren der Kämpfe in der späten Weimarer Republik, der Vertreibung ins Exil sowie der mühsamen Aufbaujahre in der Nachkriegszeit jetzt endlich dachten, ihren Traum einer deutschen sozialistischen Republik verwirklicht zu haben, ließ sich diese Vision in der gesellschaftlichen Praxis auch in diesen Jahren nur mit gewissen Zwangsmaßnahmen durchführen. Schließlich war ihr Sozialismus, wie gesagt, nicht aus einer revolutionären Massenbewegung hervorgegangen, sondern durch die von den Nazifaschisten unentwegt verteufelte Sowjetunion erzwungen worden. Obendrein bewirkte die Wohlstandssteigerung der sechziger Jahre nicht nur Zustimmung, sondern führte zugleich zu liberalistischen Erwartungen, die sich gegen die von staatlicher Seite unternommenen Bemühungen wandten. Daher sah sich das Zentralkomitee der SED auf seinem 11. Plenum des Jahres 1965 sogar gezwungen, einige aufmüpfige Filme zu verbieten und auch einer Reihe von Schriftstellern, die wie Wolf Biermann darauf drangen, nicht nur das gesellschaftliche »Wir« zu akzentuieren, sondern auch dem persönlichkeitsbetonten »Ich« einen größeren Spielraum einzuräumen, mit Auftritts- oder Publikationsverboten entgegenzutreten. Diese starre Haltung änderte sich erst, als im Mai 1971 – wohl auf Druck der Sowjetunion – Walter Ulbricht als Erster Sekretär der SED zurücktreten mußte und Erich Honecker sein Nachfolger wurde. Nach diesem Regierungswechsel war in der SED -Führungsspitze von dem Anspruch, sowohl politisch als auch kulturell das »andere, bessere Deutschland« zu repräsentieren, kaum noch die Rede. Das hing zum Teil damit zusammen, daß in der BRD nach dem im Jahr 1969 erfolgten Regierungsantritt einer 263
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sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ein entschiedener Wandel in der außenpolitischen Einstellung der DDR gegenüber eingetreten war. Indem sich Brandt im Sinne seiner »konstruktiven Ostpolitik« zu »gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten« entschloß, wie es in dem im Dezember 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR hieß, wurde im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren die Gefahr einer möglichen militärischen Konfrontation zwischen den beiden deutschen Staaten plötzlich mehr oder minder belanglos, zumal auch die USA, England und Frankreich die DDR kurz danach als souveränen Staat anerkannten. Die durch diesen Vertrag ausgelösten politischen Reorientierungen machten es für Honecker zweifellos leichter, etwas »liberaler« aufzutreten als sein Vorgänger Ulbricht, der noch über ein Land regieren mußte, das im Westen als ein zu bekämpfender »Unrechtsstaat« galt. An ihn knüpften sich demzufolge selbst in den bis dahin unzufriedenen Bevölkerungsschichten der DDR durchaus einige Erwartungen, und zwar nicht nur in innenpolitischer, sondern auch in kultureller Hinsicht. Schließlich erklärte er schon kurz nach seinem Amtsantritt, daß es von nun an in jener DDR-Kunst, die von sozialistischen Positionen ausgehe, »keine Tabus mehr geben dürfe«. Und das führte dazu, daß plötzlich allerorten von der »Wiederentdeckung des Ichs im Überbau der Gesellschaft« die Rede war, statt wie bisher vornehmlich einen sozialistischen Gemeinschaftsgeist zu propagieren. Das belegen unter anderem Begriffe wie »Selbstverwirklichung«, »individuelle Handschrift« oder »künstlerische Eigenart«, die in den kulturtheoretischen Schriften der siebziger Jahre immer häufiger auftauchten, was in weiten Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in der DDR zwangsläufig zu einer merklichen Abschwächung vieler kollektivorientierter, jetzt als »schematisch« bezeichneter politischer und soziokultureller Normvorstellungen führte. In besonders eklatanter Form äußerte sich das in dem sich wandelnden Verhältnis zum bisher als maßstabsetzend ausgegebenen »Klassischen Kulturerbe der deutschen Nation«. Während in der Ulbricht-Ära in dieser Hinsicht noch unter Parolen wie »Haltet euch an Dürer«, »Bach kein Ende, sondern 264
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ein Anfang« oder »Vorwärts zu Goethe« die sogenannte Vollstreckerthese geherrscht hatte, daß heißt die Forderung, sich in der entstehenden DDRKunst so eng wie möglich an den Meisterleistungen der älteren deutschen Hochkulturperioden zu orientieren, wurden derartige Ansprüche jetzt zusehends zurückgeschraubt. Allerdings durfte der Verzicht auf solche Konzepte keine gegen die Führungsschichten der SED gerichteten Formen annehmen, wie der Fall Biermann im Jahr 1976 beweist. Jugendlicher Übermut wurde notfalls geduldet, aber keine Kritik am »demokratischen Zentralismus« der Partei, die als »Abirrung ins Anarchistische« verurteilt wurde. Was Honecker statt dessen befürwortete, war ein »real existierender Sozialismus«, kurzum: die Einsicht, sich erst einmal mit dem bisher Errungenen zufriedenzugeben, statt in utopischer Überspanntheit ständig neue Forderungen an den Staat zu stellen und damit lediglich die Unzufriedenheit innerhalb der sogenannten breiten Massen der Bevölkerung anzuschüren. Um 1980 sah demnach die Kulturszene in der DDR folgendermaßen aus. Einerseits wurde der bisherige Hochkulturbetrieb, der vor allem die klassischen Werke der Vergangenheit, aber auch zusehends einige zuvor verpönte Werke der »Moderne« favorisierte, weiterhin mit großzügig bereitgestellten staatlichen Mitteln gefördert. Da sich jedoch für diese Werke nach wie vor eher die gebildeten Schichten als die Mehrheit der kleineren Angestellten, Arbeiter und Bauern interessierten, sah die SED seit Anfang der siebziger Jahre andererseits ein, aus pragmatischen Gründen auch die verschiedenen Branchen der Popmusik sowie die Unterhaltungsprogramme der drei »großen F«, das heißt der Film-, Funk- und Fernsehproduktion stärker fördern zu müssen, um der werktätigen Bevölkerung in steigendem Maße mehr von dem zu bieten, womit sie sich sonst im Rahmen der Westmedien bedient hätte, in denen das »Klassische« schon seit längerem in den Hintergrund getreten war. Dementsprechend wurde auch in der DDR der zuvor von Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und vielen anderen älteren Genossen gehegte Traum von der »Erstürmung und Instandbesetzung der Höhen der Kultur« bzw. vom »Weg zu der einen großen, gebildeten Nation« oder gar der Anspruch, auch kulturell »das andere, bessere Deutschland« zu sein, 265
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zusehends als unrealistisch aufgegeben. Dafür spricht, daß die SED in der ostdeutschen Verfassung bereits Mitte der siebziger Jahre den Satz, daß die DDR der deutschen Nation den Weg in die Zukunft des Sozialismus und damit einer höhergearteten Kultur weisen solle, einfach ersatzlos strich. Und das wurde von weiten Schichten der DDR -Bevölkerung, die nicht mehr ständig mit allmählich immer unglaubwürdiger werdenden national gefärbten Hochkulturkonzepten konfrontiert werden wollten und sich, wie gesagt, nach harter Tagesarbeit nach leichter Unterhaltung sehnten, auch nachdrücklich begrüßt. Etwas genauer besehen, äußerte sich diese kulturelle Wende auf zweierlei Weise. Statt im Bereich einer höhergearteten Kultur nach wie vor an irgendwelchen auf die gesamte deutsche Nation bezogenen Ansprüchen festzuhalten, entschloß sich die SED-Führung fortan im Bereich der weiterhin geförderten E-Kultur lieber an die kulturellen Traditionen innerhalb der verschiedenen Teilgebiete ihrer Republik anzuknüpfen und nicht weiter – wegen der inzwischen weltweit akzeptierten Spaltung Deutschlands in zwei souveräne Staaten – eine als überholt empfundene gesamtdeutsche Ideologie zu propagieren. Während bisher in derartigen Diskursen meist Konzepte wie »Volk« oder »Nation« im Vordergrund gestanden hatten, wurden jetzt bei irgendwelchen kulturellen Funktionsbestimmungen eher regionale oder gar lokalpatriotische Vorstellungen herangezogen und wieder von Preußen, Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg gesprochen. Und das führte dazu, daß sogar bisher rein negativ gesehene Potentaten wie Friedrich II . von Preußen, August der Starke von Sachsen, ja selbst Otto von Bismarck im Schrifttum der DDR eine gewisse Renaissance erlebten. Doch das interessierte eher die Intellektuellen als die sogenannten Werktätigen innerhalb der DDR -Bevölkerung. Gut, die Schicht der an E-Kunst Interessierten war aufgrund der vielfältigen Bildungsbemühungen der SED inzwischen durchaus größer geworden. Aber auch sie wandte sich seit Mitte der siebziger Jahre auf kultureller Ebene zusehends von den als normativ hingestellten »klassischen« Modellen ab und begann eher Hochkulturwerke zu schätzen, in denen das Ichbetonte, das heißt der oft 266
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beschworene »Eigensinn«, als das zum kollektiven Handeln Anleitende im Vordergrund stand. Und sie setzte diesen Trend auch durch, indem sie darauf drang, in anspruchsvollen Romanen, Dramen oder auch Werken der bildenden Kunst nicht mehr ausschließlich den sozialtypologischen Modellen des Sozialistischen Realismus zu folgen, sondern sich auch mit jenen Werken zu beschäftigen, deren Protagonisten oder Protagonistinnen es – bei aller »progressiven« Gesinnung – auch um ihr Selbstsein, ihr persönliches Glück oder einzelpersönliche Leistungen geht, mit anderen Worten: die sich in ihren Handlungsweisen eher von liberalistischen als von gesamtgesellschaftlichen Motivationen einleiten lassen. Das war zwar zumeist, wie etwa in Christoph Heins Kurzroman Der fremde Freund (1982), nicht grundsätzlich systemkritisch gemeint, sondern sollte lediglich auf die inzwischen als unnötig empfundenen kollektiven Normvorstellungen hinweisen, führte aber letztendlich immer stärker zu einer Annäherung an den im Westen schon seit den fünfziger Jahren propagierten subjektiven Durchsetzungsdrang, den die Vielen auch im Osten zusehends als den wichtigsten Antriebsmotor menschlichen Handelns empfanden. Als daher Heiner Müllers Stück Die Bauern, in dem es um die mühsamen Anfänge der DDR geht, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre an der Ostberliner Volksbühne aufgeführt wurde, fragten einige der jungen Studenten der Humboldt-Universität in einem der anschließenden Foyergespräche den anwesenden Autor höchst gereizt, warum denn ein solches Stück heutzutage überhaupt noch aufgeführt werde. Es gehe doch allen Bürgern der DDR inzwischen »wesentlich besser«, erklärten sie. Ja, einige von ihnen sahen in dieser Inszenierung lediglich eine nachträgliche Rechtfertigung, wenn nicht gar einen Egoboost eines lange Zeit verbotenen Autors. Und Müller fiel darauf keine sinnvolle Antwort ein. Selbst als einer der Anwesenden darauf hinwies, daß man auch aus den Mühen und Kämpfen der Vergangenheit lernen könne, wurde ein solches Argument eher ungnädig als zustimmend aufgenommen. Vor allem unter den Jugendlichen dieses Staats war nämlich inzwischen sowohl in privater als auch in kultureller Hinsicht ein weitverbreiteter 267
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Gesinnungswandel eingetreten. Sie wollten sich nicht mehr an die ihnen von den älteren Genossen vorgehaltenen Tugenden der kollektiven Bescheidenheit halten, sondern im Zuge des allmählich steigenden Wohlstands jetzt auch all das haben, was ihnen die westlichen Medien auf höchst verlockende Weise vorgaukelten: ob nun Transistorradios, neuartige Kameras, als »Jugendklamotten« bezeichnete Blue jeans, Reisen in ihnen noch unbekannte Länder sowie besonders jene sie emotional anheizende angloamerikanische Beat- oder Rockmusik, die sie als das Nonplusultra einer als »fetzig« aufgefaßten Jugendkultur empfanden. Kein Wunder daher, daß die Westberliner Jugendmusiksendung »RIAS -Treffpunkt« unter den DDR Halbwüchsigen zeitweilig eine Einschaltquote von fast 90 Prozent erzielte. Einen ersten Erfolg in dieser Richtung hatte unter den jungen DDR Autoren im Jahr 1972 der bis dahin unbekannte Ulrich Plenzdorf mit seinem Roman Die neuen Leiden des jungen W., der zwar ursprünglich im Gefolge des Bitterfelder Wegs als ein proletarischer Werther angelegt war, den jedoch sein Autor – nach der von Erich Honecker verkündeten »Enttabuisierung« der Künste – in ein Werk umgemodelt hatte, das trotz seines unklaren Endes im Zeichen von Blue jeans und Rockmusik einer neuen Jugendkultur zum Durchbruch verhelfen sollte, statt die ostdeutschen Teenager weiterhin aufzufordern, lediglich den »ideologisch-einengenden« Vorgaben der Jungen Pioniere zu folgen. Danach war in diesem Bereich, mochten auch manche der älteren SEDKulturfunktionäre noch so empört sein, kein Halten mehr. Vor allem auf musikalischem Gebiet, wo sich Walter Ulbricht noch in den späten sechziger Jahren gegen eine Übernahme oder Nachahmung der westlichen Beatmusik ausgesprochen hatte, setzte in den mittsiebziger Jahren jener Siegeszug der aus dem Westen kommenden Rockmusik ein, die danach für die Mehrheit aller Jugendlichen dieses Staates zum Hauptunterhaltungsmedium wurde. Demzufolge gab es zu diesem Zeitpunkt in der DDR bereits 600.000 Tanzveranstaltungen pro Jahr, wo eine diskoähnliche »Westmusik« erklang. Um den steigenden Bedarf an solcher Musik zu befriedigen, formierten sich danach etwa 4500 Amateurkapellen, von denen die Rockbands Pankow, 268
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Abb. 43 Tamara Danz und Uwe Hassbecker von der Rockband »Silly« in dem DEFA-Dokumentarfilm »Flüstern und Schreien« (1988)
Babylon, Kleeblatt und Ich-Funktion sowie rockbeeinflußte Schlagergruppen wie Silly, Karat und Die Puhdys das meiste Aufsehen erregten und zum Teil schon in die staatlich-offizielle Musikindustrie einstiegen. All das wurde von den dortigen Teens und Twens als durchaus »super« oder »cool«, ja als Anschluß an die internationale Jugendkultur empfunden, während Hochkulturvertreter, wie Peter Hacks oder Heiner Müller, darin lediglich eine als »Second hand« empfundene Amerikanisierung sahen. Auch im Bereich der Kinoproduktion paßte sich die DDR in den siebziger und dann verstärkt in den achtziger Jahren immer stärker diesem Trend ins Unterhaltsame an, statt weiterhin das Historisch-Signifikante oder PolitischHeroische zu akzentuieren, wofür etwa der äußerst erfolgreiche Film Paul und Paula (1980) von Heiner Carow nach einem gleichnamigen Roman von Ulrich Plenzdorf spricht. Ja, selbst Konrad Wolf, der Bedeutsamste unter den 269
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DDR-Filmemachern, folgte – angesichts der entstehenden Jugendkultur in der DDR – in seinem Film Solo Sunny (1980) diesem Trend ins U-Kulturelle, in dem er das Schicksal einer jungen, durchaus ichbetonten Schlagersängerin thematisierte. Ja, wenn es an den vom »breiten Publikum«, wie es jetzt hieß, gewünschten Abenteuer-, Liebes- oder Musikfilmen mangelte, wurden solche aus den USA oder anderen westlichen Ländern eingeführt. Dennoch ging der Kinobesuch in diesem Zeitraum, wie in allen hochindustrialisierten Ländern, auch in der DDR drastisch zurück, da sich selbst dort das Fernsehen als das entscheidende Primärmedium durchsetzte. Schließlich hatte bereits in den frühen siebziger Jahren fast jeder DDR-Haushalt ein Fernsehgerät. Allerdings sahen viele DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen immer häufiger die Programme der westlichen TV-Anstalten, die ihnen nicht nur unterhaltsamer erschienen als DDR-Fernsehshows wie Achims Hitparade, Schlagerstudio oder Ein Kessel Buntes, sondern die ihnen zugleich Einblicke in eine Welt scheinbar grenzenloser Konsumfreudigkeit boten, von der sie sich immer noch ausgeschlossen fühlten. Durch diese kulturelle Neuorientierung setzten die enttabuisierenden Befürworter des real existierenden Sozialismus Honeckerscher Prägung mit all ihren Rockbands, Diskos, Lustspielfilmen und Intershops schließlich genau das in Gang, wogegen ihre Vorgänger im Politbüro und Zentralkomitee der SED lange Zeit erbittert angekämpft hatten, nämlich eine kulturelle und zugleich konsumbetonte Angleichung an den Westen. Und sie taten das, weil sie annahmen, daß die Westmächte durch die Zweistaatenregelung von 1972 an einer gewaltsamen Wiedervereinigung der BRD und der DDR nicht mehr interessiert seien. Doch darin sollten sie sich gründlich täuschen. Schließlich bemühten sich die USA unter ihrem Präsident Ronald Reagan schon in den frühen achtziger Jahren im Zuge eines frisch angeheizten Kalten Kriegs erneut darum, die UdSSR und ihre »Satellitenstaaten«, wie es hieß, durch eine gewaltig angekurbelte Hochrüstung in die Knie zu zwingen. Als daraufhin im Gegenzug zu derartigen Bemühungen die ersten ökonomischen Krisensymptome innerhalb des Ostblocks eintraten und sich 270
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Abb. 44 Menschenansammlung vor dem Brandenburger Tor am 10. November 1989
demzufolge auch die wirtschaftliche Lage in der DDR verschlechterte, drängte deshalb die Mehrheit der inzwischen ideologisch und kulturell weitgehend »verwestlichten« DDR-Bevölkerung im Herbst 1989 in wochenlangen Demonstrationen auf einen möglichst baldigen Anschluß an das Wirtschaftswunderland BRD. Es gab zwar zu diesem Zeitpunkt noch einige, meist ältere DDR-Intellektuelle und -Künstler, die diesem Anschlußverlangen entgegenzutreten versuchten. Aber dafür war es zu diesem Zeitpunkt, als am 9. November 1989 tausende von Ostberlinern die quer durch diese Stadt verlaufende Mauer durchbrachen, um endlich die konsumstrotzende KaDeWe-Welt in Augenschein zu nehmen, bereits zu spät.
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Die elitäre und die unterhaltsame Freizeitkultur der ehemaligen Bundesrepublik Daß es nach dem Beginn des Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR zu einer Teilung Deutschlands kommen würde, war geradezu unausweichlich. Den ersten Schritt in dieser Richtung unternahmen die drei Westmächte mit der im Juni 1948 in ihren Besatzungszonen und dem Westsektor Berlins durchgeführten Währungsreform, mit der sie ihrem politischen Einflußbereich die finanzielle Grundlage einer ökonomischen Aufwärtsentwicklung geben wollten, um ihn in ein möglichst widerstandsfähiges Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus umzuwandeln. Die Durchführung dieser Zielvorstellung übertrugen sie weitgehend Ludwig Erhard, dem amtierenden Vorsitzenden des trizonalen Wirtschaftsrats, der bereits 1947 gegen die Fortsetzung planwirtschaftlicher Maßnahmen oder gar die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum eingetreten war und statt dessen eine relativ freie Entfaltung kapitalistischer Privatinitiativen empfohlen hatte. Da der von ihm gutgeheißene Kurs in den Jahren 1947/48 mit dem Anlaufen des kreditträchtigen Marshallplans verbunden wurde, erwiesen sich seine Wirtschaftskonzepte als äußerst erfolgreich und verschafften den Vertretern antisozialistischer Ideologievorstellungen eine höchst günstige Ausgangsposition. Als daher Konrad Adenauer, der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union, am 12. September zum ersten Kanzler der am 23. Mai 1949 gegründeten westdeutschen Bundesrepublik gewählt wurde, ernannte er Erhard umgehend zu seinem Wirtschaftsminister, der nicht nur den bisherigen Preisstopp aufhob, sondern auch eine Steuerreform durchführte, die allen Bundesbürgern mit einem hohen Einkommen großzügige Abschreibungsvergünstigungen zugestand, um so die nötigen Investitionsanreize zu schaffen. Die hierdurch ermöglichte Produktionssteigerung wurde von Adenauer und Erhard weitgehend als ein Werk ihrer Partei herausgestrichen. Voller 273
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Stolz wiesen sie deshalb in der Folgezeit immer wieder darauf hin, daß die westdeutsche Industrieproduktivität von 1950 bis 1960 um 164 Prozent angestiegen sei und daher die BRD seit 1957/58 in ganz Westeuropa als das ökonomisch stärkste Land bewundert werde. Ja, Erhard wurde als Symbolfigur dieses Aufschwungs allgemein als »Mister Wirtschaftswunder« apostrophiert. Und so konnte die CDU bei den Bundestagswahlen von 1957, was ihr danach nie wieder gelang, die absolute Mehrheit erringen. Die Ideologie, die sie aufgrund dieser Erfolgsstory entwickelte, beruhte auf zwei Zielvorstellungen. Die eine wurde von den Neokonservativen um Adenauer, die andere von den Neoliberalen um Erhard unterstützt. Die Neokonservativen beriefen sich bei ihren Westintegrationskonzepten und ihrem Antikommunismus vornehmlich auf traditionelle, meist christkatholische Wertvorstelllungen, wobei sie ihre »Politik der Stärke« gegen den »gefährlich dräuenden Ostblock« gern mit abendländisch-missionarischen Anschauungen zu verbrämen suchten. Die Neoliberalen begnügten sich dagegen eher damit, dem Kommunismus mit »vollen Schaufenstern« entgegenzutreten, was sie – im Hinblick auf die ostdeutsche Bevölkerung – für wesentlich effektiver hielten als irgendwelche überspannten politischen oder gesellschaftlichen Alternativvorstellungen. Und wegen der raschen Ankurbelung der wirtschaftlichen Expansionsrate erwies sich diese Taktik als wesentlich erfolgreicher. Deshalb propagierten die Neoliberalen schon Mitte der fünfziger Jahre ständig die These, daß man in der BRD bereits einen »Wohlstand für alle« erreicht habe, durch den in diesem Staat eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« entstanden sei, in der es weder fürstlich auftretende Superreiche noch am Hungertuch nagende Proleten mehr gebe. In einem solchen System, behaupteten sie, könne man deshalb in Zukunft getrost auf alle weltverändernden Ideologien verzichten. In den systemkonformen Schriften dieser Jahre nahm daher das Bild der BRD immer stärker den Charakter einer lediglich konsumorientierten Freizeitgesellschaft ein. Statt weiterhin auf weltanschauliche Probleme einzugehen, erschienen demzufolge in vielen Zeitschriften dieser Jahre, wie etwa in Magnum, vor allem Artikel mit wirtschaftswunderlichen Titeln 274
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Abb. 45 Ludwig Erhard betrachtet sein eben erschienenes Buch »Wohlstand für Alle« (1957)
wie Die Welt wird wieder heiter, in denen erklärt wurde, daß man keine sozioökonomischen Reformkonzepte mehr brauche, da durch die neuen Technologien die »harte Fron« der Arbeitswelt weitgehend aufgehört habe sowie durch die Vermehrung der Freizeit eine für alle Menschen »erweiterte Lebensbereicherung« eingetreten sei. Und zwar wurde das meist mit optimistisch stimmenden Slogans wie »Schöner leben«, »Schöner wohnen« oder »Schöner speisen« untermauert, wie es in dem seit Oktober 1955 erscheinenden Blatt Das Schönste hieß, um darauf hinzuweisen, daß das inzwischen eingetretene Wirtschaftswunder »unzähligen Zeitgenossen eine Fülle neuer Glücksmomente« ermöglicht habe. Wie zu erwarten, wandelten sich dadurch auch die Kulturvorstellungen der gesellschaftlichen Oberschichten dieses Staats. Während kurz nach 1945 den auf eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bedachten Anhängern des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands selbst 275
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in den Westzonen noch das anspruchsvolle Konzept einer »hohen Kultur für jedermann« vorgeschwebt hatte, traten in der BRD der fünfziger Jahre alle national gefärbten oder sozialverantwortlichen Forderungen innerhalb der sich in mehrere Teilkulturen aufsplitternden Arbeits- und Freizeitwelt zusehends in den Hintergrund. Im Gegensatz zu den Neokonservativen, die im Bereich der Hochkultur zu Anfang vor allem christlich-abendländische Kulturvorstellungen befürworteten, propagierten die Neoliberalen im Hinblick auf die kunstinteressierte Oberschicht eher einen forciert elitären Modernismus oder unterstützten in kultureller Hinsicht eine profiteinträgliche ökonomische Freizügigkeit, was zwangsläufig zu einer rapiden Ausbreitung jener trivialen Massenmedien führte, die den gesellschaftlichen Unterschichten – nach getaner Arbeit – wiederum jene ablenkende Zerstreuung boten, die ihnen schon die Unterhaltungsindustrie der Weimarer Republik und des Dritten Reichs geliefert hatte. Der neokonservative Stellvertretungsanspruch in Sachen »Kultur« stand daher in Westdeutschland schon in den fünfziger Jahren von vornherein unter einem ungünstigen Stern und wurde angesichts der sich schnell verändernden Marktbedingungen allmählich immer anachronistischer. Dennoch versuchte die bildungsbürgerlich eingestellte Oberschicht so lange wie möglich, an den bisherigen Formen der älteren Hochkultur festzuhalten, wobei sie sich entweder auf religiöse, abendländisch-humanistische, existentialistische oder gutbürgerliche Traditionen berief. Dafür sprechen unter anderem Zeitschriften wie Sammlung, Besinnung, Universitas, Hochland, Eckart sowie Welt und Wort, hinter denen – bei aller ideologischen Verschiedenheit – stets die gleiche konservative Vorstellung einer angeblich »ewigen Wiederkehr des Immergleichen« stand. Als wahrhaft bedeutungsvoll empfand demzufolge diese Schicht – in Anlehnung an Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte (1948) – im Bereich der Kultur lediglich die Kunst der Antike, des Mittelalters, des Barock sowie der klassisch-romantischen Ära, also eine Kunst, welche die »unvergänglichen Werte« akzentuiere. Die gesellschaftliche Trägerschicht dieser kulturkonservativen Gesinnung umfaßte in den fünfziger Jahren kaum mehr als ein Prozent der 276
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westdeutschen Bevölkerung. Ihre Mehrheit stammte aus jenem Bereich der inneren Emigration, in dem kulturell entweder ein traditionsbewußter Klassikkult oder ein ethisch-metaphysischer »Dienst am Sein« im Sinne Martins Heideggers geherrscht hatte. Auf dem Gebiet der Malerei lehnten die Vertreter dieser Einstellung anfangs fast die gesamte modernistische Gegenwartskunst ab und ließen auch in der Kunst der Vergangenheit nur das gelten, was sich durch einen edlen oder hoheitsvollen Charakter ausgezeichnet habe. Die gleiche Haltung bezogen sie gegenüber der als »klassisch« bezeichneten Musik, die all das enthalte, was ihnen selbst die meisten traditionsbewußten Gegenwartskomponisten nur in verstümmelter Form böten, nämlich harmonische Tonalität, melodische Beseeltheit und klanglichen Schmelz. Auf literarischem Gebiet bevorzugten sie neben den altbewährten »Klassikern« als theoretische Grundlagen ihrer Anschauungen vor allem Sammelbände wie Dichtung und Dasein (1950) von Hans Hennecke sowie Der unbehauste Mensch (1951) von Hans Egon Holthusen, die sich in bewußt »nachrevolutionärer«, sprich: antilinker Absicht zu den Autoren der inneren Emigration, aber auch zu Dichtern wie Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke oder Thomas Stearns Eliot bekannten. Noch näher war ihnen jener Ernst Jünger, dessen Publikationen in den fünfziger Jahren geradezu alles enthielten, was diese Schicht zutiefst ansprach: eine konservative Grundgesinnung, ein enormes Bildungsbewußtsein, das in seiner ideologischen Orientiertheit auf das »Abendländische« nicht nur die Werke der Antike, sondern auch die Kulturleistungen des Christentums hochzuhalten versuchte und zugleich ein ins Arrogante überhöhtes Standesbewußtsein demonstrierte, welches in seiner Massenverachtung eindeutig geistelitäre Züge aufwies. Im Gegensatz zu den Neokonservativen beschworen dagegen die hochkulturell interessierten Neoliberalen weniger eine bessere Vergangenheit als eine bessere Zukunft. Allerdings lehnten auch sie alle ins gesellschaftlich Progressive tendierenden Perspektiven von vornherein als »totalitaristisch« ab und zogen sich statt dessen weitgehend in den Bereich einer forcierten Subjektivität zurück. Auf ästhetischem Gebiet stützten sie sich dabei fast 277
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durchgehend auf die Vorstellung einer zutiefst »autonomen« Kunst, die lediglich um ihrer selbst willen geschaffen werde. Auch sie waren daher ebenso massenfeindlich eingestellt wie die Neokonservativen. Statt sich für eine »hohe Kunst für jedermann« einzusetzen, vertraten sie weitgehend das Prinzip einer »modernistisch-elitären Kunst gegen jedermann« und trieben damit die altbürgerliche Vorstellung, daß sich die Kunst im Zeichen eines »interesselosen Wohlgefallens« von jeder außerkünstlerischen Bevormundung freimachen solle, bis zu ihren letzten Konsequenzen. Im Gefolge solcher Anschauungen wandten sich fast alle Vertreter dieses elitären Modernismus von vornherein gegen sämtliche künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die ins Nationale, Religiöse oder gar Gesamtgesellschaftliche tendierten und bevorzugten statt dessen eher das, was sie als exquisit, hermetisch, esoterisch, absurd, formalistisch, bizarr oder grotesk empfanden. Die von ihnen favorisierten Kunstformen waren daher durchweg gegenstandslose Gemälde, kinetische Drahtplastiken, zwölftönige oder serielle Kompositionen, absolute Gedichte, absurde Theaterstücke sowie lettristische Prosaexperimente, die sich lediglich an einen begrenzten Liebhaberkreis wandten. Realistische Bilder, viersätzige Symphonien oder durchgehend erzählte Romane lehnten dagegen derartige Künstler oder Kulturtheoretiker wegen ihrer Bezogenheit auf ein größeres Publikum von vornherein ab. Auch die Befürworter oder Interessenten dieser Art von Kunst unter den westdeutschen Bildungsbürgern dürften in den fünfziger Jahren die Einprozentgrenze kaum überschritten haben. Doch dieser Prozentsatz genügte, um dieser Kunst in den meinungsbildenden Zeitschriften des Neoliberalismus eine einflußreiche Rolle zu sichern. Demzufolge etablierte sich die modernistisch-elitäre Kunst um 1955 in der Bundesrepublik als eine Art offizieller oder zumindest offiziöser »In-Kunst«, die von der auf sie schwörenden kulturellen Trägerschicht und den hinter ihr stehenden Organisationen als oberster Maßstab einer subjektivitätsbetonten und damit wahrhaft »freiheitlichen« Gesinnung ausgegeben wurde, welche sich – im Gegensatz zu der im Osten praktizierten Kunstdiktatur der SED – keinerlei staatsmonopolitischen Direktiven zu unterwerfen brauche. 278
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Am deutlichsten läßt sich das im Bereich der Malerei verfolgen, wo sich die ins Gegenstandslose oder Abstrakte tendierende »westliche« Moderne – unterstützt von den führenden Galerien, Kunstzeitschriften, Ausstellungsgremien und Industrieverbänden – geradezu flächendeckend ausbreitete. Eins der wichtigsten Signale in dieser Richtung war die erste Kasseler Documenta im Jahr 1955, die von der Gesellschaft für abendländische Kunst arrangiert wurde und sich in ihrer Bevorzugung abstrakter Kunst als Gegendarstellung zum Sozialistischen Realismus jenseits der Zonengrenze ausgab. Statt auf die »Sirenenklänge der Massenbeglückung« von seiten der Kommunisten zu hören, schrieb Werner Haftmann in seiner Katalogeinleitung, stelle diese Bilderschau eine Rückkehr zum »modernen europäischen Geist« dar, der vor allem auf der unbegrenzten Freiheit des Individuums beruhe. Allerdings sprachen solche Äußerungen damals nicht einmal die Hälfte jener 0,13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung an, welche diese Ausstellung besuchten. Ja, selbst die zweite Documenta von 1959, die von den Propagandisten der elitär-abstrakten Richtung als Endsieg der totalen Gegenstandslosigkeit gefeiert wurde, ließ die meisten Besucher eher kalt. Schließlich waren hier fast ausnahmslos Bilder jener tachistisch-informell verfahrenden Künstler zu sehen, die sich beim Malen angeblich nur ihrer ureigensten psychischen Motorik hingegeben hätten, um so jede gesellschaftsbedingte Außendeterminiertheit, wie es in diesem Umkreis meist hieß, von sich abzuwehren. Doch das goutierten nur die sich von vornherein als elitär empfindenden Außenseiter, während die anderen zwangsläufig leer ausgingen. Die gleichen Reaktionen erfolgten auf die modernistische E-Musik dieser Jahre. Auch hier gab es eine kleine Clique sich als maßstabsetzend verstehender Modernismustheoretiker, die, wie Theodor W. Adorno, alle Formen einer eingängig klingenden und damit massenzugewandten Musik schärfstens verurteilten und im Zuge einer antiöstlichen Orientierung nur den dissonant verrätselten Ausdruck der totalen Vereinzelung gelten ließen. Und zwar beriefen sich er und andere dabei meist auf die Wiener Dodekaphonisten, zuerst auf Arnold Schönberg und dann auf Anton Webern, deren Werke als besonders esoterisch galten. Und manche der jüngeren Komponisten, 279
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wie Wolfgang Fortner und Karlheinz Stockhausen, schlossen sich solchen Parolen sogar an. Gespielt wurden ihre Werke jedoch nur bei den wenig beachteten Darmstädter Ferienkursen, den Donaueschinger Festtagen für zeitgenössische Musik, vereinzelten Musica-viva-Konzerten oder von den Nachtstudios einiger Rundfunkanstalten, also für jene kleine Schicht von Modernismusfanatikern, die sich dafür vorübergehend begeistern ließen. Doch ihre Außenseiterposition störte sie keineswegs. Im Gegenteil, sie fühlten sich dadurch eher bestärkt, zu den wahren Kennern unter den Wenigen zu gehören. So schrieb etwa der BRD-Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt 1957, »daß es für die Beurteilung des Wertes einer Musik völlig belanglos sei, ob die betreffende Manifestation zu zwölf Menschen, zu 12.000 oder zu zwölf Millionen, das heißt zu einer Gemeinde von Jüngern, zu einem großstädtischen Opernpublikum oder zu den Liebhabern des letzten Schlagers« spreche. Und er folgerte daraus, daß sich die in die Geheimnisse der »Neuen Musik« eingeweihten Eliten lieber in »elfenbeinerne Türme« zurückziehen sollten, als auf die Interessen der breiten Massen einzugehen. Ja, Adorno erklärte sogar noch snobistischer, daß man die besten Werke der modernistischen Musik nicht hören, sondern lesen solle. Nicht ganz so kraß äußerte sich dieser Rückzug ins Esoterische im Bereich der Literatur der fünfziger Jahre. Schließlich ließ sich diese Kunstform – schon durch ihre Bindung an das auch im Alltag gesprochene Wort – nicht so stark ins Gegenstandslose oder Nichtmimetische abstrahieren wie die visuellen oder akustischen Ausdrucksformen der Malerei und der Musik. Trotz einiger Abstecher ins Absurde oder Lettristische blieb daher im Bereich des Literarischen auch in diesem Zeitraum, wie in den Werken von Heinrich Böll, Günter Grass, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt und Martin Walser, ein gewisser »Realismus«, ja sogar ein gesellschaftskritischer Ton durchaus erhalten. Allerdings erreichten selbst die Romane dieser Autoren nicht die erwarteten Vielen, sondern nur die herkömmliche Schicht des Bildungsbürgertums. Schließlich besaßen um 1960 – demographischen Umfragen zufolge – über 50 Prozent der Erwachsenen in der BRD noch kein oder nur ein Buch. Dazu kam die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Fernsehsucht, 280
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Abb. 46 Schallplattenhülle mit Peter Alexander (1962)
die zu einem merklichen Anwachsen von Nichtlesern, wenn nicht gar zu einem »sekundären Analphabetismus« führte. Schichtenspezifisch gesehen, blieben also – von einigen literarischen Bestsellern einmal abgesehen – sowohl die humanistisch oder religiös orientierten Kunstformen des Neokonservativismus als auch die modernistisch-elitären des Neoliberalismus, wie schon in der Weimarer Republik, weiterhin Randphänomene. Die überwältigende Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung befriedigte auch in diesen Jahren ihre Kulturbedürfnisse vor allem im Bereich jener Unterhaltungs- oder U-Kultur, welche sich in 281
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der Wirtschaftswunderwelt der fünfziger Jahre so rasant ausbreitete, daß die gesellschaftlichen Unterschichten die anspruchsvollen Gattungen der höheren Kultur, sprich: E-Kultur, kaum noch wahrnahmen. Statt sich in ihrer Freizeit mit irgendwelchen Klassikern auseinanderzusetzen oder ein Interesse für modernistische Bizarrerien aufzubringen, erwartete sie in der Mittagspause, des Abends oder an Wochenenden lediglich eine möglichst anspruchslose Ablenkung von ihrer alltäglichen Arbeitsroutine. Während also die gebildeten und zugleich wohlausgeruhten »Bürger« zu ihrer kulturellen Erbauung entweder das Tiefempfundene, gesellschaftlich Repräsentative oder das Modernistisch-Interessante, das heißt die sogenannte Opus-Musik, die anspruchsvollen Romane, die beseelte Intimität eines Kammermusikkonzerts, einen würdevollen Theaterbesuch oder eine Ausstellung abstrakter Malerei bevorzugten, ergötzten sich schon in den fünfziger Jahren über 95 Prozent der westdeutschen Bevölkerung fast ausschließlich mit unterhaltsamen Hitparaden, Fernsehsendungen, Preisausschreiben, Horoskopen, Kreuzworträtseln, Sportberichten, Krimis, Quizprogrammen, Illustrierten wie Brigitte, Quick oder Stern, Heimatfilmen wie Das Schwarzwaldmädel und Der Förster vom Silberwald, Comic strips wie Nick Knatterton, der Bild-Zeitung, den in reißerischer Aufmachung erscheinenden Wochenzeitschriften der »Regenbogenpresse«, Radioprogrammblätter wie Hör zu, Schlagern wie »Wer hat so viel Pinke-Pinke, wer hat so viel Geld« oder jenen für wenige Groschen erhältlichen Heftchenromanen, von denen 1957 bereits über eine Million Exemplare pro Woche verkauft wurden. Während man also bis 1955 noch zum Teil von einem konkurrierenden Nebeneinander höherer und niederer Kulturkonzepte sprechen kann, traten danach die technisch immer perfekter werdenden Massenmedien so stark in den Vordergrund, daß es zu einer unaufhaltsamen Auszehrung des älteren bildungsbürgerlichen Stellvertretungsanspruchs in Sachen »Kultur« kam. Nicht nur die sogenannten breiten Massen der Arbeiter und Angestellten, auch immer mehr Beamte, Angehörige der Managerschichten oder Vertreter selbständiger Berufe ließen sich darauf in ihrer Freizeit zusehends in den Sog der immer weitere Bereiche des Lebens durchdringenden Medienkultur 282
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hineinziehen. Lediglich die »intellektuell« Gesinnten unter den Akademikern, geisteswissenschaftlichen Studenten sowie Ehefrauen der wohlhabenden Schichten versuchten weiterhin an gewissen Teilbereichen der älteren Kulturformen festzuhalten. Doch selbst sie konnten sich im Laufe der Jahre den stimulierenden Reizen des Massenmedienbetriebs nicht völlig entziehen und begannen, die ältere Hochkultur der Symphoniekonzerte, der Theater- und Opernaufführungen bzw. der Documenta-Kunst, die wegen ihrer ideologischen Funktionslosigkeit immer uninteressanter wurden, als spannungslos oder gar langweilig zu empfinden. Und so nahmen an der sogenannten Ernsten- oder E-Kultur schließlich nur noch jene zwei Prozent der westdeutschen Bevölkerung teil, die wegen ihres anerzogenen Hangs zur Verinnerlichung im Überhandnehmen der Massenmedien lediglich einen beschämenden Sieg der alles »Höhere« zerstörenden Unterhaltungs- oder U-Kultur sahen. Eine neue Funktionsbestimmung innerhalb der höheren Kulturbemühungen setzte in der BRD erst in den frühen sechziger Jahren ein, als sich bei den anstehenden Bundestagswahlen der Sozialdemokrat Willy Brandt als Kanzlerkandidat aufstellen ließ. Seine wichtigste Wahlparole war der Slogan »Mehr Demokratie wagen«, mit dem er sich gegen jene konservativautoritäre Politik der »einsamen Entschlüsse« wandte, die in der langanhaltenden Adenauer-Ära geherrscht hatte. Und das beflügelte eine Reihe jüngerer Intellektueller in der Hoffnung, daß nun ein neuer Kurs in Politik und Kultur einsetzen würde. Ihre Statements erschienen vor allem in Zeitschriften wie Konkret, Argument und Tendenzen, aber auch im Spiegel und in der Frankfurter Rundschau. In ihnen wandten sie sich sowohl gegen den Adenauerschen Autokratismus als auch die Erhardsche Wirtschaftswundermentalität, die bei den meisten westdeutschen Bürgern zu jener auf lethargischen Konsensusvorstellungen beruhenden Gesinnung geführt hätten, alle ideologischen Entscheidungen »denen da oben in Bonn« zu überlassen. Neben dem Jerusalemer Eichmann-Prozeß (1961), dem eigenmächtigen Vorgehen von Franz Joseph Strauß in der Spiegel-Affäre (1962) und dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963) trugen zu dieser ideologischen 283
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Neubesinnung auch linksliberale Publikationen, wie der von Martin Walser herausgegebene Sammelband Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? (1961) sowie Bücher wie Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) von Jürgen Habermas, Die deutsche Bildungskatastrophe (1964) von Georg Picht sowie Die Unfähigkeit zu trauern (1967) von Alexander und M argarete Mitscherlich bei, denen weitgehend die Zielvorstellung einer durch Kritik, Erziehung und wissenschaftliche Analyse zu erreichenden »Mündigkeit« der einzelnen Bundesbürger innerhalb einer wahrhaft »demokratischen« Gesellschaft zugrunde lag. Ebenso engagiert gaben sich manche kulturtheoretischen Schriften dieser Gruppen. Im Bereich der E-Kultur äußerte sich dieser linksliberale Trend vornehmlich in einer immer dringlicher werdenden Kritik an jenen sich bewußt hermetisch gebenden modernistischen Tendenzen, die in ihrer Echauffiertheit für elitäre Kunstformen im Rahmen des absurden Theaters, der lettristischen Lyrik, der seriellen Musik oder der tachistisch-informellen Malerei, die für breite Schichten der westdeutschen Bevölkerung überhaupt keine gesellschaftsbezogene Relevanz besäßen. Noch schärfer nahmen einige Vertreter dieser Richtung die manipulativ-dirigistischen Tendenzen in den Massenmedien aufs Korn. Was sie auf diesem Gebiet besonders verurteilten, war die wachsende Machtkonzentration innerhalb weniger Hände, welche die für eine wohlfunktionierende Demokratie erforderliche »kritische Öffentlichkeit« immer stärker in Frage stelle. Besonders energisch zogen sie gegen die vom Springer-Konzern herausgegebene Bild-Zeitung zu Felde, die im Dienste des politischen und wirtschaftlichen Establishments alle wahrhaften Demokraten als Unruhestifter oder Extremisten anprangere und durch ihre ständig anwachsende Auflagenhöhe zu einer ideologischen Gleichschaltung der sogenannten breiten Massen beitrage. Die gleiche Funktion, erklärten sie, hätte die immer mächtiger anschwellende Heftchenliteratur, die sich in Form möglichst eingängig geschriebener Lore-, Heimat-, Landser-, Adels- und Arztromane aller Mittel reaktionärer Freund-FeindVorstellungen, geschlechtsspezifischer Rollenklischees und eingerasteter ideologischer Vorurteile bediene, um so die von ihnen geschilderte Welt 284
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als eine letztlich konstante hinzustellen, an der sich auch mit dem besten Willen nichts verändern lasse. So viel zur Kritik der Linksliberalen an den einerseits ins Elitär-Modernistische, andererseits ins Manipulativ-Vermassende zielenden Tendenzen innerhalb des in das kleine E und das große U gespaltenen bundesrepublikanischen Kulturangebots der fünfziger Jahre. Was sie dieser als »pluralistisch« ausgegebenen, aber zutiefst undemokratischen Aufspaltung als neues positives Leitbild entgegenstellten, war eine alle Bürger dieses Staats ideologisch aufklärende und zugleich verständliche Form öffentlicher Bewußtseinsbildung, die letztendlich auf eine A- oder Allgemeinkultur hinauslaufen würde. Sie verwarfen deshalb sowohl alle reaktionären Romantizismen und formalistischen Spielereien als auch alle marktgängigen Trivialitäten und forderten einen »Realismus«, der sich als eine Form des unmittelbaren »Eingreifens« verstehen würde. Kunst, erklärten sie, solle endlich wieder präzis, nachprüfbar, dokumentarisch, reflexionsanregend, mit einem Wort: allgemeinverständlich werden, statt weiterhin ins Elitäre, wenn nicht gar Esoterische auszuweichen oder in bewußt trivialisierten Formen die gesellschaftspolitische Apathie, wenn nicht gar Verdummung der breiten Massen zu befördern. Die Folgen dieser Forderungen sind bekannt. Während bis dahin – im Hinblick auf die höheren Künste – vornehmlich die klassisch-romantischen, religiös-existentialistischen sowie formalistisch-modernistischen Traditionen als vorbildlich gegolten hatten, war jetzt in vielen Schriften dieser Richtung wieder von den lange Zeit weitgehend unterdrückten gesellschaftskritischen Aspekten in den Werken der Jakobiner, Jungdeutschen, Vormärzler und Naturalisten sowie der Linksliberalen der Weimarer Republik und der antifaschistischen Künstler der Exilperiode zwischen 1933 und 1945 die Rede, die als Leitbilder einer neuen aufklärerisch-engagierten Kunst hingestellt wurden, von der man sich wegen ihrer ins Tagespolitische zielenden Wirklichkeitsnähe eine möglichst breitgefächerte Wirkung versprach. Dafür sprechen sowohl Dramen wie Der Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth, Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss und Joel Brand. Die 285
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Geschichte eines Geschäfts (1965) von Heinar Kipphardt, in denen es um die bisher weitgehend unbewältigte Nazivergangenheit ging, als auch mehrere Stücke von Franz Xaver Kroetz und Martin Walser, die sich mit den sozialen Mißständen in der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderwelt auseinandersetzten. Die gleiche Tendenz lag Novellen und Romanen wie Katz und Maus (1961) von Günter Grass und Ansichten eines Clowns (1962) von Heinrich Böll zugrunde. Und auch die 1961 von Fritz Hüser gegründete Gruppe Dortmunder Arbeiterschriftsteller, aus der kurz darauf Günter Wallraff hervorging, stellte sich in den Dienst dieser Bemühungen. In der bildenden Kunst waren es vor allem die Mitglieder der Malergruppen Junge Realisten und Zebra, die Beiträger der linkskritischen Zeitschrift Tendenzen sowie Fotomonteure wie Klaus Staeck und Graphiker wie Michael Mathias Prechtl, die für derartige Anschauungen eintraten. Ja, selbst im Bereich der Filmproduktion, wo in den fünfziger Jahren fast ausschließlich das Heimatliche, Lustspielhafte oder Adelsverklärende vorgeherrscht hatte, verfaßten 1962 in der Ruhrgebietsmetropole Oberhausen 25 junge Filmemacher und Schauspieler, darunter Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Ulrich Schamoni und Volker Schlöndorf, unter dem Motto »Der alte Film ist tot« ein Manifest, in dem sie sich verpflichteten, von nun an vor allem tagespolitische Filme mit gesellschaftskritischer Tendenz zu drehen. Derartige Bemühungen spielten zwar in jenen Sparten des westdeutschen Kultur- und Medienbetriebs, die sich an ein kritikfähiges Publikum wandten, in den mittsechziger Jahren eine wichtige Rolle, wurden aber von der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung kaum wahrgenommen. Die Chance zu einer allgemeinen Aufklärungs- und Streitkultur ergab sich erst, als 1966/67 die erste wirtschaftliche Depression in der BRD einsetzte, was aufgrund der dadurch ausgelösten Krisensituation zu einer Großen Koalition der bis dahin miteinander verfeindeten CDU /CSU und SPD führte. Im Gegenzug dazu schlossen sich daraufhin viele Linksliberale, die zuvor mit der SPD sympathisiert hatten, der 1968 entstehenden Außerparlamentarischen Opposition, kurz: APO , an, was eine merkliche Radikalisierung ihrer politischen und kulturellen Ansichten bewirkte. 286
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Während die bisherigen Vertreter dieser Gruppen bei ihren Demokratisierungskonzepten eher den bürgerlichen Mittelstand ins Auge gefaßt hatten, versuchten manche der frühen APO -Anhänger vor allem die ideologisch eingelullten bundesrepublikanischen Arbeiter für ihre auf älteren Unterklassengesinnungen basierenden Kulturvorstellungen zu gewinnen. Statt sich vornehmlich an die Reformwilligen unter den Intellektuellen zu wenden, ging es ihnen zusehends um eine sich als antibürgerlich ausgebende »proletarische Gegenkultur«. Als vorbildlich hierfür empfanden sie dabei die Lehrstücke Bertolt Brechts, die Fotomontagen John Heartfields, die Bilder der ASSO -Maler, die Roten Eine-Mark-Romane von Willi Bredel und Klaus Neukrantz sowie die aggressive Kampfmusik Hanns Eislers, wofür sich besonders – neben linken Studenten – der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, das Westberliner Gripstheater, das Reichskabarett, die Liedermacher Franz Josef Degenhardt und Peter Rohland, das Linksradikale Blasorchester in Frankfurt, das Grubenklangorchester in Essen sowie das geradezu revolutionär gesinnte Ensemble Floh de Cologne einsetzten, das bei seinen Auftritten vor Arbeitern und Lehrlingen in aller Offenheit die »Aasgeier des Kapitalismus« angriff. Ihren Höhepunkt erlebte diese »linke Welle« in den Jahren zwischen 1969 und 1972/73. Daß sie danach relativ schnell abflaute, hängt vor allem damit zusammen, daß sich die von diesen Gruppen umworbenen Arbeiterschichten – durch die sich seit Mitte der fünfziger Jahre wesentlich verbesserten Lohnverhältnisse und die sich daraus ergebende Befriedigung vieler Konsumbedürfnisse – bereits in einem Prozeß der Verkleinbürgerlichung befanden, der sie gegen die Vorstellung einer proletarischen Gegenkultur mehr oder minder immun machte. Deshalb erwiesen sich die von linken Kulturtheoretikern wie Wolfgang Fritz Haug, Richard Hiepe oder Oskar Negt erhofften »Wirkungen in der Praxis«, für die sich auch Blätter wie Unsere Zeitung, Kürbiskern, Kultur und Gesellschaft, Tendenzen, Konkret und Argument stark zu machen versuchten, als unwirksam. Und so blieb von dieser Bewegung schon kurz danach nur ein kleines Häuflein Unentwegter übrig, da sich die meisten ihrer Vertreter von der Arbeiterklasse »im Stich 287
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Abb. 47 Anonymes Plakat (1969)
gelassen« fühlten, ja ihnen die SPD obendrein mit Radikalenerlassen und Berufsverboten entgegentrat. Dagegen war der sogenannten »Kulturrevolution« mancher mit der APO sympathisierenden Studentengruppen, die sich dieser Bewegung eher aus antiautoritärem Protest gegen die hierarchisch erstarrte Bürgerwelt als 288
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aufgrund einer sozial verantwortlichen Gesinnung angeschlossen hatten, durchaus eine beachtliche Wirkung beschieden. Schichtenspezifisch gesehen, handelte es sich dabei meist um die Söhne und Töchter jener wirtschaftswunderlichen Wohlstandsklasse, welche nicht die eigene ökonomische Notsituation zu einem aufrührerischen Handeln angetrieben hatte, sondern die sich lediglich »freier« ausleben wollten. Sie griffen zwar auch einige linke oder linksliberale Slogans auf, rebellierten aber in erster Linie vor allem gegen jene als »stressig« hingestellten Lebensformen, für die sie die Kurzformel »autoritär« gebrauchten. Statt dessen traten sie für alles ein, was sie als locker, lustvoll und damit im weitesten Sinne als »antiautoritär« empfanden. Im Gefolge der von Herbert Marcuse propagierten Randgruppenstrategie wollten sie das herrschende Establishment nicht im Sinne der basisbezogenen Gruppen gewaltsam »umstürzen«, sondern es mit jugendlichem Übermut lediglich »auf die Palme« bringen. Dafür finden sich in ihren anarcho-kulturellen Kunsttheorien mannigfache Belege. Zu Anfang erklärten die Vertreter dieser Richtung erst einmal, Kunst sei bürgerlich, sei affirmativ, sei »ein alter Hut« und »gehöre demnach abgeschafft«, wie es 1968 im 15. Kursbuch hieß. Neben den basisbezogenen Gruppen traten daher schon kurz danach auch unzählige Rocker, Alternative, Kommunarden, Chaoten und andere »Provotarier« auf, die sich weitgehend an der anglo-amerikanischen Underground-Szene orientierten und für die lustvoll unverklemmten Vorzüge einer Rock-‘n’-Roll- & Dope-Kultur zu schwärmen begannen. Über den »blutlosen Begriffsfetischismus« der theorieüberfrachteten Traktate der Linken wurde deshalb in ihren Reihen meist nur gelächelt. Sie bemühten sich nicht um Kunst und Kultur, was sie für »reaktionär« hielten, sondern lediglich um ein radikal anderes Lebensgefühl. Eine besonders aufputschende Rolle spielte dabei, wie gesagt, die Rockmusik, die seit den späten sechziger Jahren nicht nur studentische Gruppen, sondern zugleich immer mehr Jugendliche aus allen Gesellschaftschichten in ihren Bann zog, die oft zu tausenden mit Schlafsäcken, Joints und Parkas zu jenen Open-air-Festivals angereist kamen, wo sie sich à la Woodstock durch Mammut-Rock-Shows »in Fahrt« bringen ließen und sich als Angehörige 289
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Abb. 48 Rudolf Schenker von der Hard Rock Group »Scorpions« (1984)
einer weltweiten Jugendbewegung empfanden. Die amerikanische Studentenmaxime »Trau keinem über dreißig« machte darum auch unter ihnen schnell die Runde. Falls ihnen irgendwelche linken oder linksliberalen Sprecher mit sozialistischen Kulturtheorien entgegentraten, überbrüllten sie diese gern mit bewußt irren Slogans wie »Mit den Beatles machen wir die Weltrevolution« und betäubten sich danach mit elektronisch verstärkten 290
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Songs, die sie als »Befreiung bisher unterdrückter Triebe« empfanden. Was als Rebellion gesellschaftskritisch eingestellter Studenten angefangen hatte, wurde so seit den frühen siebziger Jahren unter der Mehrheit der westdeutschen Teens und Twens zu einer regelrechten Modeströmung, der sich fast niemand innerhalb dieser Schichten entziehen konnte. Demzufolge begann sich auch die traditionelle Unterhaltungsindustrie für diesen Bereich zu inte ressieren. Schließlich wurde den Managern auf diesem Sektor immer klarer, daß sich mit dieser Art von Musik ein ebenso großer, wenn nicht gar noch größerer Profit erzielen ließ als mit der älteren Schlager- oder Tanzmusik. Kulturpolitisch gesehen, war daher die Folge dieser außerparlamentarischen Antiautoritätsrevolte sowohl ein unübersehbares Abflauen spezifisch linker Tendenzen als auch ein merkliches Desinteresse an der bisherigen E-Kultur, die zusehends die Form eines Reservats der älteren, gebildeten Oberschicht annahm. Die bisherigen Theater, Opernhäuser und Symphonieorchester existierten zwar in den siebziger Jahren aufgrund der staatlichen Subventionen durchaus weiter, verloren aber in den Augen der jüngeren Generation mehr und mehr ihre traditionsverpflichtende Aura, die maßstabsetzende Ausprägung »wahrer Kultur« zu sein. Statt dessen breitete sich vor allem unter der Mehrheit der Jugendlichen jene ins Kommerzielle abgewandelte Popkultur aus, in der manche der studentischen Rebellen zwischen 1968 und 1972 noch einen Affront gegen das herrschende Establishment gesehen hatten, die jedoch in der Folgezeit zusehends zur kulturellen Norm immer breiterer Bevölkerungsschichten wurde. Statt linksliberaler oder basisbezogener Absichtserklärungen traten deshalb seit den mittsiebziger Jahren selbst in vielen kulturtheoretischen Schriften – zumeist unter dem Motto »The Personal is the Political« – weitgehend Äußerungen, die sich im Zuge einer neueinsetzenden wirtschaftlichen Konjunkturphase vor allem zur Wiederentdeckung der eigenen Subjektivität, wenn nicht gar eines uneingeschränkten persönlichen Durchsetzungsdranges bekannten, das heißt die Bindung an irgendwelche Parteien, Organisationen oder Bewegungen von vornherein als »einengend« ablehnten. Dafür sprechen jene privatistisch gefärbten Verlautbarungen, die 291
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in diesen Jahren in Blättern wie Konkursbuch, Tumult, Titanic, Freibeuter oder Ästhetik und Kommunikation erschienen, in denen sich die Vertreter dieser »Neuen Subjektivität« – in ihren Attacken gegen »totalisierende Meisterdenker« wie Hegel und Marx – zur Unterstützung ihrer Ansichten vornehmlich auf die Theoriebildungen der deutschen Frühromantiker und deren Nachfolger in der nietzscheanisch-lebensverkultenden Phase des späten 19. Jahrhunderts sowie die Publikationen der französischen Neuen Philosophen und Poststrukturalisten beriefen, um ihren Meinungen mehr Gewicht zu verleihen. Im Bereich der damit verbundenen Kunst- und Kulturtheorien führte dieser sogenannte Paradigmawechsel zu einer merklichen Verstärkung halb sensualistischer, halb unbewußter Wahrnehmungsformen, die damals meist mit Begriffen wie Neue Sensibilität, New Age, Neue Mythologie oder Postmodernismus umschrieben wurden. Im Gegensatz zu jenen versprengten Einzelkämpfern, die weiterhin auf basisbezogene Engagementformen drangen, gaben sich die Wortführer dieser Richtung in ihren Anschauungen vornehmlich ihrer unmittelbaren Subjektivität hin, statt sich irgendwelchen auf eine bestimmte Klasse oder gar die Gesamtgesellschaft bezogenen Postulaten zu unterwerfen. Daß sie sich dadurch immer stärker von den linken Postulaten der frühen Achtundsechziger entfernten, wurde von ihnen nicht als isolierend, sondern eher als persönlichkeitsbereichernd empfunden. Innerhalb der bildenden Künste machte sich dieser Wandel vor allem in einer verstärkten Vorliebe für jenes Parapsychische, Irrationale, Mythologische, Erotomane oder Religiös-Synkretistische bemerkbar, das als Darstellung »Individueller Mythen« ausgegeben wurde. Dafür sprechen unter anderem mystische Happenings, wie jene halb schamanistische, halb gralshaft-christliche Action Celtic (1976), mit der Joseph Beuys von sich reden machte. Die gleiche Neigung zum Außenseiterischen, Mythischen und obendrein Obszönen herrschte auf Ausstellungen wie »Heftige Malerei« (1980) oder »Fleisches Lust« (1981), mit der die sogenannten »Neuen Wilden« mit ihren neoexpressionistischen Ausdrucksformen der subjektiven »Eigentlichkeit« näherzukommen glaubten als alle »altmodischen Realisten«, 292
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was von manchen Kunstzeitschriften dieser Jahre als gelungener Ausdruck einer auf alle kollektiven Ambitionen verzichtenden, subjektiv orientierten »Nach-Moderne« angepriesen wurde. Selbst in der Filmproduktion kam es im Laufe der siebziger Jahre – nach politisch gemeinten Filmen wie Die verlorene Ehre Katharina Blum (1975) von Volker Schlöndorf oder Die Ehe der Maria Braun (1978) von Rainer Werner Fassbinder – zu einer ähnlichen privatistischen Besessenheit, das heißt den Hauptakzent vor allem auf das Tiefenpsychologische, Triebhafte bzw. Solipsistische zu legen. Dafür sprechen unter anderem der Kaspar-HauserFilm Jeder für sich und Gott gegen alle (1974) von Werner Herzog sowie der Kleist-Film Heinrich (1976) von Helma Sanders-Brahms, die an ihren Protagonisten vor allem das Erotisch-Intime sowie die Nähe zum Wahnsinn herausstellten, um ihnen die »nötige subjektive Schärfe« zu verleihen. Noch einen Schritt weiter ging Hans-Jürgen Syberberg, der im gleichen Zeitraum eine filmische Mythologie entwickelte, die über Ludwig II. und Richard Wagner bis zu Adolf Hitler reichte, in der er alle Träume, Ängste und Wahnvorstellungen der »deutschen Seele« unterzubringen versuchte. Sogar die postmodernistische E-Musik bemühte sich, nicht hinter diesem Trend zurückzustehen. So versah etwa Klaus Schulze die einzelnen Abschnitte seiner Komposition X (1978) mit bedeutungsschwangeren Suggestionstiteln wie Ludwig II ., Nietzsche und Kleist, um ihnen einen zusätzlichen Drall ins Maßlos-Übersteigerte, ja Wahnwitzige zu geben. Der gleiche an Richard Wagner und Gustav Mahler gemahnende Ich-Gestus herrscht in der Kammeroper Jakob Lenz (1978), den Nietzsche-Fragmenten (1981) und den Wölffli-Liedern (1982) von Wolfgang Rihm, deren musikalische Evokationen – gegen alles »rationale Besserwissen« – vornehmlich Stimmungen des Umhergetriebenseins sowie des ausbrechenden Wahnsinns als Formen des »innersten Selbst« zum Ausdruck zu bringen versuchten. Ebenso stark, ja fast noch stärker äußerte sich dieser Trend gegen alles Kollektivistische, Sozialengagierte oder gar Parteiergreifende nach 1973/74 im Bereich der auf eine neue Ichbezogenheit drängenden E-Literatur. Statt »Geschichtsunterricht« zu erteilen oder »sozialpolitische Modellsituationen« 293
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zu entwerfen, berief man sich auch hier ausdrücklich auf Formeln wie »Platz für Privates«, »Selbsterfahrung« oder »Endlich wieder Ich sagen«, um sich damit erneut zum bürgerlich-subjektiven Konzept jenes Schriftstellertyps zu bekennen, der im Grunde »immer ein Einzelgänger gewesen sei«, wie Marcel Reich-Ranicki 1979 im Merkur schrieb. Er und andere erklärten demzufolge auf den Feuilletonseiten der führenden Tageszeitungen – im Hinblick auf individualpsychologische Romane und Novellen wie Jakov Linds Selbstporträt (1973), Peter Handkes Die Stunde der wahren Empfindung (1975) oder Martin Walsers Ein fliehendes Pferd (1978) – mit aufatmender Befriedigung: »Jetzt dichten sie wieder«, während sie die basisbezogenen Reportagen der »linken Welle« um 1970 als Irrwege ins Unliterarische abkanzelten. Noch schärfer hätte man sich in den verschiedenen Kunstformen des Postmodernismus – trotz aller als »allgemeinmenschlich« ausgegebenen Rückzüge ins Privatistische – von den breiten Massen kaum absetzen können. Nun gut, eine Polarisierung in E- und U-Künste hat es seit Urzeiten gegeben. Aber noch kurz zuvor waren wenigstens einige kleinere Gruppen von Linksliberalen oder gar Sozialisten in Sachen »Kultur« für eine Reihe von basisbezogenen Änderungsvorschlägen zum Nutzen der Gesamtgesellschaft eingetreten. Derartige Bemühungen hörten jetzt mehr und mehr auf. Was seit den frühen achtziger Jahren im Rahmen der alles dominierenden, als freiheitlich hingestellten Marktgesellschaft kulturell tonangebend wurde, war jener als »demokratisch« apostrophierte Pluralismus, der zwar einerseits die individuelle Selbstrealisierung als sein ideologisches Leitziel ausgab, aber andererseits in seiner massenorientierten Produktionsweise und der sie begleitenden Medienindustrie immer stärker auf eine kulturelle Gleichschaltung hinauslief. Und so entstand ein ästhetischer Supermarkt, in dem sich die anspruchsvollen Außenseiter nach wie vor in der Gourmetecke bedienten, während sich die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Warenangebot der massenhaft hergestellten Unterhaltungsprodukte begnügte. Ja, selbst viele der Gebildeten gingen in diesem Zeitraum immer offener dazu über, auch die kulturellen Billigwaren ins Auge zu fassen, um nicht als museal oder gar vorsintflutlich zu gelten. 294
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Wesentlich befördert wurde diese Entwicklung durch die schon seit den sechziger Jahren verkürzten Arbeitszeiten, was immer mehr Menschen verführte, sich in ihrer Freizeit, um so der drohenden Langeweile zu entgehen, mehr und mehr Auswärtsessen, Ferienreisen und Partybesuche zu genehmigen sowie sich täglich für drei bis vier Stunden dem Massenmediengenuß hinzugeben. Die Kosten für alle dieser Freizeitvergnügungen stiegen daher in der BRD allein zwischen 1965 und 1980 auf das Dreifache der jeweils empfangenen Gehälter und Löhne an. Die Hauptrolle spielte hierbei – neben dem Radio und der Schallplatte bzw. Compact Disc – der Fernsehapparat, der schon in diesem Zeitraum in keinem westdeutschen Haushalt mehr fehlen durfte. Außer den Sportsendungen und den frühabendlichen Seifenopern erzielten dabei Krimis wie Der Alte, Ein Fall für zwei, Derrick und Tatort mit Schauspielern wie Claus Theo Gärtner, Leo Kress, Manfred Krug, Günter Strack und Horst Tappert sowie Hitparaden mit beliebten Popsängern wie Peter Alexander und Vico Torriani die weitaus höchsten Einschaltquoten, während Sendungen mit E-Musik oder Theateraufführungen nur noch in Spätprogrammen oder Sonntagsvormittags zu hören oder sehen waren. Zur gleichen Entwicklung kam es sowohl bei den in Kinos als auch im Fernsehen gezeigten Filmen, wo sich nach 1980 der Trend ins lediglich Spannende oder Unterhaltsame, vor allem durch den Import US-amerikanischer Soap Operas, Western, Actionfilme oder Detektivserien, von Jahr zu Jahr verstärkte. Und an dieser zunehmenden »Eindimensionalität«, die Herbert Marcuse bereits in den sechziger Jahren als ein Hauptcharakteristikum westlicher Mediengesellschaften bezeichnet hatte, änderten auch jene sogenannten »Neuen sozialen Bewegungen« nicht viel, die Anfang der achtziger Jahre von sich reden machten. Sie empfanden sich im Gegensatz zu der endlich zu sich selbst gekommenen kapitalistischen Marktwirtschaft zwar als »alternativ«, vertraten aber dabei – unter Berufung auf das Postulat der »Political Correctness« – zum Teil ebenfalls vornehmlich das Prinzip der individuellen Selbstfindung oder Selbstrealisierung, ohne damit irgendwelche gesamtkulturellen Vorstellungen zu verbinden. Das gilt unter anderem für 295
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die in diesem Zeitraum verstärkt in die Öffentlichkeit drängende Homosexuellenbewegung, die sich als separate Sub- oder Gegenkultur verstand, ohne sich um eine Rückendeckung bei den Linksliberalen oder Linken zu bemühen. Ihre Verlage, Buchhandlungen oder Zeitschriften, wie Rosa Flieder, Gay Journal oder Mannsbild, blieben daher – gesamtgesellschaftlich gesehen – zwangsläufig randständig. Und auch ihre Filme, ob nun Berliner Bettwurst (1973) von Rosa von Praunheim alias Holger Mischwitzky, Taxi zum Klo (1981) von Frank Ripploh sowie Querelle (1982) von Rainer Werner Fassbinder, stießen bei den Vielen, falls sie diese überhaupt wahrnahmen, eher auf Widerwillen. Ein wesentlich größeres Aufsehen erregte dagegen die feministische Bewegung in diesen Jahren, da sie sich nicht an eine gesellschaftliche Minderheit, sondern an die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung wandte. Dafür sorgten vor allem das als sensationell empfundene Buch Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (1975) von Alice Schwarzer sowie die Zeitschriften Courage (ab 1976) und Emma (ab 1977), die zwar im Gegensatz zu den weiterhin an geschlechtsspezifischen Rollenklischees festhaltenden Frauenblättern wie Brigitte, Bild der Frau, Freundin oder Petra nur ein Prozent der westdeutschen Frauen erreichten, aber dennoch den nötigen Zündstoff für öffentliche Diskussionen über Fragen weiblicher Emanzipation abgaben. Allerdings ging es auch in ihnen zumeist um den auch von den Vertretern der »Neuen Subjektivität« proklamierten Begriff der »Selbsterfahrung«, das heißt in ihrem Fall um eine Ichfindung jenseits der bisherigen Geschlechterrollen. Doch neben der Beschäftigung mit lebensbefindlichen Aspekten brachte die damalige Frauenbewegung zugleich eine neue Ästhetik hervor, die sich nicht nur in Erfahrungsschriften und Fotobänden, sondern auch in Gemälden und Graphiken sowie in vorübergehend vieldiskutierten Romanen, wie Klassenliebe (1973) von Karin Struck, Häutungen (1975) von Verena Stefan, Entmannung (1976) von Christa Reinig und Geschlecht der Gedanken (1977) von Jutta Heinrich, manifestierte. Und auch Filme, welche feministische Themenstellungen aufgriffen, ob nun die von Doris Dörrie, Helke Sander oder Margarethe von Trotta, blieben keineswegs unbeachtet und 296
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trugen dazu bei, daß sich viele Forderungen jüngerer Frauen, nämlich keine entsagungsvollen Hausmütterchen mehr zu werden, sondern selbstbewußte Berufskarrieren anzustreben, schließlich in der Folgezeit als gesellschaftliche Leitbilder durchsetzten. Und so trat der Feminismus nach der Erfüllung vieler seiner Wünsche, wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, die Aufhebung des Abtreibungsverbots und die Möglichkeit besserer Berufschancen, als provokative Gegenkultur schon in den späten achtziger und dann verstärkt in den neunziger Jahren wieder in den Hintergrund. Als noch kurzlebiger erwies sich die zu Anfang der achtziger Jahre im Zuge des neu angeheizten Kalten Kriegs entstandene Friedensbewegung, welche sich gegen die Aufstellung US-amerikanischer Raketensysteme auf westdeutschen Boden wandte, was von breiten Schichten der Bevölkerung zu Recht als äußerst brisant empfunden wurde. Sie brachte zwar eine Fülle von Pamphleten, Resolutionen und Broschüren, aber keine mit dem Feminismus vergleichbare Alternativkultur hervor, wenn man von vereinzelten Plakaten, Liedern oder Straßentheaterszenen einmal absieht. Schließlich war sie nur auf ein wenn auch großes Thema, nämlich die Erhaltung des innereuropäischen Friedens konzentriert. Doch von dieser Gefahr war nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1989 sowie der darauffolgenden Gründung der Eurozone kaum noch die Rede. Die einzige Neue soziale Bewegung, die im gleichen Zeitraum entstand und bis heute weiterbesteht, war die schnell anwachsende Alternativgruppe der Grünen, die sich zuerst vornehmlich an Kommunalwahlen beteiligte und dann Anfang der achtziger Jahre sogar als Partei in den Bundestag einzog. Ihre Warnungen vor den Gefahren der Atomenergie, dem sich ständig erhöhenden Energieverbrauch, den Folgen des Klimawechsels, dem sauren Regen, der fortschreitenden Verödung der Natur durch Monokulturen, kurzum: der zunehmenden Verstraßung, Vermüllung, Zersiedlung, ja Zerstörung der für den Menschen lebensnotwendigen Biosphäre wurden zwar von vielen Menschen durchaus gehört, aber von ihnen – trotz aller Einsicht in die nicht zu leugnenden Gefahren all dieser durch die steigende Industrialisierung hervorgerufenen Bedrohungen – wegen ihres auf einen materiellen 297
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Wohlstand bedachten Egoismus erst einmal verdrängt. Ja, selbst innerhalb der Grünen setzten sich gegenüber den frühen Fundis im Laufe der Jahre aus realpolitischen Gründen immer stärker jene Realos durch, die lediglich gewisse Reformen befürworteten, statt sich weiterhin auf die radikale Parole »runter vom Wohlstand« zu berufen, mit der sie bei den anstehenden Wahlen nie die erforderliche Fünfprozentgrenze überschritten hätten. Daher existierten die Grünen zwar als Partei weiter, ja wuchsen sogar wegen der nicht mehr zu vermeidenden ökologischen Krisensymptome zeitweilig an, büßten aber ihren Anspruch, eine gesamtgesellschaftliche Umorientierung in die Wege zu leiten, mehr und mehr ein. Und auch ihre kulturellen Aktivitäten blieben – trotz der Friedensreich-Hundertwasser-Plakate, der Klaus-Staeck-Postkarten oder der Landschaftsgemälde von Wassili Lepanto – an der von den Vielen kaum beachteten Peripherie des allgemeinen Medienbetriebs. Obwohl also die Grünen – wegen der wachsenden, ja ständig zunehmenden Naturzerstörung – als Partei nach wie vor viele Mittelständler veranlassen, sie zu wählen, beharrte die breite Front der Industrieverbände sowie die um ihre Arbeitsplätze besorgte Angestellten- und Arbeiterklasse weiterhin darauf, daß es in erster Linie darum gehe, den »Industriestandort Deutschland« so umfassend wie möglich auszubauen. Und so war von einer auf ökologischen Gesichtspunkten beruhenden gesamtgesellschaftlichen Umbesinnung und einer auf sie hinweisenden Kultur schon seit Mitte der neunziger Jahre in der BRD fast nirgendwo die Rede mehr.
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Zur Funktion einer als pluralistisch ausgegebenen A- oder Allgemeinkultur in der heutigen Market Driven Society
Die sich zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 vollziehende Wiedervereinigung der beiden Deutschländer geschah weitgehend im Zeichen eines ökonomischen Neoliberalismus. Anstatt auch einige der sozialistischen Errungenschaften der DDR auf wirtschaftlichem, sozialem, juristischem und kulturellem Gebiet zu respektieren, wurde anschließend in den fünf neuen Bundesländern – im Zeichen eines privatwirtschaftlichen Wettbewerbs und der damit verbundenen individuellen Raffgier – einfach alles den in der ehemaligen BRD herrschenden marktwirtschaftlichen Verhältnissen angeglichen. Von irgendwelchen gesellschaftlichen Alternativvorstellungen war dagegen in der Folgezeit kaum noch die Rede mehr. Es gab zwar hüben wie drüben unter den weiterhin linksliberal oder gar sozialistisch eingestellten Intellektuellen anfangs noch einige Proteste gegen diesen gesamtgesellschaftlichen Gleichschaltungsprozeß, die jedoch – inmitten des patriotisch gestimmten Medienrummels – schnell im Leeren verhallten. So wehrte sich etwa Günter Grass 1990 in seinem Pamphlet Ein Schnäppchen namens DDR entschieden dagegen, die »freie Marktwirtschaft als die einzige Wahrheit« auszugeben, ja bezeichnete die Umwandlung der VEB-Werke in der DDR durch die westliche Treuhandgesellschaft als »ein gnadenloses Diktat westlicher Kolonialherren«. Und auch im Osten, wo einige widersetzliche Autoren in diesem Enteignungsvorgang bereits einen von den USA gesteuerten ökonomischen Globalisierungsprozeß sahen, hieß es bei Christoph Hein »Jetzt frißt uns McDonald« und bei Volker Braun »Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt«. Doch das blieben Ausnahmen. Die Mehrheit der ostdeutschen wie auch der westdeutschen Bevölkerung glaubte zu diesem Zeitpunkt durchaus den hochtönenden Versprechungen Helmut Kohls, daß es der CDU /CSU 299
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sicher gelingen würde, die von der SED angeblich »heruntergewirtschaftete« DDR binnen weniger Jahre in ein Gebiet »blühender Landschaften« zu verwandeln, in dem man froh sein werde, »dem Sozialismus endlich entronnen zu sein«. Und zwar setzten Kohl und seine Partei sowie die mit ihnen übereinstimmenden ideologischen Helfershelfer dabei vor allem folgende propagandistischen Hebel in Bewegung. Einerseits benutzten sie die von der Gauck-Behörde zur Verfügung gestellten Stasiakten dazu, die DDR als ein gnadenloses Überwachungssystem hinzustellen, das in Ostdeutschland jede »freiheitliche Regung« skrupellos unterdrückt habe, während sie andererseits die BRD als eine von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard gegründete liberale Zivilgesellschaft, wenn nicht gar als ein Wohlstandsparadies priesen, das jedem seiner Bürger und Bürgerinnen die Chance gegeben habe und immer noch biete, sich im Rahmen der sogenannten freien Marktwirtschaft einer durch nichts eingeschränkten Selbstverwirklichung hinzugeben. Ungeachtet aller weiterhin bestehenden, ja ständig krasser werdenden finanziellen Ungleichheiten zwischen den Superreichen, den bürgerlichen Mittelständlern, den in Dienstleistungsberufen Tätigen, den Arbeiterschichten, den Bauern und den Erwerbslosen wurde daher in der neuentstandenen Berliner Republik der neunziger Jahre offiziellerweise unentwegt das Leitbild der gesellschaftlichen Chancengleichheit aller Staatsbürger beschworen, um nur ja keinen sozialen Unmut oder gar die Propagierung andersartiger Gesellschaftsmodelle aufkommen zu lassen. In den meinungsbildenden Massenmedien dieses Zeitraums war dementsprechend selten oder nie die Rede davon, daß die oberen ein Prozent der Bevölkerung mit 36 Prozent und die unteren 30 Prozent nur mit 1,5 Prozent am Nationalvermögen beteiligt seien, sondern stets so verallgemeinernd wie nur möglich ständig von »unseren Menschen«, »unserem Land« oder vom »wohlflorierenden Industriestandort Deutschland« gesprochen, wo bereits in den siebziger und achtziger Jahren, wenn nicht gar schon seit der Mitte der fünfziger Jahre eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« entstanden sei, die allen in ihr lebenden Menschen die gleichen Konsum- und Erlebnismöglichkeiten 300
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erlaube und an der man daher – außer einigen wohlgemeinten Reformen – nichts mehr zu verändern brauche. Und dieses Leitbild setzte sich im Zuge der immer hektischer angekurbelten marktwirtschaftlichen Betriebsamkeit und dem in ihr herrschenden Prinzip der Profiteinträglichkeit zwangsläufig auch auf kulturellem Gebiet durch. Von einer sorgsamen Pflege des ehemals als bildungsbetont geltenden »Kulturellen Erbes« sowie irgendwelchen basisbezogenen Kulturbemühungen, die in der BRD schon während der achtziger Jahre merklich in den Hintergrund getreten waren, blieb deshalb nach 1989 nicht viel übrig. Im Osten Deutschlands kam es daraufhin sowohl zur Schließung der ehemaligen Kulturhäuser als auch zum Wegfall der bisherigen Arbeiterkultur, mit denen die SED-Regierung lange Zeit den Weg zu der »einen großen, gebildeten Nation« befördern wollte. Doch auch im Westen wurden nach 1989 immer mehr Stimmen laut, die sich wie Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dafür einsetzten, auf kulturellem Gebiet fortan auf alle bisherigen gesellschaftsbezogenen Engagementformen zu verzichten und sich mit jenen als pluralistisch ausgegebenen Kunstformen zu begnügen, in denen es vornehmlich um individuelle Erfahrungen gehe, anstatt ständig an irgendwelchen politischen oder sozialen Mißständen herumzumäkeln. Und der dadurch ausgelöste »Literaturstreit«, wie man diese Tendenzwende beschönigend nannte, hatte durchaus Folgen, indem er dazu führte, daß sich angesichts der Übermacht der meinungsbildenden Medien selbst viele der bis dahin immer noch halbwegs engagierten Künstler in den Bereich des Privatistischen zurückzogen. So beteuerte selbst Christa Wolf, die am 4. November 1989 in ihrer Rede auf dem Ostberliner Alexanderplatz ihre Mitbürger und Mitbürgerinnen noch beschworen hatte, sich zu einem »demokratischen Sozialismus« zu bekennen, bei einer ihrer letzten Lesungen zutiefst enttäuscht über das anpassungsbereite Verhalten ihrer früheren Mitbürger und Mitbürgerinnen: »Ich sage jetzt nur noch Ich, Ich, Ich.« Welche Auswirkungen diese Wende haben würde, war schon Mitte der neunziger Jahre klar vorherzusehen. Alles, sogar große Teile der früheren E-Kultur, wurden durch den Verzicht auf irgendwelche gesellschaftlichen 301
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Alternativvorstellungen sowie dem ständig stärker werdenden Sog ins Ökonomistische in der Folgezeit zusehends zu Produkten einer Warenkultur, bei der es nicht mehr um weltanschauliche Zielsetzungen, sondern nur noch um das allesbeherrschende Prinzip von Angebot und Nachfrage innerhalb einer neoliberal ausgerichteten Wettbewerbsgesellschaft ging. Selbst von den Werken der sogenannten »höheren Kultur« zählte jetzt nur noch das, was sich gewinnbringend verkaufen ließ, also subjektiv Gefärbtes oder postmodern Unverbindliches, und nicht mehr das, womit man einstmals – in ästhetisch anspruchsvoller Form und zugleich mit gesellschaftskritischem Engagement – auf etwas Besseres, Würdigeres, Humaneres als das in den jeweils herrschenden Verhältnissen hinweisen wollte. Davon waren vor allem die Werke jener Künstler betroffen, mit welchen sie à la Ernst Bloch versucht hatten, den sie bewundernden und sie zugleich anspornenden Menschen einen hoffnungsvollen »Vorschein« auf gesellschaftliche Zustände zu bieten, in denen sich nicht mehr vorwiegend oder gar ausschließlich die auf Besitz und Gewalt gegründeten Machtverhältnisse als dominant erweisen würden. Zugegeben, auch in weiten Bereichen der älteren E-Kunst war es nicht immer um derartige Bestrebungen gegangen. Aber schließlich hatte es ehedem auch Zeitalter gegeben, in denen sich, wie in der Frühen Neuzeit, während der Aufklärung, ja selbst noch im 19. und 20. Jahrhundert, wenigstens einige bedeutsame Hinweise auf solche Zielvorstellungen finden lassen. Und die sollten auch weiterhin ein soziokulturelles Erbe bleiben, das es zu erhalten und vor allem zu interpretieren gilt. Doch seien wir nicht unfair. Die einzelnen Bundesländer und Kommunen, die für die finanziellen Voraussetzungen in diesen Bereichen zu sorgen haben, tun schon einiges, so teuer es ihnen auch zu stehen kommt, durch die Aufrechterhaltung gewisser Kulturinstitutionen den kunstverständigen Intellektuellen unter der neudeutschen Bevölkerung das Gefühl zu geben, weiterhin Angehörige einer aufgeklärten »Kulturnation« zu sein. Daher gibt es in allen Bundesländern nach wie vor erstaunlich viele Theater, Opernhäuser, Symphonieorchester und Museen, die sich – mit staatlicher Unterstützung – noch immer um die Aufrechterhaltung der älteren wie auch 302
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der modernistischen Hochkultur bemühen. Das gleiche gilt für die vielen Festwochen, Galakonzerte und Wanderausstellungen, die ohne derartige Finanzspritzen kaum stattfinden könnten. Und es kommen auch weiterhin zahlreiche Menschen der wohlverdienenden Mittel- und Oberschichten, die dafür hohe Eintrittsgelder bezahlen. Die Frage ist nur, ob sie das auch wirklich anspricht, was sie dort, wie etwa in Bayreuth, in der Berliner Philharmonie, dem Weimarer Haus am Frauenplan oder der Münchner Alten Pinakothek, zu hören oder zu sehen bekommen? Geht es ihnen dabei nur um das bloße Dabeigewesensein oder wollen sie sich in ihrer Freizeit lediglich abwechslungsreich zerstreuen? Schließlich wird ihnen dort fast nichts geboten, was sie wirklich betrifft, das heißt sie zu einem vertiefteren Verständnis ihrer eigenen politischen, sozialen und kulturellen Situation anregt. Da die daran Teilnehmenden keinen gesellschaftlichen Veränderungswillen mehr aufbringen, können sie auch in den älteren Werken keine derartigen Willensbekundungen mehr wahrnehmen. Sie genießen daher die Kompositionen der klassisch-romantischen Musik vor allem als dumpfen oder sie rührenden Ohrenschmaus, lesen die Werke der »großen Weimaraner« nur noch als Pflichtlektüre und betrachten die Gemälde der sogenannten alten Meister lediglich als glänzend gearbeitete Artefakte einer inzwischen längst vergangenen Zeit. Sogar jene, die sich in sie psychologisch »einzufühlen« versuchen, bleiben dabei – im Sinne der verbreiteten Nachwende- oder Posthistoire-Stimmungen – zumeist im Bereich des »Allgemein-Menschlichen«, dem die Überzeugung zugrunde liegt, daß sich die menschlichen Empfindungsweisen nie wirklich geändert hätten. Gehen wir das im Hinblick auf die wichtigsten Gattungen der älteren E-Kunst einmal kurz durch. Im Bereich der Musik wäre dafür das eklatanteste Beispiel die Oper. Weil in den letzten 100 Jahren kaum noch bedeutende Werke dieser Art entstanden sind, ist hier die Gefahr einer Erstarrung ins Unverbindliche besonders groß. Um also dieses Genre für die daran interessierte kulturelle Trägerschicht dennoch am Leben zu erhalten, wird bei vielen Opernaufführungen nichts unversucht gelassen, selbst bei Handlungsabläufen, die im 18. oder 19. Jahrhundert, ja sogar bei denen, die in 303
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Abb. 49 Hans Neuenfels: Inszenierung von Mozarts »Zauberflöte« an der Komischen Oper in Berlin im November 2007. Die 2. Dame überreicht Tamino und Papageno den Flötenpenis mit den Worten: »Hiermit kannst du allmächtig handeln, / der Menschen Lebenskraft verwandeln.«
der Antike, dem Mittelalter oder der Frühen Neuzeit spielen, diese Werke dem heutigen Publikum durch psychologische Verheutigungen, unnötige Sexualisierungen oder Übersteigerungen ins Gewaltbetonte in ihre eigene Erlebniswelt zu transponieren, um so den Zuschauern das Gefühl zu geben, sich im Hier und Jetzt zu befinden, statt bei Aufführungen von Mozarts Zauberflöte oder Beethovens Fidelio auch oder vor allem den damals aufklärerischen, wenn nicht gar rebellischen Charakter dieser Werke herauszustellen. Fast die gleichen Tendenzen haben sich bei Inszenierungen von älteren Theaterstücken durchgesetzt. Da es fast keine bekannteren zeitgenössischen Dramatiker mehr gibt, werden auch hier, wie im Opernbetrieb, 304
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die sogenannten klassischen Stücke, meist mit der gleichen ins Zeitlose tendierenden Psychologisierungsabsicht in Szene gesetzt. Selbst in diesen Institutionen, in denen ehemals noch politische Richtungskämpfe stattfanden, wo also nicht nur geklatscht, sondern auch getrampelt und gebuht wurde, sollen sich die heutigen Zuschauer lediglich in sie »einfühlen«, ohne sich mit den weltanschaulichen Hoffnungen oder Zielvorstellungen dieser Werke auseinanderzusetzen. Und auch bei Museumsführungen werden den jeweiligen Besuchergruppen häufig nur die biographischen Umstände der älteren Künstler vorgestellt, statt sie auch mit dem gesellschaftspolitischen oder zumindest kulturhistorischen Umfeld der jeweiligen Gemälde vertraut zu machen, während bei der Betrachtung gegenstandsloser Bilder oder Installationen fast ausschließlich auf gewisse formalistische Aspekte eingegangen wird. Soviel zur psychologischen bzw. formalistischen »Appreciation«, wie es heute gern heißt, älterer Opern, Theaterstücke oder altmeisterlicher Gemälde. In den Statistiken der öffentlichen Hand wird hierbei meist darauf hingewiesen, wie groß noch immer der Prozentsatz jener Menschen sei, der sich für solche Werke interessiere. Ist nicht die Zahl der Studenten von acht Prozent im Jahr 1960 auf 30 Prozent im Jahr 2000 angestiegen, wie es dort immer wieder beschönigend heißt? Und hat sich das nicht auch auf das Bildungsniveau ausgewirkt? Doch Quoten oder Zahlen geben in dieser Hinsicht nicht viel her. Schließlich gibt es heutzutage in den Opernhäusern, Theatern, Buchläden und Kunstmuseen nicht nur »hohe Kunst« zu hören, zu kaufen oder zu sehen, also das, was die gesellschaftskritisch engagierten Repräsentanten des früheren Bildungsbürgertums, die Kulturtheoretiker der Arbeiterbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ja selbst die Exilkünstler der dreißiger Jahre sowie die Kulturfunktionäre der DDR einmal unter »hoher Kultur« verstanden haben, die allen Menschen das Gefühl geben sollte, Mitglieder einer ins Bessere, Würdevollere strebenden Nation zu sein, sondern auch viel gesellschaftlich Unbedeutendes, was derartigen Bestrebungen diametral zuwiderläuft. Haben sich nicht im Laufe der Jahre selbst in diesen Bereichen immer stärker jene bewußt 305
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marktgängigen Musicals, läppischen Boulevardkomödien, Bestsellerromane und gegenstandslos bizarren Art Shows ausgebreitet, bei denen weder das Kunstvolle noch das Anspruchsheischende, sondern fast ausschließlich das Unterhaltsame überwiegt? Statt sich also mit Statistiken zu begnügen, sollte man lieber fragen, warum Opernhäuser, Theater, Buchläden und Kunstmuseen überhaupt noch aufgesucht werden, die zwar noch weiterbestehen, aber im Rahmen der gegenwärtigen Market Driven Society immer stärker zu Anstalten einer Culture Industry zu werden drohen, welche sich wie alles andere, ob nun Warenhäuser, Baumärkte oder Autosalons, dem Prinzip von Angebot und Nachfrage anzupassen bemühen? Mit anderen Worten: selbst auf diesem Gebiet herrschen heutzutage ganz andere Gesetze als in vor- oder frühindustrieller Zeit, als die Repräsentanten der herrschenden Oberklasse noch annahmen, aufgrund von Besitz und Bildung die einzige Trägerschicht »wahrer Kultur« zu sein. Dennoch versuchen manche Außenseiter dieser Bevölkerungsschicht noch immer, gegen die unablässige Vermarktung jener älteren Kulturgüter, die ihnen als die einzig schätzenswerten erscheinen, in die Schranken treten zu können. Doch das sind vorerst, solange die sozioökonomischen Grundvoraussetzungen die gleichen bleiben, weitgehend hilflose Manöver, die an dem zusehends stärker werdenden Durchsetzungsvermögen des mit allen technologischen Mitteln aufs »Neue« erpichten Neoliberalismus der finanzstarken Konzerne und Industrieverbände wenig oder nichts zu ändern vermögen. Schließlich haben die Manager dieser Institutionen längst erkannt, welche Machtmittel ihnen zur Verfügung stehen, eine ihnen dienliche, als pluralistisch ausgegebene Massenkultur für die Vielen durchzusetzen und damit den Bildungsanspruch oder Veränderungswillen der dagegen Opponierenden, falls sich diese überhaupt noch melden sollten, mehr oder weniger auszuschalten. Was den betreffenden Konzernen und Industrieverbänden dabei zugute kam, war die von ihnen in die Wege geleitete Medialisierung und Digitalisierung von »Kunst«, durch die sich zwar der kulturelle Markt ins scheinbar Unendliche ausgeweitet hat, aber zugleich immer mehr ins Unterhaltsame 306
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und damit Unverbindliche verflachte. Was dadurch entstand, ist ein Medienmarkt, der zwar allen Bevölkerungsschichten das ihnen Gemäße zu offerieren scheint, also endlich jene A- oder Allgemeinkultur ermöglicht habe, die sich nicht, wie es gern heißt, mit ideologischen Argumenten, sondern nur mit technologischen Errungenschaften erreichen lasse. Doch das hat sich, genauer gesehen, aufgrund der weiterbestehenden Klassengegensätze und ihren bildungsbedingten Folgen letztlich als eine Illusion erwiesen. Schließlich ist in dieser Hinsicht nicht allein das vermehrte Angebot von ausschlaggebender Bedeutung, sondern auch die innerhalb der einzelnen Bevölkerungsschichten herrschende Erwartungshaltung. Und an dieser Erwartungshaltung hat sich seit den Jahren der Weimarer Republik bis heute – trotz aller kulturellen Medialisierung – nicht viel geändert. Was die Mehrheit der Bevölkerung wegen des Ausbleibens gesamtgesellschaftlicher Zielsetzungen innerhalb der verschiedenen Künste und Medien nach wie vor unter »Kultur« versteht, ist daher nicht das Bildungsbetonte oder ins Höhere Strebende, sondern weitgehend das Unterhaltsame, mit dem sie sich von der drohenden Langeweile in ihrer – aufgrund der zunehmenden Automatisierung weiterer Lebensbereiche – zur »Untätigkeit« verurteilten Freizeit abzulenken versucht. Und das beweisen die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienenen Umfragen nur allzu deutlich. Wie schon in den siebziger und achtziger Jahren spielen dabei in dieser Hinsicht selbstverständlich auch außerkulturelle Freizeitbeschäftigungen, das heißt sich mit der Familie beschäftigen, Spaziergänge, wandern, mit Freunden telefonieren, Sportberichte sehen, Schaufensterbummel, Autoausflüge machen, Familienfeste feiern, Fitnesscenter oder Wellness Spas aufsuchen, schwimmen, Bowling und private Parties, weiterhin eine wichtige Rolle. Dagegen sind hochkulturelle Bildungsbemühungen wie der Besuch von Opern, Theateraufführungen und Symphoniekonzerten, die Lektüre anspruchsvoller Romane, die Teilnahme an sogenannten volksbildenden Kursen oder Vorträgen sowie das Interesse an Kultursendungen im Fernsehen oder Rundfunk zum Teil drastisch zurückgegangen, während der Spaß an Videospielen, am Internetsurfen oder an 307
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anderen digitalen Medienvergnügungen nicht nur in den Mittel- und Unterschichten, sondern auch innerhalb der Oberklasse ständig zugenommen hat. Im Hinblick auf die »anspruchsvolleren Künste« wirkte sich dieser Trend ins Unterhaltsame, wie gesagt, folgendermaßen aus. So wurden schon in den achtziger und dann verstärkt in den neunziger Jahren immer weniger Opern inszeniert. Statt dessen bot man den an E-Musik interessierten Mittelständlern auf diesem Gebiet zusehends Musicals und Operetten an. Auch die Symphoniekonzerte verloren in diesem Zeitraum viel von ihrer früheren Aura. Ähnliches gilt für den Theaterbetrieb, wo es seit der Jahrhundertwende nur noch neun Prozent »Klassisches« zu sehen gab, während der Anteil von Unterhaltungsstücken ständig zunahm. Ebenso drastisch wirkte sich dieser Trend im Bereich der allen Menschen zugänglichen Radiosendungen aus, die sich immer stärker an die sich der neuen Erlebnis- und Konsumwelt hingebenden Vielen und immer weniger an die hochkulturell Interessierten unter den Resten der bildungsbürgerlichen Schichten wandten. Schließlich waren auf diesem Sektor, wo die Einschaltquote manchmal bei 96 bis 98 Prozent der Gesamtbevölkerung lag, die Einflußmöglichkeiten besonders groß. Ja, viele dieser »Radionutzer«, wie es im Branchenjargon hieß, ließen sich lange Zeit täglich bis zu dreieinhalb Stunden von diesem Medium berieseln. Die Vielfalt der Programmangebote war zwar im Rundfunk geradezu uferlos, das heißt ging in die hunderte, bei denen jedoch die Unterhaltungsmusik – vor allem in Form von Silly Love Songs, Oldies, Rock, Jazz, Reggae, Hip-Hop und den jeweils wechselnden, aber letztlich gleichbleibenden Tanz- und Schlagermelodien – eine dominierende Rolle spielte und jenes allerorts zu hörende Hintergrundsgedudel bildete, um bei den nur halb Zuhörenden nur ja keinen Horror vacui aufkommen zu lassen. Es gab zwar weiterhin noch ein werbefinanziertes »Klassik-Radio«, doch das erreichte in den letzten Jahren, den gängigen Statistiken zufolge, nur noch 50.000 »meist ältere Menschen«. Auf dem Gebiet der Musik sind überhaupt – schon seit der Beatles- und Stones-Invasion der siebziger und achtziger Jahre – die bildungs- und generationsbedingten Unterschiede der verschiedenen Bevölkerungsschichten 308
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Abb. 50 Rock am Ring. Deutschlands größtes Rockfestival auf dem Nürburgring in der Eifel, zu dem im Juni 2000 100.000 Rockfans angereist kamen
besonders groß. So hören die Teens und Twens zwischen zehn und 30 Jahren seit jener Zeit fast nur noch Pop und Rock, während sich die Älteren auf diesem Gebiet – neben gewissen Klassikresten – auch noch Schlagerund Volksmusik gefallen lassen. Und zwar gilt das nicht nur im Hinblick auf die täglich eingeschalteten Rundfunksendungen, sondern auch für den lange Zeit beliebten Erwerb von Compact Discs. Schon Mitte der neunziger Jahre konnten auf diesem Gebiet führende Unterhaltungsmedienkonzerne wie Warner Music Germany, Polygram, Sony und Thorn Emi beim Absatz derartiger Tonträger immer größere Marktanteile erringen. Das führte dazu, daß der Anteil der verkauften Popmusik-Discs auf über 90 Prozent anstieg, während der Absatz von Klassik-CDs auf unter zehn Prozent abfiel. Ja, in den letzten zwei Jahrzehnten ist der Prozentsatz der von den großen Konzernen 309
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hergestellten Pop- und Technomusik, die sich vor allem am Hörbedürfnis der Teenager und den die Disko-Klubs frequentierenden Twens orientiert, sogar noch größer geworden. Ähnliche oder fast die gleichen Entwicklungstendenzen lassen sich in anderen Medienbereichen beobachten. Das gilt vor allem für das Fernsehen, wo seit den neunziger Jahren nicht nur in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, das heißt der ARD und dem ZDF, sondern noch verstärkt in den immer beliebter werdenden Privatsendern wie Sat 1, RTL plus, Tele 5 und Pro 7 sowie den zahlreichen Kabel- oder Satellitenkanälen der Geltungsanspruch der unterhaltsamen Populärkultur die Präsentationsformen der sogenannten Kunstkultur, um die sich Arte und 3sat noch manchmal bemühen, fast völlig in den Hintergrund gedrängt hat. In ihnen sind seitdem vornehmlich jene Seifenopern, Musikshows, Krimis, Quizsendungen, Schlagerprogramme sowie jene Familien-, Detektiv-, Actionthriller- und Liebesfilme zu sehen, die bereits in den neunziger Jahren mehr TV-User anzogen als ähnlich geartete Programme der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Ebenso deutlich zeichnet sich dieser Trend seitdem in der deutschen Filmproduktion sowie bei der Übernahme ausländischer, meist US-amerikanischer Filme ab, für welche die BRD der wichtigste Markt in Europa ist. Sogar in den Kinos wie im Fernsehen dominierten nach diesem Zeitpunkt immer eindeutiger die Abenteuer-, Action-, Musik-, Thriller-, Horror-, Sex- und Lustspielfilme, wobei allerdings durch den Videovertrieb dieser Filme der Kinobesuch vieler »Mediennutzer« inzwischen erheblich zurückgegangen ist. Fast noch stärker hat sich durch diesen allgemeinen Trend ins Akustische und Visuelle das ehemalige Lesebedürfnis breitester Bevölkerungsschichten geändert. Zugegeben, es gibt auch heute noch aufsehenerregende Bestseller, doch dabei handelt es sich, wie bei den beliebten Fernsehserien oder Unterhaltungsfilmen, ebenfalls meist um Abenteuer-, Detektiv- oder interpersonelle Beziehungsromane, die eventuellen gesellschaftlich engagierten Tendenzen, welche ihre Leser zu ideologischen Stellungnahmen verpflichten würden, von vornherein aus dem Wege gehen. Selbst bisher vielgelesene Zeitungen haben, zumal ihre Abonnentenzahl ständig zurückgeht, nicht 310
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mehr jenen Einfluß, dessen sie sich früher einmal erfreuten. So lasen im Jahr 1990 von den Deutschen unter 30 Jahren immerhin noch 65,7 Prozent täglich eine Zeitung, während es im Jahr 2009 nur noch 38,9 Prozent waren. Ja, selbst bei den älteren Zeitungslesern ging im gleichen Zeitraum der Anteil von 82,4 auf 69,3 Prozent zurück. Lediglich von der Bild-Zeitung verkauften sich im Jahr 2005 noch täglich vier Millionen Exemplare, während die Frankfurter Allgemeine Zeitung nur noch 379.000 absetzen konnte. Und auch Bibliotheken und Buchhandlungen, die in der ehemaligen Bundesrepublik und vor allem in der DDR vor 1989 noch einen beachtlichen Zuspruch hatten, beklagten danach einen deutlichen Rückgang an ausleih erpichten Lesern oder kaufwilligen Kunden. Statistiken zufolge erklärten bereits im Jahr 2009 42 Prozent der Westdeutschen, keine Bücher mehr zu lesen, da sie das Fernsehen »einfach schöner« fänden. Kein Wunder daher, daß im Zuge dieser Entwicklung die Anzahl der totalen Analphabeten in der neuen BRD auf vier Prozent und der funktionalen Analphabeten auf 14 Prozent angestiegen ist. Dennoch gibt es nach wie vor eine Reihe von Gesellschaftswissenschaftlern, die all diese Entwicklungen im Hinblick auf einen erweiterten Kulturbegriff weder bedauern noch kritisieren. Ja, manche begrüßen sogar diesen immer stärker werdenden Trend ins Mediale, der sich aller Mittel des Rundfunks, des Fernsehens sowie der inzwischen eingetretenen Digitalisierung in Form des Internets sowie der Smartphones, Tabletts, I-Pods und ähnlicher technologischer Massenartikel bedient, als durchaus »demokratisierend«. Besaßen nicht schon im Jahr 2008 85,3 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Personal Computer? Und haben nicht durch diese akustische und visuelle Medialisierung die Vielen, wie es bei den Vertretern derartiger Anschauungen häufig heißt, endlich einen wesentlich erleichterten Zugang zu all jenen Formen von Kultur erhalten, die bisher lediglich den Bildungsbürgern zugänglich waren? Doch um welche »Kultur« handelt es sich dabei eigentlich: um eine Form des Entertainments oder bestenfalls eine Eventkultur, die sich kaum von den allerseits angepriesenen Vorzügen einer genußbetonten Wohn-, Eß- und Reisekultur unterscheidet und damit letztlich 311
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nur die herrschende Konsumbetriebsamkeit auf dem Laufenden hält, oder um eine Kultur, welche sich in erster Linie bemühen würde, die unübersehbaren Mißstände der heutigen durch viele politische, sozioökonomische und ökologische Krisen ins Wanken geratenen Gesellschaft aufzuzeigen und ihnen leitbildliche Alternativvorstellungen entgegenzusetzen versucht? Die Antworten auf Fragen dieser Art sind bisher recht dürftig ausgefallen. Haben wir nicht genug, ja geradezu überreichlich »Kultur«, heißt es meist in jenen Schriften, die sich überhaupt noch mit derartigen Problemen auseinandersetzen? Hat nicht jeder deutsche Haushalt heutzutage ein Radio und ein Fernsehgerät? Surfen nicht immer mehr Menschen durch die ins Unendliche angewachsenen Programme ihrer Computer? Tönt nicht überall, selbst in Restaurants und Supermärkten, eine beschwingte, aufheiternde Musik? Hat nicht der Tourismus zu den wohlkonservierten Kulturstätten der Vergangenheit ständig zugenommen, wo immer breitere Bevölkerungsschichten die altehrwürdigen Bischofsdome und überreich dekorierten Fürstenschlösser bewundern können? Ziehen nicht bestimmte Festwochen oder Open-air-Festivals noch immer zehntausende von Menschen an? Und ist nicht dadurch die »Kultur« zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren »in unserem Land« geworden, wie es voller Stolz in den von mehreren staatlichen Enquetekommissionen veröffentlichten Schriften gern heißt? Zugegeben: all das hat auf den ersten Blick durchaus seine Richtigkeit. Im Gegensatz zu früher haben heutzutage tatsächlich die meisten der Vielen durchaus die Möglichkeit, sich in ihrer erweiterten Freizeit kulturell zu informieren oder sogar an der allgemeinen Kulturbetriebsamkeit teilzunehmen, das heißt sich akustisch oder visuell in eine Welt jenseits ihrer zumeist als »entfremdet« empfundenen Jobsituation hineinziehen zu lassen, wo es, wie in der Eß-, Reise- und Erotiksphäre, vornehmlich um unmittelbare Gratifikationen zu gehen scheint. Es wäre hochmütig, wenn nicht gar zynisch, all das von vornherein als »niedrig« abzuqualifizieren. Ein genußreiches Leben sollte auch weiterhin eine unserer wichtigsten gesellschaftlichen Leitvorstellungen bleiben. Aber in welcher Form? Lediglich als Ablenkungsmanöver, 312
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Abb. 51 »Pokémon Go« wird jetzt auch in Berlin gespielt – und die Fangemeinde wächst rasant (2016)
weil die meisten Menschen im Rahmen der heutigen Arbeits- und Dienstleistungsgesellschaft keine sinnvolle Befriedigung in ihrer beruflichen Tätigkeit mehr finden und daher in ihrer Freizeit nach geradezu allem greifen, was sie zwar ebenfalls nicht voll ausfüllt, aber zumindest »zerstreut«? Dieser Zustand wird neuerdings in manchen mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten Studien zumeist als eine Form der »Erlebnisgesellschaft« charakterisiert, die es vorher nie gegeben habe. Das ist durchaus zutreffend, dürfte aber als soziologisches Modell nicht nur konstatiert, sondern müßte auch kulturpolitisch hinterfragt werden. Schließlich gibt es nicht nur unterschiedslose, von allen Menschen geteilte »Erlebnisse«, wie die Schönredner der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« häufig behaupten, sondern auch nach wie vor eine Fülle schichtenspezifischer Erlebnisweisen, die zum Teil recht verschiedenartig ausfallen. So finden etwa nicht alle Neudeutschen das ständige, allerorten zu hörende Musikgedudel aufheiternd, sondern 313
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eher störend, die knalligen, aber weitgehend nichtssagenden Graffiti an den Mauern und Häuserwänden nicht belebend, sondern lediglich verdreckend, die Jubelschreie in den Fußballstadien nicht aufputschend, sondern eher verblödend. Doch nicht allein das. Ja, manche, noch immer kritisch eingestellten Kulturtheoretiker fragen sich – jenseits aller vordergründigen Geschmacksurteile – auch weiterhin: welche ideologische Funktion haben derartige »Erlebnisse« eigentlich, falls man sie nicht nur auf ihren unterhaltsamen Charakter, sondern auch auf ihre ideologische Wirksamkeit befragt? Sind sie lediglich zerstreuend, der unmittelbaren Gratifikation dienlich oder nicht zugleich bewußt manipulativ, das heißt kauffreudig stimmend und damit wohlintegrierte Anreizmomente der von den großen Konzernen angestrebten Umsatzvermehrung innerhalb unserer heutigen Market Driven Society? Kurzum: ist die heutige Kulturbetriebsamkeit, die häufig als Ausdruck einer zwar pluralistischen, aber letztlich alle Menschen umfassenden Erlebnisgesellschaft ausgegeben wird, in der sich endlich das Gebot der sozialen Gleichwertigkeit sämtlicher Lebens- und Kulturformen durchgesetzt habe, wirklich so »demokratisch«, so »zivil«, so »erlebnisgesättigt«, wie sie in vielen offiziellen oder offiziösen Verlautbarungen, die meist nur von »Menschen«, aber nur selten von Superreichen, Mittelständlern, Angestellten, Arbeitern oder Erwerbslosen sprechen, gern hingestellt wird? Oder ist sie lediglich eine Konsumgesellschaft ohne ideelle Ansprüche, in der zwar eine technologische Innovationssucht herrscht, die wegen der erhofften Umsatzsteigerung von Jahr zu Jahr immer hektischer wird, wo es jedoch keine langfristigen Ziele oder Hoffnungen mehr gibt und in der selbst alle kulturellen Ressourcen in den Dienst eines industriellen Innovations- und Wettbewerbssystems gestellt werden? Und haben nicht dadurch viele der älteren Kulturbemühungen – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – kaum noch eine Chance, der lediglich profitorientierten Innovationsbetriebsamkeit innerhalb der sogenannten »freien Marktwirtschaft« irgendwelche über die progressionslose Jetztzeit hinausweisende Leitbilder entgegenzusetzen? Ist es dafür bereits zu spät oder welcher parteipolitischen oder auch gewerkschaftlichen 314
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Aktivitäten bedürfte es, um diesen Zustand zu ändern? Das wären die einzig entscheidenden Fragen. Ansonsten bliebe auch die Kultur nur ein Mittel, die Vielen von ihrer eigentlichen Bestimmung abzulenken, nämlich endlich zur maßgeblichen Trägerschicht einer sozial gerechten und damit wahrhaft demokratischen Gesellschaft aufzusteigen, statt weiterhin lediglich außengelenkte Konsumenten innerhalb einer ins Massenmediale tendierenden Unterhaltungskultur zu bleiben. Doch wie ließe sich eine solche Tendenzwende anvisieren? Gerät man dabei – angesichts der überwältigenden Machtkonstellationen innerhalb der herrschenden Market Driven Society – nicht notwendig ins Utopische? Und gilt eine solche Einstellung nicht von vornherein als unrealistisch, wenn nicht gar als hirnrissig? Derartigen Stimmen sollte man jedoch ruhig weiterhin jenes Diktum von Jürgen Habermas entgegenhalten, der bereits 1985 in seinem Büchlein Die neue Unübersichtlichkeit erklärt hat, daß sich in einer Gesellschaft, in der die »Oasen der Utopie« auszutrocknen beginnen, zwangsläufig ein Zustand der allgemeinen »Ratlosigkeit und Banalität« ausbreite. Eine dieser Utopien wäre, den Artikel 20b des bundesrepublikanischen Grundgesetzes, der da lautet: »Der Staat schützt und fördert die Kultur«, endlich inhaltlich ernst zu nehmen, das heißt bestimmte demokratische Wertvorstellungen damit zu verbinden und ihn nicht nur als Aufforderung zur finanziellen Beihilfe bereits bestehender kultureller Einrichtungen zu verstehen. Statt also diesen Satz lediglich als »schützende« Pflege des Kulturellen Erbes auszulegen, sollte in Zukunft auch der »fördernde« Aspekt dieser grundgesetzlichen Regelung stärker aktiviert werden. Und dabei wäre sogar eine staatliche Auftragskunst ins Auge zu fassen, in der wieder gesellschaftlich fortschrittliche, kurzum: auf eine soziale Gleichberechtigung und kulturelle Höherbildung drängende Ideale im Vordergrund stehen würden, um so der Macht der herrschenden Medienkonzerne, denen es mit Hilfe ständig neuer technischer Errungenschaften lediglich um eine profiteinträgliche Befriedigung der Unterhaltungsbedürfnisse der sogenannten breiten Massen geht, wirksam Paroli zu bieten. Nur so könnte auch kulturell anstelle des Innovationsprinzips wieder das Progressionsprinzip treten. 315
Die A- oder Allgemeinkultur in der heutigen Market Driven Society
Abb. 52 Multikulturelles Deutschland (um 2010)
Damit ist selbstverständlich kein Rückgriff auf jenen Begriff einer »deutschen Leitkultur« gemeint, der einmal um 2000 zur Debatte stand und von seinen Befürwortern entweder nationalistisch, christlich-religiös oder bildungsbürgerlich ausgelegt wurde. Solche Stimmen, die damals als borniert galten, sind zwar inzwischen – seit der im Jahr 2015 einsetzenden Migrationswelle – in populistisch argumentierenden Bevölkerungsschichten wieder lauter geworden, haben jedoch keinen allgemeinen Stimmungsumschwung bewirkt. Wenn heutzutage in einem marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftssystem wie dem der BRD überhaupt noch auf höherer Ebene über mögliche Funktionsbestimmungen von Kultur diskutiert wird, 316
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stehen dabei, wie zu erwarten, meist lediglich finanzielle Aspekte, ob nun die Auktionspreise versteigerter Gemälde, die Subventionen für Opernund Theateraufführungen, die Umsatzschwierigkeiten der Buchverlage, der Rückgang des CD-Verkaufs, die Art der Werbesendungen im Fernsehen oder die Millioneneinnahmen international berühmter Popstars, aber keine inhaltlichen Zielsetzungen mehr im Vordergrund. Vor allem das Bildungsbürgerlich-Beharrende spielt fast keine Rolle mehr. Ja, selbst die nationalen Aspekte treten zusehends in den Hintergrund. Was sich inzwischen durchgesetzt hat, sind vor allem die von der internationalen Medienindustrie geförderten globalisierenden Tendenzen, die wesentlich größere Gewinne versprechen als irgendwelche einzelstaatlich ausgerichteten Bemühungen. Und dadurch wird auch der Kulturmarkt der Bundesrepublik von Jahr zu Jahr immer internationalistischer. Es gibt viele Kulturtheoretiker, die darin eine »multikulturelle« Bereicherung sehen. Sie berufen sich dabei gern auf die vielen Einwanderer und Flüchtlinge, was dazu geführt habe, daß der Anteil jener Menschen mit Migrationshintergrund, der heute in Deutschland lebt, bereits auf zehn Prozent angestiegen sei. Doch das wird sicher nur eine kurze, vorübergehende Phase sein. Letztendlich werden auch diese Bevölkerungsgruppen im Zuge einer fortschreitenden Integration bzw. Assimilation ihre bisherige »Kultur« aufgeben und sich in ihrer Freizeit sowohl akustisch als auch visuell in den Bannkreis der internationalen Medienkonzerne ziehen lassen. Das mag man einerseits als eine Wendung ins »Weltbürgerliche« begrüßen, wird aber andererseits zu einer außengelenkten Vermassung der ins Unendliche angewachsenen Vielen führen, die von den Managern der Entertainment Corporations der führenden Industrieländer der Welt nur noch als willfährige Konsumenten ihrer profiteinträglichen Erzeugnisse eingeschätzt werden. Solange es also noch Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland gibt, die weiterhin erklären, daß in ihnen, wie gesagt, sowohl die ältere als auch die zeitgenössische Kultur »geschützt und gefördert« werden soll, müßten also in dieser Hinsicht nicht die Popstars, Models und Sportler, sondern die Vertreter eines kommunitaristischen Verhaltens die maßgeblichen Vorbilder 317
Die A- oder Allgemeinkultur in der heutigen Market Driven Society
einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft sein, die mit solidaritätsbewußten Vorstellungen den immer bedrohlicher werdenden politischen, sozioökonomischen und ökologischen Krisensymptomen entgegenzutreten versuchen, statt lediglich den Hang zum Gewinngierigen, Zerstreuenden und Unterhaltsam-Hedonistischen zu unterstützen. Man lehne derartige Vorstellungen nicht von vornherein als mit »großväterlichem Pathos« vorgetragene Beschwörungen ab, wie solchen Kulturtheoretikern in den heutigen Massenmedien gern ironisierend entgegengehalten wird. Sie wären nicht nur kulturell, sondern auch politisch und sozial jene »Oasen der Utopie«, die Jürgen Habermas einmal so nachdrücklich beschworen hat. Daher sollten verantwortungsbewußte Geisteswissenschaftler in Zukunft unter »Kultur« mehr, ja wesentlich mehr als eine psychische Entlastungshilfe innerhalb des auf vollen Touren laufenden Turbokapitalismus bzw. eine durch die angeblichen Segnungen der Unterhaltungssoftware angereicherte freizeitliche Zerstreuung verstehen. Wäre es nicht angebrachter, sogar in ihr – neben gewissen politischen und sozialen Aktivitäten – sowohl ein ins ästhetisch Höhergeartete zielendes als auch gesellschaftlich »eingreifendes« Instrumentarium zu sehen, mit dem man auf jene nach wie vor unverwirklichten Möglichkeiten einer besseren Staats- und Gesellschaftsordnung hinweisen könnte, um so zu verhindern, daß aus der BRD im Zuge der gegenwärtig herrschenden Verhältnisse eins der »reichsten Armenhäuser der Welt« würde, wie Hans-Ulrich Wehler jüngst behauptet hat? Und so wie er haben auch andere Wissenschaftler in letzter Zeit immer nachdrücklicher erklärt, wie fragwürdig es – trotz aller Medienüberformung von seiten der Bewußtseinsindustrie – wäre, im Hinblick auf die ständig eklatanter werdenden ökonomischen, sozialen und bildungsmäßigen Unterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten von der BRD als einer wohlfunktionierenden Demokratie, das heißt Volksherrschaft, zu sprechen. Tragen wir daher auch als Geisteswissenschaftler das unsere dazu bei, wenn auch vorerst nur in Form utopisch klingender Forderungen, daß alle diese Gegensätze, selbst die kulturellen, zwischen den Wenigen und den Vielen endlich »aufgehoben« werden. 318
Weiterführende Lektüreanregungen Um den Zugang zu diesem Buch zu erleichtern, das sich als eine möglichst knapp gehaltene und zugleich lesbare Einführung in die soziologischen Problemstellungen der deutschen Kulturgeschichte versteht, wurde in ihm sowohl auf eine Auseinandersetzung mit der bereits auf diesem Gebiet bestehenden Sekundärliteratur als auch auf einen detaillierten Anmerkungsapparat, der bei der Vielfalt der in diesem Buch behandelten Themen nur allzu leicht ins Unendliche angewachsen wäre, bewußt verzichtet. Aus dem gleichen Grund enthält die folgende Auswahlbibliographie nur jene deutschsprachigen Bücher, die mir bei der Niederschrift des Ganzen nützlich erschienen und kulturinteressierten Lesern ein vertiefteres Eindringen in die in ihm aufgeworfenen Fragestellungen ermöglichen sollen. Und zwar folgen dabei nach eher umfassenden Darstellungen politischer, wirtschaftsgeschichtlicher und soziologischer Art in den jeweils behandelten Zeitabschnitten auch eine Reihe literarischer, theatergeschichtlicher, massenmedialer, bildkünstlerischer und musikalischer Einzelstudien, in denen es neben fachspezifischen Aspekten auch um die kulturellen Auswirkungen der einzelnen Kunstformen in den betreffenden Epochen geht. Bei der bibliographischen Erfassung und den Korrekturen half mir Carol Poore. Die sorgfältige Computerisierung meines Manuskripts besorgte Justin Court. Beiden bin ich, wie schon bei meinen letzten Büchern, wiederum zu großem Dank verpflichtet.
Periodenübergreifende Gesamtdarstellungen Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1997. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989. Rainer Geissler: Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 2014. Arnold Hauser: Die Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, 2 Bde, München 1953. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, 5 Bde, Köln 1981 – 1982. 319
Weiterführende Lektüreanregungen Wolfgang Schieder und Volker Sellin (Hrsg.): Soziale Gruppen in der Geschichte, Göttingen 1987. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde, München 1987 – 2008. Bernhard Weißel et al.: Zur Geschichte der Kultur und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes vom 11. Jahrhundert bis 1945, Berlin 1972. Helmut De Boor und Richard Newald (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 22 Bde, München 1953 – 1984. Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, 10 Bde, Reinbek 1980 – 1991. Rolf Grimminger et al. (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12 Bde, München 1980 – 2004. Klaus Gysi et al. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur, 13 Bde, Berlin 1963 – 1984. Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PENClub, Köln 1998. Walter Hinck (Hrsg.): Die deutsche Komödie vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1977. Walter Hinderer (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978. Hans Knudsen: Deutsche Theatergeschichte, Stuttgart 1970. Peter Nusser: Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, 2 Bde, Darmstadt 2012. Jutta Held und Norbert Schneider: Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Köln 1993. Jost Hermand: Glanz und Elend der deutschen Oper, Köln 2008. Rudolf Malsch: Geschichte der deutschen Musik, ihrer Formen, ihres Stils und ihrer Stellung im deutschen Geistes- und Kulturleben, Berlin 1949. Hans Joachim Moser: Geschichte der deutschen Musik, 3 Bde, Hildesheim 1968. Herbert Oetke: Der deutsche Volkstanz, 2 Bde, Wilhelmshaven 1983. Hans Strobach: Deutsches Volkslied in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1980.
Mittelalter Matthias Becker et al. (Hrsg.): Das Reich Karls des Großen, Stuttgart 2011. Rudolf Schieffer: Die Karolinger, Stuttgart 2014. Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2009. Bernd Hermann: Mensch und Umwelt im Mittelalter, Darmstadt 1986. Michel Mollat: Die Armen im Mittelalter, München 1994. Friedrich Prinz: Grundlagen und Anfänge. Deutschland bis 1056, München 1993. 320
Weiterführende Lektüreanregungen Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986. Joachim Ehlers: Die Ritter. Geschichte und Kultur, München 2006. Johannes Laudage und Yvonne Leiverkus (Hrsg.): Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit, Köln 2006. Ewald Erb: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis 1160, Berlin 1964. Max Lüthi: Volksliteratur und Hochliteratur im Mittelalter, München 1970. Friedrich Maurer (Hrsg.): Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, 3 Bde, Tübingen 1964 – 1970. Ursula Peters: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen 1983. Manfred Günter Scholz: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980. Friedrich Möbius und Helga Scurie (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1200 – 1350, Leipzig 1989. Anton Legner: Deutsche Kunst der Romanik, München 1982. Wilhelm Pinder: Deutsche Dome des Mittelalters, Königstein 1923. Martin Warnke: Spätmittelalter und frühe Neuzeit 1400 – 1750, München 1999. Selma Hirsch: Das Volkslied im späten Mittelalter, Berlin 1978.
Frühe Neuzeit Kurt Andermann und Hermann Ehmer (Hrsg.): Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Sigmaringen 1990. Richard Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, 2 Bde, München 1990 – 1994. Klaus Gerteis: Die deutschen Städte in der frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der »bürgerlichen« Welt, Darmstadt 1986. Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten und Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995. Alfred Kohler und Heinrich Lutz: Alltag im 16. Jahrhundert, Wien 1987. Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1400 – 1800, München 1994. Bernd Roeck: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit, München 1991. Robert W. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland 1400 – 1800, Göttingen 2002.
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Weiterführende Lektüreanregungen Hans-Joachim Köhler (Hrsg.): Flugschriften als Massenmedien der Reformationszeit, Stuttgart 1981. Bernd Möller: Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977. Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, Weinheim 1984. Hans Rupprich: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten, Leipzig 1935. Ernst Walter Zeeden: Deutsche Kultur in der frühen Neuzeit, Köln 1982. Horst Brunner (Hrsg.): Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, Göppingen 1982. Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit, Köln 1982. Gerhard Bott et al. (Hrsg.): Nürnberg 1300 – 1550. Kunst der Gotik und Renaissance, München 1986. Werner Hofmann (Hrsg.): Luther und die Folgen für die Kunst, München 1984. Wolfgang Hütt: Deutsche Malerei und Grafik der frühbürgerlichen Revolution, Leipzig 1973. Wilhelm Pinder: Die Kunst der ersten Bürgerzeit, Leipzig 1937. Ernst Ullmann (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1470 – 1550, Leipzig 1985.
Vom autoritären zum aufgeklärten Absolutismus Günther Franz: Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, Stuttgart 1979. Zwi Batscha und Jörn Garber (Hrsg.): Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Politisch-soziale Theorien im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1981. Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986. Jörn Garber: Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992. Jost Hermand und Michael Niedermeier: Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen, Frankfurt a. M. 2002. Ulrich im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. Franklin Kopitsch: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976. Horst Möller: Fürstenstaat und Bürgertum. Deutschland 1763 – 1815, Berlin 1989. Schleuning, Peter: Das 18. Jahrhundert. Der Bürger erhebt sich, Reinbek 1984. Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, Göttingen 1978.
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Weiterführende Lektüreanregungen Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981. Bernd Wagner (Hrsg.): Fürstenhof und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik, Essen 2009. Leo Balet: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Straßburg 1936. Christa Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar, Frankfurt a. M. 1977. Christa Bürger et al. (Hrsg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1980. Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lebens zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973. Helmuth Kiesel und Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 – 1910, München 1970. Elida Maria Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, Bern 1976. Harald Keller (Hrsg.): Die Kunst des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971. Peter H. Feist (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1760 – 1845, Leipzig 1986. Fritz Baumgart: Vom Klassizismus zur Romantik 1750 – 1832, Köln 1974. Herbert von Einem: Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik 1760 – 1840, München 1978. Peter-Michel Hahn (Hrsg.): Formen der Visualisierung von Herrschaft. Studien zum Adel, Fürst und Schloßbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Potsdam 1998. Gisold Lammel: Deutsche Malerei des Klassizismus, Leipzig 1986. Christian Norberg-Schulz: Architektur des Spätbarock und Rokoko, Stuttgart 1975. Rolf Toman (Hrsg.): Klassizismus und Romantik. Architektur – Skulptur – Malerei, Köln 2006. Carl Dahlhaus (Hrsg.): Die Musik des 18. Jahrhunderts, Laaber 1985. Eberhard Preussner: Die bürgerliche Musikkultur. Ein Beitrag zur deutschen Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, Kassel 1950. Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig 1969.
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Weiterführende Lektüreanregungen
Das 19. Jahrhundert Dieter Hein und Andreas Schulz: Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996. Joseph Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800 – 2000, München 2004. Lothar Gall (Hrsg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990. Michel Hubert: Deutschland im Wandel. Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815, Stuttgart 1998. Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988. Wolfgang Köllmann: Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1974. Reinhart Koselleck (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1988. Kaspar Maaser: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 – 1970, Frankfurt a. M. 1997. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1993. Peter von Rüden und Kurt Koszyk (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848 – 1918, Frankfurt a. M. 1979. Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. Helmut Bock und Renate Plöse: Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz und Biedermeier, Münster 1994. Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973. Horst A. Glaser (Hrsg.): Vom Nachmärz zur Gründerzeit. Realismus 1848 – 1880, Reinbek 1992. Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus, München 1985. Andreas Huyssen (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus, Stuttgart 1988. Joseph A. Kruse und Bernd Kortländer (Hrsg.): Das Junge Deutschland, Hamburg 1987. Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848 – 1898, Stuttgart 1981. Klaus-Detlef Müller (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus, Königstein 1981. Rainer Rosenberg: Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz, München 1975. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848, 3 Bde, Stuttgart 1971 – 1980. Peter Stein: Epochenproblem »Vormärz« 1815 – 1848, Stuttgart 1974. 324
Weiterführende Lektüreanregungen Michael Vogt (Hrsg.): Literaturkonzepte im Vormärz, Bielefeld 2001. Hans-Georg Werner: Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815 bis 1848, Berlin 1969. Max von Boehn: Biedermeier. Deutschland von 1815 bis 1847, Berlin 1911. Volkmar Braunbehrens et al. (Hrsg.): Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848/49, Berlin 1972. Peter H. Feist (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1848 – 1890, Leipzig 1968. Klaus Gallwitz (Hrsg.): Die Nazarener in Rom. Ein deutscher Künstlerbund der Romantik, München 1981. Richard Hamann: Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus, Leipzig 1925. Irmgard Keldany-Mohr: »Unterhaltungsmusik« als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1977. Georg Knepler: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde, Berlin 1961. Martin Wolschke: Von der Stadtpfeiferei zu Lehrlingskapelle und Sinfonieorchester. Wandlungen im 19. Jahrhundert, Regensburg 1981.
Das Zweite Kaiserreich Rüdiger vom Bruch: Bürgerlichkeit. Staat und Kultur im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2005. Kai Buchholz et al. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde, Darmstadt 2001. Mark Cluet und Catherine Repussand (Hrsg.): Lebensreform. Soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013. Werner Düttmann (Hrsg.): Aspekte der Gründerzeit, Berlin 1974. Hermann Glaser: Die Kultur der Wilhelminischen Zeit. Topographie einer Epoche, Frankfurt a. M. 1984. Hermann Glaser: Bildungsbürgertum und Nationalismus. Politik und Kultur im Wilhelminischen Deutschland, München 1993. Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, 5 Bde, Berlin 1959 – 1977. Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1971. Robin Lenman: Die Kunst, die Macht, das Geld. Zur Kulturgeschichte des kaiserlichen Deutschlands 1871 – 1918, Frankfurt a. M. 1994. Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 – 1918, Frankfurt a. M. 1994. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, München 1993. 325
Weiterführende Lektüreanregungen Uwe Puschner et al. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871 – 1918, München 1996. Klaus Vondung (Hrsg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum, Göttingen 1976. Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Göttingen 1973. Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, München 2009. Jost Hermand (Hrsg.): Jugendstil, Darmstadt 1971. Hans H. Hofstätter: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln 1965. Ekkehard Mai et al. (Hrsg.): Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich, Berlin 1982. Harald Olbrich (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1890 – 1918, Leipzig 1982. Peter Paret: Die Berliner Sezession und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland, Berlin 1981. Hans-Ulrich Simon: Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst, Stuttgart 1976.
Das 20. Jahrhundert Hermann Glaser: Deutsche Kultur 1945 – 2000, München 2000. Jost Hermand: Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2006. Siegfried Mauser, Albrecht Riethmüller, Hanns-Werner Heister und Helga de la Motte Fouque-Haber (Hrsg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, 4 Bde, Laaber 2000 – 2006. Frank Trommler: Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014. Paul Vogt: Geschichte der deutschen Malerei im 20. Jahrhundert, Köln 1972.
Die Weimarer Republik Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Berlin 1993. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Walter Grab und Julius H. Schoeps (Hrsg.): Juden in der Weimarer Republik, Darmstadt 1998. Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Die sogenannten Zwanziger Jahre, Bad Homburg 1970. 326
Weiterführende Lektüreanregungen Jost Hermand und Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. Gerhard P. Knapp: Die Literatur des deutschen Expressionismus, München 1979. Eva Kolinsky: Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik, Stuttgart 1970. Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit 1924 – 1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«, Stuttgart 1970. Manfred Nössing et al. (Hrsg.): Literaturdebatten in der Weimarer Republik, Berlin 1980. Wolfgang Rothe (Hrsg.): Die deutsche Literatur der Weimarer Republik, Stuttgart 1974. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.): Wem gehört die Welt? Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik, Berlin 1977. Harald Olbrich (Hrsg.): Geschichte der deutschen Kunst 1918 – 1945, Leipzig 1990. Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918 – 1933, Hannover 1969. Werner Fuhr: Proletarische Musik in Deutschland 1928 – 1933, Göppingen 1977. Wolfgang Rathert und Giselher Schubert: Musikkultur in der Weimarer Republik, Mainz 2001. Michael Stapper: Unterhaltungsmusik im Rundfunk der Weimarer Republik, Tutzing 2001.
Der Nationalsozialismus Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963. Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988. Jost Hermand: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus, Innere Emigration und Exil, Köln 2010. Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, Reinbek 1991. Hans Sarkowicz: Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2004. Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933 – 1945, München 1981. Zentralinstitut für Literaturgeschichte (Hrsg.): Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945, 7 Bde, Leipzig 1978 – 1981. 327
Weiterführende Lektüreanregungen Horst Denkler und Karl Prümm (Hrsg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich, Stuttgart 1976. Manfred Durzak (Hrsg.): Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Stuttgart 1973. Günter Hartung: Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus, Köln 1974. Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890 – 1945, Stuttgart 1976. Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration 1933 – 1945, Stuttgart 1976. Klaus Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973. Clemens Zimmermann: Medien im Nationalsozialismus, Köln 2007. Berthold Hinz: Die Malerei im deutschen Faschismus. Kunst und Konterrevolution, München 1974. Reinhard Merker: Die bildenden Künste im Nationalsozialismus. Kulturideologie, Kulturpolitik, Kulturproduktion, Köln 1983. Richard Müller-Mehlis: Die Kunst im Dritten Reich, München 1976. Klaus-Peter Schuster (Hrsg.): Die »Kunststadt« München 1937. Nationalsozialismus und »Entartete Kunst«, München 1987. Josef Wulf: Kunst und Kultur im Dritten Reich, 5 Bde, Gütersloh 1963 – 1965. Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1984. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1982. Brunhilde Sonntag et al. (Hrsg.): Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, Köln 1999.
Die Nachkriegszeit Lothar von Ballusek: Kultura. Kunst und Literatur in der sowjetischen Besatzungszone, Köln 1952. Gerd Friedrich: Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Geschichte und Funktion, Köln 1952. Magdalena Haider: Politik, Kultur, Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945 – 1954 in der SBZ/DDR, Köln 1993. Wolfgang Schivelbusch: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945 – 1948, München 1995. Karl Heinz Schulmeister: Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945 – 1959, Berlin 1977. Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1995. 328
Weiterführende Lektüreanregungen Jost Hermand (Hrsg.): Literatur nach 1945. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, 2 Bde, Wiesbaden 1979. Jost Hermand, Helmut Peitsch und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945 – 1949, 2 Bde, Berlin 1982 – 1983. Hugo Borger et al. (Hrsg.): ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945 – 1949. Kulturaufbau in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, Berlin 1982. Ulrich J. Blomann (Hrsg.): Kultur und Musik. Ästhetik im Zeichen des Kalten Krieges nach 1945, Saarbrücken 2015.
Deutsche Demokratische Republik Wolfgang R. Langenbucher et al. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich, Stuttgart 1983. Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR 1945 – 1990, Köln 1994. Hartmut Kaeble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994. Hans Koch: Kultur in den Kämpfen unserer Tage. Theoretische Probleme der sozialistischen Kulturrevolution in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1959. Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt a. M. 1991. Manfred Schlenker: Das kulturelle Erbe in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945 – 1965, Stuttgart 1977. Elmar Schubbe (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der DDR, Stuttgart 1972. Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949 – 1985, Frankfurt a. M. 1985. Joachim Streisand: Kulturgeschichte der DDR, Köln 1981. Rüdiger Thomas: Modell DDR. Die kalkulierte Emanzipation, München 1972. Manfred Berger und Werner Mittenzwei (Hrsg.): Theater in der Zeitenwende, 2 Bde, Berlin 1972. Hans-Friedrich Foltin: Die Unterhaltungsliteratur der DDR, Troisdorf 1970. Horst Haase et al. (Hrsg.): Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1977. Jost Hermand: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012.
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Weiterführende Lektüreanregungen Patricia Herminghouse und Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt a. M. 1983. Käthe Rülicke-Weiler: Film- und Fernsehkunst in der DDR, Berlin 1979. Günther Rüther (Hrsg.): Kulturbetrieb und Literatur in der DDR, Köln 1987. Klaus Scherpe und Lutz Winckler (Hrsg.): Frühe DDR-Literatur. Traditionen, Institutionen, Tendenzen, Berlin 1987. Peter Spahn: Unterhaltung im Sozialismus, Berlin 1980. Ulrich Kuhhirt (Hrsg.): Kunst der DDR 1945 – 1980, 2 Bde, Leipzig 1982 – 1983. Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR, Berlin 1979. Karin Thomas: Zweimal deutsche Kunst nach 1945. Vierzig Jahre Nähe und Ferne, Köln 1985. Karl Laux: Das Musikleben in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 – 1959, Leipzig 1960. Fred K. Prieberg: Musik im anderen Deutschland, Köln 1968.
Bundesrepublik Deutschland Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980, Frankfurt a. M. 1983. Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a. M. 1997. Dieter Baacke: Jugend und Jugendkultur, Weinheim 1987. Dieter Bänsch (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland, 3 Bde, Frankfurt a. M. 1983. Jochim Bischoff und Karlheinz Maldaner (Hrsg.): Kulturindustrie und Ideologie, Hamburg 1980. Karl Dietrich Bracher et al. (Hrsg.): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 5 Bde, Stuttgart 1981 – 1987. Mike Brake: Soziologie der jugendlichen Subkulturen, Frankfurt a. M. 1981. Mechthild Curtius und Wulf D. Hund: Mode und Gesellschaft. Zur Strategie der Konsumindustrie, Frankfurt a. M. 1971. Karla Fohrbeck und Andreas Johannes Wiesand: Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989.
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Weiterführende Lektüreanregungen Hermann Glaser und Karl-Heinz Stahl: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München 1974. Hermann Glaser: Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3 Bde, München 1985 – 1989. Volker Gransow: Mikroelektronik und »Freizeit«. Politisch-kulturelle Folgen einer technischen Revolution, Berlin 1982. Ina-Maria Greverus: Kultur und Alltagswelt, München 1978. Frank Grube und Gerhard Richter: Das Wirtschaftswunder. Unterwegs in den Wohlstand, Hamburg 1983. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971. Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau 1945 – 1965, München 1986. Jost Hermand: Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965 – 1985, München 1988. Jost Hermand: Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M. 1971. Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986. Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur, Freiburg 1975. Eugen Kogon: Die restaurative Republik. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1996. Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung, München 1988. M. Rainer Lepsius und Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983. Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995. Horst W. Opaschowski: Konsum in der Freizeit. Zwischen Freisein und Anpassung, Hamburg 1987. Hansgert Peisert: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland, München 1967. Ralf Roth und Dieter Rucht (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1987. Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Michael Schneider: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren, Darmstadt 1981. Karl Teppe (Hrsg.): Der gesellschaftsgeschichtliche Ort der »68er«-Bewegung, Münster 1998. Walter Tokarski und Reinhard Schmitz-Scherzer: Freizeit, Stuttgart 1985. Lutz Winckler: Kulturwarenproduktion, Frankfurt a. M. 1973. Jürgen Zinnecker: Jugendkultur 1940 – 1985, Opladen 1987.
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Weiterführende Lektüreanregungen Monika Tibbe und Manfred Bonson: Folk, Folklore, Volkslied. Zur Situation in- und ausländischer Volksmusik in der Bundesrepublik, Stuttgart 1981.
Die Berliner Republik Peter Alheit: Zivile Kultur. Verlust und Wiederaneignung der Moderne, Frankfurt a. M. 1994. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Kultur in Deutschland, Köln 2008. Hermann Glaser (Hrsg.): Was bleibt – was wird. Der kulturelle Umbruch in den neuen Bundesländern, Bonn 1994. Hans A. Hartmann und Rolf Haubl (Hrsg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz, Opladen 1996. Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft, München 2012. Jost Hermand: Nach der Postmoderne. Ästhetik heute, Köln 2004. Hilmar Hoffmann: Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt, Darmstadt 1994. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Jürgen Novak: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 2006. Waldemar Ritter: Kultur und Kulturpolitik im vereinigten Deutschland, Bonn 2000. Patrick Sachweh: Deutungsmuster sozialer Ungleichheit, Frankfurt a. M. 2010. Christian Scholz: Generation Z. Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt, Weinheim 2014. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992. Rudolf Stöber: Neue Medien. Geschichte von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution, Bremen 2013. Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013. Andreas Wirsching: Die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung. Eine interdisziplinäre Bilanz, München 2000.
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Abbildungsnachweis Abb. 1 Knaurs Kunstführer in Farbe. Deutschland, München, Droemer Knaur, 1976, S. 7. Abb. 2 © akg-images, Buchmalerei, Reichenau, Ende 10. Jh. Aus dem Evangeliar Ottos III. München, Bayr. Staatsbibl. Cod. lat. 4453, fol. 24 r. Abb. 3 Anton Legner: Deutsche Kunst der Romanik, München, Hirmer, 1982, Abb. 465. Abb. 4 Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 5, 27, 29, 30, 31, 32, 39, 40 Archiv des Verfassers. Abb. 6 Rainer Kahsnitz: Carved Splendor, Late Gothic Altarpieces, Los Angeles, Getty Museum, 2006, Abb. 44. Abb. 7 Ernst Ullmann: Geschichte der deutschen Kunst 1470 – 1550, Leipzig, Seemann, 1985. Abb. 8 bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Abb. 9 Otto Henne am Rhyn: Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Zweiter Band, Berlin 1897, S. 21. Abb. 10 Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Abb. 11 Reinhold Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern, München, Hirmer, 1997, Abb. 124, S. 430. Abb. 12 http://www.wikiwand.com/de/Fruchtbringende_Gesellschaft [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 13 Martin Warnke: Geschichte der deutschen Kunst. Bd. 2, München, Beck, 1999, S. 283. Abb. 14 Foto von Francesco Bini cc-by-sa. Abb. 15 © akg-images, Aquarell auf Pergament, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe. Abb. 16 Foto von Andrew Bossi. Abb. 17 https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Mendelssohn#/media/ File:Mendelssohn,_Lessing,_Lavater.jpg [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 18 Stadtarchiv Mainz. Abb. 19 http://www.kunstkopie.de/a/tischbein/annaamaliavsachsen-weimar.html [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 20 Lexikon der Revolutions-Ikonographie, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut. Abb. 21 Asmus, H. nach Schinkel: Athen, Akropolis, Palast des Königs Otto von Griechenland, Prachtsaal, aus Sammlung architektonischer Entwürfe (1820 – 1837), SPSG , PK 5209/9/Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg/Daniel Lindner. 335
Abbildungsnachweis Abb. 22 © akg-images, Für’s Haus / von Ludwig Richter / Im Winter. Dresden (Verlag von Gaber & Richter) 1858. Abb. 23 bpk. Abb. 24 © akg-images, Holzstich nach Zeichnung, 1869, von Hermann Lüders (1836 – 1908). Abb. 25 Deutsches Historisches Museum, Berlin. Abb. 26 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Joseph_Ferdinand_Klemm_Reichstags geb%C3%A4ude_um_1910.jpg [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 28 Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin. Abb. 33 Behne (Hrsg.): Das neue Berlin, Berlin 1929, S. 151. Abb. 34 https://www.anarchismus.at/kunst-und-kultur/category/17-gerd-arntz [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 35 Otto Griebel/Deutsches Historisches Museum. Abb. 36 Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv. Abb. 37 Große Deutsche Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst zu München. Offizieller Ausstellungskatalog. 2. Ausgabe. München, Knorr & Hirth GmbH, 1937, S. 47. Abb. 38 http://www.draeseke.org/discs/drewes.htm [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 41 Ullstein Bild. Abb. 42 © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Abb. 43 © DEFA-Stiftung/Michael Lösche. Abb. 44 Foto: Berlin Nr. 104, Ute und Bernd Eickmeyer/Berlin. Abb. 45 Bundesbildarchiv Koblenz, Foto Doris Adrian. Abb. 46 Electrola, a division of Universal Music GmbH. Abb. 47 Richard Hiepe: Die Kunst der neuen Klasse, Gütersloh, Bertelsmann, 1973, S. 5. Abb. 48 Promomaterial, Metal Hammer, Special. Berlin, Axel Springer Syndication GmbH, 1984. Abb. 49 http://www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater20062007/B-KO-diezauberfloete.html [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 50 http://15felix.dim.sde.dk/?p=1 [Letzter Zugriff: 12. 01. 2017]. Abb. 51 Michael Hübner/Montage: B. Z. Abb. 52 Getty Images Deutschland GmbH, München. Autor und Verlag haben sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Mitteilung.
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Personenregister A Abbt, Thomas 106 Abusch, Alexandeavr 257, 259 Ackermann, Anton 238 Adam, Theo 262 Adenauer, Konrad 273, 274, 283, 300 Adorno, Theodor W. 234, 279, 280 Albers, Hans 230 Albertinus, Aegidius 73 Albrecht V. von Bayern 71 Alexander, Peter 281, 295 Alkuin 20 Altenberg, Peter 176 Altomonte, Martino 102 Amerling, Friedrich von 140 Anacker, Heinrich 221 Anna Amalia von SachsenWeimar-Eisenach 119 Anton Ulrich von Braunschweig 92 Anzengruber, Ludwig 162 Appia, Adolphe 181 Arndt, Ernst Moritz 122, 125, 126, 129, 131, 143 Arnim, Achim von 124 Arntz, Gerd 211 Asam, Cosmas Damian 101 Asam, Egid Quirin 101 Asmus, H 133 August der Starke von Sachsen 266 B Baader, Johannes 199 Bach, Carl Philipp Emanuel 104 Bach, Johann Sebastian 104, 137, 213, 247, 249, 256 Bahrdt, Karl Friedrich 111, 112
Bahr, Hermann 176 Bandel, Ernst von 153 Bartels, Adolf 179 Bartók, Béla 249 Baumann, Hans 221 Baumeister, Willi 245 Baumgarten, Alexander Gottlieb 99 Becher, Johannes R. 238, 240, 241, 243, 249, 256, 258, 259, 265 Bechstein, Ludwig 139 Beck, Karl 145 Beer, Johann 93 Beethoven, Ludwig van 104, 122, 135, 142, 164, 166, 188, 220, 228, 247, 249, 256, 304 Behne, Adolf 245 Behrens, Peter 180, 185 Benedictus von Aniane 22 Besselstedt, Karl 123 Beuys, Joseph 292 Bidermann, Jakob 74 Biermann, Wolf 263, 265 Birch-Pfeiffer, Charlotte 139 Bismarck, Otto von 9, 148, 151, 152, 156, 159, 161 – 164, 169, 173, 266 Bleibtreu, Karl 170 Bloch, Ernst 302 Böcklin, Arnold 167 Boehle, Fritz 180 Böll, Heinrich 280, 286 Bolvary, Géza von 230 Bontempi, Giovanni 89 Börne, Ludwig 143 Bosse, Friedrich 169 Brahms, Johannes 155, 166 337
Personenregister Brandt, Willy 264, 283 Braun, Volker 299 Brecht, Bertolt 207 – 209, 215, 216, 234, 248, 287 Bredel, Willi 238, 243, 287 Brehm, Bruno 213 Brentano, Clemens 124 Brenz, Johann 72 Bruckner, Anton 166 Brühl, Karl von 135 Bühler, Adolf 180 Bülow, Hans von 164 Busch, Wilhelm 162 Byron, George Gordon Noel 142
Danhauser, Josef 140 Danz, Tamara 269 Degenhardt, Franz Josef 287 Diabelli, Anton 141 Dingelstedt, Franz 145 Distler, Hugo 249 Ditters von Dittersdorf, Carl 103 Dix, Otto 229 Döblin, Alfred 208, 212 Domnick, Ottmar 245 Dörrie, Doris 296 Duncker, Friedrich Leopold 135 Dürer, Albrecht 56, 57, 126, 136, 188, 213, 220, 228, 256, 264
C Carow, Heiner 269 Carstens, Asmus Jakob 116 Cavalli, Francesco 89 Celtis, Conrad 46 Cesti, Pietro 89 Chamberlain, Houston Stewart 221 Chiarini, Marcantonio 102 Churchill, Winston 235 Claudius, Eduard 243, 248, 256 Clauren, H. (eigentlich Karl Gottlieb Heun) 139 Colbert, Jean-Baptiste 84 Conrad, Michael Georg 170 Corinth, Lovis 175 Cornelius, Peter 136 Courths-Maler, Hedwig 172 Cranach, Lucas 65, 66 Custine, Adam Philippe 112 Cwojdrak, Günther 248
E Eccard, Johannes 75 Eckhart 220 Egger-Lienz, Albin 180, 182 Eichmann, Adolf 283 Eisler, Hanns 215, 287 Eisner, Kurt 191 Eliot, Thomas Stearn 277 Endrulat, Bernhard 158 Engel, Johann Jakob 108 Engels, Friedrich 144 Engert, Erasmus 140 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 116 Erhard, Ludwig 273, 274, 283, 300 Erler, Fritz 180, 221 Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha 156 Ernst, Paul 213 Eucken, Rudolf 188 Euringer, Richard 221
D Dagover, Lil 209 Dahn, Felix 165 Dahrendorf, Gustav 238 338
F Fassbinder, Rainer Werner 286, 293, 296
Personenregister Felixmüller, Conrad 198 Felsenstein, Walter 262 Ferdinand, Erzherzog von Österreich, später König von Böhmen, dann als Ferdinand II. Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 72, 76 Feuchtwanger, Lion 212 Feuerbach, Anselm 167 Fichte, Johann Gottlieb 123, 129 Fischart, Johann 68 Fischer, Theodor 185 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 100 Follen, Karl 130, 131 Forster, Georg 112 Forster, Rudolf 210 Fortner, Wolfgang 280 Francke, August Hermann 98 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 112 Franz, Robert 141 Freidank 40 Freiligrath, Ferdinand 145 Frenssen, Gustav 179 Freytag, Gustav 151, 156 – 158 Friederike von Preußen 116 Friedrich Barbarossa, Kaiser des Sacrum Imperium Romanum 36, 165 Friedrich, Caspar David 126, 134, 220, 228, 256 Friedrich der Weise von Sachsen 66 Friedrich II. von Preußen 81, 106, 116, 266 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 130, 135, 136 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 144, 147 Fritz, Josz 59
G Gärtner, Claus Theo 295 Garve, Christian 108 Gauck, Joachim 300 Geer, Maximilian von 83 Geiger, Carl Ignaz 112 George, Stefan 181, 277 Gerhardt, Paul 96 Geyer, Florian 59 Giesler, Hermann 221 Gilly, Friedrich 116 Girnus, Wilhelm 257 Gleich, Joseph Alois 139 Gluck, Christoph Willibald 116 Gneisenau, August Wilhelm Neidhard von 122 Goebbels, Joseph 222, 224 – 227, 231, 232 Goethe, Johann Wolfgang 10, 106, 113 – 115, 117 – 120, 134, 174, 195, 213, 220, 228, 247 – 249, 256, 259, 265 Gorki, Maxim 248 Görres, Joseph 124, 126, 131 Gottsched, Johann Christoph 105, 106 Grass, Günter 280, 286, 299 Gregor I. 22 Gregor XIII. 73 Greiner, Otto 180 Gresten, Alram von 39 Gretser, Jakob 74 Griebel, Otto 214 Griesebach, Eduard 162 Grimmelshausen, Jacob Christoffel von 93 Grimm, Hans 213 Grimm, Hermann 166 Grimm, Jakob 124 Grimm, Wilhelm 124, 139 Gropius, Walter 183, 185, 206 339
Personenregister Grossberg, Carl 206 Grosz, George 199, 200 Grotewohl, Otto 253, 257 Gruber, Franz Xaver 139 Grünberg, Karl 256 Grundig, Hans 240, 243 Grundig, Lea 243 Gryphius, Andreas 91 Gutzkow, Karl 143, 156 H Habermas, Jürgen 284, 315, 318 Habich, Ludwig 180 Hackert, Jakob Philipp 116, 119, 120 Haftmann, Werner 279 Hagelstange, Rudolf 248 Händel, Georg Friedrich 137, 262 Handke, Peter 294 Hardenberg, Karl August von 122, 126 Harsdörffer, Georg Philipp 90 Hart, Heinrich 170 Hart, Julius 170 Hartleben, Otto Erich 176 Hartmann, Karl Amadeus 229, 245, 249 Harvey, Lilian 210 Hasenclever, Walter 187, 197 Hassbecker, Uwe 269 Hauff, Wilhelm 139 Haug, Wolfgang Fritz 287 Hauptmann, Gerhart 170, 171 Hausmann, Karl 155 Hausmann, Raoul 199 Heartfield, John 199, 200, 215, 287 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 143, 292 Heidegger, Martin 277 Hein, Christoph 267, 299 Heine, Heinrich 142, 143, 145, 172 Heine, Thomas Theodor 168 340
Heinrich IV., Kaiser des Imperium Romanum 26 Heinrich I. von Sachsen 25 Heinrich, Jutta 296 Henckell, Karl 170 Hennecke, Hans 277 Herder, Johann Gottfried 108, 113, 114, 143 Hermann der Cherusker 91, 124, 165 Hermes, Johann Timotheus 106 Hermlin, Stephan 240, 248 Herwegh, Georg 145 Herzog, Werner 293 Heyse, Paul 162 Hiepe, Richard 287 Hiller, Johann Adam 103 Hiller, Kurt 197 Hindemith, Paul 229, 245, 249 Hindenburg, Paul von 217 Hippel, Theodor Gottlieb von 108 Hippler, Wendel 59 Hitler, Adolf 212, 214, 217, 218, 222, 225, 234, 235, 293 Hochhuth, Rolf 285 Hoch, Johann Jakob 113 Hofer, Carl 229, 238 Hoffmann, Heinrich 219 Hoffmann, Josef 185 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich August 144 Hofmannsthal, Hugo von 176, 277 Hölderlin, Friedrich 228, 248 Holt, Hans 230 Holthusen, Hans-Egon 277 Holz, Arno 170 Homer 114, 115, 117, 118 Honecker, Erich 263 – 265, 268, 270 Hubbuch, Karl 237 Huch, Ricarda 238, 240 Hugenberg, Alfred 216
Personenregister Hummel, Johann Nepomuk 141 Hundertwasser, Friedensreich 298 Hüser, Fritz 286 I Ibsen, Henrik 170 Iffland, August Wilhelm 118 Isselburg, Peter 77 J Jahn, Friedrich Ludwig 123, 129 – 131 Jary, Michael 231 Jhering, Herbert 238 Johann August von Sachsen 89 Johann Georg I. von Sachsen 79 Jordan, Wilhelm 165 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 116 Jung, Franz 199 Justi, Carl 166 K Kafka, Franz 234 Kaiser, Jakob 238 Kandinsky, Wassily 250 Kanoldt, Alexander 206 Kant, Immanuel 99, 137 Karl der Große 8, 18, 20, 22, 23, 25, 26 Karl der Kahle 25 Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 9 Karlstadt, Andreas 64 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 71 Kauffmann, Angelica 114 Kaulbach, Fritz August 167 Kautsky, Minna 169 Kegel, Max 169 Keller, Gottfried 156
Kerr, Alfred 212 Kestenberg, Leo 207 Keun, Irmgard 208 Keyserling, Eduard von 176 Kipphardt, Heinar 286 Kirchhoff, Johann Jakob 146 Kirdorf, Emil 215 Klee, Paul 250 Kleist, Ewald Christian von 106 Kleist, Heinrich von 124, 293 Klemm, Joseph Ferdinand 165 Klemperer, Viktor 238 Klenze, Leo von 132 Klopstock, Friedrich Gottlieb 108, 112, 129 Kluge, Alexander 286 Koch, Joseph Anton 116 Koeppen, Wolfgang 280 Kohl, Helmut 299, 300 Kokoschka, Oskar 200 Kolbe, Georg 213 Kollwitz, Käthe 171 Komensky, Jan Asmus (Comenius) 92 Konrad IV., Kaiser des Sacrum Imperium Romanum 39 Kooning, Willem de 250 Kopisch, August 139 Körner, Theodor 125, 135 Kotzebue, August von 118, 130 Kreis, Wilhelm 180 Krenek, Ernst 208 Kreuder, Peter 231 Kreutzer, Konradin 141 Kroetz, Franz Xaver 286 Kröger, Tim 179 Krug, Manfred 295 Kuhlau, Friedrich 141 L Lafontaine, August 106 341
Personenregister Lagarde, Paul de 164 Lang, Fritz 209 Langgässer, Elisabeth 240, 245, 248 Langhans, Carl Gotthard 116 Langhoff, Wolfgang 238 La Roche, Sophie von 106 Laube, Heinrich 143 Laun, Friedrich 139 Lavant, Rudolf 169 Lavater, Johann Kaspar 107 Leander, Zarah 231 Le Bon, Gustave 170 Leibniz, Gottfried Wilhelm 98, 104 Lemmer, Ernst 238 Lenbach, Franz von 164 Lenin 200 Lenk, Franz 206 Leo III. 22 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 92 Lepanto, Wassilli 298 Lersch, Hans 194 Lessing, Gotthold Ephraim 104, 106, 112, 143, 172 Leutze, Emanuel 147 Liebermann, Max 175 Liebknecht, Karl 189, 191 Lienhard, Friedrich 188 Lind, Jakov 294 Lingen, Theo 230 Liss, Johann 79 Liszt, Franz 155 Lohenstein, Daniel Casper von 91 Löns, Hermann 179 Loos, Adolf 183 Lortzing, Albert 145 Lothar I. 25 Louis-Philippe von Frankreich 143 Loyola, Ignatius von 73 Lubitsch, Ernst 209 342
Luckhardt, Hans 204 Luckhardt, Wassili 204 Lüdery, H 153 Ludwig der Deutsche 25 Ludwig der Fromme 25 Ludwig II. von Bayern 165, 293 Ludwig I. von Bayern 136 Ludwig, Otto 154 Ludwig von Anhalt-Köthen 78 Ludwig XIV. von Frankreich 84, 88, 89, 117 Lully, Jean-Baptiste 89 Luther, Martin 57, 61 – 68, 70 – 75, 77, 95, 129, 254 Lützow, Ludwig Adolf von 129, 135 Luxemburg, Rosa 189, 191 Lux, Joseph August 188 M Mackeben, Theo 231 Maetzig, Kurt 243 Mahler, Gustav 182, 293 Mann, Thomas 176, 189, 194, 248, 249, 259 Marchwitza, Hans 248 Marcuse, Herbert 289, 295 Marées, Hans von 167 Maria Theresia, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 81 Marlitt, Eugenie 156 Marx, Karl 144, 292 Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 46 Maximilian I. von Bayern 72 Maximilian Joseph I. von Bayern 130 Mayer, Hans 248, 259 Mehring, Franz 171, 200 Meidner, Ludwig 197 Meier, Georg Friedrich 99
Personenregister Meinecke, Friedrich 246, 248 Melanchthon, Philipp 46, 72 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 136, 137 Mendelssohn, Moses 108 Mengs, Anton Raffael 116 Metternich, Clemens Lothar Wenzeslaus von 126, 130, 135 – 138, 142, 143, 145, 150 Metzner, Franz 180 Meyer, Conrad Ferdinand 162 Meyer, Ernst Hermann 243, 256, 258 Meyer, Johann Heinrich 134 Meyfart, Johann Matthäus 95 Mitscherlich, Alexander 284 Mitscherlich, Margarete 284 Mohr, Joseph 139 Mommsen, Theodor 161 Mondrian, Piet 250 Mörike, Eduard 248 Morlacchi, Francesco 135 Moser, Hans 225, 230 Motherwell, Robert 250 Mozart, Wolfgang Amadeus 103, 104, 228, 247, 304 Müller, Heiner 260, 267, 269 Müller, Wilhelm 142 Müllner, Adolf 137 Multscher, Hans 55 Mundt, Theodor 143 Müntzer, Thomas 59, 64 Münzenberg, Willi 215 Murnau, Friedrich Wilhelm 209 N Nagel, Otto 238, 243 Napoleon Bonaparte 9, 120 – 125, 132, 137 Natorp, Paul 188 Neander, Joachim 96 Negri, Pola 210
Negt, Oskar 287 Neuenfels, Hans 304 Neukrantz, Klaus 287 Neumann, Johann Balthasar 87 Neumark, Georg 95 Nicolai, Friedrich 108 Niekisch, Ernst 238 Nielsen, Asta 210 Niemeyer, Adalbert 185 Nietzsche, Friedrich 164, 166, 167, 292, 293 Novalis (eigentlich Friedrich Leopold von Hardenberg) 120 O Oldach, Julius 140 Opitz, Martin 76, 78, 79, 91, 103, 105 Oppenheim, Moritz Daniel 107 Orlik, Emil 181 Otto der Große 25 Otto von Griechenland 133 Otto-Walster, August 169 Overbeck, Johann Friedrich 126, 136 P Pabst, Georg Wilhelm 209 Pacher, Michael 51 Paine, Thomas 112 Palestrina, Giovanni Perluigi 136 Palladio, Andrea 116 Paul, Bruno 185 Peiner, Werner 221 Pepping, Ernst 249 Pestalozzi, Johann Heinrich 107 Pfitzner, Hans 213, 249 Pforr, Franz 126, 136 Picht, Georg 284 Pieck, Wilhelm 253 Piloty, Karl Theodor 164 Piscator, Erwin 209, 215 343
Personenregister Plenzdorf, Ulrich 268, 269 Pocci, Franz von 139 Pomis, Giovanni Pietro Telesphoro de 75 Pontanus, Jakob 74 Porter, Henny 210 Pozzo, Andrea 102 Praunheim, Rosa von (eigentlich Holger Mischwitzky) 296 Prechtl, Michael Mathias 286 Prutz, Robert 145 Pufendorf, Samuel von 81
Rosegger, Peter 179 Rosenberg, Alfred 212, 222, 223, 225, 232 Rousseau, Jean-Jacques 112 Rubens, Peter Paul 200 Rubiner, Ludwig 186 Rudolf von Ems 40 Rudorff, Ernst 178 Ruge, Arnold 144 Rühmann, Heinz 230 Russ, Karl 127 Ry, Simon Louis du 116
R Raabe, Wilhelm 154, 156 Radl, Anton 132 Rasch, Julius 164 Rauch, Christian Daniel 116, 133 Reagan, Ronald 270 Rebmann, Georg Friedrich 112 Reger, Erik (eigentlich Hermann Dannenberger) 208 Reinhard, Johann Christian 116 Reinhardt, Max 181, 212 Reinig, Christa 296 Remarque, Erich Maria 208 Renn, Ludwig 238 Reuter, Christian 93 Richardson, Samuel 106 Richter, Ludwig 140 Riemenschneider, Tilman 51 Rihm, Wolfgang 293 Rilke, Rainer Maria 248, 277 Rinckart, Martin 95 Ripploh, Frank 296 Ritter, Gerhard 247 Robespierre, Maximilien 113 Rohland, Peter 287 Rökk, Marika 231 Roosevelt, Franklin D. 235
S Sachs, Hans 157, 158 Saint-Just, Louis Antoine 113 Saint-Simon, Claude-Henri de 143 Salzmann, Christian Gotthilf 107 Sander, August 207 Sander, Helke 296 Sanders-Brahms, Helma 293 Sand, Karl Ludwig 130 Sandrock, Adele 230 Schadow, Johann Gottfried 116, 133 Schadow, Wilhelm 136 Schamoni, Ulrich 286 Scheler, Max 188 Schenker, Rudolf 290 Scherer, Wilhelm 166 Schildener, Karl 123 Schillbach, Heinrich 155 Schiller, Friedrich 115, 117, 118, 157, 172, 174, 195, 228, 248, 256 Schilling, Gustav 139 Schinkel, Karl Friedrich 132, 133 Schirrmacher, Frank 301 Schlegel, August Wilhelm 120, 123 Schlegel, Friedrich 122, 123 Schleich, Eduard 155 Schleiermacher, Friedrich Daniel 123
344
Personenregister Schlöndorf, Volker 286, 293 Schmid-Reutte, Ludwig 180 Schmidt, Arno 280 Schmitz, Bruno 180 Schnitzler, Arthur 176 Schnorr von Carolsfeld, Julius 136 Schnorr von Carolsfeld, Ludwig Ferdinand 125 Scholl, Hans 236 Scholl, Sophie 236 Schönberg, Arnold 208, 212, 234, 258, 279 Schopenhauer, Arthur 142, 154, 158 Schreier, Peter 262 Schröder, Rudolf Alexander 248 Schubert, Franz 141, 142 Schultze-Naumburg, Paul 178 Schulze, Klaus 293 Schulze, Norbert 231 Schumacher, Fritz 180 Schumacher, Kurt 238 Schumann, Gerhard 221 Schumann, Robert 141, 145, 155 Schütz, Friedrich Wilhelm von 112 Schütz, Heinrich 79 Schwanthaler, Ludwig Michael 134 Schwarzer, Alice 296 Schwarzkopf, Richard 221, 223 Sedlmayr, Hans 276 Seghers, Anna 238 Shdanow, Sergej 258 Sigibert, König der Merowinger 18 Slevogt, Max 175 Slezak, Leo 225 Sohnrey, Heinrich 179 Sombart, Werner 188 Speer, Albert 221 Spener, Jakob 98 Spielhagen, Friedrich 156 Spitteler, Carl 181
Spohr, Ludwig 135 Spontini, Gaspare Luigi Pacifico 135, 136 Spranger, Eduard 238 Staeck, Klaus 286, 298 Stalin 235 Stamitz, Johann 103 Staudte, Wolfgang 243 Stefan, Verena 296 Stehr, Hermann 179, 213 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 122, 124, 125 Stiemer, Felix 198 Stockhausen, Karlheinz 280 Stoecker, Adolf 163 Storm, Theodor 154, 156 Stoßkopf, Sebastian 79 Stoß, Veit 51 Strack, Günter 295 Strauß, Franz Joseph 283 Strauss, Richard 182, 213, 226 Strawinsky, Igor 249 Streicher, Julius 212 Stricker, Der 40 Struck, Karin 296 Stuckenschmidt, Hans Heinz 280 Syberberg, Hans-Jürgen 293 T Tacitus 124 Taine, Hippolyte 169 Tappert, Horst 295 Tatlin, Wladimir 199 Telemann, Georg Philipp 95, 103, 104, 262 Tessenow, Heinrich 183 Theoderich der Große 165 Thomasius, Christian 92 Thorak, Josef 221 Thyssen, Fritz 215 345
Personenregister Tieck, Ludwig 120, 126 Tiepolo, Giovanni Batista 102 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 125 Todt, Fritz 221 Torriani, Vico 295 Totila, König der Ostgoten 165 Treitschke, Heinrich von 164 Trotta, Margarethe von 296 V Veit, Dorothea 120 Velde, Henry van de 185 Vischer, Friedrich Theodor 154 Vitruvius 116 Volkmann, Arthur 180 W Wächter, Eberhard 116 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 126 Wagner, Richard 154, 157, 158, 164 – 166, 174, 220, 228, 249, 293 Waldmüller, Ferdinand 141 Wallot, Paul 164 Wallraff, Günter 286 Walser, Martin 280, 284, 286, 294 Walter, Bruno 249 Walter, Johann 63 Washington, George 147 Weber, Carl Maria von 135, 136, 249 Weber, Max 161 Webern, Anton 279 Wehler, Hans-Ulrich 318 Weill, Kurt 208, 212
346
Weise, Christian 93 Weisenborn, Günther 238, 240 Weiser, Grethe 230 Weishaupt, Adam 111 Weißenthurn, Johanna von 139 Weiss, Peter 285 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 112 Werner, Zacharias 137 Wickram, Jörg 68 Wieland, Christoph Martin 107, 113 Wienbarg, Ludolf 143 Wilhelm II. von Deutschland 171 Wilhelm I. von Deutschland 152, 161, 164 Wille, Bruno 170 Winckelmann, Johann Joachim 114, 116, 123, 132, 134 Winter, Fritz 245 Wittich, Manfred 169 Wolff, Christian 99, 104 Wolf, Friedrich 240 Wolf, Konrad 269 Wolfram von Eschenbach 38 Wolgemut, Michael 56 Z Zauner, Franz Anton von 116 Zech, Paul 194 Ziegler, Adolf 221 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anton von 92 Zille, Heinrich 171 Zola, Émile 170 Zweig, Arnold 188
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GRÜNE KLASSIK GOETHES NATURVERSTÄNDNIS IN KUNST UND WISSENSCHAFT
Goethe verbrachte die Hälfte seines Lebens mit bildkünstlerischen und naturwissenschaftlichen Studien, bei denen es ihm vornehmlich um ein holistisches Verständnis der in all ihren Erscheinungsformen zu respektierenden Natur ging. Nach einer Darstellung der lebensgeschichtlichen Etappen von Goethes Bemühungen um ein immer vertiefteres Verständnis der Natur bildet eine ausführliche Rezeptionsgeschichte all jener Natur wissenschaftler und Philosophen, die vom frühen 19. Jahrhundert bis in der Gegenwart in Goethe einen »grünen Klassiker« gesehen haben, den Abschluss des Buches. Liegt auch als EPUB für eReader, iPad und Kindle vor. Dieses DRM-freie eBook ist unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zitierfähig und enthält Interaktionen: Anmerkungen und Registereinträge sind verlinkt, Querverweise und Weblinks sind interaktiv. Die Hauptkapitel-Überschriften haben Backlinks auf das Inhaltsverzeichnis. 2016. 168 S. 16 S/W- UND 22 FARB. ABB. GB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-50359-8 [BUCH] | ISBN 978-3-412-50630-8 [E-BOOK]
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DAS LIEBE GELD! EIGENTUMSVERHÄLTNISSE IN DER DEUTSCHEN LITERATUR
Im Gegensatz zu eher dichtungsorientierten Deutungsweisen deutscher Literatur geht es in diesem Buch vornehmlich um die Widerspiegelung jener sozioökonomischen Verhältnisse, die letztlich allen kulturellen Überbauphänomenen zugrunde liegen. Als Beispiele dienen dafür – vom späten Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart – vor allem Dramen, Romane, Autobiographien und Gedichte von Rudolf von Ems, Wickram, Grimmelshausen, Lessing, Goethe und Schiller, Immermann, Freytag, Fontane, Hauptmann, Fischer, Kaiser, Fallada, Brecht, Müller, Walser, Wallraff, Scheben, Braun, Hein und Händler, in denen die jeweiligen Wandlungen und Katastrophen bestimmter Wirtschaftsprozesse besonders deutlich zum Ausdruck kommen. 2015. 356 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50145-7
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VORBILDER PARTISANENPROFESSOREN IM GETEILTEN DEUTSCHLAND
Gesellschaftspolitisch engagierte Professoren werden heutzutage gern als unzeitgemäße Idealisten, hoffnungslose Utopisten oder gar lächerliche Moralathleten abgetan. Im Gegensatz zu derartigen Anschauungen werden in diesem Band elf verschiedene Geisteswissenschaftler herausgestellt, welche selbst im ideologisch verhärteten Klima des Kalten Kriegs zwischen Ost und West versuchten, gegen die systemkonformen Fronten innerhalb der BRD und der DDR aufzubegehren. Das Buch enthält Portraits von: Richard Hamann, Werner Krauss, Jürgen Kuczynski, Wolfgang Abendroth, Georg Knepler, Hans Mayer, Helmut Gollwitzer, Robert Jungk, Walter Grab, Hans Heinz Holz und Werner Mittenzwei. Dieser Titel liegt auch für eReader, iPad und Kindle vor. 2014. 310 S. 11 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM ISBN 978-3-412-22365-6 [BUCH] | ISBN 978-3-412-21813-3 [E-BOOK]
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FREUNDE, PROMIS, KONTRAHENTEN POLITBIOGRAPHISCHE MOMENTAUFNAHMEN
Als jahrzehntelanger Grenzgänger zwischen Ost und West hat sich Jost Hermand weder der amerikanischen noch der sowjetischen Ideologie des Kalten Kriegs verpflichtet gefühlt. Er wurde aus der DDR ausgewiesen und fand in der BRD nirgends eine Anstellung. So lebt er seit 1958 als Kulturhistoriker in den USA, ohne dabei die Kontakte zu den beiden deutschen Staaten und dann zur Berliner Republik je aufgegeben zu haben. In diesem Buch versammelt er auf der Grundlage seiner Notizen, Briefe und Tagebücher eine Erinnerungsfolge politbiographischer Gespräche, Eindrücke und Begegnungen von den letzten Jahren des Dritten Reichs bis zur unmittelbaren Gegenwart. Es geht dabei unter anderem um Begegnungen und Gespräche mit: Adolf Hitler, Heiner Müller, Christa Wolf, George Mosse, Jürgen Habermas, Johannes Rau, Hermann Glaser, Richard Hamann, Ludwig Justi, Walter Ulbricht, Jacques Derrida, Susan Sontag, Bill Bradley, Werner Mittenzwei, Wolfgang Schäuble, Benno von Wiese, Kurt Biedenkopf, Theodor W. Adorno, Wolf Biermann, Petra Kelly, Siegfried Unseld, Gottfried Benn u.v.a. 2013. 256 S. GB. 135 X 210 MM ISBN 978-3-412-22158-4 [PRINT] | ISBN 978-3-412-21638-2 [E-BOOK]
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JOST HERMAND
VERLORENE ILLUSIONEN EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS
Der Begriff „Nationalismus“ hat im deutschsprachigen Bereich Zentraleuropas seit dem Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts bis zur heutigen Berliner Republik höchst dramatische Wandlungen erlebt. Aufgrund der ständig wechselnden realpolitischen Voraussetzungen wurde dabei von den jeweils Herrschenden im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Territoriums nicht nur von einer Reichsnation gesprochen, sondern auch Begriffe wie Kulturnation, Kriegsnation, Wirtschaftsnation sowie Staatsbürgernation verwendet. Wie viele Illusionen damit verbunden waren, stellt Jost Hermand in diesem Buch dar. 2012. 390 S. 40 S/W- U. 26 FARB. ABB. GB. MIT SU | ISBN 978-3-412-20854-7
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